15 Jahre deutsche Einheit: Deutsch-deutsche Begegnungen, deutsch-deutsche Beziehungen [1 ed.] 9783428521302, 9783428121304

Der zum 25jährigen Gründungsjubiläum der Gesellschaft für Deutschlandforschung (GfD) erstellte Band bilanziert auf einer

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15 Jahre deutsche Einheit: Deutsch-deutsche Begegnungen, deutsch-deutsche Beziehungen [1 ed.]
 9783428521302, 9783428121304

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GÜNTHER HEYDEMANN / ECKHARD JESSE (Hrsg.)

15 Jahre deutsche Einheit

Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung Band 89

15 Jahre deutsche Einheit Deutsch-deutsche Begegnungen, deutsch-deutsche Beziehungen

Herausgegeben von

Günther Heydemann und Eckhard Jesse

Duncker & Humblot • Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5774 ISBN 3-428-12130-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 © Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Günther Heydemann und Eckhard Jesse Einführung

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Peter März Territorien, Nation, Föderation, Europa. Plädoyer für Ergänzungen zu einer deutschen Gesamtgeschichte

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Thomas Schaarschmidt Regionalkultur und Heimat-Propaganda im Dritten Reich und in der SBZ/DDR

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Arnulf Baring Deutschlands Rolle in der Welt. Deutschlands Fundament - die USA

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Alexander Gallus Die Tradition des „deutschen Weges". Neutralistische Bestrebungen bei SPD und Grünen

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Johannes Urban Sicherheit in Freiheit - die doppelte Herausforderung. Erfahrungswerte der deutschen Nachkriegsdemokratie

129

Florian Hartleb Die westdeutsche Friedensbewegung. Entstehung, Entwicklung und Unterwanderungs versuche

159

Irene Gerlach Familienpolitik in Deutschland. Bilanz eines schwierigen Politikfeldes

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Andreas Kotzing Innerdeutsche Film- und Festivalbeziehungen nach dem Grundlagenvertrag: ARD und ZDF auf der Leipziger Dokumentarfilmwoche

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Jörn-Michael Göll Kontrollierte Kontrolleure. MFS, Zollverwaltung und das System der doppelten Überwachung an der Grenzübergangsstelle Marienborn

225

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Inhaltsverzeichnis

Eckhard Jesse „Asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte". Die Beziehungsgeschichte der beiden deutschen Staaten

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Werner Müller Neue deutsche Parallelhistoriographie. Zeitgeschichte aus PDS-naher Sicht

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Ehrhart Neubert Alltag und Herrschaft in der DDR. Unterschiedliche Alltagsstrategien

305

Karl Wilhelm Fricke Medium der DDR-Forschung. Zur Geschichte des „Deutschland-Archiv"

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Günther Heydemann 25 Jahre Gesellschaft für Deutschlandforschung. Das geteilte und vereinigte Deutschland im Spiegel einer wissenschaftlichen Vereinigung

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Herausgeber und Autoren

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Einführung

Von Günther Heydemann und Eckhard Jesse Am 3. Oktober 2005 jährt sich die deutsche Einheit zum 15. Mal. Noch heute kommen uns die damaligen Vorgänge nahezu wie ein Wunder vor. Zu fest zementiert schien das kommunistische System zu sein/Fünfzehn Jahre zuvor - 1975 - schien die „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" in Helsinki auf den ersten Blick die Nachkriegsverhältnisse festzuschreiben, doch bot sie den Menschen in Osteuropa durch den „Korb 3" zugleich eine Legitimitätsgrundlage für vielfältige Möglichkeiten widerständiger Artikulation und Aktionen an. Die Sowjetunion war dem Wettkampf der Systeme nicht gewachsen. Michael S. Gorbatschow wollte das kommunistische Regime reformieren und trug damit - wenn auch wider Willen - zu seiner Abschaffung bei. Die Einheit Deutschlands wäre ohne die Abschüttelung des SED-Regimes in der DDR unmöglich gewesen. Dieser Umsturz wiederum setzte ein grundlegendes Umdenken in der Sowjetunion voraus. Der zeitliche und thematische Bogen dieses Bandes ist weitgespannt. Er reicht vom Kaiserreich bis zur „Berliner Republik". Der inhaltliche Schwerpunkt liegt gleichwohl entsprechend den Intentionen der Gesellschaft für Deutschlandforschung auf der DDR bzw. den neuen Bundesländern. Wer früher von „Deutschland" sprach und die DDR unberücksichtigt ließ, unterschlug damit eine wesentliche deutsche Komponente. Daß dies bei Menschen in der DDR Verdruß hervorrief, darf nicht verwundern. Der Untertitel „Deutsch-deutsche Begegnungen - deutsch-deutsche Beziehungen" bringt die mannigfache Verschränkung der beiden deutschen Staaten zum Ausdruck. Die DDR war ein künstliches, nur durch die Sowjetunion am Leben gehaltenes Gebilde. Dieser Band greift bis in die Zeit vor 1918 zurück. Dies hat auch damit zu tun, daß sich die vielfältig begründete These vom „Sonderweg" zumal in der Bundesrepublik Deutschland lange einer gleichsam kanonischen Geltung erfreute. Deutschland habe einen „Sonderweg" eingeschlagen, der schließlich in den Nationalsozialismus mündete. Doch in den letzten Jahren setzte sich mehr und mehr die folgende Auffassung durch: Einen europäischen „Normalweg" gibt es nicht. Deutschland könne trotz der leidvollen Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus nicht in jeder Hinsicht als ein Gegenbild des „Westens" gelten. In an-

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derer Hinsicht wurde durch die Wiedervereinigung 1990 ein Sonderweg beendet - der Weg von der „einen Nation in zwei Staaten". Die Systemauseinandersetzung auf deutschem Boden nach 1945 wie ihre sich teilweise parallel vollziehende, teilweise im nachhinein von 1989/90 an forcierte „Aufarbeitung" in Gestalt der DDR-Forschung trägt nach Auffassung des Münchener Historikers Peter März in einem verengten Bild deutscher Geschichte bei. Er hält namhaften Teilen der heutigen Historiographie vor, in einer Art - negativer - Analogie zur klein- wie großdeutschen Geschichtsschreibung des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts mit ihren nationalistischen Übersteigerungen nunmehr ihrerseits negativ auf das Bismarckreich, sein Entstehen wie seine Wirkungen fixiert zu sein und dabei die eigentliche, europäisch grundierte Pluralität deutscher Staatlichkeit mit ihren kulturellen und föderalen Implikationen nicht wahrnehmen zu können oder zu wollen. Genau jenes, wesentlich aus derfrühen Neuzeit und dem Alten Reich rührende Erbe habe aber in beachtlichem Maße die politische Kultur der alten Bundesrepublik geprägt und sei es wert, im wiedervereinten Deutschland weitergeführt zu werden. Wer hingegen einer sogenannten „Berliner Republik" das Wort redet, vernachlässige föderale Traditionen. Der Anspruch, alle gesellschaftlichen Bereiche politisch zu durchdringen und dem Gestaltungsanspruch der herrschenden Partei zu unterwerfen, gehört zu den markantesten Merkmalen moderner totalitärer Weltanschauungsdiktaturen. Diese Feststellung sagt indes wenig über die Praxis der „Durchherrschung" aus. Erst ein Blick in die Feinmechanik der Beziehungen zwischen „Herrschern" und „Beherrschten" gibt Auskunft darüber, ob, in welchem Ausmaß und warum es NSDAP und SED gelang, die Gesellschaft nach ihren Leitvorstellungen zu transformieren. Aufschlüsse über diese Prozesse versprechen gerade Untersuchungen jener Politikfelder, die für die Etablierung und Sicherung der diktatorischen Herrschaft nur von sekundärer Bedeutung waren. Der Leipziger Historiker Thomas Schaarschmidt geht am Beispiel der komplexen Beziehungen zwischen den kulturpolitischen Ansprüchen und den Interessen traditioneller regionalkultureller Organisationen den Fragen nach, welche Strategien der „Durchherrschung" beide Staatsparteien anwandten, welche Bedeutung die Kooperationsbereitschaft einzelner gesellschaftlicher Gruppen für die Realisierung dieser politischen Absichten hatte und welche Veränderungen solche Zielprojektionen im Zuge ihrer Durchsetzung erfuhren. Trotz ideologischer Vorbehalte erkannten sowohl die NSDAP als auch die SED den unschätzbaren Vorteil, den eine propagandistische Nutzung etablierter HeimatStereotypen bot. Indem politische Postulate mit vertrauten Bildern der eigenen Region und ihrer Traditionen zu neuen regionalen Identifikationsangeboten verschmolzen wurden, ließ sich auch jenen Bevölkerungskreisen ein Integrationsangebot unterbreiten, die der diktatorischen Herrschaftsordnung indifferent oder ablehnend gegenüberstanden. Davon erhofften sich die Kulturfunktionäre neben

Einführung

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einer Stabilisierung des politischen Systems die Mobilisierung der Bevölkerung für praktische Aufgaben beim Aufbau der neuen Ordnung sowie ein Engagement der traditionellen Träger der Heimatbewegung für die Propagierung eines identitätsstifienden und zugleich systemkonformen Heimatbewußtseins. Die Rolle Deütschlands in der Welt wird aufgrund der Last der NSVergangenheit einerseits nach wie vor zum Teil mißtrauisch beäugt, anderseits wegen vielfaltiger internationaler Aufgaben und Verpflichtungen geachtet. Im Gegensatz zu früheren Epochen ist die Bundesrepublik Deutschland eng mit dem Westen im allgemeinen und den USA im besonderen verbunden. Durch nationalistischen Hochmut hat sich die Bundesrepublik Deutschland niemals ausgezeichnet. Ein weiterer Einschnitt ist mit der deutschen Einheit des Jahres 1990 verbunden. Die vereinigte Bundesrepublik übernimmt von nun an vermehrt außenpolitische Verantwortung. Der Berliner Politikwissenschaftler und Historiker Arnulf Baring spürt dem außenpolitischen Wandel Deutschlands nach. Nach 1945 trat die Einbindung in ein äußeres Sicherheitssystem des westlichen Teils Deutschlands ein, der eine innere Stabilisierung folgte. Die Bundesrepublik Deutschland sah sich von nun an nicht mehr in einer gefährdeten Mittellage, zudem würde die Bindung an die USA weithin akzeptiert. In den siebziger und achtziger Jahren setzten jedoch Veränderungen ein. Sowohl der Vietnam-Krieg als auch der NATODoppelbeschluß beförderten amerikakritische Stimmungen, zumal im linken intellektuellen Milieu. Gleichwohl blieb das Bild der Bundesrepublik in den Vereinigten Staaten weithin positiv. Allerdings ist die entscheidende Rolle Washingtons bei der zügigen deutschen Vereinigung im Bewußtsein der deutschen Öffentlichkeit nicht angemessen präsent. Zwar machte sich die rot-grüne Regierung nach dem 11. September 2001 für die Politik der Vereinigten Staaten uneingeschränkt stark, doch bereits ein Jahr später rückte die Regierung im Wahlkampf von den USA insofern ab, als sie zu verstehen gab, daß sie die USA im sich abzeichnenden Irak-Krieg nicht unterstützen werde. Für Baring ist das ein schwerer Fehler gewesen. Dadurch habe man das Vertrauen der USA verspielt und eine mögliche außenpolitische Isolation über kurz oder lang begünstigt. Bundeskanzler Gerhard Schröder rief vor den Bundestagswahlen im September 2002 allgemein einiges Aufsehen und Erstaunen hervor, als er die Friedens- und Sicherheitspolitik seiner Regierung kurzzeitig als „deutschen Weg" apostrophierte. Er sorgte nicht zuletzt deshalb für Verwunderung, weil dieser Begriff regelmäßig mit jenem eines „deutschen Sonderwegs", der in der „deutschen Katastrophe" endete, in Verbindung gebracht wird. Allein die Terminologie des „deutschen Weges" dürfte Befürchtungen gesteigert haben, daß die Bundesrepublik Deutschland Gefahr laufe, sich vom Pfad der konsequenten, vor allem transatlantischen Westbindung zu entfernen.

