Abwägung im Verfassungsrecht [1 ed.] 9783428436842, 9783428036844

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Abwägung im Verfassungsrecht [1 ed.]
 9783428436842, 9783428036844

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BERNHARD

SCHLINK

Abwägung im Verfassungsrecht

Schriften

zum öffentlichen B a n d 299

Recht

Abwägung i m Verfassungsrecht

Von Bernhard Schlink

D U N C K E R

&

H U M B L O T

/

B E R L I N

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Schlink, Bernhard Abwägung i m Verfassungsrecht. — 1. Aufl. — Berlin: Duncker u n d Humblot, 1976. (Schriften z u m öffentlichen Recht; Bd. 299) I S B N 3-428-03684-0

Alle Rechte vorbehalten © 1976 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1976 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany I S B N 3 428 03684 0

J o h a n n K a s p a r Oswald * 27. 6 . 1 8 7 5

f 13. 9. 1965

z u m Gedächtnis

Vorwort Die Abwägung hat i m Verfassungsrecht eine Bedeutung gewonnen, hinter der die Bemühungen u m ihre methodischen und dogmatischen Bedingungen und Leistungen zurückbleiben. Die vorliegende Arbeit w i l l dazu beitragen, diesem methodischen und dogmatischen Defizit abzuhelfen. Sie wurde i m Sommer 1974 abgeschlossen und i m Sommer 1975 von der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg als Dissertation angenommen. Sie entwickelt ihren Gegenstand i m ersten Teil an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und verarbeitet diese, soweit sie bis zum Sommer 1974 ergangen ist. Die bis zum Herbst 1975 ergangenen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts wurden durchgesehen. Eine Korrektur der i n der Arbeit gewonnenen Ergebnisse wurde dabei nicht nötig. Ich danke Herrn Professor Dr. Dr. A. Podlech für die Betreuung der Arbeit und für die Anregungen und Ermutigungen, die ich schon als Student und später als sein Assistent von i h m bekommen habe. Ich danke auch meinen anderen Lehrern des Verfassungsrechts, den Herren Professoren Dr. E. Forsthoff, Dr. Dr. E.-W. Böckenförde und Dr. F. Müller, für die i n Heidelberger, Ebracher und Bielefelder Seminaren erhaltene Förderung. Ein Teil der Arbeit entstand, während ich an einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft getragenen Forschungsprojekt über mathematische Methoden i n der Rechtswissenschaft teilnahm. Bei diesem Forschungsprojekt entstand unter der Leitung von Herrn Professor Dr. Dr. A. Podlech und i n der Zusammenarbeit m i t den anderen Teilnehmern, den Herren W. Popp und J. Harenburg, eine fruchtbare Atmosphäre, die auch der Dissertation zugute kam. Herrn Ministerialrat a. D. Professor Dr. J. Broermann danke ich für die Aufnahme der Arbeit i n die Reihe „Schriften zum öffentlichen Recht". Heidelberg, Herbst 1975

B. S.

Inhaltsverzeichnis 0

Einleitung

13

Erster

Teil

ABWÄGUNGSRECHTSPRECHUNG DES BUNDESVERFASSUNGSGERICHTS 1

Abwägung in der Wertordnung des Grundgesetzes. Die sprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Artikel 5 G G

Recht-

17

1.1 Der A u f t a k t des Lüth-Urteils. Rangordnung von Grundrechtsgebrauchsqualitäten statt Wertordnung der Grundrechte

17

1.2 V o m Schmid/Spiegel-Beschluß zum Lebach-Urteil. Zwischen Wertung von Grundrechtsgebrauch u n d Analyse der Konfliktsituation

24

1.3 V o m Spiegel-Urteil zum Soldaten-Beschluß. Zwischen Wertung von Grundrechtsgebrauch u n d Prüfung der Notwendigkeit des Eingriffs

35

1.4 W e r t u n g von Grundrechtsgebrauch i n der Rechtsprechung zu anderen Grundrechten

43

1.5 Zusammenfassung

45

2

Abwägung unter dem Gebot der Verhältnismäßigkeit. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Artikel 12 GG

2.0 Vorbemerkung

48 48

2.1 Der Ausgangspunkt des Apotheken-Urteils. Abwägung i n der Stufung u n d Zuordnung v o n Eingriffsintensität, Regelungsbefugnis u n d Rang des Gemeinschaftsguts?

49

2.2 Ausbau der Stufenlehre

57

2.3 V o n Gütergewichtung u n d Gütervergleich zur GeeignetheitsNotwendigkeitsprüfung 2.4 V o n der eigenständigen zur gesetzgeberorientierten u n d Notwendigkeitsprüfung

und

Geeignetheits-

59 64

2.5 Abschied von der Stufenlehre

68

2.6 A b w ä g u n g i n der Zuordnung von Eingriffsintensität u n d Prüfungssorgfalt. Aus der Rechtsprechung zu A r t i k e l 2 GG

71

2.7 Problemrest der Geeignetheits- u n d Notwendigkeitsprüfung: Schutz der Mindestposition

76

2.8 Zusammenfassung

78

10

Inhaltsverzeichnis

3

Abwägung vor der Grenze des grundrechtlichen Wesensgehalts. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Artikel 14 GG . . . .

80

3.0 Vorbemerkung

80

3.1 Das U r t e i l zum hamburgischen Deichordnungsgesetz. Abwägung zum Schutz der Mindestposition i n der Dogmatik des A r t i k e l 14 GG

81

3.2 Weitere Rechtsprechung zu A r t i k e l 14 GG u n d nähere Bestimmung der Mindestposition 90 3.3 Zusammenfassung 4

95

Abwägung außerhalb des Bereichs der Freiheitsrechte. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Gebot der Rechtssicherheit

4.0 Vorbemerkung

97 97

4.1 Das Reden des Bundesverfassungsgerichts von Widerstreit und Spannung: Begründungsersatz, Begründungsornament oder Exposition einer Dogmatik des Gebots der Rechtssicherheit? 97 4.2 Entwicklung der Rechtsprechung zur Verfassungswidrigkeit wirkender Gesetze

rück-

106

4.3 Widersprüche der Rechtsprechung u n d Problematik eines über das Straf recht hinausgehenden Rückwirkungsverbots 111 4.4 Abwägung als Geeignetheits- u n d Notwendigkeitsprüfung sowie als Mindestpositionsbeachtung auch beim Gebot der Rechtssicherheit . . 117 4.5 Zusammenfassung

125

Zweiter

Teil

M E T H O D E U N D D O G M A T I K DER 5

ABWÄGUNG

Auf der Suche nach der Methode der Abwägung. Konzepte und Positionen im rechts wissenschaftlichen Schrifttum 127

5.0 Vorbemerkung

127

5.1 Das Konzept des Abwägungsenthusiasmus

128

5.2 Die Positionen der Abwägungsskepsis u n d das Scheitern des Konzepts des Abwägungsenthusiasmus 134 5.3 Das Programm der Abwägungspragmatik

143

5.4 Zusammenfassung

152

6

Auf der Suche nach der Methode der Abwägung. Problemhorizont der Wohlfahrtsökonomik und der Spieltheorie 154

6.0 Vorbemerkung

154

6.1 Die Verwandtschaft zwischen den Verteilungsproblemen der W o h l fahrtsökonomik und den Abwägungsproblemen des Verfassungsrechts 155 6.2 E r m i t t l u n g optimaler Verteilungen über ordinale Präferenzen, k a r dinale Präferenzen u n d Indifferenzen 158

Inhaltsverzeichnis 6.3 E r m i t t l u n g symmetrischer Konfliktlösungen i n der Spieltheorie

172

6.4 Der indifferenzialis tische Ansatz u n d das K r i t e r i u m der PARETO Optimalität i m Verfassungsrecht 178 6.5 Die Vorgegebenheit von Verteilungsalternativen i n Wohlfahrtsökonomik u n d Spieltheorie u n d die Suche nach Regelungsalternativen i m Verfassungsrecht 182 6.6 Asymmetrische u n d symmetrische P A R E T O - O p t i m i e r u n g i m fassungsrecht

Ver-

188

6.7 Zusammenfassung

190

7

192

Methode der Abwägung als Dogmatik der Grundrechte

7.0 Vorbemerkung

192

7.1 Dogmatik der Grundrechte als Abwägungsvorbehalte und Argumentationslastregeln 192 7.2 Differenzierungen der Grundrechtsdogmatik. Verschiedene N o r m bereiche, Zweckverbote u n d Definitionsverbote bei verschiedenen Grundrechten 199 7.3 Argumentation u m Zwecke und M i t t e l

203

7.4 Argumentation u m Geeignetheit u n d Notwendigkeit

207

7.5 Bedeutung des Abwägungsmodells f ü r Konflike zwischen Bürgern, f ü r das besondere Gewaltverhältnis u n d f ü r die Probleme des Sozialstaats 214 7.6 Schlußbemerkung

219

Literaturverzeichnis

221

Entscheidungsverzeichnis

227

Sachverzeichnis

229

0 Einleitung Das BVerfG hat die Abwägung nicht erfunden. Aber erst das BVerfG hat versucht, i n dem Begriff der Abwägung, der zunächst nur eine methodische und dogmatische Verlegenheit bezeichnet, einen Schlüssel zur Methode und Dogmatik des Verfassungsrechts zu finden. Überlegungen zur Bedeutung und zur Geltung eines Abwägungsgebots i m Verfassungsrecht haben daher i n der Rechtsprechung des BVerfG ihr primäres Material. Die Arbeit beginnt m i t einer Durchsicht dieser Rechtsprechung. Was expliziert das BVerfG als die Methode der Abwägung? Was formuliert es als deren verfassungsrechtsdogmatischen Ertrag? Was betreibt es unter dem Begriff der Abwägung tatsächlich? Der letzten Frage gilt das eigentliche Interesse. Beim BVerfG ist oft ein Mißverhältnis zwischen anspruchsvollen aber folgenlosen Abwägungstheoremen und anspruchsloser dafür folgenreicher Abwägungspraxis festzustellen. Vielleicht w e i l sie für die Abwägungspraxis nicht wirklich verbindlich geworden ist, wurde die Abwägungstheorie vom BVerfG nicht i n der Stimmigkeit und Geschlossenheit entwickelt, die das Interesse an Relevanz hinter dem an Kompetenz zurücktreten lassen könnte. Wenig stimmig ist schon die bundesverfassungsgerichtliche Terminologie, die zwischen den Begriffen des Interesses, des Guts und des Werts und zwischen Werte-, Güter- und Interessenabwägung nicht unterscheidet 1 . Wenig geschlossen ist auch die verfassungsrechtliche Fundierung, die das BVerfG dem Abwägungsgebot gibt. Oft sieht das BVerfG den Grund der Abwägung i m Rechtsstaatsprinzip 2 , manchmal i m Sozialstaats1 Z u m Beleg mögen das L ü t h - U r t e i l (BVerfGE 7, 198), das m i t dem L ü t h - U r t e i l gleichzeitig verkündete W a h l p l a k a t e - U r t e i l (BVerfGE 7, 230), der Befähigungsnachweis-Beschluß (BVerfGE 13, 97) u n d das U r t e i l zum Arbeitsvermittlungsmonopol der Bundesanstalt f ü r Arbeitsvermittlung u n d Arbeitslosenversicherung (BVerfGE 21, 245) dienen. I m L ü t h - U r t e i l spricht das B V e r f G von einer „Güterabwägung", die beim Grundrecht der freien Meinungsäußerung erforderlich sei (210), von der Vornahme der Abwägung innerhalb der „Wertordnung" der Grundrechte (215) u n d i m WahlplakateU r t e i l von einer „ A b w ä g u n g der sich gegenüberstehenden Interessen", die nach den Erkenntnissen des L ü t h - U r t e i l s b e i m Grundrecht der freien Meinungsäußerung stattfinden müsse (234). I m Befähigungsnachweis-Beschluß ist synonym v o n „Gemeinschaftswert", „Gemeinschaftsgut" u n d „Gemeinschaftsinteresse" die Rede (107), i m U r t e i l zum Arbeitsvermittlungsmonopol v o n „Gemeinschaftsgut" u n d „Gemeinschaftswert" (251 f.). 2 Vgl. etwa die folgenden Entscheidungen, i n denen das B V e r f G das Abwägungsgebot dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zuordnet, einem Kernstück des Rechtsstaatsprinzips: BVerfGE 19, 342 (349) ( „ . . . Grundsatz

14

0 Einleitung

p r i n z i p 3 , m a n c h m a l einfach i n der S p a n n u n g zwischen Interessen, G ü t e r n oder W e r t e n 4 , u n d e i n m a l sieht es das A b w ä g u n g s g e b o t sogar i n N ä h e z u m D e m o k r a t i e p r i n z i p 5 . Schließlich w i r d auch die A u f g a b e der A b w ä g u n g v o m B V e r f G w e n i g d i f f e r e n z i e r t h i e r d e m Gesetzgeber u n d dort dem Richter zugewiesen6. D e r A r b e i t g e h t es m i t i h r e m Interesse a n dem, w a s das B V e r f G u n t e r d e m B e g r i f f d e r A b w ä g u n g tatsächlich b e t r e i b t , n i c h t u m die Ergebnisse der E n t s c h e i d u n g e n , s o n d e r n u m d e r e n B e g r ü n d u n g e n u n d u m die R e k o n s t r u k t i o n dessen, w a s i n d e n E n t s c h e i d u n g s b e g r ü n d u n g e n als M e t h o d e der A b w ä g u n g t r a g e n d g e w o r d e n ist. Das b r i n g t eine S c h w i e r i g k e i t m i t sich: D i e E n t s c h e i d u n g s b e g r ü n d u n g e n des B V e r f G müssen i n h a l t l i c h d i s k u t i e r t w e r d e n , k ö n n e n aber i n h a l t l i c h n i c h t erschöpfend d i s k u t i e r t w e r d e n . I h r e A r g u m e n t e müssen k r i t i s c h d u r c h gesehen w e r d e n , k ö n n e n aber n i c h t u m f a s s e n d k r i t i s i e r t w e r d e n . D i s k u s s i o n e n u n d K r i t i k m ü ß t e n , s o l l t e n sie u m f a s s e n d sein, i n A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t d e m verfassungsrechtlichen S c h r i f t t u m geschehen. A b e r n e b e n der v o l l s t ä n d i g e n E r f a s s u n g der A b w ä g u n g s r e c h t s p r e c h u n g der Verhältnismäßigkeit . . . Bei der i h m hiernach obliegenden Abwägung hat der Richter . . . " ) ; 24, 119 (146) ( „ . . . die durch den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ohnehin gebotene Abwägung . . . " ) ; 30, 292 (315) ( „ . . . strikte Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes . . . Danach sind der geschützte Freiheitsbereich des Einzelnen, die v o m Gesetzgeber i m Interesse der Allgemeinheit verfolgten Zwecke u n d die zu deren Erreichung eingesetzten M i t t e l . . . gegeneinander abzuwägen . . . " ) . 3 Vgl. BVerfGE 16, 286 (304) („Eine Regelung, die . . . die Interessen aller Beteiligten sorgfältig gegeneinander abwägt, verstößt nicht gegen das Sozialstaatsprinzip."); B V e r f G E 1, 97 (105) ( „ . . . V e r w i r k l i c h u n g des Sozialstaates . . . verpflichtet, sich u m einen erträglichen Ausgleich der w i d e r streitenden Interessen . . . zu bemühen . . . " ) ; vgl. auch BVerfGE 27, 253 (283). 4 Vgl. das L ü t h - U r t e i l , BVerfGE 7, 198 (220) („Da i m Zusammenleben i n einer großen Gemeinschaft sich notwendig ständig Interessen- u n d Rechtskollisionen zwischen den einzelnen ergeben, hat i m sozialen Bereich ständig ein Ausgleich u n d eine A b w ä g u n g der einander entgegenstehenden Rechte nach dem Grade ihrer Schutzwürdigkeit stattzufinden."), u n d die i n seiner Tradition stehende Rechtsprechung (dazu unten Abschnitt 1); vgl. ferner BVerfGE 15, 313 (319) ( „ T r i t t dieser Grundsatz [Prinzip der Rechtssicherheit] m i t dem Gebot der Gerechtigkeit i m Einzelfalle . . . i n Widerstreit, so ist es Sache des Gesetzgebers, das Gewicht, das ihnen i n dem zu regelnden Falle zukommt, abzuwägen u n d zu entscheiden, welchem der beiden P r i n zipien der Vorzug gegeben werden soll.") u n d die übrige Rechtsprechung zum Widerstreit zwischen Rechtssicherheit u n d Gerechtigkeit (dazu unten Abschnitt 4). 5 Vgl. die i n Zitaten der letzten beiden Anmerkungen deutliche Nähe zwischen Interessenausgleich u n d Interessenabwägung u n d die Passagen des Urteils zur Verfassungswidrigkeit der K P D , i n denen das B V e r f G zur freiheitlichen Demokratie ausführt, daß u n d w i e diese „ i n Richtung auf Ausgleich u n d Schonung der Interessen aller" w i r k e (BVerfGE 5, 85 [198]). 6 Entscheidungen des BVerfG, i n denen dieses die Aufgabe der Abwägung dem Richter zuweist u n d richterliche Entscheidungen entsprechend überprüft, werden besonders i m Abschnitt 1 der A r b e i t erörtert. Abwägung als Aufgabe des Gesetzgebers ist Gegenstand besonders der Abschnitte 2 bis 4.

0 Einleitung

des BVerfG 7 wäre nur noch eine unbefriedigend selektive Auseinandersetzung m i t dem einschlägigen Schrifttum zu leisten. Auf diese verzichtet daher die Arbeit i n ihrem ersten Teil ganz. Sie versucht hier, die Entwicklung der Rechtsprechung des BVerfG immanent darzustellen, die K r i t i k aus der Entwicklung und deren Widersprüchen zu gewinnen und die Diskussion der Entscheidungsbegründungen so weit zu führen, daß entweder die Folgerichtigkeit des Begründungsgangs und der Abwägungsschritte sichtbar oder der Grund der mangelnden Folgerichtigkeit erkennbar wird. Die Auseinandersetzung mit dem verfassungsrechtlichen Schrifttum eröffnet den zweiten Teil der Arbeit. Nicht so, daß nun die Rechtsprechung des BVerfG etwa zu A r t . 5 mit dem Schrifttum zu Art. 5 konfrontiert würde. Vielmehr werden vor dem Hintergrund des A b wägungsmodells, das i m ersten Teil als die Rechtsprechung des BVerfG tragend Gestalt gewinnt, die abwägungsmethodischen Positionen des Schrifttums vorgestellt und diskutiert. Die Methodendiskussion zur Abwägung führt dann vom Bereich der Rechtswissenschaft i n den der Wohlfahrtsökonomik und der Spieltheorie. I n diesem Bereich werden den rechtswissenschaftlichen Abwägungsproblemen verwandte Probleme methodisch genauer diskutiert, und aus den erfolgreichen ebenso wie aus den gescheiterten Problemlösungsversuchen läßt sich für die Frage, was i m Recht als Abwägung methodisch befriedigend betrieben werden kann, profitieren. Das Modell der Abwägung, das i n Durchsicht der Rechtsprechung und i n A n t w o r t auf diese Frage entsteht, w i r d i m Fazit i n den Entwurf einer Grundrechtsdogmatik umgesetzt. Ob es richtig ist, dabei noch von Abwägung zu reden, mag bezweifelt werden. M i t dem Gewichten und Vergleichen von öffentlichen und privaten Werten, Gütern oder Interessen, das oft m i t Abwägung gemeint ist, hat das gewonnene Abwägungsmodell nichts zu tun. Es konvergiert m i t dem Gebot der Verhältnismäßigkeit, und wo es sich vom Gebot der Verhältnismäßig7 Zunächst w a r es die Absicht, als Abwägungsrechtsprechung einfach die Entscheidungen der von den Mitgliedern des B V e r f G herausgegebenen E n t scheidungssammlung zum Material der A r b e i t zu nehmen, i n deren Gründen die Worte „ A b w ä g u n g " u n d „abwägen" oder Wortverbindungen m i t „ A b wägung" u n d „abwägen" vorkommen. Da diese Worte i n den Stichwortverzeichnissen der Entscheidungssammlung nur selten ausgewiesen sind, w u r d e die Durchsicht aller Entscheidungen der Entscheidungssammlung notwendig. Dabei bot es sich an, auch solche Entscheidungen zu erfassen, i n denen die Worte „ A b w ä g u n g " u n d „abwägen" zwar nicht fallen, die aber wegen ihres Gegenstandes u n d dessen Behandlung i n die L i n i e der Rechtsprechung gehören, die das B V e r f G selbst durch häufige Verwendung der Worte „ A b w ä g u n g " u n d „abwägen" als Abwägungsrechtsprechung zu erkennen gibt. I m ersten T e i l der A r b e i t kommen n u n die Rechtsprechungstraditionen des BVerfG, i n denen dieses besonders häufig abwägt, auch insoweit zur Darstellung, als von „ A b w ä g u n g " oder „abwägen" nicht die Rede ist.

16

0 Einleitung

keit unterscheidet und über das Gebot der Verhältnismäßigkeit hinausführt, da ließe es sich aus diesem doch entwickeln. Wenn gleichwohl der Begriff der Abwägung nicht preisgegeben, sondern anders besetzt wird, dann aus der Auffassung, daß der Begriff sich i n der Rechtsprechung und i m Schrifttum zu sehr eingenistet hat, als daß er noch einfach verzichtet werden könnte. Er kann aber methodisch diszipliniert werden. W i r d er das, dann trägt er eine rationale Grundrechtsdogmatik und eröffnet ferner den Zugang zu einer Dogmatik des Sozialstaatsprinzips.

ERSTER T E I L

Abwägungsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 1 A b w ä g u n g i n der W e r t o r d n u n g des Grundgesetzes D i e Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu A r t i k e l 5 G G 1.1 Der Auftakt des Lüth-Urteils Rangordnung von Grundrechtsgebrauchsqualitäten statt Wertordnung der Grundrechte Eine Untersuchung der Abwägung i n der Rechtsprechung des BVerfG hat als Untersuchung der bundesverfassungsgerichtlichen Abwägung i n der Wertordnung des Grundgesetzes m i t dem Lüth-Urteil 1 zu beginnen. Dieses Urteil ist der Auftakt der Rechtsprechung, i n der das BVerfG die Grundrechte unter das Gebot der Abwägung stellt; m i t i h m beginnt es zugleich, die Grundrechte i n der Wertordnung des Grundgesetzes zu erfassen. Wo das BVerfG i n seinen früheren Entscheidungen mit Problemen der Abwägung befaßt war, da ging es entweder u m die von Art. 14 I I I ausdrücklich geforderte Interessenabwägung 2 oder um die vom BVerfG vor die Entscheidung über den Erlaß einer einstweiligen Anordnung gesetzte Folgenabwägung 3 . Weder die Entscheidungen zu A r t . 14 I I I noch die Verfahren nach § 32 BVerfGG waren dem BVerfG Anlaß, i n der jeweils gebotenen Abwägung eine Angelegenheit von allgemeiner Bedeutung für das Verfassungsrecht zu sehen, das Gebot der A b wägung allgemein zu fassen und zu begründen. I n diesem anspruchsvollen Sinn von Abwägung zu reden, hat das BVerfG mit dem L ü t h Urteil begonnen. M i t dem Lüth-Urteil eröffnet das BVerfG zugleich die Rechtsprechung, i n der es aus dem Gesamt der Grundrechte eine Wertordnung zu entwickeln versucht, u m von dieser Wertordnung her die Wirkung einzelner Grundrechte zu bestimmen. Zwar konnte das BVerfG i m L ü t h 1 B V e r f G E 7, 198. 2 B V e r f G E 4, 219; 4, 387; 6, 290. a B V e r f G E 1, 82; 2, 103; 3, 34; 3, 267; 6, 1. 2 Sehlink

18

1 A b w . i n der Wertordnung des Grundgesetzes — Hspr. zu A r t . 5

Urteil bereits auf frühere Entscheidungen verweisen, i n denen es die freiheitliche demokratische Grundordnung überhöhend als wertgebundene Ordnung oder Wertordnung bezeichnet hatte 4 . Aber was damals als schmückendes Beiwerk gedient hatte, wurde i m L ü t h - U r t e i l zum tragenden Argument, zum M i t t e l einer verfassungsrechtlichen Gewichtung des Gebrauchmachens von grundrechtlichen Freiheiten. Die neue Bedeutung hat der Begriff der Wertordnung inhaltlich i m Bezug zum Gebot der Abwägung gewonnen, terminologisch i n seiner Gleichsetzung m i t dem auf Probleme des Gewichtens, Vergleichens und Abwägens gerade zugeschnittenen Begriff der Wertrangordnung 5 . Der Hamburger Senatsdirektor L ü t h hatte 1950 öffentlich zum Boykott eines Films aufgerufen, der nach dem Drehbuch und unter der Regie Veit Harlans gedreht worden war, eines i m nationalsozialistischen Filmgeschäft des Dritten Reichs besonders renommierten Regisseurs. Gegen seine Verurteilung, weitere Boy kottauf ruf e zu unterlassen, wandte sich L ü t h m i t der Verfassungsbeschwerde. Die Abwägung der Meinungsfreiheit Lüths gegen die Interessen Harlans und der vom Boykott mitbetroffenen Filmgesellschaften w i r d vom BVerfG schrittweise vorgenommen: Eine Schranke der Meinungsfreiheit ist nach Auffassung des BVerfG ein Gesetz als allgemeines Gesetz i. S. des A r t . 5 I I nur dann, wenn es dem Schutz eines vor der Betätigung der Meinungsfreiheit vorrangigen Gemeinschaftswerts oder Rechtsguts dient. I m ersten Schritt muß also i n gewissermaßen abstrakter Abwägung festgestellt werden, ob ein allgemeines Gesetz vorliegt. Das allgemeine Gesetz ist anschließend, so fordert das BVerfG, wegen der besonderen Bedeutung, die gerade das Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit für den demokratischen Staat hat, i n seiner dieses Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt auszulegen. Diese Auslegung erfordert den zweiten, konkreten Abwägungsschritt. I n i h m ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Falls abzuwägen, ob gerade der durch die Meinungsäußerung Verletzte für seine i m allgemeinen Gesetz geschützten Interessen tatsächlich höheren Rang beanspruchen kann. Das Landgericht hatte die Verurteilung Lüths auf § 826 BGB gestützt. Zu prüfen war vom BVerfG, ob das Landgericht i n § 826 BGB zu Recht ein allgemeines Gesetz i. S. des A r t . 5 I I gesehen und ob es i n der Auslegung von § 826 BGB auch den zweiten Abwägungsschritt richtig vollzogen hatte. Von der Abwägung verlangt das BVerfG, sie müsse innerhalb der i n den Grundrechten zu findenden Wertordnung, die zugleich eine Wertrangordnung sei, vorgenommen werden. Wie eine 4 BVerfGE 2, 1 (12); 5, 85 (134); 6, 32 (40). „Innerhalb dieser Wertordnung, die zugleich eine Wertrangordnung ist, muß . . . Abwägung . . . vorgenommen werden". (BVerfGE 7, 198 [215]) 5

1.1 A u f t a k t des L ü t h - U r t e i l s

19

solche Abwägung i m einzelnen stattzufinden hat, das führt es i n der Überprüfung der Entscheidung des Landgerichts vor. Danach hat Abwägung weder als abstrakte noch als konkrete etwas m i t einer verschiedenen Gewichtung der Grundrechte selbst zu tun. Wenn das BVerfG auf die Verfassungsbeschwerde Lüths das Urteil des Landgerichts aufhebt, dann heißt das nicht, daß die Grundrechte der A r t . 2, 12 und 14, deren Schutz Harlan und die Filmgesellschaften geltend machen, schwächer und weniger wert seien als das Grundrecht des A r t . 5, auf das sich L ü t h beruft. Die Wertordnung soll nicht Grundrechten verschiedenen Rang zuweisen. Zwar betont das BVerfG die Bedeutung der schon i m Elfes-Urteil 6 als der oberste Wert i m Grundgesetz bezeichneten Menschenwürde. Aber allein durch die Heraushebung der Menschenwürde w i r d noch keine Rangordnung unter den Grundrechten gestiftet. Lediglich beim ersten Abwägungsschritt deuten gelegentliche Formulierungen verführerisch i n Richtung einer Wertrangordnung der Grundrechte selbst. Wenn das BVerfG vom Vorrang eines Rechtsguts vor der Meinungsäußerungsfreiheit spricht 7 , dann scheint es, als müsse nur noch der grundrechtliche Ort dieses Rechtsguts angegeben werden, damit sich immerhin ein Ausschnitt aus der Rangordnung der Grundrechte aufzeigen lasse. Aber rechtzeitig stellt das BVerfG richtig, daß es i h m eigentlich nicht u m einen Vorrang vor der Meinungsäußerungsfreiheit, sondern nur vor eben den Meinungsäußerungen geht, die als Verletzungshandlungen i m allgemeinen Gesetz ihre Schranke finden 8 . I n seiner konkreten Abwägung 9 beurteilt das BVerfG die Motive und Ziele Lüths und prüft, ob dieser bei seinen Äußerungen die Interessen Harlans und der Filmgesellschaften etwa mehr als notwendig und angemessen beeinträchtigt hat. M i t ähnlichen Fragestellungen, wenngleich weniger gründlich, untersucht das BVerfG die Situation Harlans und der Filmgesellschaften. Keiner abwägenden Wertung bedarf das BVerfG dabei zur Feststellung der Waffengleichheit i m Konflikt zwischen L ü t h und Harlan sowie den Filmgesellschaften, d. h. zur Feststellung, daß beide Seiten den Konflikt über Massenmedien i n der Öffentlichkeit austragen und i n sonstiger, ungleichgewichtiger Weise β B V e r f G E 6, 32. 7 B V e r f G E 7, 198 (210). β Nach der resümierenden Feststellung des B V e r f G „muß § 826 B G B , der grundsätzlich alle Rechte u n d Güter gegen sittenwidrige Angriffe schützt, als ein »allgemeines Gesetz' i m Sinne des A r t . 5 Abs. 2 G G angesehen w e r den" (BVerfGE 7, 198 [214]). Diese Feststellung könnte dazu verlocken, dem B V e r f G einen quantitativen Gewichtungsansatz zu unterstellen, wonach eine N o r m i m H i n b l i c k auf die grundrechtliche Wertordnung u m so w e r t voller ist, j e mehr Güter sie schützt. Einer Wertordnung unter den G r u n d rechten selbst wäre aber auch dadurch nicht näher zu kommen. • B V e r f G E 7, 198 (215 ff.). 2*

20

1 A b w . i n der Wertordnung des Grundgesetzes —

spr. zu A r t . 5

keinen Druck aufeinander ausüben konnten. Auch die weiteren Fragen, ob L ü t h die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit schon bei geringerem Einsatz hätte erreichen können und ob Harlan durch Lüths Einsatz i n seiner künstlerischen und menschlichen Existenz vernichtet worden ist, verlangen zur Beantwortung weder eine Wertordnung noch eigentlich eine Abwägung. Bei diesen Fragen nach der Symmetrie der Konfliktsituation, nach der Verhältnismäßigkeit des Einsatzes i m Konflikt und nach der Wahrung einer Mindestposition des Konfliktgegners läßt das BVerfG es aber nicht bewenden. Es fragt darüber hinaus, ob L ü t h vom Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit zum Zweck privater Auseinandersetzung Gebrauch gemacht hat oder m i t dem Ziel, einen Beitrag zur Meinungsbildung i n einer die Öffentlichkeit bewegenden Frage zu leisten, ob er zu einem solchen Beitrag legitimiert war oder nicht. Es stellt Lüths Legitimation zur M i t w i r k u n g an der öffentlichen Meinungsbildung fest und betont seine lauteren Motive 1 0 . Demgegenüber haben die Harlan beauftragenden Filmgesellschaften nach der Feststellung des BVerfG zwar formal korrekt, aber ohne Berücksichtigung des die Öffentlichkeit berührenden moralischen Problems gehandelt 11 . M i t diesen Fragen und Feststellungen unterscheidet das BVerfG Qualitäten des Grundrechtsgebrauchs. Die Wertordnung, die es der Abwägung zugrundelegt, gewichtet also zwar nicht die Grundrechte selbst, aber Arten des Gebrauchs grundrechtlicher Freiheiten. I n einem gleichzeitig m i t dem Lüth-Urteil verkündeten U r t e i l 1 2 w i r d dies bestätigt und verdeutlicht. E i n Mieter hatte während des Wahlkampfs unter Fenstern seiner Wohnung an der Außenwand des Hauses Wahlplakate angebracht. Der Hauseigentümer und Vermieter verlangte die Entfernung der Plakate. Seiner Unterlassungsklage wurde stattgegeben, und die Berufung des Mieters wurde zurückgewiesen. Gegen das Berufungsurteil erhob der Mieter erfolglos Verfassungsbeschwerde. A n die grundsätzlichen Aussagen des Lüth-Urteils anknüpfend nimmt das BVerfG auch hier wieder eine Abwägung der sich gegenüberstehenden Interessen vor. Den Konflikt zwischen der Eigentümerstellung des Vermieters und der politischen Meinungsbekundung des Mieters untersucht es dabei vor dem Hintergrund der privatrechtlichen Ausführungen des Landgerichts zunächst wiederum unter den Gesichtspunkten der Symmetrie der Konfliktsituation, der Verhältnismäßigkeit des Konflikteinsatzes und der Wahrung einer Mindestposition des Konfliktgegners. Es stellt fest, daß der Vermieter u m des Hausfriedens w i l l e n auf das Anbringen politischer Plakate an seinem Haus seinerseits verzichtet und es auch anderen Mietern nicht gestattet hat und daß 10 BVerfGE 7, 198 (218, 229). 11 BVerfGE 7, 198 (218). 12 BVerfGE 7, 230.

1.1 A u f t a k t des L ü t h - U r t e i l s

21

der beschwerdeführende Mieter, dem der Propagandaapparat einer großen Partei zur Verfügung stand, i n seinen politischen Wirkungsmöglichkeiten durch das Verbot des Hauseigentümers nicht nennenswert beeinträchtigt war. Auch i n dieser Entscheidung begnügt sich das BVerfG jedoch nicht m i t derartigen ohne Wertordnung und ohne eigentliche Abwägung anzustellenden Erwägungen, sondern unterscheidet zwischen den formellen und den natürlichen Eigentümerbefugnissen und schließlich dem rechten sozialen Eigentumsgebrauch 13 . Es stellt dem Mieter, der m i t seiner störenden Propaganda ohne erhebliches Interesse einen unüblichen Gebrauch der Meinungsäußerungsfreiheit gewählt habe 14 , den Vermieter gegenüber, der nicht auf die Wahrung seiner formellen Eigentümerbefugnisse gepocht, sondern sich u m den rechten sozialen Gebrauch seines Eigentums bemüht habe. Die Synopse der beiden Urteile bestätigt, daß die Wertordnung, die das BVerfG bei der Abwägung verwendet, nicht die Grundrechte selbst als mehr oder weniger wertvoll i n eine Rangordnung bringt. Denn dabei wären der Erfolg des Beschwerdeführers L ü t h und die Zurückweisung der Verfassungsbeschwerde des Mieters nicht miteinander vereinbar. Gerade i n der Synopse w i r d zudem die vom BVerfG tatsächlich zugrundegelegte Wertrangordnung deutlich, m i t der es i n den beiden Urteilen i n gleicher Weise Qualitäten des Grundrechtsgebrauchs unterscheidet. Die Arten des Gebrauchmachens von der durch A r t . 14 geschützten Eigentümerstellung steigen vom Gebrauch der formellen über den der natürlichen Eigentümerbefugnisse zum rechten sozialen Gebrauch des Eigentums auf. Ebenso sind den unüblichen und unerheblichen die allgemein üblichen Formen der Meinungsäußerungsfreiheit — es läßt sich ergänzen: als die natürlichen — übergeordnet, u m von dem — auch hier mag wieder ergänzt werden: rechten sozialen — Gebrauch der Meinungsäußerungsfreiheit überragt zu werden, den ein dazu Legitimierter als Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung macht. So bedient sich das BVerfG bei der Beurteilung des Handelns i m durch A r t . 5 bzw. A r t . 14 geschützten Raum derselben Kriterien. Es unterscheidet jeweils vom natürlichen und üblichen Grundrechtsgebrauch einerseits das weniger wertvolle unübliche, unerhebliche, allenfalls formal korrekten, andererseits als besonders wertvoll das rechte soziale Handeln des Grundrechtsträgers. Die daran orientierte Abwägung hat i m Konflikt festzustellen, welcher Konfliktbeteiligte den wertvolleren Gebrauch eines Grundrechts macht, um zu seinen Gunsten die Konfliktentscheidung zu treffen.

13 BVerfGE 7, 230 (235, 237). 14 B V e r f G E 7, 230 (236).

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1 A b w . i n der Wertordnung des Grundgesetzes — Rspr. zu A r t . 5

Zu diesem Verständnis von Wertordnung und von Abwägung in der Wertordnung des Grundgesetzes ist das BVerfG über der Beschäftigung mit A r t . 5 gelangt. Es weiterzuverfolgen ist daher die weitere Rechtsprechung des BVerfG zu A r t . 5 geeignet. Erst i m Gesamtüberblick kann die Frage beantwortet werden, ob die vom BVerfG verwandte Folie der Grundrechtsgebrauchsbewertung von i h m in einem methodisch und inhaltlich anspruchsvollen, den Begriff einer Wertordnung rechtfertigenden Sinn gemeint ist, oder ob sie nur als das Einfallstor dient, durch das beliebige Wertungen der Bundesverfassungsrichter i n die Urteilsbegründung eingehen können. Zunächst hat aber noch einmal dem Lüth-Urteil die Aufmerksamkeit zu gelten. Denn i n i h m liegen sichtbar Wurzeln der Abwägung i n der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bloß. Eine Wurzel des vom BVerfG entwickelten Abwägungsgebots ist das Zivilrecht. Es ist nicht zufällig, daß i m L ü t h - U r t e i l die Überprüfung gerade eines zu § 826 BGB ergangenen Urteils eines Z i v i l gerichts zum Auftakt der bundesverfassungsgerichtlichen Abwägungspraxis wird. Denn die Abwägung einander entgegenstehender Interessen hat i m Zivilrecht seit alters ihren Ort. I n zahlreichen Gesetzesbestimmungen nicht nur des BGB ist das Gebot der Interessenabwägung entweder ausdrücklich enthalten oder von der Rechtsprechung und -lehre als Voraussetzung der Gesetzesanwendung gefunden worden 1 5 . Dort, wo Gesetzgeber oder Rechtsanwender die Beachtung der besonderen Umstände eines Konflikts für geboten erachteten, wurde insbesondere über die Begriffe von Treu und Glauben und, so auch bei § 826 BGB, über den Begriff der guten Sitten der Gedanke entwickelt, daß die Konfliktentscheidung i n der Gewichtung und Abwägung der beteiligten Interessen gefunden werden müsse. Gerade hier an das Zivilrecht anknüpfend, hat das BVerfG allerdings zivilistisches Denken nicht i n seiner begrifflich prägnanten, dogmatisch ausgereiften Gestalt aufgenommen. Die „Generalklausel der Interessenabwägung" deckt eine Kasuistik ab, deren methodische und dogmatische Aufarbeitung nur bis zum Zusammenstellen von Gesichtspunkten und Topoi führt. Weitere Wurzel des Abwägungsgebots ist Smends Beitrag zu A r t . 118 W R V 1 6 . Das BVerfG w i l l als allgemeine Gesetze alle die Gesetze verstehen, die nicht eine Meinung als solche verbieten, die vielmehr dem Schutz eines Gemeinschaftswerts dienen, der gegenüber der Betätigung der Meinungsfreiheit den Vorrang hat 1 7 . Damit werden ganz 15 Vgl. die Nachweise bei Hubmann, Grundsätze der Interessenabwägung, S. 86 ff., Die Methode der Abwägung, S. 173 f. 16 Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung. 17 BVerfGE 7, 198 (209/210).

1.1 A u f t a k t des L ü t h - U r t e i l s

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verschiedene Begriffe des allgemeinen Gesetzes zusammengespannt. M i t dem Hinweis auf bloße Formulierungsunterschiede w i l l das BVerfG die K l u f t glätten, die zwischen dem i n der Definition des BVerfG ineinandergeschobenen formalen und materialen Verständnis der A l l gemeinheit der Gesetze besteht. Aber i n der Feststellung und A n wendung eines Gesetzes als eines allgemeinen muß die K l u f t sogleich wieder aufbrechen: Die Durchführung dieser Operationen setzt weder die Beantwortung von Wertungsfragen noch Abwägungen voraus, wenn m i t der zur WRV und zunächst auch zum Grundgesetz herrschenden Staatsrechtslehre i n formalem Verständnis als allgemeine die Gesetze gefaßt werden, die nicht Sonderrecht gegen die Meinungsfreiheit enthalten 1 8 . Indem das BVerfG wertet und abwägt, schlägt es sich auf die Seite des von Smend entwickelten materialen Verständnisses. Bei Smend sind die Wendungen des BVerfG vorformuliert, bei i h m sind es „Abwägungsverhältnisse", i n denen die Fragen nach dem Vorrang der Gemeinschaftswerte und nach der Allgemeinheit der Gesetze beantwortet werden müssen 19 . Die Hinwendung des BVerfG zu einem materialen Verständnis entsprach nicht nur der nach Weimarer Republik und Nationalsozialismus i n der Rechtswissenschaft allgemeinen und von der Rechtsprechung jedenfalls verbal mitvollzogenen Wendung von Positivismus, Formalismus und Relativismus zu materialen, wertphilosophischen und naturrechtlichen Begründungen. Sie hatte i n der Rechtsprechung des BVerfG einen besonderen Anlaß und Stellenwert: Gemessen an der klassischen Lehre von der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes, wonach Staatsbildung u n d Verfassungsgebung i n legitimer Weise durch Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung und durch die Annahme der Verfassung durch das V o l k ohne Beschränkung von außen stattfinden, weist das Grundgesetz eine untypische Entstehung und damit ein Legitimitätsdefizit auf. Das BVerfG, das die klassische Lehre grundsätzlich bejaht 2 0 , konnte das i n der staatsrechtlichen Diskussion nach 1949 durchaus bewußte 2 1 Legitimitätsdefizit nicht übersehen. Es stellt

Anschütz, Die Verfassung des deutschen Reichs, A r t . 118 A n m . 3; Häntzschel, Das Recht der freien Meinungsäußerung. S. 659 ff.; Rothenbücher, Das Recht der freien Meinungsäußerung, S. 19 ff.; von MangoldtKlein, Das Bonner Grundgesetz, A r t . 5 A n m . I X 3 a; Ridder, Meinungsfreiheit, S. 282; Bettermann, Die allgemeinen Gesetze als Schranken der Pressefreiheit, S. 603 ff. i» Vgl. W D t S t R L 4, S. 52 (Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 97/98): „ » A l l gemeine 4 Gesetze i m Sinne des A r t . 118 sind also Gesetze, die deshalb den Vorrang v o r A r t . 118 haben, w e i l das v o n ihnen geschützte gesellschaftliche G u t wichtiger ist als die Meinungsfreiheit." Der Begriff des Abwägungsverhältnisses fällt W D t S t R L 4, S. 53 (Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 98). 20 B V e r f G E 1, 14 (41, 50/51, 61).

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1 A b w . i n der Wertordnung des Grundgesetzes —

spr. zu A r t . 5

daher beim Grundgesetz nicht auf die Legitimation durch demokratisches Verfahren, sondern auf inhaltliche Legitimation ab. Es sucht die Legitimität des Grundgesetzes daraus zu begründen, daß bei seiner Schaffung übergesetzliche Gerechtigkeitswerte gewahrt worden seien, daß das Grundgesetz dem kulturellen Zustand des deutschen Volkes entspreche und daß seine liberal-rechtsstaatlichen und sozialen Werte von der Uberzeugung der Mehrheit getragen würden 2 2 . Ist so die Grundfrage der Verfassungslegitimität zur Frage nach Werten und K u l t u r gütern geworden, dann entbehrt es nicht der Folgerichtigkeit, über die Grundrechte zu einer Wertordnung gelangen zu wollen und Grundrechtsprechung als Abwägung von Werten und Gütern zu betreiben.

1.2 Vom Schmid/Spiegel-Beschluß zum Lebach-Urteil Zwischen Wertung von Grundrechtsgebrauch und Analyse der Konfliktsituation Das BVerfG setzt seine Rechtsprechung zu A r t . 5 i m Schmid/SpiegelBeschluß 23 fort. Der Stuttgarter OLG-Präsident Schmid hatte öffentlich zum politischen Streik Stellung genommen. I n der Zeitschrift ,Der Spiegel' erschien darauf ein anonymer A r t i k e l über Schmids Vergangenheit und politische Haltung; dabei wurde Affinität zum K o m munismus unterstellt. Schmid veröffentlichte i n der Presse eine Stellungnahme, i n der er nicht nur den Spiegel-Artikel als weithin unwahr und verzerrt zurückwies, sondern darüber hinaus den Spiegel selbst als „Reizliteratur", als „Gattung von Publizistik, die auf dem Gebiet der Politik das ist, was die Pornographie auf dem Gebiet der Moral" kritisierte. Schmid wurde auf die Privatklage von Redakteur 21

Vgl. Grewe, Die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Bundesrepublik Deutschland, S. 266/267; Klein, Das Besatzungsstatut f ü r Deutschland, Sp. 742 ff.; Ipsen, Über das Grundgesetz, S. 23 ff.; Weber, Spannungen und K r ä f t e i m westdeutschen Verfassungssystem, S. 8 ff. 22 Vgl. neben B V e r f G E 3, 225 (233/234) insbesondere B V e r f G E 5, 85 (379): „Die Ordnung i n der Bundesrepublik ist legitim. Sie ist es nicht n u r deshalb, w e i l sie auf demokratische Weise zustande gekommen und seit i h r e m Bestehen immer wieder v o m V o l k i n freien Wahlen bestätigt worden ist. Sie ist es vor allem, w e i l sie — nicht notwendig i n allen Einzelheiten, aber dem Grundsatz nach — Ausdruck der sozialen u n d politischen Gedankenwelt ist, die dem gegenwärtig erreichten kulturellen Zustand des deutschen Volkes entspricht. Sie beruht auf einer ungebrochenen Tradition, die — aus älteren Quellen gespeist — v o n den großen Staatsphilosophen der A u f k l ä rung über die bürgerliche Revolution zu der liberal-rechtsstaatlichen E n t wicklung des 19. und 20. Jahrhunderts geführt u n d der sie selbst das Prinzip des Sozialstaates, d . h . das Prinzip der sozialen Verpflichtung hinzugefügt hat. Die sich hieraus ergebenden Wertsetzungen werden von der übergroßen Mehrheit des deutschen Volkes aus voller Überzeugung bejaht." 23 BVerfGE 12, 113.

1.2 V o m Schmid/Spiegel-Beschluß z u m Lebach-Urteil

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und Herausgeber des Spiegel wegen Beleidigung verurteilt, seine Revision wurde verworfen. Darauf erhob er m i t Erfolg Verfassungsbeschwerde. Die Entscheidungsbegründung beginnt ganz i. S. des Lüth-Urteils. Sie weist m i t einem Zitat auf das L ü t h - U r t e i l hin, auf die Wertordnung des Grundgesetzes und auf die erhöhte Bedeutung des Grundrechts der Meinungsfreiheit. Ein besonderes Eingehen auf das Abwägungsgebot erübrigt sich für das BVerfG, w e i l die Rechtsprechung der Strafgerichte ohnehin § 193 StGB als Gebot der Güterabwägung versteht und w e i l daher eine von den Instanzgerichten schon bewußt vorgenommene Abwägung zur Prüfung vorlag. Der Fortgang der Entscheidungsbegründung 24 setzt sich jedoch tendenziell von den vor erörterten Entscheidungen ab. Die Unterscheidung und unterschiedliche Bewertung von Arten des Grundrechtsgebrauchs w i r d keineswegs aufgegeben. Aber indem das BVerfG die Bedeutung der Motive dessen, der i m Raum des A r t . 5 handelt, zurücktreten läßt 2 5 , indem es nach seiner Legitimation, zur Bildung der öffentlichen Meinung beizutragen, nicht mehr fragt, bekommt die Unterscheidung eine andere Tendenz: Sie nähert sich einer Unterscheidung verschiedener sozialer Bereiche, i n denen Meinungs- und Interessenkonflikte auch verschieden auszutragen sind. I n privaten Auseinandersetzungen verstehen sich andere Ziele und M i t t e l der Austragung des Konflikts als gegen einen i n der Öffentlichkeit geführten Angriff. Hier stehen nicht nur die private Anerkennung persönlicher Lauterkeit, sondern das öffentliche Ansehen der Person i n ihrer sozialen Rolle, i n ihrer Stellung oder ihrem A m t auf dem Spiel. Hier geht es bei der Verteidigung nicht nur u m die treffende Widerlegung erhobener Vorwürfe, sondern erst einmal darum, etwa durch einen Gegenangriff für die Verteidigung die nötige Resonanz i n der Öffentlichkeit zu erreichen. Das BVerfG zielt aber auch i m Schmid/Spiegel-Beschluß über die angedeutete Unterscheidung sozialer Bereiche weit hinaus. Es funktionalisiert das Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit auf die öffentliche Meinung, es sieht seinen Schutz u m so intensiver, je enger der Bezug einer Meinungsäußerung zur Bildung der öffentlichen Meinung ist 2 6 . Auf die i n § 193 StGB gebotene Güterabwägung soll A r t . 5 überhaupt nur dann von Einfluß sein, wenn die öffentliche Meinungsbildung im Spiel ist 2 7 . Aus ihrer Bedeutung i n der Demokratie leitet das BVerfG den besonderen Grundrechtsschutz der Presse und zugleich 24 25 26 27

BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE

12, 12, 12, 12,

113 113 113 113

(126 ff.). (128 f.). (127). (125).

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1 A b w . i n der Wertordnung des Grundgesetzes —

spr. zu A r t . 5

Pflichten ab, die der Presse i n ihrer Berichterstattung als Trägerin einer Aufgabe bei der Bildung der öffentlichen Meinung obliegen sollen 28 . Die Pflichten seien u m so ernster zu nehmen, je höher das Grundrecht der Pressefreiheit i m Blick auf seine Bedeutung für die Meinungsbildung i n der Demokratie einzuschätzen sei. Je größer die Bedeutung der öffentlichen Meinungsbildung für die Demokratie und je näher das Handeln i m Bereich von Art. 5 der Bildung öffentlicher Meinung ist, desto intensiver w i l l also das BVerfG Schutz gewähren und Pflichten zuteilen. I n dieser Funktionalisierung auf die öffentliche Meinung und i n der sie begleitenden abwägenden Gewichtung eines Mehr oder Weniger an Bedeutung der öffentlichen Meinung, an Nähe des Handelns zur Meinungsbildung und an Intensität des Grundrechtsschutzes scheint wieder die Rangordnung von Qualitäten des Grundrechtsgebrauchs durch. Sie ist nicht mehr wie i m L ü t h und i m Wahlplakat-Urteil i n wenigen Rangstufen festzumachen, sie ist flexibler und i n der angedeuteten Unterscheidung verschiedener Sozialbereiche tendenziell objektiver geworden. Sie ist immer noch offen für Wertungen nach A r t des Lüth-Urteils, für ein Abstellen etwa auf die Legitimation zur Meinungsäußerung. Zugleich aber ist sie offen auch dafür, i n der Unterscheidung verschiedener Sozialbereiche, die sich i m Blick auf die Grundrechtsnorm als verschiedene Normbereiche ausführen lassen, überholt zu werden.

Das BVerfG trägt den Widerspruch dieser beiden Tendenzen hier und auch i m Fortgang seiner Rechtsprechung zu A r t . 5 nicht ausdrücklich aus. Vor dem Hintergrund des Lüth-Urteils w i r k e n allerdings viele der späteren Urteile als Abkehr von der Wertordnung des Grundrechtsgebrauchs. Das gilt zunächst für die Entscheidung, i n der das BVerfG ein OLG-Urteil aufhebt, das i n einer Auseinandersetzung zwischen Interessenvertretern der Urheber einerseits, der Tonbandgerätebesitzer andererseits ergangen w a r 2 9 . Gegenstand der Auseinandersetzung war, wie die private Uberspielung geschützter Werke auf Tonband zu regeln sei. I n der Zeitschrift des Verbands von Tonbandgerätebesitzern wurde dem Verband der Urheber vorgeworfen, er wolle die von i h m angestrebte Regelung m i t Bespitzelungen i m privaten Bereich durchsetzen, was „östlichen Zuständen" entspreche. Herausgeber und Redakteur der Zeitschrift wurde darauf untersagt, diesen Vorwurf zu erheben. 28

BVerfGE 12, 113 (130). 29 BVerfGE 24, 278.

1.2 V o m Schmid/Spiegel-Beschluß zum Lebach-Urteil

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Das BVerfG untersucht i n seiner Abwägung sorgfältig die Voraussetzungen, Umstände und Austragungsweisen des Interessen- und Meinungskonflikts. Es stellt fest, daß die untersagte Äußerung i m Rahmen einer öffentlichen Auseinandersetzung gefallen war, daß deren Gegenstand einen sich ständig vergrößernden Personenkreis betraf, i n der Tagespresse erörtert wurde und die Rechtsprechung sowie die Gesetzgebungsorgane beschäftigte. Das Problem einer unerträglichen E i n w i r k u n g i n den privaten Bereich war dabei schon angesprochen worden und lag keineswegs neben der Sache. Der untersagten Äußerung war zwar nicht wie i m Schmid/Spiegel-Beschluß ein Angriff der Gegenseite vorausgegangen. Aber beide Seiten hatten i n ihrer Auseinander setzung m i t polemischen Ausdrücken nicht gespart. Unter den Bedingungen einer Reizüberflutung des Publikums hält es das BVerfG für nicht zu beanstanden, wenn die Aufmerksamkeit durch auffällige, auch starke Formulierungen geweckt wird. Besonders deutlich liest sich der Blinkfüer-Beschluß 3 0 als Abkehr vom Lüth-Urteil, zumal er eine Entscheidung 31 aufhebt, i n der vom B G H die Nachfolge des Lüth-Urteils gerade gesucht wurde. Der Verfassungsbeschwerdeführer, Herausgeber der Hamburger Wochenzeitung ,Bünkfüer', unterlag vor dem B G H m i t seiner gegen das Verlagshaus A x e l Springer und andere Verlagshäuser gerichteten Schadensersatzklage. I n einem Boykottaufruf hatten die i n Hamburg marktbeherrschenden Verlagshäuser nach dem Bau der Mauer i n Berlin die Zeitungs- und Zeitschriftenhändler m i t einem Rundschreiben aufgefordert, keine Blätter m i t Rundfunk- und Fernsehprogrammen von DDR-Sendern mehr zu vertreiben, und den Boykottbrechern Liefersperren angedroht. Der Beschwerdeführer, der i n seiner Zeitung solche Programme abdruckte, hatte durch den Boykott wirtschaftliche Nachteile erlitten. Der B G H würdigte i n seiner Abwägung des von den beklagten Verlagshäusern i n Anspruch genommenen Grundrechts der Meinungsäußerungsfreiheit gegen die gewerbliche Betätigung des Beschwerdeführers den Boykottaufruf als rechten sozialen Grundrechtsgebrauch, wie er oben auf die höchste Stufe der Rangordnung von Grundrechtsgebrauchsqualitäten zu setzen war. Die beklagten Verlagshäuser hatten nach Feststellung des B G H keine eigennützigen Zwecke i m geschäftlichen Verkehr verfolgt, sondern, von der allgemeinen Empörung getragen, ein politisches Anliegen, das die Öffentlichkeit bewegte und das Wohl der Allgemeinheit berührte. Die Wahl des Mittels erklärte der B G H als der Herausforderung, die das Ereignis i n Berlin darstelle., angemessen. Als Zeitungsverleger waren die Beklagten nach Ansicht so B V e r f G E 25, 256. 31 N J W 1964, S. 29.

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des B G H auch besonders legitimiert, sich zu Sprechern der allgemeinen Empörung zu machen. Demgegenüber habe der Beschwerdeführer zwar nicht gegen ein Gesetz verstoßen. Sein Verhalten sei aber geeignet gewesen, die politische Propaganda der DDR zu fördern. Er habe dadurch die K r i t i k der Öffentlichkeit geradezu herausgefordert. Von derartigen Wertungen macht sich das BVerfG i n seinem Urteil frei. Zwar stellt es seine Urteilsbegründung unter die „vom Grundgesetz i n seinem Grundrechtsabschnitt aufgerichtete objektive Wertordnung" 3 2 , deren Einwirkung auf die Privatrechtsordnung es gegenüber der Entscheidung des B G H zur Geltung bringen w i l l , und nimmt gelegentlich Wendungen und Gesichtspunkte der Wertrangordnung auf, die es i m L ü t h - und i m Wahlplakate-Urteil entwickelt hat. Aber hierin sind nicht die das Urteil tragenden Erwägungen zu sehen. Denn an die Rangordnung von Grundrechtsgebrauchsqualitäten hat sich der B G H ja durchaus gehalten. Wenn das BVerfG die Entscheidung des B G H aufhebt, dann darum, w e i l es von dieser Rangordnung abrückt. Als das Ergebnis tragend läßt der Blinkfüer-Beschluß folgenden Argumentationsgang erkennen 3 3 : Vorausgesetzt wird, daß Boykott i m Bereich wirtschaftlichen Wettbewerbs als M i t t e l des Konkurenzkampfs unzulässig ist. Etwas anderes gilt i m Konflikt verschiedener Meinungen, der i m Bereich der politschen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit ausgetragen wird. Hier kann ein Boykott als Versuch, eine Meinung gesellschaftlich wirksam werden zu lassen, zulässig sein. Daß meinungsmäßige Gegner zugleich i n wirtschaftlicher Konkurrenz stehen und dabei verschieden starke Positionen einnehmen, verwehrt ihnen nicht die öffentliche Austragung ihres Meinungskonflikts und auch nicht den Gebrauch des Boykottaufrufs als eines Mittels i n der Konfliktsaustragung. Aber sie dürfen ihre wirtschaftliche Stärke bzw. die wirtschaftliche Schwäche des Gegners nicht dazu benutzen, ihre eigene Meinung durchzusetzen und die des Gegners zu unterdrücken. Die Position i m wirtschaftlichen Wettbewerb darf i m ganz anderen Bereich des Wettbewerbs der Meinungen nicht so ausgespielt werden, daß die Adressaten des Boykottaufrufs diesem, wie immer ihre eigene Meinung sein mag, schon infolge wirtschaftlicher Abhängigkeit folgen müssen. Der Bereich des öffentlichen Wettbewerbs der Meinungen unterliegt einer eigenen Gesetzlichkeit, er unterliegt dem Gebot der Symmetrie? i. S. einer Chancen- und Waffengleichheit der miteinander konkurrierenden Meinungspositionen. Die Beschäftigung des BVerfG m i t der Entscheidung des B G H gipfelt i n einer doppelten K r i t i k : Erstens hat der B G H dem von den 32 BVerfGE 25, 256 (263). 33 BVerfGE 25, 256 (264 ff.).

1.2 V o m Schmid/Spiegel-Beschluß zum Lebach-Urteil

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beklagten Verlagshäusern i n Anspruch genommenen Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit nur die gewerbliche Betätigung des Beschwerdeführers gegenübergestellt, nicht aber sein Grundrecht der Pressefreiheit. Zweitens wurde vom B G H nicht gesehen, daß die Beklagten ihre Meinungsposition nicht i n der Öffentlichkeit politischer Auseinandersetzungen, sondern m i t ihrem an die wirtschaftlich abhängigen Zeitungs- und Zeitschriftenhändler gerichteten Boykottaufruf gewissermaßen hinter dem Rücken der Öffentlichkeit und mit einer Waffe verfochten haben, der vom Beschwerdeführer meinungsmäßig nicht wirksam begegnet werden konnte. I n beidem hat der B G H den zwischen den Parteien bestehenden Meinungskonflikt und den gesellschaftlichen Bereich verkannt, i n den der Meinungskonflikt gehörte und dessen faktischen und normativen Bedingungen er unterlag. Ob das BVerfG diesen Bereich i m Blinkfüer-Beschluß und andererorts i n seiner Rechtsprechung — als vorstaatliche, aber auf die staatlichen politischen Entscheidungsprozesse bezogene Öffentlichkeit hat es i h n i n seiner Rechtsprechung zur Parteienfinanzierung ausführlicher behandelt 3 4 — zureichend erfaßt hat, darauf kommt es hier nicht an. Hier geht es u m die Richtung, die Abwägung i n der Wertordnung des Grundgesetzes seit dem Lüth-Urteil genommen hat. Von einer Rangordnung von Grundrechtsgebrauchsqualitäten ist das BVerfG über eine Funktionalisierung der Meinungsäußerungsfreiheit und daran orientierte Gewichtung von Intensitäten des Grundrechtsschutzes zur Unterscheidung sozialer Bereiche oder Normbereiche gelangt. I m BlinkfüerBeschluß bedeutet Abwägung i n der Wertordnung des Grundgesetzes als M i t t e l der Konfliktsentscheidung nur noch die Prüfung, ob die bereichsspezifische Konfliktsymmetrie gewahrt ist.

Die Rechtsprechung des BVerfG zur Abwägung bei Art. 5 ließ sich bisher als Fortschreiten zu größerer Sachlichkeit schildern, als Entwicklung von fragwürdig an einer unausgewiesenen Vorstellung von rechtem Gebrauch grundrechtlicher Freiheit orientierten Bewertungen und Gewichtungen zu sachhaltigen, i n eingehender Analyse der tatsächlichen Konfliktsituation zu überprüfenden Abwägungskriterien. Dei Mephisto-Beschluß 35 stellt diese Sicht jedoch i n Frage. Angesichts des Mephisto-Beschlusses kann die Entwicklung auch ganz anders verstanden werden, gerichtet nicht auf objektive Kriterien unter Verzicht; subjektiver Bewertungen, sondern auf restriktive Prüfungspraxis, der zunächst zwar die subjektiven Bewertungen, dann aber auch die ob34 Vgl. insbesondere BVerfGE 20, 56 (97 ff.). 35 B V e r f G E 30, 173.

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jektiven Kriterien zum Opfer fallen. Denn i n diesem U r t e i l verzichtet das BVerfG i n der Uberprüfung des Abwägungsergebnisses von OLG und B G H auf jede eigene Abwägung. Die Verfassungsbeschwerde eines Verlages richtete sich gegen das vom Adoptivsohn und Alleinerben von Gustaf Gründgens erwirkte Verbot, das Buch ,Mephisto. Roman einer Karriere' von Klaus Mann herauszubringen. Der Roman handelte von der Karriere eines Schauspielers i m Dritten Reich unter nicht zu übersehender Anlehnung an die Lebensgeschichte von Gründgens. I m Vorspruch w i r d allerdings vermerkt, daß es Klaus Mann nicht u m ein Porträt von Gründgens, sondern u m die Schilderung des Typs des charakterlosen Mitläufers und Karrieristen ging. Zum Verbot waren OLG und B G H über eine Güter- und Interessenabwägung zwischen Kunstfreiheit und Persönlichkeitsschutz gelangt. Das BVerfG entwickelt zunächst, daß tatsächlich eine Spannungslage zwischen Art. 11 und A r t . 5 I I I 1 vorliege, deren Lösung i n einer Abwägung der widerstreitenden Interessen zu suchen sei. Die Kunstfreiheit, wertentscheidende Grundsatznorm und individuelles Freiheitsrecht, unterliege zwar weder den Schranken von A r t . 5 I I noch denen von A r t . 212, sie sei aber auch nicht schrankenlos gewährt. Ihre Grenzen seien aus der Verfassung selbst zu entwickeln, ein Konflikt zwischen der Kunstfreiheit und dem ebenfalls verfassungsrechtlich geschützten Persönlichkeitsbereich müsse „nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung" 3 6 gelöst werden. Dabei sei der soziale Wertund Achtungsanspruch des einzelnen ebensowenig der Kunstfreiheit übergeordnet wie sich die Kunst nicht über den Achtungsanspruch des Menschen hinwegsetzen dürfe. Wie das BVerfG die nach dem GG vorbehaltlose Kunstfreiheit m i t Vorbehalten versieht, das allein fordert K r i t i k heraus. Die K r i t i k hat hier aber näher dem zu gelten, daß das BVerfG das von i h m entwickelte Abwägungsgebot selbst nicht ernst nimmt. Von der Abwägung zwischen dem Persönlichkeitsschutz, der nach Auffassung des BVerfG Gründgens auch nach seinem Tod noch zu gewähren ist, und der Kunstfreiheit, auf die sich auch der das Kunstwerk veröffentlichende Verleger berufen kann, wären ja nach der vorangegangenen Rechtsprechung jedenfalls zu erwarten gewesen der Blick auf den sozialen Bereich, i n dem der Roman von Klaus Mann auf Resonanz rechnen und i n dem allein er das Persönlichkeitsbild von Gründgens beeinträchtigen kann, und die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der von OLG und B G H getroffenen Konfliktlösung, die zugunsten des Persönlichkeitsschutzes die Kunstfreiheit völlig zurückdrängt. I m Blick auf BVerfGE

, 1

(19).

1.2 V o m Schmid/Spiegel-Beschluß zum Lebach-Urteil

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die literarisch interessierte Öffentlichkeit, i n der Klaus Manns Roman sein Publikum findet, wäre zu bezweifeln gewesen, daß das Gründgensb i l d des Lesers durch die Romanlektüre überhaupt geprägt wird. Unter dem Gesichtspunkt der Konfliktsymmetrie hätte bedacht werden müssen, daß i n diesem Bereich, wenn denn Klaus Manns Roman für die Einschätzung von Gründgens doch sollte bedeutsam werden können, die Gegenpositionen i n Gestalt positiver Darstellungen von Gründgens' Leben und Werk, kritischer Auseinandersetzungen m i t Klaus Mann und negativer Beurteilungen seines Romans durchaus vertreten sind und beachtet werden. Schließlich wäre unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit zu prüfen gewesen, ob sich nicht zur Wahrung des Persönlichkeitsschutzes Anforderungen an ein Vorwort hätten aufstellen lassen, denen genügend der Roman hätte erscheinen können. Insgesamt hätte vom BVerfG eine besondere Sorgfalt der Abwägung erwartet werden können. Denn indem das BVerfG starre Grundrechtsschranken durch die schmiegsame Abwägung ersetzt, beansprucht es ja, der Bedeutung der abzuwägenden Grundrechtspositionen Rechnung zu tragen. Der Bedeutung, die das Grundgesetz selbst der Kunstfreiheit durch ihre schrankenlose Gewährleistung beimißt, hätte daher eine besonders eingehende Abwägung entsprochen. Statt dessen meint das BVerfG, es könne „ i n derartigen Fällen eine Verletzung des Grundrechts der unterlegenen Partei nur feststellen, wenn der zuständige Richter entweder nicht erkannt hat, daß es sich u m eine Abwägung widerstreitender Grundrechtsbereiche handelt, oder wenn seine Entscheidung auf einer grundsätzlich unrichtigen A n schauung von der Bedeutung des einen oder anderen der Grundrechte, insbesondere vom Umfang ihrer Schutzbereiche beruht" 3 7 . I m übrigen sei die Abwägung Aufgabe des Richters und verletze Grundrechte nicht schon dann, wenn sie i n fragwürdiger Wertung den Interessen der einen oder der anderen Seite zuviel Gewicht beilege. Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit schließlich sei nur bei Eingriffen des Staates i n die Freiheit der Bürger zu beachten, nicht aber bei der Lösung von Interessenkonflikten zwischen rechtlich gleichgeordneten Rechtssubjekten 3 8 . Den i n dieser Weise dem Richter freigegebenen Abwägungsspielraum w i l l das BVerfG lediglich auf W i l l k ü r überprüfen 3 9 . 37 B V e r f G E 30, 173 (197). 38 BVerfGE 30, 173 (199). 39 Den Bruch, den dies m i t der bisherigen Rechtsprechung bedeutet, diagnostiziert Rupp - von Brünneck i n i h r e m Sondervotum (BVerfGE 30, 218 [220/221]): „Demgegenüber würde die der Senatsentscheidung zugrundeliegende Abstinenz letzten Endes darauf hinauslaufen, daß eine allein gegen die A r t der Rechtsanwendung i m Einzelfall gerichtete Verfassungsbeschwerde stets aussichtslos wäre, w e n n das einschlägige Grundrecht n u r b e i m Namen genannt u n d die hierzu i n der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelten Grundsätze i n die Entscheidung aufgenommen

1 A b w . i n der Wertordnung des Grundgesetzes — Rspr. zu A r t . 5

Damit desavouiert das BVerfG zwar nicht seine bisherige Abwägungspraxis, aber die Begriffe, auf die es diese Praxis gebracht hat. I m Mephisto-Urteil dient das Reden von Wertordnung, Spannungslage und Abwägung so offensichtlich nur zur Verschleierung eines Begründungsdefizits und zur Legitimation des Ergebnisses, daß gefragt werden muß, ob die sachhaltigen Abwägungskriterien der vorangegangenen Rechtsprechung i n dem ihnen hier zugemessenen systematischen Stellenwert nicht überinterpretiert worden sind. Ist Abwägung doch nur ein sogar für das BVerfG selbst unverbindliches Jonglieren m i t Gesichtspunkten, die je nach Gunst der Entscheidungsstunde objektiv sachhaltig oder subjektiv wertend, spekulativ oder empirisch überprüfbar ausfallen? Führt der Abstand vom L ü t h - U r t e i l das BVerfG allenfalls zur Abkehr von gehaltvoller Abwägung überhaupt, nicht aber zur Entwicklung objektiver statt subjektiver Abwägungskriterien? Auffällig ist, daß i m Mephisto-Urteil die vielleicht zunächst nur zur Wahrung der Rechtsprechungstradition fortgeschriebene Formel der Wertordnung neben dem Fehlen sachhaltiger Abwägungskriterien erneut i n einer an das L ü t h - U r t e i l erinnernden Weise Gewicht bekommt. Das BVerfG entfaltet die Kunstfreiheit als wertentscheidende Grundsatznorm und als Individualfreiheitsrecht i n der Wertordnung des Grundgesetzes. Es versucht sich dabei i n einer Ästhetik, die das Wesen des künstlerischen Schaffens und Wirkens — oder sollte man übersetzen: den rechten sozialen Gebrauch der Kunstfreiheit? — und das Verhältnis zwischen Kunst und Wirklichkeit erfassen soll. Das Resultat 40 sind Unterscheidungen zwischen mehr oder weniger gegenüber dem U r b i l d der Wirklichkeit verselbständigten Kunstwerken, zwischen stärkerer oder schwächerer Objektivierung des Allgemeinen zu Lasten des Individuellen i m künstlerischen Schaffen, zwischen porträtierendem und verfremdendem Gebrauch der Kunstfreiheit.

I m Rückblick vom Lebach-Urteil 4 1 erweist sich das Mephisto-Urteil jedoch als Entgleisung. Das Lebach-Urteil setzt die geschilderte Entwicklung zu sachhaltiger Abwägung fort. sind, gleichgültig, zu welchem Ergebnis das Gericht i m Einzelfall k o m m t — die i n der Senatsentscheidung konzedierte Prüfung auf W i l l k ü r hat keine Bedeutung, w e i l auf sachfremden Erwägungen beruhende Gerichtsentscheidungen so gut w i e nie vorkommen —. H i e r i n läge eine evidente V e r kürzung des bisherigen Grundrechtsschutzes: Bei solchen Prüfungsmaßstäben hätten weder das L ü t h - U r t e i l selbst . . . noch die Entscheidungen i m SchmidSpiegel-Fall, i m F a l l des Tonjägerverbandes oder zur Freiheit der I n f o r m a t i o n aus DDR-Zeitungen . . . ergehen können . . . " 40 BVerfGE 30, 173 (195). BVerfGE , 2 .

1.2 V o m Schmid/Spiegel-Beschluß zum Lebach-Urteil

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Das ZDF plante die Ausstrahlung eines Dokumentarspiels über den schon länger zurückliegenden Soldatenmord von Lebach. Der Verfassungsbeschwerdeführer war wegen Beihilfe zu dem Soldatenmord verurteilt worden, seine Entlassung auf Bewährung stand kurz bevor. I m Fernsehspiel sollte er eingangs i m B i l d vorgeführt, dann von einem Schauspieler dargestellt und immer wieder namentlich genannt werden. Vor dem Landgericht und OLG war er m i t dem Antrag, dem ZDF durch einstweilige Anordnung die Ausstrahlung zu verbieten, unterlegen. Das BVerfG sieht, wie schon Landgericht und OLG i m Rahmen des § 23 KUG, seine Aufgabe i n der Abwägung zwischen einerseits dem durch die Rundfunkfreiheit verstärkten Recht des ZDF auf Darstellung von Vorgängen der Zeitgeschichte, andererseits dem durch die Grundrechte der freien Entfaltung der Persönlichkeit und der Menschenwürde verstärkten Interesse des Beschwerdeführers an der Verhinderung der Darstellung. Die Abwägung des BVerfG ist zugleich als A b wägung zwischen Persönlichkeitsschutz und Kunstfreiheit zu lesen. Denn das BVerfG vermerkt nach Durchführung seiner Abwägung, diese könne nicht anders ausfallen, wenn das Dokumentarspiel als Kunstwerk anzusehen sei 42 . Von Symmetrie der Konfliktsituation kann hier angesichts des Mißverhältnisses zwischen der sozialen Machtposition des Fernsehens und der hilflosen Wirkungsunmöglichkeit des Beschwerdeführers nicht die Rede sein. Den seine Abwägung leitenden Gesichtspunkt findet das BVerfG i m Gebot der Verhältnismäßigkeit. Das Recht des ZDF auf Darstellung zeitgeschichtlicher Vorgänge dient nach Auffassung des BVerfG dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit. Unter dem Gebot der Verhältnismäßigkeit sind daher die folgenden Fragen zu stellen: Verlangt das Informationsinteresse die Ausstrahlung des Fernsehspiels? Verlangt der Persönlichkeitsschutz den Verzicht auf die Ausstrahlung? Die erste Frage w i r d vom BVerfG verneint 4 3 . Dem Interesse an der Unterrichtung über die Straftat selbst sei durch ausgiebige Berichterstattung i n allen Medien unmittelbar nach Entdeckung der Tat, während der Fahndung und während des Strafprozesses genügt worden. Das vom ZDF weiter geltend gemachte Interesse der Öffentlichkeit an Informationen über die Wirksamkeit der Strafverfolgung, über Sicherungsmaßnahmen der Bundeswehr und über sonst aus der Tat gezogene Konsequenzen könne auch auf andere A r t befriedigt werden. Die zweite Frage bejaht das BVerfG 4 4 . Persönlichkeitsschutz bedeute 42 B V e r f G E 35, 202 (244). 43 B V e r f G E 35, 202 (239 f., 242 f.). 44 B V e r f G E 35, 202 (240 ff.). 3 Schlink

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1 A b w . i n der Wertordnung des Grundgesetzes —

spr. zu A r t . 5

für den straffällig gewordenen, aber alsbald zu entlassenden Beschwerdeführer Resozialisierung. Die Ausstrahlung des Fernsehspiels würde seine Resozialisierung, an der auch die Allgemeinheit ein I n teresse habe, zumindest gefährden. Denn die für Resozialisierung notwendige Einstellung der Umwelt gegenüber dem Beschwerdeführer sowie seine psychische Stabilisierung würden durch die Ausstrahlung nachteilig beeinflußt. Da das Fernsehspiel die Homosexualität des Beschwerdeführers betont und unter dem Gesichtspunkt homosexueller Gruppenbildung seinen Tatbeitrag wesentlich stärker als das verurteilende Schwurgericht bewertet, sieht das BVerfG insbesondere die Gefahr einer Abstempelung des Beschwerdeführers als Homosexuellen. Dadurch würde die Wiedereingliederung des Beschwerdeführers noch besonders erschwert werden. Das ZDF hat sich auch auf die Abschreckungswirkung des Fernsehspiels sowie die durch seine Ausstrahlung zu erreichende Stärkung der öffentlichen Moral und sozialen Verantwortung berufen. Das BVerfG schließt diese Wirkungen nicht aus, hält sie aber für unwahrscheinlich. Es stellt ihrer ungewissen Möglichkeit die Gewißheit einer schweren Gefährdung der Resozialisierung gegenüber. Durch die unwahrscheinliche Möglichkeit würden die dem Beschwerdeführer und der Allgemeinheit entstehenden Nachteile nicht aufgewogen. Das Lebach-Urteil entbehrt neben den die Prüfung der Verhältnismäßigkeit erst ermöglichenden Tatsachenuntersuchungen — Uberlegungen zur Bestimmung des öffentlichen Informationsinteresses und den Bedingungen seiner Befriedigung, zur Durchführung der Resozialisierung und ihren Voraussetzungen — nicht der Wendungen, i n denen von Verfassungswerten, von den Wertvorstellungen der Verfassung und ihrer Wertordnung die Rede ist. So lesen sich denn die Ausführungen des BVerfG zuweilen so, als gelte es, die Frage eines Vorrangs von Informationsinteresse oder Persönlichkeitsschutz i n der Wertordnung des Grundgesetzes abwägend zu beantworten. Gegen ein solches Verständnis hilft nicht nur die einleitende Versicherung des BVerfG, beide Verfassungswerte hätten gleichen Rang. Vielmehr stellt sich die Frage eines Vorrangs überhaupt nicht, wenn das Informationsinteresse der Öffentlichkeit der Ausstrahlung des Fernsehspiels nicht bedarf, der Persönlichkeitsschutz des Beschwerdeführers dagegen den Verzicht auf die Ausstrahlung fordert. Denn Interessen, Güter oder Werte müssen i n ihrem Verhältnis zueinander allenfalls dann gewichtet werden, wenn das eine Interesse nur auf Kosten des anderen sich durchsetzen kann, wenn der eine Wert nur u m den Preis der Zurückstellung des anderen zu verwirklichen ist. Das BVerfG löst also i m Lebach-Urteil die Spannungslage zwischen Informationsinteresse und Persönlichkeits-

1.3 V o m Spiegel-Urteil zum Soldaten-Beschluß

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schütz, indem es ihren Schein zerstört und aufzeigt, daß ein die Frage nach dem Vorrang stellender Konflikt gerade nicht besteht. 1.3 Vom Spiegel-Urteil zum Soldaten-Beschluß Zwischen Wertung von Grundrechtsgebrauch und Prüfung der Notwendigkeit des Eingriffs Die Rechtsprechung des BVerfG zu A r t . 5 verläuft i n zwei Linien. Die Reihe der Urteile, i n denen das BVerfG einen Konflikt zwischen zwei Grundrechtsträgern entscheidet bzw. i n denen es die entsprechende Konfliktsentscheidung eines Gerichts überprüft, wurde eben verfolgt. A u f der anderen Linie liegen die Fälle, i n denen staatliche Positionen mit einer Grundrechtsposition aus A r t . 5 i n Konflikt geraten sind 4 5 . Diese Unterscheidung begegnet einem Einwand. Denn was bei A b lehnung einer D r i t t w i r k u n g der Grundrechte das BVerfG zur Konfliktentscheidung i n Fällen der ersten A r t befähigt, ist ja nur die vorgängige Entscheidung des Gerichts, die Frage, ob der i n ihr liegende staatliche Eingriff i n eine Grundrechtsposition aus A r t . 5 verfassungsw i d r i g ist. Auch hier also stehen insofern staatliche Positionen gegen das Grundrecht des A r t . 5. Gleichwohl hat die Unterscheidung ihr Recht. Das Handeln i m Bereich des Art. 5 ist i n den bisher berichteten Fällen nicht m i t den Interessen des Gerichts oder der Rechtspflege i n Konflikt geraten, sondern m i t den Interessen anderer Grundrechtsträger, die allerdings vor Gericht verfochten und daher i n der Entscheidung des Gerichts berücksichtigt wurden. I n der bisher noch nicht untersuchten Rechtsprechung des BVerfG zu A r t . 5 stößt es dagegen an Grenzen, die unmittelbar zur Wahrung staatlicher Interessen, Güter oder Werte gesetzt worden sind. Interessen-, Güter- oder Wertabwägung hat es hier mit ungleichartigen und ungleichgewichtigen Konfliktpositionen zu tun und sieht sich dadurch auch vor andersartigen Problemen. Die A b wägungskriterien und Argumentationsstrategien des BVerfG verschieben sich. Die Rechtsprechung des BVerfG zum Konflikt zwischen Grundrechtsund staatlichen Positionen i m Bereich des A r t . 5 sei knapper dargestellt. Denn hier handelt es sich u m einen Konflikttyp, der i n der Rechtsprechung des BVerfG zu Grundrechten die Regel bildet. Konflikte dieser A r t werden vom BVerfG i m Bereich von A r t . 5 oft genauso angegangen wie i m Bereich anderer Grundrechte. So oft w i r d anderer45

I n eine dritte Sparte der Rechtsprechung zu A r t . 5 gehört schließlich das Fernseh-Urteil (BVerfGE 12, 205), i n dem das B V e r f G i m K o n f l i k t zwischen B u n d u n d Ländern A r t . 5 institutionelle u n d organisationsrechtliche Aussagen abgewinnt. Es argumentiert dabei jedoch weder abwägend noch m i t der Wertordnung des Grundgesetzes, so daß diese Sparte seiner Rechtsprechung zu A r t . 5 hier außer Betracht bleibt. 3*

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1 A b w . i n der Wertordnung des Grundgesetzes —

spr. zu A r t . 5

seits die mit dem L ü t h - U r t e i l begründete Tradition einer Abwägung i n der Wertordnung des Grundgesetzes jedenfalls sprachlich — durch das Aufnehmen entsprechender Formulierungen, Zitate und Verweise — fortgeführt, daß der Uberblick auch über diese Linie der Rechtsprechung zu A r t . 5 notwendig ist zur Beantwortung der Frage, was der Vorgang der Abwägung i n der Wertordnung des Grundgesetzes für das BVerfG bedeutet. I m Spiegel-Urteil 4 6 weist das BVerfG die Verfassungsbeschwerde des Spiegel-Verlags gegen Durchsuchungen und Beschlagnahmen zurück, die nach Erscheinen eines Spiegel-Artikels über die Verteidigungsbereitschaft der Bundeswehr i m Verfahren wegen Landesverrats vom Ermittlungsrichter angeordnet wurden. Die das auf § 15 I I 4 BVerfGG gestützte Urteil tragende und die es ablehnende Auffassung treffen sich dort, wo grundsätzlich zum Konflikt zwischen Pressefreiheit und Staatsschutz Stellung genommen und an das Abwägungsgebot des Lüth-Urteils angeknüpft w i r d 4 7 : Die dem Staatsschutz dienenden und die Pressefreiheit beschränkenden Gesetze sind, so führt das BVerfG einhellig aus, i m Blick auf den Grundwert der Pressefreiheit eingeschränkt auszulegen. I m Konflikt zwischen Pressefreiheit und Staatsschutz könne nicht diese darum den Vorrang beanspruchen, weil die Pressefreiheit den Bestand und Schutz der BRD zur Voraussetzung habe. Denn die Schutzwürdigkeit der BRD setze auch umgekehrt deren freiheitlichen und demokratischen Bestand und damit die Pressefreiheit voraus. Dieser Zuordnung der beiden Staatsnotwendigkeiten Pressefreiheit und Staatsschutz habe die Konfliktlösung i m Weg der Abwägung Rechnung zu tragen. Das BVerfG hebt das Abwägungsgebot vom Gebot der Verhältnismäßigkeit ab 4 8 . Dieses verlange Geeignetheit und Erforderlichkeit der Durchsuchungen und Beschlagnahmen zur Ermittlung und Verfolgung der Straftat sowie das angemessene Verhältnis zwischen Schwere der Ermittlungseingriffe und Schwere der Straftat. Was demgegenüber das Abwägungsgebot verlangt, w i r d weniger deutlich ausgesprochen. Dem Richter soll das Abwägungsgebot aufgeben, bei seiner Ermessensentscheidung über die Anordnung der Ermittlungseingriffe das bedrohte Redaktionsgeheimnis stärker zu berücksichtigen, als dies damals i n der Strafprozeßordnung vorgesehen war. I n dieser Berücksichtigung verwirkliche er die Güterabwägung, die jedoch grundsätzliche Aufgabe des Gesetzgebers und von diesem i n einer Gesetzesänderung vorzunehmen sei. Das so gefaßte Abwägungsgebot läßt die entscheidenden Fragen offen. Denn die dem Richter aufgegebene stärkere Berücksichtigung 46 BVerfGE 20, 162. 47 BVerfGE 20, 162 (174 ff.). 48 BVerfGE 20, 162 (186 ff.).

1.3 V o m Spiegel-Urteil zum Soldaten-Beschluß

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des Redaktionsgeheimnisses soll mit den vom BVerfG ausdrücklich für verfassungsmäßig erklärten einschlägigen Vorschriften der Strafprozeßordnung nicht i n Widerspruch geraten, sie soll sich i n dem Rahmen halten, m i t dem diese Vorschriften das richterliche Ermessen umgrenzen. Was aber heißt in dem umgrenzten und damit zugleich freigegebenen Raum richterlichen Ermessens die stärkere Berücksichtigung? I n dem von den Vorschriften der Strafprozeßordnung gerade ausgesparten Ermessensraum von einer Berücksichtigung des Redaktionsgeheimnisses zu reden, die stärker sei als die der Strafprozeßordnung, ist wenig sinnvoll. Soll also das Redaktionsgeheimnis stärker berücksichtigt werden, nicht als die Vorschriften der Strafprozeßordnung, sondern als die Elemente des Verhältnismäßigkeitsgebots dies verlangen würden? Oder sollen diese stärker Berücksichtigung finden, strenger gefaßt werden als dies gemeinhin geschieht? Diesen Fragen ausweichend läßt das BVerfG das Abwägungsgebot i m unbestimmten. Wenn die U r teilsbegründung i m übrigen zwischen tragender und ablehnender A u f fassung kontrovers ist, dann drückt dies nicht zuletzt eine Kontroverse i m Verständnis des Abwägungsgebots aus. Wie Abwägung vorzunehmen sei, i n dieser Frage gehen die beiden Auffassungen auseinander. Zugleich gewichten sie Pressefreiheit und Staatsschutz i n unterschiedlicher Weise. Beide Auffassungen betonen die Notwendigkeit einer konkreten Abwägung bzw. einer sachlichen Wertabwägung i m Einzelfall und handeln dann das Gebot der Verhältnismäßigkeit ab. Dies allerdings auf ganz verschiedener Weise: Die tragende Auffassung stellt bei der Prüfung der Notwendigkeit der strafprozessualen Eingriffe darauf ab, ob „die i n Frage stehende Straftat so gefährlich, das öffentliche I n teresse an voller Klärung des Falles so erheblich war, daß eine nicht geradezu die Existenz und das Weitererscheinen der Zeitschrift bedrohende Beschränkung der Pressefreiheit hingenommen werden konnte" 4 9 . Damit kommt es auf die Bedeutung der i n den einschlägigen Strafgesetzen geschützten Güter an. Denn von dieser Bedeutung muß es abhängen, wie gefährlich eine Straftat und wie erheblich das öffentliche Interesse an ihrer Aufklärung ist. Die tragende Auffassung betont den Wert des Staatsschutzes und sieht vieles dafür sprechen, daß seinen Erfordernissen der Vorrang vor dem Grundrecht der Pressefreiheit gebühre 50 . So kann sie von ihrem Ansatz aus dazu kommen, daß die strafprozessualen Eingriffe hingenommen werden mußten. Das ist eine ungewöhnliche A r t , die Prüfung der Notwendigkeit vorzunehmen. W i r d das Untypische dieser Notwendigkeitsprüfung dem 49 BVerfGE 20, 162 (214). so BVerfGE 20, 162 (219).

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Verständnis der tragenden Auffassung vom Abwägungsgebot zugerechnet, dann spielen bei der tragenden Auffassung Abwägungs- und Verhältnismäßigkeitsgebot nach folgendem Muster ineinander: I n der A b wägung ist zunächst der Rang des Guts oder Werts, zu dessen Wahrung ein staatlicher Eingriff vorgenommen wird, i m Verhältnis zum Rang des vom Eingriff betroffenen Guts oder Werts zu bestimmen. Gebührt dem zu wahrenden Gut oder Wert der Vorrang, dann verblaßt die Verhältnismäßigkeitsprüfung zur Frage danach, ob m i t dem Eingriff die Mindestposition des Betroffenen verletzt wurde und, falls dies nicht der Fall ist, ob der Eingriff hingenommen werden konnte. Die Mindestposition des Spiegel-Verlags, Existenz und Weitererscheinen der Zeitschrift, wurden nicht verletzt. Ob der Eingriff hingenommen werden konnte, i n der Bejahung dieser Frage kommt die tragende Auffassung zwar auch auf die Notwendigkeit der strafprozessualen Eingriffe zu sprechen. Aber deren Prüfung geschieht unter der auf den Betroffenen bezogenen, subjektiv eingefärbten und daher einer Prüfung der Zumutbarkeit angemessenen Frage des Hinnehmenkönnens wenig präzise. Wie unpräzise, das erhellt besonders vor dem Hintergrund der eingehenden Notwendigkeitsprüfung, die von der ablehnenden Auffassung vorgenommen w i r d 5 1 . Die ablehnende Auffassung gesteht zwar die Schutzwürdigkeit der Staatssicherheit gegenüber der Pressefreiheit zu. Aber auf dieses bei abstrakter Abwägung zu machende Zugeständnis kommt es ihr i m weiteren nicht an. I h r ist entscheidend die hohe Bedeutung der Pressefreiheit. U m dieser Bedeutung w i l l e n führt sie eine besonders gründliche Untersuchung der Erforderlichkeit der strafprozessualen Eingriffe und eine besonders weitgehende Prüfung der konkreten Verfahrensgestaltung durch. Von der tragenden A u f fassung, die auf die Wahrung der Mindestposition des Betroffenen abstellt, distanziert sich die ablehnende Auffassung zusätzlich dadurch, daß sie den B G H rügt, der das entscheidende K r i t e r i u m darin sah, daß die Eingriffe den Kern des Grundrechts nicht berühren. Für beide Auffassungen gewinnt also das Verhältnismäßigkeitsgebot i m Zusammenspiel m i t der Abwägung unterschiedliche Gestalt. Der Unterschied sei auf zwei knappe Formeln gebracht. Für die tragende Auffassung bedeuten Abwägungs- und Verhältnismäßigkeitsgebot: Bei hohem Rang des Guts oder Werts, dem der Eingriff dient, gegenüber dem Gut oder Wert, dem der Eingriff gilt, ist der Eingriff nur darauf zu prüfen, ob er die Mindestposition des Betroffenen wahrt und diesem zumutbar ist. Anders die ablehnende Auffassung: Je höher der Rang des Guts oder Werts, dem der Eingriff gilt, desto sorgfältiger sind seine Notwendigkeit und die Verfahrensgestaltung zu überprüfen. si BVerfGE 20, 162 (198 ff.).

1.3 V o m Spiegel-Urteil zum Soldaten-Beschluß

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Die ablehnende Auffassung kann damit auf den Rangvergleich der tragenden Auffassung verzichten. Auch sie kommt jedoch ohne eine Rangordnung nicht aus, mit der die gebotene Prüfungssorgfalt ermittelt w i r d 5 2 . Die Rangordnung, die der ablehnenden Auffassung zugrundeliegt, steht i n der Traditon der L ü t h - und der Schmid/SpiegelEntscheidung: Das Handeln i m Raum grundrechtlicher Freiheit erhält dadurch besondere Qualität, daß es auf die Öffentlichkeit, auf die öffentliche Auseinandersetzung und Meinungsbildung bezogen ist. Wegen ihrer Rolle und Aufgabe i n der Öffentlichkeit der Demokratie hat die Pressefreiheit ihren hohen Rang und verlangt der staatliche Eingriff i n ein Presseunternehmen sorgfältigere Uberprüfung. Dies w i r d allgemein dargelegt, aber auch konkret auf den Inhalt der Spiegel-Veröffentlichung bezogen. Dieser diene dem legitimen Interesse der Öffentlichkeit an der Diskussion militärischer Grundfragen und sei geeignet, die Abhilfe der aufgedeckten Schwächen der Verteidigungsbereitschaft zu veranlassen.

Die weitere Rechtsprechung des BVerfG zur Abwägung bei Konflikten zwischen staatlichen Positionen und Grundrechtspositionen aus A r t . 5 variiert bisher behandelte Abwägungsstrategien und -kriterien. I n der Güterabwägung einiger Urteile w i r d ganz auf die Notwendigkeit staatlichen Eingreifens abgestellt. Verfassungsbeschwerden gegen gerichtlich angeordnete Einziehungen von DDR-Schriften sind darum begründet 5 3 , weil die Gerichte nicht die den Wertgehalt der Informationsfreiheit beachtende Güterabwägung vorgenommen haben, i n der sie hätten nachweisen müssen, daß die i n der Einziehung liegende Beschränkung der Informationsfreiheit zur Abwehr von Gefahren für die BRD erforderlich ist. Das BVerfG bezweifelt die Möglichkeit des Nachweises, der sich nicht allgemein auf einen gefährlichen Inhalt der DDR-Schrift stützen dürfe, sondern die Notwendigkeit der Einziehung unter Beachtung des konkreten Informationsinteresses des Adressaten dartun müsse. Erfolglos bleiben dagegen Verfassungsbeschwerden, die eine Verzögerung des Zugangs durch die Kontrolle rügen 5 4 . Die Verzögerung ist bei einer Kontrolle unvermeidlich und diese zur Gefahrenabwehr erforderlich. Ebenso führt die Güterabwägung des BVerfG i m Porst-Beschluß 55 zur Zurückweisung der Verfassungsbeschwerde gegen die auf § 100 e StGB a. F. gestützte Verurteilung. Das BVerfG 52 53 54 55

BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE

20, 27, 27, 28,

162 (vgl. neben 198 ff. auch 179 ff.). 71; 27, 104. 88. 175.

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führt aus, die durch diese Bestimmung bewirkte Beschränkung der Rechte aus A r t . 5 sei unvermeidliche Folge der vom Gesetzgeber verfassungsrechtlich unbedenklich verfolgten Abwehr von Gefahren für die Staatssicherheit; das Verhalten Porsts sei auch so gefährlich gewesen, daß seine Unterbindung und damit der Eingriff i n Porsts Grundrechte des A r t . 5 notwendig geworden sei. I n der Überprüfung einer Bestimmung des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften gelangt das BVerfG i n seiner Güterabwägung zu einem differenzierenden Ergebnis 56 : Die Einschränkung der Rechte aus A r t . 5 i m ersten Absatz der Bestimmung ist verfassungsgemäß, weil ohne sie ein wirksamer Jugendschutz nicht sichergestellt ist. Die Wertentscheidung des Grundgesetzes für Freiheit der Meinung und Information schließt es dagegen aus, Schriften der Nacktkultur, von denen keine Gefahren für die Jugend ausgehen, dem Verbot des zweiten Absatzes zu unterwerfen. Daneben gibt es andere Entscheidungen, die i n der Güterabwägung auf den Inhalt einer Presseveröffentlichung und das Interesse der Öffentlichkeit an ihr abstellen. So findet das BVerfG an der Verurteilung eines Redakteurs nichts zu beanstanden, der Einzelheiten über i n einem Erholungs- und Fremdenverkehrsgebiet geplante Verteidigungsanlagen veröffentlicht hatte 5 7 . Hier habe das Interesse der bloß lokalen Öffentlichkeit, über eine mögliche Störung des Fremdenverkehrs informiert zu werden, hinter dem Wert der geheimen Planungen für die Staatssicherheit zurückzutreten. Zudem habe das Öffentlichkeitsinteresse die Veröffentlichung von Einzelheiten der Planung überhaupt nicht gefordert. Auch die Verfassungsbeschwerde des Buchhalters i m Verlag der Zeitschrift ,Stern 4 blieb erfolglos 58 . Er hatte i n einem Verfahren gegen Strafvollzugsbeamte, denen vorgeworfen wurde, für die Vermittlung von Zusammenkünften zwischen Stern-Reportern und Strafgefangenen Vorteile erhalten zu haben, ein i n der Strafprozeßordnung nicht vorgesehenes Aussageverweigerungsrecht beansprucht. Das BVerfG findet für ein solches Aussageverweigerungsrecht auch i n A r t . 5 keinen Anhalt. Zwar sei die Notwendigkeit des Informantenschutzes anzuerkennen, wenn die Information der Aufdeckung von Mißständen i n der öffentlichen Verwaltung diene. Dann sei das Interesse der Öffentlichkeit an den Informationen höher zu bewerten als das Interesse der Behörde, Informationen nicht nach außen dringen zu lassen. Hier aber fördere die Aussageverweigerung nicht die Sauberkeit der öffentlichen Verwaltung, sondern i m Gegenteil Korruption und Bestechlichkeit. Das BVerfG betont, die Pressefreiheit 56 BVerfGE 30, 336. 57 BVerfGE 21, 239. 58 BVerfGE 25, 296.

1.3 V o m Spiegel-Urteil zum Soldaten-Beschluß

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werde für alle Veröffentlichungen ohne Rücksicht auf deren Wert gewährt. Aber diese Betonung w i r d nur notwendig, weil das vom BVerfG hervorgehobene Beispiel der Sauberkeit öffentlicher Verwaltung dienender Presseveröffentlichungen hier, wo die Stern-Reporter für zwei A r t i k e l über Straftaten von Einbrecherbanden recherchierten, allzusehr i n die andere Richtung weist 5 9 . Abschließend stellt das BVerfG fest, die angewandte A r t der Nachrichtenbeschaffung sei jedenfalls durch die spezifische Aufgabe der Presse nicht erfordert worden. Der i n diesen beiden Urteilen zuletzt verwandte Gesichtspunkt der Erforderlichkeit taucht schon i m Spiegel-Urteil und da insbesondere i n den Ausführungen der tragenden Auffassung auf. Er verlangt dem, der von der Pressefreiheit Gebrauch macht, eine Erforderlichkeitsprüfung, eine — so das Spiegel-Urteil — Abwägung zwischen Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit und Staatsinteresse ab. Dieses darf nicht mehr beeinträchtigt werden, als jenes es erfordert. Die Ubertragung des Erforderlichkeitsgebots vom Verhältnis des Staats zum Grundrechtsträger auf dessen Verhältnis zum Staat ist eine Inpflichtnahme des Grundrechtsträgers, die bei der Pressefreiheit der Zuweisung einer öffentlichen Aufgabe an die Presse korreliert. I m Pätsch-Beschluß 60 versteht sich die Verpflichtung des Bürgers zur Abwägung und Erforderlichkeitsprüfung von seiner Stellung als öffentlicher Bediensteter. Pätsch war vor dem B G H wegen Verletzung der Amtsverschwiegenheit nach § 353 b StGB verurteilt worden, w e i l er vom B G H als verfassungswidrig immerhin unterstellte Mißstände i m Verfassungsschutz, dessen Bediensteter er war, über die Presse an die Öffentlichkeit gebracht hatte. Das BVerfG t r i t t unter Berufung auf die Tradition des Lüth-Urteils i n eine Güterabwägung ein, die es hier auch dem Verfassungsbeschwerdeführer selbst ansinnt: Der Schritt an die Öffentlichkeit wäre nur dann berechtigt weil notwendig gewesen, wenn das staatliche Geheimhaltungsinteresse schonendere Abhilfemöglichkeiten wie die Verfolgung des Dienstweges oder Benachrichtigung eines Bundestagsabgeordneten versagt hätten. Da Pätsch diese Möglichkeiten nicht versucht hatte, muß sein Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit hinter dem Wert staatlicher Geheimhaltung zurücktreten. Schließlich findet Abwägung auch noch i n der späteren Rechtsprechung des BVerfG so statt, daß Qualitäten des Gebrauchs der Meinungsäußerungsfreiheit unterschieden werden. Die Verfassungs59 Das B V e r f G versäumt nicht, i n der Sachverhaltsschilderung zu erwähnen, daß die A r t i k e l unter den Überschriften „Freudig wedeln die Komplicen" und „ U n d abends w i r d geknackt" erschienen, daß sie also i m Gegensatz zu den beispielhaft hervorgehobenen verantwortungsbewußten Presseveröffentlichungen der Skandalunterhaltung dienten. 60 B V e r f G E 28, 191.

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beschwerde des Stabsunteroffiziers, der bei einer politischen Diskussion über die Studentenunruhen i m Geschäftszimmer der Kompanie geäußert hatte, i n der Bundesrepublik könne man seine Meinung nicht frei äußern, Demonstranten würden durch die Polizei niedergeknüppelt, und der deswegen nach § 10 V I Soldaten-Gesetz disziplinarisch bestraft worden war, w i r d vom BVerfG i n einer an der Wertordnung des Grundgesetzes ausgerichteten Abwägung zurückgewiesen 61 . Von einer Spannung zwischen der Freiheit der Meinungsäußerung und den Notwendigkeiten des Armeebetriebs, von einem Konflikt zwischen politischem Engagement und militärischer Disziplin ist hier allerdings nicht die Rede. Das BVerfG verfolgt die auch sonst i n seiner späteren Rechtsprechung deutliche Tendenz zur normativen Harmonisierung von Konflikten. §10 V I SG, die Verpflichtung für Offiziere und Unteroffiziere zur u m der Vorgesetztenstellung w i l l e n gebotenen Zurückhaltung bei Äußerungen innerhalb und außerhalb des Dienstes, schränke das Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit gar nicht ein, sondern bringe nur eine i m Grundrecht selbst angelegte Grenze zum Ausdruck. Diese Harmonisierung geschieht unter Hinweis auf den Verfassungsauftrag zur Aufstellung von Streitkräften i n A r t . 87 a. Die Wendung von dem auf Spannung und Konflikt abstellenden zum harmonisierenden Ansatz beeinflußt das Ergebnis der Abwägung. Das Vorzeichen eines Gegeneinander von Grundrechtsfreiheit und Staatszweck lenkt die Abwägung i n Richtung einer Erforderlichkeitsprüfung, der Vorstellung eines Konflikts zweier verfassungsrechtlicher Positionen entspricht eine Konfliktlösung, die eine Position nicht mehr beeinträchtigt, als die andere es erfordert. Abwägung unter dem Vorzeichen der Harmonisierung entbehrt einer solchen Kontur und ist Wertungen der Meinungsäußerung i n ihrer Qualität schön vom Ansatz stärker ausgesetzt. So beginnt das BVerfG zwar mit der Feststellung, § 10 V I SG sei notwendig zum Schutz der Autorität des Vorgesetzten und verpflichte diesen, seine Meinung sachlich, besonnen und tolerant zu vertreten 6 2 . Es vermißt aber i n den Ausführungen des Truppendienstgerichts nicht den dort fehlenden Nachweis, daß die Autorität des Verfassungsbeschwerdeführers durch seine Äußerungen gelitten habe. Die Ausführungen des BVerfG nehmen vielmehr eine ganz andere Richtung 6 3 : Bei der Beurteilung politischer Meinungsäußerungen müßten die politischen Grundentscheidungen des Grundgesetzes herangezogen werden, die das Ergebnis der Abwägung auf der Ebene des Verfassungsrechts vor6i BVerfGE 28, 36. es BVerfGE 28, 36 (47). 63 BVerfGE 28, 36 (48 ff.).

1.4 Wertung von Grundrechtsgebrauch bei anderen Grundrechten

43

zeichneten. Die BRD erwarte als streitbare Demokratie von ihren Bürgern eine Verteidigung der freiheitlichen Ordnung, Vorgesetzte in der Bundeswehr müßten ihren Soldaten darin Vorbild sein. Der Verfassungsbeschwerdeführer habe m i t seiner Meinungsäußerung, i n der BRD könne man seine Meinung nicht frei äußern, die freiheitliche Ordnung so provoziert und diffamiert, daß er zu Recht bestraft worden sei. 1.4 Wertung von Grundrechtsgebrauch in der Rechtsprechung zu anderen Grundrechten W i r d das Einwirken des zu A r t . 5 entwickelten Begriffs der Wertordnung des Grundgesetzes auf die übrige Rechtsprechung beachtet und i m Blick über die Grenzen der dargestellten Rechtsprechung hinaus das Problemfeld einer Abwägung i n der Wertordnung des Grundgesetzes abgerundet, dann ergibt sich folgendes: I n der gesamten Rechtsprechung des BVerfG werden das Grundgesetz und seine Grundrechte nie zu dem, was sie seit dem Lüth-Urteil sein sollten, zu einer Wertrangordnung. Das BVerfG vermeidet es konsequent, verschiedene Bestimmungen, Rechte, Staatsziele und -aufgaben untereinander rangmäßig zu ordnen. Ebenso konsequent hält es freilich an den i n Richtung einer solchen Rangordnung weisenden Begriffen und Wendungen fest. Dies legt es dann, wenn sich die Beteiligten eines Konflikts auf verschiedene Grundrechte berufen, nahe, vom BVerfG die Annahme eines Konflikts der Grundrechte selbst und eine Konfliktlösung über die Einordnung dieser Grundrechte gemäß ihrem Rang zu erwarten. Tatsächlich findet sich jedoch das BVerfG allenfalls zur Annahme eines Spannungsverhältnisses zwischen den betreffenden Bestimmungen des Grundgesetzes, nie aber zu ihrer rangmäßigen Ordnung bereit. Spannungsverhältnis oder jedenfalls Vorrang werden vom BVerfG ausdrücklich abgelehnt i m Verhältnis zwischen A r t . 5 1 und I I i . V . m . 2 I 6 4 , 5 1 und 21 I I 6 5 , 5 I I I 1 und I I 6 6 , 4 und 12 67 , 6 I und 3 6 8 , 6 I und 6 V 6 9 . Wie also w i r k t sich das Reden des BVerfG von der Wertordnung des Grundgesetzes und seinen Wertentscheidungen i n der Rechtsprechung aus? Wenn das BVerfG den allgemeinen Satz aufstellt, daß Wertentscheidungen der Verfassung den Zweckmäßigkeitserwägungen des 64 B V e r f G E 65 B V e r f G E 66 B V e r f G E 67 B V e r f G E es BVerfGE 6® BVerfGE

35, 202 (225). 5, 85 (139). 30, 173 (195). 19, 135 (138). 6, 55 (82). 25, 167 (195/196).

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1 A b w . i n der Wertordnung des Grundgesetzes —

spr. zu A r t . 5

Gesetzgebers vorgehen 70 , oder wenn es dem Richter aufgibt, von zwei Auslegungen einer Bestimmung die zu wählen, die einer Wertentscheidung des Grundgesetzes besser entspricht 71 , dann bringt dies nur den Vorrang der Verfassung vor dem einfachen Gesetz zum Ausdruck. Des Redens von Wertentscheidungen bedürfte es hier ebensowenig wie dort, wo das BVerfG von der Kennzeichnung einer Grundrechtsposition als Wertentscheidung her argumentiert, ein dem Gemeinwohl dienender Eingriff dürfe nicht weitergehen, als das Gemeinwohl dies zwingend erfordere 72 . Von derartigen Bekräftigungen und Überhöhungen eines ohnedies zu findenden, vom BVerfG auch oft genug ohne Berufung auf Wertordnung und -entscheidungen gefundenen Ergebnisses ist die Bewertung von Qualitäten des Gebrauchs grundrechtlicher Freiheit zu unterscheiden. Sie ist auf die Rechtsprechung zu A r t . 5 nicht beschränkt. So soll sich auf die Glaubensfreiheit nicht berufen können, wem Mißbrauch dieses Grundrechts vorzuwerfen ist, weil er die Schranken der Wertordnung des Grundgesetzes übertritt. Als Schranken der Wertordnung führt das BVerfG dabei nicht näher bestimmte sittliche Grundanschauungen der heutigen Kulturvölker ein 7 3 . Das Elternrecht des A r t . 6 I I 1 w i r d als Elternverantwortung und Schutz nur der Freiheit, der Verantwortung zu genügen, verstanden. Eltern verdienten i m Sinne des Grundgesetzes diesen Namen nicht, wenn sie zur Verantwortung nicht bereit seien 74 . Auch i n der Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 14 klingt die Qualitätsunterscheidung an, wenn die Grundrechtsposition der Minderheitsaktionäre nur unter dem Gesichtspunkt der Kapitalanlage erfaßt w i r d und i n der Abwägung hinter der Grundrechtsposition der Mehrheitsaktionäre zurücktritt, die zusätzlich als freie Entfaltung unternehmerischer Initiative i m Konzern gewürdigt w i r d 7 5 . Der Vorgang des Unterscheidens und Abwägens von mehr oder weniger wertvollem Grundrechtsgebrauch setzt die Annahme von Werten voraus, an denen orientiert die Bewertung des Handelns i m Raum grundrechtlicher Freiheit geschehen kann, etwa indem festgestellt wird, daß die Werte durch das Handeln mehr oder weniger verwirklicht werden. Worum es dem BVerfG bei seinen Bewertungen von Grundrechtsgebrauch geht, das läßt sich auch immer wieder be70 BVerfGE 6, 55 (83); 13, 290 (316/317); 26, 321 (327); 29, 104 (118). 71 BVerfGE 8, 210 (221); 25, 167 (190/191); 26, 206 (210). 7 2 BVerfGE 20, 351 (361). 73 BVerfGE 12, 1 (4). 74 BVerfGE 24, 119 (143/144, 150). 75 BVerfGE 14, 263 (282/283). Erinnert sei zu A r t . 14 auch nochmal die Unterscheidung zwischen den „natürlichen Eigentümerbefugnissen", dem Pochen auf die „formellen Eigentümerbefugnisse" u n d dem „rechten sozialen Gebrauch von . . . Eigentum" i n BVerfGE 7, 230 (235 - 237).

1.5 Zusammenfassung

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legen oder doch vermuten. I n politischen Sachen zielt das BVerfG auf eine Vorverlegung der durch A r t . 9 II, 18 und 21 I I gezogenen Grenzen, indem es unter nurmehr beispielhafter Erwähnung dieser Bestimmungen das allgemeine Verbot mißbräuchlichen weil verfassungsfeindlichen Grundrechtsgebrauchs entwickelt 7 6 . W i r d die Wertordnung beim Grundrecht der Glaubensfreiheit m i t den sittlichen Grundanschauungen der heutigen Kulturvölker i n Verbindung gebracht und gleichzeitig die Abwerbung vom christlichen Glauben unter Gewährung materieller Vorteile durch einen Atheisten als Grundrechtsmißbrauch bezeichnet, dann legt das nahe, es sei dem BVerfG u m die Wahrung christlich geprägter kultureller Werte gegangen 77 . Beim Grundrecht des A r t . 5 ist zentraler Wertungsgesichtspunkt die öffentliche Diskussion und Meinungsbildung, auf die h i n der Gebrauch der Freiheiten des A r t . 5 funktionalisiert wird. Wenn das BVerfG i m Wahlplakate-Urteil dem Hauseigentümer, dem es u m die Wahrung des Hausfriedens geht, rechten sozialen Grundrechtsgebrauch bestätigt, wenn es immer wieder die Gemeinschaftsbezogenheit und -gebundenheit des Individuums beschwört 78 und Konflikte unter Hinweis auf i n den Grundrechten selbst angelegte Schranken harmonisiert, dann läßt sich das i n Richtung eines harmonisierenden Konfliktverständnisses deuten. 1.5 Zusammenfassung Die Unterscheidungen, Wertungen und Ziele des BVerfG lassen nicht erkennen, dieses gehe von einer abgeschlossenen Wertordnung, einem eigentlichen Wertsystem aus. Die Wertungen von Grundrechtsgebrauch passen zwar immer i n die Schablone schon des Lüth-Urteils, i n der ein normaler, ein mißbräuchlicher und ein besonders wertvoller Grundrechtsgebrauch unterschieden werden. Warum welcher Grundrechtsgebrauch i n der Schablone wie erfaßt wird, diese Frage ist m i t der Schablone selbst aber noch nicht beantwortet. Für sie könnte die allgemeine A n t w o r t nur von einer Wertungssystematik her gegeben werden, über die das BVerfG nicht verfügt. Dennoch erhebt es den Anspruch, i n der Wertordnung des Grundgesetzes seine Wertungen geordnet oder sogar geordnet vorgefunden zu haben. Die methodischen und verfassungsrechtsdogmatischen Überlegungen des zweiten Teils der 76 Vgl. neben der oben S. 41 ff. besprochenen Entscheidung BVerfGE 28, 36 (48) auch BVerfGE 30, 1 (19/20). 77 Vgl. neben BVerfGE 12, 1 auch B V e r f G E 32, 98, w o das B V e r f G dem fundamentalistischen Glaubenstäter einen Grundrechtsschutz angedeihen läßt, den i n seiner Rechtsprechung der politische Gewissenstäter nicht genießt. 78 B V e r f G E 4, 7 (15/16); 8, 274 (329); 27, 1 (7); 27, 344 (351); 30, 1 (20); 33, 303 (334).

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1 A b w . i n der Wertordnung des Grundgesetzes —

spr. zu A r t . 5

Arbeit werden fragen müssen, ob überhaupt eine Abwägung i n der Wertordnung des Grundgesetzes möglich ist, die dem Anspruch, Methode und Verfassungsrecht zu sein, genügt. Der bundesverfassungsgerichtlichen Abwägung i n der Wertordnung des Grundgesetzes würde eine K r i t i k am Unterscheiden und Abwägen von mehr oder weniger wertvollem Grundrechtsgebrauch aber noch nicht gerecht. Denn unter demselben Stichwort lassen sich i n der Rechtsprechung auch ganz andere Abwägungskriterien ausmachen. Bei Konflikten zwischen Grundrechtspositionen gibt es das vom BVerfG nur nicht so genannte K r i t e r i u m der Symmetrie, das einerseits die Frage danach verlangt, ob die Konfliktparteien den Konflikt m i t gleichen Waffen austragen können. I m Sinn dieser Frage waren zwischen L ü t h und Harlan und zwischen dem Verband der Tonbandgerätebesitzer und dem der Urheber die Konfliktsituationen symmetrisch. Wenn das BVerfG die Gerichtsentscheidungen aufhebt, die i n die Konflikte eingriffen, dann kann als das Ergebnis seiner Abwägung gelten, daß die Symmetrie der Konfliktsituation nicht gestört wird. Wenn es andererseits die Frage nach der Verhältnismäßigkeit des Konflikteinsatzes betont und die Ausstrahlung des Dokumentarspiels über den Soldatenmord von Leb ach durch das ZDF als unverhältnismäßig verhindert, die Stellungnahme Schmids i n dessen Konflikt m i t der Zeitschrift ,Der Spiegel' als verhältnismäßig anerkennt, dann nicht darum, weil das K r i t e r i u m der Symmetrie i n diesen Konflikten zwischen Grundrechtspositionen versagen würde. Zwischen dem ZDF und dem Beteiligten des Soldatenmords von Lebach und zwischen Schmid und der Zeitschrift ,Der Spiegel· waren zwar die Konfliktsituationen nicht symmetrisch, aber die Konfliktaustragung w i r d dem Gebot der Symmetrie unterworfen, wenn für beide Konfliktparteien die Frage nach der Verhältnismäßigkeit des Konflikteinsatzes gestellt und beiden unverhältnismäßiger Konflikteinsatz versagt, verhältnismäßiger gestattet wird. Dies gilt ebenso, wenn die Frage nach der Wahrung der Mindestposition des Konfliktgegners für beide Konfliktparteien gestellt w i r d . Sorgt das BVerfG dafür, daß Gerichte in asymmetrischer Konfliktsituationen entsprechend eingreifen, i n symmetrische jedoch nicht eingreifen, dann bringt es beidemal das K r i t e r i u m der Symmetrie zur Geltung, als Symmetrie einmal der Konfliktaustragung, andermal der Konfliktsituation. Bei Konflikten zwischen staatlichen Positionen und Grundrechtspositionen hat für die Abwägung des BVerfG die Frage nach der Notwendigkeit des staatlichen Eingriffs eine besondere Bedeutung. War der Eingriff i n das Redaktionsgeheimnis der Zeitschrift ,Der Spiegel· zum Schutz der Staatssicherheit notwendig? Sind Einziehungen von DDR-Zeitschriften zur Abwehr von Gefahren für die BRD erforder-

1.5 Zusammenfassung

47

lieh? Bei der Rechtsprechung zu Konflikten zwischen Grundrechtspositionen zeigt das BVerfG die Tendenz, den Sozialbereich, i n dem der Konflikt spielt, auf seine Bedingungen zu untersuchen. I n der Untersuchung der Bedingungen der Notwendigkeit staatlicher Eingriffe deutet sich dieselbe Tendenz zu sachhaltiger objektiver Analyse an. Sie liegt zur Unterscheidung zwischen einerseits Konflikten zwischen Grundrechtspositionen und andererseits Konflikten zwischen Grundrechts« und staatlichen Positionen gewissermaßen quer und hat jeweils dieselbe Mühe, sich von der werthaltigen und subjektiven Abwägung abzusetzen, die das BVerfG i n der Tradition des Lüth-Urteils pflegt. Das K r i t e r i u m der Symmetrie wurde i n diesem Abschnitt nur i n t u i t i v eingeführt und ist wie die Frage nach der Möglichkeit einer Abwägung i n der Wertordnung des Grundgesetzes für die methodischen und verfassungsrechtsdogmatischen Überlegungen des zweiten Teils der Arbeit vorzumerken. Das K r i t e r i u m der Notwendigkeit ist i m nächsten Abschnitt i n der Rechtsprechung des BVerfG weiterzuverfolgen. Vorher ist aber noch eine Beobachtung festzuhalten, die i n der bisherigen Rechtsprechungsdurchsicht zu machen war: Das BVerfG hat zur Kunst- und auch zur Gewissensfreiheit ausgeführt, daß auch nach der Verfassung nicht einschränkbare Grundrechte durch die i n anderen Grundrechten oder sonst i n der Verfassung getroffenen Wertentscheidungen zu begrenzen seien. Wenn es dabei die Prüfung einer Verletzung der Kunstfreiheit an die Prüfung einer Verletzung von A r t . 5 I nur noch kurz anhängt, u m unter Berufung auf begrenzende Wertentscheidungen die Erörterungen zur Verletzung von A r t . 5 I pauschal zu übernehmen 79 , dann ist das eine Nivellierung der i m Grundgesetz bis zur Vorbehaltlosigkeit abgestuften Grundrechtsvorbehalte. Führt das Werten und Abwägen des BVerfG zum Uberspielen der verschiedenen Grundrechtsbegrenzungen, zum Einebnen und Entdifferenzieren der verschiedenen Grundrechtsgewährleistungen?

™ B V e r f G E 30, 52 (70/71); 35, 202 (244).

2 Abwägung unter dem Gebot der V e r h ä l t n i s m ä ß i g k e i t — D i e Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts z u A r t i k e l 12 G G 2.0 Vorbemerkung Die Abwägung i n der Wertordnung des Grundgesetzes wurde vom BVerfG überwiegend i n Überprüfung richterlicher Rechtsfindung entwickelt. Abwägung unter dem Gebot der Verhältnismäßigkeit ist dagegen regelmäßig der bundesverfassungsgerichtlichen Kontrolle des Gesetzgebers zuzuordnen. Diese Unterscheidung stellt nicht darauf ab, ob ein Verfassungsbeschwerdeführer seine Beschwerde unmittelbar gegen ein Gesetz oder ob er sie gegen eine Gerichtsentscheidung richtet. Dabei bliebe sie äußerlich, denn wegen der gebotenen Erschöpfung des Rechtswegs kann sich Kontrolle des Gesetzgebers oft nur i n Uberprüfung von seine Gesetze anwendenden Gerichtsentscheidungen vollziehen. Die Unterscheidung ist vielmehr daran orientiert, ob das BVerfG i n der Auslegung und Anwendung eines Gesetzes durch den Richter oder ob es i m Gesetz selbst das verfassungsrechtliche Problem eines Falls sieht. Wenn das BVerfG seine eigene Abwägung je nachdem, ob es Rechtsfindung oder Gesetzgebung überprüft, verschieden vornimmt, so entspricht dies dem, daß es dem Richter und dem Gesetzgeber verschiedene Weisen der Abwägung abverlangt. Der an das Gesetz gebundene Richter ist danach auch i n seinem Abwägen und Werten weniger frei als der Gesetzgeber. Ob er sich i n Wirklichkeit nicht ebensoviel Freiheit zu Wertungen nimmt, ob zwischen i h m und dem Gesetzgeber tatsächliche Unterschiede i n den Wertungsmethoden und -inhalten aufzuweisen sind, ist zwar fraglich. Aber jedenfalls darin hat die Unterscheidung des BVerfG ihren tatsächlichen Anhalt, daß der Richter seine Wertungen i n einem anderen Stil vorbringt als der Gesetzgeber. Dieser erfindet seine Wertungen 1 und drückt dies auch aus, jener gibt zumindest vor, sie n u r vorzufinden. Den auf Nachvollzug angelegten Entscheidungen oder doch Entscheidungsbegründungsstilen des Richters 1 Z w a r gibt es stets politische, soziale u n d ökonomische Faktoren, aus denen die Wertungen u n d Entscheidungen des Gesetzgebers entstehen. Aber bei der Gegenüberstellung von gesetzgeberischer u n d richterlicher Wertung geht es nicht u m diesen Entstehungs-, sondern u m den Rechtfertigungszusammenhang.

2.1 Ausgangspunkt des Apotheken-Urteils

49

entspricht es, wenn das BVerfG die Abwägung des Richters i n der Wertordnung des Grundgesetzes faßt, wenn es die zu wertenden und abzuwägenden Positionen auf das Grundgesetz bezieht und dabei suggeriert, i n diesem könne das Abwägungsergebnis vorgefunden und müsse nur noch nachvollzogen werden. Die anerkannte Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers macht diese Konstruktion des Nachvollzugs zumeist entbehrlich, und dieselben Interessen, die unter dem Gebot der Abwägung i n der Wertordnung des Grundgesetzes sogleich grundgesetzlich verortet und überhöht werden müssen, können bei einer Abwägung i n Kontrolle des Gesetzgebers als dessen Optionen genommen werden. Diese Unterscheidung zweier Abwägungsweisen gilt nur tendenziell. Überwiegend werden vom BVerfG die Abwägungen und Wertungen des Gesetzgebers als dessen eigene Entscheidungen anerkannt und w i r d dem Richter der Nachvollzug i n der Wertordnung des Grundgesetzes vorgegebener Abwägungen zugebilligt und abverlangt. Ausnahmslos kann das BVerfG die Unterscheidung aber schon darum nicht durchhalten, weil es selbst als Verfassungsgericht zugleich Gericht und politisches Organ ist. Die Abwägungsweise des BVerfG w i r d nicht nur davon bestimmt, ob Rechtsfindung oder Gesetzgebung überprüft wird, sondern auch durch das schwer auszumachende Mehr oder Weniger, zu dem das Bewußtsein von dem auf Nachvollzug angelegten richterlichen oder von dem auf Gestaltung gerichteten politischen Aspekt der eigenen Funktion als Verfassungsgericht überwiegt. Dadurch kann die A b wägung, m i t der das BVerfG richterliche Abwägung überprüft, ein gehöriges Maß an Wertungsapodiktik erkennen lassen und umgekehrt die Kontrolle des Gesetzgebers gelegentlich als Abwägung i n der Wertordnung des Grundgesetzes erscheinen. 2.1 Der Ausgangspunkt des Apotheken-Urteils Abwägung in der Stufung und Zuordnung von Eingriffsintensität, Regelungsbefugnis und Rang des Gemeinschaftsguts? Die auf die Kontrolle des Gesetzgebers zugeschnittene Abwägung unter dem Gebot der Verhältnismäßigkeit w i r d an der Rechtsprechung des BVerfG zu A r t . 12 vorgeführt. Das BVerfG hat sie mit dem Apotheken-Urteil 2 begonnen. Dem Verfassungsbeschwerdeführer war die Betriebserlaubnis zur Eröffnung einer neuen Apotheke nicht erteilt worden. Die von den Verwaltungsbehörden beim Beschwerdeführer verneinten Voraussetzungen einer Erteilung waren nach dem damaligen bayerischen Apothekengesetz das öffentliche Interesse an der Errich2 B V e r f G E 7, 377. 4 Sehl ink

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2 A b w . unter dem Gebot der Verhältnismäßigkeit — Rspr. zu A r t . 12

tung der Apotheke und die voraussichtliche Sicherung der wirtschaftlichen Grundlagen sowohl der neuen wie der benachbarten bestehenden Apotheken. Das BVerfG überprüft und verneint die Vereinbarkeit dieser Regelung m i t A r t . 12. Es sieht A r t . 12 I als einheitliches Grundrecht der Berufsfreiheit und die Regelungsbefugnis des Gesetzgebers auf Berufsausübung und Berufswahl erstreckt. Weil aber die Regelungsbefugnis u m der Berufsausübung willen gegeben sei, dürfe sie nur u m ihretwillen i n die Berufswahl eingreifen. Der Gesetzgeber sei um so freier, je mehr seine Berufsregelung bloße Ausübungsregelung sei, u m so begrenzter, je mehr sie auch die Berufswahl berühre. Das BVerfG entwickelt hieraus seine Lehre der gestuften gesetzgeberischen Regelungsbefugnis 3 . Danach sind auf die Freiheit der Berufswahl nicht zurückwirkende Ausübungsregelungen (1. Regelungsstufe) dann zulässig, wenn sie i n zweckmäßiger Weise Gemeinschaftsinteressen schützen oder wenn sie der Förderung eines Berufs dienen. Der Grundrechtsschutz beschränkt sich hier auf die Abwehr übermäßig belastender und unzumutbarer Auflagen. Regelungen subjektiver Voraussetzungen der Berufsaufnahme (2. Regelungsstufe) sind daran zu messen, ob sie Schäden oder Gefahren verhüten, die eine Berufsausübung ohne Erfüllung der Voraussetzungen für die Allgemeinheit mit sich bringen würde. Die subjektiven Voraussetzungen dürfen zu dem m i t der Ordnung der Berufstätigkeit verfolgten Zweck nicht außer Verhältnis stehen. Nur die Abwehr nachweisbarer oder höchstwahrscheinlicher schwerer Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut rechtfertigt das Aufstellen objektiver Bedingungen für die Berufszulassung (3. Regelungsstufe). Die Förderung sonstiger Gemeinschaftsinteressen kann zwar i m allgemeinen gesetzgeberische Maßnahmen rechtfertigen, reicht hier aber als Regelungszweck nicht aus. Insgesamt gilt, daß der Gesetzgeber eine Stufe erst dann betreten darf, wenn mit hoher Wahrscheinlichkeit dargetan werden kann, daß die befürchteten Gefahren auf einer der vorausliegenden Regelungsstufen nicht wirksam bekämpft werden können. Das BVerfG stellt seine Lehre von der gestuften Regelungsbefugnis unter das Abwägungsgebot 4 . Dem Freiheitsanspruch des einzelnen und zugleich dem Schutz der Gemeinschaft kann, so leitet das BVerfG sie ein, eine Regelung nur i n sorgfältiger Abwägung der Bedeutung der einander gegenüberstehenden und möglicherweise widerstreitenden Interessen gerecht werden. Für die Freiheit der Berufswahl begrenzende Regelungen fordert es als Voraussetzung den Vorrang des zu schützenden Gemeinschaftsguts vor der Freiheit des einzelnen. Das 3 BVerfGE 7, 377 (405 ff.). 4 BVerfGE 7, 377 (405).

2.1 Ausgangspunkt des Apotheken-Urteils

51

Reden des BVerfG von Abwägung und Vorrang, seine Unterscheidung von überragend wichtigen und sonstigen Gemeinschaftsgütern, seine Kennzeichnung des A r t . 121 als einer Wertentscheidung des Grundgesetzes, das Immanenzverständnis der Regelungsbefugnis, die das BVerfG als Befugnis zur Bestimmung der „ i m Wesen des Grundrechts selbst angelegten Grenzen" 5 verstanden haben w i l l , erinnern an die Abwägung unter der Wertordnung des Grundgesetzes, wie sie zu A r t . 5 entwickelt wurde. Die Deutung von A r t . 12 I als einem einheitlichen Grundrecht der Berufsfreiheit unter Erstreckung der Regelungsbefugnis auch auf die Berufswahl scheint außerdem die i n der Auslegung von A r t . 5 zu beobachtende Nivellierungstendenz fortzuführen. I n der Tat w i r d aufzuzeigen sein, wie die vom BVerfG zu verschiedenen Grundrechten entwickelten Auslegungs- und Abwägungsstrategien i m Fortgang der Rechtsprechung konvergieren und wie sich dabei die verschiedenen, auch die i m Grundgesetz verschieden gesicherten Grundrechte i n ein allgemeines Freiheitsrecht entdifferenzieren. Hier i m Apotheken-Urteil hat jedoch das BVerfG trotz der zeitlichen Nähe zum L ü t h - U r t e i l und trotz mancher Anklänge an die Abwägung i n der Wertordnung des Grundgesetzes einen zunächst ganz anderen Auslegungs- und Abwägungsansatz unternommen. Die Stufen gesetzgeberischer Regelungsbefugnis, die es hier unterscheidet, haben m i t den Stufen der Grundrechtsgebrauchsqualität i m L ü t h - oder Wahlplakate-Urtei] nichts gemein. Der Gegensatz läßt sich grob so kennzeichnen: I n der Tradition des Lüth-Urteils mußte der Grundrechtsträger den Wert seines Handelns, i m Apotheken-Urteil muß der Staat die Berechtigung seines Eingreifens nachweisen. Entsprechend gilt die Unterscheidung verschiedener Stufen i n der Tradition des Lüth-Urteils der Qualität des Grundrechtsgebrauchs, i m Apotheken-Urteil der I n tensität des staatlichen Eingriffs. Was bedeutet dabei Abwägung? Die allgemeinen Ausführungen des BVerfG zu A r t . 12 I mit der Lehre von der gestuften Regelungsbefugnis lassen das Abwägungsgebot dahin verstehen, als gebe es die Bestimmung und Gewichtung der durch die Regelung zu schützenden I n teressen der Allgemeinheit auf. I n der Abwägung wären also folgende Fragen zu beantworten: Welches Interesse der Allgemeinheit, welches Gemeinschaftsgut soll geschützt werden? Wie ist es zu gewichten? Wie ist es i n die den Regelungsstufen zugeordnete Rangstufung von Gemeinschaftsgütern einzuordnen? Handelt es sich u m ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut oder nur um ein sonstiges Gemeinschaftsinteresse? Geht das Gemeinschaftsgut der Freiheit des einzelnen vor? Nach dem Programm, das sich das BVerfG für die Überprüfung des 5 B V e r f G E 7, 377 (404). 4*

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2 A b w . unter dem Gebot der Verhältnismäßigkeit — Rspr. zu A r t . 12

bayerischen Apothekengesetzes macht, hätte diese Abwägung am A n fang zu stehen. Das BVerfG w i l l bei objektiven Zulassungsvoraussetzungen zunächst prüfen, ob ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut gefährdet ist, dann erst, ob die gesetzliche Regelung zur Abwehr der Gefahr geeignet, und schließlich, ob sie auch dazu erforderlich ist 6 . Gegen diese Prüfungsreihenfolge läßt sich zwar die Frage einwenden, warum der i n u. U. schwieriger Abwägung zu ermittelnde Vorrang eines Gemeinschaftsguts vor der Freiheit des einzelnen überhaupt zu ermitteln ist, wenn der zu überprüfende Eingriff i n die Freiheit sich anschließend als zum Schutz des Gemeinschaftsguts nicht erforderlich, vielleicht nicht einmal geeignet herausstellen kann. Aber die A b wägung scheint zentralen Platz jedenfalls für den Fall einzunehmen, daß ein Eingriff des Gesetzgebers sich zur Abwehr einer Gefahr als tatsächlich geeignet und erforderlich erweist. Dann scheinen die A b wägungsfragen unvermeidbar: Entspricht der Rang des zu schützenden Gemeinschaftsguts der Regelungsstufe des Eingriffs? Geht es der i m Eingriff beschränkten Freiheit vor? Diese Abwägung w i r f t Probleme auf. Daß das BVerfG hier nicht auf die Wertordnung des Grundgesetzes rekurriert, läßt zwar deren Problematik, läßt aber zugleich eine Richtung entfallen, i n der sich nach der Methode und den Kriterien des BVerfG für die Gewichtung von Gemeinschaftsgütern und -interessen immerhin suchen ließe. W i r d nun die Bestimmung des Rangs eines Gemeinschaftsguts vom BVerfG nicht i m Zugriff auf das Grundgesetz getroffen, w i r d dieser Zugriff weder als Bestimmungs- noch als Darstellungsmittel auch nur versucht, dann kann sich der Rang entweder nach der eigenen Einschätzung des BVerfG oder danach richten, wie wichtig das Gemeinschaftsgut dem um seinen Schutz bemühten Gesetzgeber selbst war. Diesem galt es offensichtlich genau so viel, daß er zu seinem Schutz die gewählte Freiheitsbeschränkung für gerechtfertigt hielt. Sich an der Gewichtung des Gesetzgebers orientieren und sie zugleich kritisch überprüfen könnte das BVerfG also nur dann, wenn die Überprüfung lediglich dem K r i t e r i u m der Konsistenz verpflichtet wäre. Da es die Gewichtungsund Abwägungsaufgabe bei A r t . 12 I jedoch anspruchsvoller gestellt hat, ist von i h m eine eigene Einschätzung zu erwarten. Für diese, soll sie nicht eine beliebig subjektive sein, wären vom BVerfG Methoden und Kriterien zu entwickeln. Das BVerfG stellt jedoch lediglich lapidar fest, daß unbestritten die Volksgesundheit ein wichtiges Gemeinschaftsgut sei, dessen Schutz Einschränkungen der Freiheit des einzelnen zu rechtfertigen vermöge. Das kann auf zweierlei Weise gedeutet werden: Entweder zieht das BVerfG die Konsequenz aus den methodischen β BVerfGE 7, 377 (409).

2.1 Ausgangspunkt des Apotheken-Urteils

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Schwierigkeiten einer Gütergewichtung und -abwägung, ändert unter der Hand seine Prüfungsstrategie und fragt nur mehr danach, ob überhaupt es dem Gesetzgeber u m irgendein Gemeinschaftsgut ging. Zu prüfen wäre dann also einfach, ob der Gesetzgeber einen zulässigen Zweck verfolgte und ob dafür die gewählte Regelung geeignet und erforderlich war. Dabei könnte allerdings die Lehre von der gestuften Regelungsbefugnis nicht einer Rangstufung von Gemeinschaftsgütern und -interessen zugeordnet bleiben. Oder das BVerfG orientiert sich i n seiner Abwägung schon am Ergebnis seiner späteren Ausführungen, nach denen die Regelung des bayerischen Apothekengesetzes zum Schutz der Volksgesundheit nicht erforderlich ist. Damit wäre dem oben angedeuteten Vorrang der Erforderlichkeitsprüfung vor der A b wägung Rechnung getragen. — Beide Deutungsvarianten werden an der weiteren Rechtsprechung zu Art. 12 I überprüft werden. Sie treffen sich jedenfalls darin, daß sie das Abwägungsgebot hinter dem Gebot der Geeignetheit und Erforderlichkeit des staatlichen Eingriffs zurücktreten lassen. Das BVerfG prüft eingehend, ob und welche Gefahren der Volksgesundheit bei Wegfall der Zulassungsbeschränkung des bayerischen Apothekengesetzes drohen 7 . Es hält den E i n t r i t t der vom Gesetzgeber befürchteten Gefahren entweder für nicht wahrscheinlich oder für m i t anderen, weniger eingreifenden Regelungen abwehrbar, die Zulassungsbeschränkung also für nicht erforderlich. Der Gesetzgeber argumentiert mit einer Hypothese über den Zusammenhang zwischen Niederlassungsfreiheit und Beeinträchtigung der Volksgesundheit und leitet aus dieser Hypothese die Erforderlichkeit der Niederlassungsbeschränkung für die Volksgesundheit ab. Dagegen ist einmal die Infragestellung der Hypothese, zum anderen der Einwand gegen den Schritt von der Hypothese zur Erforderlichkeitsaussage möglich. Dem BVerfG gelingt die Infragestellung der Hypothese zunächst mit dem Hinweis auf die Tatsache, daß i n anderen europäischen Ländern Niederlassungsfreiheit nicht zur Beeinträchtigung der Volksgesundheit geführt habe, dann m i t einer Untersuchung, i n der es auch diejenigen einzelnen Hypothesen falsifiziert oder jedenfalls nicht hinreichend bewährt findet, auf die sich die umfassende Hypothese vom Zusammenhang zwischen Niederlassungsfreiheit und Beeinträchtigung der Volksgesundheit stützt. A n schließend führt das BVerfG einen Einwand gegen den Schritt von der Hypothese zur Erforderlichkeitsaussage. Es läßt die Hypothese des Gesetzgebers dahingestellt, indem es m i t der neuen Hypothese argumentiert, daß Niederlassungsfreiheit jedenfalls unter bestimmten U m ständen noch nicht zur Beeinträchtigung der Volksgesundheit führt. Es 7 B V e r f G E 7, 377 (413 ff.).

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2 A b w . unter dem Gebot der Verhältnismäßigkeit — Rspr. zu A r t . 12

prognostiziert, daß insbesondere bei Vorsorge i m Bereich der pharmazeutischen Industrie, bei Beschränkung der Werbung und des freien Verkaufs von Arzneimitteln die Niederlassungsfreiheit die Volksgesundheit nicht beeinträchtige und daß die genannten Umstände auch vom Gesetzgeber zu verwirklichen seien. M i t Einführung der neuen Hypothese w i r d auch bei Unterstellung der Hypothese des Gesetzgebers diesem die Erforderlichkeitsaussage genommen. Die Schwierigkeit dieser Erforderlichkeitsprüfung liegt darin, daß i n ihr Randbedingungen sowohl fest als auch variabel gehalten werden müssen. Einerseits hat das BVerfG einen ceteris-paribus-Vorbehalt, nach dem z. B. das wirtschaftlich vernünftige Verhalten der Apotheker und die Effektivität individueller Ahndung von Verstößen gegen Berufspflichten konstant gesetzt werden. Andererseits setzt es z. B. die Verhältnisse i n der pharmazeutischen Industrie, i n der Arzneimittelwerbung und i m -verkauf variabel. Nun ist eine Erforderlichkeitsaussage des Gesetzgebers nie aufrechtzuerhalten, wenn die Setzung von Variablen i n Einführung einer neuen Hypothese nur weit genug getrieben wird. Denn m i t der Setzung von Variablen kann einfach unterstellt werden, daß die Welt eine andere wäre. Die Zulässigkeit der Variabilisierung muß also beschränkt werden. Eine erste sinnvolle Beschränkung ist, daß die Variablen zur Disposition des Gesetzgebers stehen müssen. I m Apotheken-Urteil begnügt sich das BVerfG damit. Es läßt es schon genügen, wenn der Gesetzgeber des Bundes oder der Länder über die Variablen verfügen kann. Aber kann diese Beschränkung ausreichen? Die Präsenz des Staates und die Kompetenz des Gesetzgebers sind so umfassend, daß kaum Lebensbereiche vorstellbar sind, die nicht unter entsprechendem Einfluß des Staates auch anders aussehen könnten. Freilich ist dies eine abstrakte Betrachtungsweise und konkret stoßen die Setzung von Variablen und die Disposition des Gesetzgebers rasch auf politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und insbesondere finanzielle Grenzen. Aber sind diese Grenzen m i t der für eine Gerichtsentscheidung nötigen Deutlichkeit auszumachen? Und soll es ein Argument des Verfassungsgerichts z. B. sein können, eine tief eingreifende Freiheitsbeschränkung sei darum nicht durch einp weniger beeinträchtigende zu ersetzen, w e i l eine entsprechende Regelung an politischem Widerstand scheitere? Darf das BVerfG Variablen einführen und mit ihnen eine Alternative zum vom Gesetzgeber gewählten Eingriff eröffnen, wenn die Alternative zwar für eine Gruppe von Personen grundrechtsschonender ist, für eine andere jedoch einen spürbaren Eingriff bedeutet? Darf es den Gesetzgeber auf finanziell aufwendige Maßnahmen verweisen? — Wie weit die Variabilisierung i n der Erforderlichkeitsprüfung gehen darf, wie Geeignetheits- und Erforderlichkeitsprüfung, wie Hypothesengewinnung, Tatsachenfeststellung

2.1 Ausgangspunkt des Apotheken-Urteils

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und Prognosenbildung i n der Kontrolle des Gesetzgebers ineinander spielen können und müssen, sind für die nachfolgenden methodischen und verfassungsrechtsdogmatischen Erörterungen vorzumerkende Fragen. Für das Verhältnis zwischen Geeignetheits- und Erforderlichkeitsprüfung gibt das BVerfG selbst i m Apotheken-Urteil noch einen H i n weis. Die Geeignetheitsfrage steht i m allgemeinen und auch i m Apotheken-Urteil i m Schatten der Erforderlichkeitsfrage. Das BVerfG deutet an, wie sie auch zu eigenständiger Bedeutung kommen kann. Es unterscheidet zwischen Grundrechten m i t und ohne abgestuften Gehalt. Ließen sich wie bei A r t . 12 I i n der Auslegung des BVerfG Bereiche stärkeren und schwächeren Freiheitsschutzes ausmachen, dann sei die Notwendigkeit des gesetzlichen Eingriffs zu prüfen. Bei Grundrechten ohne abgestuften Schutzbereich solle der Gesetzgeber die Wahl zwischen mehreren gleichgeeigneten Eingriffen haben, solle also die verfassungsgerichtliche Uberprüfung des Gesetzes nur am Geeignetheitsgebot ausgerichtet sein 8 . Diese Unterscheidung läßt sich i n eine weitere, vom BVerfG i m Apotheken-Urteil ebenfalls getroffene Unterscheidung einbetten, nach der zwischen der verfassungsmäßigen Festlegung eines Prinzips, eines nur der Abwehr gelegentlicher Einzeleingriffe dienenden Grundrechts und eines echten als eines solchen Grundrechts, das der Idee nach mit der Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit zusammenhängt, unterschieden w i r d 9 . Der Unterscheidung zwischen Prinzip, Grundrecht der Einzelabwehr und echtem Grundrecht ordnet das BVerfG i n dieser Reihenfolge ein Kontinuum abnehmenden gesetzgeberischen Ermessens zu. I n diesem Kontinuum ist also die Abnahme des Ermessens u. a. danach zu bestimmen, ob der Gesetzgeber nach Ermessen eine geeignete oder ob er nur eine erforderliche Regelung auswählen kann.

Das Apotheken-Urteil bestimmt die Begründungsstrukturen der weiteren Rechtsprechung zu A r t . 121. Selbst da, wo das BVerfG schließlich die Stufenlehre verabschiedet, w i r k t das Apotheken-Urteil noch fort, indem es seine Probleme sind, die zum Abschied führen. Zunächst dient ein erster Abschnitt der Rechtsprechung zu Art. 12 I (2.2) noch ganz dem Ausbau und der Verfeinerung der Regelungsstufen sowie der zugeordneten Rangstufung von Gemeinschaftsgütern. I m zweiten Abschnitt (2.3 und 2.4) finden die Probleme der Abwägung, der Ge» B V e r f G E 7, 377 (410). 9 B V e r f G E 7, 377 (399/400).

56

2 A b w . unter dem Gebot der Verhältnismäßigkeit — Rspr. zu A r t . 12

eignetheits- und Erforderlichkeitsprüfung und der Hypothesenbildung eine Lösung, die allerdings um den Preis der Orientierung am Gesetzgeber, also u m den Preis eines Verlusts an bundesverfassungsgerichtlicher Kontrolle erkauft wird. I m dritten und letzten Abschnitt (2.5) löst sich die Stufenlehre auf, und es w i r d zu zeigen sein, daß dies nur die Konsequenz der vorangegangenen Abschnitte ist. Daß die einzelnen Abschnitte voneinander nicht streng geschieden sind, versteht sich ebenso wie der Zusammenhang der Rechtsprechung zu A r t . 12 I m i t der übrigen Grundrechtsrechtsprechung. Erst wenn diese, soweit sie insbesondere bei A r t . 2 Abwägung unter dem Gebot der Verhältnismäßigkeit ist, anschließend dargestellt w i r d (2.6), gewinnt das B i l d vom Ineinanderspielen von Abwägungs- und Verhältnismäßigkeitsgebot seine abschließende Gestalt. Soviel läßt sich zur Terminologie aber schon nach dem ApothekenUrteil auch für die weitere Rechtsprechung festhalten: Die Gebote der Abwägung und der Verhältnismäßigkeit werden vom BVerfG i n ihrer Beziehung zueinander nicht klar bestimmt, sie ergänzen und überschneiden einander i n verschiedenen Weisen. Das BVerfG stellt sowohl das Abwägungsgebot über die Verhältnismäßigkeitsprüfung als auch umgekehrt diese über jenes. Die Lehre von der gestuften gesetzgeberischen Regelungsbefugnis, i m Apotheken-Urteil als Entfaltung des Abwägungsgebots vorgetragen, w i r d vom BVerfG ebenso auch als das Ergebnis strikter Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bezeichnet 10 . Dabei werden dann i m Verhältnismäßigkeitsgrundsatz das Geeignetheits- und das Erforderlichkeitsgebot vom Ubermaßverbot unterschieden und ist von diesem und allfälligen anderen nicht recht geklärten Wertungsproblemen als den Problemen der Abwägung die Rede. Andererseits w i r d weiter der Begriff der Abwägung als die Überschrift verwandt, unter der m i t Hilfe der Kriterien der Geeignetheit und Erforderlichkeit, durch Gewichtung und Vergleich Konflikte zwischen Individualfreiheit und Notwendigkeit staatlichen Handelns angegangen werden. — Schon i n der Darstellung des ApothekenUrteils und auch i m folgenden w i r d hier Abwägung i m engeren Sinn verstanden. Abwägung unter dem Gebot der Verhältnismäßigkeit heißt dann eine Grundrechtsrechtsprechung, bei der i n der Überprüfung von Grundrechtseingriffen die Abwägung zwischen Freiheit und staatlichem Eingriffsziel hinter den Kriterien der Geeignetheit und Erforderlichkeit des Eingriffs zurücktritt.

io Vgl. BVerfGE 13, 97 (104) neben BVerfGE 7, 377 (404/405).

2.2 Ausbau der Stufenlehre

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2.2 Ausbau der Stufenlehre Den ersten Schritt zum Ausbau der Lehre von den einander zugeordneten Stufen der Befugnis zur Regelung und des Rangs von Gemeinschaftsgütern macht das BVerfG mit seiner Entscheidung zur Kassenarztzulassung 11 . Die Regelung, nach der zu sogenannten Kassenarztsitzen nur je ein Bewerber zugelassen wurde, war m i t der Verfassungsbeschwerde angegriffen worden. Das BVerfG beurteilt sie als eine Berufsausübungsregelung. Aber auch die Befugnis zu Ausübungsregelungen sieht es nun gestuft. Es unterscheidet Ausübungsregelungen danach, ob sie zugleich die Berufswahl oder lediglich die Berufsausübung treffen, ob sie die Freiheit der Ausübung einschneidend beengen oder nicht. Je nach der so zu unterscheidenden Eingriffsintensität einer Ausübungsregelung soll die Regelungsfreiheit des Gesetzgebers geringer oder größer sein. Diese Feinstufung der Stufe der Ausübungsregelung w i r d von einer Berufung des Abwägungsgebots begleitet. Auch bei Ausübungsregelungen fordert das BVerfG eine A b wägung zwischen der Berufsfreiheit und dem Interesse der Allgemeinheit, dem der Eingriff dienen soll. Die Verfassungsbeschwerden haben Erfolg. Das BVerfG urteilt, die Ausübungsregelung komme einer objektiven Zulassungsschranke nahe und sei daher nur gerechtfertigt, wenn sie zur Wahrung besonders wichtiger Interessen der Allgemeinheit unerläßlich sei. Es prüft die i n dieser Hinsicht geltend gemachten Argumente und v e r w i r f t sie. Die Feinstufung auf der Stufe der Ausübungsregelung i m Urteil zur Kassenarztzulassung ist insbesondere daran orientiert, ob die Regelung die Berufswahlfreiheit berührt. I m Werkfernverkehr-Urteil 1 2 verzichtet das BVerfG auf diesen Gesichtspunkt und unterscheidet danach, ob i n die Freiheit der Berufsausübung generell und empfindlich eingegriffen wird. Ist das der Fall, dann soll der Eingriff nur m i t Interessen des Gemeinwohls gerechtfertigt werden können, die vor der durch den Eingriff behinderten Freiheit den Vorrang haben 13 . Lediglich wenn kein genereller und empfindlicher Eingriff vorliege, könne die Berufsausübungsbeschränkung, wie i m Apotheken-Urteil ausgeführt, m i t jeder vernünftigen Erwägung des Gemeinwohls gerechtfertigt werden. n BVerfGE 11, 30. 12 B V e r f G E 16, 147. 13 Das B V e r f G spricht v o m Vorrang der Interessen des Gemeinwohls „ v o r der Berufsbehinderung der Unternehmer" (BVerfGE 16, 147 [167]). Auch sonst formuliert das B V e r f G die Vorrangfrage gelegentlich, als gehe es u m einen K o n f l i k t nicht zwischen dem Allgemeininteresse und der beeinträchtigten Freiheit, sondern zwischen dem Allgemeininteresse u n d der Beeinträchtigung der Freiheit. Es versteht sich wohl, daß dabei n u r eine unsaubere Ausdrucksweise vorliegt.

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2 A b w . unter dem Gebot der Verhältnismäßigkeit — Rspr. zu A r t . 12

Zur Stufe der Regelung subjektiver Voraussetzungen der Berufsaufnahme entwickelt das BVerfG zwar nicht eine weitere Untergliederung, es bringt aber i m Beschluß zum Befähigungsnachweis für das Handw e r k 1 4 eine Klarstellung der zugeordneten Gemeinschaftsgüterrangstufe. Gemeinschaftsgüter welchen Rangs für die Rechtfertigung subjektiver Zulassungsbeschränkungen erforderlich sind, wurde i m Apotheken-Urteil ja nicht ausgeführt. Zwar heißt es dort zuweilen pauschal, i n die Freiheit der Berufswahl dürfe nur zum Schutz besonders wichtiger, überragender Gemeinschaftsgüter eingegriffen werden. I n der Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Zulassungsschranken w i r d dieses Erfordernis jedoch nur auf die letzten bezogen. I m Befähigungsnachweis-Urteil stellt das BVerfG klar, daß subjektive Zulassungsvoraussetzungen nur zum Schutz wichtiger Gemeinschaftsgüter vorgesehen werden dürfen. Die wichtigen unterscheidet es dabei von den wohl m i t den überragenden gleichzusetzenden absoluten Gemeinschaftsgütern. Seien diese der Politik vorgegeben, könnten jene Gegenstand politischer Entscheidung sein. Damit steht die Stufenlehre des BVerfG i n ihrem vollen Ausbau, den das folgende Schaubild wiedergibt. 1

Regelung objektiver Voraussetzungen f ü r die Berufsaufnahme

absolute, überragende, besonders wichtige Gemeinschaftsgüter

2

Regelung subjektiver Voraussetzungen f ü r die Berufsaufnahme

wichtige

Gemeinschaftsgüter

3.1 Regelung der Berufsausübung, die auch die Berufswahlfreiheit trifft

besonders güter

3.2 Regelung der Berufsausübung, die n u r die Berufsausübungsfreiheit, diese aber generell u n d empfindlich t r i f f t

vor der behinderten Freiheit rangige Gemeinschaftsgüter

3.3 sonstige Regelung der ausübung

sonstige Gemeinschaftsgüter, zweckmäßige V e r w i r k l i c h u n g jeder vernünftigen Erwägung des Gemeinwohls

Berufs-

wichtige

Gemeinschafts-

vor-

Eine Regelung w i r d gerechtfertigt durch die Relationen der Erforderlichkeit und Geeignetheit für den Schutz eines Gemeinschaftsguts oder -interesses, das dem Rang nach i n die i m Schaubild gegenüber angeordnete Kategorie paßt. Man sollte nach der Anlage der Stufenlehre erwarten, auch die Geeignetheit und Erforderlichkeit für den Schutz eines Gemeinschaftsguts einer höher angeordneten Kategorie genügten zur Rechtfertigung. Wegen 3.1, wonach schon bestimmte Regelungen der Berufsausübung nur zum Schutz besonders wichtiger Gemeinschaftsgüter gerechtfertigt sind, gilt dies jedoch nicht. Das mag als 14 BVerfGE 13, 97.

2.3 Geeignetheits- u n d Notwendigkeitsprüfung

59

bloßer Schönheitsfehler eingeschätzt werden, korrigierbar dadurch, daß die Regelung der Kassenarztzulassung als objektive Berufswahlbeschränkung aufgefaßt und daß 3.1 bei 1 eingestuft wird. Diese Korrekt u r würde jedoch den beachtlichen Gründen widersprechen, die das BVerfG für die Einschätzung der Kassenarztzulassung als einer Berufsausübungsregelung vorbringt. I n dem Bemühen u m den Ausbau der Stufenlehre und i n den Schwierigkeiten, i n die dieses Bemühen führt, zeigt sich die eine Seite eines Dilemmas, i n welches das BVerfG m i t seiner Stufenlehre gerät: Die Unterscheidungen i n ihrer ursprünglichen Fassung sind zu grob, um manche unter dem Gesichtspunkt der Eingriffsintensität augenfälligen Regelungsunterschiede befriedigend zu fassen. 2,3 Von Gütergewichtung und Gütervergleich zur Geeignetheits- und Notwendigkeitsprüfung Die andere Seite des Dilemmas sind Folgeprobleme gerade des Ausbaus und der Verfeinerung der Stufenlehre. I m Apotheken-Urteil ging es wesentlich nur um die Unterscheidung zwischen überragenden und sonstigen Gemeinschaftsgütern. Dieser Rangunterschied ist immerhin suggestiv, und der Versuch einer Präzisierung erscheint nicht aussichtslos. Die Unterschiede i n der verfeinerten und ausgebauten Stufenlehre sind dagegen weder i n t u i t i v zu fassen, noch ist an eine Präzisierung der Unterschiede und Entsprechungen zwischen sonstigen, vorrangigen, wichtigen, besonders wichtigen und absoluten Gemeinschaftsgütern, wobei die besonders wichtigen Gemeinschaftsgüter auf 3.1 womöglich nicht einmal ganz dasselbe sind wie auf 1, zu denken. M i t der Verfeinerung überzieht das BVerfG seine Unterscheidungsmöglichkeiten. Die Einführung der neuen Kategorie wichtiger Gemeinschaftsgüter i m Befähigungsnachweis-Beschluß gelingt nur noch u m den Preis, daß die Entscheidung über die Wichtigkeit vom BVerfG nicht selbst als verfassungsrechtliche getroffen, sondern dem Gesetzgeber als politische überlassen wird. Wichtige Gemeinschaftsgüter oder -interessen sind danach solche, die dem Gesetzgeber wichtig sind, „die er . . . i n den Rang wichtiger Gemeinschaftsinteressen erhebt" 1 5 . Nur darauf w i l l das BVerfG überprüfen, ob die Gewichtung des Gesetzgebers offensichtlich fehlsam oder mit der Wertordnung des Grundgesetzes unvereinbar ist. Hier w i r d die Gewichtungs- und Abwägungsaufgabe dem Gesetzgeber überlassen. Auch wo das nicht ausdrücklich geschieht, t r i t t sie für is BVerfGE 13, 97 (107).

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2 A b w . unter dem Gebot der Verhältnismäßigkeit — Rspr. zu A r t . 12

die Aufmerksamkeit des BVerfG i n den Hintergrund. Das läßt sich als Reaktion auf die mit der Verfeinerung offensichtlich gewordenen Unterscheidungs- und Gewichtungsschwierigkeiten deuten. I n jedem Fall ist es die Hinwendung zu den Kriterien der Geeignetheit und Erforderlichkeit. Es ist ohnehin nur eine frühe Entscheidung zu verzeichnen, i n der das Ergebnis der Abwägung für den Begründungsgang des BVerfG eine Weiche stellt. § 9 Personenbeförderungsgesetz war dem BVerfG i n einer Fassung vorgelegt worden, die objektive Zulassungsschranken für den Gelegenheitsverkehr m i t Mietwagen und Droschken bestimmte 16 . Das BVerfG beginnt seine Prüfung m i t der Frage, ob der Gelegenheitsverkehr i m ganzen ein überragendes Gemeinschaftsgut darstellt. Dies verneinend fragt es weiter, ob bestimmte seiner Formen überragende Gemeinschaftsgüter sind. Weil es diese Frage für den Gelegenheitsverkehr m i t Mietwagen verneint, urteilt es ohne weitere Erörterung, die objektiven Zulassungsschranken seien insoweit verfassungswidrig. Den Droschkenverkehr dagegen sieht das BVerfG als überragendes Gemeinschaftsgut an und läßt hier die objektive Zulassungsschranke erst an ihrer fehlenden Notwendigkeit scheitern. Gefahren für das Gemeinschaftsgut, denen nur durch eine Bedürfnisklausel abgeholfen werden könne, seien nicht ersichtlich. I m Personenbeförderungs-Beschluß bestimmt die Gütergewichtung und Abwägung zwar den Begründungsweg, ist aber nicht unerläßlich für das Ergebnis der Entscheidung. Denn zu demselben Ergebnis würde auch ein anderer Weg führen, auf dem unter der Frage vorzugehen wäre, welchen Gefahren für den Gelegenheitsverkehr durch die Bedürfnisklausel abgeholfen werden kann und soll. Auf diese Frage, die das BVerfG zum Gelegenheitsverkehr mit Droschken stellt und auf die es dabei keine die Bedürfnisklausel rechtfertigende A n t w o r t findet, ist ebensowenig bezüglich des Verkehrs m i t Mietwagen eine A n t w o r t zu geben, die Geeignetheit und Notwendigkeit der objektiven Zulassungsschranke erweisen könnte. Der Beschluß zum Personenbeförderungsgesetz verfolgt inhaltlich den Prüfungsweg, den das Apotheken-Urteil gewiesen hat. Als bloßes Darstellungsmittel bleibt er i n der Rechtsprechung des BVerfG zunächst auch weiter verbindlich. D. h., daß unter der Uberschrift der Abwägung und mit der Frage nach dem Rang des Gemeinschaftsguts, u m dessen Schutz es dem Gesetzgeber geht, die Prüfung zwar noch eingeleitet wird, daß aber diese Frage nur noch pauschal oder gar nicht mehr beantwortet wird. Kennzeichnend ist ein Zitat aus dem Urteil zur Kassenarztzulassung: „Bei der Abwägung kommt es i m Ergebnis iö BVerfGE 11, 168.

2.3 Geeignetheits- und Notwendigkeitsprüfung

61

darauf an, ob die Beschränkung der Berufsfreiheit übermäßig ist, w e i l sie zur Abwehr mit einiger Sicherheit voraussehbarer erheblicher Gefahren nicht notwendig ist . . . 1 7 ."

Dieses inhaltliche und bald auch darstellungsmäßige Zurücktreten der Abwägung hinter der Geeignetheits- und Erforderlichkeitsprüfung kann hier nicht an der Fülle der Entscheidungen des BVerfG zu A r t . 12 I i m einzelnen vorgeführt werden. Es sei nur auf einige Entscheidungen eingegangen, i n denen die Kriterien der Geeignetheit und Erforderlichkeit nicht deutlich genannt werden, auf Entscheidungen also, die als mögliche falsifizierende Instanzen zur hier vertretenen These in Betracht kommen. Der Gesetzgeber hatte zum Schutz insbesondere kleiner Ladengeschäfte vor dem Wettbewerb der Warenautomaten diese i n die Ladenschlußregelung einbezogen. Durch das Ladenschlußgesetz hatte er die Ladenöffnungszeiten beschränkt, er wollte m i t der Berufsausübungsregelung für die Automatenaufsteller die Geschäfte während der Schließungszeit wenigstens vor Konkurrenz schützen. Das BVerfG 1 8 sieht den hierfür geltend gemachten Schutzzweck, w i l l i h n aber i n das Verhältnis zur Schwere des Eingriffs i n die Berufsfreiheit der Automatenaufsteller setzen. Es leitet seine Erörterungen ein und schließt sie ab m i t Formulierungen, nach denen es auf die übermäßige Belastung und Unzumutbarkeit ankommt. Dies kann verstanden werden, als sollten Schutzgut und Berufsfreiheit, Nutzen der Geschäftsinhaber und Nachteil der Automatenaufsteller gewichtet und gegeneinander abgewogen werden. Aber wenn auch die Begriffe der Geeignetheit und Erforderlichkeit nicht fallen, läßt sich der Inhalt der bundesverfassungsgerichtlichen Diskussion doch ganz unter ihnen fassen. Nachdem das BVerfG festgestellt hat, daß die Beschränkung der Berufsausübungsfreiheit „erhebliches Gewicht" hat — diese Formulierung des BVerfG deutet nicht ein Gewichtungsproblem an, sondern w i l l nur ausdrücken, daß die Berufsausübungsregelung tatsächlich w i r k t , Folgen für die Kalkulation des Automatenaufstellers hat —, führt es aus, daß die Konkurrenz der Automatenaufsteller für die Ladengeschäfte nur eine geringe Rolle spielt und von diesen durch das Aufstellen eigener Automaten weithin abgewehrt werden kann. Der Sache nach heißt das nichts anderes, als daß die Berufsausübungsregelung für das gesetzgeberische Ziel wenn überhaupt geeignet, dann doch jedenfalls nicht erforderlich ist. 17 BVerfGE 11, 30 (45). is BVerfGE 14. 19.

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2 A b w . unter dem Gebot der Verhältnismäßigkeit — Rspr. zu A r t . 12

Auch die Rechtsprechung des BVerfG zum Ausschluß eines Rechtsanwalts von der Verteidigung erweckt i n der ersten einschlägigen Entscheidung 19 zunächst den Eindruck, als gehe es bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung des Rechtsanwaltsausschlusses u m Abwägung und nicht u m Geeignetheits- und Notwendigkeitsprüfung. Ein A n w a l t i n einer politischen Strafsache war vom B G H von der Verteidigung ausgeschlossen worden, w e i l er ein von anderen verfaßtes, i n scharfer Form die Freilassung seines Mandanten forderndes politisches Protestschreiben dem B G H zugeschickt hatte. Der B G H nahm einen gewohnheitsrechtlichen Grundsatz an, wonach ein Verteidiger auszuschließen ist, wenn er sich der Teilnahme oder Begünstigung an der zur Aburteilung stehenden Tat schuldig gemacht hat. Der B G H entwickelte den Grundsatz i n Analogie dahin weiter, ein Verteidiger müsse auch dann ausgeschlossen werden, wenn Beteiligung nicht an einem vom Angeklagten selbst, sondern an einem von Dritten begangenen, i m Interesse des Angeklagten gegen das erkennende Gericht gerichteten Vergehen vorliege. Das BVerfG wägt die Schwere der Tat des Rechtsanwalts gegen die Schärfe der Reaktion des B G H ab. Es leitet Ubermäßigkeit und UnVerhältnismäßigkeit daraus her, daß die Tat des Rechtsanwalts, gegen den das Verfahren schließlich eingestellt worden war, nicht schwer gewogen, der Ausschluß dagegen die schärfste Reaktion dargestellt habe, über die der B G H verfügte. Daneben bezweifelt das BVerfG zwar die Berechtigung der vom B G H entwickelten Analogie unter Hinweis auf die Interessen des Angeklagten und die Bedeutung der freien Advokatur, es läßt dieses Problem aber letztlich dahinstehen. Immerhin ist dem Beschluß zu entnehmen, wie zur Problemlösung vorzugehen ist. Der Ausschluß eines Anwalts, der den Angeklagten bei der zur Aburteilung stehenden Tat unterstützt hat, ist darum geboten, weil dieser A n w a l t m i t hoher Wahrscheinlichkeit die Wahrheitsfindung zu verhindern suchen wird. W i r d nämlich der Angeklagte der Tat überführt, dann t r i f f t das auch den an ihr beteiligten Anwalt. Zu überprüfen ist nun, ob i m vom B G H analog gesetzten Fall der Anwaltsausschluß ebenfalls zur Ermöglichung der Wahrheitsfindung notwendig ist. Spricht auch hier eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, daß der A n w a l t die Wahrheitsfindung zu verhindern suchen wird? Muß i h m wegen seiner Beteiligung am Vorgehen Dritter gegen das Gericht an der Verhinderung der Wahrheit gelegen sein? Hat er mit seiner Beteiligung lediglich sein rollenmäßiges Engagement überzogen, oder hat er sich i n die zur Aburteilung stehende Tat verstrickt und geht eine Überführung daher auch zu seinen Lasten? Solche i n die Geeignetheits- und Notwendigkeitsprüfung spielenden Tatsachenfragen und Hypothesenbildungen bringt das BVerfG aus18 BVerfGE 15, 226.