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Der Chemnitzer Politikwissenschaftler Alexander Gallus erörtert daher, warum gerade die rot-grüne Bundesregierung für einen außen- und sicherheitspolitischen „deutschen Weg" eintrat oder ihn zumindest der Sache nach verfolgen wollte, nachdem sie sich von dem prekären Begriff rasch verabschiedet hatte. Die Tradition eines solchen „deutschen Weges" erkennt der Autor in einer ambivalenten Politik der SPD und später auch der Grünen zwischen Westpolitik und Neutralität in der Epoche des Ost-West-Konflikts. Der Beitrag zeichnet Kontinuitätslinien von Kurt Schumacher über Egon Bahr bis zu Oskar Lafontaines Aufmerksamkeit erregender Streitschrift „Angst vor den Freunden" nach, welche der Haltung der überwiegenden Mehrheit in der SPD während der Nachrüstungsdebatte Ausdruck verlieh. Anhänger der SPD und Grünen wiesen - im Vergleich zu denjenigen der CDU/CSU und Liberalen - einen wesentlich höheren Grad an Skepsis und Argwohn gegenüber einer militärisch-sicherheitspolitischen Westbindung und den USA auf. Der Verfasser gibt zu bedenken, daß in dieser Tradition mutatis mutandis auch Möglichkeiten für eine freilich behutsame Neuausrichtung oder zumindest Horizonterweiterung deutscher Außenpolitik nach 1990 liegen könnten. Fast dreißig Jahre nach dem „deutschen Herbst" von 1977 sieht sich die deutsche Nachkriegsdemokratie erneut herausgefordert, zum Schutz von Staat und Bürgern in bürgerliche Freiheitsrechte einzugreifen. Politik und Wissenschaft streiten in bisweilen erregter Weise, wie weit der demokratische Staat dabei gehen kann und muß - ohne dabei die beiden Elementargüter der Freiheit und Sicherheit zu gefährden. Viele der zentralen sicherheitspolitischen Entscheidungen der deutschen Nachkriegsdemokratie berührten im Kern die Frage, wie ein angemessener Güterausgleich hergestellt werden sollte. Verlauf wie Ergebnis dieser Debatten offenbaren Erfahrungswerte, die für die aktuelle Debatte aufschlußreich sein können. Die Analyse des Chemnitzer Politikwissenschaftlers Johannes Urban konzentriert sich deshalb auf diejenigen Entscheidungen, in denen die Güterabwägung von Sicherheit und Freiheit eine besondere Rolle spielte: Wiederbewaffnung, Notstandsgesetzgebung und Bekämpfung der „Roten Armee Fraktion" (RAF). Jede dieser Debatten offenbart Parallelen und Analogien zu aktuellen Streitfragen. Ebensowenig wie etwa die Wiederbewaffiiung zu einem Wiederaufleben eines deutschen Militarismus führte, geht vom Einsatz spezialisierter Kräfte der Bundeswehr, z.B. zur Abwehr von Terroranschlägen, eine Gefahr für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Bundesrepublik aus. Auch die mit dem Mißbrauch des Weimarer Notverordnungsrechts begründete Ablehnung einer Notstandsgesetzgebung greift zu kurz; die Ereignisse des „deutschen Herbstes" zeigen vielmehr, daß eine restriktive Anpassung an die neuen Gefahren des Internationalen Islamistischen Terrorismus Kompetenzchaos und mangelnder Transparenz vorzubeugen vermag. Die Auseinandersetzung mit der RAF hält darüber hinaus weitere Lehren bereit: Es bedarf eines sicherheitspolitischen

Einführung

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Konsenses der Demokraten, um Terrorismus und Extremismus wirksam entgegenwirken zu können. Für alle Maßnahmen gilt: Der Weg zu Sicherheit in Freiheit führt über eine undogmatische, am Kerngehalt beider Güter orientierte Balance. Die Friedensbewegung der achtziger Jahre war die größte Protestbewegung in der Geschichte der Bundesrepublik. In der öffentlichen wie in der wissenschaftlichen Diskussion spielt die Friedensbewegung indes kaum eine Rolle mehr, obwohl vor allem in den Protesten gegen die Kriege in Afghanistan und Irak ihre Renaissance bevorzustehen schien. Den entscheidenden Impuls für ihre Entstehung gab der NATO-Doppelbeschluß zu Beginn der achtziger Jahre. In der Realität zeichnete sich die Friedensbewegung jedoch durch eine strategische Kurzatmigkeit aus. Meist knüpften die Planungen an aktuelle Anlässe an. Basisdemokratie innerhalb der Friedensbewegung war dem Chemnitzer Politikwissenschaftler Florian Hartleb zufolge ein Mythos, erfolgte doch der Versuch einer Institutionalisierung durch den zentralen „Koordinierungsausschuß der Friedensbewegung". Gleichwohl hatte das zentrale Organ Schwierigkeiten, die unterschiedlichen Kräfte zu bündeln. Mit Beginn der sowjetischamerikanischen Abrüstungsverhandlungen verlor die westdeutsche Friedensbewegung ihre Mobilisierungswirkung. Ihr Zerfall schien nach dem Ende der Nachrüstungsdebatte nur noch eine Frage der Zeit. Die eine Friedensbewegung gab es zu keinem Zeitpunkt, zu groß war deren Heterogenität. Wie die DDR in der westdeutschen Friedensbewegung konkret operierte, ist schwer nachzuzeichnen. Die SED wollte die bundesdeutsche Friedensbewegung fördern und unterstützen. Das Ministerium für Staatssicherheit schleuste zu diesem Zweck zahlreiche Inoffizielle Mitarbeiter ein und baute sich ein Netzwerk von Bündnisorganisationen auf. Es konnte die Friedensbewegung jedoch weder zu einem festen Bollwerk gegen den Westen formieren noch die Bundesrepublik destabilisieren. Zweifellos trat die Friedensbewegung öffentlichkeitswirksam auf, entfachte eine Debatte über gewaltlosen und gewalttätigen Widerstand, nicht zuletzt forciert von den autonomen Friedensgruppen. Allerdings konnte sie die nationale Verteidigungspolitik entgegen den eigenen Vorstellungen kaum beeinflussen. Die Behauptung, das Thema „Familienpolitik" sei ein „schwieriges Politikfeld", kann auf zweifache Weise begründet werden: Einerseits ist für die Familienpolitik typisch, daß scheinbar individuell gefällte Entscheidungen - z.B. für die Elternschaft - vielfältige gesamtgesellschaftliche und volkwirtschaftliche Konsequenzen nach sich ziehen. Andererseits ist die Familienpolitik ein Politikfeld, das lange Zeit moralisch-ideologisch überfrachtet war, in der DDR wie in der Bundesrepublik Deutschland. Der Beitrag der Münsteraner Politikwissenschaftlerin Irene Gerlach geht zunächst auf die unterschiedlichen Begründungsmuster und Leitbilder von Famiii-

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enpolitik in der Bundesrepublik Deutschland wie in der DDR ein und beschreibt dann die Entwicklung familienpolitischer Maßnahmen. Die DDR-Familienpolitik der siebziger Jahre habe eindeutige Indizien für die Wirksamkeit entsprechender Maßnahmen geliefert, insbesondere bei sogenannten „Paketmaßnahmen", die monetäre und infrastrukturelle Entlastungen für Familien miteinander verbanden. Der Aufsatz zeichnet die Situation von Familien in Ost- und Westdeutschland zum Zeitpunkt der Vereinigung nach sowie deren Entwicklung anhand der demographischen Strukturen, der ökonomischen Situation von Familien, der Frauen- und Müttererwerbstätigkeit sowie des Kinderbetreuungsangebotes. Noch 15 Jahre nach dem Vollzug der Einheit gäbe es wesentliche Unterschiede, die ihre Ursache einerseits im Nachwirken des Familienleitbildes der DDR hätten und andererseits in den Strukturen des ost- und westdeutschen Arbeitsmarktes bedingt seien - etwa bei der mütterlichen Erwerbstätigkeit sowie dem Anteil nichtehelich geborener Kinder. Was die familienpolitischen Handlungsnotwenigkeiten betrifft, gehe es um die monetäre Entlastung von Familien, ebenso wie um die Vereinbarkeit von ausreichendem Betreuungsangebot für Kinder mit der Berufstätigkeit. Die Unterstützung von Elternkompetenz sei eine familienpolitisch lange vernachlässigte Aufgabe, die in der Zukunft jedoch erhöhte Bedeutung haben dürfte. Vor dem Hintergrund des deutschen „PISASchocks" gelte es in Zukunft, die Bereiche Erziehung, Betreuung und Bildung stärker miteinander zu vernetzen. Zwei Jahrzehnte lang gab es zwischen den beiden deutschen Staaten, die unterschiedlichen macht- und ideenpolitischen Lagern angehören, keinerlei offizielle Beziehungen. Das änderte sich erst nach 1969, als die sozial-liberale Bundesregierung die DDR anerkannte, wenn auch nicht völkerrechtlich. Für die Intensivierung der innerdeutschen Beziehungen war der Grundlagenvertrag aus dem Jahr 1972 von entscheidender Bedeutung. Am Beispiel der Film- und Festivalbeziehungen läßt sich der „Wandel durch Annäherung" beispielhaft nachvollziehen. Allerdings belegt der Leipziger Historiker Andreas Kotzing am Beispiel der Leipziger Dokumentarfilmwoche auch die Schwierigkeiten, die mit der Umsetzung der gemeinsamen Beziehungen verbunden waren, wobei sich der Kulturaustausch als besonders problematisch erwies. Mitte der siebziger Jahre versuchten ARD und ZDF, eigene Produktionen in Leipzig zu zeigen. Dabei kam es zu einem Konflikt, der sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik rasch für Aufsehen sorgte. Der Auslöser des Streits war die Frage, ob der Sender Freies Berlin auf dem Festival durch die ARD vertreten werden dürfte. Wollte die ARD mit ihrer Anmeldung testen, inwieweit die DDR bereit war, die Bindung Westberlins an die Bundesrepublik zu akzeptieren? Oder handelte es sich gar um eine „gezielte Provokation", wie die SED-Führung vermutete? Diese Fragen beschäftigten mehrere Jahre lang die Mitarbeiter des Festivals wie die Vertreter der ARD und die entsprechenden politischen Entscheidungsträger auf