2.3 Geeignetheits- u n d Notwendigkeitsprüfung

63

drücklich i n seiner nächsten Entscheidung zum Verteidigerausschluß 20 . Ein OLG hatte einen Verteidiger deswegen ausgeschlossen, w e i l er von der Anklage als Belastungszeuge benannt worden war und w e i l das gleichzeitige Auftreten als Belastungszeuge und Verteidiger eine Konfliktsituation schaffe, bei der die ordnungsgemäße Verteidigung nicht mehr gewährleistet sei. Das BVerfG verlangt eine Abwägung einerseits der Bedeutung der vom Verteidiger als Zeugen erwarteten Aussage für das Strafverfahren gegen andererseits den schweren Eingriff i n die Berufsausübung. Unter diesem Leitwort der Abwägung rügt es die sehr allgemeinen Ausführungen des OLG. „Das Oberlandesgericht hätte vielmehr prüfen müssen, ob die Benennung des Beschwerdeführers als Belastungszeuge m i t einiger Sicherheit einen so erheblichen Konflikt seiner Verteidigerstellung erwarten lasse, daß seine Ausschließung zur Sicherung einer geordneten Verteidigung zwingend geboten erschien 21 ." Das BVerfG verweist das Verfahren an das Landgericht zurück und führt daher die Prüfung, deren Fehlen beim OLG es rügt, nicht selbst durch, sondern deutet nur an, welche Hypothesen über den Rollenkonflikt und welche Tatsachen es bei der Prüfung für relevant hält. Indem es so unter dem Leitwort der Abwägung eine Notwendigkeitsprüfung verlangt und vorbereitet, stellt es klar, daß auch beim Ausschluß eines Rechtsanwalts von der Verteidigung es nicht eigentlich u m Abwägung, sondern u m die Kriterien der Geeignetheit und Notwendigkeit geht 2 2 . Die zuletzt erörterten Entscheidungen waren als kritische Instanzen für die These vom Zurücktreten der Abwägung hinter der Prüfung von Geeignetheit und Erforderlichkeit interessant, die folgende ist es als besonders deutliche Bestätigung für sie. I m Beschluß zum Sachkundenachweis i m Einzelhandel 23 überprüft das BVerfG eine Regelung subjektiver Voraussetzungen für die Berufsaufnahme. Es geht so vor, daß es die möglichen Ziele der Regelung durchmustert und jeweils fragt, ob die Regelung zur Erreichung des Ziels notwendig ist. I n einem Nebensatz und konjunktivisch kennzeichnet es immerhin eines der möglichen Ziele, den Schutz des Verbrauchers vor der Gefahr gesundheitlicher oder wirtschaftlicher Schädigung, als ein wichtiges Gemeinschaftsinteresse, zur Rechtfertigung subjektiver Berufsaufnahmeschranken geeignet. Aber insgesamt orientiert das BVerfG seine Frage nach der Vereinbarkeit des Sachkundenachweises m i t A r t . 121 weder inhaltlich noch darstellungsmäßig mehr am Apotheken-Urteil. Gefragt 20 BVerfGE 16, 214. 21 BVerfGE 16, 214 (219). 22 Daß aber weder die Geeignetheit und die Notwendigkeit noch die Abgewogenheit eines Verteidigerausschlusses den Vorbehalt des Gesetzes überspielen können, hat das B V e r f G i n B V e r f G E 34, 293 klargestellt. 23 BVerfGE 19, 330.

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w i r d nicht mehr: Ist das für die Regelung als Rechtfertigung geltend gemachte Gut ein wichtiges Gemeinschaftsgut, dem Vorrang vor der Berufsfreiheit zukommt?, sondern nur noch: Gibt es irgendein zulässiges — unzulässig ist etwa das Ziel des Konkurrentenschutzes — und konkret zu bestimmendes — zu allgemein ist z. B. beim heterogenen Einzelhandel das Ziel der Erhaltung des Berufsstandes — Ziel, für dessen Erreichung die Regelung geeignet und notwendig ist? I n den vorgeführten Entscheidungen stellt sich ein Abschnitt der Rechtsprechung des BVerfG zu A r t . 12 I dar, von dem oben 24 gesagt wurde, i n i h m löse das BVerfG die Probleme der Abwägung. Die Lösung ist einfach: Indem die Abwägung zwischen Freiheit und Gemeinschaftsgut ihren vom BVerfG i m Apotheken-Urteil postulierten Stellenwert verliert, entfallen auch ihre Probleme. Werden die Fragen nach dem Rang eines Gemeinschaftsguts, nach seinem Vorrang vor der u m seinetwillen beeinträchtigten Freiheit nicht mehr gestellt, dann kann auch dahinstehen, wie sie überhaupt sollen beantwortet werden können. 2.4 Von der eigenständigen zur gesetzgeberorientierten Geeignetheits- und Notwendigkeitsprüfung Von dem auf den Ausbau der Stufenlehre folgenden Rechtsprechungsabschnitt wurde oben ferner gesagt, er bringe die Lösung auch der Probleme der Geeignetheits- und Erforderlichkeitsprüfung sowie der dabei anfallenden Tatsachenfeststellungen und Hypothesenbildungen. Auch hier kann von Lösung nur i n einem leicht ironischen Sinn die Rede sein, denn auch diese Probleme werden i n der zunehmenden Orientierung am Gesetzgeber eher verdrängt als geklärt. I m Beschluß zum Befähigungsnachweis für das Handwerk 2 5 sind die Ziele, zu deren Erreichung der Befähigungsnachweis als geeignet und erforderlich zu erweisen ist, die Erhöhung der Leistungsfähigkeit des Handwerks und die Sicherung des Nachwuchses für die gesamte gewerbliche Wirtschaft. Ebenso wie i m Apotheken-Urteil ist dem BVerfG auch i m Befähigungsnachweis-Beschluß die Eignung der Regelung für die Erreichung der Ziele unproblematisch. Es führt kurz aus, daß und wie die Regelung den Leistungsstand des Handwerks aufrechterhält, und erörtert mehr spielerisch, daß zwar manche Voraussetzungen eines noch höheren Leistungsstandes durch den Befähigungsnachweis noch nicht geschaffen werden, daß aber dieser Umstand die Geeignetheit nicht i n Frage stellt. Nicht die Geeignetheits-, 24 S. 55/56. 25 BVerfGE 13. 97. Siehe dazu schon oben S. 58 f.

2.4 Gesetzgeberorientierte Prüfung

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w o h l aber die Notwendigkeitsprüfung kontrastiert stark m i t der des Apotheken-Urteils. I m Apotheken-Urteil hat das BVerfG die Hypothese des Gesetzgebers gründlich geprüft und eine eigene Hypothese aufgestellt, es hat — und dabei zeigten sich die methodischen Probleme der Erforderlichkeitsprüfung — alternative Situationen durchgespielt und Randbedingungen variabel gesetzt. I m Befähigungsnachweis-Beschluß deutet das BVerfG nur kurz als Alternativen an, daß vielleicht der Leistungsstand des Handwerks auch über den freien Wettbewerb erhalten und durch bloße Ausübungsregelungen hinreichend gefördert werden kann, daß der Befähigungsnachweis als Voraussetzung für die Ausbildung des Nachwuchses notwendig sein mag, nicht aber für den selbständigen Betrieb eines Handwerks. Diese Andeutungen könnten eine Diskussion vorbereiten, i n der ähnlich wie i m ApothekenU r t e i l i m Blick auf die Verhältnisse anderer Länder, auf die Folgen der früheren deutschen Regelung, die lediglich einen kleinen statt des neu eingeführten großen Befähigungsnachweises vorsah, auf die Wettbewerbssituation i m Handwerk die Erforderlichkeitsprüfung durchzuführen wäre. Statt dessen begnügt sich das BVerfG mit der oberflächlich argumentierten, pauschalen Feststellung, die Gründe dafür, daß dem Gesetzgeber die Alternativen nicht genügten, seien „einleuchtend, jedenfalls nicht offenbar fehlsam" 2 6 . M i t der i m Werkfernverkehr-Urteil 2 7 überprüften Sondersteuer verfolgte der Gesetzgeber mehrere Ziele, unmittelbar die Eindämmung des Güterfernverkehrs durch werkseigene Lastkraftwagen, mittelbar und eigentlich die Entlastung der Straße, die bessere Ausnutzung der Transportkapazitäten von Bundesbahn und gewerblichem Güterfernverkehr und die Milderung der für die Bundesbahn teilweise ruinösen Konkurrenz des Güterfernverkehrs insgesamt. Unter dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit versteckt setzt sich das BVerfG damit auseinander, daß die Sonderbesteuerung des Werkfernverkehrs i n den fünf Jahren seit ihrem Inkrafttreten sich als geeignet zur Erreichung der eigentlichen Ziele nicht hat erweisen können. Der i n nur geringem Umfang eingetretene Rückgang des Werkfernverkehrs ist dem gewerblichen Güterfernverkehr zugute gekommen, der zugenommen hat. Daher konnte eine Entlastung der Straße allenfalls insoweit eintreten, als die Transportkapazitäten i m gewerblichen Güterfernverkehr u m weniges besser ausgelastet zu werden pflegen als i m Werkfernverkehr. Die Bundesbahn hat vom Rückgang des Werkfernverkehrs überhaupt nicht angebbar profitiert. Angesichts dessen orientiert das BVerfG seine Geeignetheitsprüfung einfach an der Lagebeurteilung des Gesetzgebers bei Erlaß der Sondersteuer. Maßgeblich w i r d ihm: „Daß das 26 B V e r f G E 13, 97 (114). 27 B V e r f G E 16, 147. Siehe dazu schon oben S. 57. 5 Schlink

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vom Gesetzgeber angewandte M i t t e l von vornherein objektiv untauglich gewesen sei, läßt sich aus dem späteren mangelhaften Erfolg nicht m i t Sicherheit schließen. Der Gesetzgeber selbst hat es für tauglich angesehen 28 ." Immerhin deutet das BVerfG für den Fall andauernder Ungeeignetheit der Sonderbesteuerung Bedenken an, wenn es betont, daß die Erreichung der Ziele i n der Zukunft nicht auszuschließen sei, und wenn es seine Erörterungen abschließt: „Seit dem Inkrafttreten des vollen Steuersatzes sind fünf Jahre vergangen. Diese Zeitspanne ist zu kurz, u m festzustellen, daß die Verwirklichung des vom Gesetzgeber beabsichtigten Zieles ausgeschlossen ist 2 9 ." Das Gebot der Orientierung an den Hypothesen des Gesetzgebers, jedenfalls an den dem Gesetzgeber möglichen Hypothesen w i r d vom BVerfG i n einem späteren Beschluß 30 programmatisch formuliert: „Bei der Prüfung gesetzlicher Eingriffe i n den von A r t . 12 Abs. 1 GG geschützten Bereich . . . w i r d den Auffassungen des Gesetzgebers über die bei Unterlassung des Eingriffs drohenden Gefahren und über die zu ihrer Abwehr gebotenen Maßnahmen besonderes Gewicht zukommen. Bei der hiernach gebotenen Abwägung ist grundsätzlich von der Beurteilung der Verhältnisse auszugehen, die dem Gesetzgeber bei der Vorbereitung des Gesetzes möglich war. Irrtümer über den Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung müssen i n Kauf genommen werden . . . Eine auf Grund einer Fehlprognose ergriffene Maßnahme kann nicht schon deshalb als verfassungswidrig angesehen werden. Dem Gesetzgeber ist lediglich aufgegeben, sie nach Erkenntnis der tatsächlichen Entwicklung dieser entsprechend aufzuheben oder zu ändern 3 1 ." Damit w i r d die Prüfung eines Gesetzes eröffnet, das Errichtungs- und Erweiterungsverbote für Mühlen anordnet. Die Eignung der Verbote für die Erreichung eines Abbaus der i n der BRD überhöhten Mühlenkapazität ist nicht fraglich. Die vorlegenden Gerichte hatten die Erforderlichkeit bestritten und den Versuch unternommen, andere, weniger eingreifende Maßnahmen als gleichgeeignet nachzuweisen. Das BVerfG spielt diese Alternativen zwar i n Kürze durch, betont dabei aber nochmal die Orientierung am Gesetzgeber, dem bei Wirtschaftsordnenden Maßnahmen ein weiter Bereich des Ermessens zugestanden werden müsse. N u r wenn alternative Maßnahmen eindeutig dasselbe wie die vom Gesetzgeber vorgesehene Regelung leisteten und dabei die Freiheit des einzelnen weniger beschränkten, könnten sie die Grundlage für eine Verwerfung der Regelung bieten. Es nimmt nicht wunder, daß bei dieser Einengung der Notwendigkeitsprüfung und der zugeordneten 28 BVerfGE 2® BVerfGE 30 BVerfGE 31 BVerfGE

16, 16, 25, 25,

147 (181). 147 (183). 1. 1 (12/13).

2.4 Gesetzgeberorientierte Prüfung

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Alternativensuche die Regelung des Gesetzgebers vom BVerfG bestätigt wird. Der Aufweis von den strengen Anforderungen des BVerfG genügenden Alternativen mag nach der bisher dargestellten Rechtsprechung immerhin dann noch aussichtsreich erscheinen, wenn er nicht zum Gesamt einer gesetzlichen Regelung, sondern nur zu einigen Regelungsaspekten versucht wird. Dann läßt sich hoffen, daß der bei einer komplexen Gesamtregelung nur schwer mögliche Überblick gelingt, der den Nachweis erlaubt, daß eine alternative Maßnahme tatsächlich eindeutig dasselbe leistet wie die des Gesetzgebers. Aber auch insoweit blendet das BVerfG Alternativen i n Orientierung am Gesetzgeber aus, wenn es für verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden erklärt, daß der Gesetzgeber seine Regelung auch dann trifft, wenn sie bei bestimmten Fallgruppen zur Erreichung des Ziels nicht notwendig ist. Den Ausschluß der freien Wahl des Berufs des selbständigen Arbeitsvermittlers durch das Arbeitsvermittlungsmonopol der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung kann das BVerfG zwar für den Regelfall, nicht aber für die Vermittlung von Führungskräften der Wirtschaft als notwendig zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit und Mangel an Arbeitskräften argumentieren 32 . Gerade insoweit aber war er vom Verfassungsbeschwerdeführer angegriffen worden. Dem BVerfG „liegt der Gedanke nahe, das Arbeitsvermittlungsmonopol als der schärfste Eingriff i n das Recht der freien Berufswahl dürfe keinen Schritt weiter reichen, als unbedingt erforderlich ist. Bei einer solchen Betrachtungsweise würde es nicht genügen, die Unerläßlichkeit des Monopols allgemein zu bejahen; darüber hinaus müßte . . . für gewisse Rand- und Grenzbereiche noch besonders die Frage geprüft und bejaht werden, ob gerade auch für sie zu einer geordneten und wirksamen Arbeitsvermittlung das Monopol geboten ist. Ließe sich dies nicht m i t Sicherheit feststellen, so würde das Monopol insoweit verfassungswidrig sein 33 ." Aber dann entscheidet sich das BVerfG doch anders und läßt es ausdrücklich genügen, daß der Gesetzgeber nur den Regelfall berücksichtigt 34 . Die Orientierung am Gesetzgeber hat ein verstärktes Interesse des BVerfG an der Konsistenz der gesetzgeberischen Argumentation zur Folge 3 5 . Aus dem Umstand, daß das Gesetz vom Einzelhändler einen 32 B V e r f G E 21, 245. 33 B V e r f G E 21, 245 (257/258). 34 B V e r f G E 21, 245 (259), ähnlich BVerfGE 17, 232 (245); 25, 1 (20). 35 Wenn es dem B V e r f G i m Befähigungsnachweis-Beschluß genügt, daß die Überlegungen des Gesetzgebers zur Geeignetheit u n d Notwendigkeit „nicht offenbar fehlsam" sind (BVerfGE 13, 97 [114]; siehe dazu oben S. 65), dann läßt sich freilich auch dies schon als Abstellen auf die Konsistenz der gesetzgeberischen Argumentation verstehen. 5*

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Sachkundenachweis verlangt, nicht aber von seinem Ehegatten oder seinen Erben, die nach seinem Tod den Betrieb fortführen wollen, schließt das BVerfG, dem Gesetzgeber selbst sei der Sachkundenachweis nicht notwendig erschienen 36 . Nun kann die vom Gesetzgeber getroffene Ausnahme auf zwei verschiedene Weisen ausgewertet werden: Entweder sie stützt, daß der Sachkundenachweis i n Wirklichkeit nicht notwendig ist, oder sie verstößt gegen eine an sich gegebene Notwendigkeit des Sachkundenachweises. Das BVerfG bleibt konsequent bei seinem affirmativen Verhältnis zum Gesetzgeber. Was dem Gesetzgeber notwendig erscheint, zeigte es sich oben geneigt, als i n der Tat notwendig zu akzeptieren. Hier folgert es aus der mangelnden Uberzeugtheit des Gesetzgebers von der Notwendigkeit des Sachkundenachweises, „daß das Erfordernis des Sachkundenachweises . . . über das Maß des Notwendigen hinausgeht" 3 7 . Denselben Schluß zieht das BVerfG unter Berufung auf Art. 121 i. V. m. A r t . 3 1 i n einem Beschluß, i n dem es den Ausschluß staatlich nicht anerkannter Dentisten von der Zulassung zu den gesetzlichen Krankenkassen überprüft 3 8 . Es stellt fest, daß der Gesetzgeber den nicht anerkannten Dentisten die Befugnis zur Behandlung von Privatpatienten läßt, daß er also i n der Behandlung durch nicht anerkannte Dentisten offenbar keine Gefahr für die Volksgesundheit erblickt. Das BVerfG folgert, damit sei dem Ausschluß von der Kassenzulassung die Rechtfertigung entzogen, die allein i n der Notwendigkeit zum Schutz der Volksgesundheit liegen könne. 2.5 Abschied von der Stufenlehre Auftakt der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zu A r t . 12 I war das Apotheken-Urteil. Von diesem Auftakt hat die geschilderte Rechtsprechungsentwicklung das BVerfG zunehmend entfernt. Die A b wägung zwischen Berufsfreiheit und Gemeinschaftsgut, schon i m Apotheken-Urteil selbst mehr gefordert als durchgeführt, ist i m Verlauf der Rechtsprechung nicht griffig geworden und hat den i h r i m Apotheken-Urteil zugewiesenen führenden Stellenwert verloren. Die Geeignetheits- und Erforderlichkeitsprüfung, i n deren Schatten die Abwägung geraten ist, hat ihr Gesicht seit dem Apotheken-Urteil ebenfalls gewandelt. Sie ist nicht mehr die eigenständige, i n der Erhebung von Tatsachen und Bildung von Hypothesen freie Analyse des BVerfG. I n zunehmender Orientierung am Gesetzgeber übernimmt das BVerfG mehr und mehr dessen Einschätzungen von Lagen und se BVerfGE 19, 330. 37 BVerfGE 19, 330 (342). 38 BVerfGE 25, 236.

2.5 Abschied von der Stufenlehre

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Entwicklungen, damit zugleich das U r t e i l des Gesetzgebers über die Geeignetheit und Erforderlichkeit seiner Regelungen. Das Hervortreten des Kriteriums der Konsistenz ist Folge der Orientierung am Gesetzgeber. Es zeigt auch, wohin die Rechtsprechung des BVerfG führen kann: I n der Konsequenz ihrer Entwicklung läge es, A b wägungs- und Verhältnismäßigkeitsgebot zu einem bloßen W i l l k ü r verbot degenerieren zu lassen. Denn W i l l k ü r des Gesetzgebers liegt ja genau dann vor, wenn nicht einmal mehr er selbst den Sinn seiner Regelung konsistent darlegen kann. Das gegenüber dem Apotheken-Urteil veränderte Verhältnis zwischen Abwägung und Geeignetheits- und Erforderlichkeitsprüfung läßt gut die Entscheidung zur Erdölbevorratung 3 9 erkennen. I n ihr überprüft das BVerfG allerdings nur eine Berufsausübungsregelung. Das könnte dagegen sprechen, diese Entscheidung dem Apotheken-Urteil gegenüberzustellen, i n dem zu Beschränkungen der Berufsfreiheit umfassend Stellung genommen wurde. Aber zum einen w i r d die Uberprüfung der Erdölbevorratungspflicht als einer Berufsausübungsregelung vom BVerfG m i t einer Erklärung von umfassender Programmatik eingeleitet: Das BVerfG sieht „ebenso wie den Eingriff i n die Freiheit der Berufswahl auch die Regelung der Berufsausübung an die strikte Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gebunden" 40 . Zum anderen ist nach der Entwicklung, welche die Rechtsprechung zu A r t . 121 genommen hat, auch nicht mehr ersichtlich, wie bei der Uberprüfung von Beschränkungen der Berufswahl- und der Berufsausübungsfreiheit verschiedene Kriterien zur Geltung zu kommen hätten. Das BVerfG läßt i n der Entscheidung zur Erdölbevorratung die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit nicht mehr m i t der Abwägung beginnen. A m Anfang steht nun einfach die Frage, ob der Gesetzgeber für die Freiheitsbeschränkung einen Zweck angeben kann, dessen Verfolgung m i t dem Grundgesetz vereinbar ist. I m zweiten Prüfungsschritt w i r d nach der Geeignetheit und Erforderlichkeit der Freiheitsbeschränkung zur Erreichung des Zwecks gefragt. Das BVerfG bestimmt, was Geeignetheit und Erforderlichkeit heißen: „Das M i t t e l ist geeignet, wenn m i t seiner Hilfe der gewünschte Erfolg gefördert werden kann; es ist erforderlich, wenn der Gesetzgeber nicht ein anderes, gleich wirksames aber das Grundrecht nicht oder doch weniger fühlbar einschränkendes M i t t e l hätte wählen können . . . 4 1 ." Diese Formulierung drückt nicht geradezu das Ergebnis dessen aus, was i n der Entwicklung der Rechtsprechung als Tendenz zur Orientierung am Gesetzgeber auszumachen war. Aber sie verschweigt es auch nicht geradezu. 39 B V e r f G E 30, 292. 40 B V e r f G E 30, 292 (315). 41 B V e r f G E 30, 292 (316).

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Daß der Gesetzgeber nicht ein anderes M i t t e l hätte wählen können, läßt sich nach dem zur Rechtsprechungsentwicklung Ausgefiihrtén so verstehen, daß es hier u m die Perspektive des Gesetzgebers und eine entsprechende Orientierung des BVerfG geht 4 2 . Den letzten Prüfungsschritt w i l l das BVerfG einer Gesamtabwägung widmen, i n der die Grenze der Zumutbarkeit zu wahren ist. Erst hier, unter dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit, soll zwischen der Intensität des Eingriffs und dem Gewicht des Gemeinschaftsguts abgewogen werden. Das Programm dieser Abwägung verweist nicht mehr auf Stufen der Eingriffsintensität und des Gemeinschaftsgüterrangs, sondern auf ein Kontinuum: „Je empfindlicher die Berufsausübenden i n ihrer Berufsfreiheit beeinträchtigt werden, desto stärker müssen die Interessen des Gemeinwohls sein, denen diese Regelung zu dienen bestimmt ist . . . 4 3 ." Der Abschied des BVerfG von der Stufenlehre trägt deren Scheitern Rechnung, einem auch und gerade methodischen Scheitern, das i n jedem der drei tragenden Konstruktionsglieder der Stufenlehre aufzuzeigen ist: Weder ist die Rangstufung von Gemeinschaftsgütern gelungen noch ließ sich die Unterscheidung der Regelungsstufen durchhalten, noch auch vermochte das BVerfG, den die Gemeinschaftsgüter und die Regelungsstufen verbindenden Relationen der Geeignetheit und Erforderlichkeit eine Fassung zu geben, die vor der Orientierung am Gesetzgeber geschützt und Eigenständigkeit der verfassungsgerichtlichen Kontrolle gewährleistet hätte 4 4 .

42 Bei den Entscheidungen, die das B V e r f G i m Anschluß an die zitierte Bestimmung von Geeignetheit u n d Erforderlichkeit u n d als deren Beleg anführt, handelt es sich m i t B V e r f G E 19, 330 u n d BVerfGE 25, 1 auch genau u m solche, i n denen — siehe oben S. 68 u n d S. 66 — die Orientierung am Gesetzgeber sehr deutlich sichtbar ist. 43 BVerfGE 30, 292 (316/317). I n diesem Z i t a t ist ausdrücklich n u r von Beeinträchtigung der Berufsausübungsfreiheit die Rede. A b e r die E n t scheidungen, die das B V e r f G i m Anschluß an das Z i t a t u n d zum Beleg des Gebots der Abwägung i m K o n t i n u u m anführt, haben sowohl Eingriffe i n die Berufswahlfreiheit (BVerfGE 13, 97; 25, 1) als auch i n die Berufsausübungsfreiheit (BVerfGE 23, 50; 25, 1) als auch eine einer Beschränkung der Berufswahl nahekommende Regelung der Berufsausübung (BVerfGE 11, 30) zum Gegenstand. 44 Z w a r ist zu beobachten, daß das B V e r f G den A b b a u der Stufenlehre vornehmlich i n Entscheidungen betrieben hat, i n denen es u m wirtschaftspolitische Themen u n d gesetzgeberische Wirtschaftsstrukturmaßnahmen und -experimente ging. I n diesem Bereich dem Gesetzgeber eine besondere Handlungsfreiheit zu wahren, dafür lassen sich gute Gründe finden. Eben das aber hat das B V e r f G nicht getan. A u f eine Herausarbeitung der Besonderheit des Sachbereichs Wirtschaftspolitik u n d der Besonderheit von Abwägung beim gesetzgeberischen Experiment u n d bei der gesetzgeberischen Strukturmaßnahme hat es verzichtet. Daher mußte die Einräumung speziell wirtschaftspolitischer gesetzgeberischer Handlungs- u n d Entscheidungsfreiheit allgemein auf die Stufenlehre durchschlagen.

2.6 Zuordnung von Eingriffsintensität u n d Prüfungssorgfalt

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2.6 Abwägung in der Zuordnung von Eingriffsintensität und Prüfungssorgfalt Aus der Rechtsprechung zu Artikel 2 GG Den einleuchtenden Gedanken, intensivere Eingriffe nur unter engeren Voraussetzungen zuzulassen, kann die Konstruktion der Stufenlehre nicht verwirklichen. Einen anderen Weg, ihn zu verwirklichen, sucht die Rechtsprechung zu Abwägung und Verhältnismäßigkeit bei A r t . 2. A u f der einen Seite eröffnet A r t . 2 seit dem Elfes-Urteil 4 5 die Möglichkeit, formelle Verfassungswidrigkeit m i t der Verfassungsbeschwerde geltend zu machen. A u f der anderen Seite w i r d über Art. 2 materielle Verfassungswidrigkeit erfaßt. Eingriffe i n das allgemeine, i n anderen Grundrechten nicht besonders geschützte Freiheitsrecht werden an A r t . 2 überprüft. Die Überprüfung des BVerfG enthält hier dieselben Elemente wie bei A r t . 12, sie mißt einen Freiheitseingriff an seiner Erforderlichkeit und Geeignetheit für den Eingriffszweck, fragt nach dessen verfassungsrechtlicher Zulässigkeit und wägt den Eingriff gegen den Eingriffszweck, gegen das durch den Eingriff zu schützende Gemeinschaftsgut ab. Gelegentlich allerdings scheint das BVerfG m i t der i m ApothekenU r t e i l getroffenen Unterscheidung zwischen gestuften Freiheitsrechten, bei denen Geeignetheit und Erforderlichkeit eines Eingriffs zu überprüfen seien, und nicht gestuften Freiheitsrechten, bei denen der Gesetzgeber zwischen mehreren gleichgeeigneten Eingriffen wählen könne, ernst zu machen und A r t . 2 den letzteren zuzuschlagen. Die Verkürzung der Ladenöffnungszeiten durch das Ladenschlußgesetz w i r d vom BVerfG 4 6 als Eingriff i n die Freiheit der Verbraucher gewertet, auf die Verfassungsbeschwerde von Verbrauchern hin aber nur darauf überprüft, ob sich für sie ein sachlicher Grund finden lasse — Geeignetheit — und ob durch sie die Freiheit der Verbraucher i n unzumutbarer oder übermäßig belastender Weise beschränkt werde. Die Möglichkeit, daß der Gesetzgeber auch ohne die Verkürzung sein Ziel hätte erreichen können — Notwendigkeit —, läßt das BVerfG ausdrücklich dahinstehen. Ein Abwägungsproblem sieht das BVerfG hier nicht. Wo das BVerfG auf Geeignetheit und Erforderlichkeit überprüft und damit entweder die Unterscheidung zwischen gestuften und nicht gestuften Freiheitsrechten aufgibt oder A r t . 2 zu den ersteren zählt, spricht es auch wieder von Abwägung. Aber das Gebot der Abwägung hat hier bei Art. 2 eine neue Pointe. Bei Art. 121 bedeutete es: Je 45 BVerfGE 6, 32. 4β B V e r f G E 13, 230.

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2 A b w . unter dem Gebot der Verhältnismäßigkeit — Hspr. zu A r t . 12

empfindlicher i n die Berufsfreiheit eingegriffen wird, desto gewichtiger müssen die Gemeinschaftsgüter sein, denen der Eingriff dienen soll. Ob auf den Stufen der Stufenlehre oder nach deren Versagen i m Kontinuum, jedenfalls mußte der stärkeren Intensität eines Eingriffs das größere Gewicht eines Gemeinschaftsguts entsprechen. Bei A r t . 2 heißt es anders: „Je mehr . . . der gesetzliche Eingriff elementare Äußerungsformen der menschlichen Handlungsfreiheit berührt, u m so sorgfältiger müssen die zu seiner Rechtfertigung vorgebrachten Gründe gegen den grundsätzlichen Freiheitsanspruch des Bürgers abgewogen werden 4 7 ." Damit w i r d ein Verfahrensaspekt i n den Vordergrund gerückt. Das Ergebnis von Abwägung erscheint nicht mehr als vorgegeben und an der Intensität des Eingriffs und dem Gewicht des Gemeinschaftsguts bloß abzulesen und zu verrechnen. Die neue Abwägungsformel drückt aus, daß Abwägung ein Verfahren der Uberprüfung und Argumentation ist, das mehr oder weniger sorgfältig durchgeführt werden kann. Stärkerer Eingriffsintensität muß nicht ein gewichtigeres Gemeinschafts gut, sondern größere Verfahrenssorgfalt entsprechen, d. h. nicht mehr Substanz, sondern mehr Prozeß. Der Gesichtspunkt der Abwägungssorgfalt begegnete schon bei der ablehnenden Auffassung des Spiegel-Urteils. Inzwischen läßt sich ansatzweise präzisieren, was geringere und größere Sorgfalt jedenfalls der Abwägung heißen kann, die m i t einer Prüfung der Geeignetheit und Erforderlichkeit konvergiert. Auf einer unteren Sorgfaltsstufe ist die Überprüfung der gesetzgeberischen Argumentation auf lediglich ihre Konsistenz anzusetzen. Die Uberprüfung der Geeignetheits- und Notwendigkeitsaussage des Gesetzgebers durch eigene Tatsachenfeststellung und Hypothesenbildung gehört dagegen einer höheren Sorgfaltsstufe an. Es zeichnen sich weitere Unterscheidungen ab, indem dem Gesetzgeber eine allgemeinere oder bestimmtere Angabe des Eingriffszwecks abverlangt und indem seinen Einschätzungen der Lage und Entwicklung eine mehr oder weniger starke Vermutung der Richtigkeit zugebilligt werden kann. Ein entsprechendes Netz von Kriterien der Abwägungssorgfalt kann aber noch feiner geknüpft werden. Denn die Sorgfalt kann ebenso zugunsten wie zu Lasten der Freiheit des Bürgers angespannt werden. Andersherum: Ein Mehr an Sorgfalt kann zu Lasten oder zugunsten des die Berechtigung seines Eingriffs argumentierenden Gesetzgebers gehen. Gelingt dem Gesetzgeber die konsistente und plausible Argumentation der Geeignetheit und Notwendigkeit seines Eingriffs, dann kann zugunsten der Freiheit des Bürgers weitergefragt werden, ob denn der Eingriff i n einer die Argumente des Gesetzgebers i n Frage stellenden Uberprüfung als w i r k l i c h geeignet und notwendig zu er47 BVerfGE 17, 306 (314).

2.6 Zuordnung von Eingriffsintensität u n d Prüfungssorgfalt

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weisen ist. Gelingt die konsistente und plausible Argumentation dem Gesetzgeber nicht, dann läßt sich zu Lasten der Freiheit des Bürgers fragen, ob der Eingriff nicht vielleicht dennoch, i n einer anderen als der vom Gesetzgeber gemeinten Weise oder für einen anderen Zweck, geeignet und notwendig ist. Wie schon i n zwei weiter oben erwähnten Entscheidungen 48 läßt das BVerfG auch i n dem Beschluß, dem das Zitat zur Abwägungssorgfalt entnommen ist 4 9 , nicht ein Mehr an Sorgfalt zu Lasten des Bürgers gehen. Es springt dem Gesetzgeber, der eine wie ein Verbot wirkende Beschränkung des über sog. Mitfahrerzentralen vermittelten Mitfahrens nicht konsistent und plausibel rechtfertigen kann, nicht m i t eigenen Rechtfertigungen bei. Es zeigt auf, daß die Beschränkung für den geltend gemachten Zweck der Sicherheit des Straßenverkehrs und der Mitfahrer offensichtlich untauglich ist. Für den Schutz der Deutschen Bundesbahn könne es vielleicht tauglich sein. Darüber sei jedoch nicht zu entscheiden. Sollte sich hierauf die wahre Absicht des Gesetzgebers gerichtet haben, dann verstoße eine diese Absicht gerade verschleiernde Gesetzesgestaltung gegen das Rechtsstaatsprinzip. I n diesen drei Entscheidungen, i n denen das BVerfG nach Verneinung von Konsistenz und Plausibilität nicht zu Lasten des Bürgers weiterfragt, lagen nach seiner Auffassung jeweils Eingriffe von einiger Intensität vor. Denkbar ist es bei weniger intensiven Eingriffen nicht nur, die Abwägungssorgfalt zu vermindern, sondern auch, ein Mehr an Sorgfalt zu Lasten des Bürgers gehen zu lassen. Einen besonderen Beitrag zum Problem der Abwägungssorgfalt leistet schließlich noch das Urteil zum Sammlungsgesetz 50 . I m Sammlungsgesetz-Urteil läuft die Zuordnung von Abwägungssorgfalt zu Eingriffsintensität darauf hinaus, daß das Ermessen der Behörden bei der Ordnung des Sammlungswesens beschränkt werden muß. Zu sorgfältiger Abwägung ist, so läßt sich dies interpretieren, die Verwaltung jedenfalls dann nicht i n der Lage, wenn es um intensive Eingriffe i n die Freiheit des Bürgers geht. Hier muß der Gesetzgeber abwägen und das Verwaltungshandeln entsprechend programmieren.

K a n n die noch so sorgfältige Prüfung von Geeignetheit und Notwendigkeit die eigentliche Abwägung zwischen dem Wert des m i t einem Eingriff zu schützenden Gemeinschaftsguts und dem Wert der vom Eingriff betroffenen Freiheit erübrigen? Daß i n der Rechtsprechung zu A r t . 121 diese Abwägung nicht stattfand, besagt hierüber noch 48 B V e r f G E 19, 330; 25, 236. Siehe dazu oben S. 68. 49 B V e r f G E 17, 306. so BVerfGE 20, 150.

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nichts Abschließendes. War ein Eingriff nicht geeignet und notwendig, da mußte sie nicht stattfinden. War aber ein Eingriff geeignet und notwendig und nach Ansicht des BVerfG auch berechtigt, da war, so kann argumentiert werden, der überwiegende Wert des Gemeinschaftsguts eben offensichtlich und darum die Abwägung überflüssig. Zwei Thesen lassen sich gegeneinander stellen: Die eine begegnet den methodischen Schwierigkeiten der Gewichtung und Abwägung von Gemeinschaftsgut und Freiheit dadurch, daß sie auf diese Gewichtung und Abwägung überhaupt verzichtet. Eine Freiheitsbeschränkung ist also nur darauf zu untersuchen, ob der m i t ihr verfolgte Zweck überhaupt zulässig und ob zu seiner Erreichung die Freiheitsbeschränkung tatsächlich geeignet und notwendig ist. Stärkerer Eingriffsintensität ist durch größere Sorgfalt der Untersuchung Rechnung zu tragen. Die andere These sieht die methodischen Schwierigkeiten von Gewichtung und Abwägung nicht oder hält sie doch nicht für unüberwindlich. Sie fordert bei jeder Freiheitsbeschränkung die Frage nicht nur nach der Eignung und Notwendigkeit für einen zulässigen Zweck, sondern auch dessen Vorrang vor der beschränkten Freiheit. Zur Stützung der zweiten These liegt auch eine moralische Argumentation nahe: W i l l nicht die erste These den Zweck die M i t t e l heiligen lassen? Systematisch werden das methodische und das moralische Problem — beide Probleme gehören zusammen — später behandelt werden. Hier gilt die Aufmerksamkeit der Rechtsprechung des BVerfG und der Suche nach Entscheidungen, i n denen Gewichtung und Abwägung von Freiheit und Gemeinschaftsgut stattfinden. Die Durchsicht der Rechtsprechung zu A r t . 12 I blieb erfolglos; überzeugend scheint aber die i n der Rechtsprechung zu A r t . 2 behandelte Problematik der A n ordnung einer Pneumoenzephalographie nach § 81 a StPO die Notwendigkeit der Abwägung zu belegen 51 . Jemand ist einer Bagatellstraftat verdächtig und soll überführt werden, die Schuldfrage kann aber nur durch den empfindlichen Eingriff i n die körperliche Unversehrtheit, den die Entnahme von Gehirn- und Rückenmarkflüssigkeit darstellt, geklärt werden. Hier hat es den Anschein, als könne nur i n einer Abwägung des geringen öffentlichen Interesses an der Aufklärung gegen das erhebliche Interesse des Tatverdächtigen, vor dem empfindlichen Eingriff bewahrt zu bleiben, die Anordnung der Pneumoenzephalographie als unberechtigt erwiesen werden 5 2 . Das BVerfG hinterfragt zunächst die Geeignetheits- und Notwendigkeitsaussagen der die Pneumoenzephalographie anordnenden Instanz51 BVerfGE 16, 194; 17, 108. 52 Vgl. die BVerfGE 17, 108 (113) angeführten Äußerungen des 4. u n d des 5. Strafsenats des BGH.

2.6 Zuordnung von Eingriffsintensität u n d Prüfungssorgfalt

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gerichte. Es zeigt von diesen vernachlässigte Gesichtspunkte auf, unter deren Berücksichtigung Geeignetheit und Notwendigkeit problematisch werden. Abschließend fordert das BVerfG, „daß der beabsichtigte Eingriff i n angemessenem Verhältnis zu der Schwere der Tat steht, damit nicht die m i t der Aufklärung der Tat verbundenen Folgen den Täter stärker belasten als die zu erwartende Strafe" 5 3 . Dies mag zwar für die Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der A u f klärung und dem Interesse des Tatverdächtigen genommen werden. Aber dabei darf nicht übersehen werden, daß i n der Forderung des BVerfG die ganz verschiedenen Größen des öffentlichen Interesses und des Interesses des Tatverdächtigen doch wieder über einen Zweckgesichtspunkt einander zugeordnet und vergleichbar gemacht werden. Wenn die Geeignetheit und Notwendigkeit der Pneumoenzephalographie für die Klärung der Schuldfrage feststehen, dann scheint es nur so, als könne, da der Staat m i t der Klärung der Schuldfrage einen zulässigen Zweck verfolgt, allenfalls eine Gewichtung und Abwägung der hier hineinspielenden öffentlichen und privaten Interessen die Anordnung ausschließen. Das BVerfG zerstört diesen Schein, indem es m i t dem Hinweis auf die zu erwartende Strafe sich auf den Zweck bezieht, der hinter der Klärung der Schuldfrage steht. Das Strafverfahren zielt darauf, den Täter zu überführen, u m ihn i n schuldangemessener und den zu verfolgenden Straf zwecken dienlicher Weise zu bestrafen. Das Maß der i n der Strafe liegenden Übelszufügung ist durch das Maß der Tatschuld zu begrenzen und durch die Eigenschaft der Übelszufügung als eines Mittels für die Verfolgung der Strafzwecke weiter zu bestimmen. Übersteigt das schon bei der Klärung der Schuldfrage zuzufügende Übel dieses Maß auf jeden Fall, ist es also zur Verfolgung der Straf- und Strafverfahrenszwecke ungeeignet und unnötig, dann kann es i n den Straf- und Strafverfahrenszwecken keine Rechtfertigung finden. Dieser Umstand und nicht eine Gewichtung und Abwägung verlangen, daß bei Bagatellstraftaten von der Anordnung der Pneumoenzephalographie abgesehen w i r d 5 4 . Dies zeigt, daß die Geeignetheits- und Erforderlichkeitsprüfung u. U. weiter getrieben werden muß, als es zunächst den Anschein haben mag. Sie ist noch nicht damit zu Ende, daß sich für ein M i t t e l ein zulässiger Zweck findet, zu dessen Erreichung das M i t t e l geeignet und notwendig ist. Sie muß, wenn das M i t t e l problematisch ist, auch den 53 BVerfGE 16, 194 (202). 54 Das B V e r f G b r i n g t also i n seiner Rechtsprechung zur Anordnung der Pneumoenzephalographie denselben Grundsatz zur Geltung, den es seiner Rechtsprechung zur Fortdauer einer Untersuchungshaft zu Grunde legt. Auch diese Rechtsprechung leitet der Gedanke, daß die Übelszufügung, die schon die Untersuchungshaft bedeutet, nicht das Maß der m i t der Strafe zu erwartenden Übelszufügung übersteigen darf. Vgl. BVerfGE 19, 342 (347 ff.); 20, 45 (49); 20, 144 (1471).

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Zweck problematisieren, hinter i h n weiterfragen und weitere einschlägige Zwecke i n die Prüfung einbeziehen. Ein Zweck kann dabei als M i t t e l für die Verfolgung hinter i h m stehender Zwecke erkannt werden, wodurch die Geeignetheits- und Erforderlichkeitsprüfung i n neue Fragestellungen geführt wird. Diese Überlegungen reichen nicht aus, die erste der beiden oben angeführten Thesen gegen die zweite durchzusetzen. Sie drängen zwar Gewichtungs- und Abwägungsargumente zurück und zeigen, daß diese da noch nicht Gehör beanspruchen können, wo die Problematisierung der Zwecke noch nicht stattgefunden hat. Sie erlauben auch die Vermutung, daß der Einwand, der Zweck könne und dürfe doch die M i t t e l nicht heiligen, oft i n einer Problematisierung des geltend gemachten Zwecks erübrigt werden kann. Dies alles schließt es jedoch nicht aus, daß noch ein Problemrest bleibt, der nur i n Gewichtung und Abwägung zu lösen ist. 2.7 Problemrest der Geeignetheits- und Notwendigkeitsprüfung: Schutz der Mindestposition Ein i n der Geeignetheits- und Erforderlichkeitsprüfung nicht bewältigter Problemrest ist i n der Rechtsprechung des BVerfG zu A r t . 121 beim Problem der Überleitungsregelung insbesondere i n der Entscheidung zum Steuerberatungsgesetz 55 aufzuweisen. Das die Berufe des Steuerberaters und des Steuerbevollmächtigten neu ordnende Steuerberatungsgesetz von 1961 traf m i t seiner Inkompatibilitätsregelung auch diejenigen Angehörigen steuerberatender Berufe, die neben ihrer steuerberatenden Tätigkeit einen der inkompatibel gestellten Berufe schon seit langem ausgeübt und die sich auf diese Berufskombination i n ihrer Lebensplanung eingestellt hatten. Ein Steuerbevollmächtigter, der daneben als Gewerbetreibender tätig war, hätte nach der Inkompatibilitätsregelung des Steuerberatungsgesetzes seine gewerbliche Tätigkeit aufgeben müssen und wandte sich hiergegen m i t der Verfassungsbeschwerde. Das BVerfG untersucht zunächst allgemein die Geeignetheit und Notwendigkeit der Inkompatibilitätsregelung. Es sieht als Folge der Kombination von gewerblicher und steuerberatender Tätigkeit die Gefahr von Beeinträchtigungen der gebotenen Unparteilichkeit sowie des Vertrauens i m Verhältnis zwischen dem Steuerbevollmächtigten und seinen Klienten. Zur Vermeidung dieser Beeinträchtigungen, zur Verwirklichung eines befriedigenden Berufsbildes des Steuerbevollmächtigten hält es die Inkompatibilitätsregelung für geeignet und erforderlich. Anschließend bedenkt das BVerfG, daß die Inkompatibilitätsbestimmung auch die bereits i m 5 BVerfGE

1,

1 .

2.7 Problemrest: Schutz der Mindestposition

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Beruf stehenden Steuerbevollmächtigten und diese u. U. ungleich härter t r i f f t als die den Beruf neu aufnehmenden Steuerbevollmächtigten, die bei ihrer Berufswahl die Inkompatibilität kennen und berücksichtigen können. Ein besonders wichtiges Gemeinschaftsinteresse, das diese Härte erfordere, sei nicht ersichtlich, zu ihrer Vermeidung müsse der Gesetzgeber eine Ubergangsregelung treffen. Deren Gestaltung i m einzelnen überläßt das BVerfG der Entscheidung des Gesetzgebers. Es nennt nur Gesichtspunkte, die es bei einer Ubergangsregelung beachtet sehen w i l l , w e i l sich an ihnen die Inkompatibilitätsregelung für bestimmte bereits i m Beruf stehende Steuerbevollmächtigte als unzumutbare Härte erweise. Das BVerfG rügt das Fehlen eines gerade diese Härte erfordernden Gemeinschaftsinteresses, und dies liest sich, als gehe es u m eine Erforderlichkeitsprüfung. Diese Lesart ist insofern richtig, als sich die allgemeine Untersuchung der Geeignetheit und Erforderlichkeit durch das BVerfG von dem her problematisieren läßt, was das BVerfG hier zur Ubergangsregelung ausführt. Wenn „der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit . . . dazu nötigen kann, eine angemessene Ubergangsregelung für diejenigen zu erlassen, die eine künftig unzulässige Tätigkeit i n der Vergangenheit bereits i n zulässiger Weise ausgeübt hatten" 5 6 , dann w i r d problematisch, ob die Beurteilung der Tätigkeit als künftig unzulässig tatsächlich geboten und berechtigt ist. Wenn sie i n der Vergangenheit i n zulässiger Weise ausgeübt werden konnte — w a r u m soll sie dann i n Zukunft nicht ebenso ausgeübt werden können? Wenn es nur an der Person des Berufsausübenden liegt, ob Unzulässigkeiten auftreten — warum kann dann nicht durch individuelle Maßnahmen die zuverlässige Berufsausübung gewährleistet werden? Die Härte, die eine Berufsbildverwirklichung für die i n dem Beruf bereits Tätigen bedeutet, stellt keine neue Erforderlichkeitsfrage, sondern nur nochmal die Frage nach der Erforderlichkeit der Berufsbildverwirklichung überhaupt. Bleibt es bei der ursprünglichen A n t wort, ist die Berufsbildverwirklichung tatsächlich erforderlich, dann ist sie es auch i n ihrer Er Streckung auf diejenigen, die bereits i m Beruf tätig sind und sich auf den alten Rechtszustand eingerichtet haben. Wenn das BVerfG dennoch eine Ubergangsregelung verlangt, dann bringt es nicht den Gesichtspunkt der Erforderlichkeit zur Geltung. Unter dem Stichwort der Unzumutbarkeit schützt es hier eine Position nicht wegen der mangelnden Erforderlichkeit des Eingriffs i n sie, sondern u m ihrer selbst willen. Der Beschwerdeführer stand i n vorgerücktem Alter, übte den Doppelberuf als Steuerbevollmächtigter 56 So resümiert das B V e r f G i n BVerfGE 32, 1 (22) seine Rechtsprechung zum Gebotensein von Übergangsregelungen.

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2 A b w . unter dem Gebot der Verhältnismäßigkeit — Rspr. zu A r t . 12

und Gewerbetreibender seit Jahrzehnten aus und sicherte seine Existenz durch beide Berufe i n etwa gleichem Maße. Ubergangsregelung und Vermeidung von Unzumutbarkeit bedeuten daher Schutz eines Besitzstandes, an dem die persönliche, berufliche und wirtschaftliche Existenz hängt, Schutz gewissermaßen einer Mindestposition, die trotz Erforderlichkeit des Eingriffs zu wahren ist. Die Vorstellung einer Mindestposition stellt sich auch dort ein, wo eine Erforderlichkeitsprüfung gar nicht erst ansetzen kann. Eine Steuer, die gerade an die Erlangung der Erlaubnis zur Ausübung eines bestimmten Berufs als steuerbegründenden Tatbestand anknüpft und darum an A r t . 12 I wegen Rückwirkungen auf die Freiheit der Berufsw a h l zu messen ist, läßt sich nicht einer Erforderlichkeitsprüfung unterwerfen. Denn eine bestimmte Steuer kann nie erforderlich sein, kann als M i t t e l der Geldbeschaffung stets durch eine andere Steuer ersetzt werden. Das BVerfG sieht i n einer Steuer ein verfassungsrechtlich beachtliches Problem der Berufswahlfreiheit erst dann, wenn ihretwegen der gewählte Beruf nicht mehr zur Grundlage der Lebensführung gemacht werden kann. Eine Schankerlaubnissteuer befragt es darauf, ob sie die Erzielung eines angemessenen, den Lebensunterhalt deckenden Einkommens, ob sie die auskömmliche Existenz beim Betrieb einer Gast- oder Schankwirtschaft unmöglich macht 5 7 . M i t diesen Fragen soll und kann keine Erforderlichkeitsprüfung eröffnet werden. Sie zielen wiederum auf den Schutz der Mindestposition. Wenn das BVerfG den Problemrest, den Geeignetheits- und Erforderlichkeitsprüfung lassen, unter den Stichworten von Zumutbarkeit und Unzumutbarkeit m i t der Vorstellung einer Mindestposition angeht, dann betreibt es damit allerdings noch immer nicht Abwägung i. S. eines vergleichenden Gewichtens von Freiheit und Gemeinschaftsgut. Die Begriffe des Gewichtens und Abwägens lassen Flexibilität assoziieren, die Vorstellung einer jedenfalls zu wahrenden Mindestposition dagegen w i r k t starr. Abwägung verlangt die Frage nach dem Vorrang eines Gemeinschaftsguts vor der Freiheit, i n die u m seinetwillen eingegriffen werden soll; eine jedenfalls zu wahrende Mindestposition ist davon unabhängig, eben auf jeden Fall vor Eingriffen zu schützen. 2.8 Zusammenfassung I n der Rechtsprechung des BVerfG zu A r t . 121, i m Apotheken-Urteil als Abwägungsrechtsprechung eröffnet, hat die Geeignetheits- und Notwendigkeitsprüfung die Abwägung i n die Zumutbarkeitsfrage und an den Schluß der verfassungsrechtlichen Uberprüfung verdrängt. 57 BVerfGE 13, 181 (vgl. insbesondere 188/189).

2.8 Zusammenfassung

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Auch hier bleibt ihr aber kein rechter Platz. Die Zumutbarkeitsfrage ist i. S. einer Frage nach Wahrung der Mindestposition wiederum von anderer Argumentationsstruktur als die Abwägung i. S. einer Frage nach Gewicht und Vorrang. Dies zeigt der Uberblick über die Rechtsprechung zu A r t . 12. I n i h m entsteht das B i l d nicht einer zufälligen Rechtsprechungsentwicklung. Nicht irgendein Zufall, sondern das methodische Versagen und die praktische Entbehrlichkeit des Gewichtens, Ordnens und Vergleichens von Gemeinschafts- und Individualgütern bestimmen die Entwicklung, an deren Ende die Geeignetheits- und Notwendigkeitsprüfung sowie die Mindestpositionsfrage das Prüfungsprogramm des BVerfG steuern. Das Versagen und zugleich die Entbehrlichkeit der Abwägung i m engen Sinn sind ein Ertrag dieses Abschnitts. Daß i n keiner der durchgesehenen Entscheidungen die Problemlage das Gewichten, Ordnen und Vergleichen von Gütern verlangt, macht den Weg zu einem Abwägungsmodell frei, i n dem von Abwägung nur noch i m weiten Sinn als von einem Sammelbegriff die Rede sein kann, der die verschiedenen verfassungsrechtlichen Prüfungsmomente der Zweckanalyse, der mehr oder weniger sorgfältigen Geeignetheits- und Notwendigkeitsprüfung sowie der Mindestpositionsbeachtung zusammenfaßt, der aber einem Gewichten und Vergleichen von Gemeinschafts- und Individualgütern keinen Raum mehr läßt. Der einleuchtende Gedanke, intensivere Eingriffe dürften nur unter engeren Voraussetzungen stattfinden, drohte dabei zunächst verlorenzugehen. Denn das BVerfG suchte i h n i n seiner Rechtsprechung zu A r t . 12 m i t der Zuordnung von Eingriffsintensität zu Gemeinschaftsgüterrang zu verwirklichen. I n der Rechtsprechung zu Art. 2 wählte das BVerfG zu seiner Verwirklichung jedoch mit der Zuordnung von Eingriffsintensität zu Prüfungssorgfalt einen anderen und aussichtsreicheren Weg. Ob und wie sich allerdings Unterschiede der Abwägungssorgfalt präzisieren lassen, das deutet sich i n der Rechtsprechungsdurchsicht nur i n Umrissen an und ist als Problem für die methodischen und verfassungsrechtsdogmatischen Überlegungen des zweiten Teils der Arbeit vorzumerken. Der Vorstellung einer Mindestposition w i r d die Durchsicht der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung i m nächsten Abschnitt bei A r t . 14 weiter nachgehen. Wie spielen die Geeignetheits- und Notwendigkeitsprüfung und die Mindestpositionsfrage ineinander? Kann die Mindestpositionsfrage an die Geeignetheits- und Notwendigkeitsfrage tatsächlich so anschließen, daß die Probleme des Falls befriedigend erfaßt werden?

3 A b w ä g u n g v o r der Grenze des g r u n d r e c h t l i c h e n Wesensgehalts — D i e Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts z u A r t i k e l 14 G G 3.0 Vorbemerkung A m grundrechtlichen Wesensgehalt, der i n keinem F a l l angetastet werden darf, muß eine Grundrechtseinschränkung auch dann ihre Grenze finden, wenn sie das Resultat einer Interessen-, Güter- oder Werteabwägung ist. Was für die Einschränkung selbst gilt, gilt auch für ihre verfassungsgerichtliche Uberprüfung. Ebenso wie der Gesetzgeber, die Verwaltung und der Richter bei grundrechtseinschränkenden Entscheidungen i n ihrer Abwägung darauf Bedacht zu nehmen haben, daß nicht der Wesensgehalt eines Grundrechts angetastet wird, hat das BVerfG, wenn es die Grundrechtseinschränkungen i n eigener A b wägung verfassungsgerichtlich überprüft, die Grenze grundrechtlichen Wesensgehalts zu wahren. Die Wesensgehaltsgarantie des A r t . 19 I I w i r d allerdings vom BVerfG nur selten erwähnt 1 . Z u m Thema der Abwägung vor der Grenze des grundrechtlichen Wesensgehalts scheint daher das bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechungsmaterial wenig herzugeben. Tatsächlich w i r d das Material erst durch einen an es herangetragenen Gesichtspunkt zum Thema aussagekräftig. Die Diskussion der bundesverfassungsgerichtlichen Abwägung unter dem Gebot der Verhältnismäßigkeit ergab, daß dort, wo die Geeignetheits- und Erforderlichkeitsprüfung einen Problemrest läßt oder wo sie gar nicht ansetzen kann, nicht Gewichtung und abwägender Vergleich von Gemeinschaftsgut und Freiheitsrecht die bundesverfassungsgerichtliche Überprüfung bestimmen, sondern die Vorstellung einer jedenfalls zu wahrenden Mindestposition. Wenn aber beim Versagen der Kriterien von Geeignetheit und Erforderlichkeit und beim Ausbleiben eines gewichtenden Abwägens zwischen Gemeinschaftsgütern und Freiheitsrechten Grundrechtseinschränkungen, die durch oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, m i t der Vorstellung einer jedenfalls zu wahrenden Mindestposition eine Grenze gesetzt wird, dann muß sich diese Vorstellung der Verfassungsbestimmung über die Unantastbarkeit des grundrechtlichen Wesensgehalts zuordnen lassen. Dementsprechend w i r d hier als 1 BVerfGE 2, 266 (284 f.); 7, 377 (411); 13, 97 (122); 21, 92 (93); 22, 180 (219 f.).

3.1 U r t e i l zum hamburgischen Deichordnungsgesetz

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Abwägung vor der Grenze des grundrechtlichen Wesensgehalts diejenige Rechtsprechung des BVerfG gekennzeichnet und exemplarisch bei A r t . 14 untersucht, die unter dem Programm einer Abwägung die Vorstellung einer jedenfalls zu wahrenden Mindestposition zur Geltung bringt. Die Untersuchung dieser Rechtsprechung geschieht hier zur Klärung von Begriff und Strategie bundesverfassungsgerichtlicher Abwägung. Sie verspricht aber noch einen Nebenertrag: Wie sich aus dem Begriff des Wesensgehalts und den spärlichen Äußerungen des BVerfG zu A r t . 19 I I der rechtliche Gehalt dieser Verfassungsbestimmung entwickeln lassen soll, ist nicht ersichtlich. Wenn dagegen hier untersucht wird, was dem BVerfG i n Abwägung als M i n i m u m einer grundrechtlichen Position wichtig und unantastbar ist, dann kann dies ein Weg zu konkreter Bestimmung des Gehalts von A r t . 19 I I sein. 3.1 Das Urteil zum hamburgischen Deichordnungsgesetz Abwägung zum Schutz der Mindestposition in der Dogmatik des Artikel 14 GG Das BVerfG hat sich zu A r t . 14 selten und erst i n einer späten Entscheidung grundsätzlich geäußert. Z u einer Rechtsprechungsentwicklung, wie sie zu A r t . 12 aufzuzeigen war, ist es bei A r t . 14 nicht gekommen. Hier muß daher die Durchsicht der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung nicht vorne beginnen, sie kann bei den grundsätzlichen Äußerungen des späten Urteils zum hamburgischen Deichordnungsgesetz 2 anfangen und von ihnen her die Probleme des Art. 14 und die übrigen einschlägigen Entscheidungen erschließen. Durch ein Deichordnungsgesetz wurde i n Hamburg für Hochwasserschutzanlagen ein öffentliches Eigentum eingeführt, wurden dementsprechend die Rechtsverhältnisse von Deichgrundstücken neu geregelt und bestimmte Deichgrundstücke aus privatem bürgerlich-rechtlichen Eigentum i n öffentliches Eigentum überführt. Vor dem BVerfG rügten Verfassungsbeschwerdeführer die Umwandlung ihrer Grundstücke i n öffentliches Eigentum als den Erfordernissen des A r t . 14 I I I widersprechende Enteignung und machten weiter geltend, die Institutsgarantie des A r t . 14 11 verbiete überhaupt die Einführung des öffentlichen Eigentums.

Das BVerfG nimmt zur Institutsgarantie des Art. 1411, zu den Voraussetzungen einer Enteignung, zur Verfassungsmäßigkeit von Legal- und Administrativenteignungen und erst zuletzt zur Bemessung der Enteignungsentschädigung Stellung. Für die Abwägung bei der 2 B V e r f G E 24, 367. 6 Schlink

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3 A b w . vor der Grenze des Wesensgehalts — Rspr. zu A r t . 14

Enteignungsentschädigung wichtige Äußerungen zur Bedeutung und zur Funktion des grundrechtlichen Eigentumsschutzes fallen aber schon i n den der Institutsgarantie gewidmeten Ausführungen des BVerfG: „Das Eigentum ist ein elementares Grundrecht, das i n einem inneren Zusammenhang mit der Garantie der persönlichen Freiheit steht. I h m kommt i m Gesamtgefüge der Grundrechte die Aufgabe zu, dem Träger des Grundrechts einen Freiheitsraum i m vermögensrechtlichen Bereich sicherzustellen und i h m damit eine eigenverantwortliche Gestaltung des Lebens zu ermöglichen. . . . Die Institutsgarantie verbietet . . . , daß solche Sachbereiche der Privatrechtsordnung entzogen werden, die zum elementaren Bestand grundrechtlich geschützter Betätigung i m vermögensrechtlichen Bereich gehören, und damit der durch das Grundrecht geschützte Freiheitsbereich aufgehoben oder wesentlich geschmälert w i r d 3 . " Das BVerfG sieht, wie es an späterer Stelle resümiert, gewährleistet das „Eigentum i n seiner personenhaften Bezogenheit . . . — als einen Freiheitsraum für eigenverantwortliche Betätigung. Die Eigentumsgarantie ist nicht zunächst Sach-, sondern Rechtsträgergarantie 4 ." Der grundrechtliche Eigentumsschutz ist bei A r t . 1411 Institutsgarantie, bei Art. 14 I I I Bestands- und Eigentumswertgarantie. Bestandsgarantie heißt, daß ein konkreter Eigentumsgegenstand nur dann entzogen werden darf, wenn das Wohl der Allgemeinheit dies erfordert (Art. 14 I I I 1), Eigentumswertgarantie heißt, daß dabei an die Stelle des entzogenen Gegenstandes eine Entschädigung t r i t t (Art. 14 I I I 2). Dies ausführend setzt sich das BVerfG nachdrücklich von der zur WRV vertretenen Auffassung ab, die Eigentumsgarantie sei bloße Eigentumsiuertgarantie und der Zugriff auf den Eigentumsgegenstand sei hinzunehmen, wenn nur der Betroffene ausreichend entschädigt werde. Als erste Frage fordert das BVerG die Frage nach der Zulässigkeit der Enteignung i. S. der Bestandsgarantie und betont, daß eine Enteignung schon an dieser Frage scheitern kann und daß die Eigentumswertgarantie nur dann i n den Blick kommt, wenn die Frage nach der Zulässigkeit i. S. der Bestandsgarantie zu bejahen ist. Die Bestandsgarantie gebietet nach den Ausführungen des BVerfG nicht mehr und nicht weniger als die Geeignetheit und Erforderlichkeit der Enteignung als eines Mittels für ein zulässiges Vorhaben des Gesetzgebers. Ein Vorhaben soll dann zulässig sein, wenn es dem Wohl der Allgemeinheit dient. Was aber ist das Gemeinwohl, was dient i h m oder was fordert es? Das BVerfG sieht den Begriff des Gemeinwohls als einen abstrakten Rechtsbegriff, der eine Vielfalt von Vorhaben oder Zwecken decke und noch der Konkretisierung 3 BVerfGE 24, 367 (389). 4 BVerfGE 24, 367 (400).

3.1 U r t e i l zum hamburgischen Deichordnungsgesetz

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i m einzelnen Fall bedürfe. Die Enteignungsgesetze hätten i h n i n konkreten Vorhaben zu fixieren, unterlägen damit aber der verfassungsgerichtlichen Prüfung. Der Z i r k e l i n diesen Ausführungen ist offensichtlich, jedoch nicht verhängnisvoll, „denn daß die Errichtung und Unterhaltung der hamburgischen Deiche zwingend notwendig sind, kann nicht ernsthaft i n Zweifel gezogen werden" 5 . Wann ein vom Gesetzgeber verfolgter Zweck zulässig ist, für diese Frage ist also dem U r t e i l zum Deichordnungsgesetz nichts zu entnehmen. Aber es bestätigt, was sich schon der dargestellten Rechtsprechung zu anderen Grundrechtsartikeln entnehmen läßt, daß nämlich die Frage nach der Zulässigkeit eines Zwecks sehr oft keine Probleme aufwirft, vielmehr mit Plausibilitätsargumenten des ersten Anscheins hinreichend beantwortet werden kann. M i t einiger Sorgfalt prüft das BVerfG, ob die Enteignungen des hamburgischen Deichordnungsgesetzes zum Zweck des Hochwasserschutzes erforderlich waren. Diese Sorgfalt w i r d m i t einem Zitat aus dem Apotheken-Urteil und der Betonung des Verfassungsgebots von A r t . 14 I I I 1 begründet: „Das Bundesverfassungsgericht kann daher bei seiner Prüfung nicht an die Rechtsauffassung des Gesetzgebers gebunden sein. Dessen Beurteilung, ob ein Vorhaben dem Wohl der Allgemeinheit dient und zu seiner Durchführung die Enteignung erforderlich ist, bleibt daher zunächst eine für die verfassungsgerichtliche Prüfung unverbindliche Qualifizierung; sonst würde letztlich der einfache Gesetzgeber den Inhalt des Grundrechts bestimmen 6 ." Die Prüfung ergibt die Notwendigkeit der Enteignungen zum Zweck des Hochwasserschutzes, zum Zweck insbesondere eines raschen Ausbaus der Hochwasserschutzanlagen, dessen Dringlichkeit die Erfahrungen der Sturmflut von 1962 gezeigt hatten. Bestandsgarantie heißt also Geeignetheit und Erforderlichkeit von Enteignungen für einen zulässigen Zweck. Unter denselben Geboten der Geeignetheit und Erforderlichkeit stehen aber auch die Inhaltsund Schrankenbestimmungen, die Konkretisierungen der Sozialbindung des Eigentums (Art. 14 II), zu denen der Gesetzgeber i n Art. 1412 ermächtigt ist: „Eine Regelung nach A r t . 14 Abs. 1 Satz 2 GG steht . . . unter dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit . . . ; die Einschränkung der Eigentümerbefugnisse muß zur Erreichung des angestrebten Zieles geeignet und notwendig, sie darf nicht übermäßig belastend und deshalb unzumutbar sein 7 ." 5 B V e r f G E 24, 367 (404). β B V e r f G E 24, 367 (406). 7 B V e r f G E 21, 150 (155), fast gleichlautend BVerfGE 26, 215 (228). Wie bei A r t . 12 n i m m t auch bei A r t . 14 das B V e r f G seine Geeignetheits- u n d Notwendigkeitsprüfung m i t unterschiedlicher Sorgfalt vor. Entsprechend 6*

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Ein Erwerbsverbot nach dem Grundstücksverkehrsgesetz z. B. ist dann nicht gerechtfertigt, wenn es nur schon deswegen ausgesprochen wird, weil der Erwerb eine reine Kapitalanlage darstellt. Denn dieser Umstand mag unter Gesichtspunkten der Agrarstruktur bedenklich erscheinen. Aber damit ist die entscheidende Frage noch nicht beantwortet, ob die Verbesserung der Agrarstruktur die i m Erwerbsverbot liegende Beschränkung der Eigentumsfreiheit tatsächlich verlangt 8 . Auch für den Ausspruch des dem Erwerbsverbot korrespondierenden Veräußerungsverbots nach dem Grundstücksverkehrsgesetz genügt es noch nicht, daß dadurch die Zerschlagung eines Hofes verhindert würde. Ein so argumentierendes OLG ging von der Notwendigkeitsannahme aus, nur durch die Erhaltung bestehender leistungsfähiger Landwirtschaftsbetriebe könne die zukünftige Entwicklung der Landwirtschaft sichergestellt werden. Das BVerfG widerlegt dies m i t der Feststellung, daß trotz der Auflösung leistungsfähiger Betriebe seit 1949 die Gesamtproduktion der Landwirtschaft erheblich gestiegen ist. Die Notwendigkeit, sogar die Geeignetheit des ausgesprochenen Veräußerungsverbots für die Verbesserung der Agrarstruktur ist daher noch offen, das BVerfG hebt den es bestätigenden OLG-Beschluß auf und verweist zurück 9 .

Die Bestandsgarantie schützt den Eigentumsbestand also nicht nur gegen unverhältnismäßige Enteignungen, sondern ebenso gegen unverhältnismäßige Inhalts- und Schrankenbestimmungen. I n diesem umfassenden Schutz erschöpft sich aber auch bei A r t . 14 das Geeignetheitsund Erforderlichkeitsgebot. Für die Bestimmung der Enteignungsentschädigung gibt es nichts mehr her. Der Versuch, es i n die bei der variiert auch die programmatische Erklärung, m i t der das B V e r f G seine Prüfung jeweils einleitet. Gelegentlich spricht das B V e r f G von einem „verhältnismäßig weiten Beurteilungsspielraum", den der Gesetzgeber bei A r t . 1412 habe (BVerfGE 8, 71 [80]; vgl. auch BVerfGE 14, 263, w o das Ausscheiden von Minderheitsaktionären bei der Mehrheitsumwandlung einer Aktiengesellschaft nicht als erforderlich nachgewiesen, wo dieser Nachweis nicht einmal versucht w i r d , wo das B V e r f G vielmehr — siehe dazu oben S. 44 — i n eine Bewertung v o n Grundrechtsgebrauchsqualitäten eintritt). A n anderer Stelle heißt es dagegen, i n Konkretisierung der Sozialbindung dürfe „eine Einschränkung i m öffentlichen Interesse n u r so w e i t gehen, als es der Schutz des Gemeinwohls zwingend erfordert" (BVerfGE 20, 351 [361]). Ä h n l i c h rigide ist auch die folgende Wendung: „Gesetzliche Eigentumsbindungen müssen v o n dem geregelten Sachbereich her geboten sein; sie dürfen nicht weiter gehen, als der Schutzzweck reicht, dem die Regelung dient" (BVerfGE 21, 73 [86], wiederaufgenommen i n BVerfGE 25, 112 [117/ 118]). 8 BVerfGE 21, 73. » BVerfGE 26, 215.

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Bestimmung der Enteignungsentschädigung vorzunehmende Abwägung einzuführen, würde zu unsinnigen Ergebnissen führen: Es kann davon ausgegangen werden, daß ein Eingriff i n die Eigentumsfreiheit als um so weniger einschneidend empfunden wird, je höher die gleichzeitig gewährte Entschädigung ist. Z u jedem Eingriff, der unter einer bestimmten Entschädigung erfolgen soll, lassen sich also alternative Eingriffe m i t höherer Entschädigung aufzeigen, die weniger einschneidend sind. Könnte dies als Erforderlichkeitsargument dem i n die Eigentumsfreiheit eingreifenden Staat entgegengehalten werden, könnte also eine Enteignung, für die i n bestimmter Weise entschädigt we/den soll, darum als nicht notwendig zurückgewiesen werden, w e i l dieselbe Enteignung bei höherer Entschädigung ebenfalls dem Staat das Eigent u m verschaffe, aber weniger einschneidend sei, dann könnte die Entschädigung beliebig hoch getrieben werden. Dagegen hilft zwar das Argument, die Notwendigkeit eines staatlichen Eingriffs könne nur durch den Aufweis eines solchen alternativen Eingriffs widerlegt werden, der auch dasselbe leistet wie der staatliche, die Leistung eines wegen höherer Entschädigung für den Staat kostspieligeren alternativen Eingriffs sei aber geringer. Dieses Argument ist jedoch von demselben Unsinn wie das erste. Denn i n seiner Konsequenz liegt es, die Entschädigung beliebig niedrig zu halten. Eine Entschädigung von geeigneter und notwendiger Höhe kann es also ebensowenig geben wie ihr Gegenteil, die nicht geeignet und nicht notwendig hohe Entschädigung. Ganz unabhängig von den auf eine volle als eine am Marktwert orientierte Entschädigung gerichteter; Interessen macht es auch dies Versagen des für die Grundrechte so zentralen Geeignetheits- und Erforderlichkeitsgebots verständlich, daß für die Entschädigung der bequeme Maßstab des Marktwerts gefordert wurde und wird. Einleuchtender Maßstab kann der Marktwert jedoch aus zwei Gründen nicht sein: Durch eine nach dem Marktwert entschädigte, den Vermögensbestand also wahrende Enteignung würde i n die Eigentumsfreiheit weniger eingegriffen als durch die entschädigungsfreien und darum das Vermögen mindernden Inhalts- und Schrankenbestimmungen, die Konkretisierungen der Sozialbindung des Eigentums, obwohl diese i m Grundgesetz als die weniger intensiven Eingriffe konzipiert sind. Die Konzeption des Grundgesetzes und zugleich der Entschädigungsmaßstab des Marktwerts lassen sich nur scheinbar i n der Forderung vereinen, vom Marktwert solle das i n Abzug gebracht werden, worum schon über die Sozialbindung der Vermögenswert eines Eigentumsgegenstandes gegenüber seinem Marktwert gemindert werden kann. W i r d ein derart geminderter Marktwert als Entschädigungsmaßstab angepeilt, dann ist i n Wahrheit die Entschädigung nach dem Marktwert

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schon aufgegeben. Denn wie weit die Sozialbindung gehen, u m wieviel über sie bei der Entschädigungsbemessung vom Marktwert eines Eigentumsgegenstandes abgezogen werden darf, diese Fragen bleiben noch völlig offen, offen also auch für eine Beantwortung, die Entschädigungen nach dem Marktwert gerade ausschließt. Der Maßstab des Marktwerts für Enteignungsentschädigungen würde aber nicht nur die Konzeption des Grundgesetzes i n A r t . 14, die „Rangfolge" 1 0 zwischen Eigentumsbindung und Enteignung verkehren. Er würde ferner der Eigentumsfreiheit einen Schutz angedeihen lassen, den grundrechtliche Freiheit sonst nicht genießt, er würde die Eigentumsfreiheit zum eingriffsresistentesten Grundrecht erheben und ihr vor den anderen Freiheiten einen Vorrang einräumen, für den das Grundgesetz keinerlei Anhalt bietet. Bei Eingriffen i n andere Freiheiten sind Entschädigungen ja nicht etwa undenkbar. Beschränkungen z. B. der Berufsausübungsfreiheit könnten regelmäßig nach ihren Kosten für die Betroffenen vermögensmäßig veranschlagt und entschädigt werden; sogar für Beschränkungen der Meinungsäußerungsfreiheit ließe sich oft als Entschädigung der Betrag errechnen, der unter den Bedingungen des Marktes vom Betroffenen als Preis dafür aufzubringen wäre, daß seine Meinung statt i n der untersagten i n einer zulässigen Äußerungsform die gewünschte Resonanz findet. Sollten Eingriffe i n grundrechtliche Freiheiten nicht i n dieser Weise entschädigbar sein, dann lassen sich zu ihnen immerhin Alternativen suchen, die zwar nur unter hohen Kosten zu verwirklichen, dafür aber freiheitsschonender sind. Für w o h l alle Freiheiten, dies ist der entscheidende Punkt, gibt es einen über die Kosten der Entschädigung oder Vermeidung von Freiheitsminderungen zu errechnenden M a r k t wert. Wenn i m Freiheitsraum anderer Grundrechte für die Erreichung eines zulässigen Zwecks geeignete und erforderliche Eingriffe hingenommen werden müssen, dann kann es jedenfalls nicht als eine Selbstverständlichkeit einleuchten, daß i m Freiheitsraum von A r t . 14 auf eine volle Entschädigung gepocht und damit ein Eingriff i n den Vermögensbestand soll zurückgewiesen werden können. Das BVerfG argumentiert die Ablehnung der nach dem Marktwert bemessenen Entschädigung historisch. A r t . 153 WRV enthielt das Gebot angemessener Entschädigung. Als angemessene Entschädigung ließ das RG nur eine volle Entschädigung gelten, es lehnte ab, die A n gemessenheit einer Entschädigung i m Blick auch auf die Interessen der Allgemeinheit zu beurteilen. Wenn A r t . 14 demgegenüber eine Interessenabwägung gebiete, dann bedeute dies, so führt das BVerfG aus, daß dem Grundgesetz eine allein am Marktwert orientierte EntBVerfGE 24, 367 (398).

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Schädigung fremd sei, daß dem Enteigneten mit der Entschädigung gerade nicht das volle Äquivalent für das Genommene gegeben werden müsse 11 . Schon i n einer frühen Entscheidung betont das BVerfG die bewußte Abkehr des Grundgesetzes von der WRV i n der Entschädigungsfrage 12 . Unter der WRV hielten sich die Gerichte für berechtigt, unmittelbar aus Art. 153 eine angemessene Entschädigung auch dann zuzuerkennen, wenn das enteignende Gesetz keine Entschädigungsregelung enthielt. Demgegenüber w i l l , wie das BVerfG ausführt, das Grundgesetz mit dem Junktim zwischen Enteignung und Entschädigung erreichen, daß der Gesetzgeber, der die enteignende Wirkung eines Gesetzes verkannt und daher eine Entschädigungsregelung unterlassen hat, vom BVerfG auf die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes hingewiesen und damit vor die Aufgabe gestellt wird, i n der gebotenen Interessenabwägung die Entschädigung zu regeln, so er nicht auf das Gesetz überhaupt verzichtet. Würden die Gerichte i n Fortführung der Praxis unter der WRV von sich aus die Entschädigung festsetzen, dann würden sie „eine Entscheidung treffen, die das Grundgesetz dem Gesetzgeber vorbehalten hat, und zudem eine Aufgabe übernehmen, die von einem Gericht nicht erfüllt werden kann; denn die gerechte Abwägung der Interessen der Allgemeinheit erfordert unter Umständen die Berücksichtigung einer großen Zahl von wirtschaftlichen, sozialen und politischen Faktoren, die selten i n dem einem Gericht unterbreiteten Einzelfall sämtlich erkennbar werden" 1 3 . Schon aus dieser frühen Entscheidung versteht sich, daß das BVerfG i n A r t . 14 I I I nicht den Entschädigungsmaßstab des Marktwerts findet. Denn die simple Aufgabe, i m Einzelfall die Entschädigung am Marktwert zu orientieren, könnte sehr w o h l von den Gerichten erfüllt werden. I m Urteil zum hamburgischen Deichordnungsgesetz stellt das BVerfG klar, daß je nach den Umständen der Gesetzgeber zwar eine unter dem vollen Ersatz liegende Entschädigung, daß er aber auch den vollen Ersatz i n der Entschädigungsregelung festsetzen kann 1 4 . Wie weit der Gesetzgeber unter die volle Entschädigung gehen darf, welches die für eine Entschädigungsbemessung bedeutsamen Umstände sind, muß vom BVerfG nicht weiter ausgeführt werden, da der hamburgische Gesetzgeber den Enteigneten die Fortsetzung der üblichen und allein den wirtschaftlichen Wert der Grundstücke bestimmenden Grasnutzung gestattet und bei ausnahmsweise darüber hinausgehender Nutzung eine dem Verkehrswert der Grundstücke entsprechende Geldentschädigung gewährt hatte. W i r d wie hier der Vermögensbestand i n der 11 12 is 14

BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE

24, 367 (420/421). 4, 219. 4, 219 (236). 24, 367 (421).

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Entschädigung gewahrt, so muß nicht geklärt werden, wie weit i n i h n durch eine geringere, den Vermögensbestand vermindernde Entschädigung eingegriffen werden kann.

Gleichwohl enthält das Urteil zum hamburgischen Deichordnungsgesetz Aussagen, die für die Interessenabwägung bei der Bestimmung der Entschädigung bedeutsam sind. Das BVerfG sieht das Grundrecht des A r t . 14 i n seinem personalen Bezug, als Gewährleistung eines Freiheitsraums für eigenverantwortliche Tätigkeit, als Rechtsträgerund nur mittelbar als Sachgarantie. Es kennzeichnet die Institutsgarantie als den Schutz eines elementaren Bestands der Betätigung i m vermögensrechtlichen Bereich 15 . A n diesen Bestimmungen läßt sich i m Umriß ein Verständnis der Eigentumsfreiheit entwickeln, das dem Verständnis anderer grundrechtlicher Freiheiten entspricht und damit die Bedenken aufnimmt, die oben gegen die Ausdeutung der Eigentumsfreiheit zum eingriffsresistentesten Grundrecht zu erheben waren. Wie jede grundrechtliche Freiheit steht auch die Eigentumsfreiheit unter dem Schutz des Geeignetheits- und Erforderlichkeitsgebots; i n sie kann, sei es durch Inhalts- und Schrankenbestimmungen, sei es durch Entzug eines Eigentumsgegenstandes, nur dann eingegriffen werden, wenn der Eingriff für die Erreichung eines zulässigen Zwecks geeignet und erforderlich ist. Wie zu jeder grundrechtlichen Freiheit gibt es auch zur Eigentumsfreiheit die Mindestposition, die sich gegen auch erforderliche und geeignete Eingriffe sperrt. Ihrer Bestimmung gelten, wie immer allgemein, die angeführten Aussagen des BVerfG zur Funktion des Art. 14, zu seinem personalen Bezug und zum durch ihn geschützten elementaren Bereich eigenverantwortlicher Betätigung. Das Besondere der Eigentumsfreiheit liegt darin, daß bei ihr das Grundgesetz die Wahrung der Mindestposition nicht einfach durch Abwehr von Eingriffen, sondern dadurch bewirkt, daß m i t der Entschädigung die i m Eingriff beeinträchtigte Mindestposition wiederhergestellt w i r d . Bei A r t . 14 kann also sogar i n die Mindestposition eingegriffen werden; die Eigentumsfreiheit ist insofern nicht das eingriffsresistenteste, sondern, wenn einmal vom i n der Entschädigung liegenden Ausgleich abgesehen wird, das am wenigsten eingriffsresistente Grundrecht. Maßgeblich für die Bestimmung der Entschädigung muß sein, daß der Freiheitsraum für eigenverantwortliche Tätigkeit wiederhergestellt w i r d bzw. dank des Junktims erhalten bleibt. Maßgeblich w i r d die nähere Bestimmung dieses Freiheitsraums auch für die Abgrenzung is BVerfGE 24, 367 (389, 400). Siehe dazu schon oben S. 82.

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zwischen entschädigungsfreier Inhalts- und Schrankenbestimmung und entschädigungspflichtiger Enteignung. Denn wenn die Entschädigung die Funktion hat, die Mindestposition zu wahren, dann liegt eine durch die Entschädigungspflicht von den Inhalts- und Schrankenbestimmungen unterschiedene Enteignung erst dann vor, wenn die Mindestposition betroffen ist. Die Interessenabwägung des A r t . 14 I I I 3 hat also nichts m i t den Geboten der Geeignetheit und Erforderlichkeit zu tun, sie gilt der Wahrung der Mindestposition. Sie hat zu ermitteln, wie eine von der Enteignung getroffene Mindestposition durch Gewährung einer Entschädigung erhalten bleibt. Voraussetzung hierfür ist die Ermittlung der Mindestposition selbst, die aber schon bei der Frage, ob überhaupt eine zu entschädigende Enteignung vorliegt, zu erfolgen hat. Wenn der Begriff der Abwägung i n dem weiten Sinn, i n dem er beim BVerfG zu A r t . 12 immer wieder \^erwendung fand, zu A r t . 14 neben dem engen Abwägungsbegriff des A r t . 14 I I I 3 m i t ins Spiel gebracht wird, dann lassen sich unter i h m die grundrechtsdogmatischen Ausführungen, zu denen das Urteil zum Deichordnungsgesetz den Anlaß gegeben hat, so resümieren: Die Bestimmung der Grenzen staatlicher Eingriffsbefugnis ist bei der Eigentumsfreiheit wie bei jeder grundrechtlichen Freiheit eine Aufgabe der Abwägung i n dem Sinn, daß die Interessen des einzelnen an Erhaltung seiner Freiheit m i t den Interessen des Staates an der Verfolgung seiner Zwecke i n ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen sind. Ausgewogenes Verhältnis heißt zunächst, daß ein Eingriff nur dann erfolgt, wenn er zur Erreichung eines zulässigen Zwecks geeignet und notwendig ist. Hierauf zu achten, ist also die erste Aufgabe einer Abwägung 1 6 . Ausgewogenes Verhältnis heißt weiter, daß ein Eingriff auch bei Geeignetheit und Notwendigkeit dann nicht erfolgt, wenn durch i h n die Mindestposition verletzt würde. Diese zu wahren, ist die zweite Aufgabe einer Abwägung. Sie ist i n A r t . 14 I I I 3 gemeint und besonders gefaßt, indem es nicht u m bloße Abwehr, sondern u m die Wiederherstellung bzw. Erhaltung der Mindestposition i n der Entschädigung geht.