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beiden Seiten. Der Verlauf des Konflikts verdeutlicht daher die Grenzen einer gesamtdeutschen Zusammenarbeit, die auch nach dem Grundlagenvertrag wirksam blieben: Immer dann, wenn die SED-Führung eine politische Infiltration witterte, gab es keine Kompromißbereitschaft. In diesem Fall scheiterten daher die Verhandlungen mit der ARD, die erst in den achtziger Jahren eigene Beiträge in Leipzig präsentieren konnte. Der Kalte Krieg tobte in Deutschland besonders heftig. Der Ost-WestGegensatz führte nach 1945 zur Teilung des Landes. Mitten durch Deutschland zog sich eine streng bewachte und befestigte Grenze. Über 1000 Personen mußten bei Fluchtversuchen ihr Leben lassen. Nichts zeigte die fehlende demokratische Legitimität des DDR-Regimes so sehr wie die Art ihres Grenzsicherungssystems, das auf mannigfachen Maßnahmen der Überwachung basierte. Der Beitrag des Leipziger Historikers Jörn-Michael Göll rekonstruiert die Organisation jenes Kontrollsystems, das über 40 Jahre zur Herrschaftssicherung und Herrschaftsausübung der SED an der Nahtstelle zwischen Ost und West beigetragen hat. Auf dem Gelände der heutigen Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn befand sich einst die bedeutendste Autobahn-Grenzübergangsstelle der DDR zur Bundesrepublik. Insbesondere wird herausgearbeitet, welch große Bedeutung die Grenzübergangsstelle für das Ministerium für Staatssicherheit besaß und wie ein annähernd perfekt ausgeklügeltes System zur Überwachung des grenzüberschreitenden Verkehrs jeglichen Fluchtversuch nahezu unmöglich machte. Eine zentrale Rolle innerhalb dieses Kontrollsystems spielte das Grenzzollamt Marienborn, das der Zollverwaltung der DDR untergeordnet war. Nur durch die Mitarbeit des Zollamts gelang es der Staatssicherheit, jedes Jahr bis zu zwölf Millionen Personen an der Übergangsstelle Marienborn zu kontrollieren, um so ihren Aufklärungs- und Informationsbedarf weitgehend zu decken und dabei das Risiko einer „Dekonspiration" der eigenen Strukturen möglichst gering zu halten. Damit das Grenzzollamt im Sinne des MfS überhaupt funktionierte, wurden die Zollangestellten wiederum selbst durch den Einsatz von Inoffiziellen Mitarbeitern permanent überwacht. Das Beispiel der kontrollierten Kontrolleure in Marienborn beschreibt somit ein System der doppelten Überwachung, das für das Verhältnis zwischen der Zollverwaltung und dem Ministerium für Staatssicherheit allgemein charakteristisch gewesen ist. Man kann die Geschichte der beiden deutschen Staaten wesentlich als eine Art Parallelgeschichte betrachten. Die in ihrem jeweiligen Bündnissystem verankerten Staaten entwickelten sich in eine unterschiedliche Richtung. Die deutsche Teilung schien mit zunehmender Zeitdauer immer festere Formen anzunehmen. Aber das ist nur die eine Seite der Wahrnehmung. Aus den zwei Staaten waren gleichwohl keine zwei Nationen geworden. Das Zusammengehörigkeitsgefühl blieb erhalten - im Osten wie im Westen.

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Für den Chemnitzer Politikwissenschaftler Eckhard Jesse erscheint es sinnvoll, die Geschichte der beiden deutschen Staaten auch als Beziehungsgeschichte zu betrachten. Auf diese Weise würden Wechselwirkungen erkennbar, wobei die Interaktion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR freilich nicht symmetrisch-gewesen sei. Die Asymmetrie zeigte sich vor allem in zwei Punkten: Zum einen war die DDR - in den verschiedensten Bereichen - vielfach auf die Bundesrepublik fixiert, während diese die DDR mehr ignorierte, denn als Bezugspunkt ansah. Zum anderen erwies sich die Interaktion insofern als asymmetrisch, als die Bundesrepublik in der Regel überlegen war und die DDR in die Defensive drängte. Sowohl die Geschichte der innerdeutschen Beziehungen im allgemeinen als auch die Geschichte des umstrittenen SPD-SEDPapiers von 1987 „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit" im besonderen seien in mannigfacher Hinsicht eine Geschichte der Verkehrungen und Paradoxien. Je mehr die DDR sich auf die Bundesrepublik einließ, um so abhängiger wurde sie von ihr. Das Feindbild vom Westen verlor zunehmend seine Konturen. Die asymmetrische Wechselbeziehung zwischen Ost und West setzte sich nach der deutschen Einheit fort, wenngleich in anderer Weise. Ostdeutsches „Wir-Bewußtsein", vor allem erst nach der deutschen Einheit entstanden, sei kein Indiz für kommunistische Nostalgie, eher ein Zeichen von Trotz und Enttäuschung. Bekanntlich mußte ein Teil der DDR-Wissenschaftselite aus den ideologieabhängigen Fachdisziplinen, vor allem in den Geschichts- und Sozialwissenschaften und in der Philosophie, nach 1990 ihre Arbeitsstellen in Universitäten und Akademien räumen. Für viele der Betroffenen mündete das in der Erkenntnis, in der gesamtdeutschen „Wissenschaftslandschaft" nicht angenommen worden zu sein. Ein Großteil von ihnen, in der Regel der „FDJ-Generation" zugehörig oder bereits in derfrühen Honecker-Ära auf Lehrstühle berufen, legte nach der Wiedervereinigung im Umkreis der PDS eine breite Palette von Publikationen vor - zur Geschichte der DDR, zu den Traditionen des deutschen Kommunismus, zum Kalten Krieg, zur Deutschlandpolitik und zu anderen historischpolitischen Themen wie dem Alltag in der DDR. Damit soll, wie mehrfach bekundet, eine Art historiographischer „Kontrapunkt" zur westdeutsch dominierten Geschichtsschreibung geboten werden. Der Rostocker Historiker Werner Müller geht dieser - im internationalen Vergleich einzigartigen - parallelen Geschichtsschreibung kritisch nach. Diese versucht, die DDR als legitime Alternative zur „kapitalistischen" Bundesrepublik zu rehabilitieren. Sie firmiert grundsätzlich als eine „deutsche Möglichkeit", letztlich wird damit der SED-Anspruch, das „neue" und damit auch das „bessere Deutschland" zu verkörpern, auf eine neue Grundlage zu stellen versucht, das Scheitern der DDR pauschal dem Stalinismus angelastet, die Vision eines „dritten Weges" jenseits von Kapitalismus und Stalinismus als Leitmotiv beschworen. Zugleich wird der Anspruch erhoben, eine Geschichte der DDR

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jenseits von Diktatur, Unterdrückung, Zwang und Anpassung zu vermitteln. Der Autor übt an solchen Vor- und Darstellungen Kritik. Sie liefen vielfach auf Methodenmonismus hinaus und seien oft nicht frei von Parteilichkeit. Historiker und Politikwissenschaftler dieser Couleur orientierten sich an einem „demokratischen Sozialismus", ohne daß immer klar werde, was darunter zu verstehen sei. Die Wissenschaft der PDS zeige daher ein Janusgesicht. Alltags- und Herrschaftsforschung stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander. Wer den Alltag in einer Diktatur erforscht, stellt häufig Vorgänge heraus, die auf den ersten Blick nicht politisch zu sein und sich von denen in einer Demokratie nicht zu unterscheiden scheinen. Wer hingegen sein Augenmerk den Herrschaftsmechanismen widmet, erkennt schnell die diktatorischen Züge. Tatsächlich zeichnete sich der Alltag in der DDR auch durch repressive Elemente aus, und umgekehrt wurde die SED-Herrschaft durch ein gewisses Maß an Freiwilligkeit der Beherrschten getragen. Der Berliner Theologe und Historiker Ehrhart Neubert, der bei der „Birthler"-Behörde arbeitet, widmet sich dem Komplex „Alltag und Herrschaft in der DDR". Der Überblick zur Forschungsliteratur (bis 1990 in beiden deutschen Staaten, seither im vereinigten Deutschland) läßt die Vielfalt der Ansätze erkennen. Nach Neubert wurden im Westen die repressiven Bedingungen im Osten zu wenig berücksichtigt. Heutzutage seien die herrschafts- und alltagsgeschichtlichen Defizite der Forschung weithin aufgearbeitet worden. Der Autor arbeitet drei Alltagsstrategien im Leben von DDR-Bürgern heraus: Der Typ des „Utopisten" täuschte sich über die Probleme hinweg, der Typ des „Händlers", der am verbreitesten gewesen sei, orientierte sich pragmatisch an Nützlichkeitserwägungen, und der Typ des „Moralisten" suchte seine Identität in den Auseinandersetzungen mit den politischen Ansprüchen und alltäglichen Schwierigkeiten zu bewahren. Diese drei Typen stellten Reaktionen auf Herrschaftsmechanismen der SED dar. Die „Utopisten" reagierten auf die Ideologie des Systems, die „Händler" auf dessen Sozialpolitik und Vergabe von Privilegien, die „Moralisten" auf die Disziplin und den Gehorsam gegenüber dem Staat. Nur durch diese idealtypischen Klassifikationen könnten typische Verhaltensmuster herausgearbeitet werden. Die nachwirkenden mentalen Unterschiede seien die wichtigsten Quellen von Unbehagen und Fremdheit Ostdeutscher gegenüber den neuen Verhältnissen. Die DDR-Forschung war vor der Revolution im Herbst 1989 angesichts der dünnen empirischen Grundlage ein mühsames Unterfangen. Aussagen der DDR-Offiziellen würden von der Forschung oft unkritisch übernommen. Die DDR selbst schottete sich von jeder kritischen Analyse ab. Wer DDRForschung betrieb und bis heute betreibt, kam und kommt nicht ohne das Periodikum „Deutschland Archiv" aus. Es ging 1968 aus dem „SBZ-Archiv" hervor, das wiederum einen Vorläufer im „PZ-Archiv" hatte. Das „Deutschland Archiv"

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wurde zu Beginn der Entspannungspolitik, als nichts mehr auf eine Wiedervereinigung Deutschlands hindeutete, ins Leben gerufen. Der Kölner Publizist Karl Wilhelm Fricke zeichnet die Geschichte des „Deutschland Archiv" nach. Es unterschied sich vom Vorgänger vor allem durch seinen wissenschaftlichen Anspruch. Das „Deutschland Archiv" wurde deshalb ein in der Wissenschaft, der Publizistik und der Politik geschätztes Diskussionsforum. Die Verantwortlichen ließen nach Herkunft und Profession eine besondere Sensibilität für die „deutsche Frage" erkennen. Eine Vielzahl von Autoren - wie die der Redakteurinnen Gisela Helwig und Ilse Spittmann - wurde von der Staatssicherheit überwacht. Die „Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe" des Ministeriums für Staatssicherheit erstellte Inhaltsanalysen aus dem „Deutschland Archiv", die laut Fricke zu „Realsatire" gediehen. In dem Organ kamen und kommen nicht nur unterschiedliche politische Auffassungen zu Wort, sondern auch Repräsentanten unterschiedliche Fächer. Es dokumentierte ebenso die jährlichen DDR-Forschertagungen. Der Autor stellt die überparteiliche Haltung der Redaktion heraus, wodurch sie sich allseits Respekt schuf. Fricke sagt voraus, daß der neue Untertitel „Zeitschrift für das vereinigte Deutschland" (seit 1991) bald obsolet sein werde. Die DDR-Forschung hat in der Bundesrepublik Deutschland bis zur deutschen Einheit verschiedene Phasen erlebt. Bis in die Mitte der sechziger Jahre hinein dominierte eine Art „Wiedervereinigungswissenschaft". Diese Strömung wurde in der zweiten Hälfte von einer Richtung abgelöst, die nicht mehr auf „Wiedervereinigung" fixiert war. In den achtziger Jahren kam es, gefordert durch eine Vielzahl von Faktoren, zu einer wieder stärker balancierten Sichtweise. Der Leipziger Historiker Günther Heydemann illustriert am Beispiel der Gesellschaft für Deutschlandforschung, dass die DDR-Forschung sich immer in einem sehr politiknahen Kontext befunden hat und der wissenschaftliche Streit um adäquate theoretische und methodische Ansätze davon beeinflußt wurde und bis heute noch wird. In der Tat ist die Gründung der Gesellschaft im April 1978 auf einen Paradigmenwechsel zurückzuführen, der in der DDR-Forschung ab Ende der sechziger Jahre zunehmend virulent wurde. Hier standen sich Anhänger der Totalitarismus-Theorie auf der einen und Verfechter des sogenannten „Immanenz-Paradigmas" auf der anderen Seite gegenüber. Vor allem der Versuch dieser Richtung, den immanenten Ansatz nicht nur zu einem dominierenden, sondern sogar ausschließlichen in der DDR-Forschung zu machen, hat maßgeblich zur Entstehung der Gesellschaft für Deutschlandforschung beigetragen. Im Laufe ihrer 25jährigen Geschichte, die im vorliegenden Beitrag erstmals aus ihren Akten erarbeitet wurde, ist sie zur größten, wissenschaftlichen Vereinigung von DDR- und Deutschland-Forschern herangewachsen, hat aber in jüngster Zeit mitfinanziellen wie Nachwuchsproblemen zu kämpfen und leidet zum Teil an Auszehrung. Gleichwohl ist die Gesellschaft schon aufgrund