16 Der weite Abwägungsbegriff k l i n g t auch bei A r t . 14 an, w e n n das B V e r f G der Prüfung von Geeignetheit u n d Notwendigkeit einer Inhalts- u n d Schrankenbestimmung vorausschickt: „Der Gesetzgeber steht bei der E r f ü l l u n g des i h m i n A r t . 14 Abs. 1 Satz 2 GG erteilten Auftrages, I n h a l t u n d Schranken des Eigentums zu bestimmen, vor der Aufgabe, den Freiheitsr a u m des Einzelnen i m Bereich der Eigentumsordnung u n d die Belange der Allgemeinheit i n einen gerechten Ausgleich zu bringen. . . . Die grundlegende Wertentscheidung der Verfassung i m Sinne eines sozial gebundenen Privateigentums gebietet also, bei der Regelung des Eigentumsinhalts die Belange der Gemeinschaft u n d die Individualinteressen i n ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen." (BVerfGE 25, 112 [117, 118])

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3 A b w . vor der Grenze des Wesensgehalts — Rspr. zu A r t . 14

3.2 Weitere Rechtsprechung zu Artikel 14 GG und nähere Bestimmung der Mindestposition I n die Untersuchung des Deichordnungsgesetz-Urteils zu A r t . 14 sind mehr als i n die Durchsicht bundesverfassungsgerichtlicher Rechtsprechung zu anderen Grundrechten eigene grundrechtsdogmatische Uberlegungen eingegangen. Veranlaßt wurden sie durch den Umstand der zu A r t . 14 vergleichsweise spärlichen Rechtsprechung. Bewähren müssen sie sich i n der Durchsicht der übrigen A r t . 14 betreffenden Entscheidungen. I h r Anspruch ist, daß gerade von ihnen her die übrigen Entscheidungen erschlossen werden können. Die Vorstellung einer i n der Entschädigung zu wahrenden Mindestposition stellt sich vorsichtig schon i n einer der frühen Entscheidungen zu A r t . 14, i m Beschluß zum Abkommen zwischen der BRD und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die deutschen Vermögenswerte i n der Schweiz von 195217, ein. Ob die i n diesem Abkommen für den Fall des Scheiterns einer Ablösung vorgesehene Liquidation deutscher Vermögenswerte i n der Schweiz tatsächlich eine Enteignung i. S. von Art. 14 darstellt, läßt das BVerfG offen. Denn den Erfordernissen des A r t . 14 sei jedenfalls genügt. „Das Abkommen war zum Wohl der Allgemeinheit geboten. . . . Der Liquidationserlös müßte auch als gerecht abgewogene Entschädigung i m Sinne des A r t . 14 Abs. 3 Satz 3 GG angesehen werden, denn das Liquidationsverfahren enthielt Garantien gegen die Unterbewertung zu liquidierenden Eigentums 1 8 ." Auch i m Erftverband-Urteil 1 9 geht das BVerfG davon aus, daß Vermögens- und Eigentumspositionen beträchtlich beeinträchtigt und gemindert werden können, solange nur eine Mindestposition gewahrt bleibt. Es wendet den entsprechenden Gedankengang institutionell. Die Verfassungsbeschwerdeführer, Eigentümer von Braunkohlebergwerken, wandten sich gegen ihre Zwangseingliederung i n den Erftverband, der vom Land zur Regelung der Wasserwirtschaft i m Verbandsgebiet durch Gesetz gegründet worden war. Sie machten geltend, daß das Gesetz bzw. der sie zwangsweise erfassende Verband die Freiheit ihres wirtschaftlichen Handelns, ihrer Vermögens- und Eigentumsdispositionen beschneide. Das BVerfG untersucht die Stellung der Beschwerdeführer i m Verband auf eine Vernachlässigung ihrer schutzwürdigen Interessen. Es stellt fest, die Verbandsstruktur sei durchaus geeignet, einen Ausgleich der i m Verband zusammengeschlossenen, teilweise gegensätzlichen Interessenpositionen herbeizuführen. Die Beschwerdeführer seien nach der Ausgestaltung der Verbandsorgane „nicht institutionell majorisiert" 2 0 . 17 BVerfGE 6, 290. 18 BVerfGE 6, 290 (298). io BVerfGE 10, 89.

3.2 Nähere Bestimmung der Mindestposition

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Das Erftverband-Urteil ist mit dem angeführten Gedankengang nicht unmittelbar zu Art. 14 ergangen. Das BVerfG meinte, ausgehend vom Elfes-Urteil 2 1 , ihn nur zu Art. 2 entwickeln zu können. Dennoch darf der Gedankengang Relevanz für A r t . 14 beanspruchen. Denn die Interessenpositionen, u m die es den Beschwerdeführern i m Verband geht, sind eher solche von A r t . 14 als von A r t . 2, und nach dem angeführten ersten, allgemeinen Prüfungsdurchgang w i r d ihre grundrechtswidrige Verletzung denn auch i m zweiten, ausführlicheren Durchgang vom BVerfG an Art. 14 gemessen. I n mittelbarem Sinn hat auch das Urteil zum Investitionshilfegesetz 22 Bedeutung für die Interessenabwägung bei Art. 14. Allerdings betont das BVerfG, daß Geldleistungspflichten wie nach dem Investitionshilfegesetz die Eigentumsfreiheit nicht berühren, daß A r t . 14 gerade nicht das Vermögen als solches schützt. Aber damit bestätigt es zugleich, daß die Abwägung des A r t . 14 I I I 3 nicht auf eine volle, nur unter dem Gesichtspunkt der Wahrung des Vermögens als solchen zu rechtfertigende Entschädigung abzielen kann. I m übrigen stellt ein vom BVerfG i m Investitionshilfegesetz-Urteil entwickeltes K r i t e r i u m für die Uberprüfung wirtschaftslenkender Gesetze ganz ähnliche Aufgaben wie die Überprüfung von Eingriffen i n die Eigentumsfreiheit. Nach dem K r i t e r i u m müssen die Gesetze durch das öffentliche Interesse geboten sein und dürfen nicht w i l l k ü r l i c h die schutzwürdigen Interessen einzelner Gruppen vernachlässigen. I h m genügt das Investitionshilfegesetz dem BVerfG zufolge darum, w e i l die Aufbringungsschuldner zwar ihren eigenen Investitionsbedarf zurückstellen müssen, für den Aufbringungsbetrag also nicht zu dessen Marktwert als Investitionsmittel entschädigt werden, aber immerhin i n Höhe des Aufbringungsbetrags Wertpapiere erhalten, die einen der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung entsprechenden Realwert behalten sollen 23 .

Von besonderer Bedeutung für die Vorstellung einer Mindestposition ist schließlich eine späte Entscheidung zum Urheberrecht 24 . I n ihr gewinnt die Vorstellung, mit der sich bisher nur allgemeine oder ganz fallbezogen gewählte besondere Kriterien — Schutz vor Unterbewertung, Schutz vor institutioneller Majorisierung, Wahrung nicht des Markt-, aber eines darunter liegenden Realwerts — verbinden lassen, inhaltliche Konturen prinzipieller A r t . 20 21 22 23 24

BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE

10, 89 (106). 6, 32. 4, 7. 4, 7 (19). 31, 229.

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3 A b w . vor der Grenze des Wesensgehalts — Rspr. zu A r t . 14

Dem BVerfG lag i m Verfassungsbeschwerdeverfahren eine Bestimmung des Urheberrechtsgesetzes zur Prüfung vor, i n der das Verwertungsrecht des Urhebers bei der für den Kirchen-, Schul- oder Unterrichtsgebrauch bestimmten Vervielfältigung und Verbreitung seines Werks beschränkt wurde. Die Bestimmung versagte dem Urheber sowohl das Recht, beliebig die Aufnahme seines Werks i n entsprechende Sammlungen zu verbieten, als auch — und dagegen richteten sich die Verfassungsbeschwerden — einen Vergütungsanspruch. Das BVerfG prüft an Art. 14, i n welchem Umfang das Verwertungsrecht des U r hebers als Vermögensrecht verfassungsmäßig geschützt ist. Daß das Urheberrecht überhaupt geschützt ist, daß Vermögenswerte Befugnisse des Urhebers an seinem Werk bestehen und als Eigentum i. S. des A r t . 14 gesichert sein müssen, folgert das BVerfG aus der Funktion des grundrechtlichen Eigentumsschutzes. Es bringt die i m Urteil zum Deichordnungsgesetz getroffene Funktionsbestimmung, ergänzt u m eine wichtige Pointe. „Der Eigentumsgarantie kommt i m Gesamtgefüge der Verfassung zunächst die Aufgabe zu, dem Träger des Grundrechts durch Zubilligung und Sicherung von Herrschafts-, Nutzungs- und Verfügungsrechten einen Freiheitsraum i m persönlichen Bereich zu gewährleisten und i h m damit die Entfaltung und eigenverantwortliche Gestaltung des Lebens zu ermöglichen; insoweit steht sie i n einem inneren Zusammenhang m i t der Garantie der persönlichen Freiheit . . . Darüber hinaus bewahrt die Eigentumsgarantie den konkreten, vor allem den durch Arbeit und Leistung erworbenen Bestand an Vermögenswerten Gütern vor ungerechtfertigten Eingriffen durch die öffentliche Gewalt 2 5 ." Die nähere Überprüfung der angefochtenen Bestimmung des Urheberrechtsgesetzes nimmt sich zunächst aus, als sei sie ganz an den Geboten der Geeignetheit und Erforderlichkeit ausgerichtet. Schulischer Unterricht und entsprechende Unterrichtsveranstaltungen haben, wie das BVerfG feststellt, die Aufgabe, eine gegenwartsnahe Ausbildung zu vermitteln und dabei auch m i t zeitgenössischen Werken vertraut zu machen. Diese Aufgabe wäre nicht zu erfüllen, wenn die Urheber die Aufnahme ihrer Werke i n die einschlägigen Sammlungen beliebig verhindern könnten 2 6 . Eine ähnliche Notwendigkeit vermißt das BVerfG für die Versagung des Vergütungsanspruchs. Dem Interesse der Allgemeinheit an Zugang zu den zeitgenössischen Kulturgütern sei schon m i t dem Ausschluß des Verbotsrechts Genüge getan. Die Gefahr, daß die Schulbuchverleger zur Vermeidung von Vergütungen die Schul25 BVerfGE 31, 229 (239). 26 Dieses Notwendigkeitsargument des B V e r f G deckt noch nicht, daß auch kirchliche Sammlungen i n den Genuß des Ausschlusses des urheberrechtlichen Verbotsrechts kommen. Es ist auch nicht ersichtlich, w i e insoweit die Notwendigkeit überhaupt soll argumentiert werden können.

3.2 Nähere Bestimmung der Mindestposition

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bücher vorwiegend mit älteren, urheberrechtlich nicht mehr geschützten und daher vergütungsfreien Werken gestalten könnten, verlange nicht den Ausschluß des Vergütungsanspruchs. I h r könne schon dadurch begegnet werden, daß die Schulverwaltungen nur zeitgemäße Sammlungen auswählen. Nicht mit dem Argument fehlender Notwendigkeit ist dagegen auszuräumen, daß ein allgemeines Interesse an der Verhinderung von Verteuerungen der Schulbücher besteht und daß die Zubilligung eines Vergütungsanspruchs zu Verteuerungen führt. Das BVerfG meint zwar, die für das einzelne Schulbuchexemplar zu erwartende Verteuerung sei gering oder sogar zu vermeiden, die Abrechnung der Vergütung mit den Urhebern könne wohl ohne Steigerung der Verwaltungskosten bewältigt werden, eine durch die Vergütung verursachte Schmälerung der Verlegergewinne oder Herausgeberhonorare müsse hingenommen werden. M i t solchen Hoffnungen und Appellen ist aber die Verteuerung als Folge eines Vergütungsanspruchs nicht auszuräumen. Wenn das BVerfG den Ausschluß des Vergütungsanspruchs gleichwohl für m i t A r t . 14 unvereinbar hält, dann schützt es damit eine Mindestposition des A r t . 14. Es klingt zwar nach abwägendem Gewichten und Vergleichen zwischen Freiheit und Gemeinschaftsgut, wenn das BVerfG den i m Ausschluß des Vergütungsanspruchs liegenden Eingriff als besonders intensiv kennzeichnet und ausführt: „Daher kann der Ausschluß eines Vergütungsanspruchs nicht durch jede Gemeinwohlerwägung gerechtfertigt werden . . . I m Hinblick auf die Intensität der Beschränkung der urheberrechtlichen Stellung muß ein gesteigertes öffentliches Interesse gegeben sein, damit eine solche Regelung vor der Verfassung Bestand hat." Aber die Intensität folgert das BVerfG gerade daraus, „daß es u m das Ergebnis der geistigen und persönlichen Leistung des Urhebers geht, nicht aber etwa u m einen unverdienten Vermögenszuwachs" 27 . Den Bestandsschutz der Eigentumsgarantie, also die Bestandsgarantie, die i m Entschädigungsgebot i n die Eigentumswertgarantie umschlägt, bezieht das BVerfG i n der die Entscheidungsbegründung eröffnenden Funktionsbestimmung des grundrechtlichen Eigentumsschutzes auf das, was durch Arbeit und Leistung erworben ist. Indem es das Ergebnis persönlicher Arbeit und Leistung vom unverdienten Vermögenszuwachs unterscheidet, grenzt es die Mindestposition des A r t . 14 von den Vermögenspositionen ab, i n die unter Wahrung des Geeignetheits- und Erforderlichkeitsgebots auch ohne Entschädigung eingegriffen werden darf. Was durch persönliche Arbeit und Leistung erworben worden ist, das macht die Mindestposition aus, die durch Gewährung von Entschädigung zu erhalten ist und an der entschädigungsfreie Konkretisierungen der Sozialbindung i n entschädigungspflichtige Enteignungen um27 BVerfGE 31, 229 (243).

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schlagen 28 . Zutreffend läßt das BVerfG hier, obwohl das Argument fehlender Notwendigkeit versagt, den Ausschluß der Vergütung scheitern und erhält damit die Mindestposition der Urheber. Allerdings kann bei A r t . 14 Wahrung der Mindestposition i n der Weise geschehen, daß i n sie der Eingriff zugelassen und durch Entschädigung ausgeglichen wird. I n der Entscheidung zum Urheberrechtsgesetz sieht sich das BVerfG jedoch vor einer besonderen Lage: Eine von der Allgemeinheit zu tragende Entschädigung für den Ausschluß der Vergütung böte der Allgemeinheit, u m deretwillen ja bei Art. 14 die Wahrung der Mindestposition i n besonderer, einen Eingriff ermöglichender Weise ausgestaltet ist, nicht mehr als die i m Wege von Verteuerungen erfolgende Umlegung der Vergütung selbst auf die Allgemeinheit.

U m Mißdeutungen der die Rechtsprechungsdurchsicht zu A r t . 14 begleitenden grundrechtsdogmatischen Überlegungen auszuschließen, sei eine über den Zusammenhang von Abwägung, Verhältnismäßigkeit und Mindestposition hinausgehende Bemerkung getroffen. Der hier skizzierte grundrechtsdogmatische Ansatz zu A r t . 14 erhebt nicht den Anspruch, er genüge schon, die Probleme des Art. 14 zu bewältigen. Probleme stellen sich zunächst bei der für verschiedene Sachbereiche auch verschieden zu treffenden Bestimmung, was als Ergebnis persönlicher Arbeit und Leistung als Mindestposition anzusetzen ist. V o m hier skizzierten Ansatz aus sind aber noch offen die Probleme, die bei Eingriffen i n Vermögenspositionen i n den Zusammenhang des Gleichheitssatzes gehören. Wenn A r t . 14 eine den Geboten der Geeignetheit und Erforderlichkeit genügende Zurückdrängung des Vermögensbestandes auf die Mindestposition zuläßt, dann heißt dies noch nicht, daß die Zurückdrängung i n beliebiger Auswahl den einen Grundrechtsträger treffen darf, während sie den anderen i n entsprechender Lage verschont. Wo Entschädigung nach dem Maßstab des Marktwerts sich als die Regel eingespielt hat, da kann von dieser Regel nicht ausnahmsweise zu Lasten eines einzelnen Eigentümers abgewichen werden. Es ist ein Unterschied, ob ein neues Bodenrecht die Vermögenspositionen aller Grundstückseigentümer nur insoweit erhält, als sie durch Arbeit und Leistung erworben sind, oder ob ohne ein solches Bodenrecht ein 28 Daß das durch eigene Leistung Erworbene i n besonderem Sinn als Eigentum anzuerkennen u n d gegenüber Eingriffen als schutzwürdig anzusehen ist, taucht schon f r ü h i n der Rechtsprechung des B V e r f G auf, dort nämlich, wo es u m die Abgrenzung zwischen solchen öffentlichrechtlichen Vermögenspositionen, f ü r die der Schutz des A r t . 14 gilt, u n d anderen, f ü r die er nicht gilt, geht. Vgl. schon BVerfGE 1, 264 (277/278) u n d weiter BVerfGE 4, 219 (242/243); 14, 288 (293/294); 22, 241 (253); 24, 220 (225/226).

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Zusammenfassung

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einzelner Grundstückseigentümer enteignet und unter Wahrung bloß seiner Mindestposition entschädigt wird, ob unter Wahrung der Mindestpositionen Industrien verstaatlicht werden oder nur ein einzelnes Unternehmen. Die m i t diesem Unterschied angezeigten Probleme sind nicht mehr allein unter den Gesichtspunkten der Abwägung, Verhältnismäßigkeit und Mindestposition zu bewältigen, sondern nur m i t einer Grundrechtsdogmatik, die zu A r t . 14 und zugleich zu A r t . 3 entwickelt wird. Dieser bei jedem Grundrecht herzustellende Zusammenhang zu A r t . 3 kann hier außer Betracht bleiben, sich aus i h m ergebende Probleme haben die Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 14 nicht beschäftigt. 3.3 Zusammenfassung Die Durchsicht der Rechtsprechung zu A r t . 14 hat einen doppelten, einen methodischen ebenso wie einen verfassungsrechtsdogmatischen Ertrag. Sie bewährt das Abwägungsmodell, das die Prüfungsmomente der Zweckanalyse, der Geeignetheits- und Notwendigkeitprüfung und der Mindestpositionsbeachtung umfaßt, Gewichtung und Vergleich von Gütern dagegen ausspart. I m Prüfungsprogramm des BVerfG zu A r t . 14 schließt an die Frage, ob ein Eingriff i n die Freiheit des Eigentums zur Erreichung eines zulässigen Zwecks geeignet und notwendig ist, die Frage danach an, ob die Mindestposition durch den Eingriff verletzt wird, wobei der Schutz der Mindestposition nicht einfach durch Abwehr von Eingriffen, sondern durch Wiederherstellung oder Erhaltung der Mindestposition i n der Entschädigung stattfindet. Die Beantwortung dieser zweiten Frage ist die Abwägung des A r t . 14 I I I 3. Zur Frage nach Wahrung oder Verletzung der Mindestposition w i r d Abwägung da, wo die Geeignetheits- und Notwendigkeitsfrage nicht mehr weiterführt. Es gibt keine geeignete und notwendige Entschädigung und also auch keine durch Geeignetheits- und Notwendigkeitsprüfung vorzunehmende Abwägung zur Entschädigungsbestimmung. Es gibt aber eine Entschädigung, i n der die Mindestposition der Eigentumsfreiheit und damit — so die These der Vorbemerkung dieses Abschnitts — deren Wesensgehalt gewahrt wird. Was durch persönliche Arbeit und Leistung erworben ist, darin sieht das BVerfG die Mindestposition, die durch Entschädigung zu erhalten ist und an der entschädigungsfreie Konkretisierungen der Sozialbindung i n entschädigungspflichtige Enteignungen umschlagen. M i t dieser Vorstellung der Mindestposition sind Probleme gestellt und gelöst. Gestellt ist die Aufgabe, die Grenze zwischen dem durch Arbeit und Leistung erworbenen und dem sonstigen Vermögen zu bestimmen, wobei eine genaue Bestimmung nur i m Blick auf die sozialen Bedingungen des

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Vermögens- und Eigentumserwerbs und -Zuwachses und für verschiedene soziale Bereiche nur verschieden vorgenommen werden kann. Gelöst ist die Aufgabe eines dogmatischen Ansatzes für Art. 14, bei dem die Eigentumsfreiheit i n den Möglichkeiten ihrer Sicherung und Beschneidung und i n dem Ausmaß ihrer Eingriffsresistenz den anderen grundrechtlichen Freiheiten strukturell entspricht und vor diesen keinen Vorrang genießt, für den das Grundgesetz keinen Anhalt bietet.

4 A b w ä g u n g außerhalb des Bereichs der Freiheitsrechte D i e Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts z u m G e b o t der Rechtssicherheit 4.0 Vorbemerkung Abwägung ist das Prinzip auch der Rechtsprechungstradition, i n der das BVerfG das Gebot der Rechtssicherheit zum Thema hat. Diese Tradition hat zwei Linien, die inhaltlich eng zusammenhängen. Zum einen sieht das BVerfG das Gebot der Rechtssicherheit i m Widerstreit m i t dem Gebot materieller Gerechtigkeit und diesen Widerstreit als Abwägungsaufgabe. Zum anderen beantwortet das BVerfG über eine Abwägung auch die Frage, wann und inwieweit unter dem Gebot der Rechtssicherheit das Vertrauen des Bürgers i n den Fortbestand einer rechtlichen Regelung geschützt, wann insbesondere Rückwirkung verfassungswidrig ist. M i t der Durchsicht dieser Rechtsprechung w i r d der Bereich der Freiheitsrechte, i n dem bisher das Abwägungsgebot verfolgt wurde, verlassen. Es geht nun jedenfalls nicht mehr darum, wann i n Freiheit, die als dem Staat vorgegeben begriffen wird, eingegriffen werden darf. Worum es aber dem BVerfG bei seiner Abwägung außerhalb des Bereichs der Freiheitsrechte geht, was Abwägung hier ist und wie sich das bisher erkennbar gewordene Abwägungsmodell hier bewährt, sind die Fragen, von denen die Durchsicht geleitet wird. 4.1 Das Reden des Bundesverfassungsgerichts von Widerstreit und Spannung: Begründungsersatz, Begründungsornament oder Exposition einer Dogmatik des Gebots der Rechtssicherheit? Die Entscheidungen zum Gebot der Rechtssicherheit werden allerdings erst i m Fortgang der Rechtsprechung Abwägungsentscheidungen. Die erste Entscheidung argumentiert noch ganz anders 1 . Ein nordrheinwestfälisches Haftentschädigungsgesetz von 1949 hatte die Voraussetzungen geregelt, unter denen für Inhaftierungen zwischen 1933 und 1945 Ersatz verlangt werden konnte, und den Innenminister ermächtigt, i n einer Verordnung die Verfahren und Instanzen einzurichten. Der ι B V e r f G E 2, 380. 7 Schlink

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4 A b w . außerhalb der Freiheitsrechte — Rspr. zur Rechtssicherheit

Innenminister bildete noch i m selben Jahr Ausschüsse und eine Kammer für Haftentschädigung, glich das Verfahren dem der Verwaltungsgerichte an und eröffnete nach der Beschwerde bei der Kammer die Klage vor dem Verwaltungsgericht. Nicht angefochtene Beschlüsse der Ausschüsse und der Kammer wurden aufgrund der Verordnung des Innenministers m i t einer Bescheinigung der Rechtskraft versehen. Unter den Entschädigungsberechtigten wurden die m i t Rechtskraftbestätigung versehenen Beschlüsse als endgültige Zahlungstitel angesehen. Der Innenminister dagegen beanspruchte das Recht, die Beschlüsse nochmals zu überprüfen, und lehnte bei seines Erachtens den Voraussetzungen des Gesetzes nicht entsprechenden Beschlüssen die Zahlung ab. I h m ging es darum, eine einheitliche und der erst allmählich konsolidierten Verwaltungsrechtsprechung entsprechende A n wendung des Haftentschädigungsgesetzes zu erreichen. Diese Praxis des Innenministers wurde 1951 durch ein Beanstandungsgesetz abgesichert, das ausdrücklich regelte, der Innenminister könne Verfahren durch Beanstandung wieder i n Gang bringen, wenn nach seiner pflichtgemäßen Überzeugung Beschlüsse zu Unrecht eine Haftentschädigungssumme festgesetzt oder versagt hätten. Die Regelung wurde dem BVerfG vorgelegt, das nicht etwa einen Widerstreit zwischen den Geboten der Rechtssicherheit und der materiellen Gerechtigkeit oder Richtigkeit von Entscheidungen sieht, das nicht abwägt zwischen diesen Geboten oder zwischen dem Vertrauen des Entschädigten i n den Bestand des Entschädigungsbeschlusses einerseits und andererseits dem Interesse des Staates an einheitlicher und richtiger Entschädigungspraxis. Das BVerfG läßt einfach die vorgelegte Regelung am Gebot der Rechtssicherheit scheitern. M i t Rechtskraftbescheinigung versehene Beschlüsse der Haftentschädigungsbehörden verdienten denselben Respekt wie rechtskräftige Entscheidungen der Verwaltungsgerichte. Bei Gerichtsentscheidungen verbiete es das Gebot der Rechtssicherheit, einen abgeschlossenen Fall aus Gründen aufzurollen, die nach althergebrachter und unbestrittener Rechtsauffassung zur Begründung eines Wiederaufnahmeverfahrens nicht geeignet seien. U m der Rechtssicherheit willen müßten insoweit also unrichtige Entscheidungen und Normverletzungen hingenommen werden. Das Beanstandungsgesetz sei i n seiner Erweiterung der Wiederaufnahmegründe mit dem Gebot der Rechtssicherheit unvereinbar und daher nichtig. Warum läuft diese Argumentation so einfach? K a m es dem BVerfG schlicht noch nicht i n den Sinn, Rechtssicherheit i m Widerstreit mit materieller Gerechtigkeit oder Richtigkeit und diesen Widerstreit als Abwägungsaufgabe zu sehen? Die A n t w o r t auf die Frage ist wie diese selbst ein Vorgriff auf das, was erst die Verfolgung des Arguments

4.1 Reden des B V e r f G v o n Widerstreit u n d Spannung

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vom Widerstreit i n der Rechtsprechung des BVerfG zeigt: Je unbedingter i n verschiedene Richtungen weisende Gebote verstanden werden, desto leichter geraten sie für dieses Verständnis i n Widerstreit. Hätte das BVerfG i m Urteil zum Haftentschädigungsgesetz Rechtssicherheit als Verbot jeder erneuten, materielle Gerechtigkeit oder Richtigkeit als Verbot jeder ungerechten und unrichtigen Entscheidung aufgefaßt, dann hätte sich der Eindruck eines Widerstreits aufgedrängt. Dann hätte es weiter nahegelegen, i n die folgende Argumentationsfalle zu stolpern: Werden zu einem Regelungsproblem mehrere Regelungsgesichtspunkte so unbedingt aufgefaßt, daß sie notwendig i n Widerstreit zueinander geraten, dann kann dies suggerieren, es sei eben jede Regelung des Problems gleich unvollkommen und unbefriedigend. Gegen jede Regelung läßt sich ein Gesichtspunkt einwenden, und für jede Regelung läßt sich ein Gesichtspunkt geltend machen. Die Entscheidung erscheint dadurch beliebig, und der wenig präzise Begriff der Abwägung bietet sich an, die Beliebigkeit zu kaschieren und der Entscheidung den Schein inhaltlicher Legitimität zu geben. Wenn das BVerfG i m Urteil zum Haftentschädigungsgesetz diese Argumentationsfalle vermeidet, wenn es weder von Widerstreit noch von Abwägung redet, dann wegen der Fassung, die es dem Gebot der Rechtssicherheit gibt. Rechtssicherheit heißt für das BVerfG nicht Verbot jeder Wiederaufnahme, sondern Verbot einer Wiederaufnahme aus Gründen, die nach der hergebrachten und unbestrittenen Rechtsauffassung als Wiederaufnahmegründe nicht taugen. Das BVerfG verwendet also einen durch Herkommen und Anerkennung schon vermittelten Begriff der Rechtssicherheit, einen Begriff, i n dem der Widerstreit bereits ausgetragen ist. Bei i h m muß weder von Widerstreit geredet noch abgewogen werden, sondern kann i n einfacher subsumtiver Argumentation eine Verletzung des Rechtssicherheitsgebots überprüft werden. Die nächste Entscheidung zum Grundsatz der Rechtssicherheit ist das Urteil zu A r t . 117 I 2 . Ein OLG hielt diese Grundgesetzbestimmung für nichtig, w e i l der Grundsatz der Rechtssicherheit verletzt sei, wenn nach Ablauf des bestimmten Datums bei Fehlen eines Anpassungsgesetzes die Gerichte die empfindliche Gesetzeslücke i m Ehe- und Familienrecht ausfüllen würden. Das BVerfG bejaht die Möglichkeit verfassungswidriger Verfassungsbestimmungen; gerade auch die Verletzung der Rechtssicherheit könne dem Verfassungsgesetzgeber nur bis zu einer bestimmten Grenze gestattet sein. „Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, daß das Prinzip der Rechtssicherheit m i t der Forderung nach materialer Gerechtigkeit häufig i n Widerstreit liegt und daß es i n erster Linie Aufgabe des Gesetzgebers sein 2 B V e r f G E 3, 225. 7·

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4 A b w . außerhalb der Freiheitsrechte — Rspr. zur Rechtssicherheit

muß, einen solchen Widerstreit bald nach der Seite der Rechtssicherheit, bald nach der Seite der materialen Gerechtigkeit h i n zu entscheiden. Geschieht dies ohne W i l l k ü r , so kann ein solches Verfahren nicht beanstandet werden. E i n legitimer Grund, die Rechtssicherheit i n gewissem Umfang und für gewisse Zeit einzuschränken, w i r d für den Gesetzgeber insbesondere dann gegeben sein, wenn er solche Einschränkungen u m der Verwirklichung materialer Gerechtigkeit w i l l e n selbst setzt oder doch hinnimmt. Das ist hier geschehen3." Hier zeigt sich zwar nicht die oben erwähnte Argumentationsfalle. Aber das Argument vom Widerstreit hat genau den Stellenwert, den auch die Argumentationsfalle haben kann. Denn diese ist Falle nicht nur für das BVerfG bei seiner eigenen Argumentation, sondern auch und gerade für Argumente der K r i t i k . Das kann gerade die Absicht sein, daß durch Konstruktion eines Widerstreits die Alternativen einer Regelung als ebenso unvollkommen wie diese erscheinen, daß dadurch die Regelung gegen kritische Alternativen und Argumente immunisiert und legitimiert wird. Zu einer solchen billigen Legitimation dient auch i m Urteil zu A r t . 1171 das Argument vom Widerstreit. Das BVerfG untersucht aufwendig die Möglichkeit verfassungswidriger Verfassungsbestimmungen und seine Zuständigkeit zu entsprechender Prüfung. Nachdem es die Möglichkeit bejaht und sich die Zuständigkeit zugesprochen hat, mag es die Frage der Verfassungswidrigkeit von A r t . 117 I nicht einfach darum verneinen, w e i l die durch A r t . 1171 eröffnete Freiheit richterlichen Entscheidens überhaupt nicht aus dem üblichen Freiraum richterlicher Rechtsfindung fällt. Das führt das BVerfG zwar auch aus, darüber hinaus aber sucht es ein affirmatives Verhältnis zu A r t . 117 I, w i l l diese Bestimmung nicht nur als Inhalt der Verfassung akzeptieren, sondern zusätzlich legitimieren. Dieser Legitimation dient das Argument vom Widerstreit, von dem ausgehend das BVerfG dem Verfassungsgesetzgeber schließlich bestätigt, er habe eine „ w o h l erwogene und sachlich durchaus vertretbare Entscheidung" getroffen 4 . Dieser Verwendung des Arguments vom Widerstreit ist eine andere verwandt, bei der das Argument weniger deutlich eine legitimatorische, mehr eine schmückende Bedeutung hat und allenfalls durch seine nichtssagende Gefälligkeit die Eingängigkeit der Entscheidungsbegründung verstärkt. M i t Verfassungsbeschwerden waren Revisionsurteile angegriffen worden, die von der Möglichkeit Gebrauch gemacht hatten, gemäß § 354 StPO an ein anderes Gericht zurückzuverweisen 5 . Die Beschwerdeführer trugen vor, § 354 enthalte i n Zuständigkeitsfragen vermeidbare Unbestimmtheiten und sei daher m i t A r t . 10112 unver3 BVerfGE 3, 225 (237/238). 4 BVerfGE 3. 225 (239). 5 BVerfGE 20. 336.

4.1 Heden des B V e r f G von Widerstreit u n d Spannung

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einbar. Das BVerfG stellt seine Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von § 354 StPO unter die Aussage: „Vor allem aber darf nicht außer acht gelassen werden, daß sich bei der Regelung gerichtlicher Zuständigkeiten die Spannung zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit auswirkt 6 ." Aber die Überprüfung führt dann nicht etwa diese als Leitmotiv angekündigte Aussage durch, sondern den ganz anderen Gedanken, das Gebot der Rechtssicherheit, wie i n A r t . 10112 enthalten, sei dann unmaßgeblich, wenn es u m den Fortgang eines Verfahrens nach der Entscheidung des Revisionsgerichts gehe. Der Einfluß auf das Ergebnis eines bestimmten Gerichtsverfahrens, den A r t . 10112 allen nichtgerichtlichen Instanzen verbiete, sei den Revisionsgerichten gerade aufgetragen. Das heißt also, daß § 354 StPO in einer Spannung zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit gar nicht steht und daß das Reden von dieser Spannung bloßes Begründungsornament ist. I m Widerstreit zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit gibt das BVerfG dem Gesetzgeber auf, das Gewicht dieser Gebote abzuwägen und zu entscheiden, welches Gebot jeweils den Vorrang verdient 7 . Die K r i t i k am Argument vom Widerstreit gilt hier oft auch dem Reden des BVerfG von Abwägung. I m Beschluß zur Gerichtskontrolle von Zweitbescheiden i m Wiedergutmachungsrecht 8 bringt das Reden des BVerfG von Abwägung zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit die Begründung nicht etwa voran, sondern stützt sie allenfalls legitimatorisch und schmückend ab. Den ungeschriebenen Rechtssatz, wonach die Behörde nach Ermessen einen unanfechtbaren Bescheid zugunsten des Betroffenen abändern kann, erklärt das BVerfG m i t der folgenden Erläuterung für verfassungsrechtlich unbedenklich: „Der Gesetzgeber ist berechtigt, bei der Regelung der Rechtsbeständigkeit unanfechtbarer Verwaltungsakte zwischen dem Prinzip der Rechtssicherheit und dem Grundsatz der Gerechtigkeit abzuwägen . . . Darüber hinaus hat die Rechtsprechung den ungeschriebenen Rechtssatz entwickelt, daß . . . die Verwaltungsbehörde grundsätzlich die Möglichkeit hat, Verwaltungsakte nach deren Unanfechtbarkeit zugunsten des Betroffenen zu ergänzen 9 ." Anschließend fordert das BVerfG, die Ermessensausübung solle bestimmt sein durch „die Pflicht der behördlichen Praxis, zwischen dem Gebot der Rechtssicherheit und der aus dem Gedanken der materiellen Gerechtigkeit entspringenden Forderung nach voller gesetzlicher Leistung abzuwägen" 10 , dabei komme i m Wiedergutmachungsrecht dem Gebot materieller 6 BVerfGE 7 BVerfGE β BVerfGE 9 BVerfGE 10 BVerfGE

20, 336 (344). 15, 313 (319). 27, 297. 27, 297 (305/306). 27, 297 (306).

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4 A b w . außerhalb der Freiheitsrechte — Rspr. zur Rechtssicherheit

Gerechtigkeit das größere Gewicht zu. Aus der Befugnis der Behörde zur Ermessensentscheidung folgert das BVerfG das Recht des Betroffenen auf fehlerfreie Ermessensentscheidung und die Durchsetzbarkeit dieses Rechts vor Gericht. Gegen das Ergebnis, daß auch Zweitbescheide gerichtlich überprüfbar sind, könne nicht eingewandt werden, es verändere die vom Gesetzgeber vorgenommene Verteilung der Gewichte zwischen den Geboten der Rechtssicherheit und der materiellen Gerechtigkeit. Denn durch die Gerichtskontrolle des Zweitbescheids könne i n eine unter dem Gebot der Rechtssicherheit zu schützende Bestandskraft des Erstbescheids gar nicht mehr eingebrochen werden. Der Einbruch sei schon vor der Zulassung gerichtlicher Uberprüfung m i t der Anerkennung der behördlichen Befugnis zur Änderung des Erstbescheids geschehen. Die Argumentation des BVerfG i m Beschluß zum Zweitbescheid ähnelt der des vorausberichteten Beschlusses zu § 354 StPO. Wieder w i r d am Anfang der Entscheidungsgegenstand zum rechtsstaatlichen Grundproblem überhöht: Das BVerfG sieht i h n diesmal zwar nicht ausdrücklich i m Widerstreit, i n der Spannung zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit, aber jedenfalls nur i n der Abwägung dieser Gebote zu bewältigen. Wieder erweist sich am Ende das Grundproblem als nicht wirklich bedeutsam: Ebenso wie für das BVerfG § 354 StPO schließlich gar nicht mehr i n der Spannung zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit steht, so ergibt sich dem BVerfG die Gerichtskontrolle der Zweitbescheide am Schluß zwanglos und ohne Gerechtigkeits- und Rechtssicherheitsprobleme aus der behördlichen Befugnis zur Änderung der Erstbescheide, einer überkommenen, anerkannten und verfassungsrechtlich unbedenklichen Befugnis.

I n keiner der hier betrachteten Entscheidungen führte das Reden von Widerstreit, Spannung und Abwägung geradezu i n die Irre. I n anderem als dem Zusammenhang von Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit läßt sich jedoch beobachten, wie es das eigentliche Problem legitimatorisch entstellt und wie das Begründungsornament i n die Argumentationsfalle umschlägt. Das Argument vom Widerstreit taucht erstmals i m ersten Urteil zum Südweststaat 11 auf. Das Land Baden hatte ein die Neugliederung regelndes Bundesgesetz angegriffen, das die Bildung des Südweststaats auch für den Fall vorsah, daß die Bevölkerung des Landes Baden gegen den Südweststaat, die Mehrheit i m übrigen Gebiet des zu u BVerfGE 1, 14.

4.1

eden des B V e r f G von Widerstreit u n d Spannung

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bildenden Südweststaats für diesen entscheidet. M i t dem Angriff wurde vorgetragen, der Wille des badischen Staatsvolks dürfe zwar durch einen Volksentscheid des gesamten Bundesvolks gebrochen werden, i m übrigen aber schütze das demokratische Selbstbestimmungsrecht das badische V o l k davor, majorisiert zu werden und gegen seinen Willen i m Südweststaat aufzugehen. Das BVerfG erkennt die Existenz des badischen Staatsvolks und sein demokratisches Selbstbestimmungsrecht an. Es sieht jedoch i n der Stellung des Gliedstaats i m Bundesstaat das föderalistische 12 und das demokratische Prinzip einander widerstreiten. I n einer gewissen Einschränkung beider Prinzipien müsse der Ausgleich gefunden werden. I h n verwirkliche das Neugliederungsgesetz, denn es bringe das Interesse der Einheit zur Geltung und wahre doch das demokratische Prinzip i m Entscheidungsrecht der Bevölkerung des Neugliederungsgebiets. I n dieser Argumentation des BVerfG 1 3 ist das Muster der oben erwähnten Argumentationsfalle zu erkennen. Das BVerfG erkennt das badische Selbstbestimmungsrecht zunächst an, faßt es dann aber lediglich als Aspekt eines umfassenden demokratischen Prinzips, sieht dieses i n Widerstreit mit dem föderalistischen Prinzip geraten und darum auf Einschränkung angelegt. A u f der höheren Ebene dieses Widerstreits kann es die Nichtanerkennung des badischen Selbstbestimmungsrechts als bloße Einschränkung des Prinzips ausgeben und scheinbar legitimieren. I m U r t e i l zur Verfassungswidrigkeit der SRP 1 4 stand als letztes Problem zur Entscheidung, ob die Abgeordneten der SRP ihre Mandate verlieren 1 5 . Gegen den Verlust spricht A r t . 38, die Stellung der Abgeordneten als Vertreter des ganzen Volkes. Dementsprechend bietet sich als Lösung des Problems an, gemäß A r t . 21 die Partei für verfassungswidrig zu erklären und aufzulösen, aber den Abgeordneten das Mandat zu belassen. Diese naheliegende Lösung entnimmt dem grundgesetzlichen Nebeneinander von A r t . 21 und A r t . 38, daß der Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung durch ein Parteiverbot nicht weiter gehen kann, als ihn das Grundgesetz i n A r t . 21 zuläßt, und daß er seine Grenze finden muß, wo andere Grundgesetzbestimmungen wie A r t . 38 andere Positionen als nicht oder nur unter besonderen Voraussetzungen entziehbar schützen. Das BVerfG löst die getrennten Schutzbereiche von Art. 21 und A r t . 38 auf, indem es die beiden Bestimmungen i n einem Spannungsverhältnis sieht und als miteinander eigent12 Abweichend von seinem sonstigen Sprachgebrauch n i m m t das BVerfG, wenn es hier v o m föderalistischen Prinzip spricht, nicht die Eigenstaatlichkeit der Länder, sondern gerade deren durch die bundesstaatliche Ordnung bedingtes Zusammengeschlossen- u n d Eingegliedertsein i n Bezug. 13 B V e r f G E 1, 14 (50). 14 B V e r f G E 2, 1. is B V e r f G E 2, 1 (72 ff.).

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4 A b w . außerhalb der Freiheitsrechte — Rspr. zur

echtssicherheit

lieh unvereinbar ausgibt. Es steigert A r t . 21 zur These, Abgeordnete seien Parteiexponenten, A r t . 38 zur Gegenthese, sie seien Vertreter des ganzen Volkes und gerade nicht einer Partei. Sind so die Bestimmungen miteinander unvereinbar, dann muß das BVerfG sie erst vereinbar machen und kann bestimmen, wie weit das Parteiverbot über A r t . 21 und der Schutz des A r t . 38 wirken. Das BVerfG sieht den Sinn eines Parteiverbots darin, daß die i n der Partei vertretenen Ideen selbst aus dem Prozeß politischer Willensbildung ausgeschieden werden, und kann folgern, der Mandatsverlust ergebe sich darum zwingend aus der Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Partei. Schließlich düpiert es noch den, der den Ausführungen zur Spannung zwischen A r t . 21 und A r t . 38 und zur Legitimation des Mandatsverlusts aus dieser Spannung gefolgt ist: A r t . 38 soll das Ergebnis geradezu bestätigen, denn der Abgeordnete einer verfassungswidrigen Partei könne ohnehin nicht Vertreter des ganzen Volkes sein. Damit w i r d das Spannungsverhältnis wieder aufgehoben. Nachdem es seine legitimatorische Aufgabe erfüllt hat, kann das Argument von der Spannung fallengelassen werden. Programmatisch äußert sich das BVerfG i m InvestitionshilfegesetzU r t e i l zum Menschenbild des Grundgesetzes: „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum-Gemeinschaft i m Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten 16 ." Dem seit dem Elfes-Urteil 1 7 geläufigen Verständnis von A r t . 2, das zur verfassungsmäßigen Ordnung alle formell und materiell verfassungsmäßigen Rechtsnormen rechnet, sind die Äußerungen zur Spannung zwischen Individuum und Gemeinschaft i m InvestitionshilfegesetzU r t e i l schmückendes Beiwerk, dessen es eigentlich nicht bedurft hätte. Aber auch diese Spannung w i r d an anderer Stelle vom BVerfG legitimatorisch eingesetzt, wenn es etwa dem Einwand, das m i t einem Eingriff erstrebte Ziel könne auch m i t anderen M i t t e l n erreicht werden, entgegenhält, er würde „verkennen, daß in der unaufhebbaren und grundsätzlichen Spannungslage zwischen dem Schutz der Freiheit des einzelnen und den Anforderungen einer sozialstaatlichen Ordnung dem Gesetzgeber ein weiter Raum für freie Gestaltung verbleibt, innerhalb dessen er Maß und A r t der i m Interesse des Gemeinwohls notwendigen oder doch vertretbaren Eingriffe i n die Freiheit zu bestimmen h a t " 1 8 .

iß BVerfGE 4, 7 (15/16). 17 BVerfGE 6, 32. 18 BVerfGE 10, 354 (371).

4.1

eden des B V e r f G von Widerstreit u n d Spannung

105

Daß es den Widerstreit von Geboten, Zwecken, Forderungen und Gesichtspunkten gibt, soll m i t alldem nicht geleugnet werden. Entscheidend ist aber das folgende: Der A u f weis eines Widerstreits oder einer Spannung kann nicht eine Problemlösung legitimieren, er kann nur ein Problem aufzeigen. Selbst beim Aufzeigen eines Problems w i r d er mißbraucht, wenn er dazu dient, eine im Grundgesetz schon getroffene Problemlösung aufzurollen und damit den Weg für eine neue Problemlösung freizumachen. Freilich können Spannungen und Probleme, vor denen Verfassungsgebung steht, bewußt und so Verfassungsbestimmungen als Problemlösungen deutlich gemacht werden. Aber das befreit die Verfassungsrechtsprechung nicht von ihrer Verpflichtung auf eben diese Problemlösungen. Nichts ist einzuwenden, wenn über die Begriffe der Spannung oder des Widerstreits im Grundgesetz noch nicht gelöste Probleme aufgezeigt werden. Durch einen solchen A u f weis ist aber noch nicht viel gewonnen. Denn aus der Erkenntnis von Widerstreit und Problem ergibt sich nicht dessen Lösung, folgt weder ein besonderes Ermessen des Gesetzgebers noch die Legitimation von Problemlösungen schon dann, wenn sie jedenfalls einen der widerstreitenden Gesichtspunkte, Forderungen, Zwecke oder Gebote zur Geltung bringen. Der Aufweis eines Widerstreits ist nur der Einstieg i n ein Problem und stellt dessen Lösung erst zur Aufgabe. Welche Lösungsstrategien Problemen des Widerstreits zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit oder Richtigkeit angemessen sind, ist bei der weiteren Durchsicht der Rechtsprechung des BVerfG zu diskutieren. Soviel läßt sich jedoch vorweg als These fassen: Geraten bei einem Regelungsproblem gleichrangige Gebote, Zwecke, Forderungen oder Gesichtspunkte i n Widerstreit, dann darf m i t der Regelung ein Gebot u m der Befolgung eines anderen w i l l e n nicht mehr hintangestellt werden, als dieses es zu seiner Befolgung tatsächlich verlangt. Schwächer als dieses Notwendigkeitskriterium ist das Geeignetheitskriterium. Danach darf eine Regelung ein Gebot unter Berufung auf ein widerstreitendes anderes nur dann zurückstellen, wenn dabei das bevorzugte Gebot auch w i r k l i c h befolgt wird. Noch eine andere These sei aufgestellt: I m Widerstreit verfassungsrechtlicher Gebote darf das eine u m eines widerstreitenden anderen w i l l e n zwar zurückgesetzt, nicht aber preisgegeben werden. Kann also die Lösung eines Regelungsproblems mehr der Forderung nach Rechtssicherheit oder mehr der nach materieller Gerechtigkeit folgen, so muß die Zurückstellung der einen Forderung tatsächlich für die Durchsetzung der anderen geeignet und notwendig sein. I n Verfolgung der Forderung nach materieller Gerechtigkeit muß Mindestgeboten materieller Gerechtigkeit genügt und darf umgekehrt die bei

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4 A b w . außerhalb der Freiheitsrechte — Rspr. zur Rechtssicherheit

der Verfolgung der Forderung nach materieller Gerechtigkeit i n Kauf genommene Rechtsunsicherheit nicht zum Rechtschaos werden. Die Thesen wollen Grenzen der Freiheit setzen, die das BVerfG dem Gesetzgeber zuerkennt: „ . . . sowohl der Grundsatz der Rechtssicherheit wie das Prinzip der Gerechtigkeit i m Einzelfall haben Verfassungsrang; die Rechtssicherheit ist ebenso wie die Gerechtigkeit wesentlicher Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips, einer der Leitideen des Grundgesetzes . . . Es stand daher dem Gesetzgeber frei, welchem der beiden Grundsätze er den Vorzug geben wollte 1 9 ." Das BVerfG führt dies zu der Frage aus, welche Wirkungen die Nichtigerklärung einer Norm für die Hoheitsakte haben soll, die auf diese Norm gestützt wurden und nun nicht mehr anfechtbar sind, und nennt § 79 BVerfGG als Beispiel für eine gelungene, ohne Verletzung des Grundgesetzes dem Gebot der Rechtssicherheit den Vorrang einräumende Antwort. Zu Grenzen der gesetzgeberischen Freiheit äußert sich das BVerfG dabei nicht. N u n w i r f t § 79 BVerfGG i m Hinblick auf die oben aufgestellten Thesen auch keine Probleme auf: Die Verfolgung von Rechtssicherheit verlangt hier tatsächlich die Inkaufnahme von Ungerechtigkeiten oder U n richtigkeiten, Mindestgeboten der Gerechtigkeit ist durch § 79 I und I I 2 genügt. Aber auch darum ist bei der Betonung der gesetzgeberischen Freiheit das Nichterwähnen ihrer Grenzen unproblematisch, weil diese i n den Thesen noch zu abstrakt und unverbindlich gefaßt sind, als daß sie i n der Normallage des Rechtsstaats aktuell werden könnten. So ist die Vorstellung eines Rechtschaos i n dieser Normallage zu blaß, als daß sich von ihr das Gebot der Rechtssicherheit abheben und dadurch schon konkretisieren ließe. Erst dessen Übersetzung i n ein Gebot der Sicherung von Erwartungen, Vertrauen und erlangten Positionen ermöglicht die Konkretisierung und nähere Bestimmung der Grenzen, die dem Gesetzgeber bei seinen Entscheidungen durch das Gebot der Rechtssicherheit gesetzt sind. I n der Rechtsprechung zum Vertrauensschutz und zur Verfassungswidrigkeit von Rückwirkungen werden für das BVerfG das Gebot der Rechtssicherheit, sein Widerstreit m i t dem Gebot materieller Gerechtigkeit oder Richtigkeit und anderen Zwecken des Gesetzgebers sowie dieser Widerstreit als Abwägungsaufgabe konkret. 4.2 Entwicklung der Rechtsprechung zur Verfassungswidrigkeit rückwirkender Gesetze Die Rechtsprechung des BVerfG zur Verfassungswidrigkeit rückwirkender Gesetze läßt eine Entwicklung i n drei Abschnitten erkennen. I m ersten Abschnitt w i r d das Rückwirkungsproblem von Fall zu Fall angegangen. Neben bloßen Verweisen auf frühere Entscheidungen » BVerfGE

, 1

(1).

4.2 Rspr. zur Verfassungswidrigkeit rückwirkender Gesetze

107

kommen Grundsätze der Behandlung des Rückwirkungsproblems kaum zur Darstellung. Immerhin lassen sich i n den Entscheidungen dieses Abschnitts eine Tendenz und ein Argumentationsmuster ausmachen. Die Tendenz geht dahin, rückwirkend belastende Gesetze zuzulassen. I n frühen Entscheidungen betont das BVerfG, außerhalb des Strafrechts sei das rückwirkende Inkrafttreten von Gesetzen nicht schlechthin ausgeschlossen20. Die Vorstellung, durch die gesetzliche Einräumung von Ansprüchen gegen den Staat entstünden vor rückwirkender Beeinträchtigung geschützte Gläubigerpositionen, weist es zurück 21 . Der Forderung eines Rückwirkungsverbots hält es auch das Gebot der Gerechtigkeit als ebenso wie das der Rechtssicherheit zum Rechtsstaat gehörend entgegen. I n der Gesetzgebung seien beide Gebote nicht immer gleichmäßig zu berücksichtigen, und unter Umständen gebiete die Gerechtigkeit geradezu den Erlaß eines Gesetzes m i t Rückwirkung 2 2 . Das i n den Entscheidungen dieses Abschnitts verwandte Argumentationsmuster paßt zu der kasuistischen und sich allgemeiner Aussagen eher enthaltenden Behandlung des Rückwirkungsproblems. Das BVerfG argumentiert ad hoc m i t Fallkonstellationen. Es baut eine Konstellation auf, u m auszuführen entweder, daß bei ihr ein Rückwirkungsverbot vielleicht zu bejahen sei, daß gerade sie aber nicht vorliege 2 3 , oder, daß bei ihr ein Rückwirkungsverbot jedenfalls keine Berechtigung habe, eben sie jedoch gegeben sei 24 . I n der Entscheidung, i n der das BVerfG erstmals eine Gesetzesbestimmung wegen verfassungswidriger Rückwirkung für nichtig erklärt, setzt es m i t einer Zusammenfassung dieser Konstellationen zu einer Dogmatik des Rückwirkungsproblems immerhin für das Steuerrecht an* 5 . Dabei hebt es die Fallkonstellationen, für die es ein Rückwirkungsverbot jedenfalls ablehnte, von dem neuen Grundsatz ab, daß belastende Steuergesetze ihre Wirksamkeit nicht auf abgeschlossene Tatbestände erstrecken dürfen. Rechtssicherheit bedeute für den Bürger vor allem Vertrauensschutz. Der Bürger werde i n seinem Vertrauen verletzt, wenn der Gesetzgeber an verwirklichte Tatbestände nachträglich Rechtsfolgen knüpft, von denen der Bürger bei der Verwirklichung und seinen entsprechenden Dispositionen noch nicht ausgehen konnte. Nicht gerechtfertigt und darum nicht 20 B V e r f G E 2, 237 (264 ff.); 3, 58 (150). 2 * B V e r f G E 7, 129 (152); 11, 64 (72). 22 B V e r f G E 7, 89 (92/93); 7, 129 (151). 2 3 B V e r f G E 1, 264 (280). 2 4 B V e r f G E 2, 237 (266); 7, 89 (93); 7, 129 (152). 25 B V e r f G E 13, 261. Schon i n einem u m einige Wochen früher datierten Beschluß (BVerfGE 13, 206) erklärt es eine rückwirkende Gesetzesbestimmung f ü r nichtig. Aber i n einer Menge von u m dieselbe Zeit ergangenen Entscheidungen ist das später datierte U r t e i l die eigentliche L e i t - u n d Erstentscheidung, an die auch der früher datierte Beschluß ausdrücklich anknüpft.

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4 A b w . außerhalb der Freiheitsrechte — Rspr. zur Rechtssicherheit

zu schützen sei jedoch das Vertrauen i n den wie beschrieben entwickelten, nun also unter einem Gesichtspunkt zusammengefaßten Fallkonstellationen. Der Begriff des Vertrauens w i r d zum Schlüsselbegriff des Rückwirkungsproblems. Unter diesem Begriff bringt der zweite Rechtsprechungsabschnitt m i t dem Einbezug der Fälle sogenannter unechter Rückwirkung eine Ausweitung des Rückwirkungsproblems. Die Unterscheidung zwischen echter und unechter Rückwirkung taucht schon i n einem Beschluß des ersten Abschnitts auf 2 6 . I n i h m sieht das BVerfG echte oder retroaktive Rückwirkung vorliegen, wenn ein Gesetz nachträglich ändernd i n abgeschlossene Tatbestände eingreift, unechte oder retrospektive Rückwirkung, wenn das Gesetz auf noch nicht abgeschlossene, aber schon begonnene Tatbestände einwirkt. I n diesem Beschluß dient die Unterscheidung noch dazu, das Rückwirkungsproblem zu begrenzen; das BVerfG stellt fest, es entstehe i n Fällen unechter Rückwirkung gerade nicht. I n den Entscheidungen des zweiten Abschnitts steht dagegen unechte Rückwirkung als gleichbedeutendes Problem neben der echten 27 . Vor dem inzwischen gewonnenen bundesverfassungsgerichtlichen Ausgangspunkt, daß Rechtssicherheit für den Bürger vor allem Vertrauensschutz bedeutet, verblaßt der Unterschied. So kann das BVerfG echte und unechte Rückwirkung i n einem gemeinsamen Problemaufriß erfassen: „Das Vertrauen, das der Staatsbürger dem ordnungsgemäß gesetzten Recht entgegenbringen darf, ermöglicht es ihm, auf längere Zeit zu planen und zu disponieren, also auf die Beständigkeit und Berechenbarkeit des Rechts zu bauen. I n diesem Vertrauen w i r d der Bürger getäuscht, wenn der Gesetzgeber an zurückliegende oder i n der Entwicklung befindliche Tatbestände andere, und zwar ungünstigere Folgen knüpft als diejenigen, auf welche sich der Betroffene bei seinen Dispositionen hatte einrichten dürfen 2 8 ." Das BVerfG geht i m zweiten Abschnitt Fälle echter Rückwirkung i n Verfolgung des erwähnten dogmatischen Ansatzes so an, daß es nach Betonung der inzwischen auf das Steuerrecht nicht mehr beschränkten 29 Regel von der Unzulässigkeit verschlechternder Rückw i r k u n g die unter dem Gesichtspunkt ungerechtfertigten Vertrauens als Ausnahmetatbestände zusammengefaßten Fallkonstellationen durchmustert 3 0 . Auch bei der unechten Rückwirkung gibt es wiederkehrende 26 27

BVerfGE 11, 139 (145/146).

BVerfGE 14, 288 (297 ff.); 18, 135 (142 ff.); 22, 241 (248 ff.); 24, 220 (229 ff.); 25, 142 (154 f.). 28 BVerfGE 18, 135 (144). 28 BVerfGE 18, 429 (439); 24, 75 (98 ff.). 80 Vgl. die i n der letzten A n m e r k u n g angeführten Entscheidungen u n d ferner BVerfGE 19, 187 (195 ff.); 22, 330 (347 ff.).

4.2 Rspr. zur Verfassungswidrigkeit rückwirkender Gesetze

109

Falltypen, auf die das BVerfG die Anwendung des Rückwirkungsverbots unter demselben Gesichtspunkt ablehnt 3 1 . Aber als seinen dogmatischen Ansatz expliziert das BVerfG bei Fällen unechter Rückwirkung nicht ein Regel-Ausnahme-Verhältnis, sondern das Abwägungsgebot: „Der Staatsbürger kann sich auf Vertrauensschutz als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips nicht berufen, wenn sein Vertrauen auf den Fortbestand einer bestimmten gesetzlichen Regelung eine Rücksichtnahme durch den Gesetzgeber billigerweise nicht beanspruchen kann. Hierfür ist einerseits das Ausmaß des Vertrauensschadens, andererseits die Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für das Wohl der Allgemeinheit maßgeblich. Sie sind gegeneinander abzuwägen 32 ." Als Ende des zweiten Abschnitts kann die Entscheidung genommen werden, i n der das BVerfG den Vertrauensschutz, den es inzwischen als m i t dem Einbezug der Fälle unechter Rückwirkung wohl zu weit geraten empfindet, einzuschränken versucht. Noch einmal äußert es sich grundsätzlich zum Rückwirkungsproblem: „Der Eingriff i n einen abgeschlossenen, der Vergangenheit angehörenden Sachverhalt ist besonders einschneidend. Das Vertrauen i n den Fortbestand der Rechtslage muß daher stärker geschützt sein als bei einem Eingriff i n einen nicht abgeschlossenen, i n der Entwicklung befindlichen und noch einem Risiko ausgesetzten Sachverhalt. Dementsprechend ist eine echte Rückwirkung, von einigen anderen eng begrenzten Ausnahmefällen abgesehen, nur dann als zulässig angesehen worden, wenn zwingende, dem Gebot der Rechtssicherheit übergeordnete Gründe des gemeinen Wohls die Rückwirkung rechtfertigen . . . Demgegenüber ist bei einem Gesetz m i t unechter Rückwirkung das Vertrauen des einzelnen auf den Fortbestand einer gesetzlichen Regelung m i t der Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für das Wohl der Allgemeinheit abzuwägen; nur wenn die Abwägung ergibt, daß das Vertrauen auf die Sicherheit der bestehenden Lage den Vorrang verdient, ist die Rückwirkung unzulässig . . . 3 3 ." Indem i m Fall einer unechten Rückwirkung „lediglich die Anforderungen des Gemeinwohls m i t dem Ausmaß des Vertrauensschadens abzuwägen sind" 3 4 , soll also über eine Differenz der Prüfungsmethode die unechte Rückwirkung von der echten unterschieden und soll bei i h r der Vertrauensschutz eingeschränkt werden. Was als der dritte Rechtsprechungsabschnitt gekennzeichnet werden kann, hat ebenfalls an seinem Beginn die Tendenz zur Ausweitung des Vertrauensschutzes, am Ende den Versuch der Einschränkung. Das Versi B V e r f G E 32 B V e r f G E 25, 142 (154). 33 BVerfGE 34 B V e r f G E

13, 274 (278); 18, 135 (144); 19, 119 (127). 14, 288 (300), ähnlich BVerfGE 22, 241 (249); 24, 220 (230/231); 30, 250 (268). 30, 367 (391).

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4 A b w . außerhalb der Freiheitsrechte — Rspr. zur Rechtssicherheit

trauen des Bürgers w i l l das BVerfG nicht mehr nur i n Fällen echter und unechter Rückwirkung schützen 35 . Da, wo der Bürger i n den Bestand und Fortbestand einer Rechtslage vertraut, hält es nun allgemein die i m Wege der Abwägung zu beantwortende Frage für berechtigt, ob der Bürger vom Gesetzgeber eine Rücksichtnahme auf sein Vertrauen billigerweise erwarten darf 3 6 . Abwägung bleibt weiterhin auch eine den Fällen unechter Rückwirkung zugeordnete Prüfungsmethode 37 . Daneben beginnt sie, sich als Prüfungsmethode eines noch nicht klar bestimmten, tendenziell aber umfassenden sonstigen Vertrauensschutzes zu etablieren. Die i n diesem Rechtsprechungsabschnitt schließlich zu verzeichnende Einschränkung des Vertrauensschutzes erfolgt nicht über eine Unterscheidung und Einschränkung von Prüfungsmethoden, sondern durch eine einschränkende Fassung des Begriffs des Vertrauens. Für die Frage, ob der Bürger auf den Bestand einer Rechtslage vertrauen konnte oder ob er m i t ihrer Änderung rechnen mußte, kommt es nun dem BVerfG sogar für einen F a l l echter Rückwirkung „nicht auf die subjektiven Vorstellungen der einzelnen Betroffenen und ihre i n d i v i duelle Situation an, sondern darauf, ob die bisherige Regelung bei objektiver Betrachtung geeignet war, ein Vertrauen der betroffenen Personengruppe auf ihren Fortbestand zu begründen" 3 8 . Die Lehre des BVerfG von Rückwirkung und Vertrauensschutz sei auf ihrem damit erreichten Stand zusammenfassend dargestellt 39 . Das BVerfG unterscheidet vom stärkeren Vertrauensschutz bei der echten den schwächeren bei unechter Rückwirkung und von beidem einen sonstigen Vertrauensschutz. Belastende Gesetze mit echter Rückwirkung sind danach grundsätzlich unzulässig. Unter dem Gesichtspunkt nicht gerechtfertigten Vertrauens gibt es jedoch die Ausnahmetatbestände, daß erstens i n dem Zeitpunkt, auf den der Eintritt der Rechtsfolge vom Gesetz zurückbezogen wird, m i t dieser Regelung zu rechnen war, daß zweitens eine verworrene, lückenhafte oder offensichtlich systemwidrige Rechtslage rückwirkend geklärt oder eine nichtige Bestimmung durch eine gültige rückwirkend ersetzt w i r d und daß drittens der Schaden, der dem vom rückwirkend belastenden Gesetz Betroffenen entsteht, nur ganz unerheblich ist. Viertens hält das BVerfG es für möglich, daß zwingende Gründe des gemeinen Wohls dem Gebot der Rechtssicherheit übergeordnet sind und eine Rückwirkung rechtfertigen. Vor belastenden Gesetzen mit unechter Rückwirkung schützt das 35 3β 37 38

BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE

30, 30, 31, 32,

392 (401 ff.); 31, 185 (192f.). 392 (404). 94 (99); 31, 222 (228/229). 111 (123).

89 Vgl. dazu die Zusammenfassung, die das B V e r f G selbst i n B V e r f G E 13, 261 (271/272) u n d BVerfGE 30, 367 (387 ff.) gibt.

4.3 Widersprüche der Rspr.

111

BVerfG des Bürgers Vertrauen jedenfalls dann nicht, wenn dieses sich darauf richtet, daß der zu Beginn eines Veranlagungszeitraums geltende Steuertarif bis zum Ende des Veranlagungzeitraums unverändert bleibt oder daß steuerliche Vergünstigungen, die der Gesetzgeber aus währungs- oder konjunkturpolitischen Erwägungen gewährt hat, i n Zukunft aufrecht erhalten werden 4 0 . I m übrigen t r i t t es bei Fällen unechter Rückwirkung i n eine Abwägung zwischen den Anforderungen des Gemeinwohls und dem Ausmaß des Vertrauensschadens ein. M i t derselben Abwägung prüft es auch, wenn sich sonst die Frage eines Verstoßes gegen den i m Rechtsstaat zu gewährenden Vertrauensschutz stellt. 4.3 Widersprüche der Rechtsprechung und Problematik eines über das Strafrecht hinausgehenden Rückwirkungsverbots Wie Abwägung Probleme der Rückwirkung und des Vertrauensschutzes löst und welchen Stellenwert sie bei diesen Problemen neben den anderen Lösungstechniken des BVerfG hat, kann aus der gegebenen Darstellung freilich noch nicht erhellen. Denn die Stimmigkeit, die bei dieser Darstellung die Lehre des BVerfG von Rückwirkung und Vertrauensschutz i n ihrer Entwicklung und ihrem schließlichen Stand aufweist, ist um den Preis unkritischer Orientierung an den stereotypen Leitwendungen und formelhaften Grundsatzaussagen erkauft, mit denen das BVerfG seine Entscheidungspraxis i n einen systematischen Zusammenhang zu bringen sucht. Werden die Grundsatzformeln und Leitstereotypen des BVerfG m i t den Sachverhalten, die i h m vorlagen, und den Entscheidungen, die es getroffen hat, konfrontiert, dann zerbricht die nur scheinbare Systematik der bundesverfassungsgerichtlichen Lehre von Rückwirkung und Vertrauensschutz. Ansetzen kann die K r i t i k allerdings schon auf der Ebene der bundesverfassungsgerichtlichen Formeln. Das BVerfG findet für die Rechtfertigung echter Rückwirkung die Prüfformel, daß die Anforderungen des Gemeinwohls dem Vertrauensschutz vorgehen müssen, für die Rechtfertigung unechter Rückwirkung, daß der Vertrauensschutz vor den Anforderungen des Gemeinwohls nicht den Vorrang haben darf. Es balanciert also i n seinen Prüfformeln das rechtfertigende Verhältnis zwischen Vertrauensschutz und Anforderungen des Gemeinwohls i n 40 Vgl. die i n A n m e r k u n g 30 angeführten Entscheidungen. I m übrigen p r ü f t das B V e r f G auch bei Fällen unechter R ü c k w i r k u n g gelegentlich, ob einer der Ausnahmetatbestände zum Verbot der echten R ü c k w i r k u n g v o r liegt (vgl. BVerfGE 14, 288 [298]) u n d f ü h r t dann eine solche Entscheidung auch i n der Zusammenfassung seiner Lehre v o n der echten R ü c k w i r k u n g an (vgl. BVerfGE 30, 367 [389]).

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4 A b w . außerhalb der Freiheitsrechte — Rspr. zur Rechtssicherheit

der Weise verschieden, daß ein Gleichgewicht wohl bei unechter, nicht aber bei echter Rückwirkung zur Rechtfertigung ausreicht. Andererseits faßt es den Widerstreit zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit als Widerstreit zwischen zwei gleichwertigen Aspekten des Rechtsstaats. Indem es die Ausnahmen zu der Regel, daß belastende Gesetze mit echter Rückwirkung unzulässig sind, über Gerechtigkeit einführt 4 1 , rechtfertigt es echte Rückwirkung entgegen der Prüfformel m i t Anforderungen des Gemeinwohls, denen als Gerechtigkeitsanforderungen vor Vertrauensschutz als Rechtssicherheitsgebot ein Vorrang gerade nicht eignet. Die Prüfformel für die Rechtfertigung echter Rückwirkung und die andere Formel vom Widerstreit zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit lassen sich also miteinander nicht vereinbaren. Sie widersprechen sich, indem sie zu demselben Problem verschiedenes Gewichten und Balancieren verlangen. Geeignet zur Auflösung dieses Widerspruchs oder überhaupt ergiebiger als die Formeln mögen die vom BVerfG tatsächlich vollzogenen Gewichtungen erscheinen. Das BVerfG hat jedoch ein belastendes Gesetz m i t echter Rückwirkung nie damit gerechtfertigt, Anforderungen des Gemeinwohls gingen dem Vertrauensschutz vor. Wo es nach dem Durchmustern der anderen Ausnahmetatbestände die Frage nach zwingenden, vorrangigen Anforderungen des Gemeinwohls überhaupt noch stellt und dann verneint 4 2 , 41 Die Einführung der Ausnahmetatbestände nicht gerechtfertigten V e r trauens über Gerechtigkeit u n d den Widerstreit zwischen Rechtssicherheit u n d Gerechtigkeit geschieht besonders deutlich i n BVerfGE 25, 269 (289 ff.). 42 Es muß sie n u r da stellen, w o nicht schon einer der anderen Ausnahmetatbestände die Zulässigkeit der echten R ü c k w i r k u n g ergibt. D a m i t bleiben für eine Untersuchung v o m B V e r f G vollzogener Gewichtungen n u r wenige Entscheidungen übrig. Denn bis z u m 32. Band sind es von 18 Entscheidungen zur Zulässigkeit belastender Gesetze m i t echter R ü c k w i r k u n g 13, i n denen das B V e r f G die Zulässigkeit unter einem der anderen Ausnahmetatbestände bejaht. I n einer der übrigen 5 Entscheidungen, i n denen allein es auch die Zulässigkeit der echten R ü c k w i r k u n g verneint, erörtert das B V e r f G den Ausnahmetatbestand der dem Vertrauensschutz übergeordneten Anforderungen des Gemeinwohls gar nicht (BVerfGE 18, 429 [439]), i n einer weiteren handelt es unter der Uberschrift dieses Ausnahmetatbestandes den ganz anderen ab, ob die Rechtslage u n k l a r u n d verworren w a r (BVerfGE 13, 261 [273]). Es sei bei dieser Gelegenheit angemerkt, daß von 10 Entscheidungen zur unechten R ü c k w i r k u n g n u r eine (BVerfGE 31, 94) die Nichtigkeit des rückwirkenden Gesetzes ausspricht u n d daß es keinen Ausspruch der Nichtigkeit unter dem Gesichtspunkt des sonstigen Vertrauensschutzes gibt. I n diese Statistik sind n u r die typischen Entscheidungen zur Problematik von R ü c k w i r k u n g u n d Vertrauensschutz aufgenommen, nicht die, i n denen das B V e r f G den E i n t r i t t einer Verschlechterung durch das rückwirkende Gesetz überhaupt verneint (BVerfGE 15, 313 [vgl. insbesondere 325/326]) oder einen verfassungswidrigen (BVerfGE 24, 300 [vgl. 347]) ebenso w i e einen ganz unberechenbaren (BVerfGE 25, 269 [vgl. 291/292]) Zustand als Grundlage eines Vertrauenstatbestandes ausschließt.

4.3 Widersprüche der Rspr.

113

da sind i h m solche Anforderungen entweder von vornherein nicht ersichtlich 43 oder es handelt sich bei den vom Gesetzgeber unter Berufung auf das Gemeinwohl geltend gemachten Gesichtspunkten nicht u m wirkliche Anforderungen, indem ihre Durchsetzung bei näherer Prüfung durch das BVerfG ein Gesetz mit echter Rückwirkung gar nicht verlangt 4 4 . Fragwürdig ist nicht nur die Prüfformel des BVerfG vom bei echter Rückwirkung zur Rechtfertigung erforderlichen Vorrang der Anforderungen des Gemeinwohls und ihr zur unechten Rückwirkung entwickeltes Gegenstück. Fragwürdig ist die Lehre des BVerfG von Rückwirkung und Vertrauensschutz schon i n ihrem Ansatz, i n der Unterscheidung von echter Rückwirkung, unechter Rückwirkung und sonstiger Enttäuschung von Vertrauen. Ob der Gesetzgeber i n einen abgeschlossenen, i n einen gegenwärtigen oder i n einen i n die Zukunft wirkenden Sachverhalt anders als erwartet eingreift — stets ist es ja das gegenwärtige Vertrauen des Bürgers, das enttäuscht wird, sind es seine schon i n der Vergangenheit getroffenen Dispositionen, die durchkreuzt werden, und sind es erst zukünftige Pflichten oder Verkürzungen von Rechten, also zukünftige Beschränkungen des Handlungsspielraums, die begründet werden. Unter den Gesichtspunkten des Vertrauens, der Dispositionen und des Handlungsspielraums des Bürgers läßt sich eine Unterscheidung zwischen echter Rückwirkung, unechter Rückwirkung und sonstigen Enttäuschungen von Vertrauen nicht vornehmen. Besonders augenfällig ist dies i m Steuerrecht, das sehr oft den Gegenstand der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen zu Rückwirkung und Vertrauensschutz bildet. Die Dispositionen eines Unternehmens leiden unter einer unerwarteten Steuerzahlungspflicht, gleichgültig, ob die Steuerzahlungen für die Vergangenheit nachzuleisten, für die Gegenwart zu erhöhen oder für die schon kalkulierte Zukunft anders i n Rechnung zu stellen sind. Allerdings w i l l das BVerfG nicht Vertrauen, sondern gerechtfertigtes Vertrauen schützen, nicht subjektive Erwartungen, sondern einen objektivierten Erwartungsbestand. Den i m Blick auf faktische Erwartungen und Enttäuschungen nicht einleuchtenden Unterschied zwischen echter Rückwirkung, unechter Rückwirkung und sonstiger Vertrauensverletzung w i l l es mit einem normativ eingefärbten Begriff des Vertrauens absichern. Nun ist dem BVerfG darin sicherlich zu folgen, daß nicht jede Erwartung geschützt und nicht jede Enttäuschung erspart werden kann. Die Grenzen jedoch, die insoweit das BVerfG zieht, können nicht überzeugen. 43 BVerfGE 13, 206 (214). 44 BVerfGE 24, 75 (101 ff.); 30, 367 (390/391). 8 Sehlink

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Die Beurteilung von Vertrauen in den Bestand einer Rechtslage als gerechtfertigt und schutzwürdig macht das BVerfG zum einen davon abhängig, daß die Änderung der Rechtslage nicht voraussehbar war. Voraussehbarkeit soll nach vielen Entscheidungen ab dem Zeitpunkt zu bejahen sein, zu dem der Bundestag das die Rechtslage ändernde Gesetz beschlossen hat 4 5 . Daß es unter Umständen erst zu einem erheblich späteren Zeitraum verkündet worden ist 4 6 , soll für die Voraussehbarkeit nicht von Belang sein. Auch daß seine Vorbereitung oder Einbringung der interessierten Öffentlichkeit unter Umständen schon zu einem früheren Zeitpunkt bekannt geworden ist, w i l l das BVerfG für die Frage der Voraussehbarkeit i n den meisten Entscheidungen nicht veranschlagen 47 . M i t dieser willkürlichen Grenzziehung beim Bundestagsbeschluß könnte die notwendige Willkürlichkeit versöhnen, die auch jeder anderen normativen Fixierung eines strikt zu beachtenden Zeitpunkts für Voraussehbarkeit eignen muß. Wenn jedoch i n anderen Entscheidungen der Voraussehbarkeitszeitpunkt doch vorverlegt wird, wenn das BVerfG zunächst noch vorsichtig offenläßt, ob nicht schon das Bekanntwerden von Änderungsabsichten des Gesetzgebers den Vertrauensschutz aufhebt 4 8 , u m wenig später die Voraussehbarkeit zu bejahen und den Vertrauensschutz zu verneinen ab dem Zeitpunkt, zu dem sich eine vertragliche Regelung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich erst abzeichnete, i n Anpassung an die nach ihrem Zustandekommen die belastende Rechtsänderung mit echter Rückwirkung vorgenommen wurde 4 9 , wenn also das BVerfG die normative Fixierung, deren Willkürlichkeit allenfalls durch ihre strikte Beachtung erträglich würde, doch nicht durchhält, dann bleibt nur der Eindruck von W i l l k ü r . Dieser Eindruck stellt sich auch dann ein, wenn das BVerfG den Schutz des Vertrauens i n eine Rechtslage zum anderen davon abhängig macht, daß nicht die Rechtslage verworren, lückenhaft, systemwidrig oder eine Bestimmung ungültig war und durch die rückwirkende Änderung nur bereinigt wurde. Ebenso wie die Fixierung des Bundestagsbeschlusses stellt auch diese Grenze für Vertrauen nicht auf tatsächliche Erwartungen oder auch nur auf realistische Erwartungsmöglichkeiten ab. Denn ebensowenig wie die Kenntnis von Bundestagsbeschlüssen ist die zutreffende Einschätzung einer Rechtslage beim 45 BVerfGE 1, 264 (280); 8, 274 (304/305); 13, 206 (213); 13, 261 (273); 14, 288 (298); 23, 12 (33); 27, 167 (174); 30, 272 (287). 46 Bei dem i n BVerfGE 27, 167 überprüften Gesetz lagen zwischen Bundestagsbeschluß u n d Verkündung fast vier Monate. 4 7 BVerfGE 13, 206 (213); 13, 261 (272/273); 14, 288 (298); 30, 272 (287). 48 BVerfGE 30, 367 (388). 4» BVerfGE 32, 111 (123 ff.).

4.3 Widersprüche der Rspr.

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Bürger vorauszusetzen; zumal verworren und verwirrend mag ihn oft die Rechtsordnung insgesamt anmuten. Auch hier könnte eine normative Grenzziehung durch das BVerfG allenfalls dann überzeugen, wenn dieses bestimmte Markierungspunkte als Kriterien entwickeln und i n seinen Entscheidungen durchhalten würde. Stattdessen wechselt es seine Gesichtspunkte wiederum i n willkürlicher und widersprüchlicher Weise. Das BVerfG hält i n einem Beschluß eine rückwirkend geänderte Rechtslage schon darum für unklar, weil nach seiner A u f fassung die entscheidenden Bestimmungen Auslegungsfragen offengelassen, dogmatische Probleme aufgeworfen und Schwierigkeiten der Beweisführung zur Folge gehabt hatten, obwohl die Rechtsprechung ausweislich der Entscheidungsgründe des BVerfG mit den Bestimmungen zurechtgekommen w a r 5 0 . Es wertet i n einem anderen Beschluß von i h m selbst dargestellte Rechtsprechungsdivergenzen und dogmatische Probleme nicht als Ausdruck von Unklarheit der Rechtslage, sondern als Ergebnis von deren teilweiser Verkennung 5 1 . Schwierigkeiten der Beweisführung werden vom BVerfG i n einem weiteren Beschluß als Folge der schwierigen Gesetzesmaterie gerade gerechtfertigt 52 . Die Ungültigkeit einer Bestimmung führt beim BVerfG zum Wegfall des Vertrauensschutzes das eine M a l i n der Weise, daß der Bürger sich auf die ungültige Bestimmung nicht verlassen kann 5 3 , das andere Mal so, daß er auf ihre Ungültigkeit nicht bauen darf 5 4 . Die rechtlichen Erwartungen des Bürgers werden i n dem einen Beschluß auf die wahre Rechtslage verwiesen, i n dem anderen auf den Rechtsschein der ungültigen Bestimmung 5 5 . Wo Ansprüche des Staates gegen seine Bürger wegen Fehlens einer Rechtsgrundlage vor Gericht rechtskräftig verneint wurden und der Staat sich die Rechtsgrundlage durch rückwirkendes Gesetz nachträglich zu verschaffen sucht, da kann das so BVerfGE 11, 64 (73 ff.). Das B V e r f G vernachlässigt außerdem, daß die fraglichen Auslegungsmöglichkeiten allesamt dem Betroffenen günstiger waren als die m i t R ü c k w i r k u n g eingeführten neuen Bestimmungen. δΐ BVerfGE 18, 429 (432 ff., 439). 52 BVerfGE 30, 367 (388 ff.). 53 BVerfGE 19, 187 (197). 54 BVerfGE 22, 330 (348). 55 Allerdings beruht die Ungültigkeit der Bestimmung i n BVerfGE 22, 330 auf dem r ü c k w i r k e n d berichtigten Fehler unzureichender Ermächtigung, während i n BVerfGE 19, 187 die Ungültigkeit, genauer die i h r hier gleichgestellte Systemwidrigkeit der r ü c k w i r k e n d geänderten Bestimmung letztlich aus dem Gleichheitssatz abzuleiten ist. Aber die Inkonsequenz des B V e r f G läßt sich nicht m i t einem Unterschied zwischen bloß formeller Ungültigkeit u n d materieller Systemwidrigkeit bemänteln. Denn die Rüge der Systemw i d r i g k e i t folgt aus der auch formalen Rationalität u n d Technizität des Steuerrechtssystems. Sie stützt sich übrigens darauf, daß eine andere, zwar nicht nach Auffassung des vorlegenden Gerichts, aber nach Auffassung des B V e r f G i n Zusammenhang m i t der vorgelegten Bestimmung stehende N o r m v o m B V e r f G i n einem anderen Verfahren f ü r nichtig erklärt worden war. 8*

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BVerfG sowohl zu dem Ergebnis kommen, der Staat habe m i t den Leistungen gerechnet und dürfe sich daher auch nachträglich eine entsprechende Rechtsgrundlage verschaffen 56 , als auch zur K r i t i k am „Versuch des Gesetzgebers, die Rechtsprechung rückwirkend zu korrigieren, sie gleichsam für die Vergangenheit ins Unrecht zu setzen" 57 . Die K r i t i k an der Unterscheidung des BVerfG zwischen echter Rückwirkung, unechter Rückwirkung und sonstiger Enttäuschung von Vertrauen sowie an seinem nur m i t Widersprüchen durchgeführten K o n zept einer Erwartungs- und Vertrauensnormierung kann zu der k r i t i schen und vom BVerfG nicht beantworteten Frage weitergeführt werden, woraus sich ein über das Strafrecht hinausgehendes Rückwirkungsverbot überhaupt legitimieren soll. Was ist denn an Gesetzen, die Pflichten und Beschränkungen für die Gegenwart oder Zukunft auferlegen, dann besonders, wenn sie dies in Anknüpfung an einen i n der Vergangenheit liegenden Sachverhalt tun? Gibt es für eine Pflicht zum Schutz i n die Vergangenheit gesetzten Vertrauens bei gleichzeitigem Recht zur Enttäuschung i n die Zukunft gerichteter Erwartungen einen anderen Grund als den, daß das Vertrauen i n die Vergangenheit womöglich ein Vertrauen auf das Rückwirkungsverbot ist? Erzeugt dieses also selbst seine Legitimation, indem es ein es rechtfertigendes Vertrauen erst schafft? Oder ist Zukunft i n einem kategorialen Sinn offener als Vergangenheit und Gegenwart? Das BVerfG argumentiert m i t dem Rechtsstaatsgebot der Voraussehbarkeit staatlichen Handelns. Aber das Gebot der Voraussehbarkeit, Berechenbarkeit und Bestimmtheit hat seinen Grund i m Gewaltenteilungsmoment des Rechtsstaats und kann zunächst nur i n dem dadurch eröffneten und begrenzten Umfang subjektivrechtlich abgebildet, i m Vertrauensschutz zugunsten des Bürgers wiedergespiegelt werden. Wenn Art. 103 I I ein über das Strafrecht hinausgehendes Rückwirkungsverbot tragen soll, dann kann dieses nur das allgemeine Verbot einer Rückwirkung von Sanktionen sein, die ihre Rechtfertigung daraus erhalten, daß sie der Steuerung von Erwartungen und Handlungen dienen. Da vergangene Erwartungen und Handlungen nicht mehr gesteuert werden können, ist insoweit eine Sanktion nicht zu rechtfertigen. I m übrigen versteht es sich, daß die rückwirkenden Gesetze an denselben Maßstäben zu messen sind wie die übrigen, daß sie z. B. nicht gegen den Gleichheitssatz verstoßen und mit den auch bei Rückw i r k u n g ja stets für die Gegenwart oder Zukunft auferlegten Pflichten und Beschränkungen nicht existenzvernichtend i n die Berufsfreiheit eingreifen dürfen. Eine Steuer, die durch ihre Höhe erdrosselnd w i r k e n se BVerfGE 7, 89 (93). 57 BVerfGE 18, 429 (439). Vgl. auch die Unvereinbarkeit von BVerfGE 13, 206 m i t BVerfGE 7, 87.