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ihrer inzwischen fast einhundert Publikationen aus der DDR-Forschung nicht wegzudenken. Die frühen Streitpunkte haben nach der deutschen Einheit stark an Bedeutung verloren. Im Jahre 2003 jährte sich zum 25. Mal die Gründung der Gesellschaft für Deutschlandforschiing. Damit ist die Zeitspanne zwischen 1978, dem Gründungsjahr der Gesellschaft, und 1990, dem Vereinigungsjahr, mittlerweile kürzer als die Periode von 1990 bis heute. Die deutsche Einheit will heute ernsthaft niemand mehr rückgängig machen.. Die Jahrestagung fand unter dem Thema „Deutschland - Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft" statt. Der Band geht auf diese Jubiläumsveranstaltung der Gesellschaft zurück. Zusätzlich wurden einige Texte aufgenommen, die sich in den thematischen Rahmen gut einfügen.

Territorien, Nation, Föderation, Europa Plädoyer für Ergänzungen zu einer deutschen Gesamtgeschichte

Von Peter März

1. Einleitende Überlegungen Die folgenden Überlegungen haben mit DDR-Geschichte bzw. DDR-Historiographie 1, ja mit Zeitgeschichte insgesamt, zumindest im ersten Ansehen, vielfach wenig zu tun. Sie sollen zunächst relativieren, so den Bedeutungsgehalt tatsächlicher oder vermeintlicher Zäsuren, ohne diese doch zur Gänze in Frage zu stellen, sodann Bezüge beleuchten, die vielfach nicht bzw. kaum oder kaum mehr gesehen werden, und sie sollen so schließlich einen Beitrag zu so etwas wie historischer Demut darstellen: Bilder, auf die wir heute fixiert sind, mögen sich als ähnlich trügerisch, brüchig oder ideologisch präformiert erweisen, wie die klassischen Bilder von Historiographen der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die, wie im zweiten Teil dieses Aufsatzes gezeigt wird, vielfach ihre Wunschprojektionen von Nation und nationaler Einheit über lange Zeiten in völlig andere Verhältnisse mit gänzlich anderen Sinnzusammenhängen zurückführten. In diesem zweiten Teil sei daher der Blick kurz auf einige Züge der sozusagen „älteren" deutschen Nationalgeschichtsschreibung geworfen. Daß hier völlig andere Koordinaten als etwa in der modernen Sozialgeschichtsschreibung 1 Zur DDR-Forschung in einem klassisch-engen Sinn, wobei die hier aufgeworfenen Fragestellungen kaum thematisiert werden, bilanzierend: Rainer Eppelmann/Bernd Faulenbach/Ulrich Mahlert (Hrsg.), Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung. Hermann Weber zum 75. Geburtstag, Paderborn u.a. 2003. Der als Summe der bisherigen DDR-Forschung gewiß verdienstvolle Band (es fehlen allerdings weitgehend die einschlägigen Beiträge des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin mit der Monographie von Klaus Schroeder, Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft 1949-1990, München 1998) läßt zugleich erkennen, daß die deutsche Zeitgeschichte nach 1945 wieder stärker in übergreifende Kontexte eingefügt werden sollte. Eben dies ist das Kernanliegen des Beitrages.

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seit Mitte der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts zum Tragen kommen, ist eine Binsenweisheit. Mit Ausnahme von Franz Schnabels „Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert", zwischen 1929 und 19372 erschienen, die auf eine spezifische Weise moderner, weil in der Fragestellung umfassender angelegt ist als manches in den späteren Generationen erschienene Werk, sind alle hier herangezogenen Darstellungen auf je eigene Weise einem deutsch-mitteleuropäischen Superioritätsdenken, einem starken Royalismus und einer antiwestlichen bzw. antifranzösischen Grundhaltung verpflichtet. Gleichwohl gibt es bemerkenswerte Unterschiede. Daß die Nationalgeschichten Europas in einem auch nur halbwegs modernen Sinn mit Herrschafts- und Staatsbildungen seit Beginn des Mittelalters schwerlich in Verbindung zu bringen sind, daß vielmehr andere Identitäten - religiöse und feudale Abhängigkeiten, kontinentale und regionale Bezüge, schließlich auch noch Stammesformationen - eindeutig überwogen, ist heute eine Binsenweisheit.3 Das wurde aber lange vielfach so nicht erkannt. Läßt man chauvinistische und hier auch antisemitische Aspektefrüherer Geschichtsbilder beiseite, dann ergibt sich allerdings vielleicht schon, was die jeweilige Zeit- und Kontextgebundenheit des Betrachters und Deuters anlangt, zwischen damals und heute die Möglichkeit des Vergleichs bzw. der wenigstens ansatzweisen Analogie. Eine Gemeinsamkeit scheint vielfach darin zu liegen, daß deutsche Historiker bei der Betrachtung deutscher Geschichte sich von einem oft einseitig deutsch-zentrierten Geschichtsbild, ob mit positiven oder negativen Schlussfolgerungen, leiten lassen. Das galt selbstverständlich für die deutschnationale Historiographie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, ob in borussisch-kleindeutscher, ob in mitteleuropäisch-großdeutscher Ausprägung; das traf vielfach auch für die Sozialgeschichtsschreibung zur Entwicklung des Bismarckreiches von Mitte der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts an zu, die Deutschland Ungleichzeitigkeiten des Gleichzeitigen, insbesondere Differenzen gegenüber dem „Westen" im Bereich der politischen Kultur vorhielt, ohne profund darzu-

2 Vgl. Franz Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, Bd. 1 : Die Grundlagen, Freiburg i.Br. 1929; Bd. 2: Monarchie und Volkssouveränität, Freiburg i.Br. 1933; Bd. 3: Erfahrungswissenschaften und Technik, Freiburg i.Br. 1934; Bd. 4: Die religiösen Kräfte, Freiburg i.Br. 1937 (zitiert nach der Taschenbuchausgabe München 1987). 3 Insofern ist heute naturgemäß nicht nur die deutschnationale und später mehr oder weniger nationalsozialistisch instrumentalisierte Historiographie zum „deutschen" Mittelalter gänzlich kompromittiert; auch Nachkriegsforschungen zu sehr frühen Nationsbildungen bedürfen einer zumindest kritischen Beleuchtung. Vgl. Helmut Beumann/Werner Schröder (Hrsg.), Aspekte der Nationenbildung im Mittelalter. Ergebnisse der Marburger Rundgespräche 1972-1975, Sigmaringen 1978.

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tun, ob das hier gezeichnete Bild vom Westen als Idealtypus bei tatsächlich vergleichenden Untersuchungen standhalten konnte.4 Einen Beitrag zur notwendigen Differenzierung hat kürzlich Peter Blickle5 vorgelegt. Blickle konzentriert sich auf das Ringen vor allem der Landbevölkerung in den deutschsprachigen Regionen um die Befreiung von jener Unmündigkeit, die in der Leibeigenschaft wie ähnlich gelagerten Rechtsformen begründet gewesen sei. Der angestrebte Durchbruch zu eigentumsrechtlicher (Grund und Boden) und persönlicher (vor allem selbstverantwortliche Wahl des Ehepartners) Freiheit habe am Ende wesentlich den qualitativen Umschlag in Grundrechtskataloge, bis hin zum Grundgesetz von 1949, und zuvor schon in neue konstitutionelle Grundlagen staatlichen Lebens, vor allem in den wenige Jahre nach dem Wiener Kongreß verabschiedeten Verfassungen Badens, Württembergs und Bayerns, gebracht. Die damit verbundene These einer weitgehend autonomen Entwicklung gegenüberfranzösischer wie zuvor amerikanischer Revolution und den sie tragenden Entwicklungen ist zwar auch in den Augen des Verfassers dieses Beitrages mindestens ein gutes Stück überzogen. Gleichwohl machen auch die geltend gemachten Befunde eindrucksvoll deutlich, wie wenig plakative Geschichtsbilder oft der Differenziertheit historischer Prozesse entsprechen. Eine umfassende Reflexion scheint schließlich auch vielfach für die bisherige zeitgeschichtliche Aufarbeitung des Kalten Krieges auf deutschem Boden, der Wiedervereinigungsphase 1989/90 und der sich daran bis in die Gegenwart anschließenden Phase des Zusammenwachsens beider Teile Deutschlands notwendig: Daß bei Anfang wie Ende des Kalten Krieges Deutschland wohl territorial betroffene Kernzone war, nicht aber der logische Nukleus, an dem sich die Konfliktstruktur aufwarf wie verebbte, wird gerade von besonders „kritischen" Beobachtern vielfach nicht gesehen.6 Dabei gilt es im Blick auf die 4 Vgl. exemplarisch Hans-Ulrich Wehler, Das deutsche Kaiserreich 1871-1918, Göttingen 1973. 5 Peter Blickle, Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten. Eine Geschichte der Freiheit in Deutschland, München 2003, insbesondere S. 298ff. 6 Der Kalte Krieg war zunächst ordnungs- und machtpolitischer Konflikt zweier antagonistischer Systeme, die am Ende des Zweiten Weltkrieges, weil sich die jeweiligen Erwartungen hinsichtlich des künftigen Verhaltens nicht bewahrheiteten, überall dort in Konfrontation zueinander gerieten, wo die strategischen Schlußpositionen des Krieges solche Dispositionen geschaffen hatten. Die Sowjetunion hatte nach dem Muster der zwanziger Jahre den Rückzug der USA vom europäischen Kontinent erwartet, die USA die Einfügung einer geschwächten und insgesamt moderater gewordenen Sowjetunion in eine gemeinsame friedlich-kooperative Aufbauordnung. Beide Erwartungen trogen. Deutschland geriet nun wegen seines Potentials und seiner geographischen Lage in den Brennpunkt dieser Auseinandersetzung, zudem hatte es durch die verbrecherische Herbeiführung des Zweiten Weltkrieges den Kalten Krieg sozusagen mit aufgeladen; es war