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würde und darum unzulässig ist, darf sich der Gesetzgeber also nicht dadurch gewissermaßen erschleichen, daß er sie nur zur Hälfte für die Zukunft, zur anderen Hälfte aber für die Vergangenheit festsetzt und insgesamt i n der Zukunft verlangt. Über diese unproblematischen Grenzen einer Rückwirkung geht das BVerfG hinaus. Für das Ungenügen seiner Lehre von Rückwirkung u n d Vertrauensschutz bietet sich als Erklärung an, daß der Ausgangspunkt, das allgemeine Rückwirkungsverbot, von dem es nur Ausnahmen geben soll, und der von der Vergangenheit über die Gegenwart i n die Zukunft schwächer werdende Vertrauensschutz beim BVerfG nicht recht begründet, die Lehre also schlecht fundiert ist. Das bedeutet noch kein Verdikt über die einschlägigen Entscheidungen mit ihren Ergebnissen, sondern die Aufforderung, i n nochmaliger Durchsicht der Entscheidungen zu fragen, ob hinter dem Ausgangspunkt und den Kriterien und Prüfformeln, die das BVerfG nennt und die der K r i t i k nicht standhalten, tragfähige Konzepte aufgezeigt werden können, ob also die Rechtsprechung zu Rückwirkung und Vertrauensschutz, auf andere Begriffe gebracht, stimmiger wird. Läßt sich die Frage bejahen, dann w i r d auch der Weg zu einer treffenden Einschätzung dessen frei, was i n diesem Problembereich Abwägung sein und leisten kann. 4.4 Abwägung als Geeignetheits- und Notwendigkeitsprüfung sowie als Mindestpositionsbeachtung auch beim Gebot der Rechtssicherheit Die Entscheidungen des BVerfG zu Rückwirkung und Vertrauensschutz sind, von wenigen Ausnahmen abgesehen, i n etwa gleicher Zahl zum Steuerrecht und zum Entschädigungs- und Sozialversicherungsrecht ergangen. Das sind Rechtsgebiete, i n denen Konflikte zwischen den Positionen des Bürgers und dem Staat, der i n die Positionen eingreifen, sie beschränken und gestalten w i l l , mit dem an den Grundrechten etwa der A r t . 5, 12, 2 oder 14 entwickelten verfassungsrechtsdogmatischen Instrumentarium regelmäßig zu Lasten des Bürgers gelöst würden. M i t der Frage, ob die Erhebung einer bestimmten Steuer als ein Eingriff i n Freiheit zur Erreichung eines bestimmten zulässigen Zwecks notwendig ist. kann dem Staat keine Rechtfertigung abverlangt und keine Grenze seiner Steuergesetzgebung gesetzt werden, da die Frage stets zu verneinen, die Rechtfertigung nie zu leisten wäre. Eine bestimmte Steuer ist nie i n dem Sinn notwendig, daß sie als Mittel der Geldbeschaffung nicht durch eine andere ersetzt werden könnte. Die Notwendigkeitsfrage greift hier also nicht, und der Mindestpositionsschutz, als bloße Existenzsicherung begriffen 5 8 , w i r d schwerlich aktuell. 58 Siehe oben S. 77 f.

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I m Bereich des Entschädigungs- und Sozialversicherungsrechts steht der Notwendigkeitsfrage ein anderer Umstand entgegen. Zur Befragung von Eingriffen i n Freiheit entwickelt, läßt sie sich jedenfalls nicht ohne zusätzliche Begründung auch dort stellen, wo der Staat nicht i n Freiheit eingreift, sondern von i h m selbst gestaltete Positionen umgestaltet und beschränkt. Unter der Voraussetzung von Freiheit als der nicht begründungs- und rechtfertigungsbedürftigen Regel müssen Eingriffe i n Freiheit als Ausnahmen begründet und gerechtfertigt werden, etwa mit ihrer Geeignetheit und Notwendigkeit zur Erreichung eines zulässigen Zwecks. Diese Aussage kann sogar um die andere ergänzt werden, daß nur unter der Voraussetzung von Freiheit, Gleichheit oder einer ähnlichen Abwehr- und Ausschlußregel staatliche Eingriffe als zu kontrollierend, als begründungs- und rechtfertigungsbedürftig begriffen werden können. Wo jedoch der Staat entschädigungsund sozialversicherungsrechtliche Positionen erst gewährt und zugunsten des Bürgers ausgestaltet hat und wo die Positionen nicht i n der Verrechnung von Opfern oder Leistungen aus dem Gleichheitsgebot entwickelt werden können, da ist nicht ersichtlich, was den Staat beim Entzug der Beschränkung und Umgestaltung der Position in Begründungs· und Rechtfertigungszwang bringen könnte. Der Mindestpositionsschutz als Sicherung der Existenz setzt dem Staat auch hier nur äußerste Grenzen, die kaum jemals bedroht sind. Vor diesem Hintergrund muß die Rechtsprechung des BVerfG zu Rückwirkung und Vertrauensschutz begriffen werden. I n ihr konstituiert das BVerfG eine neue Abwehr- und Ausschlußregel, die den Staat i n Begründungs- und Rechtfertigungszwang bringt. Unter der Voraussetzung, daß Positionen des status quo vom Staat zu erhalten oder sogar zu dynamisieren sind, läßt sich dem Staat bei Verschlechterungen der Positionen die Notwendigkeitsfrage wieder stellen. Positionsverschlechterungen sind dann ausgeschlossen und werden abgewehrt, wenn sie nicht als geeignet und notwendig für die Erreichung eines zulässigen Zwecks begründet und gerechtfertigt werden können. Unter der Voraussetzung der Erhaltung und Dynamisierung des status quo erhält auch die Vorstellung einer Mindestposition eine neue Qualität und w i r d wieder aktuell. Sie wandelt sich von der Vorstellung eines Mindestmaßes an Freiheitsausübung und, als deren Voraussetzung, Existenzsicherung i n die Vorstellung einer Mindestteilhabe an den Begünstigungen und Fortschritten des status quo. Das BVerfG redet zwar von Vertrauen, meint aber den objektiven Zustand, von dem die wirklichen Erwartungen des Bürgers nur einen subjektiven Aspekt und damit unter Umständen zuviel oder zuwenig spiegeln. Es schützt den Bürger mit einmal erlangten Positionen vor den Verschlechterungen des objektiven Zustands, die entweder der

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Notwendigkeitsfrage nicht standhalten oder eine Mindestposition verletzen würden. I n diese Veränderungsresistenz des status quo und nur i n sie darf der Bürger sein Vertrauen setzen. W i r d so die Rechtsprechung des BVerfG zum Vertrauensschutz in eine Rechtsprechung zum Schutz des status quo uminterpretiert und damit zugleich das bundesverfassungsgerichtliche Konzept einer Erwartungs- und Vertrauensnormierung rekonstruiert, dann bleibt gleichwohl die Frage, warum die Position des status quo mt einer Abwehrund Ausschlußregel zu schützen sein sollen. Das BVerfG stellt seine Rechtsprechung unter das Rechtsstaatsgebot. Aber die Regel, daß einmal erlangte Positionen zu erhalten oder sogar zu dynamisieren sind, lebt von der Voraussetzung eines sich erhaltenden und i n günstiger Weise dynamischen status quo, von der Voraussetzung des gesellschaftlichen Fortschritts und wirtschaftlichen Wachstums. Es ist darum nicht zufällig, daß die schrittweise Ausweitung des Vertrauensschutzes von den Fällen echter über die Fälle unechter Rückwirkung bis zum sonstigen Vertrauensschutz zusammenfällt m i t einer Entwicklung w i r t schaftlicher Prosperität i n der Bundesrepublik Deutschland. Angesichts dessen läßt sich die Rechtsprechung des BVerfG eher als dem Rechtsstaats- dem Sozialstaatsgebot zuordnen, dieses verstanden i n seiner Aufgabe, die gesellschaftlich-wirtschaftliche Entwicklung in individuelle Positionen der Teilhabe an der Entwicklung zu übersetzen 5®. Die Gefahren einer solchen Regel des Schutzes einmal erlangter Positionen sind leicht zu erkennen. W i r d vergessen, daß es nur u m Teilhabe am tatsächlichen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen status quo geht, dann ist die Regel geeignet, den Gesetzgeber dann in unverdiente Begründungs- und Rechtfertigungsverlegenheit zu bringen, wenn er nur i n der Verlegenheit des Experiments auf Verschlechterungen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen status quo reagieren und Verwaltung von Mangel nur durch Kürzung von Positionen konzipieren kann. W i r d zum anderen, wo die Verfassung abwehrend und ausschließend Freiheit verbürgt und wo i n dieser Freiheit Herrschaftspositionen entstanden sind, die weitere Abwehr- und Ausschlußregel des Positionsschutzes eingebracht, dann können Freiheitsrechte zu Herrschaftsrechten mißraten.

se F ü r die Einbettung der Lehre von R ü c k w i r k u n g und Vertrauensschutz i n die Lehre des Sozialstaatsprinzips spricht sich i n einem freilich etwas anderen Sinn auch Rupp -von Brünneck i n ihrem Sondervotum zu BVerfGE 32, 111 (BVerfGE 32, 129) aus.

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Die These, das BVerfG konstituiere i n seiner Rechtsprechung zu Rückwirkung und Vertrauensschutz eine Abwehr- und Ausschlußregel, nach der einmal erlangte Positionen zu erhalten oder sogar zu dynamisieren sind, wenn nicht die Positionsverschlechterung geeignet und notwendig für die Erreichung eines zulässigen Zwecks ist und dabei Mindestteilhabe an den Begünstigungen und Fortschritten des status quo gewährt, sei zunächst an der Rechtsprechung zum Entschädigungsund Sozialversicherungsrecht überprüft. I m Gesetz zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung von 1957 wurde eine Fortführung der Selbstversicherungen ausgeschlossen, die nach einem Stichtag begonnen worden waren, der u m mehr als ein Jahr vor dem Erlaß des Neuregelungsgesetzes lag. Das BVerfG, dem die Ausschlußbestimmung des Neuregelungsgesetzes vorgelegt wurde 6 0 , w i l l den Vertrauensschaden der enttäuschten Selbstversicherer gegen die Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für das Wohl der A l l gemeinheit abwägen. I n Durchführung seiner Abwägung führt es aus, daß es dem Gesetzgeber u m die Homogenität der Versichertengemeinschaft, u m ausgeglichene Leistungs- und Risikoverhältnisse ging und daß er aus diesem Grund die Fortführung der Selbstversicherung ausschloß. Es anerkennt die rückwirkende Ausschaltung der Selbstversicherung als den Versuch, einen Zustrom von Selbstversicherern kurz vor Toresschluß zu blockieren, der, durch das frühzeitige Bekanntwerden der gesetzgeberischen Tendenz zur Abschaffung der Selbstversicherung veranlaßt, den m i t der Ausschaltung der Selbstversicherung verfolgten Zweck hätte vereiteln können. A n diese, allerdings locker durchgeführte und nicht mit Faktenmaterial, sondern m i t Vermutungen argumentierende Notwendigkeitsprüfung schließt das BVerfG die Feststellung an, daß der Vertrauensschaden der enttäuschten Selbstversicherer kein erhebliches Gewicht hat, daß m i t anderen Worten ihre Mindestposition nicht verletzt ist. Die Selbstversicherer könnten sich die einbezahlten Beträge zurückerstatten lassen und hätten noch die Möglichkeit, umzudisponieren und private Formen der Selbstvorsorge auszunützen, z.B. unter Zuhilfenahme der zurückerstatteten Beiträge Privatversicherungsprämien rückwirkend nachzuzahlen. Auch die Abwägung i m Beschluß zur durch das Zweite Rentenanpassungsgesetz von 1959 bewirkten Änderung der Altersgrenze für das Altersruhegeld aus der saarländischen Angestelltenversicherung 61 führt über eine Notwendigkeitsprüfung zur Frage nach der Verletzung der Mindestposition. I m Gefolge der Rentendynamisierung schaffte der 60 BVerfGE 14, 288. ei BVerfGE 22, 241.

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Bundesgesetzgeber eine Sonderregelung des saarländischen Sozialversicherungsrechts ab, nach der schon vor Vollendung des 60. Lebensjahres eine damals statische Rente hatte bezogen werden können. Das BVerfG legt dar, zu welchen auf Dauer untragbaren Schwierigkeiten der Fremdkörper dieser saarländischen Sonderregelung i m bundesallgemeinen Sozialversicherungssystem führte, daß diese Schwierigkeiten mit dem Anpassungsgesetz behoben wurden und daß etwa schon getroffene Dispositionen sich korrigieren ließen und also der Vertrauensschaden gering war. A u f der Linie der genannte Entscheidungen liegt auch der Beschluß zum Ausschluß der Fortführung einer schon begonnenen freiwilligen Weiterversicherung durch das Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz von 195762. Die Abwägung des BVerfG stellt auf die Veränderung des Sozialversicherungssystems durch Einführung der Rentendynamik, auf das Erfordernis einer homogenen und leistungsfähigen Versichertengemeinschaft und die Probleme einer Stichtagsfestsetzung, die den Zustrom vor Toresschluß vermeiden soll, ab. Es erweist damit das Ziel des Gesetzgebers als legitim und i n wiederum lockerer Argumentation die Gesetzesregelung als zur Erreichung des Ziels geeignet bis notwendig. Einen gewichtigen Vertrauensschaden kann es i m Hinblick auf die Möglichkeit finanziell tragbarer Umdispositionen verneinen. Entsprechendes gilt für den nächsten Beschluß zur Abwägung zwischen Vertrauensschaden und Anliegen des Gesetzgebers 63. Ein Landesbeamtengesetz von 1962 ordnete die Anrechnung einer Witwenrente auf das Witwengeld auch bei den Beamtenwitwen an, die ihre zweite, den zusätzlichen Anspruch auf Witwenrente tragende Ehe bereits vor 1962 geschlossen und daher m i t doppelter Versorgung gerechnet oder diese gar schon bezogen hatten. Das BVerfG rechtfertigt die Anrechnung m i t ihrer Erforderlichkeit für das vom Gesetzgeber erstrebte Ziel, den Erhalt doppelter Versorgung zu vermeiden. Die Zulässigkeit dieses Ziels ergibt sich daraus, daß das Wiederaufleben des Anspruchs auf Witwengeld bei Beendigung der zweiten Ehe der Witwe nur die Befürchtung nehmen soll, am Ende dieser Ehe unversorgt zu sein. Die volle Existenzsicherung auch bei Anrechnung der Witwenrente schließt eine Beeinträchtigung der Mindestposition aus 64 . Anders entscheidet das BVerfG i n Überprüfung der Regelung des saarländischen Beamtengesetzes von 1962, die i n Änderung des alten 62 B V e r f G E 24, 220. 63 BVerfGE 25, 142. 64 I n demselben Sinn argumentiert auch der Beschluß zum Wegfall des Doppelbezugs von Altersrente u n d Arbeitslosengeld, BVerfGE 31, 185.

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saarländischen Beamtenrechts und i n Anpassung an das Bundesbeamtenrecht eine Kürzung des Witwengeldes einführte, sofern der Altersunterschied zwischen der Witwe und ihrem verstorbenen Ehemann mehr als 20 Jahre betrug 6 5 . Die verfassungsrechtliche K r i t k gilt dabei nicht der Regelung als solcher, sondern ihrer Erstreckung auf die Witwen, bei denen der Versorgungsfall schon vor 1962, seit 1937 eingetreten ist. Die Mindestposition w i r d zwar auch hier nicht verletzt. Denn das gekürzte Witwengeld darf, wie das BVerfG klarstellt, hinter dem Mindestwitwengeld nach Landes- oder, wenn dies für die Witwe günstiger ist, Bundesbeamtenrecht nicht zurückbleiben. Das BVerfG stellt bei seiner Abwägung darauf ab, daß die Erstreckung der Kürzungsregel auf die Witwen, deren Versorgungsfall schon vor 1962 eingetreten war, den Anwendungsbereich nur i n ganz wenigen, genauer i n zwei Fällen i m Saarland erweiterte. Angesichts dessen müßten die Ziele, die Rechtsgleichheit i m Saarland mit dem Bund herzustellen und die Witwengeldberechnung für alle Fälle zu vereinheitlichen, hinter dem Vertrauensschutz zurücktreten. Das läßt sich auch so fassen, daß die Ziele der Rechtsangleichung und -Vereinheitlichung die Bereinigung von zwei Ausnahmefällen nicht erfordern. I m Entschädigungs- und Rückerstattungsrecht hat es das BVerfG mit Gesetzen echter Rückwirkung zu tun, und wenn es diese an der Verfassung scheitern läßt, dann kann dies i m den bisher erörterten Entscheidungen zugrundeliegenden Abwägungsmodell gefaßt werden, auch wenn von Abwägung nicht die Rede ist. Das Bundesrückerstattungsgesetz ließ mit Rückwirkung i n seiner Fassung von 1964 irrtümlich nach dem Bundesentschädigungsgesetz erfolgte Anmeldungen von Rückerstattungsansprüchen entgegen der früheren Fassung als fristwahrend nur noch dann zu, wenn sie die Vermögensgegenstände erkennen ließen, für die Ersatz verlangt wurde. Früher genügte die i m Entschädigungsverfahren ausreichende pauschale Anmeldung von Schäden an Eigentum und Vermögen. Das BVerfG 6 6 mustert die möglichen Zwecke und die mögliche Erforderlichkeit der rückwirkenden Änderung der Anmeldungsvoraussetzung zur Erreichung der Zwecke durch. Es kommt zum Ergebnis, daß weder zur gleichen Behandlung aller Rückerstattungsberechtigten — das Gleichbehandlungsgebot war nicht verletzt gewesen — noch zur Klärung der Rechtslage — i n einheitlicher Rechtsprechung war die alte Regelung sinnvoll angewandt worden — noch zur besseren Uberschaubarkeit der finanziellen Auswirkungen der Rückerstattungsansprüche — besser zu überschauen waren die finanziellen Auswirkungen auch bei der Neuregelung nicht — noch auch zur Steuerung von Mißbrauch — über dieses zudem auch anders zu eres BVerfGE 31, 94. 66 BVerfGE 24, 75.

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reichende Ziel schoß die Neuregelung weit hinaus — die rückwirkende Änderung der Anmeldevoraussetzung erforderlich, daß sie dazu teilweise nicht einmal geeignet war. I n seiner nächsten Entscheidung aus diesem Rechtsgebiet, in der das BVerfG eine Regelung des Bundesentschädigungsgesetzes aufhebt, die rückwirkend einen Stichtag für das Verlassen der Vertreibungsgebiete als Anspruchsvoraussetzung einführte 6 7 , läßt es die Regelung nicht nur an ihrer fehlenden Notwendigkeit für den vom Gesetzgeber geltend gemachten Zweck der Klärung der Rechtslage scheitern; es t r i t t auch i n eine Diskussion der Zulässigkeit anderer, durch die Regelung unter Umständen zu fördernder Zwecke ein. Daß die neue Regelung den Staatshaushalt entlasten und die Abwicklung der Entschädigungsansprüche bei Behörden und Gerichten erleichtern würde, läßt es als Zwecke nicht gelten. Das leuchtet ein. Das BVerfG kann nicht die Tendenz, eine Abwehr- und Ausschlußregel des Schutzes einmal erworbener Positionen anzuerkennen, verfolgen und zugleich Eingriffe i n die erworbenen Positionen über den Zweck finanzieller und verwaltungsmäßiger Entlastung des Staates rechtfertigen. Denn von einer verfassungsrechtlichen Anerkennung von Positionen, die den Staat notwendig finanziellen und Verwaltungsaufwand kosten, die erst durch solchen Kostenaufwand entstehen, wäre nicht zu reden, wenn schon bloße Kostenersparnis zu ihrem Wegfall führen könnte.

Das Abwägungsmodell, das der Rechtsprechung zu Rückwirkung und Vertrauensschutz i m Sozialversicherungs- und Entschädigungsrecht zugrundeliegt, leitet auch die Rechtsprechung zu Rückwirkung und Vertrauensschutz im Steuerrecht. Zulässig sind dementsprechend Normen des Steuerrechts mit echter oder unechter Rückwirkung, die eine systemwidrige und unbillige Regelung durch eine sachgemäße ersetzen und damit um der Steuergerechtigkeit w i l l e n geboten sind 6 8 , die aus konjunkturpolitischen Zielen gewährte Steuervorteile unter konjunkturell veränderten Umständen und entsprechend neugefaßten Zielen auch wieder entziehen 69 , die für eine nichtige, nach ihrer Zwecksetzung und ihrem Inhalt — Unterstützung der Milcherzeugung — aber zulässige Regelung eine rechtswirksame Ersatzregelung nachreichen und damit eine Gefährdung der bezweckten Unterstützung verhindern 7 0 , die 67 68 69 70

BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE

30, 13, 18, 22,

367. 215; 19, 187. 135; 19, 119. 330.

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zur Drosselung des Außenhandels und Herstellung des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts notwendig waren oder doch erscheinen konnten 7 1 , die um der Förderung der Berliner Wirtschaft willen einer Branche gewährte Steuervorteile i n veränderter politischer Lage m i t anderen Förderungsnotwendigkeiten kürzen 7 2 . Jeweils erörtert das BVerfG außer der Notwendigkeit — auch hier prüft es diese allerdings oft i n recht lockerer Weise — die Verletzung der Mindestposition. Darauf kann es verzichten, wenn die rückwirkende steuerrechtliche Regelung schon am Gebot der Erforderlichkeit scheitert 73 . Ist die Rückwirkung weder zur Bereinigung von Unklarheiten oder Lücken noch zur Herstellung von Steuergerechtigkeit oder zu einem anderen zulässigen Zweck erforderlich, dann prüft das BVerfG erst gar nicht, ob sie durch das höhere Steueraufkommen, zu dem sie führt, zu rechtfertigen sei. Das leuchtet aus den schon angeführten Gründen ein. W i r d eine Position des steuerrechtlichen status quo anerkannt, dann w i r d sie mit ihren Vorteilen für den Steuerpflichtigen, m i t ihren Nachteilen für das Steueraufkommen des Staates anerkannt. Dann ist sie m i t diesen Vor- und Nachteilen, die sie als Position ja erst konstituieren, geschützt, ausgesetzt nur den u m anderer Zwecke w i l l e n erfolgenden Eingriffen. Es bleiben wenige Entscheidungen, die i n das Abwägungsmodell nicht passen, das von einer Abwehr- und Ausschlußregel zugunsten einmal erlangter Positionen ausgeht und Eingriffe in diese an der Zulässigkeit ihres Zwecks, an ihrer Geeignetheit und Notwendigkeit zur Zweckerreichung und an der Wahrung der Mindestposition mißt. Aber sie stellen nicht das Abwägungsmodell i n Frage, sondern lassen sich an ihm gerade kritisieren. Wenn erst das BVerfG eine rückwirkend geänderte Rechtslage i n eigenen dogmatischen Überlegungen so verfremdet, daß sie sich dadurch als unklar und unsicher darstellt, während die Rechtsprechung mit ihr keine Schwierigkeiten hatte, dann kann entgegen dem BVerfG die rückwirkende Änderung aus einer Notwendigkeit gesetzgeberischer Klarstellung eben nicht gerechtfertigt werden 7 4 . Wenn der rückwirkende Ausschluß von Lastenausgleichsleistungen für Vertreibungsschäden, vorgenommen i m Zusammenhang m i t dem A b schluß des deutsch-österreichischen Finanz- und Ausgleichsvertrags, vom BVerfG mit der Begründung gerechtfertigt wird, es habe sich bei ihnen nur um freiwillige Leistungen des Staates gehandelt, mit deren Ausschluß nach Bekanntwerden der Verhandlungsaufnahme habe BVerfGE 30, 250. 72 BVerfGE 30, 392. 73 BVerfGE 13, 206; 13, 261; 30, 272. 7i BVerfGE 11, 64. Siehe dazu oben S. 115.

4.5 Zusammenfassung

125

gerechnet werden müssen 75 , dann taugt diese Begründung aus doppeltem Grund nicht zur Rechtfertigung: Das Freiwilligkeitsargument verkennt, daß der Staat mit der Anerkennung von Positionen sich der Freiheit ihres beliebigen Entzugs gerade begibt, und sprengt, da alle i n der durchgesehenen Rechtsprechung beurteilten Positionen vom Staat ohne Zwang und somit freiwillig eingeräumt wurden, die Grundlage der Rechtsprechung zu Rückwirkung und Vertrauensschutz. Das Argument, mit der rückwirkenden Änderung habe gerechnet werden müssen, kann, seit die Begriffe des Vertrauens und Rechnenmüssens vom BVerfG normativ gefaßt sind, nur dann verwandt werden, wenn die rückwirkende Änderung tatsächlich geboten, wenn sie m i t ihrer Notwendigkeit zur Erreichung eines zulässigen Zwecks normativ zu begründen ist. Das Rechnenmüssen kann nicht an der bloßen Tatsache und schon gar nicht an der Fiktion umfassenden Informiertseins festgemacht werden. 4.5 Zusammenfassung Die Durchsicht der Rechtsprechung des BVerfG zum Gebot der Rechtssicherheit begann mit einer K r i t i k am das Problem ornamental und legitimatorisch entstellenden Argumentieren des BVerfG mit Widerstreit und Abwägung. Diese K r i t i k t r i f f t insbesondere dann, wenn m i t dem Argument vom Widerstreit oder über eine Abwägung i m Grundgesetz schon getroffene Problemlösungen noch einmal problematisiert und damit überspielt werden. Als M i t t e l hierfür erwiesen sich Überhöhungen und Übersteigerungen, das gegeneinander Ausspielen von Gerechtigkeit und Rechtssicherheit, demokratischem und föderalistischem Prinzip oder Art. 21 und A r t . 38 auf hohem Abstraktionsniveau. Wo dagegen das BVerfG die abzuwägenden Positionen konkret bestimmt, da gewinnt auch sein Abwägen wieder klare Konturen. Allerdings ließ sich i n der Rechtsprechung zu Rückwirkung und Vertrauensschutz erst hinter i n andere Richtung deutenden Prüfformeln und -kriterien das als Instrument der Grundrechtsdogmatik aus der Durchsicht der Entscheidungen zu Art. 5, 12, 2 und 14 vertraute Abwägungsmodell wieder aufzeigen. M i t i h m erhielt denn aber auch die Rechtsprechung zu Rückwirkung und Vertrauensschutz die Stimmigkeit, die unter den bundesverfassungsgerichtlichen Prüfformeln und -kriterien zu vermissen war. Außerhalb des Bereichs der Freiheitsrechte findet Abwägung also nicht i n besonderer Weise statt, auch hier dominiert nicht etwa ein Gewichten und Vergleichen von Gütern. Indem das BVerfG mit dem 75 BVerfGE 32, 111. Siehe dazu oben S. 114.

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Grundsatz, daß einmal erlangte Positionen zu schützen sind, eine dem Freiheitstatbestand strukturell entsprechende Abwehr- und Ausschlußregel anerkennt, kann es Rückwirkungen und Enttäuschungen von Vertrauen wie Eingriffe i n Freiheit an der Geeignetheits- und Notwendigkeitsfrage prüfen.

ZWEITER T E I L

Methode und Dogmatik der Abwägung 5 A u f der Suche nach d e r M e t h o d e der A b w ä g u n g — K o n z e p t e u n d P o s i t i o n e n i m rechtswissenschaftlichen S c h r i f t t u m 5.0 Vorbemerkung Gesucht w i r d hier nach einer Methode, weder nach Verfassungsrechtsdogmatiken noch nach einer Verfassungstheorie. Zwar können die i m Schrifttum vertretenen Abwägungskonzepte nicht ohne jeden Hinweis auf den verfassungstheoretischen Rahmen, i n dem sie entwickelt worden sind, und die Positionen der Abwägungskritik, wenn sie m i t der Ablehnung i n Abwägung gewonnener verfassungsrechtsdogmatischer Ergebnisse argumentieren, nicht ganz ohne Angabe dieser Argumente dargestellt werden. Aber weder den verfassungstheoretischen noch den verfassungsrechtsdogmatischen, sondern den methodischen Fragen gilt das eigentliche Interesse. I n der folgenden Darstellung kommt das BVerfG, obwohl sich der i m Schrifttum begegnende Abwägungsenthusiasmus stets auf es beruft und die i m Schrifttum anzutreffende Abwägungsskepsis oft von i h m absetzt, nur selten vor. Denn ob enthusiastisch oder skeptisch, i m Schrifttum werden zum Problem der Abwägung Sätze des BVerfG i n Bezug genommen, in denen sich dieses zwar grundsätzlich und programmatisch äußert, an denen es jedoch, wie die Rechtsprechungsdurchsicht zeigte, seine Entscheidungspraxis nicht wirklich orientiert. Daß Gegenstand verfassungsrechtswissenschaftlicher Erörterung auch die Äußerungen des Verfassungsgerichts werden müssen, deren grundsätzlichen und programmatischen Anspruch die verfassungsgerichtliche Entscheidungspraxis nicht einlöst, versteht sich. Aber ein Abwägungsenthusiasmus kann nicht schon darum, weil i n seinen Konzepten ebenso wie i n den Grundsatz- und Programmformeln des BVerfG von der Wertordnung des Grundgesetzes und gewichtend und vergleichend vom Rang von Gemeinschaftsgütern und Individualfreiheiten die Rede ist, die Entscheidungspraxis des BVerfG als seinen Beleg anführen. Auf der anderen Seite mag Abwägungsskepsis als K r i t i k der bundes-

128

5 Konzepte u n d Positionen i m rechts wissenschaftlichen Schrifttum

verfassungsgerichtlichen F o r m e l n noch so t r e f f e n d sein, eine A u s e i n andersetzung m i t d e m B V e r f G , die dessen E i n b e z u g i n die D a r s t e l l u n g n o t w e n d i g macht, ist sie n u r d a n n , w e n n sie a u f die v o m B V e r f G n i c h t a n s p r u c h s v o l l f o r m u l i e r t e n , aber tatsächlich b e f o l g t e n u n d als M e t h o d e r e k o n s t r u i e r b a r e n A b w ä g u n g s w e i s e n eingeht. Nach Abwägungsenthusiasmus u n d Abwägungsskepsis sind abwägungspragmatische A u f f a s s u n g e n darzustellen, die i n Interessen-, G ü t e r u n d W e r t e a b w ä g u n g die A n t w o r t w e d e r a u f a l l e noch auf ü b e r h a u p t k e i n e G r u n d r e c h t s f r a g e n sehen, s o n d e r n e i n m e t h o d i s c h n i c h t b e f r i e digendes, aber auch n i c h t v e r m e i d b a r e s u n d m ö g l i c h s t zu d i s z i p l i n i e r e n des M i t t e l j u r i s t i s c h e r A r g u m e n t a t i o n .

5.1 Das Konzept des Abwägungsenthusiasmus Das K o n z e p t des A b w ä g u n g s e n t h u s i a s m u s b r i n g t i m Verfassungsrecht a m n a c h d r ü c k l i c h s t e n u n d umfassendsten Häberle zur Geltung1: 1 Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des A r t . 19 Abs. 2 Grundgesetz. Der Position Häberles verwandte Positionen unterscheiden sich i n verfassungstheoretischen Begründungen u n d verfassungsrechtsdogmatischen Ergebnissen, nicht jedoch unter methodischem Gesichtspunkt. V o n ihnen seien hier die Positionen Smends u n d Kaufmanns n u r genannt, die folgenden kurz vorgeführt. Hamel, Die Bedeutung der Grundrechte i m sozialen Rechtsstaat, spricht nicht von Abwägung, zielt aber genau auf das, was Häberle als Abwägung faßt, auf eine Bestimmung der Bedeutung der Grundrechte als Werte i m Wertsystem der Verfassung, auf eine E r m i t t l u n g von i m manenten Grundrechtsgrenzen, die der sittlichen Bestimmung der G r u n d rechte gemäß die Freiheit des I n d i v i d u u m s hinter den Werten der Gemeinschaft zurücktreten lassen, auf eine V e r m i t t l u n g von institutioneller u n d subjektivrechtlicher Grundrechtssicht (vgl. insbesondere S. 14 ff. u n d S. 38 ff.). Was Häberle als Abwägung rational machen w i l l , das w i l l allerdings Hamel als irrationalen Vorgang festhalten (S. 38 ff.), von Hippel, Grenzen u n d Wesensgehalt der Grundrechte, sucht, den Geltungsbereich der Grundrechte allgemein zu bestimmen, u n d findet zwei von i h m als gleichbedeutend verstandene Formeln: „Jede Grundrechtsnorm g i l t nur, w e n n u n d soweit dem geschützten Freiheitsinteresse keine höherwertigen Interessen (Rechtsgüter) entgegenstehen." (S. 25/26) „Jedes Grundrecht findet seine natürliche (immanente) ,Grenze' an höherwertigen Interessen (Rechtsgütern)." Die A n wendung dieser Formeln setze den Aufweis einer Rangfolge der verschiedenen Interessen (S. 32) u n d die Interessenabwägung nach den Umständen des einzelnen Falls (S. 34) voraus. Dabei müsse „allein nach der objektiven Wertordnung der Verfassung, nach der Rangfolge, die sich auf G r u n d dieser Wertordnung für die einzelnen Rechtsgüter ergibt" verfahren werden (S. 39). Ä h n l i c h w i e Häberle sein Abwägungskonzept A r t . 19 I I zuordnend, fordert von Hippel, „da diese wertende Abwägung n u n einmal sowohl unvermeidlich als auch allein sachgerecht ist, sollte man sie von vornherein u n m i t t e l b a r zum entscheidenden Prinzip erheben" (S. 57). Zippelius, Wertungsprobleme i m System der Grundrechte, ist v o n einiger Skepsis, was die Ergiebigkeit gerade der durch das Grundgesetz konstituierten Wertordnung angeht (S. 151 f., S. 157), u n d verweist auf die allerdings auch lückenhafte W e r t ordnung der herrschenden Rechtsmoral insgesamt (vgl. die Zusammenfassung S. 193 ff.). Eine an deren Werten orientierte Interessenabwägung ist auch für Zippelius der Schlüssel zu den Grundrechtsproblemen (vgl. die

5.1 Abwägungsenthusiasmus

129

Über Interessen-, Güter- und Werteabwägungen 2 sollen Inhalt und Grenzen der Grundrechte bestimmt und Konflikte zwischen verschiedenen Verfassungsrechtsgütern, den i n der Verfassung genannten, aber auch den i n ihr nicht genannten, gelöst werden 3 . Dabei soll der Grundsatz der Güterabwägung die institutionelle ebenso wie die individualrechtliche Sicht der Grundrechte leiten und beide Sichtweisen verbinden, einerseits zur Abgrenzung der grundrechtlich geschützten Lebensbereiche von anderen Lebensbereichen und damit zur Bestimmung der Grundrechte als Institute und andererseits zur Begrenzung der Grundrechte als subjektiver öffentlicher Rechte dienen 4 . Durch Abwägungen sollen i m Bereich der Grundrechte die Bindungen der Gesetzgebung, diese begriffen i n den Funktionen der Grundrechtsbegrenzung und Grundrechtsausgestaltung 5 , ermittelt werden. Die Totalität dieses Abwägungskonzepts w i r d von einem Immanenzverständnis getragen, das kurz vorgeführt sei. I n den Grundrechten sieht das Immanenzverständnis ein Ineinander von öffentlichen und privaten Interessen, den Spiegel der Verschränkung, i n der Individuum und Gesellschaft gemäß ihrem Wesen stehen. Grundrechtsbegrenzungen bedeuten i h m keinen Einbruch öffentlicher Interessen i n die privaten Freiheiten der Grundrechte, sondern die Verwirklichung der immanenten Verschränkung 6 . Die Grundrechte sieht es dabei eingebettet i n ein Wertsystem und i n diesem m i t den anderen Verfassungsrechtsgütern i n Verhältnis gesetzt. Die konkrete Bestimmung von Grundrechtsinhalten und -grenzen, die Lösung aktueller Konflikte sind für das Immanenzverständnis Vorgänge, die sich der Grundrechte Beispiele S. 20 ff. und die Zusammenfassung S. 60 ff.). Vorsichtig u n d sehr allgemein fordert auch Schneider, Güterabwägung i m freiheitlichen Rechtsstaat, die „unverkürzte Güterabwägung" i m Verfassungsrecht. 2 Haberies Sprachgebrauch entspricht dem des BVerfG. Wie dieses macht Haberle keinen Unterschied zwischen Interessen-, Güter- u n d Werteabwägung, er gebraucht „Güterabwägung" u n d „Wertabwägung" synonym (vgl. z. B. S. 36, 38, 52, 62, 66) u n d sieht die zivilrechtliche Interessenabwägung als Erprobung u n d Beleg f ü r die Fruchtbarkeit des Grundsatzes der Güterabwägung (S. 41/42). Vorzugsweise spricht Häberle von Güterabwägung. Auch Zippelius unterscheidet nicht zwischen Interessen-, Güter- u n d Werteabwägung (vgl. z. B. die synonyme Verwendung von „Güterabwägung" u n d „Interessenabwägung" S. 48 ff.), bevorzugt dabei den Begriff der Interessenabwägung. F ü r die Synonymie spricht sich nachdrücklich von Hippel aus (S. 26, A n m . 14), i n Zurückweisung der Rüge von Bettermann, Die allgemeinen Gesetze als Schranken der Pressefreiheit, das B V e r f G verwechsele u n d vermische objektive Rechtsgüter m i t subjektiven Interessen, Smendsdcie Güterabwägung m i t zivilrechtlicher Interessenabwägung (S. 601/602). Auch Schneider kennt n u r das eine „Prinzip der Güter-, W e r t - oder Interessenabwägung" (S. 355). 3 S. 31 ff. 4 S. 124/125. 5 S. 180 ff. β S. 21 ff. 9 Schlink

130

5 Konzepte und Positionen i m rechtswissenschaftlichen Schrifttum

nicht gewissermaßen von außen bemächtigen, sondern die konkretisieren und aktualisieren, wie schon das Wertsystem der Verfassung selbst den Rang verschiedener Verfassungsrechtsgüter balanciert und vorgegeben hat 7 . Dem Immanenzverständnis gelten Gesetze, die i m verfassungsrechtlichen Wertsystem die Koinzidenz öffentlicher und privater Rechtsgüter realisieren, als allgemeine Gesetze. Deren Vorbehalt sei allen Grundrechten immanent. Durch Gesetze von materialer Allgemeinheit werde den Grundrechten nichts genommen, was ihre Gewährleistung nicht von vornherein versagt habe. Zulässig handele der Gesetzgeber dann, aber auch nur dann, wenn er die immanenten Grundrechtsgrenzen und damit die Grundrechte selbst verwirkliche 8 . Häberle w i l l mit seinem Immanenzverständnis den Dichotomien von Individuum und Gemeinschaft, Staat und Gesellschaft, Sein und Sollen entgehen und mit seinem Abwägungskonzept das Eingriffs- und Schrankendenken i m Bereich der Grundrechte überwinden. Eckstein seines Ansatzes ist das Wertsystem der Verfassung. I n i h m soll die Wertigkeit von Grundrechten und anderen Verfassungsrechtsgütern fixiert, aber nicht starr und fertig vorgegeben sein; sie soll für jedes Grundrecht i n besonderer Weise und immer wieder neu bestimmt, aber nicht relativiert werden. Diese beiden Seiten lassen sich scheinbar apologetisch ebenso wie kritisch gegeneinander ausspielen, sie verfangen sich aber schließlich doch i n den Argumenten der K r i t i k . Nicht, daß sich die Vorstellungen der vorgegebenen, aber nicht starren, der erst zu aktualisierenden, aber nicht beliebig zu relativierenden Wertordnung und der Abwägung i n dieser Wertordnung nicht korrekt fassen ließen. Gerade wenn sie korrekt gefaßt werden, zeigt sich aber, daß sie die Möglichkeiten des Verfassungsrechts überziehen. Häberle knüpft an Wendungen des BVerfG i m Lüth-Urteil an und bestimmt die Wertordnung der Verfassungsrechtsgüter als Wertrangund Wertverhältnisordnung 9 . W i r d diese Bestimmung ernst genommen, dann muß sie dahin verstanden werden, daß die Ordnung der Verfassungsrechtsgüter oder Verfassungswerte nicht bloß Ordinal-, sondern Kardinalskalenniveau hat 1 0 . Ordinal sind Elemente dann geordnet, wenn zwischen ihnen nur die Relationen der Präferenz und der Indifferenz gegeben sind. Werden Kinder nach ihrer Größe, Läufer nach 7 S. 31 ff. 8 S. 51 ff. ® S. 31. 10 Vgl. zu den verschiedenen Skalenarten Stegmüller, Personelle W a h r scheinlichkeit u n d Rationale Entscheidung, S. 306 ff.; Gäfgen, Theorie der wirtschaftlichen Entscheidung, S. 416 ff.; Haag, Rationale Strafzumessung, S. 59 ff. Ob es sich bei der Kardinalskala der Verfassungswerte u m eine I n t e r v a l l - oder sogar u m eine Verhältnisskala handelt, k a n n hier d a h i n stehen.

5.1 Abwägungsenthusiasmus

131

ihrer Schnelligkeit oder Waren nach ihrem Preis so geordnet, daß die Ordnung nur erkennen läßt, daß ein K i n d größer als das nächste, ein Läufer schneller als der folgende und eine Ware teurer als die nachgeordnete ist, dann sind sie ordinal geordnet. Unberücksichtigt bleibt bei der ordinalen Ordnung, u m wieviel eine Ware teurer, ein K i n d größer und ein Läufer schneller als der andere ist. Die Elemente erhalten Rangstellen i n einer Skala, aus der nur die Vor-, Nach- oder Gleichordnung ersehen werden kann, der aber i m übrigen über das Verhältnis der Elemente zueinander nichts entnommen werden darf. Aussagen wie die, das Element an der siebten Rangstelle sei siebenmal weniger wertvoll als das an der ersten Rangstelle oder zwischen den Elementen an der zweiten und fünften Rangstelle bestehe derselbe Wertunterschied wie zwischen denen an der sechsten und neunten Rangstelle, können auf Grund einer bloß ordinalen Wertskala nicht gemacht werden. Solche Aussagen können dann getroffen werden, wenn die Elemente kardinal geordnet sind. W i r d die Größe von Kindern nicht einfach nach Augenmaß, sondern m i t dem Maßstab gemessen, dann läßt sich eine Kardinalskala gewinnen, die den Größenunterschied zwischen zwei Kindern als denselben wie den zwischen zwei anderen und ein K i n d als doppelt so groß wie ein anderes zu erkennen gibt. Eine Kardinalskala setzt mehr voraus als eine Ordinalskala und erlaubt mehr. Sind Güter kardinal geordnet, dann kann die i m Hinblick auf sie zu treffende Unterscheidung von Alternativen als mehr oder weniger wertvoll, nützlich, vorzugswürdig oder, so es sich u m Verfassungsrechtsgüter handelt, verfassungsmäßig i n einer recht subtilen Operation auf differenzierte Weise stattfinden. Gegeben seien vier Verfassungswerte oder Verfassungsrechtsgüter V i bis V i und ihre kardinale Ordnung. Diese kann i m Intervall zwischen 0 und 1 abgebildet werden, wobei V i den Wert 0,8, V2 den Wert 0,5, V3 den Wert 0,4 und V4 den Wert 0,2 erhalten möge. Es seien weiter zwei gemäß der Verfassungswertordnung zu bewertende Alternativen A i und A2 gegeben. Die Alternative A i möge zur Verwirklichung des Verfassungsrechtsguts V i intensiver beitragen als A2, von gleicher Verwirklichungsintensität wie A2 sein, was V2 und V4, und von geringerer Verwirklichungsintensität, was V3 angeht. A i ist also für das Verfassungsrechtsgut V i wertvoller als A2, und da V i i n der Skala der vier Verfassungsrechtsgüter die beste Rangstelle einnimmt, liegt der Schluß nahe, gemäß der Verfassungswertordnung sei A i besser zu bewerten als A2. Daß das jedoch vorschnell geschlossen wäre, erhellt, wenn die gegebenen Verwirklichungsintensitäten von A i und A2 verschieden präzisiert werden. Es mögen auch die Verwirklichungsintensitäten kardinal geordnet und i m Intervall zwischen 0 und 1 9'

132

5 Konzepte u n d Positionen i m rechtswissenschaftlichen Schrifttum

abgebildet sein, einmal i n der durch die linke, einmal i n der durch die rechte M a t r i x dargestellten Weise. Zu beachten ist, daß beide Präzisierungen die Verwirklichungsintensität von A i gegenüber der von A2 größer ansetzen, was V i angeht, gleich, was V2 und V4, und geringer, was V3 betrifft. Vi

V2

v3

v4

Ai

0,7

0,4

0.5

0.8

A2

0,6

0,4

0,9

0,8

VI

V2

v3

v4

AI

0.8

0.5

0.6

0.1

A2

0,7

0.5

0.7

0.1

Das Ergebnis der Bewertung von A i und A2 gemäß der durch V i bis V4 konstituierten Verfassungswertordnung fällt links und rechts verschieden aus. Es w i r d gewonnen, indem die Werte der Verfassungsrechtsgüter mit den Werten, die für die Verwirklichungsintensitäten der Alternativen gegeben sind, multipliziert und indem die Produkte i n den Alternativenzeilen addiert werden 1 1 . Die Alternative m i t der größeren Summe erhält die bessere Bewertung. I n der folgenden Darstellung sind oben die linke M a t r i x und unten die rechte entsprechend weiterentwickelt.

VI

v2

v3

v4

Zeilensumme

Ai

0.8 X 0,7 = 0,56

0,5 Χ 0,4 = 0,2

0,4 Χ 0,5 = 0,2

0.2 X 0,8 = 0.16

1.12

A2

0,8 χ 0,6 = 0.48

0,5 Χ 0.4 = 0.2

0,4 χ 0.9 = 0.36

0.2 χ 0.8 = 0.16

1,2

V!

V2

v3

v4

Zeilensumme

0.8 Χ 0,8 = 0.64

0,5 Χ 0,5 = 0.25

0,4 Χ 0.6 = 0.24

0.2 Χ 0,1 = 0.02

1.15

0,8 X 0,7 = 0,56

0,5 Χ 0,5 = 0,25

0,4 χ 0.7 = 0,28

0.2 χ 0.1 = 0,02

1.11

Ai

A2 11

Haag formuliert dies bei der Lösung einer Optimierungsaufgabe mit zwei Zielen und zwei Maßnahmen zur Zielerreichung in einem einfachen mathematischen Modell so: „Dann läßt sich die Gesamtwirksamkeit jeder

5.1 Abwägungsenthusiasmus

133

Nur i m unteren Fall bestätigt das Ergebnis den oben vorschnell gezogenen Schluß, A i sei wertvoller als A 2 . I n beiden Fällen ist die Alternative A i für das wertvollste Verfassungsrechtsgut V i wertvoller als A2, gleichwohl unterliegt sie einmal knapp und schneidet das andere M a l auch nur knapp besser ab. Entspricht die Bewertungsoperation, die hier vorgeführt wurde, der Abwägung i n der Wertordnung des Grundgesetzes, die Häberle vorschwebt? Ihr ist die Wertordnung als Kardinalskala der Verfassungsrechtsgüter vorgegeben, ohne doch die von Häberle abgelehnte starre und fertige Vorgabe zu sein, die eine besondere Aktualisierung i m besonderen Fall nicht mehr braucht noch verträgt. Die Aktualisierung i n der Bewertungsoperation hält allerdings die vorgegebenen Werte der Verfassungsrechtsgüter fest. Aber diese schon darum als i n einem negativen Sinn starr und fertig zu bezeichnen, geht nicht an, wenn nicht die Vorstellung eines objektiven Wertsystems, vorgegebener Wertkonstellationen, einer obersten und dauernden Wertrangordnung überhaupt preisgegeben werden soll. Die Vermeidung von Starrheit kann sinnvoll nur bedeuten, daß i m aktuellen Fall der höhere Wert hinter dem geringeren zurücktreten kann und dieser vor jenem verwirklicht wird, daß also nicht schon m i t dem Hineinspielen des höheren Verfassungsrechtsguts i n die eine, des geringeren i n die andere Falllösungsalternative zugunsten der ersten entschieden ist. Starrheit w i r d vermieden, indem die Bewertungsoperation nicht m i t dem oben als vorschnell erwiesenen Schluß abgebrochen wird, indem vielmehr alle i n den Fall hineinspielenden Verfassungsrechtsgüter und die V e r w i r k lichungsintensitäten der Fallösungsalternativen für jedes dieser Verfassungsrechtsgüter untersucht und veranschlagt werden. Dann hängt i m aktuellen Fall die Durchsetzung eines Verfassungswerts nicht nur von dessen Rang, sondern auch von dem Rang anderer Werte und davon ab, wie intensiv sie alle i m Fall angesprochen sind. I n diesem Sinn faßt die vorgeführte Bewertungsoperation das, was Häberle von Abwägung verlangt und womit er sein Abwägungskonzept erläutert. „Es kann für jedes Grundrecht gesondert ermittelt werden, welche Rechtsgüter i h m gleich- und höherwertig sind, welchen Rang und welches Gewicht es i m Rechtsgüterschutzsystem des GG einnimmt. . . . Das Grundrecht ist eine Größe, die i n der jeweiligen Konfliktsituation gleichsam ,neu' entsteht und jeweils von Fall zu Fall aktualisiert und konkretisiert wird, unbeschadet der Tatsache, daß sie von der Verfassung von vornherein fixiert 1st 12 ." Dabei ist dem MißverständMaßnahme bezüglich beider Ziele folgendermaßen berechnen: Gesamtwirksamkeit = Summe der gewogenen Wirksamkeiten (gewogene Wirksamkeit = W i r k s a m k e i t bezüglich des Ziels m a l Bedeutung des Ziels)." (S. 45/46) 12 S. 33 u n d S. 35.

134

5 Konzepte u n d Positionen i m rechtswissenschaftlichen Schrifttum

nis, das Häberle besorgt und dessen Vermeidung i h m wichtig ist, vorgebeugt. „Die konkurrierenden verfassungsrechtlichen Rechtsgüter stehen nicht etwa i m Verhältnis einer Über- und Unterordnung i n dem Sinn zueinander, daß sie gegeneinander ausgespielt werden dürften. Sie sind vielmehr einander zugeordnet, indem sie sich gegenseitig bedingen 13 ." Geht die Wertordnung i n der durch die Bewertungsoperation vorgeführten Weise i n die Abwägung ein, dann ist sie als vorgegeben, aber nicht starr, als zu aktualisierende, aber nicht beliebig zu relativierende treffend gekennzeichnet. 5.2 Die Positionen der Abwägungsskepsis und das Scheitern des Konzepts des Abwägungsenthusiasmus Die vorgeführte Bewertungsoperation ist ebenso formal wie Häher les Abwägungskonzept 14 , läßt aber i m Unterschied zu diesem sehr scharf ihre Voraussetzungen erkennen. Sie setzt die Ordnung der Verfassungsrechtsgüter oder Verfassungswerte i n einer Kardinalskala, die E r m i t t lung der in einen Fall hineinspielenden Verfassungswerte, das A u f finden der Fallösungsalternativen und die i m Vergleich vorzunehmende kardinale Bestimmung der Verwirklichungsintensitäten voraus. Die Ermittlung der für einen F a l l bedeutsamen Verfassungsgehalte, mögen diese nun als Verfassungsrechtsgüter oder Verfassungswerte oder auch schlicht als Verfassungsnormen zu begreifen sein, und ebenso das A u f finden der Fallösungsalternativen sind für jeden verfassungsrechtlichen Problemlösungsansatz unverzichtbar. Von keinem zu leisten sind dagegen die kardinalen Gewichtungen der Verfassungsgehalte und Verwirklichungsintensitäten. Drei Wege zu einer kardinalen Ordnung der Verfassungsgehalte sind denkbar, ohne doch gangbar zu sein. Die Positionen der Abwägungsskepsis legen dies dar: Der interpretatorische Weg, der Rangverhältnisse von Werten und Rechtsgütern aus Gesetzen ableiten w i l l und i n den Strafgesetzen m i t ihren Unterscheidungen verschiedener Strafmaße tatsächlich eine kardinalskalenfähige Vorlage findet 15, hat i m Verfassungsrecht keinen vergleichbaren A n 13 S. 38. 14 Häberle selbst betont, daß „der Grundsatz der Güterabwägung . . . lediglich formaler N a t u r ist" (S. 32, vgl. auch S. 37), ebenso von Hippel (S. 31). K r i t i s c h spricht von Pestalozzi Kritische Bemerkungen zu Methoden u n d Prinzipien der Grundrechtsauslegung i n der Bundesrepublik Deutschland, v o m Prinzip der Güterabwägung als von einer Leerformel (S. 448). 15 Vgl. Schneider , S. 356/357; Hubmann, Grundsätze der Interessenabwägung, S. 102. Daß die Strafgesetze eine kardinalskalenfähige Vorlage bieten, sagt noch nichts darüber, ob die Erstellung einer entsprechenden K a r d i n a l skala strafrechtsdogmatisch sinnvoll u n d der strafrichterlichen Entscheidung dienlich ist. Skeptisch äußert sich Haag (S. 72 f. u n d S. 126 f.).

5.

Abwägungspi

135

halt 1 6 . Der Weg einer Wertphilosophie, der die Wertordnung von einem als dem höchsten angesetzten Wert stiften lassen und darauf abstellen w i l l , inwieweit die Verfassungsgehalte an dem höchsten Verfassungswert partizipieren 1 7 , entbehrt des Maßstabs, mit dem die stärkere oder schwächere Anwesenheit des höchsten Verfassungswerts i n den anderen Verfassungsgehalten verbindlich zu ermitteln wäre 1 8 . Ein demokratischer Weg, der die Wertordnung der Gemeinschaft aus den Wertordnungen der Individuen ableiten wollte 1 9 , wäre durch die Unmöglichkeit interindividuellen Nutzenvergleichs versperrt 2 0 . Die vorgeführte Bewertungsoperation entspricht Häberles Abwägungskonzept, überzieht aber die methodischen Möglichkeiten von Verfassungsrecht. Ist nur sie eine korrekte Fassung dessen, was Häberle von Abwägung verlangt und i n seinem Abwägungskonzept zu verwirklichen sucht? Wieder sind verschiedene Versuche denkbar, das anspruchsvolle und voraussetzungsreiche Programm der Bewertungsoperation methodisch zu entlasten und zu vereinfachen.

Bisher wurde eine Kardinalskala der Verfassungswerte oder Verfassungsrechtsgüter und damit ein besonders sensibles, aber auch aufwendiges Skalenniveau vorausgesetzt. Ordinalskalen sind nicht so aussagekräftig, aber dafür weniger aufwendig. Die Entlastung der Bewertungsoperation könnte i n der Bescheidung mit Ordinalskalenniveau versucht werden. Der Unterschied sei noch etwas verdeutlicht. Während eine Kardinalskala nur bei Information darüber erstellt werden kann, u m wieviel Vgl. die K r i t i k an der Vorstellung der Verfassung als einer Wertordnung u n d an Güter- u n d Werteabwägungen i m Verfassungsrecht durch Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, S. 28/29 u n d S. 118; Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 39 ff.; Müller, Freiheit der K u n s t als Problem der Grundrechtsdogmatik, S. 21 ff.; Die Positivität der Grundrechte, S. 17 ff.; Juristische Methodik, S. 40 f. u n d S. 44 ff.; von Pestalozza, S. 436 f.; Goerlich, Wertordnung u n d Grundgesetz, S. 136 ff. 17 Dürig, Kommentierung zu A r t . 1, Randnummern 1 ff. u n d 91 ff., i n : Maunz, Dürig, Herzog, Grundgesetz, von Hippel zitiert S. 32, Anm. 40 a, zustimmend Maritain, Einführung, S. 21: „Alles hängt von dem höchsten W e r t ab, von dem alle diese Rechte abhängen, w e n n sie unter gegenseitiger A b grenzung i n ein System gebracht werden sollen." is Vgl. die knappe K r i t i k an der Wertphilosophie durch Podlech, W e r t u n gen u n d Werte i m Recht, S. 201 ff. !» I n diesem Sinn k a n n es gedeutet werden, w e n n Zippelius auf die Wertordnung der herrschenden Rechtsmoral abstellt (S. 131 ff.). so Z u m interindividuellen Nutzenvergleich eingehender unten S. 166 f.

136

5 Konzepte u n d Positionen i m rechtswissenschaftlichen Schrifttum

jedes der zu ordnenden Elemente jedem anderen vorgeordnet oder nachgeordnet ist, und während diese Information eine Maßeinheit des stärkeren und schwächeren Vorziehens und Nachsetzens voraussetzt, verlangt die Erstellung einer Ordinalskala lediglich die Information darüber, ob bei paarweisem Vergleich der Elemente das eine dem anderen vorgezogen oder nachgeordnet ist, und kann auf die Maßeinheit verzichten. Eine Ordinalskala ist leichter zu erstellen als eine Kardinalskala, mag es u m die wertende oder u m eine sonstige Ordnung von Elementen gehen. Daß älter als die Verfassungsgerichtsbarkeit das richterliche Prüfungsrecht und älter noch als dieses die Ministeranklage ist, kann wissen, auch wer nichts davon weiß, u m wieviel diese drei Kontrollfunktionen zeitlich auseinanderliegen und aus welcher Zeit sie stammen. Daß Sicherheit des Staates wichtiger als Meinungsfreiheit und diese wertvoller als Berufsfreiheit sei, mag vertreten, auch wer keine Auskunft über die Stärke der Wert- oder Wichtigkeitsunterschiede geben kann. Die Gewinnung nur schon einer ordinalen Ordnung von Verfassungsgehalten ist schwierig genug. Auf diese Schwierigkeiten soll hier jedoch nicht abgestellt werden, sondern darauf, daß die Bewertungsoperation bei Ordinalskalenniveau zu dem pervertiert, was eine abwägungsskeptische Position als die Tyrannei der Werte kritisiert hat 2 1 . Es mögen wieder vier Verfassungswerte V i bis V4, i n dieser Reihenfolge geordnet, und zwei Alternativen A i und A2 gegeben und gemäß der durch V i bis V4 konstituierten Verfassungswertordnung zu bewerten sein. Gegeben seien ferner Informationen über die V e r w i r k lichungsintensitäten der Alternativen für die Verfassungswerte. VI

V2

V3

V4

AI

0,4

0,1

0,1

0,2

A2

0,1

0,9

0,7

0,8

A i ist für V i nur wenig wertvoller als A2, und A2 ist für V2 bis V4 von soviel größerer Verwirklichungsintensität als Ai, daß die Vermutung naheliegt, die Abwägung müsse zugunsten von A 2 ausfallen. Aber diese Vermutung ist ganz ungesichert und bloß die suggestive Erinnerung der Kardinalskala, m i t der oben die Verfassungswerte i n die Bewertungsoperation eingingen. Wäre die Ordinalskala der Verfassungswerte i n die Kardinalskala 21 Schmitt, Die Tyrannei der Werte, ähnlich Forsthoff , Die U m b i l d u n g des Verfassungsgesetzes.

5.

η

Abwägungspi

V4 1

V3 1

V2 1

0.2

0,4

0,5

137

Vi 1

1

0,8

1

zu überführen, die oben der Bewertungsoperation zugrunde lag, dann träfe die Vermutung zu. Bei Überführung i n die Kardinalskala

0

V4

V3

V2

0,01

0.02

0,03

V! 0,9

wäre sie dagegen ganz verfehlt

22

1

.

Nichts vergewissert die Gestalt, die eine Kardinalskala über i n ordinaler Ordnung vorgegebenen Elementen haben müßte. Die Aussage, daß der Läufer X vor Y und daß dieser vor Ζ das Ziel erreicht hat, sagt lediglich aus, daß X schneller als Y und daß dieser schneller als Ζ war, gibt aber nichts darüber her, wie schnell die drei Läufer waren, wie groß der Abstand zwischen ihnen war, wieviel andere Läufer noch mitliefen, ob X als erster das Ziel erreicht hat und wem welcher Preis gebührt. Für eine gleichmäßige kardinale Verteilung der Verfassungswerte V i bis V4 spricht nicht mehr als für jede ungleichmäßige und die Kardinalskala 1

V4 1

V3 1

0

0,2

0.4

V2 1

V! 1

0.6

I

0,8

1

liegt nicht näher als irgendeine andere. Gewißheit besteht über die ordinale Vorordnung von V i vor V2, V2 vor V3 und V3 vor V4. Die verfassungsrechtliche Abwägung, die A b wägung i n der Wertordnung der Verfassung sein w i l l , kann lediglich diese Gewißheit und damit den Vorrang der Alternative zur Geltung bringen, die den höchsten Wert am intensivsten verwirklicht. Für eine Veranschlagung des Preises, den der Vorrang dieser Alternative für die anderen Werte hat, fehlt ihr die Sensibilität. Zwar sieht sie die 22 VI

V2

v3

V4

Zeilensumme

Ai

0,9 X 0,4 = 0,36

0.03 X 0,1 = 0.003

0.02 X 0.1 = 0.002

0.01 X 0.2 = 0.002

0.367

A2

0.9 X 0,1 = 0.09

0,03 Χ 0,9 = 0,027

0,02 Χ 0.7 = 0.014

0.01 Χ 0,8 = 0.008

0.139

138

5 Konzepte und Positionen i m rechtswissenschaftlichen Schrifttum

verschiedenen Verwirklichungsintensitäten der Alternativen für V2 bis V4, sie kann die Alternativen aber ohne eine den Bezug herstellende Kardinalskala der Verfassungswerte ungleich der oben vorgeführten Bewertungsoperation, der die Entscheidung für die Alternative A i trotz deren intensivem Beitrag für die Verwirklichung des höchsten Verfassungswerts i n einem der beiden Fälle i m Hinblick auf die anderen Verfassungswerte gewissermaßen zu teuer kam, nicht gegeneinander verrechnen. Bei ordinaler Ordnung eignet den Verfassungswerten die von Schmitt beschriebene tyrannische Logik: „Wertlogisch muß immer gelten: daß für den höchsten Wert der höchste Preis nicht zu hoch ist und gezahlt werden muß. Diese Logik ist viel zu stark und einleuchtend, als daß sie i m Kampf der Werte eingeschränkt oder bedingt werden könnte 2 3 ." Abwägung kann i n einer solchen Wertordnung nur die Durchsetzung eines Verfassungsgehalts auf Kosten anderer bedeuten. Häberle selbst wendet sich gegen die Tyrannei der Werte, gegen die Logik, nach der die einzelnen Werte sich gegeneinander durchsetzen oder gegeneinander ausgespielt werden 2 4 . Daher kann sein Abwägungskonzept bei einer ordinalen Wertordnung, i n der sich eben diese tyrannische Logik zur Geltung bringt, nicht korrekt rekonstruiert werden.

Ist einerseits Kardinalskalenniveau der Verfassungswertordnung für die Herstellung eines Bezugs zwischen verschiedenen Verwirklichungsintensitäten von Alternativen und damit für die Ermittlung des Preises, der bei Verfolgung eines Werts i m Verzicht auf die Verwirklichung der anderen gezahlt wird, unentbehrlich, ist aber andererseits der interpretatorische ebenso wie der wertphilosophische und der demokratische Weg zur Gewinnung der Kardinalskala versperrt, dann bleibt aus diesem Dilemma scheinbar noch der Ausweg, alle Verfassungsgehalte m i t demselben Wert anzusetzen. Die Bewertungsoperation kommt dann, u m eine Schwierigkeit reduziert, wieder i n Gang. I n die Matrix 23 S. 60 — I n ähnlicher Richtung, freilich m i t weniger Emphase schreibt Müller, Juristische Methodik: „Die Ganzheit eines grundrechtlichen »Wertsystems' ist auch m i t Hilfe des formalen Prinzips der sogenannten Güterabwägung nicht rationalisierbar. . . . Güterabwägung ist m i t ihrer g r u n d sätzlichen Annahme von A x i o m e n w i e ,Vorrang' oder ,Höherwertigkeit' v e r fassungsrechtlicher ,Interessen' bzw. Rechtsgüter stets i n Gefahr, i m praktischen F a l l eine Verfassungsnorm zu ausschließlich auf Kosten einer anderen ,vorgehen' zu lassen u n d dabei das Interpretationsprinzip der Einheit der Verfassung aus den Augen zu verlieren." (S. 45) 24 S. 38 (vgl. das Zitat oben bei A n m e r k u n g 13) und, unter Bezug auf Schmitt, S. 6.

5.

139

Abwägungspi

VI

V2

v3

V4

AI

0,4

0,1

0,1

0,2

A2

0.1

0,9

0,7

0,8

sei für V i bis V4 jeweils der Wert 0,5 eingeführt. Dann weist das Ergebnis, i n der oben beschriebenen Weise gewonnen, den Vorrang der zweiten Alternative aus. Diesen Vorrang ergibt die Bewertungsoperation auch dann, wenn V i bis V4 mit 1, mit 0,8 oder mit einem beliebigen anderen Wert größer als 0 eingebracht werden. Die Werte, die i n der Bewertungsoperation für V i bis V4 angesetzt werden, sagen also darüber, wie wertvoll V i bis V4 wirklich sind, nichts mehr aus. Der Verächter der Verfassung kann gegen die Veranschlagung der Verfassungsgehalte mit 0,9 ebensowenig einwenden wie der Befürworter gegen die Bewertung m i t 0,1. Solange nichts höher als 0,1 bzw. niedriger als 0,9 angesetzt wird, können m i t diesen Bewertungen beliebige Vorstellungen vom wirklichen Wert der Verfassungsgehalte verbunden werden. Daß überhaupt ein allen Verfassungsgehalten i n gleicher Weise zukommender Wert eingeführt wird, hat nur die Bedeutung, den Vergleich der verschiedenen Verwirklichungsintensitäten verschiedener Alternativen und damit ihre Verrechenbarkeit i n der Bewertungsoperation zu ermöglichen 25 . Was Häberle i n seinem Abwägungskonzept zu verwirklichen sucht, wäre so allerdings ebenfalls verfehlt. Denn Häberle w i l l eine Ordnung mit verschiedenem Gewicht, m i t höherem und geringerem Rang der Verfassungswerte und Verfassungsrechtsgüter. Dieses Konzept einer Verfassungswertordnung und der Abwägung i n ihr wäre mit der Annahme der Gleichrangigkeit aller Güter und Werte unverträglich. M i t dieser Annahme verträgt sich jedoch das andere Abwägungskonzept, das gelegentlich und insbesondere bei Art. 5 i n der Rechtsprechung des BVerfG begegnete 26 . Das BVerfG hat i n der Abwägung des Lüth-Urteils den Wert des Grundrechts der Meinungsfreiheit nicht höher veranschlagt als den Wert der anderen i m Verfahren geltend gemachten Grundrechte, sondern es hat den Gebrauch, den L ü t h von 25 Die Bedeutung einer Annahme der Gleichrangigkeit aller Verfassungsgehalte liegt insofern jenseits der Begriffe der Ordinalität u n d Kardinalität, als ordinale wie kardinale Skalen dazu dienen, Bewertungsunterschiede zu fassen, während Gleichrangigkeit gerade das Fehlen von Bewertungsunterschieden ausdrückt. Insofern jedoch berühren sich die Begriffe der Gleichrangigkeit u n d Kardinalität, als gleichrangiges ebenso wie kardinales A n setzen von Werten den Vergleich u n d die Verrechnung von Verwirklichungsintensitäten erlaubt, se Siehe oben S. 19 ff.

140

5 Konzepte u n d Positionen i m rechtswissenschaftlichen Schrifttum

der Meinungsäußerungsfreiheit gemacht hat, wertvoller als den Grundrechtsgebrauch Harlans und der Filmgesellschaften eingeschätzt. Deswegen konnte es, ohne eine i m L ü t h - U r t e i l gerade erst erkannte Wertordnung schon wieder zu vergessen oder zu verkehren, i n der A b w ä gung des Wahlplakate-Urteils die Meinungsfreiheit des Mieters hinter der Eigentumsfreiheit des Vermieters zurücktreten lassen, indem es diesem wertvolleren Grundrechtsgebrauch als jenem bestätigte. M i t der i n beiden Urteilen anzutreffenden Unterscheidung eines bloß formalen, eines üblichen und eines rechten sozialen Grundrechtsgebrauchs hat das BVerfG gewissermaßen die Recheneinheit erkennen lassen, m i t der verschiedene Verwirklichungsintensitäten einheitlich gemessen und miteinander verglichen werden können. I n beiden Abwägungen hat das BVerfG die vorgeführte Bewegungsoperation i n der reduzierten Weise durchgeführt, die durch die Annahme der Gleichrangigkeit bedingt ist. So ist die Problematik der Abwägung i n der Wertordnung des Grundgesetzes mit der Annahme der Gleichrangigkeit nicht erledigt. Bisher wurde offen gelassen, welche Vorstellung mit dem Begriff der Verwirklichungsintensität zu verbinden sei. Solange ohne nähere Unterscheidung von Verfassungswerten, Verfassungsrechtsgütern, Verfassungsnormen und am nichtssagendsten von Verfassungsgehalten die Rede war, mochten sich m i t dem Begriff der Verwirklichungsintensität noch verschiedene Vorstellungen verbinden. I n einer Situation kann ein Ziel mit größerer oder kleinerer Wahrscheinlichkeit erreicht werden, kann um eines Rechtsguts w i l l e n auf ein anderes mehr oder weniger verzichtet werden müssen, können die sozialen Kosten für das Durchhalten einer Norm höher oder geringer sein. Die Schwierigkeiten, für solche Beurteilungen von Alternativen genauere Maßstäbe zu finden, kamen hinter den Problemen der kardinalen oder ordinalen Ordnung von Verfassungsgehalten nicht i n den Blick. Nun, wo diese Probleme mit der Annahme der Gleichrangigkeit entfallen und die Bewertungsoperation auf den Vergleich und die Verrechnung von auf die Verfassungsgehalte zu beziehenden Intensitätsgraden reduziert ist, w i r d deren nähere Bestimmung entscheidend. Werden die Grundrechte als Werte verstanden, dann ist die Unterscheidung von diese Werte intensiver und weniger intensiv verwirklichendem, von mehr oder weniger wertvollem Grundrechtsgebrauch vielleicht nicht schon unvermeidlich. Aber anders als bei einem anderen Verständnis der Grundrechte drängt sie sich auf 2 7 . 27 M i t dieser Konsequenz ist das Reden des B V e r f G von Grundrechten als Werten doch mehr als die „ n u r unbedachte W o r t w a h l vor dem H i n t e r grund eines Wertverständnisses i m Sinn von Rechtsgütern", die Müller , N o r m s t r u k t u r und Normativität, S. 217, meint.

5.

Abwägungspi

141

Das Verständnis der Grundrechte als Werte ist nicht nur von rechtlicher Fragwürdigkeit, indem es gerade dort unterscheidet und i n eine Pflicht des Verwirklichens von Werten nimmt, wo Freiheit grundsätzlich ohne Unterschied gemeint ist. Es ist auch methodisch problematisch. Die Ermittlung von Wahrscheinlichkeit, die Diskussion von Verzicht als Folgeproblem und die Abschätzung sozialer Kosten führen i n empirische Fragen und zu empirisch überprüfbaren Antworten 2 8 . Die Beurteilung von Grundrechtsgebrauch als mehr oder weniger wertvoll i n der unvermittelten Zuordnung von Verhalten und Wert gerät demgegenüber — auch hierauf weisen die Positionen der Abwägungsskepsis h i n 2 9 — zur weder durch Empirie noch durch Interpretation disziplinierten subjektiven Bewertung.

Die Bewertungsoperation, in der Häberles Abwägungskonzept rekonstruiert wurde, ist methodisch zu aufwendig und kann auf den methodischen Aufwand doch nicht verzichten. Die Ersetzung der Kardinalität der Werte durch Ordinalität führt i n die Tyrannei der Werte, die A n nahme der Gleichrangigkeit gibt das Konzept einer Werteskala überhaupt auf und beleuchtet zudem die Fragwürdigkeit des Verständnisses der Grundrechte als Werte. Es bleibt noch der Einwand, die Diskussion von Abwägungsenthusiasmus und Abwägungsskepsis dürfe so, wie dies hier geschehen ist, gar nicht geführt werden. Muß ein Abwägungskonzept, u m brauchbar zu sein, korrekt gefaßt werden können? Genügt es nicht, wenn schon auf die korrekte Fassung nicht verzichtet wird, diese i n der Distanz eines Vorbilds zu halten? Kann das Verfehlen des Vorbilds angelastet werden, wo sich die Vielfalt der Lebensverhältnisse und die Vagheit der Umgangssprache gegen den Zugriff formaler Methoden sperren? Ist nicht das Argumentieren in Enthymemen Beleg dafür, daß richtig geschlossen werden kann, obw o h l der Schluß nicht i n logisch korrekter Fassung geboten wird 3 0 ? Alltäglichem Entscheidungsverhalten ist es nicht fremd, daß einer 28 Auch Goerlich, S. 178 ff., setzt seine eindringliche K r i t i k an den A r gumentationsfiguren der Wertordnung u n d der Abwägung positiv i n die Forderung nach Folgendiskussion um. Allerdings bleiben dabei Methode u n d Reichweite der geforderten Folgendiskussion, die Grenze zwischen Recht u n d Politik, richterlicher u n d gesetzgeberischer Folgenbewertungskompetenz unklar. 29 Vgl. neben der i n A n m e r k u n g 16 angeführten L i t e r a t u r Arndt, Zur Güterabwägung bei Grundrechten (Art. 5 GG) ; Lerche, Ubermaß u n d V e r fassungsrecht, S. 129, u n d insbesondere S. 224; Rezension v o n Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des A r t . 19 Abs. 2 Grundgesetz. so Vgl. zum arguing i n enthymemes Quine, Methods of Logic, S. 185 ff.

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5 Konzepte u n d Positionen i m rechts wissenschaftlichen Schrifttum

Handlung, die ein hoch bewertetes Ziel nachdrücklicher verfolgt als eine andere, diese andere Handlung doch vorgezogen wird, weil sie zwar nur ein eher gering bewertetes Ziel, dieses aber m i t ganz besonderem Nachdruck fördert. Kann nicht so die Pointe der Bewertungsoperation zur Geltung kommen, auch ohne daß die abzuwägenden Größen genau gemessen, skaliert und numerisch verrechnet werden? Die A n t w o r t auf diese Fragen erfolgt auf zwei Ebenen. Ob eine A n t w o r t richtig oder falsch ist, das hängt allerdings nicht davon ab, ob alle Prämissen erwähnt oder ob manche unausgesprochen vorausgesetzt sind. Aber der Nachweis der Richtigkeit oder Falschheit kann n u r i m Blick auch auf die unterdrückten Prämissen und i n der entsprechenden Ergänzung der Prämissenmenge geführt werden. Wo die Prämissen, an die der Argumentierende gedacht, die er aber nicht ausgesprochen hat, und die Form des Schlusses, die er beabsichtigt hat, nicht herausgefunden werden können, da vergewissert nichts, daß die Argumentation richtig war. Formale Korrektheit, das ist der eine Teil der Antwort, muß nicht verwirklicht, sie muß aber verwirklichbar sein. Der andere Teil der A n t w o r t stellt auf den Unterschied zwischen dem Entscheidungsverhalten jedermanns und dem staatlichen Entscheidungsverhalten ab. Konsistenz des Entscheidens hat für den Staat einen anderen Stellenwert als für jedermann. Die Vor- und Nachordnung von Zielen muß dann nicht skaliert, der Nachdruck, mit dem Handlungsalternativen Ziele fördern, dann nicht gemessen werden, wenn die Ordnung nicht durchgehalten und die Zielerreichung nicht kontrolliert werden muß. Nur dies ist ja der Sinn der vorgeführten Bewertungsoperation: Indem sie den Entscheidungsvorgang der Abwägung i n der Wertordnung des Grundgesetzes korrekt faßt, macht sie erst seine Voraussetzung und damit die Bedingungen erkennbar, von denen die K o n sistenz des Entscheidens abhängt. Das Gebot der Konsistenz wiederum ist Bedingung für die Möglichkeit der Kontrolle. Auch für jedermann i m alltäglichen Entscheidungsverhalten gibt es Konsistenz. Als K o n sistenz der Selbstdarstellung hat sie jedoch eine eigene Bedeutung: Wem bis heute der Beruf wichtiger als die Gesundheit und ab morgen diese wichtiger als jener ist, der kann doch durch den gleichmäßigen Charme, mit dem er sich einmal gesundheitlich und andermal beruflich ruiniert, einen Persönlichkeitsstil konsistent durchhalten. Das Verhältnis zwischen Staat und Bürger kann sich nach einer Wertordnung des Grundgesetzes und der Abwägung i n i h r allenfalls dann bestimmen, wenn Wertordnung und Abwägung sich i n der m i t der Bewertungsoperation vorgeführten Weise fassen lassen 31 . Solange 31 Unbestimmtheiten von der A r t , daß die Einordnung eines Verfassungswerts etwa zwischen 0,2 u n d 0,4 schwankt, könnten dabei durchaus b e w ä l tigt werden.

5.3 Abwägungspragmatik

143

dies nicht gelingt, sind die Positionen der Abwägungsskepsis dem A b wägungsenthusiasmus überlegen. 5.3 Das Programm der Abwägungspragmatik Eine pragmatische Einschätzung der Werte-, Güter- u n d Interessenabwägung findet sich zunächst bei den Theoretikern des Gebots der Verhältnismäßigkeit, die der Abwägung i m Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung einen festen, aber bescheidenen Platz einräumen 3 2 . von Krauss 33 unterscheidet die Prüfung der Notwendigkeit einer staatlichen Maßnahme v o n der Prüfung ihrer Verhältnismäßigkeit i m engeren Sinn. Erst i n beiden Prüfschritten zusammen sieht er den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfüllt. M i t der Notwendigkeitsprüfung, der von Krauss den Vorrang zuweist, soll untersucht werden, welche v o n mehreren Maßnahmen, die zur Erreichung des i m öffentlichen Interesse liegenden Zwecks geeignet sind, das individuelle I n teresse des Betroffenen am geringsten belastet. Dabei sei das öffentliche Interesse noch nicht zu hinterfragen; selbst wenn es ganz minderw e r t i g sei, könne an i h m der Eingriff als notwendig erwiesen u n d i n soweit gerechtfertigt werden. Die Befragung des öffentlichen Interesses auf seinen Wert behält von Krauss der anschließenden Prüfung der Verhältnismäßigkeit i m engeren Sinn vor. I n i h r sollen die Interessen abgewogen werden, w i e sie bei der notwendigen Maßnahme gegeneinanderstehen. Die Abwägung gerät bei von Krauss zu einer konkreten B i l l i g k e i t s - u n d Zumutbarkeitsprüfung. Wo die Maßnahme die Existenz des Betroffenen vernichte, bedrohe oder erheblich erschwere, da müsse sie unterlassen oder abgeschwächt werden. Außerdem liege UnVerhältnismäßigkeit i n diesem engeren Sinn u n d nicht das Fehlen von Notwendigkeit dann vor, wenn die öffentliche Maßnahme wegen Nichtigkeiten oder bloßer Belästigungen i n individuelle Freiheiten eingreife. A n den i n diesen beiden Prüfschritten entfalteten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sieht von Krauss auch den Gesetzgeber gebunden 3 4 . 32 Häberles kursorische und dabei wenig klare Erörterung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (S. 67 ff.) bleibt hier außer Betracht. Häberle meint zunächst, die Prüfung der Verhältnismäßigkeit setze eine Güterabwägung voraus. Dann reduziert er das Verhältnismäßigkeitsgebot darauf, es verlange lediglich die Geeignetheit der Maßnahme zur Erreichung des erstrebten Ziels. Schließlich soll es i n manchen Fällen doch n u r die zwingend erforderliche freiheitsbegrenzende Maßnahme zulassen. Damit aber mündet der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wieder i n den Grundsatz der A b wägung, w i e Häberle i h n S. 34 faßt. 33 von Krauss, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit — vgl. zum folgenden S. 14 ff. und S. 87 ff. 84 S. 42 ff.