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Nachkriegsgeschichte nicht nur, gewissermaßen kalte strukturelle Faktoren angemessen ins Kalkül zu beziehen, sondern ebenso auf eine historischmoralische Weise, mag der Begriff auch sehr problematisch sein, die Leistung europäischer Faktoren für das Ende der Zweistaatlichkeit in Deutschland 1990 zu würdigen: Benannt seien die Rolle der oft so einsamen, sich von den Eliten im Westen verlassen fühlenden Dissidenten in Osteuropa, die spirituelle Durchschlagskraft von Papst Johannes Paul II. und die revolutionären Entwicklungen in Polen und Ungarn. Bei letzteren wiederholte sich im übrigen, mit allerdings nunmehr positivem Ausgang, jener enge Zusammenhang von revolutionärem Aufbegehren an verschiedenen Orten, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schon einmal die Situation in Mitteleuropa gekennzeichnet hatte: polnischer Aufstand 1830 gegen die zaristische Despotie in St. Petersburg, das sich anschließende Hambacher Freiheitsfest unter polnischer Beteiligung in der bayerischen Pfalz 1832, Unterliegen des ungarischen Freiheitskampfes 1849, fast parallel zum Unterliegen der deutschen Revolution in Baden und auf den Dresdner Barrikaden, gegen österreichische und russische Truppen - diese Ereigniskette beleuchtet auf ganz eigene Weise die mitteleuropäische Bühne vor eineinhalb Jahrhunderten. Sie wirkt zugleich wie ein Vorspiel zu dem europäischen Jahrzehnt, das 1980 mit den Streiks auf der Danziger Leninwerft begann, mit der Öffnung des Eisernen Vorhanges durch Ungarn an der Grenze zu Österreich am 11. September 1989 seinem dramatischen Höhepunkt zustrebte und im Tanz auf der Berliner Mauer am 9. November 1989 kulminierte, bevor im Folgejahr 1990 die deutsche Einheit wiederhergestellt und der Kalte Krieg offiziell für beendet erklärt wurde. Wenn Differenzen Europa ausmachen, dann nicht zuletzt die Differenzen zwischen seinen nationalen Einheiten. Deutschland geht dabei als Unikat den Weg von den reichsunmittelbaren Territorien des Alten Reiches zur Bundesstaatlichkeit des Grundgesetzes seit 1949. Hier haben wir es mit einer zentralen Struktur zu tun, die in jeweils abgewandelter Form die verschiedensten Zäsuren der nationalen und europäischen Geschichte übersteht. In Verbindung mit der für Deutschland wesentlichen konfessionellen Spaltung ergeben sich so politisch und kulturell vielfache Muster von Wettbewerb und Kooperation wie von komplexen Wirkzusammenhängen, um Kräfte auszugleichen und in einem Mehrebenensystem Entscheidungen herbeizuführen. Eine aus so vielen Partikeln bestehende Gesamtthematik wie die hier skizzierte strebt nicht in das Bild einer stringenten, in sich runden Darstellung. In aber für den Kalten Krieg nicht der logische Urgrund. Vgl. zum gegenwärtigen Diskussionsstand Vojtech Mastny/Gnstav Schmidt, Konfrontationsmuster des Kalten Krieges 1946-1956, im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, hrsg. v. Norbert Wiggershaus und Dieter Krüger, München 2003, S. 66ff.

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den folgenden Teilen werden vielfach Zusammenhänge hergestellt und Brücken geschlagen, die willkürlich anmuten mögen. Methodisch sicherer Grund wird zweifellos vielfach verlassen. Gleichwohl beansprucht die Analyse für sich Sinn: Zum einen soll der Lichtkegel für den Betrachter derart auf die Gegenstände gerichtet werden, daß letztere auch in ungewohnten Bezügen zueinander erscheinen. Zum anderen geht es darum, auf eine ganz grundsätzliche Weise eine „frag-würdige" Perspektive einzunehmen.

2. Züge des Alten Reiches 200 Jahre nach dem Reichsdeputationshauptschluß von 1803 war das Jahr 2003 ein Jahr großer Rückbesinnungen auf Gewinne, durchaus aber auch auf Verluste, die die erste große Flurbereinigung der deutsch-mitteleuropäischen Geschichte mit sich gebracht hatte.7 Allein die Tatsache, daß das gegen Ende des 18. Jahrhunderts immer mehr in Agonie versinkende Alte Reich sich aus einem bunten Mosaik hunderter reichsunmittelbarer Herrschaften zusammensetzte, läßt auf ein außerordentliches Maß an Differenzierung und Pluralität schließen.8 Ein Weiteres kam hinzu, das zuverlässig verhinderte, daß das deutschmitteleuropäische Reich zu einer insbesondere nach außen offensiv handlungsfähigen, in Europa dominanten Größe werden konnte: der Umstand, daß es sozusagen hydraulisch auf mehreren, Koordination voraussetzenden und zur Dämpfung jeglicher politischer Bewegung führenden Säulen respektive Puffern ruhte. Die Formel von „Kaiser und Reich" brachte dies zwar ansatzweise zum 7

Vgl. die Ausstellungen und die damit verbundenen Kataloge Bayern ohne Klöster? Die Säkularisation 1802/03 und die Folgen. Ein Ausstellungskatalog des Bayerischen Hauptstaatsarchivs, München 2003. Alte Klöster. Neue Herren. Die Säkularisation im deutschen Südwesten 1803 (Landesausstellung Baden-Württemberg in Bad Schussenried). Ausstellung und Ausstellungskatalog in drei Bänden, die auch die Mediatisierung der Reichsstädte und des bis dahin reichsunmittelbaren Adels im betreffenden Raum dartun, Ostfildern 2003. Insbesondere für die konstitutive Zwischenzeit nach dem Alten Reich und vor dem Deutschen Bund, oft verdrängt, weil napoleonisch dominiert (Rheinbund) und somit vielfach kontaminiert: Wende in Europas Mitte. Vom feudalen zum bürgerlichen Zeitalter, Begleitband zur einschlägigen Ausstellung in Regensburg, die sich insbesondere mit dem Wirken des Fürstprimas von Dalberg befaßte, Regensburg 2003. 8 Nach der „Reichsmatrikel" von 1521 gab es als Reichsstände sieben Kurfürsten (im 18. Jahrhundert zeitweise neun, dann acht), bis es in den letzten Jahren des Reiches nach 1803 zu einer Art Kurfürsteninflation kam, 50 Fürsterzbischöfe und Fürstbischöfe, 24 weltliche Fürsten, deren Zahl im weiteren Verlauf deutlich anstieg, weil die habsburgischen Kaiser loyale, vornehmlich katholische Adelsherrschaften zu politisch zählenden Verbündeten aufwerten wollten, 83 Reichsäbte, Reichspröbste und Ordensmeister, 145 Grafen und Herren, 45 Freie und Reichsstädte sowie eine erhebliche Zahl von Reichsrittern.

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Ausdruck, nicht jedoch die weiteren, mit dieser Struktur verbundenen Komplexitäten. Unter dem Begriff „Reich" sind all die Einrichtungen und Herrschaften (Reichsstände) gemeint, die auf der Gesamtebene wie auf der regionalen Ebene der Reichskreise9 agierten, über den Reichstag an der Gesamtpolitik mitwirkten, hier entscheidungsbefugt waren, Kombinationen eingingen, der kaiserlichen Politik vielfach den Weg verlegten und eine Unitarisierung verhinderten. Weiter muß man auf die Duopolverfassung des Reiches aufmerksam machen: Den beiden Brennpunkten einer Ellipse vergleichbar gab es im Alten Reich, nachdem das Haus Österreich (Habsburg) nahezu durchgängig die Kaiserwürde innehatte, im Grunde zwei Zentren administrativer Führung: Wien als Ort kaiserlicher Politik, Mainz als Sitz jenes Erzbischofes, der das Amt des Reichserzkanzlers innehatte und diese, die Reichsstände und ihre Aktivitäten koordinierende Funktion in einer Rolle quasi-republikanischer Autonomie gegenüber dem Kaiser ausübte. Obwohl etwa die politischen Ambitionen der Mainzer Reichserzkanzler aus der Familie Schönborn zwischen Frankreich und Habsburg10 wegen eigener faktischer Schwäche im wesentlichen fehlschlugen bzw. fehlschlagen mußten, verweisen sie ihrerseits auf eine weitere Spezialität des Alten Reiches, die dann im 18. Jahrhundert immer größere Bedeutung gewinnen sollte: auf die wachsende Diskrepanz zwischen der formalen und der politischen Realverfassung des Reiches. Für das Reich der bedeutsamste Faktor war naturgemäß die Entwicklung Brandenburg-Preußens zur fünften europäischen Großmacht in der Regierungszeit Friedrichs II. (1740 bis 1786), territorial abgesichert durch die Gewinne Schlesiens und im Wege der ersten polnischen Teilung 1772 auch polnischer Territorien (Westpreußen). Die machtpolitische Verbriefung dieses Aufstieges erfolgte durch den Hubertusburger Frieden von 1763, der den Siebenjährigen Krieg beendete, in dem Preußen sich gegen Frankreich, Österreich und über lange Strecken Rußland behauptet und damit, einer ungemein blutigen Staatsräson gehorchend, sozusagen sein Meisterstück als europäische Großmacht abgeliefert hatte. Freilich: Dieser Aufstieg einer zweiten deutsch-europäischen Großmacht setzte nicht schlagartig und unversehens erst Mitte des 18. Jahrhunderts ein. Schon ab Mitte bzw. Ende des 17. Jahrhunderts war das eigentlich

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Beispielhaft vgl. Rudolf Endres, Der Fränkische Reichskreis, Augsburg 2003. Herausragend war diese Rolle der Schönborns etwa im Zeitraum der ersten zwei Generationen nach Ende des Dreißigjähren Krieges, als die Familie mit Johann Philipp von 1647 bis 1673 und Lothar Franz von Schönborn von 1695 bis 1729 das Amt des Reichserzkanzlers innehatte, mit dem 1658 gegründeten sogenannten „ersten" Rheinbund sogar profiliert europäische Politik zu machen und damit zwischen dem habsburgischen Kaiserhaus und den französischen Bourbonen eine Art drittes Gewicht herzustellen suchte. Vgl. Peter Claus Hartmann (Hrsg.), Die Mainzer Kurfürsten des Hauses Schönborn als Reichserzkanzler und Landesherren, Frankfurt a.M. 2002. 10

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sehr viel strukturstärkere und durch Rohstoffe bevorzugte andere große deutsche Territorium östlich der alten rheinisch-süddeutschen Kernzone des mittelalterlichen Reiches, nämlich das wettinische Sachsen, sukzessive von Brandenburg-Preußen überholt worden.11 Hier zeigte sich im übrigen einmal mehr, daß nicht nur auf lange Fristen angelegte strukturelle Prozesse eine Rolle spielen, sondern eben auch punktuelle Entwicklungen, deren nachteilige Folgen sich vielfach erst im nachhinein erweisen: Nicht nur wirkte sich das buchstäbliche Großhungern Brandenburg-Preußens und in Verbindung damit der Aufbau einer weit überproportionierten Armee - jedenfalls für die Bedürfhisse eines Mittelstaates - aus: 1697 wechselte der sächsische Kurfürst Friedrich August I. die Konfession und trat zum katholischen Glauben über. Gewiß hatte es bereits seit langem eine Tradition der sächsischen Politik gegeben, sich trotz des konfessionellen Gegensatzes in einem relativ kaisertreuen Fahrwasser zu bewegen. Der Schritt des Konfessionswechsels war durch die Wahl des Kurfürsten zum polnischen König August II. erzwungen bzw. motiviert, als der er am 27. Juli 1697 die für diese Stellung notwendigen Eide leistete. Zwar hatte Polen, damals einer der geographisch größten Staaten Europas, für nun zwei Generationen, bis 1763, sächsische Könige, aber die Folgen für die sächsische Stellung im Reich waren doch eher negativ: Obwohl Sachsen realiter das Direktorium im „Corpus Evangelicorum" auf dem Reichstag behielt, war eine Gewichtsverschiebung im evangelischen Lager zu seinen Ungunsten gleichwohl unvermeidlich. Sachsen und Bayern sind wohl jene beiden Territorien, deren Dynastien sich immer wieder durch Ambitionen für eine Großmachtbildung bestimmen ließen, es am Ende gegenüber Brandenburg-Preußen jedoch nicht schafften. Gleichwohl waren sie in der Realverfassung Faktoren der deutsch-europäischen Geschichte von Gewicht. An diesem Punkt wird eines der zentralen Spezifika der Reichsordnung offenkundig: Politische Macht und Verfassungsrang fielen zwar vielfach auseinander, und doch verhielt es sich eben nicht so, daß die politisch Mächtigen die politisch zumindest relativ Ohnmächtigen, insbesondere die geistlichen Fürstentümer, im Laufe der Zeit usurpierten und überwältigten. Insofern hat das Reich, hier durchaus ein Unikat, als interne wie weitgehend externe Rechts- und Friedensordnung über Jahrhunderte gehalten, bis schließlich der Einschnitt des napoleonischen Zeitalters für völlig neue Existenzbedingungen sorgte. Vor allem Brandenburg-Preußen, das durch den Überfall auf Sachsen bei Beginn des Siebenjährigen Krieges 1756 zum unbezweifelbaren Reichsfeind wurde, in die Reichsacht geriet und sich politisch eben doch behaupten konnte, scheint eine Ausnahme zu bilden, aber eben nur teilweise, denn die preußische Politik hat ihrerseits die Reichsordnung im Grundsatz nie in Frage gestellt, sich 11 Vgl. dazu Jochen Vötsch, Kursachsen, das Reich und der mitteldeutsche Raum zu Beginn des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. u.a. 2003.

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vielmehr sogar im Bayerischen Erbfolgekrieg zwei Jahrzehnte vor Ende des Alten Reiches als Anwalt der Reichsstände gegen habsburgische Dominanz- und Annexionsansprüche zu profilieren gesucht. Das Alte Reich mag, legt man Modernisierungskriterien an, ein über weite Strecken verstaubtes und, was politische Operationalisierbarkeit anlangt, paralysiertes Bild abgeben. Freilich bietet es zugleich auch ein Bild von Vielfalt, wie sie sich heute noch unter republikanischen Umständen in denfrüheren mittel- und süddeutschen Residenzstädten zeigt, und von komplexer Gewaltenverschränkung und -kontrolle. Vor allem zeigt es das Bild weithin wirksamer Bestandssicherung der Kleinen gegenüber den Großen, im Blick auf lange Strecken europäischer Geschichte kein selbstverständliches Bild.

3. Wege nach Westen? Im Klappentext zu Band 1 von Heinrich August Winklers vielfach als repräsentativ angegebener deutschen Geschichte der letzten beiden Jahrhunderte heißt es programmatisch: „Mit dem universalen Anspruch des Heiligen Römischen Reiches hängt zusammen, daß Deutschland noch im 20. Jahrhundert sich nicht damit abfinden wollte, ein Nationalstaat wie andere zu sein."12 Nun kann es in der Tat schwerlich einen Zweifel daran geben, daß der großdeutsche Reichsgedanke nach der Niederlage Deutschlands wie Österreichs im Ersten Weltkrieg einen kräftigen Schub erfuhr, was umgekehrt zugleich bedeutet, daß das kleindeutsch-etatistische Moment, welches das Bismarckreich getragen hatte, zumindest partiell zurückgedrängt wurde.13 Wichtig ist auch, daß sich in dieser Zeit Kulturgeschichte und dies in durchaus ideologischer Absicht vielfach an die Stelle herkömmlicher Staatengeschichte, etwa in der Rankeschen Tradition, setzte.14 Der Bezugspunkt Volkstum an Stelle von Staat sollte Revisionsansprüchen vorarbeiten und wurde zur Ressource für spätere NS-Inanspruchnahmen. Trotz alldem kann es keinen Zweifel daran geben, daß Winkler mit seinem Diktum auf eine bedauerliche Weise kardinale Züge des Alten Rei12

Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, 1. Band: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, München 2000. 13 Für diese antibismarcksche Sicht aus der Zwischenkriegszeit geradezu exemplarisch Raimund Friedrich Kaindl, Österreich. Preußen. Deutschland. Deutsche Geschichte in großdeutscher Beleuchtung, Wien/Leipzig 1926. 14 Vgl. dazu, wenn auch insbesondere im Hinblick auf die Bewertung von Hans Rothfels umstritten, Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf im Osten, Göttingen 2000, mit den Darstellungen der Leipziger Stiftung für Volks- und Kulturbodenforschung (1926-1930) und insbesondere der Nordostdeutschen Forschungsgemeinschaft.

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ches, wie sie teilweise oben schon angedeutet wurden, verfehlt und in doppelter Weise irrt: Zum einen hebt er ganz auf den römischen Universaltraum des Alten Reiches in seinen Terminologien und in der Kontinuität seit Karl und Otto dem Großen im frühen Mittelalter ab. Mit dieser Kontinuität habe sich ein supranationaler Hegemonieanspruch in Europa verbunden, dessen Kontinuität bis in die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur verfolgt werden könne. Natürlich war das Alte Reich kein Nationalstaat, sondern in ambivalenter Weise zugleich mehr und zugleich weniger: mehr in seinen semantischen Traditionen, wie sie sich optisch faßbar in den in Wien zu besichtigenden Reichskleinodien niederschlagen, wie in seinem territorialen Umriß, was allerdings voraussetzt, daß man die Deutschen als eine Art Staatsvolk im modernen Sinne begreift - für sich bereits eine sehr problematische Prämisse; weniger im Blick auf innere Kohärenz, was aber nicht heißen muß, daß diese Konfiguration in der Mitte Europas der Staatlichkeit gänzlich entbehrt hätte. Was in dem zitierten Verdikt ferner ausgeblendet wird, sind Entwicklung und Status des Alten Reiches spätestens seit Beginn der frühen Neuzeit: Es war eben nicht nur in der politischen Realität, sondern auch im programmatischen Anspruch weithin keine offensive, sondern eine defensive Ordnung. Es stand für, insbesondere im europäischen Vergleich, friedlichen Konfliktaustrag, Rechtlichkeit und außerordentlich komplexe Regelsysteme, schon in der Vorstufe des späteren deutschen Föderalismus, für ein Mehrebenensystem aus Reich, Reichskreisen und Territorien. Aggressive Akte, ja nur Ambitionen, gingen seit Beginn derfrühen Neuzeit nie von diesem Reich aus. Gerade diese Zusammenhänge werden bei Winkler übergangen, sie ließen sich mit seiner hier zitierten These auch nicht vereinbaren. Zum anderen ist der fehlende europäische Vergleich ein Defizit. Universale, supranationale Ansprüche sind ja durchaus keine deutsch-mitteleuropäische Spezialität. Wenn schon, dann muß man parallel diefranzösische Entwicklung hinzunehmen, die sich zunächst im karolingischen Erbe aus derselben weströmisch-germanischen Wurzel speiste wie die deutsche und sehr viel länger mit ihr in einem gemeinsamen Kontext verblieb, als dies diefrühere nationalstaatliche Historiographie angenommen hatte.15 Das in der Folge generierte französische Königtum, welches sich in einer spezifisch katholischen (Heilige bzw. allerchristlichste Könige) Tradition sah, tendierte nicht nur in der machtpolitischen Auseinandersetzung zwischen den Dynastien der Valois und später der Bourbonen mit den weitgehend Mitteleuropa und die iberische Halbinsel beherrschenden Habsburgern zu einem eigenen Hegemonialansatz; es behielt sich auch selbst mehrfach die Option auf den Kaisertitel, der insofern europäisch 15 Vgl. Carlrichard Köln/Wien 1995.

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blieb, offen und sah sich bei aller Entwicklung Frankreichs zum souveränen Nationalstaat zugleich in einer übergreifenden europäischen Rolle.16 So ist nicht zuletzt daran zu erinnern, daß bei der vor allem durch die finanziellen Leistungen der Fugger für die habsburgische Seite (Karl V.) 1519 entschiedenen Kaiserwahl auch derfranzösische König Franz I. als Kandidat zur Verfügung stand. Und schon bereits rund 250 Jahre zuvor, bei der Wahl Rudolf von Habsburgs 1273 zum römischen König, war sondiert worden, ob nicht der französische König Philipp III. für dieses Amt und die damit verbundenen Ambitionen in Frage komme.17 Zu sehen sind in diesem Kontext naturgemäß auch die Hegemonialansprüche Ludwigs XIV. an der Schwelle vom 17. zum 18. Jahrhundert. Paradox und zugleich kennzeichnend ist vor diesem Hintergrund, daß der erste wirkliche französische Kaiser, Napoleon I., nicht nur Kreatur einer revolutionären Epoche war, sondern auch den hier nur kurz skizzierten Anspruch durch die Errichtung eines Kaisertums realisierte, das zum einen die ideologisch aufgeladene französische Staatlichkeit in stark erweiterten territorialen Grenzen umfaßte, zum anderen aber auch und vor allem die Hegemonie über vielerlei monarchische Systeme in Deutschland, Italien und Spanien verkörperte. Insofern ergibt sich in der Tat ein Bild, das den Vergleich mit den Reichsbildungen Karls und Ottos des Großen provoziert. Ein Weiteres kommt hinzu: In Deutschland war zwar das Alte Reich durch die Niederlegung der Kaiserkrone im Jahre 1806 erloschen. Fast zeitgleich war aber mit dem Rheinbund und dessen Protektor Napoleon eine neue Formation der vor allem im Süden verbliebenen deutschen Territorien entstanden. Die hier vorgesehenen, nie tatsächlich wirkungsmächtig gewordenen politischen Strukturen zeigten wenigstens ansatzweise manches Bild der im Heiligen Römischen Reich untergegangenen Ordnung, und sie verwiesen zugleich auf die 1815 durch den Wiener Kongreß eingerichtete Konföderation des Deutschen Bundes. Unter freilich völlig verschobenen machtpolitischen Verhältnissen mochte man in den Funktionen Napoleons wie des Fürstprimas und vormaligen Reichserzkanzlers Carl von Dalberg die Fortsetzung der alten Struktur von Kaiser und Reich ausfrüheren Zeiten sehen können. Die Wirklichkeit war zwar nicht nur wegen derfranzösischen Hegemonie, sondern auch wegen des Souveränitätsanspruches der Rheinbundmitglieder gegenüber den nie wirklich ins Leben getretenen Rheinbundinstitutionen eine andere; die Tatsache

16 Jean Meyer, Frankreich im Zeitalter des Absolutismus 1515 bis 1789. Geschichte Frankreichs Bd. 3, Stuttgart 1990. 17 Vgl. Thomas Zotz, Rudolf von Habsburg (1273-1291), in: Bernd Schneidmüller/Stefan Weinfurter (Hrsg.), Die deutschen Herrscher des Mittelalters. Historische Portraits von Heinrich I. bis Maximilian I. (919-1519), München 2003, S. 340-359, hier S. 341.