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5 Konzepte u n d Positionen i m rechts wissenschaftlichen Schrifttum

Dem Grundsatz eigne die Doppelnatur eines Rechtsgrundsatzes und eines Grundrechts, seine Geltung ergebe sich als eine überstaatliche und zugleich aus A r t . 2 und Art. 19 I I . Auch Lerche 35 unterscheidet zwischen der Prüfung der Notwendigkeit, der auch er die Frage nach der Geeignetheit vorordnet 3 6 , und der Prüfung auf Angemessenheit oder Unangemessenheit als einer A b w ä gung von Rechtsgütern. Dabei treten die beiden Prüfschritte nicht unter dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zusammen, sondern werden i n Ablehnung eines weiteren und eines engeren Sinns der Verhältnismäßigkeit als der Grundsatz der Erforderlichkeit einerseits, der Verhältnismäßigkeit andererseits getrennt gehalten. Daß i m Verstoß gegen den einen wie gegen den anderen Grundsatz ein Verbot des Ubermaßes verletzt werde, dürfe den Unterschied nicht verwischen. Erforderlich sei für die Erreichung eines Zwecks immer nur ein einziges Mittel, verhältnismäßig könnten mehrere sein. Lerche gilt ein M i t t e l also nicht darum schon als nicht verhältnismäßig, w e i l es nicht erforderlich ist. Damit scheint die Erforderlichkeitsprüfung den Vorrang zu verlieren, den ihr von Krauss zuweist. Obwohl Lerche die Eigenständigkeit des Verhältnismäßigkeitsgebots als eines Abwägungsgebots betont, ist er von dem Abwägungsenthusiasmus, der bei Häberle begegnet, weit entfernt 3 7 . Der Gedanke der Abwägung sei geeignet, i n das Verfassungsrecht Bewertungen einzuführen, die erfunden statt vorgefunden, subjektiv statt objektiv und insgesamt zweifelhaft seien. Er müsse daher zurückgedrängt werden. Das Verhältnismäßigkeitsgebot ziehe dem Erforderlichkeitsgebot nach und hindere dieses daran, begleitet von einer Ausweitung des Bereichs legitimer Zwecke zur Rechtfertigung jeden gesetzgeberischen Vorhabens zu taugen. Verhältnismäßigkeitsprüfung bedeutet für Lerche zunächst die Frage, ob der Gesetzgeber nicht einen Zweck verfolgt, der durch die Verfassung als vom Gesetzgeber zu verfolgender aus dem offenen Bereich von Zwecken oder Rechtsgütern gerade ausgeschieden ist 3 8 . I n diesem Sinn versteht Lerche die Neutralität des Grundgesetzes i n Fragen einer Wirtschaftsverfassung als Schranke für die umfassende Durchsetzung einer doktrinären Wirtschaftsideologie bei Freiheit zur Verfolgung konkret ausgewiesener wirtschaftlicher Zwecke. Das Verhältnismäßigkeitsgebot w i r d so zum Gebot der Zweckkonkretheit, die Ver35 Lerche, Übermaß u n d Verfassungsrecht — vgl. zum folgenden zunächst S. 19 ff. 36 Eine nähere Bestimmung des Grundsatzes der Geeignetheit bietet Lerche S.75ff. 37 Vgl. die Hinweise auf Lerche schon oben i n A n m e r k u n g 28. 38 S. 223 ff.

5.3 Abwägungspragmatik

145

hältnismäßigkeitsprüfung zur entsprechenden Zweckanalyse. Lerches Untersuchung der Bedeutung der Verhältnismäßigkeit für das Sozialstaatsgebot ist daher das Bemühen nicht u m Gewichtung und abwägenden Vergleich des Hangs von Gemeinschafts- und Individualgütern, sondern u m Auseinanderlegung des Sozialstaatsgebots i n verschiedene Zweckbereiche und u m deren Konkretisierung soweit, daß das Erforderlichkeitsgebot ansetzen und daß mit der Erforderlichkeitsprüfung die Frage nach der Rechtfertigung des gesetzgeberischen Verhaltens beantwortet werden kann. Sei ein Institut als zum Mindestbestand institutioneller Sozialität gehörend bestimmbar, dann dürfe der zu seinem Schutz notwendige Eingriff i n Grundrechte vom Gesetzgeber vorgenommen werden. Lasse sich das Nichtfunktionieren einer sozialen Einrichtung als Mißstand bestimmen, dann sei dem Gesetzgeber die Beseitigung dieses Mißstands aufgetragen. Wo der Gesetzgeber, durch das Sozialstaatsgebot ermächtigt, grundlegende soziale Umgestaltungen vornehmen und neue soziale Ordnungen aufrichten wolle, da bleibe Sozialität zwar Rechtsgut, sei aber noch nicht konkretisiert. I n diesem Bereich des Sozialstaatsgebots seien Grundrechtseingriffe dem Gesetzgeber daher nur insoweit möglich, als die Eingriffszwecke durch die Verfassung besonders abgestützt seien. M i t diesen Unterscheidungen und Bestimmungen w i l l Lerche das Verhältnismäßigkeitsgebot i n formalen Strukturen entfalten. Bei A r t . 19 I I w i l l er anders es als Gebot inhaltlicher Abwägung verstanden wissen 39 . A r t . 19 I I schütze einen i n den Freiheitsgrundrechten jeweils verborgenen institutionellen Gehalt und errichte damit für den Gesetzgeber eine institutionelle Sperre. Es müsse abgewogen werden: „Je stärker sich das gesetzgeberische Vorhaben der Antastung dieser institutionellen Sperre nähert, desto gefährdeter w i r d seine Verhältnismäßigkeit; bei Erreichung der Sperre schlägt es ins schlechthin Unverhältnismäßige u m 4 0 . " Lerche bezeichnet seine Formel als Abwägungsmaßstab, ohne jedoch für das Vorfeld der institutionellen Sperre und für die Sperre selbst maßstäbliche Kriterien und Strukturen anzugeben. Wo er an A r t . 19 I I Eingriffe, die sich auf das zeitlich Absehbare und sachlich Unerläßliche nicht beschränken, scheitern läßt, da geht es nicht um eine besondere materiale, sondern u m die von i h m als eine formale verstandene Struktur des Erforderlichkeitsgebots. Das Abwägungsund Verhältnismäßigkeitsgebot bleibt bei Lerche also selbst dann i m Schatten des Erforderlichkeitsgebots, wenn es vor diesem gerade ins Licht gerückt zu werden verspricht. I n seinem Fazit spricht Lerche dies auch aus: „Rückblickend auf das Gesamtbild der Funktionen des Verse S. 235 ff. 40 S. 243. ]0

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5 Konzepte u n d Positionen i m rechtswissenschaftlichen Schrifttum

hältnismäßigkeitsgebots bestätigt sich, daß hier bei weitem nicht jene Handgreiflichkeit erreicht werden kann, wie sie die Funktionen des Erforderlichkeitsprinzips auszeichnet. Immerhin . . . w i r d eine Plattform geschaffen, auf Grund derer dann das andere Glied des Ubermaßgedankens, das Erforderlichkeitsprinzip, die beschriebenen zahlreichen Einzelfunktionen auszuspielen vermag 4 1 ." Die Kraft des formalen Erforderlichkeitsgebots und die Schwäche des materialen Abwägungsgebots sind schon i n Lerches Ansatz angelegt 4 2 . Uber den Begriff der dirigierenden Verfassung sucht er am Grundgesetz das zu erfassen, was sich unter den von i h m auch soziologisch erhellten Bedingungen der Verschränkung von Staat und Gesellschaft, der neuen Staats- und Gesellschaftsfunktionen, der Wandlung des Gesetzes, insbesondere der Ausbildung des Maßnahmegesetzes, und der zum Vollzug erst aufgetragenen Verfassungsgehalte einer Behandlung m i t dem traditionellen verfassungsrechtswissenschaftlichen Instrumentarium sperrt. Unter den gewandelten Bedingungen diagnostiziert Lerche ein Versagen des überkommenen Rechtsstaatsverständnisses. Die Geltung des Ubermaßverbots folgt für ihn nicht mehr aus dem traditionell verstandenen Rechtsstaatsgebot, sondern aus der dirigierenden Verfassung. I n diese w i l l er durch seine Entfaltung des Erforderlichkeits- und des Verhältnismäßigkeitsgebots die Strukturen der Rechtsbestimmtheit und Rechtssicherheit einziehen, die nach seiner Diagnose vom überkommenen Rechtsstaatsverständnis aus nicht mehr entwickelt werden können. Damit ist Lerches Ubermaßverbot immerh i n ein Erbe des überkommenen Rechtsstaatsverständnisses und teilt daher mit diesem das Streben nach formaler Strenge und die Furcht vor materialer Beliebigkeit. Die Aufschlüsselung des Verhältnismäßigkeitsgebots für Grundrechtseingriffe durch Gentz 4 3 bietet nochmal das B i l d der Abwägung i m Schatten der Erforderlichkeitsprüfung. Die Frage nach dem Geltungsgrund offenlassend, unterscheidet Gentz i m Verhältnismäßigkeitsgebot die folgenden Gehalte, denen bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung verschiedene Prüfschritte entsprechen. Das Verhältnismäßigkeitsgebot verlangt zunächst einen verfassungslegitimen Eingriffszweck und ein verfassungslegitimes Eingriffsmittel. Verfassungslegitimität w i r d dabei negativ bestimmt als das Fehlen eines Verbots von Zwecken oder M i t t e l n durch das Grundgesetz. Das Verhältnismäßigkeitsgebot verlangt weiter die Geeignetheit und die Erforderlichkeit des Eingriffsmittels zur Erreichung des Eingriffszweckes. Geeignetheit und Erforderlich41

42 43

S. 250.

Vgl. zu Lerches Ansatz S. 53 ff. und S. 61 ff. Gentz, Z u r Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseingriffen.

5.3 Abwägungspragmatik

147

keit sind i n dieser Reihenfolge zu prüfen; aus einer Menge von Grundrechtseingriffen, die alle als M i t t e l zur Erreichung des Zwecks geeignet sind, wählt die Erforderlichkeitsprüfung denjenigen aus, der dem Betroffenen den geringsten Nachteil bringt. Das Verhältnismäßigkeitsgebot verlangt schließlich, daß Zweck und M i t t e l nicht außer Verhältnis zueinander stehen. Erst bei diesem Prüfschritt, von Gentz als Prüfung der Verhältnismäßigkeit i m engeren oder eigentlichen Sinn verstanden, beginnt die Abwägung. Sie ergibt die Zumutbarkeit oder Unzumutbarkeit des Grundrechtseingriffs für den Bürger. I n dieser Abschichtung des Verhältnismäßigkeitsgebots sieht Gentz die Bedingung der Möglichkeit, für die Verhältnismäßigkeitsprüfung objektive Kriterien zu finden und subjektiven Wertungen vorzubeugen 44 . Die Unterscheidung der Prüfschritte bewährt sich, indem A b wägung auch für Gentz nicht als die Aufgabe verstanden wird, Gemeinschafts- und Individualgüter zu gewichten, ihren Rang zu bestimmen und sie danach zu vergleichen. Abwägung gilt bei Gentz vielmehr den Alternativen, die jeweils den Eingriffs- und Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers konstituieren 4 5 . Es sei angenommen, der Gesetzgeber habe sich, einen bestimmten Zweck verfolgend, für das M i t t e l eines bestimmten Grundrechtseingriffs entschieden. Ein anderer Eingriff möge für den bestimmten Zweck den erstrebten Erfolg bringen, dem Bürger die Freiheit lassen, aber dem Staat Kosten oder Nachteile bei der Verfolgung anderer Zwecke verursachen. Bei einer weiteren Alternative möge zwar der bestimmte Grundrechtseingriff schonender ausfallen, aber dafür i n andere Grundrechte anderer Bürger eingegriffen werden. Das Gebot der Abwägung w i r d für Gentz zum Gebot des Einbezugs und der Analyse solcher Alternativen. Damit sind Wertungsfragen i m Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht erübrigt, aber anders gestellt. Sie sind nicht mehr i n Gewichtung und abwägendem Vergleich abstrakter Interessen, Güter oder Werte, sondern i n der Diskussion konkreter Alternativen und Folgen zu beantworten. Die Begrifflichkeit der Theoretiker des Verhältnismäßigkeitsgebots ist präziser als die des BVerfG. Während dieses die Begriffe des A b wägungs· und des Verhältnismäßigkeitsgebots ineinanderfließen läßt und als Abwägung bald den Vorgang der Verhältnismäßigkeitsprüfung insgesamt, bald nur einen Teil dieses Vorgangs, bald auch andere Weisen der Aufhebung von Spannungen, von Spannungen insbesondere i m Grundgesetz faßt, scheiden die Theoretiker des Verhältnismäßigkeitsgebots sorgfältig zwischen der Befragung des Eingriffszwecks, den Untersuchungen der Geeignetheit und Erforderlichkeit des Eingriffs 44 s. 1601, 1603.

45 S. 1603/1604. 10*

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5 Konzepte u n d Positionen i m rechtswissenschaftlichen Schrifttum

und der Abwägung als dem Vorgang, i n dem ein etwa noch verbleibender Problemrest als Wertungsaufgabe gestellt und abgearbeitet wird. Über den Unterschieden i n der Begrifflichkeit darf aber die Nähe i n den Methoden nicht verkannt werden. I n der Theorie des Verhältnismäßigkeitsgebots treten ebenso wie i n der Praxis des BVerfG hinter den empirischen Fragen von Geeignetheit und Erforderlichkeit die Wertungsfragen zurück und verlieren dabei die Ausrichtung, die ihnen immer wieder anzutreffende Abwägungsformeln des BVerfG sowie die Konzepte des Abwägungsenthusiasmus geben wollen. Statt als Fragen der Gewichtung, der Rangbestimmung und des abwägenden Vergleichs von Interessen, Gütern und Werten erscheinen sie aufgefächert i n die Fragen einerseits nach der Legitimität des Eingriffszwecks, andererseits nach der Wahrung der Mindestposition 4 6 und schließlich nach den Alternativen und Folgen.

I n der Erwartung einer abwägungspragmatischen Haltung fällt der Blick auf das Zivilrecht. Ohne eine solche Haltung scheint die Fülle der Abwägungsaufgaben, die von der Zivilrechtsdogmatik vorgefunden oder erfunden wurden, nicht bewältigbar zu sein. Wenn die Erwartung an die i m Zivilrecht prominenteste Bemühung gerade u m die Methode der Abwägung gerichtet wird, dann w i r d sie allerdings nur unzureichend erfüllt. Hubmanns Versuch, die Grundsätze der A b w ä gung methodisch und die Methode der Abwägung grundsätzlich zu entwickeln 4 7 , ist lehrreicher als durch seine Richtigkeiten durch seine Fehler. Auch Hubmann w i l l die große Aufgabe der Abwägung i n kleine Aufgaben auseinanderlegen, w i l l Abwägung rational und schließlich sogar mathematisch machen. Er gelangt über seinen Bemühungen zu manchen brauchbaren Unterscheidungen und Strategien, aber i m Ergebnis, wie er selbst es für das Verfassungsrecht fruchtbar machen w i l l , w i r d Abwägung wohl neu notiert, aber nicht besser kontrolliert. Hubmanns erste Untersuchung zur Methode der Abwägung hält sich noch ganz i m Rahmen herkömmlicher methodischer Bemühungen i n der Rechtswissenschaft. Vorsichtig an die Interessenjurisprudenz sowie an die Wertphilosophie anknüpfend 4 8 , Interesse als Streben nach Gü46 Beachte die auf Wahrung einer Mindestposition zielende A b w ä g u n g insbesondere bei von Krauss (S. 15 ff.). 47 Hubmann, Grundsätze der Interessenabwägung; Die Methode der A b wägung. 48 Reiche Hinweise zur Geschichte der Interessenabwägung i m Rahmen der E n t w i c k l u n g der Interessenjurisprudenz bei Edelmann, Die E n t w i c k l u n g der Interessenjurisprudenz.

5.3 Abwägungspragmatik

149

tern und Werten verstehend und eine Rangordnung der Güter und Werte zwar nicht aufstellend, aber als Ertrag einer Rechtsordnung und K u l t u r fordernd versucht Hubmann, Prinzipien der Bewertung von Situationen und Verhalten und der Lösung von Konflikten zu gewinnen. Bei einer Interessenabwägung seien sachfremde Interessen zu vernachlässigen, miteinander eng verbundene Interessen als Einheit zu behandeln, Häufungen von Interessen besonders zu beachten, die näheren Güter und Werte den ferneren vorzuziehen und die früher angemeldeten Interessen den später entstandenen und seien die intensiver beeinträchtigten Interessen vor den schwächer betroffenen zu berücksichtigen. Dabei sei das Verhalten der Beteiligten abstufend danach negativ zu bewerten, ob es Werte arglistig, absichtlich, schuldhaft mißachtet, ob es Güter gefährdet oder ob es Wertkonflikte veranlaßt habe. Für die Konfliktlösung nennt Hubmann vier Prinzipien. Das Ausweichprinzip soll i n einem Konflikt gelten, i n dem die konfligierenden Interessen auf verschiedenen Wegen verfolgt werden können. Zum Ausweichen verpflichtet sei der Interessent, dem dies leichter möglich sei. I n einem unausweichlichen Konflikt gelte das Ausgleichsprinzip und verlange allen konfligierenden Interessen eine Beschränkung ab. Seien Ausweichen und Ausgleich unmöglich, dann dürfe sich das höher zu bewertende Interesse auf Kosten des geringeren durchsetzen, müsse aber dem Prinzip des schonendsten Mittels gehorchen und die Beeinträchtigung des geringeren Interesses auf das unbedingt Erforderliche beschränken. Das Entschädigungsprinzip schließlich verpflichte den Interessenten, der ein gleich- oder geringerwertiges Interesse habe verletzen dürfen, zum Schadensersatz. I n seiner zweiten Untersuchung gruppiert Hubmann die Prinzipien. Komme das Ausweichprinzip zur Geltung, dann entfalle die Notwendigkeit einer Abwägung überhaupt. Bei einer Möglichkeit der Konfliktvermeidung durch Ausweichen seien Feststellungen über den größeren oder geringeren Wert von Interessen entbehrlich. Erforderlich seien solche Feststellungen und also Abwägung dann, wenn es u m eine Entweder-Oder-Entscheidung, aber auch wenn es u m Ausgleich, Aufteilung oder Entschädigung gehe. Hier, wo Abwägung ihren Ort habe, sei Rationalität durch Einführung mathematischer Operationen zu sichern. Was es bewußt zu machen gelte, geschehe unbewußt ohnehin: Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division, Anwendung der Proportionalitätsgesetze und der Gesetze der Gleichung und Ungleichung. Hubmann bringt Beispiele mathematischer Operationen i m Recht wie die Ermittlung einer Gesamtnote aus Einzelnoten bei Prüfungen, die Verteilung der Belohnung nach § 659 BGB, den Ausgleich unter Gesamtschuldnern nach §426 BGB, die Minderung nach §472 BGB.

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5 Konzepte u n d Positionen i m rechtswissenschaftlichen Schrifttum

I n K r i t i k einer Rechtsprechung, die bei Schadensfällen m i t verschiedenen Beteiligten die verschiedenen Faktoren von Verursachung, Verschulden und Betriebsgefahr nur pauschal abschätzt und die ebenso pauschal bei der Berechnung von Schmerzensgeld verfährt, gelangt er zur folgenden Abwägungsstrategie: Soll die Abwägung einen Zahlenwert ergeben, dann sind für die verschiedenen Faktoren bei ihrer Einführung i n die Abwägung sogleich Zahlenwerte anzusetzen. Hubmann sieht, daß ohne numerische Einzelbewertungen die numerische Gesamtbewertung nicht überprüft werden kann. Auch wo nicht m i t Zahlenwerten operiert und als Ergebnis nicht ein Zahlenwert gesucht werde, dürfe es bei bloß rhetorischer Aufreihung der Gesichtspunkte nicht bewenden, müsse vielmehr das Gewicht der Gesichtspunkte bestimmt und angegeben werden. A m Ende seiner Untersuchung macht Hubmann den Sprung ins Verfassungsrecht. Dazu erweist sich jedoch seine i m Zivilrecht gewonnene methodische Ausrüstung als unzureichend. I n der ersten wie i n der zweiten Untersuchung verarbeitet Hubmann eine Fülle von Gesetzen und Urteilen und entwickelt seine Unterscheidungen und Prinzipien, indem er schon erfaßte Interessenkonstellationen ordnet, schon geregelte Interessenkonflikte typisiert und schon getroffene Konfliktlösungen zu Prinzipien stilisiert. I n der Fülle des Materials findet er die maßgeblichen Bewertungen schon vor. Nicht, daß diese Arbeit des Sichtens und Ordnens und der gerade i n der zweiten Untersuchung unternommene Versuch, systematischer und methodischer zu betreiben, was unbefriedigend schon geschieht, müßig wären. Die Ergebnisse sind aber dem zivilrechtlichen Material zu stark zugeordnet, als daß sie i n dem anderen Material des Verfassungsrechts weit tragen könnten. Die Abwägung des Lüth-Urteils w i l l Hubmann m i t den Gesetzen der Gleichung und Ungleichung bewältigen 4 9 . Meinungsfreiheit als Recht Lüths (a) und das Recht Harlans auf künstlerische Betätigung (b) seien als gleichwertig anzusetzen, a = b. Zugunsten von L ü t h sei dessen Legitimation zut Wahrnehmung eines öffentlichen Interesses (c), zu Lasten Harlans dessen Verhalten vor und nach dem Krieg (d) zu veranschlagen. Damit ergebe sich a + c > b — d. Würde das Verhalten Lüths einen Eingriff i n den Kernbereich der künstlerischen und menschlichen Existenz Harlans (e) bedeuten, dann hätte das Ergebnis a + c < b — d + e zu sein. Ähnlich notiert Hubmann die Abwägung zwischen den Interessen Lüths und denen der Filmgesellschaften. Das könnte den Eindruck entstehen lassen, mit dem Hinzugeben eines Gesichtspunkts auf der einen oder anderen Seite kippe entsprechend auch das Gleichgewicht um. Hubmanns Notierung der Interessenabwägung des Gesetzes bei der Regelung des gutgläubigen Erwerbs beweg« S. 193 ff.

5.3 Abwägungspragmatik

151

licher Sachen läßt jedoch erkennen, daß Gesichtspunkte von verschiedenem Gewicht sein können und daß nicht schon das bloße Hinzugeben oder Wegfallen eines Gesichtspunkts die Gleich- oder Ungleichgewichtslage bestimmt 5 0 . Es kommt also alles auf die Gewichtung der Gesichtspunkte, Interessen, Güter oder Werte an. Wie dies konsistent geschehen kann, wie überhaupt Legitimation und Verhalten vor und nach dem Krieg zu messen und zwischen verschiedenen Personen zu verrechnen sein sollen, w i r d als das entscheidende Problem Hubmann nicht bewußt. Seine Notierung, m i t der eine vorgegebene Abwägung vielleicht gefällig wiedergegeben werden kann, ist ungleich der oben vorgeführten Bewertungsoperation für diese entscheidenden Probleme auch gar nicht sensibel. Das Scheitern dieses Versuchs, Abwägung rational zu machen, ist exemplarisch. Der Versuch läßt das Gemenge von empirischen Fragen und Wertungsfragen, die i n Abwägungen zusammentreffen, methodisch ungeschieden. Statt methodisch zu differenzieren, zerlegt er Mengen von Gesichtspunkten m i t der Vorstellung, diese wie kleine Gewichte auf eine Waagschale legen und dann das Ergebnis ablesen zu können 51 . M i t dieser i m Zivilrecht vielleicht oft brauchbaren Strategie begibt er sich des dem Verfassungsrecht angemessenen Ansatzes, der die A b wägungsprobleme nach Möglichkeit i n ihren empirischen Fragen soweit abarbeitet, daß die Rolle der Wertungsfragen deutlich und zugleich entlastet wird, und der bei den Theoretikern des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und i n der Praxis des BVerfG fruchtbar wird. I n Verfolgung dieses Ansatzes hätte Hubmann das Ausweichprinzip gerade nicht ausklammern dürfen, sondern aktivieren und zusammen m i t dem Prinzip des schonendsten Mittels zum Eckstein seines Abwägungskonzepts machen müssen 52 . Dies kann als methodischer ebenso wie 50 Hubmanns „Gleichungssystem" für die Interessenabwägung zwischen Eigentümer u n d Erwerber (S. 191 ff.) sei zur I l l u s t r a t i o n angemerkt: (1) a = d (2) a + b > d + e (§935 Abs. 1) (3) a + b > d + e + f (weiterer F a l l des §935 Abs. 1) (4) a + b < d + e + f + g (§ 935 Abs. 2) (5) a + b — c < d + e + f (§ 932 Abs. 1) (6) a + b — c < d + e + f ( § 934) (7) a + b — c > d + f (§ 932 Abs. 2 u n d § 932 Abs. 1 S. 2) (8) a + b — c > d + e (§ 933) (9) a + b — c > d + e + f — h (§816 Abs. 1 S. 2) (10) a + b > d + e + f + g — h (§816 Abs. 1 S. 2 m i t § 935 Abs. 2). 51 Das nicht n u r bei Hubmann (S. 176) sondern auch bei Schneider (S. 355 ff.) beliebte B i l d der Waage erweist sich damit als irreführend. 52 Hubmann f ü h r t zwar S. 179/180 m i t dem Ausweichprinzip eine K r i t i k am Mephisto-Beschluß des B V e r f G u n d den vorausgegangenen Urteilen. Damit, daß „ K l a u s M a n n dem Interessenkonflikt ausweichen u n d seinen Roman so gestalten mußte, daß niemand i n seiner Persönlichkeit verletzt wurde", ist denn aber das Prinzip doch zu schlicht angewandt.

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5 Konzepte u n d Positionen i m rechtswissenschaftlichen Schrifttum

als verfassungsrechtsdogmatischer Einwand gelten: Das Zurücktreten der Wertungen i n den Abwägungen des Verfassungsrechts trägt den methodischen Schwierigkeiten, Wertungen intersubjektiv gültig zu treffen, ebenso Rechnung wie die Dürftigkeit des Bestandes, den die Verfassung an Wertungen erkennen läßt. 5.4 Zusammenfassung Was i m ersten Teil der Arbeit aus den Entscheidungen des BVerfG gewissermaßen induktiv entwickelt wurde, das erfährt i m rechtswissenschaftlichen Schrifttum seine Bestätigung. Das Abwägungskonzept, das die rangmäßige Gewichtung und Ordnung von Werten und Gütern ebenso wie von Verhaltens- und Regelungsalternativen zur Voraussetzung hat, scheitert. Es scheitert nicht erst an verfassungstheoretischen und verfassungsrechtsdogmatischen, sondern schon an methodischen Überlegungen. Dies zeigte sich bei einer methodisch korrekten Rekonstruktion des Konzepts des Abwägungsenthusiasmus, bei der dessen unerfüllbare Voraussetzungen und die Berechtigung von A b w ä gungsskepsis deutlich wurden. Die Abwägungspragmatik der Theoretiker des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes konvergiert m i t dem Abwägungsmodell, das i n der Durchsicht der Rechtsprechung entstand und das die Prüfungsschritte der Zweckanalyse, der Geeignetheits- und Notwendigkeitsprüfung und der Mindestpositionsbeachtung umfaßt, die Gewichtung und Vergleichung von Werten und Gütern dagegen ausspart. Die Abwägung, der von Krauss , Lerche und Gentz neben der Prüfung von Geeignetheit und Notwendigkeit einen eigenen Prüfungsschritt reservieren, hat i m A b wägungsmodell ihren Platz. Die Billigkeits- und Zumutbarkeitsprüfung, zu der bei von Krauss die Abwägung gerät, gehört m i t ihren Fragen nach Vernichtung, Bedrohung oder erheblicher Erschwerung der Existenz des Betroffenen zur Mindestpositionsbeachtung. Lerches Abwägung prüft die Konkretheit und analysiert die Legitimität des Eingriffszwecks und bereitet m i t dieser Zweckprüfung die Notwendigkeitsprüfung vor. Bei Gentz schließlich bedeutet Abwägung die Frage nach den Alternativen, die den Eingriffs- und Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers konstituieren. Die Frage, ob Alternativen eines gegebenen Eingriffs, die für den Staat teurer oder sonst nachteiliger oder die für andere Bürger belastender als der gegebene Eingriff sind, diesen als unverhältnismäßig erscheinen lassen können, w i r d von Gentz zwar von der Erforderlichkeitsfrage geschieden. Aber erforderlich ist ein gegebener Eingriff des Gesetzgebers genau dann, wenn es i n dessen Eingriffs- und Entscheidungsspielraum keine Alternativen gibt. Wie groß der Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers ist, diese Frage

5.4 Zusammenfassung

153

gehört zur Erforderlichkeitsprüfung und hat i m Abwägungsmodell, das i n Durchsicht der Rechtsprechung entstand, entsprechend ihren Platz. Die Diskussion des auf Gewichtung und Ordnung von Werten und Gütern abstellenden Abwägungskonzepts sprach bei dessen Rekonstruktion Skalierungs- und Optimierungsprobleme i n der Weise an, i n der diese i n der Entscheidungs- und Wirtschaftstheorie behandelt werden. Das diente der Präzision, es dient zugleich der Vorbereitung auf den nächsten Abschnitt, i n dem der Problemhorizont der Wohlfahrtsökonomik und der Spieltheorie herangezogen wird. Das Abwägungsmodell, das i n der Rechtsprechungsdurchsicht entstand und i n der Durchsicht des Schrifttums bewährt wurde, erhält hier nochmal eine Bestätigung insbesondere darin, daß es Gewichtungen und Vergleichungen von Werten und Gütern ausspart und damit dem Gesetzgeber überläßt. Daß das BVerfG ausweislich der Rechtsprechungsdurchsicht ohne solche Gewichtungen und Vergleichungen auskommt oder jedenfalls auskommen könnte und daß Positionen des Schrifttums eine solche Gewichtungs- und Wertungsabstinenz stützen, über diese schon gewonnene Erkenntnis sollen die Überlegungen des nächsten Abschnitts hinausführen. Sie sollen belegen, daß die Ableitung sozialer Wertordnungen oder Wertungen aus individuellen Wertordnungen oder Wertungen nicht so gelingen kann, daß Gerichte m i t ihrer Hilfe Gewichtungen und Wertungen intersubjektiv befriedigend vornehmen könnten. Wenn demokratische Verfahren, die einen soziale Wertungen vornehmenden Gesetzgeber hervorbringen, als befriedigende Ableitungen sozialer aus individuellen Wertungen begriffen werden können, dann ist die These, daß nur sie es können.

6 A u f der Suche nach d e r M e t h o d e der A b w ä g u n g P r o b l e m h o r i z o n t der W o h l f a h r t s ö k o n o m i k u n d der Spieltheorie 6.0 Vorbemerkung Vor Wertungsproblemen steht nicht nur Rechtswissenschaft, sondern stehen ebenso die anderen Sozialwissenschaften. Daß Rechtswissenschaft von deren Diskussionen so wenig profitiert, mag nicht zuletzt an einem rechtswissenschaftlichen Mißverständnis des diese Diskussionen weithin leitenden methodischen Programms der Wertfreiheit liegen. Wo Wertfreiheit das Programm ist, da ist scheinbar für Rechtswissenschaft, die ihre Aufgabe i n der Produktion von Wertungen anhand von vorgegebenen Wertungen sieht, nicht viel zu holen. Doch dieser Schein trügt. Gerade bei methodischer Durchführung des Programms der Wertfreiheit tragen Sozialwissenschaften zur Lösung sozialer Wertungsprobleme bei. Denn das Programm der Wertfreiheit anerkennt Wertungen nicht nur als Grundlage (Problem der Wertbasis) und als Gegenstand (Problem der Wertungen i m Objektbereich) sozialwissenschaftlicher Forschungen. Indem es die Forderung nach Praxisrelevanz der sozialwissenschaftlichen Aussagenzusammenhänge akzeptiert und gleichwohl verlangt, zwischen kognitiven und normativen Aussagen zu unterscheiden und sozialwissenschaftliche Aussagenzusammenhänge von Werturteilen freizuhalten (Werturteilsproblem), führt es zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen kognitiven und normativen Aussagen, zur Zerlegung komplexer sozialer Probleme i n ihre kognitiven und normativen Problemkomponenten, zur Abschichtung von Erkenntnis- und Entscheidungsproblemen und zur Frage ihrer Zuordnung, zur Suche nach Prinzipien, die als Brücken zwischen Wertund Sachaussagen taugen 1 . Damit werden die Probleme sozialer Wertungen erst wirklich anerkannt: Sie werden einer rationalen Problemlösungsstrategie für w ü r d i g befunden. I m folgenden soll nicht allgemein vom Verhältnis zwischen Rechtswissenschaft und den anderen Sozialwissenschaften gehandelt werden. Vielmehr sollen einzelne Probleme aus anderen Sozialwissenschaften 1 Vgl. Weber, Der Sinn der „Wertfreiheit" der soziologischen u n d ökonomischen Wissenschaften; Popper, Die Logik der Sozialwissenschaf ten ; Albert, Wissenschaft u n d P o l i t i k ; Wertfreiheit als methodisches Prinzip; T r a k t a t über kritische Vernunft, insbes. S. 55 ff.

6.1 Verteilungsprobleme u n d Abwägungsprobleme

155

vorgeführt werden, die den Problemen verfassungsrechtlicher Abwägung verwandt sind. Die Suche nach einer Methode der Abwägung kann aus den Problemlösungen ebenso wie aus dem Scheitern von Problemlösungsversuchen und einfach schon aus den Problemstellungen lernen. 6.1 Die Verwandtschaft zwischen den Verteilungsproblemen der Wohlfahrtsökonomik und den Abwägungsproblemen des Verfassungsrechts Die Verwandtschaft zwischen den zunächst vorzuführenden Problemen der Wohlfahrtsökonomik 2 und den Problemen der Werte-, Güterund Interessenabwägung i m Verfassungsrecht kann schon vor ihrer eigentlichen Begründung plausibel gemacht werden. Etwa damit, daß i n Benthams Utilitarismus die Wohlfahrtsökonomik und die Interessenjurisprudenz ihre gemeinsame Wurzel haben 3 . Oder auch m i t der Zwanglosigkeit, mit der sich Begriffe aus der Ökonomie zur Exposition von Abwägungsproblemen verwenden lassen. Daß das Rechtsgut der Staatssicherheit als seinen Preis Beschränkungen von Freiheit verlangt, daß es aber m i t dem Verzicht auf jede freie und öffentliche Diskussion von Angelegenheiten der Verteidigung zu teuer erkauft wäre, daß ein wertvolleres Gemeinschaftsgut mehr und einen intensiveren Eingriff i n die Berufsfreiheit kosten darf als ein weniger wertvolles, das sind i n Erörterungen verfassungsrechtlicher Abwägungsprobleme passende Redeweisen. Die eigentliche Begründung der Verwandtschaft argumentiert von den Forschungszielen und -themen der Wohlfahrtsökonomik her. Wohlfahrtsökonomik bemüht sich u m die Grundlagen normativer W i r t schaftswissenschaft und versucht, die Wohlfahrt gesellschaftlicher Zustände zu ermitteln. Dabei gibt sie dem zunächst unklaren Begriff der Wohlfahrt seine Konturen durch die Art, i n der sie die Frage nach gesellschaftlicher Wohlfahrt stellt. Sie fragt danach, wie es u m das Wohlergehen der Individuen steht, welchen Nutzen ihnen gesellschaft2 Neben „Wohlfahrtsökonomik", der Eindeutschung des i m angelsächsischen Sprachraum gebrauchten Ausdrucks „Weifare Economics", werden i m deutschen Sprachraum die Ausdrücke „Wohlfahrtsökonomie", „Wohlstandsökonomik" u n d auch „Weifare Economics" verwandt. Vgl. zur Terminologie u n d f ü r einen ersten Überblick Weber, Jochimsen, Wohlstandsökonomik. F ü r eine eingehende Orientierung und als Grundlage der folgenden Darstellung vgl. PigoUy The Economics of Welfare; Little , A Critique of Welfare Economics; Graaff, Theoretical Welfare Economics; Mishan, Welfare Economics (beachte insbesondere den Essay 'Pareto O p t i m a l i t y and the Law', S. 225 bis 271); Nath, A Reappraisal of Welfare Economics. 3 Vgl. einerseits Bohnen, Die utilitaristische E t h i k als Grundlage der modernen Wohlfahrtsökonomik, S. 3 ff. u n d S. 99 ff., andererseits Edelmann, Die E n t w i c k l u n g der Interessenjurisprudenz, S. 53 ff.

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6 Problemhorizont der Wohlfahrtsökonomik u n d Spieltheorie

liehe Zustände bringen. Das gesellschaftliche Wohl w i r d gefaßt als Funktion des Wohls der i n der Gesellschaft lebenden Individuen, gesellschaftlicher Nutzen als Funktion individueller Nutzen. Dieser individualistische Ansatz und die entsprechende Fassung von Wohlfahrtsbegriff und Wohlfahrtskriterien charakterisieren die wohlfahrtsökonomischen Theorien. Die Probleme der Wohlfahrtsökonomik sind unmittelbar oder mittelbar Verteilungsprobleme. Die i n einer Gesellschaft lebenden Individuen mit ihren verschiedenen Bedürfnissen verfügen lediglich über knappe M i t t e l der Bedürfnisbefriedigung, ihren konkurrierenden und konfligierenden Interessen kann durch den Austausch knapper Güter und Leistungen nur unzureichend genügt werden. Was einem Individuum zugewendet wird, muß u. U. einem anderen vorenthalten oder sogar weggenommen werden. Wie soll die Verteilung der Güter und Leistungen beschaffen sein, damit von i h r alle Individuen und also die Gesellschaft den größten Nutzen haben? Welche Verteilungen und Verteilungsmechanismen maximieren den Nutzen, die Wohlfahrt der Gesellschaft? Auch die Abwägungsprobleme des Verfassungsrechts lassen sich als Verteilungsprobleme fassen. Zwischen L ü t h und Harlan sowie den Filmgesellschaften, zwischen Schmid und der Zeitschrift ,Der Spiegel 4 , zwischen dem Verleger von Klaus Mann und Gründgens werden jeweils Freiheiten verteilt, Freiheiten beim Äußern von Meinungen, beim künstlerischen und beruflichen Wirken, beim geschäftlichen Streben nach Gewinn, bei der posthumen Selbstdarstellung. Die Verhaltensspielräume einer Gesellschaft sind zu knapp und zu eng, als daß i n ihnen die verschiedenen Individuen ihre verschiedenen Interessen konfliktfrei verwirklichen könnten, zu eng auch, als daß nicht die I n d i viduen und der Staat i n der Verfolgung ihrer Zwecke aneinanderstoßen müßten. Je größer der Verhaltensspielraum des Staates ist, der i n den Bereichen der Arzneimittelherstellung, -Werbung und des Arzneimittelverkaufs die Volksgesundheit sichern w i l l , desto kleiner ist der Freiheits- oder Verhaltensspielraum der Individuen, die i n diesen Bereichen als Hersteller, Werber oder Verkäufer von Arzneimitteln agieren, und umgekehrt. Freiheiten oder Verhaltensspielräume müssen verteilt werden, und die Abwägungsprobleme des Verfassungsrechts sind Probleme eben dieser Verteilung. Wohlfahrtsökonomik w i l l i n ihren Verteilungskonzepten gesellschaftlichen Nutzen als Funktion individueller Nutzen maximieren. Ob, wer i n der Rechtswissenschaft von Gemeinwohl redet, den Begriff des Gemeinnutzens als Synonymon anerkennen würde, ob das BVerfG ebenso wie vom Wert eines Gemeinschaftsguts von dessen Nutzen zu reden bereit wäre, mag dahinstehen. Zwar dominiert der Begriff des

6.1 Verteilungsprobleme u n d Abwägungsprobleme

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Werts i m Verfassungsrecht, und die Bewertungsoperation, die dem Konzept des Abwägungsenthusiasmus entspricht, ist eine Operation zur Maximierung des Werts, der den Verfassungsgehalten je nach ihrem Rang i n der Wertordnung mehr oder weniger zukommt. Aber es kann hier ohne Schaden ein wenig unbestimmt bleiben, was i n verfassungsrechtlichen Abwägungen zu maximieren ist. Eine Festlegung auf den Begriff des Werts als verfassungsrechtlichen Korrespondenzbegriff zum wohlfahrtsökonomischen Begriff des Nutzens ist unnötig. Denn die Verfolgung der i n der Wohlfahrtsökonomik geführten Diskussionen u m den Begriff des Nutzens lehrt gerade die Unmöglichkeit, die Verteilungsprobleme einer Gesellschaft m i t einem allgemeinen Begriff, sei es der des Nutzens oder des Werts, zu meistern 4 . Nötig ist dagegen der Hinweis auf die verfassungsrechtliche Korrespondenzfunktionalität zur wohlfahrtsökonomischen Funktionalität des gesellschaftlichen Nutzens. Daß gesellschaftlicher Nutzen nur als Funktion individueller Nutzen zu fassen sei, ist ein nicht nur individualistischer, sondern zugleich auch demokratischer Ansatz. Wenn Abwägungen i m demokratischen Verfassungsrecht bei der Verteilung von Freiheitsoder Verhaltensspielräumen Gemeinwohl oder Gemeinnutzen, die Verfolgung von Interessen der Allgemeinheit, die Verwirklichung von Gemeinschaftsgütern, deren Wert oder Nutzen, Verfassungsgüter und Verfassungswerte maximieren wollen, dann dürfen die dabei getroffenen Wertungen nicht Funktionen der Wertschätzung des abwägenden Richters, sondern müssen Funktionen von Wertschätzungen der von der Abwägung betroffenen Individuen sein 5 . Die Verwandtschaft zwischen den Problemen der Wohlfahrtsökonomik und den Problemen der Werte-, Güter- und Interessenabwägung i m Verfassungsrecht hat also zwei Gründe: Beidemal geht es u m Probleme von Verteilungen und beidemal u m das Finden von gerade solchen Verteilungen, die für die Gesellschaft nützlich oder wertvoll sind, weil sie es für die betroffenen Individuen sind. I n Bentheims Utilitarismus sind die Probleme der Wohlfahrtsökonom i k mit der Formel vom größten Glück der größten Zahl formuliert. M i t dieser Formel ist Glück als eine Einheit begriffen, die sich addieren und subtrahieren läßt, die zwischen verschiedenen Individuen verrechnet und zu gesellschaftlichen Brutto- und Nettobeträgen aufgerechnet werden kann. Ohne daß das Glück des einen m i t dem des anderen addiert und ohne daß vom Glück eines Individuums das Unglück eines 4 Z u m Zusammenhang zwischen den Begriffen des Werts u n d des Nutzens vgl. Weber, Streißler, Nutzen; Weber, Albert, Kade, Wert. 5 Es versteht sich, daß v o n der A b w ä g u n g betroffen nicht n u r die I n dividuen sind, zwischen denen gerade der Rechtsstreit ausgetragen w i r d . — Siehe zur Ableitung v o n Wertungen der Gemeinschaft aus den Wertungen der I n d i v i d u e n schon oben S. 135.

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6 Problemhorizont der Wohlfahrtsökonomik u n d Spieltheorie

anderen subtrahiert wird, kann der gesellschaftliche Glücksbetrag, kann das größte Glück der größten Zahl nicht bestimmt werden. Die Bestimmung setzt also voraus, daß es gelingt, den Begriff des Glücks quantitativ zu fassen, die Anwesenheit und Abwesenheit von Glück zu messen und zwar m i t einem Maßstab, der interindividuell gilt und die Glücksempfindungen verschiedener Individuen miteinander vergleichen läßt. Die Theoriegeschichte der Wohlfahrtsökonomik 6 ist die Geschichte des Versuchs, Bentheims Utilitarismus zu reformulieren und dem Begriff des Nutzens den präzisen und nach Möglichkeit empirischen Sinn zu geben, den der Begriff des Glücks bei Bentham vermissen läßt. Sie ist damit die Geschichte der Bemühung u m Nutzenmessung und Nutzenvergleich. Die sich i m Lauf der Theoriegeschichte wandelnden Interpretationen des Nutzenbegriffs sind jeweils Ausdruck veränderter sozialwissenschaftlicher Grundpositionen. A u f eine introspektive Deutung des Nutzenbegriffs, für die Empfindungen die relevanten I n d i vidualdaten sind, folgt eine behavioristische, die auf Wahlverhalten als die relevanten und zu erhebenden Daten abstellt. Ein gemäßigter Behaviorismus, der zugleich gemäßigter Introspektivismus ist, findet die für den Nutzenbegriff bedeutsamen Individualdaten i n wertschätzenden Einstellungen von Individuen gegenüber verschiedenen A l t e r nativen, i n Einstellungen, die sich i n wahrnehmbarem Verhalten zwar äußern, die darin aber nicht aufgehen. Begleitet werden diese Wandlungen des Nutzenbegriffs von Wandlungen der Vorstellung darüber, wie Nutzen zu messen sei, ob ordinal oder kardinal. Hier interessiert weniger die theoriegeschichtliche Entwicklung als vielmehr ihre Ergebnisse, die daher systematisch dargestellt werden sollen. 6.2 Ermittlung optimaler Verteilungen über ordinale Präferenzen, kardinale Präferenzen und Indifferenzen Daß Ordinalskalen zwar weniger aussagen, aber auch weniger schwierig zu erstellen sind als Kardinalskalen, wurde oben schon festgestellt 7 . Das anspruchslosere Nutzenmessungsprogramm ist also das der Ordinalisten. Für diese ist bei der Verwirklichung des wohlfahrtsökonomischen Forschungsziels das erste Problem, wie der individuelle Nutzen ordinal gemessen, das zweite, wie er zu ebenfalls ordinal gemessenem gesellschaftlichen Nutzen agglomeriert werden kann. Einfacher ist das erste Problem. Der Nutzen von Gütern und Leistungen oder, bei direkterem Zugriff auf das wohlfahrtsökonomische Forti Vgl. zur Theoriegeschichte der Wohlfahrtsökonomik Weber, Jochimsen, Wohlstandsökonomik, und das in Anmerkung 3 angeführte Buch von Bohnen. 7 Siehe oben S. 135 f.

6.2 Ordinale Präferenzen, kardinale Präferenzen, Indifferenzen

159

schungsziel, von Verteilungen und von diese Verteilungen ermöglichenden und sichernden gesellschaftlichen Zuständen w i r d i n Präferenzskalen dargestellt. Wie nützlich ein Individuum mehrere Alternativen einschätzt, seien es Güter oder Güterverteilungen, Leistungen oder Zustände gesellschaftlicher Leistungsvorsorge, das gibt es i n seinen Präferenzen zu erkennen, indem es die eine Alternative der anderen vorzieht oder nachsetzt und entsprechend handelt, wählt, kauft oder auf Fragen nach seinen Präferenzen antwortet. Von welchem Nutzen eine Menge von Gütern für ein Individuum ist, das w i r d i n einer Präferenzskala dieses Individuums über dieser Gütermenge dargestellt. Den Nutzen der Getränke Kaffee (K), Milch (M), Fruchtsaft (F), Bier (B) und Wein (W) für die Individuen Ii, I2, I3 und I4 könnten etwa die vier

Präferenzskalen Κ

Β

F

w F Μ

Β

W Μ II

W κ

Μ

Β

W F

Κ

F Μ

Β Κ

I2

Ι3

h

wiedergeben. Gewonnen werden könnten die Präferenzskalen aus dem Trinkverhalten der Individuen, indem etwa dann, wenn Bier und Wein gereicht werden, I2 immer Bier wählt und I4 immer Wein. Die A n t w o r t der Ordinalisten auf die Frage der Nutzenmessung mag unbefriedigend erscheinen, unbefriedigend darum, w e i l die ordinale Präferenzskala viele Vorstellungen nicht ausdrücken kann, die man m i t dem Begriff des Nutzens doch zwanglos verbindet. Vielleicht sind für I i , der als Schriftsteller bis spät i n die Nacht zu arbeiten pflegt, Kaffee und Fruchtsaft als unersetzliche Stimulantien von ungewöhnlichem Nutzen, sind Bier und Wein wegen eines Leberschadens ziemlich uninteressant und ist Milch überhaupt Gegenstand der A b scheu. Vielleicht ist I3 ein Teetrinker, der eigentlich keinem der angeführten Getränke etwas abgewinnen kann und nur i m Gedanken an die Bewirtung gelegentlicher Gäste die notierte Präferenzskala erkennen läßt. Vielleicht gibt es einen Genießer 13', der bei Vorliebe für narkotisierende Getränke Fruchtsaft und Milch doch keineswegs verachtet und dessen Präferenzen ebenfalls i n der zu I3 notierten Skala wiederzugeben sind. Für den Unterschied zwischen den Präferenzen von I3 und 13' sind jedoch Ordinalskalen ebensowenig sensibel wie für den einmal starken und andermal schwachen Nutzenunterschied, den der Schriftsteller I i zwischen den Getränken macht. Verschiedene N u t zenintensitäten, verschiedene Intensitäten des Vorziehens und Nachsetzens sind i n Ordinalskalen nicht ausdrückbar, und so man ent-

160

6 Problemhorizont der Wohlfahrtsökonomik u n d Spieltheorie

sprechende Vorstellungen mit dem Begriff des Nutzens verbindet, muß man von Nutzenbegriff und Nutzenmessung der Ordinalisten unbefriedigt bleiben und sich als Kardinalist bekennen. Gewichtiger als dieses kardinalistische Unbehagen ist Arrows Unmöglichkeitssatz 8 , an dem die Agglomerierung ordinaler individueller Nutzen zu ordinalem gesellschaftlichem Nutzen aufläuft. Werden die individuellen Nutzen ordinal gemessen und i n Ordinalskalen dargestellt, dann kann auch der gesellschaftliche Nutzen, der ihre Funktion ist, nur die Gestalt einer Ordinalskala haben. Damit ist das Benthamsche Problem erheblich verfremdet: Nicht u m einen aus individuellen Nettonutzen zu addierenden gesellschaftlichen Nettonutzen geht es, sondern u m die Abbildung aller individuellen i n eine gemeinsame soziale Präferenzskala. Eine Gesellschaft w i r d m i t einer anderen nicht danach verglichen, welche den höheren Nettobetrag an Glück oder Nutzen aufweist, sondern danach, inwieweit die Präferenzen, die jeweils das gesellschaftliche Leben i n Politik, Wirtschaft und Recht leiten, den individuellen Präferenzen bzw. den aus diesen idealiter abzubildenden sozialen Präferenzen entsprechen. A u f das sich auch hier wieder anmeldende kardinalistische Unbehagen, das bei ordinalen sozialen ebenso wie bei ordinalen individuellen Präferenzskalen die Unausdrückbarkeit von Präferenzintensitäten rügen und dabei auf die unbefriedigenden Erfahrungen verweisen kann, die oben m i t einer ordinalen Verfassungswertordnung gemacht wurden 9 , sei nicht mehr eingegangen. Ist die Entscheidung für Ordinalskalenniveau der individuellen Präferenzen gefallen, dann kann es nur noch u m die Abbildung i n soziale Präferenzen ebenfalls m i t Ordinalskalenniveau gehen. Eben dieser Abbildung gilt Arrows Unmöglichkeitssatz. Soll aus einer Menge individueller Präferenzskalen eine soziale Präferenzskala abgebildet oder abgeleitet werden, dann bedarf es dazu einer Ableitungsfunktion, die festlegt, welche Präferenzen aus den individuellen Präferenzskalen i n die soziale Präferenzskala übernommen werden und welche nicht. Eine Ableitungsfunktion ist etwa ein Verfahren der Mehrheitsentscheidung, nach dem die Vorordnung der Alternative Ai vor der Alternative A j genau dann i n der sozialen Präferenzskala ent8 Arrow, Social Choice and I n d i v i d u a l Values. Eine gute Einführung i n die Probleme sozialer Präferenztheorie unter besonderer Berücksichtigung v o n Arrows Unmöglichkeitssatz bieten Luce, Raiffa, Games and Decisions, S. 327 ff. Vgl. i n deutscher Sprache Iwand, Ethische Systeme als Ordnungsbeziehungen; Hoernke, Politische Entscheidung als Sozial w ä h l ; Podlech, Gehalt u n d Funktionen des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, S. 274 ff.; Popp, Schlink, Präferenztheoretische Bedingungen einer sozialen Wertordnung. 9 Siehe oben S. 136 ff.

6.2 Ordinale Präferenzen, kardinale Präferenzen, Indifferenzen

161

halten ist, wenn sie i n den individuellen Präferenzskalen häufiger enthalten ist als ihr Gegenteil, die Vorordnung von A j vor Ai. A r r o w formuliert Postulate an die Ableitungsfunktion und w i l l mit diesen Postulaten Bedingungen dafür angeben, daß von einer mit der A b leitungsfunktion gewonnenen Präferenzskala einer Gesellschaft gesagt werden kann, sie stehe i n einleuchtendem Ableitungszusammenhang mit den Präferenzskalen der Individuen, die der Gesellschaft angehören. Es sind fünf Postulate 10 . Postulat der Vollständigkeit. Die Ableitungsfunktion soll bei beliebigen individuellen konsistenten Präferenzskalen die Ableitung einer sozialen konsistenten Präferenzskala gestatten, soll also den Individuen einer Gesellschaft die Freiheit der Wahl unter allen konsistenten Präferenzskalen lassen. Konsistenz bedeutet insbesondere Transitivität, d. h. daß bei Ordnung von A i vor oder nach A j und von A j vor bzw. nach Ak die Alternative Ai auch der Alternative Ak vor- bzw. nachgeordnet ist 1 1 . Postulat der positiven Verbindung individueller und sozialer Präferenzen. Wenn sich die Präferenzen der Individuen so ändern, daß eine Alternative i n allen individuellen Präferenzskalen entweder günstiger oder ebenso günstig wie vor der Änderung eingeordnet wird, während die individuellen Präferenzskalen i m übrigen unverändert bleiben, dann soll diese Alternative i n der sozialen Präferenzskala den Alternativen vorgeordnet bleiben, denen sie schon vor der Änderung vorgeordnet war. Postulat der Unabhängigkeit irrelevanter Alternativen. Wenn sich die Präferenzskalen der Individuen ändern, aber für eine Teilmenge der Alternativen die neuen, geänderten individuellen Präferenzskalen dieselbe Ordnung aufweisen wie die alten, dann soll für diese Alternativen auch die neue, geänderte soziale Präferenzskala dieselbe Ordnung aufweisen wie die alte. Postulat der Souveränität der Bürger. Die soziale Präferenzskala darf nicht aufoktroyiert sein i n dem Sinn, daß sie unabhängig von den Präferenzen der Individuen bestimmte Präferenzen stets oder nie enthält.

10

Arrow , Social Choice and I n d i v i d u a l Values, S. 22 ff. Konsistenz bedeutet weiter K o n n e k t i v i t ä t , d. h. daß für jedes Paar von A l t e r n a t i v e n A { u n d A j gilt, daß die A l t e r n a t i v e A i der Alternative A j entweder v o r - , nach- oder gleichgeordnet ist. Konsistenz bedeutet schließlich Asymmetrie, d . h . daß es kein Alternativenpaar A { u n d A j gibt, bei dem die A l t e r n a t i v e A i der A l t e r n a t i v e A j v o r - oder nachgeordnet ist u n d zugleich die A l t e r n a t i v e A j der Alternative A i v o r - bzw. nachgeordnet ist. 11

11 Schlink

162

6 Problemhorizont der Wohlfahrtsökonomik u n d Spieltheorie

Postulat der Nichtexistenz eines Diktators. Die soziale Präferenzskala darf nicht ohne Rücksicht auf die übrigen individuellen Präferenzskalen einfach die Präferenzskala eines Individuums abbilden. Arrows Unmöglichkeitssatz und Unmöglichkeitsbeweis gehen dahin, daß die fünf Postulate miteinander nicht vereinbar sind. Keine Funktion gewährleistet die Abbildung einer konsistenten sozialen Präferenzskala und genügt dabei allen Postulaten. Bei jeder Funktion, die allen Postulaten genügt, können sich inkonsistente soziale Präferenzskalen ergeben. Was das bedeutet, sei an einer aus den einzelnen Präferenzen von Ii, I2 und I4 über Bier, Wein und Fruchtsaft abzuleitenden gemeinsamen Präferenzskala über diesen Gütern veranschaulicht 12 . Zweimal w i r d Fruchtsaft Bier vorgezogen (von I i und I4) und zweimal Bier Wein (von I i und I2). Zweimal w i r d aber auch Wein Fruchtsaft vorgezogen (von I2 und I4) und damit w i r d die gemeinsame Präferenzskala von Ii, I2 und I4 intransitiv oder zirkulär 1 3 .

Die Suche nach einer Funktion, die stets konsistente soziale Präferenzskalen ableitet, muß auf eines der Arrowschen Postulate verzichten. Für die Ordinalisten allein akzeptabel und weniger fatal, als 12

A u f die Vorführung des Beweises von Arrows Unmöglichkeitssatz w i r d hier unter Hinweis auf die i n A n m e r k u n g 8 angeführte L i t e r a t u r verzichtet. 13 Diese I n t r a n s i t i v i t ä t oder Z i r k u l a r i t ä t erscheint vielleicht auf den ersten Blick harmlos. Wo i n einer Gemeinschaft Mehrheitsentscheidungen getroffen werden, da müssen doch die Mitglieder der Gemeinschaft nicht alle Alternativen nach ihren Präferenzen ordnen. Ist zwischen mehreren A l t e r n a t i v e n zu entscheiden, dann werden jeweils zwei zur A b s t i m m u n g gestellt, nicht aber die Präferenzskala der Abstimmenden erhoben. Aber dieser erste Blick täuscht. Die Inkonsistenz w i r k t sich auch bei einem Verfahren der A b s t i m m u n g zwischen jeweils zwei A l t e r n a t i v e n aus. W i r d i n dem Beispielsfall zunächst zwischen F u n d Β abgestimmt u n d anschließend die erfolgreiche A l t e r n a t i v e m i t W zur A b s t i m m u n g gebracht, dann gewinnt die Alternative W. Denn Β verliert gegen F u n d F gegen W. W i r d aber zunächst zwischen F u n d W u n d anschließend zwischen dem Gewinner u n d Β abgestimmt, dann setzt sich die Alternative Β durch. Denn W gewinnt gegen F, verliert aber gegen B. Das Abstimmungsergebnis bei einer Mehrzahl von A l t e r n a t i v e n hängt bei Inkonsistenz der Präferenzen v o n der Abstimmungsreihenfolge ab. H i e r i n können Geschäftsordnungsdebatten, welcher von mehreren Anträgen der weitestgehende u n d zuerst zur A b s t i m m u n g zu bringende ist, ihren G r u n d haben. Hieran kann es auch liegen, w e n n ein unterlegener A n t r a g wiedereingebracht w i r d u n d Erfolg hat.

6.2 Ordinale Präferenzen, kardinale Präferenzen, Indifferenzen

163

es zunächst erscheinen mag, ist der Verzicht auf das Postulat der Vollständigkeit 1 4 . Denn es läßt sich zeigen, daß auch bei einer die Konsistenz der abzuleitenden sozialen Präferenzskala gewährleistenden Reduzierung der individuellen Präferenzskalen noch Toleranz für beträchtliche Verschiedenheiten individueller Präferenzen bleibt. Aber heikel ist der Verzicht auf das Postulat der Vollständigkeit doch. Denn da es, wie sich weiter zeigen läßt, stets verschiedene konsistenzermöglichende Reduzierungen gibt, muß eine Auswahl getroffen und für die Auswahl eine Norm gefunden werden. Wie aber ist hier eine Auswahlnorm zu rechtfertigen? Wie die Intoleranz, die bei keiner Auswahl zu vermeiden ist?

So scheint denn alles für einen kardinalen Nutzenbegriff zu sprechen. Was bei ordinaler Darstellung des Nutzens der verschiedenen Getränke für den Schriftsteller Ii, den Teetrinker I3 und den Genießer nicht ausgedrückt werden kann, das macht die kardinale Darstellung ausdrückbar. I n den Kardinalskalen lassen sich m i t dem Begriff des Nutzens etwa verbundene Vorstellungen von Nutzenintensitäten schon eher wiederfinden 1 5 . 1

0.95

Κ F

0.3

Β

0.2

W

_L Μ

0,25 0,2 0,15 0,1 0.05

0,9

W

0,8

Κ

0,7

Β

0,6

F

0,5

Μ

W Κ Β F Μ

14 Vgl. Luce, Raiffa, Games and Decisions, S. 353 ff.; Black, The Theory of Committees and Elections; Coombs, A Theory of Data; Sen, Collective Choice and Social Welfare, S. 161 ff.; Popp, Schlink, Präferenztheoretische Bedingungen einer sozialen Wertordnung, is Siehe schon oben S. 159/160.

11*

164

6 Problemhorizont der Wohlfahrtsökonomik u n d Spieltheorie

Damit scheint auch für das Problem der Nutzenagglomerierung ein ergiebiger Ausgangspunkt gewonnen zu sein. Ein Gastgeber möge I i und h ' eingeladen haben, aus irgendeinem Grund nur entweder Bier oder Wein, nicht aber beides anbieten und sein Angebot an den Präferenzen seiner beiden Gäste orientieren wollen. Hat er nur von den oben angeführten ordinalen Präferenzskalen von I i und I3' Kenntnis, dann weiß er nur, daß I i Bier und daß I3' Wein vorzieht, und sieht sich damit, was die Präferenzen seiner Gäste angeht, vor einem Unentschieden. Hat er dagegen von den hier aufgezeichneten kardinalen Präferenzskalen Kenntnis, dann kann er berücksichtigen, daß zwar I i Bier vorzieht und 13' Wein, daß aber I i der Präferenz von Bier vor Wein eine geringere Bedeutung beimißt als 13' der Präferenz von Wein vor Bier, daß also I3' bei einer Entscheidung für das Angebot von Bier schlechter dran wäre als I i bei einer Entscheidung für das Angebot von Wein 1 6 . Was das Beispiel des Gastgebers andeutet, sei allgemein gefaßt. Haben die individuellen Präferenzen Kardinalskalenniveau, dann gilt Arrows Unmöglichkeitssatz nicht. Bei kardinalen Nutzenskalen w i r d das Postulat der Unabhängigkeit irrelevanter Alternativen hinfällig, denn daß zwei Präferenzskalen vor und nach einer Änderung für eine Teilmenge der Alternativen dieselbe ordinale Ordnung aufweisen, besagt da nichts mehr, wo auf die Nutzenintensitäten abgestellt wird, die bei derselben ordinalen Ordnung ganz verschieden sein können 1 7 . Aber bei kardinal gemessenen individuellen Nutzen entfällt nicht nur eines von Arrows fünf Postulaten, sondern verändert sich die Problemstellung, indem es A r r o w u m die Ableitung einer ordinalen sozialen Präferenzskala geht, während jetzt die Ableitung einer kardinalen sozialen Präferenzskala die Aufgabe und sogar, wie es scheint, eine 16

Es mag zunächst scheinen, als sei eine entsprechende Überlegung auch des Gastgebers möglich, der I t u n d I 2 eingeladen hat, vor der Entscheidung zwischen dem Angebot von M i l c h u n d dem von Kaffee steht u n d dabei Kenntnis von den auf S. 159 abgebildeten ordinalen Präferenzskalen hat. Lassen nicht bei I j die zwischen Κ u n d Μ angeordneten drei Alternativen u n d bei I 2 die Anordnung von Μ unmittelbar vor Κ u n d am Ende der Skala erkennen, daß I t Kaffee M i l c h stärker vorzieht als I 2 M i l c h Kaffee? A l s trügerisch erweist sich der Schein, w e n n die ordinalen Präferenzskalen von I i u n d I 2 i n die j a durchaus möglichen Kardinalskalen Κ

F

Β

W

Μ

> —

Ii + < Β h +




weiterentwickelt werden. 17 Vgl. die ordinale Gleichheit aber kardinale Verschiedenheit der Präferenzskalen I3 u n d I3'.

6.2 Ordinale Präferenzen, kardinale Präferenzen, Indifferenzen

165

leicht lösbare Aufgabe ist. Jetzt scheint sich ganz i m Sinn Benthams der soziale Nutzen als Summe der individuellen Nutzen errechnen zu lassen. Denn kardinalen Präferenzskalen ist zu entnehmen nicht nur, daß eine Alternative einer anderen vor- oder nachgeordnet ist, sondern auch, wie die Intensität des Vor- und Nachordnens ist, und es liegen nicht nur Präferenz- oder Nutzenrelationen zwischen den Alternativen, sondern den Alternativen zugeordnete kardinale Präferenz- oder Nutzenwerte, addierbare Beträge einer Präferenz- oder Nutzeneinheit vor 1 8 . Werden die verschiedenen Nutzen, die für Ii, I3 und I3' die verschiedenen Getränke haben, addiert, dann ergeben sich Nutzenbeträge von 2 für Kaffee, 1,65 für Fruchtsaft, 1,35 für Wein, 1,15 für Bier und 0,55 für Milch. W i r d jeder dieser Beträge durch 3 dividiert, dann finden die gemeinsamen Nutzen der Getränke i n einer Skala Platz, die ebenso wie die einzelnen Nutzenskalen von 0 bis 1 reicht 19 .

0,66

Κ

0,55

F

0,45

W

0,38

Β

0,18

Μ

18 Dies setzt den bei geeigneter Fassung des Nutzenbegriffs möglichen — vgl. Stegmüller , Personelle Wahrscheinlichkeit u n d Rationale Entscheidung, S. 306 ff. — Übergang von I n t e r v a l l - zu Verhältnisskalenniveau voraus. 19 Vgl. diese Skala m i t der anderen, die sich als soziale ordinale Präferenzskala ableiten läßt, w e n n die Präferenzen von I l t I 3 u n d I 3 ' nur i n ordinalen Skalen vorliegen. I n der sozialen ordinalen Präferenzskala muß zur Geltung kommen, daß die ordinalen Präferenzskalen von I 3 u n d I 3 ' einander entsprechen u n d also stärker vertreten sind als die ordinale Präferenzskala von Die Präferenzen von I 3 u n d I 3 ' setzen sich gegenüber den Präferenzen von I t durch, so daß die soziale ordinale Präferenzskala von der Gestalt W

Κ Β F

ist.

Μ

166

6 Problemhorizont der Wohlfahrtsökonomik u n d Spieltheorie

Zu jedem der beiden Schritte, die zu diesem Nutzenagglomerat geführt haben, liegen kritische Fragen nahe. Der erste Schritt wurde m i t dem Übergang von der verbalen Beschreibung 20 zur kardinalskalenmäßigen Darstellung 2 1 der Getränkepräferenzen gemacht. Warum wurde der Nutzen von Fruchtsaft für I i gerade m i t 0,95 und nicht mit 0,9 oder 0,85 oder auch mit 1 angesetzt? Ist es richtig, bei Abscheu vor Milch für diese den Wert 0 anzusetzen? Müßte die Skala nicht unter negativem Vorzeichen nach unten fortgesetzt und die verabscheute Milch i n diesem negativen Skalenbereich eingetragen werden? K a n n überhaupt ein Außenstehender die Skaleneintragung vornehmen? Sollte dies nicht der Schriftsteller I i selbst tun? Wie allerdings kann dieser sich vergewissern, ob er für Fruchtsaft 0,95 oder 0,9 oder 0,85 oder auch 1 einsetzen soll? Die i n den Fragen angesprochenen Schwierigkeiten der Nutzenmessung 2 2 können zwar nicht vermieden, aber immerhin vermindert werden. So kann etwa die Skala statt über ein von 0 bis 1 reichendes Kontinuum über wenige und voneinander genügend entfernte Reizschwellen definiert werden, so daß dem Individuum, dessen Nutzen zu messen sind, die Einordnungen leichter fallen 2 3 . Der Preis für eine solche Definition der Skala ist allerdings deren Ungenauigkeit und schwächere Ausdruckskraft. Der zweite Schritt bestand darin, m i t den kardinalen Nutzenwerten zu operieren. Durch Addition wurden die individuellen Nutzen zu sozialem Nutzen agglomeriert. Diese Operation setzt voraus, daß die Nutzen verschiedener Individuen m i t demselben Maß gemessen, daß sie miteinander verglichen werden können 2 4 . Beim ersten Schritt taucht das Messungsproblem als Problem der subjektiven Messung auf, beim zweiten Schritt als Problem der Messung m i t einer objektiven ökonomischen Skala. Wie soll diese aussehen? Gegen den Versuch, über Geldeinheiten oder Konsumgüterzahlen eine objektive Nutzenskala zu gewinnen, ist leicht zu argumentieren. Wem es am Nötigsten fehlt, bedeutet dem ein kleiner Geldbetrag nicht mehr als dem, der 20 Siehe oben S. 159. 2

* Siehe oben S. 163. Einen Uberblick über die Probleme der Nutzenmessung geben Weber, Streißler, Nutzen. Eingehend setzen sich m i t den Problemen der Nutzenmessung Majumdar, The Measurement of U t i l i t y , u n d Rothenberg, The Measurement of Social Welfare, auseinander. 22

23 Vgl. Luce, Raiffa, Games and Decisions, S. 345 ff.; Armstrong, The Determinateness of the U t i l i t y Function; U t i l i t y and the Theory of Welfare. 24 Z u r Problematik des interindividuellen Nutzenvergleichs ist klassisch geworden der Beitrag v o n Robbins, Interpersonal Comparisons of U t i l i t y : A Comment.

6.2 Ordinale Präferenzen, kardinale Präferenzen, Indifferenzen

167

i m Überfluß hat 2 5 ? Woran sonst kann sich der Vergleich orientieren? Gegen die ökonomischen Reaktionen als Orientierungsdaten spricht, daß deren Stärke und die Intensität der zugrundeliegenden Motivationen einander nicht entsprechen müssen. Denselben Reaktionen verschiedener Individuen können verschiedene Motivationen zugrundeliegen, und wenn der Nutzen eines Individuums etwas m i t dessen Motivationen zu t u n haben soll, dann können aus Reaktionsstärken nicht miteinander vergleichbare und verrechenbare Nutzenintensitäten abgeleitet werden 26 . Schon als Problem der subjektiven Messung, erneut und erschwert nun als Problem der objektiven Messung und als Problematisierung des Nutzensummierungskonzepts stellt sich die Frage nach der psychischen Qualität von Bedürfnis und Nutzen und von Bedürfnisund Nutzenintensitäten. Sind nicht Nutzenerlebnisse verschiedener Intensität oft Bedürfnisbereichen verschiedener psychischer Qualität zugeordnet, und ist nicht darum Nutzen eine eindimensional gar nicht faßbare Größe? Was soll dann aber bei demselben Individuum und erst recht bei verschiedenen Individuen die Summierung kleiner N u t zen zu einem großen Nutzen bedeuten 27 ? I n den kritischen Fragen an die Versuche eines interindividuellen Nutzenvergleichs und zugleich an das Konzept der Nutzensummierung, dessen Voraussetzung der Vergleich ist, lassen sich Alltagsweisheiten wiederfinden. Daß sich über Geschmäcker nicht streiten lasse und daß dem einen sein U h i sei, was dem anderen seine Nachtigall, meint eben dies, daß dasselbe Ding für verschiedene Individuen von verschiedenem Wert oder Nutzen sein kann und daß sich diese Verschiedenheit wohl feststellen, aber nicht objektivieren läßt. Die K r i t i k der Fragen begegnet etwa auch i m Zivilrecht als das Unbehagen an Schmerzensgeldberechnungen, insbesondere wenn diese an festen Tabellen orientiert sind. Gäbe es das interindividuelle Etalon des Nutzens, dann wären Aufgaben wie die Bestimmung von Schmerzensgeld nicht das Problem, das sie sind.

25 Daß Nutzenzuwachs nicht nach dem Zuwachs von Konsumgütern gemessen werden kann, folgt aus dem sog. Ersten Gossenschen Gesetz, dem Sättigungsgesetz. Vgl. Gossen, Entwicklung der Gesetze des menschlichen Verkehrs u n d der daraus fließenden Regeln f ü r menschliches Handeln, S. 4/5 und die Modifizierung des Ersten Gossenschen Gesetzes zum Gesetz der abnehmenden Grenzbewertungen u n d damit zur Grundlage der Theorie der rationalen Nachfrage bei Hicks, A Revision of Demand Theory, S. 153/154. 26 Vgl. Knight , " W h a t is T r u t h " i n Economics?, S. 167. 27 Vgl. Mayer , Zur Frage der Rechenbarkeit des subjektiven Werts.

168

6 Problemhorizont der Wohlfahrtsökonomik u n d Spieltheorie

Die Schwierigkeiten ordinaler wie kardinaler Messung von Präferenzen lassen die A t t r a k t i v i t ä t des Versuchs verstehen, der das wohlfahrtsökonomische Forschungsziel nicht über Ermittlung der Präferenzen, sondern über Ermittlung der Indifferenzen der Individuen angeht. Auch die Indifferenzen eines Individuums sind Ausdruck seiner Präferenzen, Indifferenz ist Nullpräferenz. Gleichwohl liegt ein radikal anderer Forschungsansatz vor. Nach wie vor geht es u m die Feststellung, was bestimmte Güter den verschiedenen Individuen bedeuten, damit dann von dieser Feststellung aus ein Optimum der Güterverteilung definiert werden kann. Das Instrument, m i t dem die Indifferenzialisten diese Feststellung auszudrücken suchen, sind Indifferenzkurven mit abnehmender Grenzrate der Substitution 2 8 . M i t Grenzrate der Substitution ist das Verhältnis gemeint, i n dem ein Individuum Einheiten eines Guts durch Einheiten eines anderen ersetzen kann, ohne daß sich seine Befriedigung ändert. I m Gesetz der abnehmenden Grenzrate der Substitution ist die A n nahme ausgedrückt, daß ein Individuum für mehr und mehr Einheiten des einen Guts zunehmend weniger Einheiten des anderen hinzugeben bereit ist. Wer für eine Vierzimmer- statt einer Dreizimmerwohnung seine Ausgaben für Essen u m ein Viertel einschränkt, w i r d darum noch nicht für eine Fünfzimmerwohnung auf ein weiteres Viertel verzichten und kann nicht für eine Siebenzimmerwohnung das Essen überhaupt aufgeben. Indifferenzkurven, aus den die Grenzraten der Substitution darstellenden Punkten gewonnen, sind daher regelmäßig von der folgenden Gestalt. CD c

f-t-

Ü3

0

Gut A

W i r d von Indifferenzen bzw. Indifferenzkurven ausgegangen, dann w i r d der Nutzen eines Guts nicht für sich allein betrachtet. Wie nützlich ein isoliertes Gut ist und ob das eine isolierte Gut nützlicher als ein anderes ist, das sind bei dieser Betrachtung verfehlte Fragen. Vom Nutzen oder Wert eines Guts kann nur i m Zusammenhang der Grenzrate der Substitution und damit i m Bezug auf eine schon gegebene 28 Vgl. die besonders klare Darstellung bei Scitovsky, petition, S. 29 ff.

Welfare and Com-

6.2 Ordinale Präferenzen, kardinale Präferenzen, Indifferenzen

169

Verteilung von Gütern geredet werden. Wieviel Einheiten eines Guts A müssen jemandem, der über eine bestimmte Menge der Güter A und Β verfügt, gegeben werden, damit er auf eine Einheit des Guts Β verzichtet? Wieviele müssen i h m für seinen Verzicht gegeben werden, wenn er über eine bestimmte andere Verteilung der Güter A und Β verfügt? I n derartigen Fragen w i r d auf die Versorgungslage des Individuums Rücksicht genommen. Auch der Ansatz der Indifferenzialisten kennt ordinale Ordnungsrelationen. I n dem Feld von Güterverteilungen, i n dem oben die eine Indifferenzkurve eingetragen wurde, lassen sich für dasselbe Individuum noch weitere Kurven eintragen. Kann dieses sich nicht nur eine Dreizimmerwohnung, sondern eine Vierzimmerwohnung leisten und außerdem auch für Essen mehr ausgeben, dann hat es auch andere Grenzraten der Substitution, die eine andere und höhere Indifferenzkurve bilden. Den Nutzen, den zwei Güter für ein Individuum haben, lassen also richtig erst Scharen von Indifferenzkurven erkennen. CD

0

A

Die Indifferenzkurven sind i n der Weise geordnet, daß einer Kurve ein um so höherer Nutzen entspricht, je höher oder je weiter entfernt vom Nullpunkt sie eingetragen ist. Geordnet werden so allerdings nicht die beiden Güter, sondern deren Verteilungen bzw. die diesen entsprechenden Nutzen eines Individuums. Die Ordnung bringt nur die Annahme zum Ausdruck, daß eine Verteilung, die von beiden Gütern mehr vereinigt, für das Individuum befriedigender ist als eine andere, die von beiden Gütern weniger vereinigt 2 9 . 28 Dies ist vielleicht nicht unmißverständlich. Nicht jeder P u n k t der höherliegenden Indifferenzkurve repräsentiert eine Verteilung, die von beiden Gütern mehr vereinigt als jeder P u n k t der tief erliegenden. Der P u n k t P i repräsentiert eine größere Menge des Guts Β als der P u n k t P 2 , aber eine kleinere Menge des Guts A. Aber zu jedem P u n k t der tief erliegenden Indifferenzkurve gibt es Punkte der höherliegenden, die eine von

170

6 Problemhorizont der Wohlfahrtsökonomik u n d Spieltheorie

Wie stellt sich von diesem Ansatz aus das Verteilungsproblem und welche Vorstellung seiner optimalen Lösung läßt sich entwickeln? Es sei weiterhin von zwei Gütern A und B, nun i n einer bestimmten Menge vorgegeben, ausgegangen. Von zwei Individuen I und K , die beide diese Güter brauchen und austauschen, mögen die Indifferenzkurven bekannt sein. W i r d das Diagramm, i n dem die Indifferenzkurven von Κ eingetragen sind, u m 180 Grad gedreht und über das Diagramm mit den Indifferenzkurven von I gelegt, dann entsteht das folgende Diagramm 3 0 .

er

Β 11

b

K

o

1

0 I

'1

2

! a

i

a

t

f Β

Die Weite des Kastens mißt die I und Κ verfügbare Menge des Guts A, die Höhe die beiden verfügbare Menge des Guts B. Jeder Punkt innerhalb des Kastens steht für eine Verteilung von A und Β zwischen I und K. Punkt Ρ steht ζ. B. für eine Verteilung, bei der I die beiden Gütern mehr vereinigende Verteilung repräsentieren, zu P u n k t P 2 etwa den P u n k t P 3 .

30

Nach Scitovsky,

Welfare and Competition, S. 52.

6.2 Ordinale Präferenzen, kardinale Präferenzen, Indifferenzen

171

Mengen ai von A u n d b i von Β bekommt, während Κ die Mengen a t — ai v o n A u n d bt — bi von Β erhält. Den Nutzen dieser Verteilung zeigt für I die Indifferenzkurve 13 u n d für Κ die Indifferenzkurve k3. Jeder von diesen beiden Indifferenzkurven eingeschlossene P u n k t repräsentiert eine Verteilung der Güter A u n d B, die sowohl für I als auch f ü r Κ vorteilhafter ist als die durch den P u n k t Ρ repräsentierte Verteilung. Denn die durch diese eingeschlossenen Punkte zu ziehenden Indifferenzkurven sind von den für I u n d für Κ maßgeblichen N u l l punkten weiter entfernt als 13 und k3 u n d d a r u m i n dem oben erläuterten Sinn befriedigender. Die durch einen Austausch von Gütern zu realisierende Ersetzung der Verteilung am P u n k t Ρ durch die am P u n k t Q würde also sowohl I als auch Κ von Nutzen sein. V o n einigen Verteilungspunkten aus ist keine Verteilungsänderung möglich, v o n der beide profitieren. Es sind dies die Punkte, an denen sich die Indifferenzkurven von I und Κ berühren, aber nicht schneiden. Wenn von diesen Punkten aus der Nutzen des einen durch eine Verteilungsänderung erhöht w i r d , dann geht das n u r dadurch, daß der Nutzen des anderen verringert w i r d . Diese Punkte sind i m Diagramm durch eine K u r v e verbunden, deren Verfolgung von links nach rechts zu immer höheren Nutzenniveaus von I u n d immer geringeren von Κ f ü h r t u n d von deren jedem P u n k t aus es unmöglich ist, einen anderen, sowohl I als auch Κ vorteilhafteren Verteilungspunkt zu erreichen. Was hier für zwei Güter, deren Verteilung u n d die Nutzen von zwei Individuen, die diese Güter brauchen, ausgeführt wurde, läßt sich entsprechend auch für mehrere Güter u n d Individuen sowie für das Verhältnis, i n dem mehrere Produktionsfaktoren einzusetzen sind, entwickeln 3 1 . Es ist stets dasselbe K r i t e r i u m , das aus der Menge aller möglichen Verteilungen von Produktionsfaktoren, Gütern und i n d i v i duellen Teilmenge eine Teilmenge auszeichnet: Ausgezeichnet ist diejenige Teilmenge der Verteilungen, von denen aus niemandes Nutzen vermehrt werden kann, ohne daß dadurch der Nutzen jemandes anderen vermindert w i r d . Das K r i t e r i u m kann ebenso wie auf V e r teilungen auch auf Verteilungsänderungen bezogen werden u n d zeichnet unter diesen diejenigen aus, die den Nutzen einiger vermehren, ohne dadurch den Nutzen jemandes anderen zu vermindern. Ist es sinnvoll zu sagen, dieses K r i t e r i u m definiere ein O p t i m u m und die durch es ausgezeichnete Menge von Verteilungen sei eine optimale Menge von Lösungen des Verteilungsproblems? Bedeutet das von Pareto 32 eingeführte K r i t e r i u m für die nach i h m benannte Pareto 31

Vgl. Nath, A Reappraisal of Welfare Economics, S. 20 ff. Pareto , Manuel d'Economie Politique, S. 354 und S. 617 f. (Manual of Political Economy, S. 261 und S. 451 f.). 32

172

6 Problemhorizont der Wohlfahrtsökonomik und Spieltheorie

Optimalität einen Fortschritt der wohlfahrtsökonomischen Diskussion gegenüber den ordinalen oder kardinalen Nutzenmaximierungskonzepten? Steht nicht, da ein Pareto- Optimum j a genauer aus einer Menge von Pareto- Optima, aus einer Vielzahl von Pareto- optimalen Verteilungen besteht, die A u s w a h l als das entscheidende Problem erst noch bevor 3 3 ? 6.3 Ermittlung symmetrischer Konfliktlösungen in der Spieltheorie Die Diskussion der Stärken u n d Schwächen des K r i t e r i u m s der Pareto-Optimalität soll i n dem etwas veränderten theoretischen u n d formalen Rahmen der Spieltheorie 3 4 geführt werden. Was i m folgenden an Spieltheorie zur Darstellung kommt, sind allerdings nicht die t y p i schen spieltheoretischen Probleme. Spieltheorie handelt typischerweise nicht von Lösungsnormen für Konflikte, sondern davon, wie sich Konfliktlösungen unnormiert einspielen. Sie sucht nach optimalen Konfliktstrategien für die Konfliktbeteiligten und nur am Rande nach optimalen Strategien f ü r einen Unbeteiligten, der den Konflikt lösen soll. I m folgenden interessieren eben diese Randprobleme 3 5 , und w e n n schon das typische Forschungsziel der Spieltheorie beiseitegelassen w i r d , dann mag auch das typische Forschungsmittel vernachlässigt werden. Es ist dies ein kardinaler Nutzenbegriff, i n dessen Verfolgung der Nutzen verschiedener A l t e r n a t i v e n für ein I n d i v i d u u m dadurch gemessen w i r d , daß dem I n d i v i d u u m nicht einfach die Alternativen, sondern die Alternativen als m i t verschiedenen Wahrscheinlichkeiten 33 Kritisch mag gegen den indifferenzialistischen Ansatz weiter die Frage gewendet werden, ob nicht m i t den Indifferenzkurven Individualdaten vorausgesetzt werden, die ebenso schwer zu erheben und zu messen sind wie die ordinalen oder kardinalen Präferenzen von Individuen. Die A n t w o r t kann der K r i t i k m i t dem Hinweis darauf begegnen, daß das wohlfahrtsökonomische Konzept, i n dessen Zusammenhang das Instrument der I n differenzkurve entwickelt wurde, nicht beanspruchen muß, von Indifferenzkurven als von i n der Empirie zu erhebenden und zu messenden Individualdaten auszugehen, u m dann die entsprechenden Optima zu suchen. Indem es vielmehr Modelle sucht, i n denen das K r i t e r i u m der Pareto-Optimalität i n seinen verschiedenen Bedingungen erfüllt ist, und auf dieser Suche insbesondere zu einem unrealistischen Modell vollkommener Konkurrenz kommt, verläßt es zunächst den Bereich der Empirie und verwendet I n differenzkurven nur als M i t t e l einer Veranschaulichung der i n die Modelle eingehenden Annahmen über Individualverhalten. 34 Vgl. zur Spieltheorie von Neumann, Morgenstern, Spieltheorie und w i r t schaftliches Verhalten; Luce, Raiffa, Games and Decisions; Shubik, Spieltheorie und Sozialwissenschaf ten; Schlink, Inwieweit sind juristische E n t scheidungen m i t entscheidungstheoretischen Modellen theoretisch zu erfassen und praktisch zu bewältigen? 35 Sie werden i n der Spieltheorie als „arbitration schemes" diskutiert, vgl. Luce, Raiffa, Games and Decisions, S. 121 ff.