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hingegen, daß man nicht ohne Grund ein derartiges Schema skizzieren kann, verweist auf die lange wirkende begriffliche Prägekraft vormaliger Strukturen. 18 Zwar sind die deutsche und diefranzösische Geschichte wie auch die deutsche und die italienische Seite mit gemeinsamen mittelalterlichen Wurzeln auf eine spezifische Weise miteinander verwoben; gleichwohl sei auch auf die traditionellen russischen Ansprüche auf eine religiös-konfessionell bzw. ideologisch unterfütterte Reichsbildung, zunächst mit der Formel vom Dritten Rom, verwiesen. Auch im Blick auf eine gesamtrussische Geschichte wäre nach der Möglichkeit von Kontinuitäten über 1917 hinweg zufragen. Dabei ginge es dann in erster Linie um die Herausarbeitung eines in weiten Zügen antiwestlichmessianischen Bildes - ob in der Zeit der Zaren Alexander I. und Nikolaus I., die für die Heilige Allianz und die Niederwerfung der Revolution 1848/49 in Europa stehen, ob in der Zeit des kommunistisch-bolschewistischen Imperialanspruches. Gehen wir das Risiko ein, noch eine ganz andere historiographische Seite in Position zu Heinrich August Winklers Diktum zu bringen. Der DDR-Historiker und Bismarck-Biograph Ernst Engelberg schreibt zur innerdeutschen Konstellation zwischen dem Ende des Deutschen Bundes 1866 und der Reichsgründung 1871: „Die schwäbischen Demokraten sahen in der bismarckschen Revolution von oben fast nur die Militarisierung, aber nicht jene historische Vernunft, die mit der Schaffung des Norddeutschen Bundes die Kleinstaaterei verringerte und mit der liberalen Wirtschaftsgesetzgebung die [...] Umgestaltung voranbrachte." 19 Historischer Hintergrund waren die Ergebnisse der Wahlen zum „Zollparlament" 1868, die für Bismarck wie für die nationalliberal-preußische Seite insofern enttäuschend ausgingen, als sich in Südwestdeutschland die liberaldemokratische, in Bayern die katholisch-konservativ-partikularistische Seite durchsetzte, jeweils gemäß der Parole, eine Verpreußung Deutschlands bedeute eine Entwicklung nach den Grundsätzen „Steuern zahlen, Maul halten, Soldat sein". Engelbergs Formulierung, sozusagen eine Fusion von marxistischhegelianischem Fortschrittsdenken und kleindeutscher Preußengloriole, läßt sich durchaus in Parallele zu Winklers negativer Fixierung auf einen vormodernen, ab 1919 wieder verstärkt wirkungsmächtig gewordenen Reichsgedanken interpretieren. Offenkundig leitet in beiden Fällen ein relativ enges Muster die 18 Zum Rheinbund vgl. Konrad M. Färber, Kaiser und Reichskanzler. Carl von Dalberg und Napoleon, Regensburg 1994, insbesondere S. 75ff. (Dalberg, Napoleon und die römisch-deutsche Kaiserkrone) und S. lOOff. (Zusammenhang von Reich und Rheinbund). 19 Ernst Engelberg, Bismarck. Vom Urpreußen zum Reichsgründer, Berlin 1985, S. 690. Zur Rolle Engelbergs in der DDR-Historiographie vgl. u.a. Martin Sabrow, Das Diktat des Konsenses. Geschichtswissenschaft in der DDR 1949-1969, München 2001, S. 77ff.

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historische Deutung, die Fixierung auf ein de facto, wenn auch nicht rhetorisch weitgehend uneuropäisches, kleindeutsch-preußisches Geschichtsbild, mag dies auch vordergründig Füllungen erfahren, die zumindest auf den ersten Blick antipreußisch anmuten: Naturgemäß sind Engelberg und Winkler auf je eigene Weise Antipoden des militaristischen Obrigkeitsstaates. Winkler identifiziert sich mit dem demokratischen Nationalstaat kleindeutscher Prägung, politisch in der Orientierung eines „rechten" Sozialdemokraten, und er interpretiert die heutige Bundesrepublik weitgehend als die europäisierte Fortführung dieses 1930 bis 1933 (Zeit der Präsidialkabinette unter weitgehender Ausschaltung des Parlaments) gescheiterten Staates. In dieser Form sei Deutschland nationalstaatlich seit 1989/90 im Westen angekommen, wobei der Westen, ohne daß dies in einem wirklichen europäischen Vergleich ausgeführt würde, wohl weitgehend als eine idealtypisiertefranzösische und britische Entwicklung firmiert. Bei Engelberg finden wir eine eher subtile, allerdings zwischen den Zeilen deutliche Bewunderung der effizienten preußischen Militärmonarchie, daneben aber auch den klassischen marxistischen Geschichtsfahrplan, für den dieses so relativ fortschrittliche System einen immerhin notwendigen Zwischenschritt dargestellt habe. Im Hintergrund schwingt zugleich die partielle Preußenrehabilitierung der späten DDR-Historiographie mit, die manches mit traditionellem deutschen Etatismus zu tun gehabt haben mag: In dieser Linie wären Brandenburg-Preußen und die DDR gleichermaßen die durch enorme kollektiv-staatliche Anstrengungen aufgestiegenen ärmeren Brüder im deutschen Nordosten, verglichen mit den durch die politische Geographie und Rohstoffe begünstigten Zonen im deutschen Westen. Preußen als großgehungerte fünfte europäische Großmacht und die DDR im weltwirtschaftlichen Vergleich als - angeblich - zehntgrößte Industrienation (wie bis 1989 gerne kolportiert), Preußen im steten Wettbewerb mit den an sich viel potenteren Großmächten Österreich und Frankreich, die DDR als die von der Bundesrepublik bis zum Mauerbau 1961 systematisch ausgezehrte ärmere deutsche Schwester, beide zugleich als Systeme, in denen kollektiv gedacht und für das Kollektiv gearbeitet wurde. Bei näherem Hinsehen ergibt sich immer mehr Stoff für derlei Vergleiche. Aus unterschiedlichen Richtungen kommend, verkennen bzw. vernachlässigen Winkler wie Engelberg die ganz anderen Hintergründe, Wurzeln und Kontinuitäten deutsch-europäischer Geschichte: die multipolare mit seit dem Mittelalter ganz verschiedenen Zonen politischer Schwerpunktbildung, ohne daß Deutschland sich eben auf eine Metropole hin orientiert hätte: Rheinland, Franken, (Nieder-)Sachsen, Schwaben, Österreich, im Rahmen des Heiligen Römischen Reiches vor allem während des 14. Jahrhunderts auch Böhmen, Sachsen und Brandenburg stehen für diese Multipolarität. Das zweite Moment ist das bibzw. - unter Hinzunahme der Reformierten - trikonfessionelle als Spezifikum deutscher Geschichte, das nicht nur im Wettbewerb zu enormen baulichen und intellektuellen Anstrengungen inspirierte, sondern auch, nach der Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges, zu einer Kultur des friedlichen Konfliktaustrages

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führte, die in dieser Form weder Frankreich noch Spanien oder England, wo jeweils eine Konfession vollständig obsiegt hatte, auszuprägen vermochten. Ein drittes Element ist das schon genannte innerdeutsche Mehrebenensystem, welches über eine Reihe von Entwicklungen in den bundesrepublikanischen Föderalismus seit 1949 -mündete.20 Wichtig ist die aus dem Alten Reich herrührende, bis in die Gegenwart reichende, in der aktuellen Tagespolitik vielfach kritisierte Tradition der Mitsprache der zweiten Ebene an der Politik des Gesamtstaates, jeweils vom Alten Reich über den Rheinbund, den Deutschen Bund, das Bismarckreich und die Weimarer Republik zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland konstitutiv verbrieft. Nimmt man all diese Faktoren, dann ergibt sich ein prägnantes Bild deutsch-mitteleuropäischer Eigenheiten, welche von der modernen Zeitgeschichtsforschung vielfach verkannt, ausgeblendet oder ignoriert wurden. Erstaunlicherweise scheinen sich auch die Einwände, die Ulrich Herbert gegen den jüngsten, im Herbst 2003 erschienenen Band von Hans-Ulrich Wehlers „Deutscher Gesellschaftsgeschichte" vorbringt, auf vergleichbare Defizite bei der Wahrnehmung und Berücksichtigung unterschiedlicher wie gegenläufiger Entwicklungen zu richten: „Insgesamt erweist sich die Überzeugungskraft von [...] Gesamtinterpretationen als begrenzt. Um der Geschichte gerecht zu werden, bedarf es eher einer vielfältigen, auch Widersprüche und Überlagerungen zulassenden Mehrzahl von konkurrierenden Erklärungsansätzen. Der bei deutschen Historikern der Generation Wehlers besonders ausgeprägte Drang zur Gesamtdarstellung und -erklärung der deutschen Geschichte ist vielmehr selbst zu historisieren. Er zeugt von dem Bedürfiiis, die deutsche Entwicklung der vergangenen 200 Jahre als zwar problematisch, ja katastrophal, aber doch in sich kohärent und entschlüsselbar zu zeichnen."21

20 An dieser Stelle sei darauf verwiesen, daß selbst der unitarische Staat der Weimarer Republik bei näherem Hinsehen viel stärkere föderale Elemente und ein, jedenfalls in „Normalzeiten", ausgeprägteres Mitwirken der Länder auf der Reichsebene in Gestalt des Reichsrates enthielt als weithin angenommen. Vgl. dazu Heiko Holste, Der deutsche Bundesstaat im Wandel (1867 bis 1933), Berlin 2002. Der Autor weist nach, daß die Weimarer Republik, sieht man von der Schlußphase der Präsidialkabinette 1930 bis 1933 ab, mehr Mitsprache der Länderebene an der Politik des Reichs kannte, als landläufig kolportiert wird. Insbesondere habe das Zusammenspiel der Länderbürokratien im Reichsrat erhebliche Bedeutung gehabt und das nach der „Papierform" nur suspensive Veto des Reichsrates habe faktisch großes Gewicht besessen, da der Reichstag einen Einspruch der Ländervertretung gegen ein Gesetz nur mit Zweidrittelmehrheit überstimmen konnte - bei den stark fragmentierten nationalen Parlamenten der Weimarer Republik eine außerordentlich hohe Hürde. 21 Ulrich Herbert, Wer hat Angst vorm starken Mann? Hans-Ulrich Wehler erzählt die deutsche Geschichte zwischen 1918 und 1945 und entdeckt eine Zauberformel, in: Süddeutsche Zeitung v. 6. Oktober 2003, S. 33, bezogen auf Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949, München 2003.

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Über die Gründe für die hier konstatierten Gewichtungen und Verengungen zu spekulieren, ist weitgehend müßig. Es wäre jedenfalls ein intellektuell sehr aufwendiges, ungewöhnliche Anstrengungen erforderndes und vielfach wohl als wenig attraktiv empfundenes Unterfangen, sich auf ganz unterschiedliche Wirkfaktoren und Kontinuitäten einzulassen, die von generalisierenden Bildern wegführen. Hinzu kommen die zentralen Belastungen der deutschen Zeitgeschichte, die Diktaturerfahrungen mit dem NS-Regime und der DDR, im Falle des Nationalsozialismus in der Dimension welthistorischer Verbrechen. Im eindrucksvollen Kontrast dazu sind schließlich vergebliche wie erfolgreiche Demokratisierungsanstrengungen zu sehen. Addiert man all diese spezifischen Voraussetzungen, dann ergibt sich für den Zeitraum der deutschen Geschichte ab 1871 bzw. ab 1918/19 eine derart dramatische Verkettung und Verdichtung der Umstände, der Ereignisse und der Verluste, daß in der Tat der Blick weiter zurück bzw. der Blick auf längere Kontinuitäten nachrangig erscheinen, ja in der Konsequenz verdunkelt werden mag. Allerdings ergeben sich so eben auch Einbußen, die dann ihrerseits die Konstruktion zureichender Geschichtsbilder erschweren bzw. gar nicht mehr zulassen. Das betrifft insbesondere jene Fokussierung auf das 19. Jahrhundert, die nur den großen Gesang von der legitimen und notwendigen preußisch-kleindeutschen Reichsgründung anstimmt.