6.3 Symmetrische Konfliktlösungen i n der Spieltheorie

173

eintretend zur Wahl gestellt werden 3 6 . Wenn i m folgenden Nutzen kardinal notiert wird, dann mag dies erinnert werden, mag die kardinale Messung des Nutzens aber auch anders vorgestellt werden. Wichtig ist, daß m i t der Einführung von Wahrscheinlichkeiten, da subjektive Wahrscheinlichkeiten eingeführt werden, auch nur subjektiver Nutzen gemessen w i r d . Einen intersubjektiven Nutzenvergleich kann und soll der kardinale Nutzenbegriff der Spieltheorie nicht ermöglichen, und die kardinale Notierung darf nicht als solche Ermöglichung mißverstanden werden. Es sei ein Konflikt oder i n der Terminologie der Spieltheorie ein Spiel vorgestellt, bei dem zwei Individuen I i und I2 den Betrag von 100 D M untereinander zu teilen haben. I m folgenden Diagramm repräsentiert jeder Punkt des begrenzten Feldes eine Teilung dieses Betrags. Können sich I i und I2 auf eine dieser Teilungen einigen, dann erhält I i den Betrag, den die erste Koordinate, I2 den Betrag, den die zweite Koordinate erkennen läßt. Können sie sich nicht einigen, dann erhält keiner etwas.

Die Pareto- optimalen Teilungen werden durch die schräge Linie repräsentiert, die das Feld der Teilungen begrenzt. Von jedem Punkt auf dieser L i n i e aus ist es unmöglich, einen anderen Punkt zu erreichen, an dem sowohl I i als auch I2 mehr erhalten. Soll darum aber auch als Lösung des Teilungskonflikts eine dieser Pareto-optimalen Teilungen vorgeschlagen werden? Es sei angenommen, daß I i und I 2 sich dahin schon geeinigt haben, daß jeder zumindest einen Betrag von 10 D M erhält, daß aber über die weitere Teilung die Verhandlung stockt. Nach dem K r i t e r i u m der Pareto-Optimalität liegt eine Verbesserung dieses ersten Verhandlungsergebnisses auch dann vor, wenn I i 90 D M erhält und I2 nach wie vor 10 DM. K a n n von einem entsprechenden Vorschlag w i r k l i c h gesagt werden, er optimiere die festgefahrene Verhandlungslage? Dies nur dann, wenn I 2 seinen Nutzen unabhängig von 36 Vgl. von Neumann, Morgenstern, Spieltheorie und wirtschaftliches V e r halten, S. 15 ff.; Luce, Rai ff a, Games and Decisions, S. 12 ff.

174

6 Problemhorizont der Wohlfahrtsökonomik u n d Spieltheorie

dem Nutzen von I i bestimmt und keinen Vergleich zwischen seinem Teilungsbetrag und dem von I i anstellt. I2 darf sich nur mit sich selbst beschäftigen und nicht daran stören, daß I i mehr bekommen, aber er selbst sich mit dem bescheiden soll, was er schon hat. Die Vorstellung der Pareto-Optimalität ist also eine radikal individualistische Vorstellung. Die Vorstellung der Pareto-Optimalität ist außerdem eine radikal konservative Vorstellung 3 7 . Es sei angenommen, daß I i und I2 sich auf die Teilung geeinigt haben, bei der I i 90 D M und I2 10 D M erhält, daß ferner I i sehr reich und I2 sehr arm ist. Dieses Teilungsergebnis könnte Folge etwa des Umstandes sein, daß I i geltendmachen konnte, schon ein kleiner Betrag bringe dem armen I2 einen Nutzenzuwachs, den i h m selbst nur ein großer Betrag verschaffen könne, oder auch Folge des anderen Umstandes, daß I i sich auf eine i h m ungünstigere Teilung einzulassen überhaupt weigerte und drohte, die Teilung scheitern zu lassen. Konservativ ist das K r i t e r i u m der Pareto-Optimalität darum, weil es für die Veränderung der einmal erreichten Verteilung von Reichtum und A r m u t nur den Weg weist, daß ein zusätzlich erwirtschafteter und wiederum zu teilender Betrag anders geteilt wird, Umverteilungen als Mittel der Veränderung dagegen nicht kennt. Ob dies Einwände gegen das K r i t e r i u m der Pareto-Optimalität sind, hängt davon ab, wie es verstanden wird. Das K r i t e r i u m der ParetoOptimalität filtert eine Menge von Lösungen heraus, und wenn diese als gleichwertig, als gleichermaßen verwirklichens- und erhaltenswert verstanden werden, dann ist das K r i t e r i u m der Pareto-Optimalität wegen der i h m zugrundeliegenden individualistischen und konservativen Vorstellungen eine fragwürdige A n t w o r t auf die gesellschaftlichen Verteilungsprobleme. Es kann aber auch als der erste Schritt auf dem Weg zu einer Lösung verstanden werden, an den ein anderes K r i t e r i u m als der zweite Schritt erst noch anschließen muß. Die Spieltheorie kennt das folgende, von Nash vorgeschlagene A n schlußkriterium, nach dem aus der Menge Pareto-optimaler Lösungen diejenige ausgewählt wird, bei der das Produkt der Nutzen beider Konflikt- oder Spielpartner maximal ist 3 8 . Das K r i t e r i u m w i l l als faires K r i t e r i u m und die über es ermittelte Lösung des Konflikts soll als faire Lösung gelten. Grund hierfür ist insbesondere, daß mit diesem 37 Den Werturteilen, die der Vorstellung der Pareto-Optimalität zugrundeliegen, wurde lange keine Aufmerksamkeit geschenkt. Sie w u r d e n erstmals (so das U r t e i l von Nath, A Reappraisal of Welfare Economics, S. 8) von Dobb, Economic Theory and Socialist Economy: A Reply, aufgezeigt, werden bei Graaff, Theoretical Welfare Economics, stets bewußt gehalten u n d von Weber, Jochimsen, Wohlstandsökonomik, S. 354, u n d Nath, A Reappraisal of Welfare Economics, S. 8 ff. besonders betont. 38 Nash f The Bargaining Problem; Two-Person Cooperative Games.

6.3 Symmetrische Konfliktlösungen i n der Spieltheorie

175

K r i t e r i u m gewährleistet ist, daß bei symmetrischer Konfliktlage auch die Konfliktlösung symmetrisch ist. Was das bedeutet, sei am Konflikt u m die Teilung der 100 D M genauer untersucht. Symmetrie der K o n fliktlage würde hier zunächst bedeuten, daß I i und I2 i n derselben Ausgangslage sind und nicht etwa I i über eine Drohung, der I2 keine Drohung entgegensetzen kann, oder sonst über eine Strategie, der I2 m i t keiner Strategie begegnen kann, verfügt und dadurch ein besseres Teilungsergebnis erzwingen kann. Symmetrie der Konfliktlage würde i m Konflikt u m die Teilung der 100 D M weiter bedeuten, daß beide Konflikt- oder Spielpartner aus derselben Teilungsquote denselben Nutzen ziehen, daß also der Betrag von 30 D M für I i v o n demselben Nutzen ist wie für I2 und daß seine Erhöhung auf 40 D M beiden denselben Nutzenzuwachs bringt. Ist der Teilungskonflikt i n dieser doppelten Weise symmetrisch angelegt, dann w i r d m i t dem Nash-Kriterium die symmetrische Teilung als Lösung ermittelt, bei der I i und I2 je 50 D M erhalten. Ob eine Konfliktlage symmetrisch ist, ist ohne interpersonellen Nutzenvergleich nicht zu beantworten. Noch ohne diesen läßt sich zwar fragen, ob der eine Konfliktpartner über Drohungen und Strategien verfügt, die dem anderen Konfliktpartner nicht zur Verfügung stehen. Aber wenn der Vergleich der Drohungen u n d Strategien i n die Frage mündet, welchen Nutzen die Ausgangslage des Konflikts den beiden Konfliktpartnern verspricht und ob sie dem einen günstiger als dem anderen ist, kann ohne interpersonellen Nutzenvergleich nicht geantwortet werden. V o r allem die Frage, ob beide aus denselben Beträgen dieselben Nutzen ziehen, ist genau die Frage des interpersonellen Nutzenvergleichs. Es mag darum scheinen, das Nash-Kriterium setze interpersonellen Nutzenvergleich voraus, nur über diesen werde die Auswahl aus der Menge Pareto-optimaler Lösungen gefunden. Aber das t r i f f t nicht zu. Z w a r erweisen sich nur über interpersonellen Nutzenvergleich Konfliktlagen und Konfliktlösungen als symmetrisch, und interpersoneller Nutzenvergleich ist darum Voraussetzung dafür, daß Nash-Lösungen als symmetrisch gerechtfertigt werden. Aber er ist nicht Voraussetzung dafür, daß sie gefunden werden. Dies meint folgendes: Wenn eine Konfliktlage i m Licht eines interpersonellen Nutzenvergleichs symmetrisch ist, dann ist i m Licht desselben interpersonellen Nutzenvergleichs auch die m i t dem Nash-Kriterium gewonnene Konfliktlösung symmetrisch. Wenn die Konfliktlage asymmetrisch ist, dann ist es auch die Konfliktlösung. Wenn schließlich der Gesichtspunkt der Symmetrie überhaupt nicht eingeführt wird, etwa aus Angst vor den Schwierigkeiten des interpersonellen Nutzenvergleichs, dann kann m i t dem Nash-Kriterium eine Lösung gleichwohl gefunden, nur nicht als symmetrisch oder fair gerechtfertigt werden.

176

6 Problemhorizont der Wohlfahrtsökonomik u n d Spieltheorie

Erweist sich z. B. i n interpersonellem Nutzenvergleich für I i wie für I 2 Nutzen als linear zu Geld u n d damit die Konfliktlage als symmetrisch, dann teilt die Nash-Lösung I i u n d I2 je 50 D M zu, u n d dieses Teilungsergebnis ist von derselben Symmetrie, von der auch die K o n fliktlage ist. Erweist sich dagegen i n wiederum interpersonellem N u t zenvergleich die Konfliktlage als asymmetrisch, etwa indem I i reich u n d I2 arm ist u n d indem daher f ü r I i u n d I2 Geld von verschiedenem Nutzen ist, dann spiegelt die Nash-Lösung diese Asymmetrie. Angenommen, Ausschnitte der Nutzenfunktionen des reichen I i u n d des armen I 2 sehen so aus: N u t z e n für

DM

Ii 0

0

! 1

I2 0

25

0,25

0,73

50

•0,5

0,9

75

0,75

!

1

i ί 1

100

0,98

1

Dann entsprechen den links aufgetragenen Teilungsergebnissen rechts aufgeführten Nutzenprodukte,

Ii

I9

! ί

die

Nutzenprodukte

0

0 DM

100 D M

25 D M

75 D M

0,245

50 D M

50 D M

0,45

75 D M

25 D M

0,548

100 D M

0 DM

0

u n d das m i t dem N a s h - K r i t e r i u m ermittelte Ergebnis liegt bei 75 D M für I i u n d 25 D M für I2. Dasselbe Ergebnis w i r d auch dann ermittelt, w e n n jede Erwägung von Symmetrie u n d Asymmetrie u n d jeder interpersoneller Nutzenvergleich beiseite bleiben, wenn also weder die

6.3 Symmetrische Konfliktlösungen i n der Spieltheorie

177

Konfliktlage noch die Konfliktlösung darauf befragt werden, ob sie fair sind. Interpersoneller Nutzenvergleich ist nötig nicht für die Findung, w o h l aber für die Rechtfertigung mit dem Nash-Kriterium gewonnener Lösungen. Und was für das Nash-Kriterium gilt, t r i f f t auch für die anderen Versuche zu, aus der Menge von Pareto- optimalen Lösungen eine bestimmte Lösung auszuwählen 39 . Pareto-Optimalität bezeichnet die Grenze, bis zu der ohne interpersonellen Nutzenvergleich optimiert werden kann. Sie zeigt m i t ihrer Menge von Lösungen auf, was die Konfliktsituation für beide Konfliktpartner hergibt. Ob aber die Lösung mehr zugunsten des einen oder anderen Konfliktpartners gehen soll, darauf verweigert sie die Antwort, die nur über einen interpersonellen Nutzenvergleich gefunden werden kann. Wenn i n der Spieltheorie, theoriegeschichtlich einer Erbin der Wohlfahrtsökonomik, das Problem des interpersonellen Nutzenvergleichs als Problem der Symmetrie wieder auftaucht, dann schließt sich darum doch die Problemgeschichte nicht einfach zu einem Kreis. Die Spieltheorie und ebenso die neuen wohlfahrtsökonomischen Versuche, aus der Menge Pareto- optimaler Lösungen eine Lösung herauszufiltern, sind nichts weniger als einfache Wiederholungen der frühen wohlfahrtsökonomischen Konzepte, die die Nutzen aller Individuen einer Gesellschaft m i t demselben Maß messen und dann addieren wollten. Nach der Zäsur, die Paretos Wohlfahrtsökonomik theoriegeschichtlich bedeutete 40 , w i r d das Problem des interpersonellen Nutzenvergleichs differenzierter und konkreter angegangen. Differenzierter, indem das ethische und das psychologische Problem beim interpersonellen Nutzenvergleich unterschieden und zwar aufeinander bezogen, aber nicht m i t einander verwechselt werden. Konkreter, indem an die Stelle gesamtgesellschaftlicher Nutzen- oder Wertkonzepte die Analyse und Bewertung von Konfliktsituationen, von Konfliktrollen und -Strategien tritt41. Die Abschichtung des ethischen und des psychologischen Problems beim interpersonellen Nutzenvergleich bedeutet zunächst die Unterscheidung zwischen der einen Frage, ob Individuen dieselben Nutzen aus denselben Alternativen ziehen, und der anderen, ob die verschiedenen Individuen symmetrisch und damit zu behandeln sind, als zögen 3

9 Vgl. die Darstellung bei Luce, Raiffa, Games and Decisions, S. 135 ff. 40 Vgl. die kurze Dogmengeschichte der Wohlfahrtsökonomik bei Weber, Jochimsen, Wohlstandsökonomik, S. 349 ff., insbesondere S. 353 f. 41 Vgl. zum folgenden Harsanyi , Cardinal Welfare, Individualistic Ethics and Interpersonal Comparisons of U t i l i t y ; Nath, A Reappraisal of Welfare Economics, S. 133 ff.; Sen, Collective Choice and Social Welfare, S. 89 ff., S. 118 ff. u n d S. 131 ff. 12 Schlink

178

6 Problemhorizont der Wohlfahrtsökonomik u n d Spieltheorie

sie aus denselben Alternativen dieselben Nutzen, solange nicht das Gegenteil plausibel dargetan wird. Auch diese andere Frage führt zu psychologischen Problemen, indem das Gegenteil plausibel nur durch den Hinweis auf psychische und ferner auf soziale Unterschiede dargetan werden kann. Aber indem sie interpersonellen Nutzenvergleich als ethisches und nicht als psychologisches Prinzip anspricht, setzt sie mit den psychologischen Problemen nicht an und erschöpft sich nicht i n ihnen. Die Abschichtung bedeutet weiter, daß zwischen der Analyse der Konfliktlage und ihrer Bewertung unterschieden wird. Wie die Konfliktrollen und Konfliktstrategien und ob sie unterschiedlich verteilt sind, das ist noch ohne interpersonellen Nutzenvergleich auszumachen. Ob Unterschiede i n der Verteilung von Rollen und Strategien für die Konfliktlösung überhaupt relevant werden sollen, da erst fängt das ethische Problem an und erst bei Entscheidung dafür, daß Asymmetrie der Konfliktlage auch i n der Konfliktlösung zur Geltung kommen muß, muß Asymmetrie nutzenmäßig veranschlagt und verglichen werden. So oder so führt Abschichtung i n konkrete Analysen. M i t diesen ist das ursprüngliche Forschungsziel der Wohlfahrtsökonomik freilich nicht mehr zu erreichen. I n der Wendung von a priori — Wohlfahrtsökonom i k zu ad hoc — Wohlfahrtsökonomik 4 2 , von Wohlfahrtsökonomik zu Spieltheorie oder auch zu Nutzen-Kosten-Analyse 43 liegt die Preisgabe des Programms einer Globalanalyse und -bewertung zugunsten eines Programms von Partialanalysen und -bewertungen. 6.4 Der indif f erenzialistische Ansatz und das Kriterium der PARETO-Optimalität im Verfassungsrecht Der Ertrag dieses tour d'horizon wohlfahrtsökonomischer und spieltheoretischer Probleme für die Suche nach einer Methode der A b wägung i m Verfassungsrecht ist zunächst eine Bestätigung dessen, was schon die Durchsicht des rechtswissenschaftlichen Schrifttums ergab. Bestätigt w i r d die Unhaltbarkeit der globalen Wert- oder Nutzenkonzepte. W i r d freilich ein Offenbarungsmodell des Erkenntnisprozesses vertreten, dann irritieren die Schwierigkeiten ordinalistischer und kardinalistischer Nutzenagglomerierung nicht. Dann kann die Ordnung der Verfassungsgüter und -werte weiter als vorgegeben behauptet und dem, der ihre Offenbarung nicht erkennt, Schwäche der Erkenntnis angelastet werden. Dann gibt es keine Agglomerierungsaufgabe und keine Agglomerierungsprobleme. Aber um überhaupt ernst genommen zu werden, müßte das Offenbarungsmodell um eine Theorie der Inter42 43

Nath, A Reappraisal of Welfare Economics, S. 125 ff. Recktenwald, Die Nutzen-Kosten-Analyse.

6.4 Pareto-Optimalität i m Verfassungsrecht

179

pretation ergänzt werden, die lehrt, wie die vorgegebene Wert- und Güterordnung interpretativ zu erkennen ist. Daß es keine Methode der Interpretation gibt, mit der i m Grundgesetz eine kardinale oder auch nur ordinale Ordnung der Verfassungsgüter und -werte erkannt werden kann, muß hier nicht ausgeführt werden 4 4 . Kann die Verfassungswert- und -güterordnung nicht als vorgegeben behauptet werden, dann geht es nur noch darum, ob und wie sie erstellt werden kann. A n die Stelle der Aufgabe, die Wertordnung abzulesen, t r i t t die Aufgabe, die Wertordnung zu konstruieren und hinzuschreiben. Diese Aufgabe ist eine Agglomerierungsaufgabe, wenn die Wertordnung der Verfassung die Wertordnung der Bürger abbilden soll. Sie scheitert daher an den Agglomerierungsschwierigkeiten, die sich bei der Durchsicht der wohlfahrtsökonomischen Probleme zeigten. Die ordinalistische Agglomerierung läuft an Arrows Unmöglichkeitssatz auf und ist nur um den Preis der Intoleranz zu retten. Die kardinalistische Agglomerierung gerät i n nicht gelöste Schwierigkeiten der Nutzenmessung und des Nutzenvergleichs. Interindividueller Nutzenvergleich erscheint zwar da nicht aussichtslos, wo bei verschiedenen Individuen derselben sozial homogenen Gruppe dieselben Bedürfnisbereiche angesprochen sind 4 5 . Aber von solchem Nutzenvergleich führt kein Weg zu einem globalen Nutzen- oder Wertkonzept, das alle Güter und Güterverteilungen, Werte und Wertverwirklichungen ordnet 4 6 . I n der Wohlfahrtsökonomik ist der indifferenzialistische Ansatz die A n t w o r t auf die Schwierigkeiten ordinalistischer und kardinalistischer Nutzenkonzepte. Er ist eine A n t w o r t auch auf die Frage, wie die Wertungsprobleme i n verfassungsrechtlichen Abwägungen anzugehen sind 4 7 . Nicht, daß für die verschiedenen Verfassungsgüter oder -werte Indifferenzkurven aufgezeichnet werden könnten oder sollten. Es können aber auch zwischen Verfassungsgütern die Wertverhältnisse so begriffen werden, wie über Indifferenzkurven die Nutzenverhältnisse zwischen Wirtschaftsgütern erfaßt werden. Entscheidend an dieser Er44 Siehe dazu oben S. 134 f. 45 Vgl. Weber, Streißler, Nutzen, S. 6 f. u n d S. 9 f. 46 Daß eine die Lösung von Verfassungsproblemen bestimmende soziale Wertordnung als Agglomerat individueller Wertordnungen nicht konstruiert werden kann, das darzulegen mag der hier betriebene A u f w a n d übertrieben scheinen. Was sollen die Überlegungen zur Agglomerierung, w e n n die zu agglomerierenden individuellen Wertordnungen aller Bürger ohnehin nicht zu erheben sind? Es ist richtig, daß es an den für eine Erhebung erforderlichen Instanzen, Verfahren u n d M i t t e l n fehlt. Aber der Hinweis hierauf erledigt das Agglomerierungsproblem noch nicht. Er zeigt nur, daß A g glomerierungshypothesen technisch k a u m zu überprüfen sind. Daß sie methodisch nicht zu überprüfen sind u n d daß ihre Aufstellung daher sinnlos ist, das zu zeigen ist der hier betriebene A u f w a n d durchaus notwendig. 47 Vgl. zum folgenden Barry, Political Argument, S. 3 ff. 12*

180

6 Problemhorizont der Wohlfahrtsökonomik u n d Spieltheorie

fassung ist, daß sich der Wert von Gütern an den Folgen zeigt, die der Zuwachs eines Guts als Verlust eines anderen m i t sich bringt. Freiheit der Bürger und Effizienz der Staatsfunktionen können nach ihrem Wert oder ihrem Nutzen nicht einander vor- oder nachgeordnet werden. Sie können aber auf ihre Substituierbarkeit befragt werden. Welcher Verlust an Effizienz entspricht welchem Zuwachs an Freiheit? Welchem Verlust an Freiheit entspricht welcher Zuwachs an Effizienz? Und wie i n der Wohlfahrtsökonomik nicht allgemein nach Substituierbarkeit, sondern nach den Grenzraten der Substitution und damit nach Substituierbarkeit i n bestimmten Verteilungs- und Versorgungslagen gefragt wird, so hat auch die entsprechende verfassungsrechtliche Frage auf bestimmte Situationen und die i n ihnen vorgegebenen Verteilungen von Freiheit und Effizienz abzustellen. I n der Wohlfahrtsökonomik ist Substituierbarkeit auf die Erhaltung der Befriedigung eines Individuums bezogen. Wenn eine i n einer politischen Diskussion geäußerte Wertung — „ M i r ist Effizienz wichtiger als Freiheit" — als Äußerung über Substituierbarkeit interpretiert w i r d — „ E i n geringer Zuwachs an Effizienz ist m i r einen beträchtlichen Verlust an Freiheit w e r t " —, dann mag auch hier der Bezug einfach die Befriedigung des die Wertung äußernden Individuums sein, das es zufrieden wäre, wenn der Staat i h m weniger freiheitlich und dafür effizienter begegnete. I n einem verfassungsrechtlichen Zusammenhang ist der Bezug ein anderer. Hier können Substituierbarkeit und das Entsprechen von Effizienzverlust und Freiheitszuwachs, von dem oben die Rede war, nur auf Zwecke bezogen werden, zu deren V e r w i r k l i chung die substituierbaren und i n Verlust und Zuwachs einander entsprechenden Verfassungsgüter beitragen. Freiheit der Bürger und Effizienz der Staatsfunktionen sind hoch gegriffene Gegenstände und können auch nur zu hoch anzusetzenden Zwecken als Beitrag und M i t t e l begriffen werden. Eine Indifferenzkurve m i t abnehmender Grenzrate der Substitution über Freiheit und Effizienz könnte etwa folgendes veranschaulichen: I n einem demokratischen Staat sind Freiheit und Effizienz einander zwar nicht vor- oder nachzuordnen. Sie sind aber auch nicht so unabhängig voneinander, daß nicht ein Mehr an Freiheit ein Weniger an Effizienz und umgekehrt ein Mehr an Effizienz ein Weniger an Freiheit aufwiegen könnten. Je weniger Freiheit und je mehr Effizienz verwirklicht sind, desto kritischer w i r d allerdings i m demokratischen Staat der Verlust weiterer Freiheiten u m eines Zuwachses weiterer Effizienz. Wenn bei den Entscheidungsprozessen i m demokratischen Staat der Input nach dem Ausmaß der Partizipation und der Output nach der Häufigkeit von Fehlentscheidungen gemessen werden, und falls sich dabei zeigt, daß Ausmaß an Partizipation und Häufigkeit von Fehlentscheidungen voneinander

6.4 Pareto-Optimalität i m Verfassungsrecht

181

nicht unabhängig sind, dann kann umgekehrt ein Zuwachs an Fehlentscheidungen n u r u m eines stärkeren Zuwachses an Partizipation w i l l e n i n K a u f genommen werden. Dies sind allgemeine Überlegungen, deren Ertrag f ü r das Verfassungsrecht zunächst n u r i n der A b k e h r v o m Konzept einer Wertordnung besteht u n d i n der Hinwendung zu Wertungsproblemen als Folgeproblemen, wie sie sich i n verschiedenen Situationen verschieden stellen. Eine konkretere Parallele, als sie i n diesen allgemeinen Überlegungen der indifferenzialistische Ansatz der Wohlfahrtsökonomik i m Verfassungsrecht findet, hat das K r i t e r i u m der Pareto-Optimalität i m K r i t e r i u m der Verhältnismäßigkeit. Pareto- optimal ist eine Verteilungslage dann, w e n n keiner bessergestellt werden kann, ohne daß ein anderer schlechter gestellt w i r d . E i n E i n g r i f f des Staates i n die Freiheit des Bürgers ist n u r dann verhältnismäßig, w e n n er notwendig ist, den v o m Staat verfolgten Zweck zu erreichen. Ist er nicht notwendig, dann kann die Freiheit des Bürgers unangetastet bleiben, ohne daß darum dem Staat die Verfolgung seines Zwecks versagt werden muß. Der Bürger kann also besser gestellt werden, ohne daß der Staat schlechter gestellt w i r d , die Situation kann i. S des Pareto-Kriteriums noch optimiert werden. Das folgende Diagramm zum Apotheken-Urteil mag dies veranschaulichen. I n i h m ist auf der vertikalen Achse die von unten nach oben zunehmende Freiheit des Apothekenbewerbers eingetragen 4 8 , auf der horizontalen Achse die von links nach rechts zunehmende D r i n g lichkeit der Zwecke, denen Regelungen des Staates i m Apothekenbereich dienen 4 9 . Es wächst also i n der Terminologie der Wohlfahrtsökonomik einmal der Nutzen des Bürgers, andermal der des Staates, u n d das m i t der K u r v e eingeschlossene Feld von Nutzenverteilungen sei als die Menge der Möglichkeiten interpretiert, i m Apothekenbereich das private u n d das öffentliche Interesse nebeneinander zu v e r w i r k lichen. Der P u n k t Ρ steht für die bayerische Regelung, der P u n k t Q für die Regelung der Apothekenzulassung, die das B V e r f G vorgeschlagen hat. A m P u n k t Q ist die V e r w i r k l i c h u n g des öffentlichen Interesses ebenso gewährleistet w i e am P u n k t P, dem privaten Interesse aber mehr Raum der V e r w i r k l i c h u n g gegeben. Der Zweck des Staates, der über Ρ erreicht w i r d , ist ebenso über Q zu erreichen, die Freiheit des Bürgers, i n die bei Ρ intensiv eingegriffen w i r d , ist bei Q weniger intensiv angetastet. 48 bzw. die von unten nach oben über die Stufen der objektiven lassungsbeschränkungen, der subjektiven Zulassungsbeschränkungen und Ausübungsregelungen abnehmende Eingriffsintensität des Gesetzgebers. 49 Die Dringlichkeit wächst von links nach rechts über die Stufen Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte, der wichtigen Gemeinschaftsgüter und überragenden Gemeinschaftsgüter.

Zuder der der

182

6 Problemhorizont der Wohlfahrtsökonomik und Spieltheorie

er ω

Staat Ein Vergleich zwischen öffentlichem und privatem Nutzen, zwischen dem Rang der Freiheit und dem Rang des Gemeinschaftsguts ist für den Schritt von Ρ zu Q nicht Voraussetzung. Wenn i n der Rechtsprechungsdurchsicht immer wieder gefragt wurde, ob die Bewältigung der Probleme eines Falls der Gewichtung und des Vergleichs von Werten und Gütern, von Zwecken des Staates und Freiheiten des Bürgers wirklich bedarf und ob nicht das Notwendigkeitskriterium zur Bewältigung schon ausreicht, dann kann diese Frage jetzt als Frage nach den Stärken und Schwächen des Kriteriums der Pareto-Optimalität verstanden werden. Pareto-Optimalität genügt i m Apotheken-Urteil. Genügt sie aber auch sonst? Die i n der Spieltheorie entwickelten Konzepte einer fairen und gerechten Konfliktlösung kommen ohne den Nutzenvergleich nicht aus und anerkennen die Auswahl nach dem K r i t e r i u m der Pareto-Optimalität nur als den ersten Schritt, auf den noch ein zweiter Schritt, die Auswahl etwa nach dem Nash-Kriterium, zu folgen hat. So liegt es nahe, auch bei den Konfliktlösungen des Verfassungsrechts noch einen zweiten Schritt nach dem ersten Schritt der Notwendigkeitsprüfung zu erwarten. Naheliegend ist auch die Frage, ob die spieltheoretische Vorstellung von Fairneß und Gerechtigkeit als Symmetrie eine Bedeutung für die verfassungsrechtlichen Konflikte und Konfliktlösungen hat. 6.5 Die Vorgegebenheit von Verteilungsalternativen in Wohlfahrtsökonomik und Spieltheorie und die Suche nach Regelungsalternativen im Verfassungsrecht Dies kann nicht ohne eine Zwischenüberlegung beantwortet werden. Die Veranschaulichung des Konflikts zwischen Apothekenbewerber und Staat i m Diagramm läßt bisher nur einige der Fragen erkennen, die i n den Ausführungen von Rechtsprechung und Schrifttum zu Abwägung und Verhältnismäßigkeit auftauchen. Erste Frage ist i n Rechtsprechung und Schrifttum zumeist die Frage der Geeignetheit, und wenn auch

6.5 Ver teilungsalternativen u n d Regelungsalternativen

183

das m i t der Kurve der Pareto-Optimalität eingeschlossene Feld als Feld des möglichen Nebeneinander von öffentlichen und privaten Interessen und eine Regelung am Punkt R

als unverhältnismäßig weil ungeeignet gekennzeichnet werden kann, so ist doch die eigentliche Frage, wie das Möglichkeitsfeld zu gewinnen ist, noch überhaupt nicht beantwortet. Auch die Frage nach Wahrung der Mindestposition w i r d i m Diagramm zwar anschaulich, wenn der schraffierte Teil des Möglichkeitsfelds

als staatlicher Regelung schlechthin entzogen vorgestellt wird, aber wie dieser schraffierte Teil zu gewinnen ist, welche Handlungen und Zustände i h n konstituieren, bleibt noch ganz offen. Oben waren das Feld von Verteilungen der Güter A und Β zwischen I und Κ und das Feld der Teilungen von 100 D M zwischen I i und I2 leicht zu erstellen. Verteilt bzw. geteilt wurden Mengen, die tatsächlich gleichförmig teilbar waren. Die horizontalen und vertikalen Achsen repräsentierten wirkliche Kontinua, während sie i m Diagramm zum Apotheken-Urteil nur undeutliche Vorstellungen von einem kontinuierlichen Zuwachs öffentlichen und privaten Interessiertseins wiedergeben. Bei verfassungsrechtlichen Abwägungsproblemen sind das Möglichkeitsfeld und i n diesem der Punkt der zu bewertenden Regelung nicht vorgegeben, so daß einfach abzulesen wäre, welche Veränderungen möglich und welche Pareto-optimal sind.

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6 Problemhorizont der Wohlfahrtsökonomik u n d Spieltheorie

Vorgegeben ist nur die zu beurteilende Regelung, und diese muß als Punkt i n einem Möglichkeitsfeld erst entwickelt werden. Damit optimiert werden kann, muß gefragt werden, wie i n dem Sachbereich, dem die Regelung zugehört, öffentliche und private Interessen sich nebeneinander verwirklichen lassen. Das Möglichkeitsfeld muß also erst aufgespannt werden, und dies ist eine durch die Denkform der Alternative bestimmte Aufgabe 5 0 . M i t der zu beurteilenden Regelung sind Aussagen des regelnden Gesetzgebers vorgegeben. Vorgegeben ist beim Apotheken-Urteil erstens die Aussage, objektive Zulassungsbeschränkungen seien geeignet, bestimmte der Volksgesundheit drohende Schäden abzuwehren (Geeignetheitsaussage). Vorgegeben ist zweitens die Aussage, objektive Zulassungsbeschränkung sei notwendig, bestimmte der Volksgesundheit drohende Schäden abzuwehren (Notwendigkeitsaussage). Die Geeignetheitsaussage steht unter einer ceteris-paribus-Klausel. Sie hält eine Situation gewissermaßen fest und behauptet, daß ceteris paribus bei Einführung objektiver Zulassungsbeschränkung bestimmte der Volksgesundheit drohende Schäden ausbleiben 51 . Auch die Überprüfung der Geeignetheitsaussage muß die Situation festhalten und kann nur fragen, ob ceteris paribus bei Einführung objektiver Zulassungsbeschränkung die bestimmten der Volksgesundheit drohenden Schäden doch eintreten. W i l l der Gesetzgeber dem Defizit einer Situation durch eine Regelung abhelfen, dann bedeutet die Überprüfung auf Geeignetheit einfach den Vergleich zwischen der Situation vor der Regelung und der Situation nach der Regelung. Ist die Situation danach nicht mehr defizitär, dann hat sich die Geeignetheitsaussage bewährt, ist die Situation auch danach noch defizitär, dann hat die Geeignetheitsaussage versagt. M i t der Bewährung der Geeignetheitsaussage ist erwiesen, daß m i t der Beschränkung des privaten Interesses an Niederlassungsfreiheit die Förderung des öffentlichen Interesses an Volksgesundheit auch wirklich einhergeht. Erwiesen ist die Wirklichkeit eines Nebeneinander von öffentlichem und privatem Interesse. Das Feld anderer Möglichkeiten w i r d erst i n der Überprüfung der Notwendigkeitsaussage aufgespannt, und erst hier kommt die Denkform der Alternative zur Geltung. Denn das Denken i n Alternativen bedeutet ein Fragen danach, was an Stelle dessen, das geschieht, geschehen könnte 5 2 , bedeutet also eine Variabilisierung des Geschehens. Unter einer ceteris50 Die Denkform der A l t e r n a t i v e w u r d e der Rechtswissenschaft von Rödig, Die Denkform der A l t e r n a t i v e i n der Jurisprudenz, erschlossen. 51 E i n Verständnis der Geeignetheitsaussage, wonach Zulassungsbeschränk u n g allein schon zu Volksgesundheit führt, läßt sich i n einer komplexen W e l t nicht vertreten. 52 Rödig, Die Denkform der A l t e r n a t i v e i n der Jurisprudenz, S. 26.

6.5 Ver teilungsalternativen u n d Regelungsalternativen

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variabilibus-Klausel i m Gegensatz zur ceteris-paribus-Klausel der Geeignetheitsaussage steht die Notwendigkeitsaussage. Sie spielt m i t Situationen und behauptet, daß i n den verschiedensten Situationen bestimmte der Volksgesundheit drohende Schäden eintreten, wenn nicht objektive Zulassungsbeschränkung eingeführt wird, daß die verschiedensten Maßnahmen nicht helfen, wenn unter ihnen objektive Zulassungsbeschränkung fehlt. Die Überprüfung der Notwendigkeitsaussage muß daher die Situation variabel setzen. Sie muß andere Möglichkeiten suchen und durchspielen, muß fragen, was wäre, wenn der Gesetzgeber die Situation verändern und andere Maßnahmen wählen würde. Die Widerlegung der Notwendigkeitsaussage des bayerischen Gesetzgebers durch das BVerfG läuft dementsprechend über die Argumentation, daß die bestimmten der Volksgesundheit drohenden Schäden auch ausblieben, wenn es keine objektive Zulassungsbeschränkung gäbe und dafür i m Bereich der Arzneimittelherstellung, des Arzneimittelvertriebs und -Verkaufs neue Berufsausübungsregelungen eingeführt und alte besser kontrolliert würden. I n den Schwierigkeiten, die Sätze der A r t „Wenn X wäre, dann wäre Y " logisch bereiten, sind Probleme wiederzuerkennen, die sich bei der rechtlichen Überprüfung einer Notwendigkeitsaussage auftun. Folgendes sind die logischen Schwierigkeiten 5 3 : Die beiden Sätze „Wenn Bizet und Verdi Landsleute gewesen wären, dann wäre Bizet ein Italiener gewesen" und „Wenn Bizet und Verdi Landsleute gewesen wären, dann wäre Verdi ein Franzose gewesen" können nicht zusammen wahr sein. Aber wie ist auszumachen, daß und warum der eine wahr und der andere falsch ist? M i t dem falschen Antecedens des irrealen Konditionalsatzes ist die Wirklichkeit aus den Fugen geraten. Kann man noch auf Wirklichkeit insistieren, wenn man sich doch darauf eingelassen hat, Irrealität i n die Wirklichkeit einzuführen? Kann man etwa darauf bestehen, daß entweder Bizet ein Italiener oder Verdi ein Franzose, daß aber nicht beide Spanier oder Inder gewesen wären? Was für eine Welt ist es, i n der das falsche Antecedens zutrifft, wie sieht sie aus und was gilt i n ihr? Auch das juristische Denken i n Alternativen spielt m i t Irrealitäten, wenn es fragt, was an Stelle dessen, das geschieht, geschehen könnte. Zwar nur u m wieder etwas hinzuzudenken, denkt es aus der Wirklichkeit etwas hinweg 5 4 . Aber wenn es stimmt, „daß jede Tatsache m i t jeder anderen untrennbar zusammenhängt, und daß man folgerichtig eine Welt schon dadurch zerstört, daß man auch nur die kleinste 53 Vgl. zum folgenden Goodman, The Problem of Counterfactual Conditionals; Quine, Methods of Logic, S. 14 f.; Rescher, Hypothetical Reasoning; Stegmüller, Wissenschaftliche E r k l ä r u n g u n d Begründung, S. 273 ff. 54 Rödig, S. 83.

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6 Problemhorizont der Wohlfahrtsökonomik u n d Spieltheorie

Tatsache aus ihr entfernt" 5 5 , dann ist m i t dem Hinwegdenken erst einmal die Welt zerstört und sind die Fragen offen, welche andere Welt durch das Hinzudenken konstituiert werden soll, wie sie aussehen und was i n ihr gelten soll. Die A n t w o r t auf diese Fragen ist nicht irgendwo versteckt und zu entdecken, sondern durch Entscheidung zu setzen 56 . Es muß entschieden werden, welche der Sätze, die für richtig gehalten werden und die Welt erfassen sollen, aufzugeben sind und welche nicht. Die relevanten für richtig gehaltenen Sätze mögen die folgenden vier sein: Bizet war Franzose; Verdi war Italiener; Landsleute sind Personen von gleicher Nationalität; Italiener und Franzosen haben verschiedene Nationalität. M i t diesem Corpus von vier Sätzen ist die i m Antecedens der irrealen Konditionalsätze ausgedrückte Annahme unvereinbar. Das Corpus zu revidieren, so daß die irreale Annahme m i t i h m vereinbar wird, gibt es verschiedene Möglichkeiten. W i r d der erste Satz verzichtet, dann läßt sich der Satz „Wenn Bizet und Verdi Landsleute gewesen wären, dann wäre Bizet ein Italiener gewesen" halten, w i r d der zweite Satz verzichtet, dann sein Gegenstück. Bei Verzicht auf beide Sätze mag i m Konsequens des irrealen Konditionalsatzes von Bizet und Verdi auch als von Spaniern oder Indern die Rede sein. Die letzten beiden Sätze erscheinen wegen ihrer Analytizität nur schwer verzichtbar. Aber möglich wäre eine Revision des Corpus auch über diesen Verzicht. Man mag davon reden, mit jeder dieser verschiedenen Revisionen werde auch eine andere Welt konstituiert. Dann muß man danach fragen, i n welchen Argumentations- und Diskussionszusammenhängen welche der anderen Welten interessieren und wann welche für richtig gehaltenen Sätze verzichtet, welche irrealen Annahmen eingeführt und welche Tatsachen alternativ gesetzt werden dürfen. Man kann ein auf diese Fragen gefundenes K r i t e r i u m aber auch anders einsetzen und die i h m genügenden Irrealitäten und Alternativen als innerweltliche verstehen 57 . Warum erscheinen analytische Sätze nur schwer verzichtbar und akzidentelle Aussagen leichter preisgebbar als nomologische 58 ? I m Corpus für richtig gehaltener Sätze haben nicht alle 55 Rödig, S. 112. 56 Vgl. Rescher, Hypothetical Reasoning, S. 23 ff.; Stegmüller, Wissenschaftliche E r k l ä r u n g u n d Begründung, S. 320 ff. 57 Vgl. zu A l t e r n a t i v i t ä t als innerweltlicher Kategorie auch Luhmann i n seiner Rezension von Rödigs Die Denkform der Alternative i n der Jurisprudenz. 58 Daß allerdings „auch nomologische irreale Konditionalsätze, bei denen an der Gültigkeit eines Gesetzes festgehalten w i r d , einen etwas ,verrückten 4 Eindruck machen" können, i l l u s t r i e r t Stegmüller, Wissenschaftliche E r k l ä r u n g u n d Begründung, S. 332 durch den Konditionalsatz „ W e n n Julius Cäsar ein Fisch gewesen wäre, hätte er durch K i e m e n geatmet", der dem a k zidentellen irrealen Konditionalsatz „ W e n n Julius Cäsar ein Fisch gewesen

6.5 Ver teilungsalternativen u n d Regelungsalternativen

187

Sätze dasselbe Gewicht, und das Argumentieren mit irrealen Annahmen und Alternativen ist mehr oder weniger verrückt oder vernünftig. I n der Unterscheidung von vernünftigen und unvernünftigen Alternativen läßt sich Alternativität als innerweltliche Kategorie behaupten. I n der rechtlichen Überprüfung einer Notwendigkeitsaussage interessieren nur die Alternativen, die m i t den anerkannten analytischen und nomologischen Aussagen vereinbar sind. Aber auch unter den akzidentellen Aussagen sind die meisten unverzichtbar. Die Sätze „Wenn es i n Bayern nur soundsoviele Apothekenbewerber gäbe, dann wäre objektive Zulassungsbeschränkung müßig" oder „Wenn alle Bürger Bayerns soundsooft zum Arzt gingen, dann würden der Volksgesundheit i n Bayern die bestimmten Schäden nicht drohen" helfen bei der Überprüfung der Notwendigkeitsaussage nicht. Denn der Gesetzgeber muß die Verhältnisse ja so regeln, wie er sie wirklich vorfindet. Interessant sind nur Alternativen, die zum Verhaltens- oder Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers gehören. Und selbst dieser Alternativenraum ist noch zu groß. Das i m Satz „Wenn der Gesetzgeber den Arzneimittelbereich nicht regeln würde, dann würden die Gewinne der Arzneimittelhersteller steigen" angenommene irreale Antecedens gehört zwar zum Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers, ist aber nicht auf den Zweck der Gewährleistung von Volksgesundheit, der Vermeidung bestimmter der Volksgesundheit drohender Schäden bezogen. Diesen Bezug enthält der Satz „Wenn der Gesetzgeber alle Apotheken schließen und die Ausgabe von Arzneimitteln durch die Gesundheitsämter vornehmen lassen würde, dann würden der Volksgesundheit die bestimmten Schäden nicht drohen". Auch er ist jedoch bei der Überprüfung der Notwendigkeitsaussage nur von geringem Interesse, da i n i h m eine intensivere Einschränkung der Freiheit der Apothekenbewerber angenommen wird, als sie die zu beurteilende bayerische Regelung enthält. Nicht, daß alle genannten Alternativen völlig uninteressant wären. Sie gehören, soweit sie i m Verhaltensspielraum des Gesetzgebers liegen, i n den schraffierten Teil des Diagramms

wäre, dann gäbe es Fische, die nicht durch Kiemen atmen" nicht eben viel voraus hat.

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6 Problemhorizont der Wohlfahrtsökonomik u n d Spieltheorie

und sind der Hintergrund für die Überprüfung der Notwendigkeitsaussage, die des näheren m i t dem nichtschraffierten Teil befaßt ist. Nur i n diesem können die Alternativen liegen, die bei Wahrung des gesetzgeberischen Zwecks die Freiheit des Bürgers weniger beeinträchtigen. Dabei muß auch der nichtschraffierte Teil nicht v o l l erhoben werden, er w i r d vielmehr i m Uhrzeigersinn gezielt untersucht, weil es u m Pareto-Optimierung zugunsten des Bürgers geht. Vielleicht allerdings ist der schraffierte Teil leer und enthält keine Alternativen; oder, u m dasselbe anders auszudrücken, vielleicht liegt die Kurve der Pareto-Optimalität weiter innen und die zu überprüfende Regelung schon auf ihr. Daß das erst i n der Überprüfung der Notwendigkeitsaussage auszumachen ist, liegt an der fehlenden Vorgegebenheit des erst zu erstellenden Möglichkeitsfeldes.

6.6 Asymmetrische und symmetrische PARETO-Optimierung im Verfassungsrecht Die Frage nach den Stärken und Schwächen des Kriteriums der Pareto-Optimalität erscheint nach dieser Zwischenüberlegung i n einem etwas anderen Licht als i n der Spieltheorie. Die Struktur des Möglichkeitsfeldes schließt eine Produktbildung und damit die Auswahl aus der Menge Pareto-optimaler Lösungen nach dem Nash-Kriterium aus. Was soll hier auch eine solche Auswahl? Hier liegt nicht unterschiedslos eine Menge Pareto- optimaler Lösungen vor, sondern die Optimierung erfolgt gezielt auf gerade die Pareto-optimale Lösung, die den Staat bei Verfolgung seiner Zwecke nicht schlechter und den Bürger m i t seiner Freiheit besser stellt. Diese asymmetrische Optimierung ist auf die Asymmetrie i m Verhältnis zwischen Staat und Bürger zugeschnitten. Symmetrische Optimierung und überhaupt die Vorstellung von Symmetrie kommt i m Verhältnis zwischen Bürgern zur Geltung. Dabei ist die erste Frage wie schon i n der Spieltheorie die Frage nach der Symmetrie der Konfliktsituation, nach der Waffengleichheit der Konfliktparteien. Die Waffen sind hier auch auf ihre Vereinbarkeit m i t der Rechtsordnung zu untersuchen. Die zweite Frage gilt der symmetrischen Optimierung, das heißt, daß das Verhalten beider Konfliktparteien darauf untersucht wird, ob es sich zugunsten des jeweils anderen Pareto- optimieren läßt. Die Frage führt i n eine Suche nach Alternativen, die i m Verhaltensspielraum der Konfliktparteien liegen und m i t denen diese die Zwecke, i n deren Verfolgung sie i n Konflikt geraten sind, anders verfolgen können. Dabei ist auch bei beiden Konfliktparteien die Vereinbarkeit der verfolgten Zwecke m i t der Rechtsordnung zu untersuchen. M i t der

6.6 Asymmetrische u n d symmetrische

Pareto- Optimierung

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letzten Frage ist zu prüfen, ob bei beiden Konfliktparteien die Mindestposition gewahrt ist. Z u welcher Konfliktlösung führt dieses Programm der Symmetrie? Vor dem Hintergrund der wohlfahrtsökonomischen und spieltheoretischen Diskussion läßt sich folgende Vorstellung einer Konfliktlösung entwickeln: Ist die Konfliktsitutation entweder symmetrisch oder wegen Ungleichheit m i t der Rechtsordnung vereinbarer Waffen zwar asymmetrisch, aber symmetrisch optimiert, und sind die verfolgten Zwecke m i t der Rechtsordnung vereinbar und die Mindestpositionen gewahrt, dann ist jedes Ergebnis, das sich i n diesem symmetrischen oder symmetrisierten Konflikt einspielt, eine Lösung des Konflikts. Was dies verfassungsrechtsdogmatisch bedeutet, sei hier noch nicht erörtert. Methodisch bedeutet das Programm der Symmetrie den Verzicht auf interindividuellen Nutzenvergleich. Auch seine Rechtfertigung kann nicht über interindividuellen Nutzenvergleich laufen und darauf gestützt werden, daß bei gleichem subjektiven Nutzen beide Konfliktparteien gleichviel bekommen. Die Alternativen, die bei Konflikten zwischen Bürgern das Möglichkeitsfeld bilden, sind selten so beschaffen, daß die i m Streit u m die Teilung der 100 D M klare Vorstellung eines Gleichviel bei ihnen Sinn hätte. Die Rechtfertigung kann aber daran appellieren, daß es i n einer Situation, die darum symmetrisch ist, weil die Individuen noch nicht wissen, i n welchen Rollen sie i n Konflikte geraten werden, für die Individuen sinnvoll ist, sich auf das Programm der Symmetrie einzulassen 59 . Was das BVerfG immer als Abwägung bezeichnet, freilich nur selten betreibt, ist das Gewichten und Vergleichen von Freiheiten und Gemeinschaftsgütern. Es sei i h m zunächst i m Diagramm der Platz zugewiesen.

Angenommen, es sei eine durch den Punkt R repräsentierte Regelung zu überprüfen. Zugunsten des Bürgers ist sie nach S zu optimie59

Vgl. zu dieser Vorstellung von Symmetrie Rawls , A Theory of Justice, S. 12 ff.

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6 Problemhorizont der Wohlfahrtsökonomik u n d Spieltheorie

ren. Auch S ist noch nahe der Grenze, die dem Gesetzgeber durch das Gebot der Wahrung der Mindestposition gesetzt ist. Auch S greift noch intensiv i n die Freiheit des Bürgers ein. Da S aber nicht intensiver eingreift, als dies zur Erreichung des gesetzgeberischen Zwecks nötig ist, kann die Regelung bei S nur dadurch zugunsten des Bürgers etwa nach Τ optimiert werden, daß dem Gesetzgeber die Verfolgung seines Zwecks jedenfalls teilweise versagt wird. Die Auswahl zwischen S und Τ kann nicht mehr über das K r i t e r i u m der Pareto-Optimalität gesteuert werden. Hier könnte die Abwägung zwischen Freiheit und Gemeinschaftsgut oder -zweck ihren Platz haben. Daß diese Abwägung nicht Aufgabe des BVerfG, überhaupt nicht Aufgabe eines Gerichts ist, ist eine der Thesen des nächsten A b schnitts. Das K r i t e r i u m der Pareto-Optimalität wurde oben als konservativ gekennzeichnet. Es ist eine Konservativität, die als nicht ideologische sondern funktionale zur Dritten Gewalt paßt. Das Wählen und Gewichten von Zwecken ist dagegen Aufgabe der politischen Instanzen. 6.7 Zusammenfassung I n diesem Abschnitt wurde zunächst eine Grenze gezogen: Die Grenze, bis zu der optimale Lösungen von Verteilungs-, Konflikt- und A b wägungsproblemen ohne soziale Wertordnungen als Agglomerate individueller Wertordnungen und ohne interindividuellen Nutzenvergleich gewonnen werden können. Wo Agglomerierung und interindividuelle Nutzenvergleichung methodisch scheitern, die Klärung dieser Frage war der Ertrag des tour d'horizon wohlfahrtsökonomischer und spieltheoretischer Probleme. Einzuräumen ist zwar, daß soziale Wertordnungen und interindividuelle Nutzenvergleiche für eine Gesellschaft unerläßlich sind. Aber die These ist, daß hier die Aufgaben des politischen Systems und nicht der Gerichte, auch nicht des BVerfG, liegen. Können Inhalte sozialer Wertungen methodisch befriedigend nicht abgeleitet werden, dann ist dies ein Verweis auf Verfahren, wie sie nur das politische System für die Abbildung individueller in soziale Wertungen bereitstellen kann. Wie weit mit dem u m soziale Wertordnungen und interindividuelle Nutzenvergleichungen reduzierten Optimierungsinstrumentarium i m Verfassungsrecht zu kommen ist, war die i n der zweiten Hälfte dieses Abschnitts untersuchte Frage. Die Untersuchung ergab neben allgemeinen Überlegungen zur Abarbeitung von Wertungsproblemen i n Folgendiskussionen und Konfliktanalysen insbesondere die Parallele zwischen den Kriterien der Pareto-Optimalität i n der Wohlfahrtsökonomik und der Notwendigkeit i m Verfassungsrecht. I m Verfassungs-

.

Zusammenfassung

191

recht ergaben sich näher eine asymmetrische Fassung des Kriteriums der Pareto-Optimalität bei Konflikten zwischen Staat und Bürger, eine symmetrische Fassung bei Konflikten zwischen Bürgern.

7 M e t h o d e der A b w ä g u n g als D o g m a t i k der G r u n d r e c h t e 7.0 Vorbemerkung Was zur Rechtsprechung des BVerfG, zum rechtswissenschaftlichen Schrifttum und vor dem wohlfahrtsökonomischen und spieltheoretischen Problemhorizont wenig systematisch K r i t i k oder Zustimmung war, das w i r d hier i n eine Systematik gebracht. Bei der Durchsicht der Rechtsprechung des BVerfG gewann ein Abwägungsmodell Gestalt, das i n der Auseinandersetzung m i t den Abwägungskonzepten und Positionen der Abwägungskritik i m rechtswissenschaftlichen Schrifttum seine Bestätigung fand. Der Uberblick über die Abwägungsprobleme i n Wohlfahrtsökonomik und Spieltheorie hat das Scheitern von A b wägung als einem Vorgang der Gewichtung und des Vergleichs von Werten, Gütern, Rechten und Freiheiten gezeigt und damit das A b wägungsmodell gestützt, das auf die Gewichtung und den Vergleich verzichtet, das Wertungsdiskussionen als Folgendiskussionen, Abwägungsprobleme als Probleme von Zwecken und Mitteln, als Fragen nach Geeignetheit und Notwendigkeit und als Aufgaben der Wahrung einer Mindestposition faßt. Dieses Abwägungsmodell w i r d hier systematisch als Dogmatik der Grundrechte skizziert. 7.1 Dogmatik der Grundrechte als Abwägungsvorbehalte und Argumentationslastregeln Die These ist, daß Grundrechte den Vorbehalt der Abwägung bedeuten. Der Staat darf i n die Freiheit des Bürgers nur dann eingreifen, wenn der Eingriff geeignet und notwendig ist, einen legitimen Zweck zu erreichen, und wenn dabei die Mindestposition des Bürgers gewahrt ist. Wann ist ein vom Staat verfolgter Zweck legitim? Legitim ist jeder vom Staat verfolgte Zweck, der nicht durch das Grundgesetz verboten ist. Illegitime Zwecke würden etwa verfolgt, wenn Bürger wegen ihrer politischen Anschauung bevorzugt, gegen ihr Gewissen zum Kriegsdienst m i t der Waffe gezwungen oder an der Bildung von Vereinigungen zur Wahrung und Förderung von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen gehindert werden sollten. Die i m Grundgesetz insbesondere i m Abschnitt über die Grundrechte enthaltenen Verbote der Verfolgung bestimmter Zwecke sind die erste Funktion der Grundrechte.

7.1 Abwägungsvorbehalte u n d Argumentationslastregeln

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I n i h r sichern die Grundrechte Freiheit, indem sie dem Staat mit den Zwecken Entscheidungs-, Eingriffs- und Dispositionsbereiche versagen. Wann ist ein Eingriff zur Erreichung eines Zwecks geeignet und notwendig? Geeignet ist ein Eingriff dann, wenn er einen Zustand Zi schafft, der m i t einem anderen Zustand Zj, i n dem der Zweck erreicht ist, i n einem Zusammenhang steht, der durch bewährte Hypothesen über die Wirklichkeit vermittelt ist. Es schaffe etwa ein Eingriff i n die Freiheit der Niederlassung als Apotheker einen Zustand Zi, bei dem es Apotheken nur i n bestimmter Zahl gibt. Damit der Eingriff als geeignet zur Erreichung des Zwecks der Volksgesundheit bezeichnet werden kann, muß ein Zustand der erreichten Volksgesundheit Z2 angegeben und muß aufgezeigt werden, daß dann, wenn der Zustand Z i w i r k l i c h ist, auch der Zustand Z2 w i r k l i c h ist. Notwendig ist ein Eingriff nicht erst dann, wenn aufgezeigt werden kann, daß der den Zweck erreichende Zustand Zj nur dann wirklich ist, wenn auch der durch den Eingriff geschaffene Zustand Zi wirklich ist. Dies würde bedeuten, daß der Zweck auf überhaupt keine andere Weise als die des Eingriffs erreichbar sein darf. Verfassungsrechtlich entscheidend ist aber, daß der Zweck nicht auf eine dem Staat mögliche und den Bürger weniger belastende andere Weise erreichbar ist. Notwendig ist also ein Eingriff schon dann, wenn von dem durch den Eingriff geschaffenen Zustand Zi und einem den Zweck erreichenden Zustand Zj gezeigt werden kann, daß sie beide i n einem durch bewährte Hypothesen über die Wirklichkeit vermittelten Zusammenhang stehen, und wenn weiter gezeigt werden kann, daß es keinen Zustand Z[ gibt, der ebenfalls i n solchem Zusammenhang m i t Zj steht, dessen Schaffung dem Staat ebenfalls möglich und der für den Bürger weniger belastend ist. W i r d den Grundrechten das Verbot von Eingriffen abgewonnen, die nicht geeignet oder nicht notwendig zur Erreichung eines legitimen Zwecks sind, dann ist die zweite Funktion der Grundrechte die Sicherung der Freiheit des Bürgers durch Sicherung von Lernbereitschaft des Staates. Denn die Fragen nach Geeignetheit und Notwendigkeit sind Fragen nach der Wirklichkeit, die nur i n Lernbereitschaft beantwortet werden können. Wann ist die Mindestposition des Bürgers gewahrt und wann verletzt? Schon die Fragen nach Geeignetheit und Notwendigkeit sind als Fragen nach der Wirklichkeit für deren verschiedene Bereiche verschieden zu beantworten. Dasselbe gilt für die Frage nach der Mindestposition. Für den Bereich von Eigentum und Vermögen fiel i n der Durchsicht der Rechtsprechung des BVerfG die A n t w o r t so aus, daß Schutz der Mindestposition den Schutz dessen bedeutet, was durch persönliche Arbeit und Leistung erworben ist. Für den Bereich des 13 Schlink

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7 Methode der A b w ä g u n g als Dogmatik der Grundrechte

Berufs zeichnete sich i n der Durchsicht der Rechtsprechung als Sicherung der Mindestposition die Sicherung der persönlichen und w i r t schaftlichen Existenz ab. Für den Bereich der Meinungsäußerung und der Meinungsverbreitung ist bei der Wahrung der Mindestposition an die Wahrung der Möglichkeit der Teilnahme an Prozessen freier Kommunikation zu denken. Eine allgemeinere Antwort auf die Frage nach der Mindestposition läßt sich i n zwei Richtungen versuchen. Die eine zielt auf den Schutz eines auf ein M i n i m u m verkürzten Besitzstandes, die andere auf den Schutz einer Rolle. Einmal also wäre als Mindestposition alles das zu fassen, was einer Person unter Gesichtspunkten wie persönliche Arbeit und Leistung, persönliche und w i r t schaftliche Existenz von ihrem Besitzstand zuzurechnen ist, was der Person gewissermaßen eigen und nicht einfach durch Zufall, Spekulation, Leistungen des Staates oder der Gesellschaft vermittelt ist. Andermal wäre als Mindestposition zu wahren, daß eine Person eine Rolle, i n oder mit der sie lebt, nicht preisgeben, sondern nur umstilisieren und uminterpretieren muß. Bei Eingriffen i n die Grundrechte der Kommunikation, i n deren Bereich es einen persönlichen Besitzstand i n der Regel nicht gibt, liegt der Schutz der Rolle besonders nahe. Aber auch bei Eingriffen i n Grundrechte, die einen persönlichen Besitzstand abzudecken geeignet sind, ist an den Schutz der Rolle zu denken. Denn nicht nur für z. B. die Bürger, die sich zu einer kommunalpolitischen Bürgervereinigung zusammengeschlossen haben, ist der Verweis auf eine Mindestposition vorstellbar, i n der sie zwar nicht mehr auf der Straße demonstrieren und nicht mehr an Ständen agitieren können, i n der sie aber auf eine andere Weise ihre Rollen als kritische und engagierte Gruppe von Bürgern behaupten können, sondern auch für z. B. den Eigentümer, Leiter und Arzt einer K l i n i k kann eine Mindestposition vorgestellt werden, i n der er auf das Eigentum an der K l i n i k zwar verzichten muß, i n der er aber die Rolle des verantwortlichen Leiters und Arztes durchhalten kann. — M i t diesen tentativen Bestimmungen ist die Frage nach der Mindestposition nicht zu beantworten. Sie muß bei verschiedenen Grundrechten verschieden beantwortet werden, und hier können nur Richtungen angegeben werden, i n denen die verschiedenen Antworten zu suchen sind. Nicht, daß diese Suche nicht wichtig wäre. Aber die Frage nach der Mindestposition muß nur selten beantwortet werden. Die Fragen nach der Legitimität des Zwecks und besonders nach der Geeignetheit und Notwendigkeit des Eingriffs filtern die meisten Probleme eines Falles ab, und nur selten blieb bei den Fallentscheidungen des BVerfG ein Problemrest, der über die Vorstellung einer Mindestposition zu bewältigen war. I n der Normallage des Staates sind Eingriffe i n die Mindestposition ohnehin nicht aktuell; nur i n Ausnahmelagen ist der Verhaltensspielraum des Staates so reduziert, daß dieser seine Zwecke

7.1 Abwägungs vorbehalte u n d Argumentationslastregeln

195

nicht mehr anders als durch intensive Eingriffe erreichen kann. Auch als Schutz der Mindestposition sind die Grundrechte von einer besonderen Funktion: Sie sichern Freiheit, indem sie dem Bürger Verhaltensund Entscheidungsbereiche vorbehalten, i n die der Staat nicht eingreifen und i n denen der Bürger seine Identität wahren kann.

Die Abwägungsformel, wonach der Staat i n die Freiheit des Bürgers nur dann eingreifen kann, wenn der Eingriff geeignet und notwendig ist, einen legitimen Zweck zu erreichen, und wenn dabei die Mindestposition des Bürgers gewahrt ist, ist kein Obersatz, unter den subsumiert werden könnte. Sie konstituiert ein Modell, das für verschiedene soziale Bereiche erst zu interpretieren ist. I n den Interpretationen des Modells entstehen die Dogmatiken der Einzelgrundrechte, die für die verschiedenen sozialen Bereiche festhalten, welche Zwecke dem Staat versagt sind, m i t welchen Hypothesen die Wirklichkeit zu erfassen und Geeignetheit und Notwendigkeit zu prüfen sind und welche Mindestposition zu wahren ist. Für den Bereich der Kunst gilt eine andere Interpretation als für den des Berufs und für den Bereich der Religion eine andere als für den des Eigentums. I n jedem dieser Bereiche können weitere Bereiche unterschieden werden, etwa i m Bereich der Kunst der Werkbereich und der Wirkbereich 1 und i m Bereich des Berufs die Bereiche abhängiger und selbständiger Arbeit. Das Grundrecht, das vielleicht für einen bestimmten sozialen Bereich dem Staat die Verfolgung bestimmter Zwecke versagt und vielleicht noch Anhalte für die Bestimmung der Mindestposition gibt, ist zunächst nicht mehr als ein Normprogramm. Erst m i t der Interpretation des Abwägungsmodells w i r d dem Normprogramm ein Normbereich zugeordnet und die Grundrechtsnorm anwendbar 2 . Anwendbarkeit bedeutet hier nicht Obersatzeigenschaft, und unter das für einen sozialen Bereich interpretierte Abwägungsmodell w i r d nicht subsumiert. M i t dem Vorbehalt der Abwägung sind Grundrechte Argumentationslastregeln, d. h. Regeln, die eine Argumentation anordnen, von deren Erfolg abhängt, was mit den Grundrechten vereinbar ist. Damit ein Eingriff i n die Freiheit des Bürgers nicht an den Grundrechten scheitert, muß die Argumentation gelingen, daß der Eingriff geeignet u n d notwendig ist, einen legitimen Zweck zu erreichen, und ι Vgl. Müller , Freiheit der K u n s t als Problem der Grundrechtsdogmatik, S. 97 ff. 2 Die Unterscheidung v o n Normprogramm u n d Normbereich ist Müller, N o r m s t r u k t u r u n d N o r m a t i v i t ä t (vgl. insbesondere S. 184 ff. u n d S. 201 ff.) entlehnt. 13·

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7 Methode der A b w ä g u n g als Dogmatik der Grundrechte

daß er dabei die Mindestposition wahrt. Gelingt die Argumentation nicht, dann scheitert der Eingriff an den Grundrechten. Welche Argumente i n die Argumentation eingehen können, bestimmt das A b wägungsmodell m i t seinen für die verschiedenen sozialen Bereiche verschiedenen Interpretationen. Die durch die Argumentationslastregel hergestellte Argumentationssituation vor dem BVerfG w i r d später noch untersucht werden. Zunächst sei die Struktur der Argumentationslastregel näher beleuchtet 3 . Bei einer Hechtsregel, die als Obersatz i n das Subsumtionsmodell eingeht, w i r d die Frage, welche Sachverhalte m i t der Rechtsordnung vereinbar und welche nicht vereinbar sind, über eine Explikation der i n der Rechtsregel vorkommenden Begriffe beantwortet. Die Expli-

kation bestimmt Begriffsumfang oder Begriffsinhalt so, daß von der einen Sachverhalt beschreibenden Aussage gesagt werden kann, ob sie unter die Rechtsregel fällt oder nicht, und legt damit den Gehalt der Rechtsregel fest. Bei einer Rechtsregel, die als Argumentationslastregel die Beantwortung der Frage steuert, ob ein Sachverhalt m i t der Rechtsordnung vereinbar ist oder nicht, kann der Gehalt über eine Explikation der vorkommenden Begriffe nicht bestimmt werden. Nicht, daß sich als Gehalt über eine Begriffsexplikation einfach nichts bestimmen ließe/Was i n A r t . 12 die Begriffe des Berufs, der Berufsw a h l und der Berufsausübung, des Gesetzes und der Regelung durch oder auf Grund eines Gesetzes bedeuten, ist w o h l zu explizieren. Aber damit ist noch nicht viel gewonnen. Denn was Gesetz und was Regelung durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes ist, das läßt die Frage unbeantwortet, wann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden darf. A u f diese Frage muß i n der Bestimmung des Gehalts von A r t . 12 die A n t w o r t gegeben werden. Eine A n t w o r t ist die Anordnung der Prüfung, ob der gesetzliche Eingriff als zur Erreichung eines verfassungslegitimen Zwecks bei Wahrung der Mindestposition geeignet und notwendig nachgewiesen werden kann, die Anordnung also eines Verfahrens, von dessen Ausgang es abhängt, ob ein Sachverhalt m i t der Rechtsordnung ver8 Z u r S t r u k t u r der Argumentationslastregel vgl. Podlech, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit u n d die besonderen Gewaltverhältnisse, S. 35 ff.; Gehalt u n d Funktionen des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, S. 85 ff. Podlech bestimmt den Gehalt von A r t . 4 I u n d v o n A r t . 3 I i. S. v o n Argumentationslastregeln. Z w a r meint er einmal, eine ähnliche S t r u k t u r habe w o h l allein noch A r t . 2 1 (Gehalt u n d Funktionen des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, S. 90). A b e r andermal ordnet er richtig die S t r u k t u r der Argumentationslastregel dem Gebot der Verhältnismäßigkeit zu (Das Grundrecht der Gewissensfreiheit u n d die besonderen Gewaltverhältnisse, S. 157), u n d damit greift die S t r u k t u r auf alle G r u n d rechte jedenfalls dann, w e n n deren Gehaltsbestimmung die Rechtsprechung des B V e r f G nicht vernachlässigt.

7.1 Abwägungsvorbehalte u n d Argumentationslastregeln

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einbar ist oder nicht. Ausgang des Verfahrens sind entweder das Gelingen oder das Nichtgeiingen der den Nachweis versuchenden Argumentation, und von einer Argumentationslastregel ist darum die Rede, w e i l das Nichtgeiingen der Argumentation zu Lasten von jemandem, zu Lasten hier des Staates geht. Gehaltsarmut oder gar Gehaltsleere der Grundrechte sind verschiedentlich dargelegt worden 4 . Richtig sind diese Darlegungen insofern, als der Gehalt der Grundrechte nicht über eine Explikation der i n ihnen vorkommenden Begriffe bestimmt werden kann. Falsch sind sie insofern, als sich den Grundrechten Argumentationsanweisungen entnehmen und als der Gehalt der Grundrechte fassen lassen. Dies kann, wenn korrekt zwischen semantischem und pragmatischem Gehalt unterschieden wird, als der pragmatische Gehalt der Grundrechte bei Fehlen eines semantischen Gehalts bezeichnet werden 5 . Wo semantischer Gehalt fehlt, da kann Gehalt nur pragmatischer sein. Enthält eine Aussage keine Information über die Tatsachen, über die sie zu informieren vorgibt, dann kann an ihr nur interessieren, was ihr die Adressaten der Aussage gleichwohl entnehmen und wie sie reagieren. Enthält eine Regelung keine Informationen darüber, welche Sachverhalte m i t ihr vereinbar und welche nicht vereinbar sind, dann interessiert an ihr, i n welchen Verfahren und Argumentationen die Adressaten der Regelung gleichwohl zu einer Entscheidung über die Vereinbarkeit kommen, methodisch befriedigend kommen können und rechtlich befriedigend kommen sollen. Als rechtlich befriedigend können dabei insbesondere solche Verfahren und Argumentationen gelten, die an anderer Stelle des Grundgesetzes ausdrücklich geregelt sind. Ob gerade die m i t der Abwägungsformel als einer Argumentationslastregel unternommene Bestimmung des pragmatischen Gehalts die richtige ist, muß also weiter untersucht werden. I n diese Untersuchung gehört der Hinweis darauf, daß die untersuchte Grundrechtsrechtsprechung des BVerfG, soweit sie nicht eine Tendenz der Wertemphase und dabei der Unterscheidung von mehr und weniger wertvollem Grundrechtsgebrauch verfolgte, die Grundrechte eben i m Sinn der angeführten Argumentationslastregel verstanden hat. I n diese Untersuchung gehört weiter der Verweis auf das durchgesehene Schrifttum, i n dem sich das Abwägungsgebot ebenfalls als Gebot der Prüfung von Geeignetheit und Notwendigkeit des Eingriffs zur Ver4 Vgl. Topitsch, Die Menschenrechte, S. 3 f.; Podlech, Gehalt u n d F u n k t i o nen des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, S. 83, m i t weiteren Nachweisen. 5 Vgl. zu semantischem u n d pragmatischem Gehalt näher Podlech, Gehalt und Funktionen des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, S. 77 ff.

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7 Methode der A b w ä g u n g als Dogmatik der Grundrechte

folgung eines verfassungslegitimen Zwecks bei Wahrung der Mindestposition bewährte. Danach kann die These gewagt werden, daß die verschiedenen Dogmatiken und Rechtsprechungen zu den verschiedenen Grundrechten, allfälliger Wert- und Naturrechtskonzepte beraubt, i m Rahmen des Abwägungsmodells und der Argumentationslastregel methodisch befriedigend rekonstruierbar sind. Abwägungsmodell und Argumentationslastregel sind nach einem Zweck-Mittel-Schema gebaut, und so gehört auch das hierher, daß die Gesetzesvorbehalte von Grundrechten, die spezifiziert sind, i m Verständnis der Gesetze als M i t t e l über Zwecke spezifiziert sind 6 . Schließlich ist hier allgemein festzustellen, daß, je vielfältiger ein Regelungsbereich und je dürftiger der Regelungsbestand ist, desto stärker als Regelungsfaktoren Bedingungen hinter Zwecken zurücktreten, weswegen Gesetze von i n Zweck-, M i t t e l und Folgediskussionen aufzuarbeitenden Generalklauseln Gebrauch machen 7 . Daß die Abwägungsformel als Argumentationslastregel Teil unseres Verfassungsrechts ist, mag zugestanden und zugleich mag eingewandt werden, beim Abwägen i n Rechtsprechung und Schrifttum gehe es nicht u m die Grundrechte, sondern u m das Rechtsstaatsprinzip, zuweilen auch u m das Sozialstaatsprinzip 8 . Uber diese Prinzipien trete das Abwägungsgebot zu den Grundrechten zwar hinzu, sei aber nicht auf die Grundrechte zurückführbar. Eine solche Gegenüberstellung von Grundrechten und Rechtsstaatprinzip wäre jedoch verfehlt. Sie wäre unhistorisch i n dem doppelten Sinn der Verkennung des geistes- und sozialgeschichtlichen Zusammenhangs von Rechtsstaats- und Grundrechtsentwicklung i n der bürgerlichen Verfassungsbewegung und der Vernachlässigung des speziell dogmatischen Zusammenhangs, den zwischen Rechtsstaatsprinzip und Grundrechten deren einstiges Verständnis nur als des Vorbehalts des Gesetzes gestiftet hat. Dieses Verständnis, das auf die Bindung der Gesetzgebung an die Grundrechte verzichtet, ist m i t dem Grundgesetz, das i n Art. 1 I I I eben diese Bindung statuiert, unvereinbar. Aber als seine Fortsetzung unter den veränderten Bedingungen der Bindung der Gesetzgebung an die Grundrechte kann und w i l l das hier entwickelte Verständnis der Grundrechte als Abwägungsvorbehalte gelten. I n der Staatsrechtslehre zur Weimarer Reichsverfassung wurde das Verständnis der Grundrechte als des β A r t . 5 I I , 6 I I I , 10 I I , 13 I I I , 14 I I I . Vgl. zur Generalklausel Wieacker , Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 476 f. u n d S. 541 f.; Esser, Grundsatz u n d N o r m i n der richterlichen F o r t b i l d u n g des Privatrechts, S. 96 f. u n d S. 150 ff. Die Abarbeitung v o n U n bestimmtheit u n d Offenheit des Rechts durch Zweck- u n d Folgediskussionen ist ein Leitthema auch bei Esser, Vorverständnis u n d Methodenwahl i n der Rechtsfindung. 8 Dieser E i n w a n d könnte sich auf die i n den Anmerkungen 2 u n d 3 der Einleitung angeführten Entscheidungen des B V e r f G stützen. 7

7.2 Differenzierungen der Grundrechtsdogmatik

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Vorbehalts des Gesetzes durch wertemphatische Konzepte überholt, i n der Staatsrechtslehre zum Grundgesetz zunächst durch Naturrechtskonzepte. Unter Verzicht auf beides kann die der Bindung der Gesetzgebung entsprechende Kontrolle nur Kontrolle von Gesetzen als von M i t t e l n sein, Kontrolle an den Zwecken, die durch die Gesetze verwirklicht werden sollen. Dies ist freilich nur eine These, die mehr als plausibel nicht gemacht werden kann. Die Plausibilität sollte die Durchsicht von Rechtsprechung und Schrifttum leisten. Vielleicht kann die These i n der Frage suggestiv gemacht werden, woran denn sonst beim Ausschluß von Wertkonzepten Eingriffe sollen gemessen werden können, wenn nicht an ihrer Geeignetheit und Notwendigkeit zur Erreichung eines verfassungslegitimen Zwecks unter Wahrung der

Mindestposition. 7.2 Differenzierungen der Grundrechtsdogmatik Verschiedene Normbereiche, Zweckverbote und Definitionsverbote bei verschiedenen Grundrechten Ein umfassender grundrechtsdogmatischer Ansatz kann dazu verleiten, die Verschiedenheiten verschiedener Grundrechte zu verkennen®. Auch dem Verständnis der Grundrechte als Abwägungsvorbehalte und Argumentationslastregeln droht diese Gefahr, der zu entgehen bisher wenig unternommen wurde. Bisher war die Einheitlichkeit des vom Verständnis der Grundrechte als Abwägungsvorbehalte und Argumentationslastregeln getragenen Ansatzes das Thema, folgend sollen es die Reichweite und die Differenzierung des Ansatzes sein. Es ist für die Freiheitsrechte konzipiert und reicht zunächst nur so weit, wie die Grundrechte Freiheitsrechte sind 1 0 . Ob und wann die Grundrechte des Grundgesetzes Institutionen garantieren, ob und wann sie Leistungen und Teilhaben verbürgen, sei hier nicht untersucht. Für den Fall, daß sie solche Garantien und Verbürgungen enthalten, erhebt der entwickelte grundrechtsdogmatische Ansatz nicht den Anspruch, Lösungen von Problemen zu ermöglichen. Unter einem Gesichtspunkt ist er allerdings auch für Versuche, Grundrechte als institutionelle Garantien und als Leistungs- und Teilhabeverbürgungen zu verstehen, von Bedeutung. Denn er läßt sich diesem Verständnis dann entgegenhalten, wenn dieses bei zunächst nur als Freiheitsrechten erkennbaren Grundrechten sich damit begründen w i l l , daß anders die Grundrechte des Gehalts entbehrten. » Dieser Gefahr sind Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des A r t . 19 Abs. 2 Grundgesetz, u n d v o r allem von Hippel, Grenzen u n d Wesensgehalt der Grundrechte, erlegen. Bei beiden Autoren ist die Verschiedenheit der v e r schiedenen Grundrechte dogmatisch nicht aufgearbeitet. io Siehe aber unten S. 218 f.

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7 Methode der A b w ä g u n g als Dogmatik der Grundrechte

Der entwickelte Ansatz scheint geeignet, die Tendenz des BVerfG zur Entdifferenzierung der verschiedenen Freiheitsrechte zu legitimieren. Das Abwägungsmodell wurde zwar als für verschiedene Bereiche verschieden zu interpretieren eingeführt. Aber diese Differenzierung stellt auf die Verschiedenheit weniger der Grundrechtsartikel als vielmehr der sozialen Bereiche ab, i n denen verschiedene Hypothesen die verschiedenen Wirklichkeiten verschieden erfassen und i n denen daher die Fragen nach Geeignetheit und Notwendigkeit verschieden beantwortet werden müssen. Entsprechendes gilt für die Frage nach der Mindestposition. Die Unterscheidung sozialer Bereiche schließt die Entdifferenzierung der verschiedenen Freiheitsrechte i n ein allgemeines Freiheitsrecht noch nicht aus. Dies t u t jedoch die Zuordnung sozialer Bereiche zu Grundrechten, die Aufbereitung sozialer Bereiche als Normbereiche. Bei der Einführung des Abwägungsmodells wurde schon angedeutet, wie zuzuordnen und aufzubereiten ist. Manche Grundrechte verbieten dem Staat Zwecke, manche bezeichnen soziale Bereiche und verpflichten dabei den Staat auf die Verfolgung bestimmter Zwecke. Sie steuern damit die Interpretation des Abwägungsmodells und legen fest, daß m i t bestimmten Argumenten der Argumentationslast nicht genügt wird. Kegelungen i m Bereich von Familie und Erziehung, die eine Trennung der Kinder von der Familie vorsehen, können die verschiedensten Zwecke zu erreichen geeignet und notwendig sein. Nach A r t . 6 I I I darf jedoch die Trennung nur dann stattfinden, wenn sie geeignet und notwendig ist, drohende Verwahrlosung der Kinder zu verhindern. M i t anderen Zwecken kann hier also, soll der Argumentationslast genügt werden, nicht argumentiert werden. Daß das an Hochschulabsolventen gerichtete Verbot, länger als ein Jahr am Hochschulort oder i n dessen Nähe wohnen zu bleiben, geeignet und notwendig zur Erreichung einer bundesweit gleichmäßigen Versorgung m i t Ärzten, Lehrern und Juristen ist, mag plausibel dargelegt werden können. Das dabei verwandte Zweckargument, m i t dem für Eingriffe etwa i n den Bereich des Berufs der Argumentationslast durchaus zu genügen wäre, versagt jedoch für Eingriffe i n den durch A r t . 11 geschützten Bereich der geographischen Mobilität. Für diejenige Unterscheidung von zulässigen und unzulässigen Zweckargumenten, die auf den Wert des Rechtsguts abstellt, dessen Schutz oder Förderung bezweckt wird, ist das Abwägungsmodell allerdings nicht sensibel. I n i h m ist die Frage nach der Legitimität des Zwecks Frage eines Entweder/Oder, nicht eines Mehr/Weniger. Ein Zweck ist i n einem bestimmten Normbereich entweder legitim oder er ist es nicht; wie legitim der Zweck und wie wertvoll das bezweckte Rechtsgut ist, diese Fragen haben i m Abwägungsmodell keinen Platz.

7.2 Differenzierungen der Grundrechtsdogmatik

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Die Bestimmung des Begriffs des allgemeinen Gesetzes, die über gerade diese Fragen oft versucht wird, läßt sich i m Abwägungsmodell dennoch vornehmen. Als allgemein ist dabei ein Gesetz zu bezeichnen, für das der Argumentationslast genügt werden kann, ohne daß i n den Zweckargumenten auf Inhalt und Wert von Meinungen abgestellt wird. Was der Zweck ist und das Gesetz soll, muß sich darlegen lassen, ohne daß von Inhalt und Wert von Meinungen die Rede ist. Dieses Verständnis des Begriffs des allgemeinen Gesetzes t r i f f t sich mit dem von Häntzschel, der A r t . 118 W R V das Verbot von Sonderrecht gegen die Meinungsfreiheit entnahm 1 1 . Es erlaubt auch die Lösung des Falls, m i t dem Smend die Tauglichkeit oder gar die alleinige Tauglichkeit seines werthaltigen Abwägungskonzepts belegen wollte 1 2 . Ein Gesetz, das die K r i t i k an der Regierung unter Strafe stellt, ist nicht darum kein allgemeines Gesetz, w e i l die Unkritisiertheit der Regierung kein Gut ist, das vor der freien Meinungsäußerung den Vorzug verdient, sondern darum, w e i l die Unkritisiertheit der Regierung als Zweck nicht argumentiert werden kann, ohne daß auf Inhalt und Wert von Meinungen abgestellt wird. Das hier vertretene Verständnis des Begriffs des allgemeinen Gesetzes kann auch erklären, warum A r t . 5 I I neben den Vorschriften der allgemeinen Gesetze die gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Jugend und das Recht der persönlichen Ehre als Schranken aufführt. Der Zweck von Gesetzen zum Schutz der Jugend und der persönlichen Ehre kann nicht ohne und darf ausnahmsweise mit Aussagen über Inhalt und Wert von Meinungen argumentiert werden. Eine andere Interpretation, als sie das Abwägungsmodell m i t diesem Verständnis des Begriffs des allgemeinen Gesetzes für den Bereich meinungsmäßiger Kommunikation erhält, bekommt es i n der Zuordnung zu A r t . 12. Nicht nur, w e i l Art. 12 einen anderen Bereich betrifft. Sondern auch und gerade deswegen, w e i l bei Art. 12 Argumente, die strukturell den bei A r t . 5 ausgeschlossenen Zweckargumenten entsprechen, zugelassen sind. Wenn Gesetze Berufsbilder prägen, dann läßt sich i h r Zweck nicht ohne Bezug auf Inhalt und Wirkung von Berufen darlegen. Hier, wo kein Vorbehalt allgemeiner Gesetze die Zweckargumente beschränkt, schadet dies nicht. Die Tendenz des BVerfG zur Entdifferenzierung der verschiedenen Freiheitsrechte i n ein allgemeines Freiheitsrecht überrollt auch die ohne Vorbehalt gewährleisteten Grundrechte 13 . Deren Besonderheit 11 Häntzschel Das Grundrecht der freien Meinungsäußerung u n d die Schranken der allgemeinen Gesetze des A r t i k e l s 118 der Reichsverfassung, S. 232 ff.; Das Recht der freien Meinungsäußerung, S. 657 ff. 12 Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, W D t S t R L 4, S. 53 (Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 98).

13 Siehe oben S. 47.

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7 Methode der A b w ä g u n g als Dogmatik der Grundrechte

bedeutet i m Verständnis der Grundrechte als Abwägungsvorbehalte und Argumentationslastregeln, daß der Argumentationslast nicht m i t Zweck-, Geeignetheits- und Notwendigkeitsargumenten genügt werden kann, die auf das abstellen, was m i t der vorbehaltlosen Gewährleistung verbindlichem staatlichen Argumentieren gerade entzogen ist. Dies t r i f f t sich m i t dem Definitionsverbot, das Knies für die Freiheit der Kunst angedeutet und Azzola für die Freiheit der Wissenschaft ausgeführt hat 1 4 . Daß etwas Kunst oder Kitsch, Wissenschaft oder Scharlatanerie sei, kann weder i n die Zweck- noch i n die Geeignetheits- und Notwendigkeitsargumente eingeführt werden. Wo der Staat legitime Zwecke etwa der Gefahrenabwehr verfolgt, da schützt vor den Eingriffen nicht, daß i m Freiheitsbereich Kunst geschaffen, da schadet aber auch nicht, wenn Kitsch produziert wird. Denn was Kunst ist, das ist dem Urteil des Staates entzogen, der sich weder i n Sachen Kunst noch i n Sachen Wissenschaft ein Richteramt anmaßen darf. Nicht, daß die sozialen Bereiche des Kunst- und des Wissenschaftsbetriebs staats- oder rechtsexogen wären. Der Staat darf i n ihnen regeln und eingreifen, leisten und Einrichtungen schaffen. Bei seinen Eingriffen i n Freiheit muß aber der Argumentationslast genügt werden können, ohne daß Kunst und Wissenschaft definiert werden. Eingreifende Gesetze dürfen weder den Zweck verfolgen, bestimmte Kunst- oder Wissenschaftsrichtungen als eigentlich unkünstlerisch oder unwissenschaftlich zurückzudrängen, noch geeignet und notwendig zur Erreichung eines Zwecks nur i m Licht von Hypothesen und Theorien sein, die an einen ganz bestimmten Begriff von eigentlicher Kunst oder Wissenschaft anknüpfen. Das Freiheitsrecht, das zwar für die verschiedenen Normbereiche differenziert werden muß, bei dem aber als einem allgemeinen angesetzt werden kann, entspricht strukturell dem allgemeinen Gleichheitssatz 15 . Beidemal liegt eine umfassende Abwehr- und Ausschlußregel vor, die den Staat i n Argumentations-, i n Begründungs- und Rechtfertigungszwang bringt. Auch das Verhältnis zwischen dem allgemeinen Freiheitsrecht und den ohne Vorbehalt gewährleisteten Grundrechten hat beim Gleichheitssatz i m Verhältnis zwischen dem ersten Absatz und den beiden nächsten Absätzen des A r t . 3 eine strukturelle Entsprechung. A r t . 3 I gebietet Gleichbehandlung, es sei denn, es liege ein zureichender Grund für Ungleichbehandlung vor. A r t . 3 I I und I I I legen fest, welche Unterschiede nie ein zureichender Grund für Ungleichbehandlung sind. Das heißt, daß zwar staatliches Handeln Frauen und Männer ungleich 14 Knies, Kunst, Sp. 1200; Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 217 ff.; Azzola, Die Freiheit der Wissenschaft nach A r t . 5 Abs. 3 S. 1 GG, S. V, 3 ff. is Wie er i n seinem Gehalt v o n Podlech, Gehalt u n d F u n k t i o n e n des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, bestimmt w i r d .

7.3 Argumentation u m Zwecke u n d M i t t e l

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treffen kann, daß aber der Grund für die Ungleichbehandlung nicht der Unterschied zwischen Frauen und Männern sein darf. Daß i n den Genuß der Regelungen des Mutterschutzgesetzes nur Frauen und nie Männer kommen, schadet also nicht, da diese Regelungen argumentiert werden können, ohne daß auf den Geschlechtsunterschied abgestellt wird. Der Geschlechtsunterschied ist weder das entscheidende Unterscheidungsmerkmal — nicht Frauen und Männer werden ungleich behandelt, sondern einerseits werdende und stillende Mütter und andererseits alle anderen Frauen und Männer —, noch ist er der Unterscheidungsgrund — nicht w e i l sie Frauen sind, sondern zur Vermeidung angebbarer Gefahren werden werdende und stillende Mütter bevorzugt —. Entsprechend verhält es sich bei den Definitionsverboten. Daß ein Verbot bestimmter Experimente i n die Freiheit des staatlichen und nichtstaatlichen Wissenschaftsbetriebs eingreift, schadet dann nicht, wenn das Verbot seinen Grund i n der Vermeidung anders nicht abwehrbarer Gefahren hat. Das Verbot scheitert an A r t . 5, wenn es nur m i t der wissenschaftlichen Unwichtigkeit oder m i t der Unwissenschaftlichkeit der Experimente argumentiert werden kann 1 6 . M i t der Tendenz des BVerfG zur Entdifferenzierung der verschiedenen Freiheitsrechte i n ein allgemeines Freiheitsrecht t r i f f t sich der vom Verständnis der Grundrechte als Abwägungsvorbehalte und Argumentationslastregeln getragene Ansatz zwar zunächst, er folgt dieser Tendenz aber nicht verfassungsrechtsdogmatisch. Freiheit muß als allgemeine Abwehr- und Ausschlußregel zwar zunächst begriffen sein, damit Freiheitsbeschränkung als begründungs- und rechtfertigungsbedürftige Ausnahme unter Argumentationslast stehen kann. Aber dieser Ausgangspunkt des Abwägungsmodells und der Argumentationslastregel kann auf die Verschiedenheit verschiedener Grundrechte gleichwohl eingehen und i n eine differenzierte Grundrechtsdogmatik entwickelt werden. 7.3 Argumentation um Zwecke und Mittel Zwecke können auf andere Zwecke als M i t t e l bezogen und M i t t e l können als Zwecke gesetzt werden. Die Unterscheidung von Zwecken und M i t t e l n ist also relativ und offen für Problematisierungen i n Zweck- und i n Mittelrichtung. Wie kann unter dieser Bedingung die Bindung der Gesetzgebung an die Grundrechte i n das nach einem Wenn die Wissenschaftsfreiheit als Verbot der Definition von Wissenschaft verstanden w i r d , dann schließt dies zwar die Festlegung auf einen bestimmten Wissenschaftsbegriff, aber nicht die Orientierung am gegenwärtigen Stand des Wissens aus, ohne den Gefahrenabwehr nicht gesteuert u n d allgemein Geeignetheit u n d Notwendigkeit von Eingriffen nicht ermittelt werden kann.

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7 Methode der A b w ä g u n g als Dogmatik der Grundrechte

Zweck-Mittel-Schema gebaute Abwägungsmodell umgesetzt werden? Welchen Rahmen kann es für eine Diskussion u m Zwecke und M i t t e l und für eine Rechtfertigung von M i t t e l n an Zwecken geben? Die Relativität und Offenheit der Unterscheidung von Zwecken und Mitteln macht es unmöglich, allgemein ein Reich der Zwecke und eines der M i t t e l festzumachen, so daß i m besonderen Fall als Zweck und als M i t t e l nur anzuerkennen ist, was hier oder dort seinen festen Platz hat. Aber das Unmögliche ist auch unnötig. Denn es verhält sich nicht so, daß fragwürdige oder widerlegte Rechtfertigungen i m Zweck-MittelSchema durch das Nachreichen dahinterliegender Zwecke oder durch das Setzen der M i t t e l als Zwecke beliebig gerettet werden können. Dies scheint vielleicht die eine Gefahr, daß ein Eingriff, der für die

Erreichung eines bestimmten Zwecks zwar gedacht, aber nicht geeignet oder nicht notwendig ist, auf einen dahinterliegenden anderen Zweck bezogen wird, auf einen so abstrakten und unbestimmten, daß die Überprüfung seiner Geeignetheit und Notwendigkeit gar nicht mehr richtig stattfinden kann. Ein Eingriff i n die Freiheit der Meinungsäußerung von Offizieren möge den Zweck verfolgen, die Autorität des Vorgesetzten zu sichern, zur Erreichung dieses Zwecks aber als notwendig nicht erwiesen werden können 1 7 . Kann der Eingriff nicht einfach dadurch gerettet werden, daß er auf eher unbestimmte Zwecke wie die Verteidigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, die Wahrung von politischen Grundentscheidungen oder das V e r w i r k lichen streitbarer Demokratie bezogen wird? Eine andere Gefahr scheint es vielleicht zu sein, daß ein Eingriff selbst als Zweck gesetzt wird. I n die Freiheit eines Berufsstandes möge ordnend eingegriffen worden sein, u m die Versorgung der Allgemeinheit mit den Leistungen dieses Berufsstandes zu sichern. K a n n dann, wenn der Eingriff als notwendig zur Erreichung des Versorgungszwecks nicht zu erweisen ist, nicht die Ordnung des Berufsstandes selbst als legitimierender Zweck eingeführt werden? Die erste Gefahr ist bei einer Argumentationssituation, i n der die Argumentationslast geregelt ist, vermieden. Scheitert die Rechtfertigung eines Mittels als geeignet und notwendig zur Erreichung eines bestimmten Zwecks, dann rettet die Einführung eines unbestimmteren Zwecks darum nicht, w e i l m i t der Einführung immer unbestimmterer Zwecke die Argumentation der Geeignetheit und Notwendigkeit immer schwieriger wird. Hypothesen, wie sie für die Geeignetheits- und Notwendigkeitsargumentation gebraucht werden, liegen für die Situation zwischen Vorgesetztem und Untergebenem, i n Truppe und Kaserne eher vor als für die Situation, die den Vorgesetzten und die Gesamtgesellschaft, deren freiheitliche demokratische Ordnung und politische π v g l . BVerfGE 28, 36 u n d dazu oben S. 41 ff.

7.3 Argumentation u m Zwecke u n d M i t t e l

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Grundentscheidungen umfaßt. T r i f f t die Argumentationslast den, der eingreift, dann muß dieser für das Zweck-Mittel-Verhältnis die richtige Reichweite finden, u m der Argumentationlast genügen zu können. Die Volksgesundheit zu fördern, ist vieles geeignet und entsprechend weniges notwendig. Soll sie durch einen bestimmten Eingriff gefördert werden, dann muß sie als abstrakter Begriff fallengelassen und konkretisiert werden, damit m i t Hypothesen und Theorien die Notwendigkeit des bestimmten Eingriffs für einen bestimmten Aspekt der Volksgesundheit erwiesen werden kann. Die andere Gefahr, daß M i t t e l selbst als Zwecke gesetzt und daß dadurch scheiternde Rechtfertigungen gerettet werden, t r i t t da ohnehin nicht auf, wo die Wahl von Zwecken und Zweckargumenten durch ein Grundrecht beschränkt ist. Kann der Argumentationslast bei einem Eingriff i n die Freiheit der Meinungsäußerung nicht genügt werden, dann hilft auch nicht eine Setzung des Eingriffs als Zweck, da unter dem Vorbehalt des allgemeinen Gesetzes i n A r t . 5 I I ein solcher Zweck illegitim ist. Nur da, wo die Wahl von Zwecken und Zweckargumenten freigegeben ist, kann von der Gefahr überhaupt die Rede sein. Aber handelt es sich hier tatsächlich u m eine Gefahr, die unbedingt zu vermeiden ist? Treffender ist von einem Problem die Rede, für dessen Lösung zwei Möglichkeiten durchaus zu diskutieren sind. Das Problem ist, was dann zu geschehen hat, wenn m i t dem vom Gesetzgeber angestrebten und angegebenen Zweck die rechtfertigende Argumentation nicht gelingt, wenn der Eingriff aber mit einem anderen Zweck — ob dies der Eingriff selbst oder ein ganz anderer Zweck ist, ist gleichgültig — gerechtfertigt werden kann. Darf der Gesetzgeber Zwecke i n der Argumentationssituation vor dem BVerfG nachschieben und hat das BVerfG eine Rettung gescheiterter Rechtfertigungen von sich aus zu versuchen? Bei Untersuchung der Rechtsprechung zu A r t . 12 wurde die Tendenz aufgewiesen, i n der das BVerfG auf seine eigenständige, i n der Erhebung von Tatsachen und Bildung von Hypothesen freie Prüfung zunehmend zugunsten einer Orientierung am Gesetzgeber verzichtet 18 . Zunehmend trat die bloße Konsistenzprüfung hervor und führte das BVerfG auch dazu, dem nicht konsistent argumentierenden Gesetzgeber mit eigenen Rechtfertigungen nicht beizuspringen. Dies ist jedoch noch keine Lösung des Problems für den Fall, daß das BVerfG sich zu seiner Aufgabe eigenständiger Prüfung bekennt und i n Erfüllung dieser Aufgabe die Kontrolle des Gesetzgebers an den Grundrechten effektiv macht. Für diesen Fall läßt sich gegen das Nachschieben von Zwecken und gegen die eigene Zwecksuche des BVerfG wohl der Gesichtspunkt des détournement de pouvoir einwenden. I m Verls Siehe oben S. 64 ff.

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7 Methode der Abwägung als Dogmatik der Grundrechte

waltungsrecht ist ein Verwaltungsakt, mit dem eine Verwaltungsbehörde einen rechtswidrigen Zweck oder einen Zweck rechtswidrig verfolgt, selbst dann fehlerhaft, wenn er zur Erreichung eines anderen, rechtmäßigen Zwecks geeignet und notwendig ist 1 9 . Aber der Grund hierfür ist die Zuweisung bestimmter Zwecke zu bestimmten Verwaltungsbehörden. deren Verpflichtung auf die Verfolgung gesetzlich bestimmter Zwecke die Bindung der Verwaltung an das Gesetz bewirkt und erst die Gewaltenteilung i n der Verwaltung ermöglicht. Gesetzgebung ist ungleich freier i n der Wahl der zu verfolgenden Zwecke, so frei, daß gegen ein Nachschieben von Zwecken und gegen eine Zwecksuche durch das BVerfG der Gesichtspunkt des détournement de pouvoir als Einwand nicht sticht. Wenn über bloße Konsistenzprüfung hinausgegangen wird, erscheint die Zulassung des Nachschiebens von Zwecken und der Zwecksuche durch das BVerfG als eine die weitgehende bundesverfassungsgerichtliche Prüfung und Kontrolle balancierende Respektierung der gesetzgeberischen Entscheidung. Bei der Nachprüfung eines Eingriffs kann die Diskussion i n Zweckrichtung zur Suche nicht nur nach anderen rechtfertigenden, sondern auch nach anderen problematisierenden Zwecken führen. Ein Eingriff mag zur Erreichung eines legitimen Zwecks geeignet und notwendig sein, dann jedoch als problematisch erscheinen, wenn er auf einen dahinterliegenden Zweck bezogen wird, für den sich der naheliegende Zweck als M i t t e l darstellt. Eine Pneumoenzephalographie, bei E r m i t t lung einer Bagatellsache zur Wahrheitsfindung ebenso geeignet und notwendig wie bei Ermittlung eines schweren Verbrechens, erweist sich dann als problematisch, wenn bei einer Bagatellsache die Wahrheitsfindung auf den Zweck des Strafverfahrens bezogen wird, der dahingeht, den Täter i n schuldangemessener und den zu verfolgenden Strafzwecken dienlicher Weise zu bestrafen. Das BVerfG hat diese Problematik gesehen und die Anordnung einer Pneumoenzephalographie bei einer Bagatellsache aufgehoben 20 . Es hat die Offenheit von ZweckMittel-Diskussionen i n Zweckrichtung dazu genutzt, den naheliegenden Zweck zu hinterfragen, und damit das genaue Gegenteil von dem verwirklicht, was zunächst die Gefahr der Offenheit des Zweck-MittelSchemas zu sein scheint. Die Offenheit w i r k t sich verfassungsrechtlich nicht als Erleichterung für Rechtfertigung aus, sondern als Vergrößerung von Problematisierungskapazität und Prüfungsintensität. Bei der Zuweisung von Argumentationslast kann allerdings nicht verlangt werden, daß die rechtfertigende Argumentation die Proble19 Jellinek , Verwaltungsrecht, S. 36 ff. ; Forsthoff , Lehrbuch des V e r w a l tungsrechts, S. 86 ff.; Wolff, Verwaltungsrecht I, S. 188 ff. 2« BVerfGE 16, 194; 17, 108. Siehe dazu oben S. 74 ff.

7.4 Argumentation u m Geeignetheit u n d Notwendigkeit

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matisierung i n Zweckrichtung vorwegnimmt und i m Anschluß an den Nachweis eines Eingriffs als geeignet und notwendig zur Erreichung eines legitimen Zwecks die Nachweise führt, daß der Zweck als M i t t e l für einen anderen Zweck zu rechtfertigen ist, dieser wieder als M i t t e l für einen weiteren und so fort. Die Zuweisung von Argumentationslast kann nur i n einer dialogischen Argumentationssituation geschehen, i n der Argumentationsrollen verteilt sind. Zwar muß der Gesetzgeber schließlich der Argumentationslast genügen. Aber die Problematisierung seiner Argumentationsversuche ist vom Argumentationspartner zu übernehmen. 7.4 Argumentation um Geeignetheit und Notwendigkeit Was für die Problematisierung der Zwecke gilt, gilt auch für die Problematisierung der Hypothesen, auf denen die Geeignetheits- und die Notwendigkeitsaussage des Gesetzgebers aufbauen. Auch diese Problematisierung kann nicht vom Gesetzgeber, den die Argumentationslast trifft, vorweggenommen, sondern muß vom Argumentationspartner übernommen werden. Argumentationspartner des Gesetzgebers ist i m Verfahren vor dem BVerfG das BVerfG selbst 21 . Zwar kann das BVerfG problematisierende Argumente von den Verfahrensbeteiligten aufnehmen und diesen abverlangen. Aber es muß entscheiden, ob ein Eingriff unter Wahrung der Mindestposition geeignet und notwendig zur Erreichung eines verfassungslegitimen Zwecks ist, es muß entsprechend Argumentationen versuchen, problematisieren und die Argumentationsversuche des Gesetzgebers überprüfen. Wie die Geeignetheits- und besonders die Notwendigkeitsaussage bzw. die diese Aussagen tragenden Hypothesen überprüft werden können und dürfen, sei sogleich näher beleuchtet. Noch zuvor sei gefragt, was die Uberprüfung durch das BVerfG dann sein kann, wenn Geeignetheit und Notwendigkeit und Bewährung von Hypothesen nicht behauptet werden zu können scheinen, weil der Gesetzgeber zu experimentieren gezwungen ist. Daß die Beschränkung der Geschwindigkeit auf 100 Stundenkilometer geeignet und notwendig sei, die Unfälle auf den Autobahnen signifikant zu vermindern, kann nach den Erfahrungen eines Winters, i n dem Benzinpreiserhöhungen manchem Autofahrer die Benutzung seines Wagens verleideten, nicht auf bewährte Hypothesen gestützt und daher eigentlich nicht behauptet werden. Wäre also die Geschwindigkeitsbeschränkung verfassungswidrig? Die Verneinung dieser Frage könnte an die Rechtsprechung des BVerfG anknüpfen, 21 Vgl. § 26 Bundesverfassungsgerichtsgesetz u n d dazu die Kommentierung von Klein, i n : Maunz, Sigloch, Schmidt - Bleibtreu, Klein, Bundesverfassungsgerichtsgesetz.

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7 Methode der Abwägung als Dogmatik der Grundrechte

dem es i m Befähigungsnachweis-Beschluß ausreichte, daß die Regelung „nicht offensichtlich fehlsam" 2 2 war, und das i m WerkfernverkehrUrteil genügen ließ, daß „der Gesetzgeber selbst es (das von i h m angewandte Mittel) für tauglich angesehen hat" 2 3 . Wenn nur der Gesetzgeber selbst m i t Nachdruck die Geeignetheit seines Eingriffs behauptet und wenn der Eingriff nicht offensichtlich ungeeignet ist, dann ist das BVerfG geneigt, auf eine echte Uberprüfung von Geeignetheit und Notwendigkeit zu verzichten. Es neigt hierzu insbesondere dann, wenn dem Gesetzgeber Schwierigkeiten bei der Beurteilung der Wirklichkeit und bei der Prognose von Entwicklungen tatsächlich zuzugestehen sind 2 4 . Das Problem des experimentierenden Gesetzgebers zu lösen, hat damit das BVerfG jedoch einen schlechten Weg gewählt. Denn indem es nicht mehr auf Geeignetheit, sondern auf das Fehlen offensichtlicher Ungeeignetheit abstellt, gibt es mehr preis als nötig, und indem es auf die nachdrückliche Geeignetheitsbehauptung des Gesetzgebers abstellt, verlangt es mehr, als diesem gerade bei einem Experiment eigentlich möglich ist. Es gibt einen besseren Weg zur Lösung des Problems des experimentierenden Gesetzgebers, der sich i m Rahmen des aufgezeigten Abwägungsmodells hält. Dabei w i r d der Eingriff nicht unmittelbar auf den Zweck bezogen, den zu erreichen das richtige M i t t e l i m Experiment erst gefunden werden soll. Dieser Zweck kann nur der m i t t e l bare Bezug sein, der unmittelbare Bezug muß die Findung des richtigen Mittels sein. Für den Zweck der Findung des richtigen Mittels kann der Eingriff voll auf Geeignetheit und Notwendigkeit überprüft und i n der Uberprüfung bestätigt oder verworfen werden. Die Geschwindigkeitsbeschränkung wäre zu verwerfen, nicht wegen der Unsicherheit, ob sie zur Verminderung der Unfälle geeignet ist, sondern wegen der Sicherheit, daß sie ohne entsprechende begleitende Maßnahmen als Experiment und zur Findung des richtigen Mittels ungeeignet ist. Experimente ohne Versuchsanordnungen und Erfolgskontrollen, Tests ohne Gegentests sind unbrauchbar. Der Gesetzgeber muß seine Experimente entsprechend organisieren. Das Problem des experimentierenden Gesetzgebers ist verfassungsrechtlich das Problem, ob ein Experiment über klare Definitionen des Versuchsziels, des Versuchsverlaufs und der Erfolgskontrolle als geeignet und notwendig zur Findung des richtigen Mittels argumentiert werden kann. Eine diesen Anforderungen genügende Geschwindigkeitsbeschränkung wäre unbedenklich. Zwar sprengt das Problem des experimentierenden Gesetzgebers den Rahmen des Abwägungsmodells nicht. Aber ein ungewöhnliches Abwägungsproblem ist es doch. Denn selten ist die Geeignetheit von 22 BVerfGE 13, 97 (114). Siehe dazu oben S. 65. 23 BVerfGE 16, 147 (181). Siehe dazu oben S. 65/66. 24 Vgl. BVerfGE 25, 1 u n d dazu oben S. 66.

7.4 Argumentation u m Geeignetheit u n d Notwendigkeit

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Eingriffen des Gesetzgebers so fraglich wie bei den Experimenten. Meistens beginnt bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung eines Eingriffs die Schwierigkeit erst mit der Überprüfung der Notwendigkeit. Der Grund hierfür ist leicht zu erkennen: Über die meisten Situationen liegen genug Informationen vor, so daß der Gesetzgeber selbst keine Schwierigkeit hat, ein zur Erreichung seines Zieles geeignetes M i t t e l auszuwählen. Nur wo die Informationen fehlen, wo der Gesetzgeber experimentieren muß, w i r d die Überprüfung der Geeignetheit zum Problem, das auch dann noch schwierig bleibt, wenn richtig auf die Geeignetheit des Eingriffs als eines Experiments abgestellt wird. Denn einen gesellschaftlichen Großversuch zu organisieren ist schwieriger, als bei hinreichenden Informationen einen bestimmten Zweck m i t einem geeigneten M i t t e l zu verfolgen. Ist der Zweck erreicht, der mit dem Eingriff verfolgt wurde, dann ist m i t dieser Feststellung die Überprüfung der Geeignetheit regelmäßig schon beendet, wenn es nicht naheliegt, für die Zweckerreichung eine andere Ursache als die des Eingriffs anzusetzen. Eine fernerliegende Ursache muß dabei nicht erst dann nicht i n die Überprüfung der Geeignetheit einbezogen werden, wenn sie geradezu abwegig ist. Sie zu vernachlässigen ist schon das ein Anlaß, daß die Hypothesen und Theorien, über die zwischen ihr und der Zweckerreichung ein Zusammenhang hergestellt werden kann, ebensowenig bewährt sind wie die, i n deren Licht die Zweckerreichung als Folge des Eingriffs erscheint. Denn wenn ein Eingriff eingesetzt wird, einen Mißstand abzustellen oder sonst einen Zustand herbeizuführen, und wenn m i t dem Eingriff tatsächlich der Mißstand abgestellt oder der Zustand erreicht ist, dann spricht dafür, daß dieser Erfolg nicht andere Ursachen hat, eine starke Vermutung. Die Vermutung mag vielleicht i n subtilen Untersuchungen zerstört werden können. A u f diese sich einzulassen würde aber eine Diskussion prinzipieller Unabgeschlossenheit eröffnen, wie sie nur dem sozialen Bereich Wissenschaft angemessen ist, wo sie ohne Entscheidungszwang fortgesetzt werden kann. Wäre die Notwendigkeit eines Eingriffs nur dann zu bejahen, wenn der Zweck ohne den Eingriff nicht erreicht werden kann, dann wäre die Überprüfung der Notwendigkeit ebenso schnell beendet, wie es regelmäßig die Überprüfung der Geeignetheit ist. Wie die Geeignetheitsprüfung regelmäßig positiv ausfällt, müßte allerding die Notwendigkeitsprüfung negativ ausfallen. Daß der Zweck ohne den Eingriff nicht erreicht werden kann, dies überprüfen heißt, nachdem ja die Erreichung des Zwecks durch den Eingriff die Wirklichkeit ist, die Wirklichkeit variabel setzen, m i t Alternativen spielen und i n irrealen Konditionalsätzen fragen. Die Gefahr der Beliebigkeit einer solchen Argumentation wurde oben schon gezeigt und gezeigt wurde auch, wo die Gren14 S c h l i n k

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7 Methode der Abwägung als Dogmatik der Grundrechte

zen der Beliebigkeit zu ziehen sind. Als Alternative eines Eingriffs und diesen als nicht notwendig erweisend darf i n die Argumentation nur eingeführt werden, was i n den Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers fällt und bei Erreichung des gesetzgeberischen Zwecks die Freiheit des Bürgers weniger beeinträchtigt. Die fehlende Notwendigkeit eines Eingriffs ist noch nicht damit nachgewiesen, daß ein Zustand, sei es selbst ein Zustand der W i r k lichkeit, aufgezeigt wird, i n dem der Zweck ohne den Eingriff erreicht ist. Daß i n anderen europäischen Ländern die Volksgesundheit bei Zulassungsfreiheit der Apothekenbewerber keinen Schaden erleidet, genügte dem BVerfG i m Apotheken-Urteil noch nicht zur Verneinung der Notwendigkeit. Denn wenn die Geeignetheit des Mittels der objektiven Zulassungsbeschränkung für den Zweck der Volksgesundheit akzeptiert ist, dann muß angenommen werden, daß i n den europäischen Ländern in Bayern nicht anzutreffende Bedingungen für die Volksgesundheit realisiert sind, seien es andere tatsächliche oder rechtliche Verhältnisse. N u r wenn diese anderen Bedingungen als i n den Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers fallende und die Freiheit des Bürgers weniger beeinträchtigende Alternativen ausgewiesen sind, scheitert die Notwendigkeitsbehauptung des Gesetzgebers. Die Notwendigkeitsbehauptung ist also nicht einfach i n eine Hypothese zu übersetzen und mit dieser durch den Nachweis einer falsifizierenden Instanz zu erledigen. Z u erledigen ist sie vielmehr nur dadurch, daß eine konkrete, dem Gesetzgeber mögliche und den Bürger schonende Alternative verifiziert wird. Dem Gesetzgeber kann dabei freilich der Nachweis nicht abverlangt werden, daß es eine mögliche und den Bürger schonende Alternative nicht gibt. Das BVerfG kann nur verlangen, daß der Gesetzgeber den von i h m wahrgenommenen Entscheidungsspielraum aufzeigt. Diese Wahrnehmung zu überprüfen, ist ebenso Sache des BVerfG wie die Suche nach einer möglichen und schonenden Alternative.

Wann aber ist eine Alternative schonend? Sicherlich dann, wenn sie die Bürger, denen der Eingriff gilt, weniger und keine anderen Bürger mehr i n ihrer Freiheit beeinträchtigt. Wie aber, wenn sie gegenüber dem Eingriff die einen Bürger weniger und andere mehr beeinträchtigt? Ist in diesem Fall die Alternative dann insgesamt schonend, wenn die Annahme der Beeinträchtigung auf der einen Seite stärker ist als die Zunahme auf der anderen Seite? Dieser A n t w o r t stehen die methodischen Bedenken entgegen, denen interpersoneller Nutzenvergleich unterliegt. Das Verrechnen von Freiheitszunahme gegen Freiheitsab-

7.4 Argumentation u m Geeignetheit u n d Notwendigkeit

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nähme bei verschiedenen Bürgern setzt interpersonellen Nutzenvergleich voraus und ist wie dieser i n methodisch befriedigender, objektiver Weise grundsätzlich nicht möglich. Zwar kann Gesellschaft nicht auf Freiheits- und Nutzenvergleich und nicht darauf verzichten, den Vergleich i n Konfrontation von Argumenten zu begründen. Aber die Begründungen können über das letzte Moment der Dezision, das beim interpersonellen Nutzenvergleich entscheidet, nicht hinwegtäuschen. Die Dezision hat in der Gesellschaft i m politischen System ihren Platz, wo sie als Dezision auftritt, anerkannt und bekämpft wird, legitimiert und revidiert werden kann. Dem interpersonellen Nutzenvergleich ist i m politischen System der Platz zugewiesen, und das heißt nichts anderes, als daß dem Gesetzgeber die Freiheit zur Wahl der zu verfolgenden Zwecke zuerkannt wird. Wo Entscheidungen nicht methodisch und rational begründet und verworfen werden können, wo sie nicht auf ein Erkenntnis-, sondern auf ein Willensproblem antworten, da ist zu ihnen nur der Gesetzgeber legitimiert. Darauf baut das Abwägungsmodell auf und von daher versteht sich die funktionale Konservativität der Dritten Gewalt, von der oben die Rede war 2 5 . Daß damit die Verfassungsrechtsprechung nicht auf ein affirmatives oder quietistisches Verhältnis zum Gesetzgeber festgelegt wird, hat die Rechtsprechungsdurchsicht gezeigt. I n der Durchsicht wohlfahrtsökonomischer und spieltheoretischer Probleme ergab sich, daß die methodische Ablehnung des interpersonellen Nutzenvergleichs Ausnahmen kennt. Diese Ausnahmen sind für die bundesverfassungsgerichtliche Kontrolle des Gesetzgebers jedenfalls dann relevant, wenn sie i m Grundgesetz Aufnahme gefunden haben. Beim interpersonellen Nutzenvergleich als ethischem Prinzip 2 6 ist dies i m Gleichheitssatz geschehen. Interpersoneller Nutzenvergleich als ethisches statt als psychologisches Prinzip bedeutet statt der Frage, ob Individuen dieselben Nutzen aus denselben Alternativen ziehen, die Feststellung, daß Individuen zu behandeln sind, als zögen sie aus denselben Alternativen dieselben Nutzen, solange nicht das Gegenteil plausibel dargetan ist. Eben diese Feststellung t r i f f t der Gleichheitssatz. Dank seiner kann Gleichbehandlung von Individuen nicht einfach mit den methodischen Bedenken des interpersonellen Nutzenvergleichs i n Frage gestellt werden, unter Hinweis auf die Möglichkeit, daß die verschiedenen Individuen aus derselben Behandlung verschiedene Nutzen ziehen, unter Hinweis weiter auf die Unmöglichkeit, die Verschiedenheit des Nutzens objektiv zu messen und zu vergleichen. Soweit daher die Probleme der für die einen Bürger schonenderen, für die anderen belastenderen Alternative als Gleichheitssatzprobleme 25 Siehe oben S. 190. 26 Siehe oben S. 177 f.

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7 Methode der Abwägung als Dogmatik der Grundrechte

faßbar sind, kann die bundesverfassungsgerichtliche Kontrolle trotz der methodischen Probleme des interpersonellen Nutzenvergleichs greifen. Es sei ein Eingriff gegeben, der aus einer Menge von Bürgern die Teilmenge M i i n ihrer Freiheit beeinträchtigt, die Teilmenge M2 jedoch nicht. Es gebe eine Alternative, bei der die Teilmenge M i i n ihrer Freiheit weniger beeinträchtigt ist als beim Eingriff, bei der jedoch die Teilmenge M2 auch und zwar ebenso i n ihrer Freiheit beeinträchtigt w i r d wie die Teilmenge Mi. Diese Alternative gewinnt trotz der methodischen Probleme des interpersonellen Nutzenvergleichs für die Prüfung der Notwendigkeit Bedeutung. Angesichts ihrer hat der Eingriff nur dann Bestand, wenn sich für die Ungleichbehandlung, mit der die Teilmenge Mt beim Eingriff benachteiligt wird, ein legitimierender Grund finden läßt. Diesen bietet nicht etwa schon der Zweck, den der Gesetzgeber m i t seinem Eingriff verfolgt. Denn der Zweck w i r d ja durch die Alternative ebenso wie durch den Eingriff erreicht. Zu suchen ist vielmehr nach einem Grund für speziell die benachteiligende Ungleichbehandlung. Der Gleichheitssatz statuiert nicht nur eine Ausnahme von dem Verdikt über bundesverfassungsgerichtlichen interpersonellen Nutzenvergleich. Dank seiner findet auch ein anderes Problem seine Lösung, das ebenfalls bei der Notwendigkeitsprüfung und bei der Suche nach möglichen und schonenden Alternativen auftaucht. Zu einer Fülle von Eingriffen lassen sich die Freiheit schonendere Alternativen dann finden, wenn bei der Suche nach Alternativen auf deren Kosten keine Rücksicht genommen werden muß. Kann eine teuere Alternative als i n den Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers fallend und als diesem möglich gegen behauptete Notwendigkeit ausgespielt werden? Darf das BVerfG den Gesetzgeber auf finanziell aufwendige Alternativen verweisen? Vom Gleichheitssatz her ergibt sich die folgende Antwort. Dem Gesetzgeber wäre die Freiheit der Zwecksetzung und Zweckverfolgung genommen, wenn er i m Verbrauch der Finanzen festgelegt würde. Für welche Zwecke er welche M i t t e l ausgeben w i l l , das muß i h m m i t der Wahl der Zwecke selbst freistehen. Wo der Gesetzgeber nur knappe M i t t e l bereitstellt, da kann die Kontrolle nur der Verwaltung der Knappheit und der Frage gelten, ob die betroffenen Bürger so von den knappen Mitteln profitieren und so unter der Knappheit leiden, wie dies dem Gleichheitssatz entspricht. Das Problem des numerus clausus hat daher das BVerfG zu Recht als Problem der Verfahren behandelt, mit denen die Knappheit verwaltet und die Freiheit verteilt w i r d 2 7 . Fehlen die dem Gleichheitssatz entsprechenden Verfahren und 27 BVerfGE 33, 303 (337 ff.). Daß das B V e r f G jedoch i n den obiter dicta des numerus-clausus-Urteils hierüber hinausgegangen ist u n d w i e gerade

7.4 Argumentation u m Geeignetheit u n d Notwendigkeit

213

lassen sie sich als schonende Alternativen eines Eingriffs aufzeigen, dann muß auf sie auch dann verwiesen werden dürfen, wenn sie etwas kosten. Denn sonst bestünden die Grundrechte nur nach Maßgabe dessen, was an Verwaltungsverfahren und -einrichtungen gerade vorhanden ist. Eine solche Grundrechtsschranke lehnt das BVerfG zu Recht ab 2 8 . Wenn es jedoch als verfassungsgemäß bestätigt 29 , daß der Paketempfang durch Untersuchungsgefangene grundsätzlich verboten ist und nur aus besonderem Anlaß nach Ermessen ausnahmsweise erlaubt wird, und wenn es dies m i t dem Verwaltungsaufwand begründet, der andernfalls entstünde, dann hält allerdings das BVerfG den von ihm selbst aufgestellten Grundsatz nicht durch. Es äußert Unsicherheit, wo die Grenze des Verwaltungsaufwands zu ziehen ist, der von den Vollzugsanstalten gefordert werden kann und muß, u m eine Beeinträchtigung der Grundrechte der Untersuchungsgefangenen zu vermeiden. Vom Gleichheitssatz her wäre auf diese Frage die A n t w o r t durchaus zu finden gewesen: Die Vollzugsanstalten müssen den Aufwand treiben, der erforderlich ist, u m das Verfahren der Verbotsregel und der i n das Ermessen des Anstaltsleiters gestellten Erlaubnisausnahme durch ein anderes Verfahren zu ersetzen, bei dem jeder Untersuchungsgefangene den gleichen Anspruch auf immerhin gelegentlichen Paketempfang hat. I n der Rechtsprechungsdurchsicht spielte der Gesichtspunkt des Verfahrens noch eine andere Rolle. I n der Rechtsprechung zu A r t . 12 und zu A r t . 2 ließ sich die Tendenz des BVerfG aufzeigen, bei größerer Eingriffsintensität statt des höheren Gemeinschaftsguts oder -werts die stärkere Abwägungssorgfalt und i n diesem Sinn statt mehr Substanz mehr Verfahren zu fordern 3 0 . Die Stationen der Abwägung, an denen die Uberprüfung die eine oder andere Richtung nehmen, sorgfältiger oder oberflächlicher fortsetzen kann, lassen sich bezeichnen. Bei der Nachprüfung eines Eingriffs kann bei einem legitimen Zweck, zu dessen Erreichung der Eingriff geeignet und notwendig ist, eine Problematisierung versucht, der Versuch aber auch unterlassen werden. Dem experimentierenden Gesetzgeber kann das Fehlen offensichtlicher U n geeignetheit zugutegehalten, es kann aber auch die Geeignetheit des Eingriffs als eines Experiments untersucht werden. I n der Notwendigkeitsprüfung kann ein Zustand der Wirklichkeit, i n dem der Zweck ohne den Eingriff erreicht ist, wenn auch nicht als falsifizierende Instanz diese obiter dicta i m U r t e i l zur Wissenschaftsfreiheit ausgebaut worden sind, dazu vgl. Häberle, Das Bundesverfassungsgericht i m Leistungsstaat; Schlink, Die Wissenschaftsfreiheit des Bundesverfassungsgerichts. 28 BVerfGE 15, 288 (296); 34, 369 (381). 29 BVerfGE 34, 369. 30 Siehe oben S. 72.

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7 Methode der Abwägung als Dogmatik der Grundrechte

so doch als Anlaß zur Skepsis ernstgenommen, er kann aber auch beiseitegeschoben werden. Die Suche nach möglichen und schonenden Alternativen kann weit ausgreifen oder sich auf das beschränken, was nahe liegt. I n dieser Weise lassen sich bei jedem der erörterten Abwägungsprobleme die Weichen der Überprüfung i n Richtung größerer oder geringerer Abwägungssorgfalt stellen. Eine sehr präzise A n t w o r t auf die i n der Rechtsprechungsdurchsicht gestellte Frage danach, was stärkere und schwächere Abwägungssorgfalt ist 3 1 , w i r d damit nicht gegeben. Mehr an Präzision ist hier aber auch nicht zu erreichen. Ob die Nachprüfung einer soziologischen Theorie, einer historischen Darstellung oder einer moralischen Argumentation sorgfältig oder ob sie oberflächlich ist, das läßt sich i m einzelnen Fall zwar untersuchen und aufweisen, dafür lassen sich jedoch allgemein mehr als heuristische Faustformeln nicht angeben. I n der Rechtsprechungsdurchsicht wurde die Frage nach der A b wägungssorgfalt i n der Frage fortgesetzt, wann Abwägungssorgfalt zugunsten und wann sie zu Lasten des Gesetzgebers und des Bürgers gehen dürfe und gehen müsse. I n dem Abwägungsmodell der Grundrechte ist für diese Unterscheidung jedoch kein Platz. Grundrechtsdogmatisch kann mangelnde Abwägungssorgfalt i n keinem Fall gerechtfertigt werden. Daß sie gleichwohl vom Bürger einmal mehr und einmal weniger ärgerlich, vom Gesetzgeber als hier starker, dort schwacher Ubergriff der Dritten Gewalt eingeschätzt werden mag, ist eine andere Sache. 7.5 Bedeutung des Abwägungsmodells für Konflikte zwischen Bürgern, für das besondere Gewaltverhältnis und für die Probleme des Sozialstaats Die Grundrechtsdogmatik der Abwägungsvorbehalte und Argumentationsregeln wurde als Dogmatik der Freiheitsrechte eingeführt. Eine solche Dogmatik hat i n der Beantwortung der Frage, wann der Staat i n die Freiheit des Bürgers eingreifen darf, zwar ihre erste, aber nicht ihre einzige Aufgabe. Sie muß auch darauf antworten, ob und wann ein Bürger wegen seiner grundrechtlichen Freiheit von einem anderen Bürger das Unterlassen oder das Hinnehmen von Handlungen verlangen bzw. ob und wann er dieses Verlangen vor Gericht durchsetzen kann. Die Rechtsprechung des BVerfG zur Bedeutung der Grundrechte i m Verhältnis der Bürger zueinander ist seit dem L ü t h - U r t e i l A b wägungsrechtsprechung. I m folgenden sollen die Aussagen, die von Siehe oben S. 79.

7.5 Weitere Bedeutungen des Abwägungsmodells

215

der Grundrechtsdogmatik der Abwägungsvorbehalte und Argumentationsregeln her zu dieser Bedeutung der Grundrechte zu machen sind, dargestellt werden. Das Instrumentarium, mit dem i m Abwägungsmodell für die Konflikte zwischen Staat und Bürger die Lösung gesucht wird, taugt auch für Konflikte zwischen Bürgern. Auch hier läßt sich abwägend nach dem Zweck fragen, über dessen Verfolgung ein Bürger mit einem anderen i n Konflikt geraten ist, nach Geeignetheit und Notwendigkeit der zur Verfolgung des Zwecks eingesetzten M i t t e l und danach, ob i n der Austragung des Konflikts die Mindestposition des anderen gewahrt worden ist. Warum jedoch danach gefragt und zu wessen Gunsten oder Lasten die Frage gestellt werden soll, das ist das eigentliche Problem. Z u wessen Gunsten oder Lasten soll die Abwägung gehen? Die A n t wort auf diese Frage ist unter den Stichworten der Symmetrie und der symmetrischen Optimierung oben schon vorbereitet worden 3 2 . Symmetrie bedeutete, daß zwischen den Konfliktparteien Waffengleichheit als eine Gleichheit mit der Hechtsordnung vereinbarer Waffen besteht. Symmetrische Optimierung hieß, daß beide Konfliktparteien auf eine Verfolgung ihrer mit der Rechtsordnung vereinbaren Zwecke zu verweisen sind, bei der die jeweils andere Konfliktpartei nicht mehr als notwendig beeinträchtigt wird, bedeutete also eine Abwägung zugunsten und zu Lasten beider Konfliktparteien. Aus der Spieltheorie ließ sich ein Muster der Konfliktlösung entwickeln: Ist die Konfliktsituation wegen Waffengleichheit symmetrisch oder bei Waffenungleichheit zwar asymmetrisch, aber symmetrisch optimiert, dann ist jedes Ergebnis, das sich i n diesem symmetrischen oder symmetrisierten Konflikt einspielt, eine Lösung des Konflikts. W i r d dieses Muster der Konfliktlösung i n eine Devise für das Eingreifen von Gerichten i n Konflikte zwischen Bürgern umgesetzt, dann lautet diese Devise: Bei symmetrischen Konflikten haben zwar die Gerichte den Gebrauch m i t der Rechtsordnung unvereinbarer Waffen zu verbieten, i m übrigen aber sind von den Gerichten symmetrische Konflikte zu niemandes Gunsten oder Lasten zu entscheiden; i n asymmetrischen Konflikten ist Aufgabe der Gerichte nur die symmetrische Optimierung, d. h. die Gerichte haben die Verfolgung mit der Rechtsordnung unvereinbarer und die mehr als notwendig beeinträchtigende Verfolgung mit der Rechtsordnung vereinbarer Zwecke zu untersagen. I n Orientierung an dieser Devise könnte entschieden werden, wann ein Bürger sein gegen einen anderen Bürger gerichtetes Verlangen nach einem Unterlassen oder einem Hinnehmen von Handlungen gerichtlich durchsetzen kann. 32 Siehe oben S. 188 ff.

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7 Methode der A b w ä g u n g als Dogmatik der Grundrechte

Ebenso wie die Abwägung i m Verhältnis zwischen Bürger und Staat hätte auch die Abwägung zwischen Bürgern durch die Untersuchung der verschiedenen sozialen Bereiche, i n denen Symmetrie und Symmetrisierung von Konflikten verschiedenes bedeuten, vorbereitet zu werden. Ob ein M i t t e l der Konfliktaustragung m i t der Rechtsordnung unvereinbar ist, das wäre danach zu beurteilen, ob die Rechtsordnung das M i t t e l ausdrücklich untersagt. Wo sie für die Beurteilung des Mittels auf die guten Sitten oder ähnliches verweist, da wäre das M i t t e l als mit der Rechtsprechung vereinbar anzusetzen und erst aus dem Gesamt der Abwägung, aus der Symmetrie oder Asymmetrie und Symmetrisierung des Konflikts zu entscheiden, ob m i t i h m der Konflikt ausgetragen werden darf oder durfte. Ob schließlich ein Zweck m i t der

Rechtsordnung vereinbar ist, das hätte sich wie im Verhältnis zwischen Bürger und Staat danach zu bestimmen, ob für den sozialen Bereich, i n dem der Konflikt spielt, die Grundrechte die Verfolgung des Zwecks verbieten oder freistellen. Es sei betont, daß die Frage nach dem Zweck nur bei asymmetrischen Konflikten überhaupt zu stellen wäre, nur da also, wo die Bürger ihre Konflikte nicht i n Waffengleichheit untereinander austragen können. Es sei als auf ein Beispiel auf den Blinkfüer-Beschluß hingewiesen, dessen Pointe darin gesehen werden kann, daß die Unterdrückung einer anderen Meinung i n einer asymmetrischen Konfliktsituation vom wirtschaftlich Stärkeren als Zweck nicht verfolgt werden darf 3 3 . Warum soll diese Abwägung betrieben und warum insbesondere soll sie vom BVerfG betrieben werden? Was hat sie, was hat der sie leitende Gesichtspunkt der Symmetrie m i t den Grundrechten zu tun? Wenn die Abwägung für den Fall, daß Gerichte i n symmetrische Konflikte eingreifen oder bei asymmetrischen Konflikten die Symmetrisierung verweigern, zur Sache des BVerfG und seiner Grundrechtsrechtsprechung erklärt wird, dann läßt sich für diese Verpflichtung des BVerfG auf Symmetrie folgendes geltend machen. Vielleicht kann und sicher muß keine Rechtsordnung auf asymmetrische Regelung von Konflikten zwischen Bürgern verzichten. Der Staat, der Zwecke verfolgt, an denen verschiedene Bürger verschieden interessiert sind, fördert die Interessen aller Bürger nicht gleich und duldet nicht nur, sondern schafft auch asymmetrische Situationen. Die verschiedenen Regelungen, die i n diesem Jahrhundert das Rechtsverhältnis zwischen Vermieter und Mieter von Wohnraum bald mehr an den Interessen des Mieters, bald mehr an denen des Vermieters orientiert gestalteten, haben auch die Konflikt- und Prozeßsituation bald 33 BVerfGE 25, 256. Siehe dazu oben S. 27 ff. Das L ü t h - U r t e i l (BVerfGE 7, 198) ist demgegenüber Beispiel für die Symmetrie der Konfliktsituation, i n die das BVerfG den Eingriff der Gerichte zu Recht abgewehrt hat.

7.5 Weitere Bedeutungen des Abwägungsmodells

217

mehr zugunsten und bald mehr zu Lasten des Mieters und des Vermieters asymmetrisch gebaut. Eine solche Abfolge verschiedener Regelungen reagiert nicht einfach auf die Veränderung sozialer und w i r t schaftlicher Faktoren, sondern ist Ausdruck dessen, daß der Gesetzgeber die Interessen der Mieter und Vermieter immer wieder neu und anders gewichtet hat. Dies darf der Gesetzgeber, der i m Rahmen des Abwägungsmodells und des Gleichheitssatzes mit der Freiheit zur Zwecksetzung auch die zum Gewichten und Vergleichen von Interessen und Nutzen hat. Dies darf, so wurde oben argumentiert 3 4 , aber auch nur der Gesetzgeber. Die Gerichte haben zum Setzen von Zwecken und zum interpersonellen Interessen- und Nutzenvergleich keine Befugnisse. Sie dürfen daher dann, wenn die Situation vom Gesetzgeber nicht asymmetrisch gestaltet ist, nicht von sich aus eine Asymmetrie i n die Situation hineintragen. Wo die Rechtsordnung schweigt und wo sie auf die guten Sitten oder ähnliches verweisend sich nur unbestimmt äußert, da liegt eine asymmetrische Gestaltung der Situation durch den Gesetzgeber nicht vor. Die Rechtsprechung ist hier auf den Gesichtspunkt der Symmetrie verpflichtet und hat i n symmetrische Konflikte nicht einzugreifen, asymmetrische Konflikte symmetrisch zu optimieren. Eine bundesverfassungsgerichtliche Kontrolle der Rechtsprechung, die hierüber wacht, hat scheinbar weniger mit Freiheit und Grundrechten als mit Ubergriffen aus dem Bereich der Rechtsprechung i n den der Gesetzgebung zu tun. Aber wenn sich die Rechtsprechung etwas anmaßt, was allein Sache der Gesetzgebung ist, dann ist das durchaus ein Eingriff i n die Freiheit der Grundrechte. Denn diese Freiheit lebt i m Verhältnis zur Rechtsprechung ebenso wie zur Verwaltung vom Vorbehalt des Gesetzes, dessen Fortsetzung unter der Bedingung der Bindung der Gesetzgebung an die Grundrechte das Abwägungsmodell ist 3 5 . Darüber hinaus hat der Gesichtspunkt der Symmetrie unmittelbar m i t Freiheit zu tun. Der Zustand der Freiheit i n der bürgerlichen Gesellschaft ist nach klassischem Verständnis ein Zustand faktischer Symmetrie, i n dem jeder Bürger die gleiche Chance der Verfolgung seiner Zwecke und der Durchsetzung seiner Interessen i m Konflikt hat. Der Zustand der Freiheit ist als Zustand der Symmetrie nicht etwa unerwünscht geworden. Gezeigt hat sich, daß er unwirklich ist und auch nicht w i r k l i c h wird, wenn nicht der Staat durch Eingriff und Leistung absichert und ausgleicht. Solange aber der Gesetzgeber für den Bereich der Freiheit i n der bürgerlichen Gesellschaft keine anderen 34 Siehe oben S. 211. 35 Siehe oben S. 198 f.

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7 Methode der Abwägung als Dogmatik der Grundrechte

Normativkonzepte entwickelt hat, muß die Rechtsprechung, da sie eigene Konzepte nicht zu entwickeln hat, wo sie Symmetrie vorfindet, die Konflikte i n Symmetrie austragen lassen und sonst Symmetrie normativ nehmen. I n beiden respektiert sie Freiheit, und so hat bundesverfassungsgerichtliche Kontrolle hier ihren Sinn. Bedenklich erscheint vielleicht, daß die symmetrische Optimierung von Konflikten den Konfliktbeteiligten die Angabe der verfolgten Zwecke abverlangt. Bedeutet nicht die Freiheit des Bürgers, daß der Bürger über seine Zwecke nicht Auskunft geben und erst recht nicht Rechenschaft ablegen muß, daß er beliebige Zwecke verfolgen kann? Dies ist richtig, richtig ist aber auch, daß die Freiheit eines Bürgers da Grenzen finden muß, wo sie mit der Freiheit eines anderen Bürgers i n Konflikt gerät. Für den Konflikt kann eine Rechtsordnung dadurch Vorsorge treffen, daß sie den Bereich der M i t t e l normiert, die für die Austragung des Konflikts i n Frage kommen. Verweist die Rechtsordnung nur auf die guten Sitten oder ähnliches, dann ist damit noch keine Normierung i m Bereich der M i t t e l vorgegeben. Hier auf die Zwecke und das Verhältnis der Geeignetheit und Notwendigkeit zwischen Zwecken und M i t t e l n abzustellen, ist um so unproblematischer, als es auch hier nicht u m mehr oder weniger wertvolle, sondern u m erlaubte und unerlaubte Zwecke geht, auch hier also nicht u m ein Mehr/Weniger, sondern u m ein Entweder/Oder. Noch i n einem anderen Zusammenhang verlangt das BVerfG vom Bürger die Angabe seiner Zwecke und über die zur Verfolgung der Zwecke gewählten M i t t e l m i t den Kriterien der Geeignetheit und Notwendigkeit Rechenschaft. I m besonderen Gewaltverhältnis muß der Bürger seine Zwecke aufzeigen und sich auf die M i t t e l verweisen lassen, die das Interesse des Staates nicht mehr als notwendig beeinträchtigen 36 . Auch hier leuchtet die den Bürger treffende Pflicht zur Rechenschaft über Zwecke und M i t t e l ein. Sie folgt aus der i m besonderen Gewaltverhältnis stattfindenden Inpflichtnahme des Bürgers, der jedenfalls dann, wenn er das besondere Gewaltverhältnis freiwillig mitbegründet hat, i n ein als symmetrisch zu erfassendes Verhältnis gegenseitigen Gebens und Nehmens und damit auch Rücksichtnehmens eingetreten ist. Damit bleibt das Abwägungsmodell noch i m Bereich der Freiheitsrechte. Diesen Bereich verlassend konnte i m Abwägungsmodell aber auch die Rechtsprechung des BVerfG zu Rückwirkung und Vertrauensschutz rekonstruiert werden. Dabei erschien das Sozialstaatsprinzip geeigneter zur verfassungsrechtlichen Fundierung der Abwägung als das vom BVerfG herangezogene Rechtsstaatsprinzip. Die durch das eine 36 Vgl. BVerfGE 28, 191 u n d dazu oben S. 41.

7.5 Weitere Bedeutungen des Abwägungsmodells

219

Abwägungsmodell gestiftete Verwandtschaft zwischen Grundrechtsrechtsprechung und Sozialstaatsrechtsprechung ist geeignet, das gelegentlich behauptete Spannungsverhältnis zwischen rechtsstaatlicher Grundrechtsfreiheit und Sozialstaat zu problematisieren. Darüber hinaus w i r d entsprechend der aus dem Abwägungsmodell entwickelten Grundrechtsdogmatik und von derselben Konkretheit wie diese eine Dogmatik des Sozialstaats möglich. Deren Ausgangssatz hat entsprechend wie bei den Freiheitsrechten dahin zu gehen, daß der Staat Positionen des Bürgers nur dann verschlechtern darf, wenn dies geeignet und notwendig ist, einen legitimen Zweck zu wahren, und wenn dabei die Mindestposition des Bürgers gewahrt ist. 7.6 Schlußbemerkung Das Abwägungsmodell, das i n der Durchsicht der Rechtsprechung Gestalt gewann und weiter bewährt werden konnte, ist Ausdruck eines Eingriffs- und Schrankendenkens. Dieses ist diskreditiert genug, um einige Hinweise zu rechtfertigen. Erstens: Als Modell einer Argumentation, nicht einer Verdinglichung und Trennung von Staat und Gesellschaft ist das Abwägungsmodell offen für die verschiedensten Gestaltungen des Verhältnisses zwischen Staat und Gesellschaft. Zweitens: Die Freiheit zur Zwecksetzung und -Verfolgung dem Gesetzgeber zuerkennend leugnet das Abwägungsmodell nicht die Möglichkeit einer Versöhnung von Individuum und Gemeinschaft, von Bürger und Staat 37 , beläßt diese Versöhnung aber als Recht und Aufgabe des politischen Systems. Drittens: I m Abwägungsmodell sperrt sich das Eingriffs- und Schrankendenken nicht gegen die Wirklichkeit von Gesellschaft und Verfassung, die Wirklichkeit findet vielmehr über die Fragen der Geeignetheit und Notwendigkeit weiten Eingang. Das Eingriffs- und Schrankendenken ist liberales Verfassungsdenken, und dies w i l l auch das Abwägungsmodell konsequent sein. Das Abwägungsmodell garantiert keine Herrschaftspositionen als Institutionen und sichert keine Interessen als Werte. Es sieht Staat und Gesellschaft frei auch zu einschneidenden Reformen und Veränderungen. Indem es zu einer Verteilung von Argumentationslast führt, kommt es als offenes Verfahren zur Anwendung, als Verfahren rationaler verfassungsrechtlicher Argumentation.

37 U m diese Versöhnung ist es Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des A r t . 19 Abs. 2 Grundgesetz, zu t u n ; siehe oben S. 130.

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Verzeichnis der behandelten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 1,14 1,82 1,97 1,264

23, 102 f. 17 14 94, 107, 114

2,1 2,103 2, 237 2, 266 2, 380

18, 103 17 107 80 97

3, 3, 3, 3,

34 17 58 107 225 24, 99 f. 267 17

4,7 45, 91, 104 4, 219 17, 87, 94 4, 387 17 5, 85

14, 18, 24, 43

6,1 6, 32 6, 55 6, 290

17 18 f., 71, 91, 104 43 f. 17, 90

7, 89 7,129 7,194 7,198 7, 230 7, 377

107, 116 107 106 13 f., 17 ff., 22, 216 13, 20 f., 44 49 ff., 80

84 8,71 8, 210 44 8, 274 45, 114 10, 89 90 f. 10, 354 104 11,30 11,64 11,139 11,168

57, 61, 70 107, 115, 124 108 60

44 f. 12, 1 12,113 24 ff. 12, 205 35

13, 97 13,181 13, 206 13, 215 13, 230 13, 261 13, 274 13, 290

13, 56, 58 f., 64 f., 67, 70, 208 78 107, 113 f., 116, 124 123 71 107, 110, 112, 114, 124 109 44

14,19 61 14, 263 44, 84 14, 288 94, 108 f., 111, 114, 120 15,226 15,288 15,313

62 213 14, 101, 112

16,147 16, 194 16, 214 16, 268

57, 65 f., 208 74 f., 206 63 14

17,109 74, 206 17, 232 67 17,306 72 f. 18,135 18, 429

108 f., 123 108, 112, 115 f.

19,119 19, 135 19,189 19, 330 19, 342

109, 123 43 108, 115, 123 63, 68, 70, 73 13, 75

20, 45 75 20, 56 29 20, 144 75 20,150 73 20,162 36 ff. 20, 336 100 20,351 44, 84 21,73 21,92 21, 150 21, 173 21, 239

84 80 83 76 40

Entscheidungsverzeichnis

228 21, 245

13, 67

22, 180 80 22,241 94, 108 f., 120 22, 330 108, 115, 123 23,12 23, 50

114 70

24, 75 24,119 24, 220 24, 278 24, 300 24, 367

108, 113, 122 14, 44 94, 1081, 121 26 f. 112 81 ff., 86 ff.

25, 1 25,112 25,142 25,167 25, 236 25, 256 25, 269 25, 296

66 f., 70, 208 84, 89 108 f., 121 43 f. 68, 73 27 ff., 216 112 40 f.

26, 206 44 26, 215 83 f. 26, 321 44 27,1 27,71 27, 88 27, 104 27,167

45 39 39 39 114

27, 253 14 27, 297 101 27, 344 45 28, 36 42 f., 45, 204 28,175 39 f. 28,191 41, 218 29,104

44

30,1 30, 52 30,173 30, 250 30, 272 30, 292 30, 336 30, 367 30, 392

45 47 29 ff., 43 109, 124 114, 124 14, 69 f. 40 109 ff., 113 ff., 123 110, 124

31, 94 31,185 31, 222 31, 229

110, 112, 122 110, 121 110 91 ff.

32,1 77 32, 98 45 32, 111 110, 114, 119, 125 33, 303 45, 212 34, 293 63 34, 369 213 35, 202 33 ff., 43, 47

averzeichnis Ableitungsfunktion 160 ff., 164 f. Abwägung abstrakte 18 f., 38 als Aufgabe der Behörde 101 als Aufgabe des Gesetzgebers 14, 36, 48 f., 87, 101, 190, 211, 217 als Aufgabe des Grundrechtsträgers 41, 218

als Aufgabe des Richters 14, 31,

36, 48 f., 190, 211, 217 konkrete 18 f., 37 Methode 13 f f , 127 ff., 130 ff., 141 f , 148 ff., 154 f f , 178 ff. Prüfungsreihenfolge 52 f , 59 f , 68 f f , 78 f , 95, 143 f f , 146 ff. Terminologie 13, 56, 89, 129, 147 f , 156 u n d Verhältnismäßigkeit 15 f , 36 f f , 48 f f , 56, 71, 80, 89, 143 f f , 147 f., 152, 182 als Verteilungsproblem 155 f f , 180 ff. Wurzel 22, 155 i m Zivürecht 22, 129, 148 ff. Abwägungsenthusiasmus 127 f f , 141, 143 f , 152, 157 Abwägungsgebot 13 f , 17 f , 22, 25, 36 f f , 41, 50 f f , 56, 69, 71 f , 101 f , 109, 144, 197 f., 216 f. Abwägungskriterien (obj. sachhaltig/ subj. werthaltig) 29 f f , 47, 141, 144 Abwägungsmodell 15, 79, 95, 97, 122 f f , 125, 152 f., 192, 195, 198, 200 f , 204, 208, 215, 219 Interpretation 195 f , 200 f , 215 f. Abwägungspragmatik 128, 143 f f , 148 f f , 152 Abwägungsskepsis 127, 134 f f , 141, 143, 152 Abwägungssorgfalt 27, 31, 38 f , 72 ff , 79, 83, 213 f. Abwägungsvorbehalt 192, 195 ff., 199, 202, 214

Abwehr- und Ausschlußregel 118 ff., 123 f f , 202 f. Ästhetik 32 allgemeines Freiheitsrecht 51, 200 f. allgemeine Handlungsfreiheit 71 ff. allgemeines Gesetz 18 f , 22 f , 130, 201 Alternative D e n k f o r m 184 ff.

finanziell aufwendige 54, 85 f , 148, 212 f. grundrechtsschonende 54, 85 f , 143, 148, 188, 193, 210 ff. Alternativensuche 54 f , 65 f f , 134, 147, 182 ff., 187 f , 209 ff. Argumentationsfalle 99 f., 102 ff. Argumentationslast 118 f , 196 f , 200 f f , 204 ff. Argumentationslastregel 195 ff , 199 f , 202 f , 214 Argumentationssituation vor dem B V e r f G 205, 207 Arrows Unmöglichkeitssatz 160 f f , 164, 179 Ausweichprinzip 149, 151 Begriffsexplikation 196 f. Begründungslast s. Argumentationslast Berufsfreiheit 50 f f , 86, 194 f , 201, 204 besonderes Gewaltverhältnis 218 Besitzstand 194 Bestandskraft 101 f. Bestimmtheitsgebot 100 Bewertungsoperation bei Gleichrangigkeit der Werte 138 ff. bei kardinaler Wertordnung 131 f f mathematisch 148 ff. bei ordinaler Wertordnung 135 ff. Boykott 18, 27 f. Bundesstaat 54, 103 Bundeswehr 36, 42 f. Definitionsverbot 202 f. Demokratieprinzip 14, 103 détournement de pouvoir 205 f. Dezision 211 D r i t t w i r k u n g 35, 214 ff. Eigentum durch Arbeit u n d Leistung erworben 92 f f , 193 Bestandsgarantie 82 f f , 93 Gebrauch 20 f f , 44 Grenze Eigentumsbindung/Enteignung 86, 89, 93 Institutsgarantie 81 f , 88 öffentliches 81

230

averzeichnis

Sozialbindung 83 ff., 88 f., 93 Wertgarantie 82, 93 Eigentumsfreiheit (Verhältnis zu anderen Grundrechten) 86, 88 f., 92, 96 Eigentumsschutz Funktionsbestimmung 82, 92 f. u n d Gleichheitssatz 94 f. Systematik von A r t . 14 GG 82, 86 bei A r t . 143 W R V 86 f. Eingriffsintensität u n d Gemeinschaftsgüterrang 49 ff., 57 f., 70, 79, 93, 181 u n d Prüfungssorgfalt 71 ff., 79, 213 f. u n d Regelungsbefugnis 49 ff., 57, 71, 79 Eingriffs- u n d Schrankendenken 219 Eingriffszweck s. Zweck Elternrecht 44 Enteignungsentschädigung 81 f., 84 ff., 88 f., 93 ff. Enthymen 141 f. Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers 54, 147, 152, 187 f., 193 f., 210 Erforderlichkeit 36, 39 f., 46 f., 52 f., 58, 60 f., 67, 69, 82 ff., 88 f., 92 f., 105, 117 ff., 124 f., 146, 152, 1811, 184, 193, 209 f. Erforderlichkeitsprüfung 35 ff., 46 f., 53 ff., 59 ff., 63 ff., 68 f., 72 ff., 76 ff., 83, 95, 117 ff., 124, 143 ff., 147, 152, 182, 184 f., 187 f., 204 f., 207ff., 213 f. eigenständig durch das B V e r f G 53 f., 64 f., 83, 205 orientiert am Gesetzgeber 56, 64 ff., 68 ff., 206 Problemrest 76 ff., 80, 194 Verhältnis zur Geeignetheitsprüfung 55, 144, 184 f., 193 bei Wirtschaftsordnenden Maßnahmen 66, 70 Ermessen behördliches 101 f. gesetzgeberisches 55, 99 ff., 104 ff., 153, 211, 217, 219 richterliches 36 f., 100 E r w a r t u n g s. Vertrauen Erwerbsverbot 84 Existenzsicherung 77 f., 117 f., 121, 194 Existenzvernichtung 20, 78, 116, 143 Experiment des Gesetzgebers 70, 119, 207 ff., 213 Folgenabwägung bei §32 B V e r f G G 17 Folgendiskussion 141, 147 f., 180 f., 192 Freiheit 118, 156, 180 f., 193 ff., 217 f.

freiheitliche demokratische G r u n d ordnung 18, 42 f., 103, 204 Freiheitsrecht 55, 71, 199, 214, 218 Geeignetheit 36, 52 f., 55, 60 f., 69, 75, 82 ff., 88 f., 92, 105, 118, 120 f., 123 f., 143, 147, 182 ff., 193 f., 207 ff. Geeignetheitsprüfung 55, 59 ff., 64 ff., 72 ff., 76 ff., 83, 95, 117 ff., 121, 144, 146 f., 152, 184, 204 f., 208 f., 213 Geldleistungspflicht 91 Generalklausel 22, 198 Gerechtigkeit materielle 97 f., 100 ff., 105 ff., 112 als Symmetrie 175 ff., 182 Gewaltenteilung 116, 190, 206, 217 gewerbliche Betätigung 27 ff. Gewichtung von Grundrechtsgebrauch s. Grundrechtsgebrauchsqualitäten von Gütern, Interessen, Werten 19 f., 22 f., 34, 51 ff., 58 ff., 64, 71 f., 74, 78 ff., 95, 125, 129 f., 134 f., 139, 145, 147 f., 151 ff., 157, 179 f., 182, 189 f., 192, 200, 217 s. auch Bewertungsoperation Glaubensfreiheit 44 f. Gleichheitssatz 94 f., 202 f., 211 f. Grenzrate der Substitution 163 ff. Grundrechte Aktualisierung 130, 133 f. Dogmatik 192 ff., 198 ff., 214 f. Entdifferenzierung i n allgemeines Freiheitsrecht 47, 51, 200 ff. Funktionen 192 ff. Gehalt 197, 199 Gebrauchsqualitäten 17, 20 f., 26 ff., 32, 39, 41 f., 44 ff., 51, 84, 139 ff., 197 mit/ohne abgestufte Schutzbereiche 55, 71 institutionell 129, 145, 199, 219 u n d Rechtsstaatsprinzip 198 f. Vorbehalt 31, 47, 130, 198, 201 f. Herrschaftsrecht 119, 219 Hypothese 531, 62, 66, 72, 193, 200, 205, 207, 209 Immanenzverständnis 51, 129 f. Immunisierung gegen K r i t i k 100 Indifferenzialismus 168 ff., 178 ff. Informationsfreiheit 39 f. Informationsinteresse 33 f., 39 ff. Interessenabwägung bei A r t . 14 G G 17, 87 ff., 91 Interessenjurisprudenz 148, 155 interindividueller Nutzenvergleich 135, 166 f., 172 f., 175 ff., 179, 189 f., 210 ff.

Sachverzeichnis irrealer Konditionalsatz 185 f f , 209 Jugendschutz 40, 201 Kardinalskala 130 f f , 135 f f , 163 ff. Konflikt Austragung 20, 25, 27 f , 46, 149, 172, 188 f , 215 f. zwischen Grundrechtspositionen 19 f f , 46, 188 f , 191, 214 ff. zwischen Grundrechts- und staatlichen Positionen 35 f f , 46 f , 56, 117 f , 181 ff , 188, 191, 215 Harmonisierung 42, 45 Lösung 30, 42, 129, 149 f , 172 ff., 182, 188 f , 215 ff. Situation 20, 24 f f , 33, 46, 63, 174 ff. s. auch Spannung Konkurrentenschutz 64 Konservativität der d r i t t e n Gewalt 190, 211 der Pareto-Optimalität 174 Konsistenz 52, 67 ff., 72 f , 142, 161 f f , 205 f. Kunstfreiheit 30 f f , 33, 47, 195, 202 Legitimation 20 f , 24 f , 28, 99, 211 Lernbereitschaft 193 Mandatsverlust 103 f. M a r k t w e r t 85 f f , 91, 94 Meinungsbildung 20 f , 25 f , 28, 39 Meinungsfreiheit 18 f f , 22 f , 25 f f , 40 f f , 86, 194, 201, 204, 216 Menschenbild des Grundgesetzes 104 Menschenwürde 19, 33, 135 methodische Korrektheit 141 ff. Mindestposition 20, 38, 46, 76 ff., 80 f , 88 f , 90 f f , 117 f f , 120 f f , 124, 148, 183, 189, 193 ff., 200, 215 Monopol 67 Nachschieben von Zwecken 205 f. N a s h - K r i t e r i u m 174 f f , 182, 188 Naturrecht 23, 199 Niederlassungsfreiheit 49 ff. Normbereich 26, 29, 195, 200 Normprogramm 195 Notwendigkeit s. Erforderlichkeit Nutzen Agglomerierung individueller zu sozialem 155 f f , 158, 160 f f , 164 f f , 178 f. Intensität 159 f , 163 f , 167 -Kosten-Analyse 178 Messung 158 f f , 164, 166 f , 172 f , 177 Produkt 174 f f , 188 Vergleich 158, 166 f , 177 f. u n d Wert 156 f , 179

231

Obersatz 195 f. Offenbarungsmodell 178 f. Ordinalskala 130 f f , 135 f f , 158 ff. Pareto-Optimalität 171 f f , 177 f f , 181 f f , 188 ff. Persönlichkeitsschutz 30 f , 33 f. Pneumoenzephalographie 74 f , 206 Präferenz k a r d i n a l 164 f f , 172 f. Nullpräferenz 168 ff. ordinal 158 ff. Präferenzskala s. Wert Ordnung pragmatischer Gehalt 197 Pressefreiheit 25 f , 29, 36 f f , 40 f , 45 Prognose 54 f , 66, 208 Prüfungssorgfalt s. Abwägungssorgfalt Rechtfertigungslast s. Argumentationslast Rechtskraft 98 Rechtssicherheit 97 f f , 105 f f , 112, 117, 125, 146 Rechtsstaat 106 f , 116, 146 Rechtsstaatsprinzip 13, 73, 109, 116, 119, 146, 198, 218 Redaktionsgeheimnis 36 f , 46 Rentenversicherung 120 f. Resozialisierung 34 Rolle 63, 194 Rückwirkungsverbot u n d Abwägungsgebot 97 f , 101 f. 106, 109 f f , 117ff., 125, 218 i m Entschädigungs- und Sozialversicherungsrecht 117 f , 120 ff. E n t w i c k l u n g der Rechtsprechung des BVerfG 106 ff. Ergebnis der Rechtsprechung des B V e r f G 110 f , 118 f. als status-quo-Erhaltung 118 f f , 123 ff. i m Steuerrecht 107 f , 113, 116 f , 123 ff. i m Strafrecht 107, 116 Widersprüche der Rechtsprechung des BVerfG 111 ff. s. auch Vertrauensschutz Rundfunkfreiheit 33 f. Schmerzensgeldberechnung 150, 167 Sonderrecht gegen die Meinungsfreiheit 23, 201 Sozialbereich 25 f , 29 f f , 47, 96,193 ff., 200, 216 Sozialstaatsprinzip 13 f , 119, 145, 198, 218 Spannung als Argumentationsfalle 99 f , 102 ff.

232

averzeichnis

als Begründungsersatz 32, 97 ff., 103 f., 125 als Begründungsornament 97 ff., 100 ff., 125 zwischen Berufsfreiheit u n d Gemeinschaftsgüterschutz 50 f. zwischen Gütern, Werten, Geboten allgemein 14, 42 f., 99, 105 f., 125, 129, 147, 156 I n d i v i d u u m — Gemeinschaft 104 zwischen Informationsinteresse u n d Persönlichkeitsschutz 34 f. zwischen Kunstfreiheit u n d Persönlichkeitsschutz 30 zwischen Meinungsfreiheit u n d Armeebetrieb 42 zwischen Pressefreiheit u n d Staatsschutz 36 ff. zwischen Rechtssicherheit u n d materieller Gerechtigkeit 97 ff., 105 f., 112 zwischen Rechtsstaat u n d Sozialstaat 219 s. auch K o n f l i k t Spieltheorie 154, 172 ff., 182, 188 Staatsschutz 36 ff., 40, 46 status-quo-Erhaltung 118 f., 123 ff., 219 Strafprozeßordnung 36 f., 100 ff. streitbare Demokratie 43, 204 Stufenlehre i m Apotheken-Urteil 50 ff., 181 ff. Ausbau 55, 57 ff. als Darstellungsmittel 60 f. Dilemma 59 Scheitern 56, 68 ff., 72 Subsumtionsmodell 195 f. Substituierbarkeit 168 f., 180 ff. Symmetrie 20, 28 f., 31, 33, 46 f., 175 ff., 182, 188 f., 215 ff. Teilhabe 118 f., 199 Toleranz 163, 179 Tyrannei der Werte 136 ff., 141 Überleitungsregelung 76 f. Übermaßverbot 56, 61, 83, 144 Urheberrecht 92 ff. Utilitarismus 155, 157 f. Veräußerungsverbot 84 verfassunggebende Gewalt 23 f. Verfassungstheorie 127, 152 Verfassungswidrigkeit von Parteien 103 f. v o n Verfassungsbestimmungen 99 f. Verhältnismäßigkeit 15 f., 20, 30 f., 33 f., 36 ff., 46, 48 ff., 56, 71, 80, 83, 89, 143 ff., 147 f., 151 ff., 181 ff.

Verteidigerausschluß 62 f. Verteilungsproblem 155 ff., 158 f., 169 ff., 173 ff., 180 f., 190, 212 Vertrauen Anhaltspunkte 110, 114 ff. Begriff 108, 110, 113, 116, 1181, 125 Schutz 97, 106 ff., 110 ff., 1181, 1251, 2 1 8 1 s. auch Rückwirkungsverbot Volksgesundheit 52 ff., 68 Voraussehbarkeit 1071, 110, 114 ff., 124 f. Vorbehalt des Gesetzes 1981 Vorrang s. Gewichtung, Wertordnung Waffengleichheit 19, 28, 175, 188, 215 f. Wahrscheinlichkeit 50, 62, 140 f., 172 f. Wert u n d Nutzen 156 f., 179 oberster 19, 135 Verwirklichungsintensität 131 ff., 134 ff., 1391 Wertentscheidung 30, 32, 40, 43 f., 47, 51 Wertfreiheit 154 Wertordnung des Grundgesetzes 17, 22, 25, 28 f., 32, 34, 36, 42 ff., 481, 51 1, 59, 127, 129 ff., 133 ff., 138, 1401, 178 f. der Grundrechte 17 ff., 24, 28, 43, 129, 139 von Grundrechtsgebrauchsqualitäten 17, 20 f., 26 ff., 32, 44, 140 individuelle 135, 153, 160 ff., 164 f., 179, 190 K o n s t r u k t i o n 1341, 153, 1 7 8 1 s. auch Nutzenagglomerierung Skalierungsprobleme 130 ff., 134 ff., 138 f. soziale 135, 153, 160 ff., 1641, 190 starre 130, 133 f. Wertphilosophie 23, 135, 148 Wertrangordnung 18 f., 21, 28, 43, 130, 133, 149 Wertung Gewinnung 451, 521, 1341, 157, 190 Verhältnis zu empirischen Fragen 1471, 1511, 154, 1771, 190 s. auch Bewertungsoperation, Gewichtung, Wertordnung Wesensgehaltsgarantie 80 ff., 144 f. Wettbewerb 28 f., 65 Widerstreit s. Spannung Wiederaufnahme 9 8 1 Wiedergutmachungsrecht 101 f. W i l l k ü r 311, 69, 100, 1151

Sachverzeichnis wirtschaftliche Neutralität des GG 144 f. Wissenschaftsfreiheit 202 f. Witwengeld 121 f. Wohlfahrtsökonomik 154 ff., 158, 168, 172, 177 f f , 190 Z u m u t b a r k e i t 61, 70, 77 f , 83, 143, 147, 152 Zwangseingliederung i n Verband 90

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Zweck Analyse/Problematisierung 75 f , 79, 95, 122 f , 144 f , 152, 203, 206 f f , 213 u n d M i t t e l 74, 76, 180, 198, 203 f f , 209 f. Zulässigkeit/Legitimität 53, 64, 69, 83, 86, 122 f , 144, 146, 188, 190, 192, 194, 200, 204 ff , 212, 215 ff. Zweckmäßigkeitserwägung 43 f.