4. Nationsentstehung „Die deutsche Geschichte kann als Nationalgeschichte zumindest bis 1866 nur aus einer weiten mitteleuropäischen Perspektive geschrieben werden. Denn ein großer Teil dessen, was damals den Zeitgenossen als Deutschland galt, gehörte eben zugleich der multinationalen Habsburgermonarche an. Wer die Nationsbildung in der deutschen Staatenwelt untersuchen will, muß deshalb immer auch die Nationsbildung in der Habsburgermonarche einbeziehen."22 Dieter Langewiesche macht dabei über den unmittelbaren Bezug auf die Habsburgermonarchie hinaus mit gutem Grund zugleich auf einen Umstand aufmerksam, den die Fixierung von Zeitgeschichte und Politikwissenschaft auf die innerdeutsche Systemauseinandersetzung nach 1945/49 sträflich hat in Vergessenheit geraten lassen: die Tatsache nämlich, daß Nation in Deutschland viel mit der Summe wie mit den Differenzen von Regionalgeschichten zu tun hat, die sich aus unterschiedlichen Erfahrungen, Bildern und auch von den jeweiligen Staaten vorgegebenen Leitbildern speisen und so ein heterogeneres Gesamtpanorama als jenes ideologisch präformierte, antagonistische Konfrontationsmuster

22 Dieter Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000, S. 176.

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ergeben, in dem sich die Bundesrepublik Deutschland und die DDR von 1949 bis 1989/90 gegenüberstanden. Dieses Konfrontationsmuster überlagerte eine Fülle an regionalen, konfessionellen und kulturellen Zwischentönen; es verhinderte wohl auch in hohem Maße, daß Verluste wie das Ausscheiden Österreichs aus Deutschland, nach dem dort gegebenen Selbstverständnis mittlerweile in hohem Maße auch aus dem kulturellen deutschen Nationskontext, als solche überhaupt wahrgenommen und begriffen wurden, mochten sie auch unabwendbar sein23. Insofern sollte, nachdem eine erste Phase dichter zeitgeschichtlicher Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit mehr als ein Jahrzehnt nach dem Untergang dieses Staates zu einer Fülle von punktuellen Resultaten geführt hat, der Blick stärker für andere Kontexte geöffnet werden. Zunächst sei ein Aspekt behandelt, der auch bei Langewiesche Erwähnung findet, nämlich die Frage nach den historischen Zusammenhängen von Nationsentstehungen in der deutsch-mitteleuropäischen Arena. Das unter zunächst positiven, nach 1945 eher negativen Vorzeichen tradierte Klischee ist schnell skizziert: Danach war, um es zu personifizieren, Napoleon der Schöpfer der deutschen Nation, und zwar in zweifacher Hinsicht: zum einen, wenn man ihn als Synonym für die durch die Französische Revolutionfreigesetzten Energien und das Ende des vormodernen, absolutistischen und ständischen Gehäuses nimmt, zum anderen durch seine Rolle als imperialer Usurpator, der eine sozusagen natürliche deutsche Abwehr- und Mobilisierungsreaktion provoziert habe. In solchen Bildern wird auf die preußische Entwicklung nach dem Kollaps des Staates 1806 verwiesen, auf den vergeblichen Aufstand des Majors Schill 1809 in Stralsund, den Übergang zur Allgemeinen Wehrpflicht, die Einrichtung von Landwehr- und Freiwilligenformationen, auf die Steinschen Reformen, die staatsbürgerliche Tugenden wachriefen, wobei die längere Hardenbergsche Reformzeit gerne ausgeblendet wird, schließlich auf solche nationale Heroen und Tugendwächter wie Feldmarschall Blücher und Königin Luise. Dieses zunächst deutschnationale, vor allem nach der Reichsgründung von 1871 im gesamten Bismarckreich kolportierte Bild - die Inanspruchnahme des Nationalsozialismus kulminierte gegen dessen Ende in dem Anfang 1945 uraufgeführten monumentalen Farbfilm „Kolberg", der die Abwehr einerfranzösischen Belagerung dieser pommerschen Stadt 1806/07 durch eine Art Volksgemeinschaft zeigte - kannn heute mit gutem Grund insofern als ideologisch bezeichnet werden, als es einen Strang der Entwicklung aus einem sehr komplexen Bild löste, überhöhte und für manipulative Zwecke benutzte.24 In solchen Bildern geht 23 Vgl. zuletzt Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 27. Oktober 2003, S. 2 („Umfrage: Österreicher distanzieren sich von Berlin"). 24 Zu dem Film „Kolberg" vgl. Boguslaw Drewniak, Der deutsche Film 1938 bis 1945. Ein Gesamtüberblick, Düsseldorf 1987; Klaus Kreimeier, Die Ufa-Story. Geschichte eines Filmkonzerns, München 1992, S. 409ff. - Zu Fürst Hardenberg, dem ei-

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vielfach verloren, daß das erste große Auflehnen gegen das napoleonische Empire, bereits mit Modernisierungs- und Mobilisierungsanstrengungen verbunden, 1809 aus Österreich kam - in der späteren nationaldeutschen Rezeption findet allenfalls der hier eingebettete Tiroler Aufstand gegen Bayern und Franzosen wirkliche Beachtung. Vor allem aber trugen große Teile des deutschsprachigen Gebietes in Mitteleuropa den Kampf gegen das napoleonische Frankreich kaum mit und wenn überhaupt, dann vielfach im Blick auf die Haltung des Staates, dem sie jeweils angehörten, weniger von einem nationalen Furor ergriffen. 25 Wenn die napoleonische Ära zwar für die Konstituierung einer deutschen Nation beträchtliche Bedeutung hatte, aber nicht die einzig wirksame Triebkraft darstellte, dann ist konsequenterweise zufragen, was hier vorher und was danach wirkte. Eine Reihe von Forschungen der letzten Jahre hat, unter Zuhilfenahme eines sehr breiten, teilweise literarischen Quellenmaterials, plausibel machen können, daß sich Nationsbildung in Deutschland in einem bereits modernen, also nicht mittelalterlichen Sinne seit Beginn der frühen Neuzeit, d.h. insbesondere seit der großen Krise des frühen 16. Jahrhunderts, beobachten läßt.26 Wer sich auf die einschlägigen Entwicklungen einläßt, macht zunächst eine überraschende textliche Entdeckung: Die zentrale Parole der revolutionären Ereignisse vom Herbst 1989 in der DDR „Wir sind das Volk", ab Ende November unter nationalen Vorzeichen zunehmend durch die Formulierung „Wir sind ein Volk" abgelöst, war keine sprachliche Neuschöpfung, sondern ist über 200 Jahgentlichen Akteur der Reformära in Preußen, Staatskanzler ab 1810, für eine schwarzweiß-rote spätere Hagiographie freilich weniger geeignet, da liberal, kosmopolitisch und preußenetatistisch, nicht deutschnational, vgl. Ingo Hermann, Hardenberg. Der Reformkanzler, Berlin 2003. 25 Eine eigene Untersuchung würde die Frage verdienen, inwiefern die Beteiligung des zaristischen Rußland, ohne die die militärischen Erfolge gegen Napoleon 1813/1814 schwerlich erzielbar gewesen wären, zwischen Bundesrepublik und DDR unterschiedlich gewichtet wurde. Bemerkenswert ist ferner, daß beide sich im Blick auf ihre Armeen, Bundeswehr und Nationale Volksarmee, auf das preußische Erbe von Scharnhorst und Gneisenau aus der Reformzeit bezogen, ohne doch je wirklich zu bedenken, daß es sich dabei nur um ein partikulares handeln konnte. 26

Vgl. insbesondere Dieter Langewiesche/Georg Schmid (Hrsg.), Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, München 2000; Jörg Echternkamp/Sven Oliver Müller (Hrsg.), Die Politik der Nation. Deutscher Nationalismus in Krieg und Krisen 1760 bis 1960, München 2002; Hans-Martin Blitz, Aus Liebe zum Vaterland. Die deutsche Nation im 18. Jahrhundert, Hamburg 2000; Jörg Echternkamp, Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (1770 bis 1840), Frankfurt a.M./New York 1998; Matthias Schnettger (Hrsg.), Imperium Romanum - Irreguläre Corpus - Teutscher Reichs-Staat. Das Alte Reich im Verständnis von Zeitgenossen und der Historiographie, Mainz 2002.

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re alt: Sie entstammt Friedrich Karl von Mosers, eines der wichtigsten Reichspublizisten, Schrift „Von dem deutschen Nationalgeist" (in zweiter Auflage 1766 in Frankfurt am Main erschienen). Historischer Ausgangspunkt ist die Zeit nach dem Hubertusburger Frieden von 1763, der den Siebenjährigen Krieg, das nach dem Dreißigjährigen Krieg tiefstgreifende militärische Geschehen auf deutschem Boden, beendet hatte. Der Siebenjährige Krieg war bereits ein Propagandakrieg gewesen. Dabei hatte die preußennahe Publizistik die Selbstinszenierung Friedrichs II. als erster Diener seines Staates kolportiert, ein preußisches Landesbewußtsein vertreten und insgesamt eine aufgeklärte nationalnorddeutsche Identität zu verbreiten gesucht. Dagegen bemühte nun Kaiser Joseph II. eine neue bewußtseinsmäßige Unterfütterung des Alten Reiches mit den Mitteln der Publizistik. Hier ist der Ort von Mosers Schrift: „Bereits im ersten Satz der Schrift, nach den apodiktischen ersten Worten, ,Wir sind ein Volk', erklärt Moser, daß Sprachnation, Kulturnation, Erinnerungsgemeinschaft und die auf das Reich bezogene Staatsnation nicht getrennt sind, sondern gemeinsam den identitätsverbürgenden Rahmen des deutschen Volkes bilden."27 Nimmt man die aktuellen Befunde zur Nationsbildung, vielfach in einer embryonalen undfragmentarischen Form, zusammen, dann ergibt sich für die unterschiedlichen historischen Konstellationen ein Zusammenspiel gleicher oder zumindest ähnlicher Faktoren: Es kommt erstens auf eine Bedrohung des Reichsganzen oder von Reichsteilen an, wobei das Gebot territorialer Unversehrtheit („Das Territorium als Fundament der Nation") überraschend früh eine erhebliche Rolle spielt.28 Zweitens kommt es auf ein politisch starkes Gehäuse an, drittens auf Mythologien, im 18. Jahrhundert vielfach literarischer Provenienz, und schließlich viertens auf die Existenz konkreter Bedrohungen. Nehmen wir den letzteren Punkt: Auf dem Regensburger Reichstag von 1471 wird angesichts der türkisch-osmanischen Gefahr erstmals die korrekte Begrifflichkeit „Heiliges Römisches Reich" um den Genitiv „teutscher Nation"29 ergänzt. Weitere solche gemeinschaftsbildende Bedrohungen des vormodernen Deutschland sind die osmanische Gefahr in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, kulminierend in der zweiten Belagerung Wiens 1683, das nahezu zeitgleiche Vordringen Frankreichs unter Ludwig XIV. gegen den Rhein, welches in besonderer Weise den „Reichspatriotismus" mobilisierte, und dann im Übergang zur Moderne Französische Revolution und napoleonisches Empire. Differenzierter ist ein solches 27 Wolfgang Burgdorf „Reichsnationalismus" gegen „Territorialnationalismus". Phasen der Intensivierung des nationalen Bewußtseins in Deutschland seit dem Siebenjährigen Krieg, in: Langewiesche/Schmid (Anm. 26), S. 157-189, hier S. 170. 28 Dieter Langewiesche, ,Nation', ,Nationalismus', »Nationalstaat' in der europäischen Geschichte seit dem Mittelalter - Versuch einer Bilanz, in: ders.lSchmid (Anm. 26), S. 19. 29 Ebd., S. 25.

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Konfliktszenario mit seinen Folgewirkungen freilich bei Ereignissen zu sehen, in denen Teile des Alten Reiches, vielfach konfessionsbedingt, gegeneinander standen, so in den Auseinandersetzungen (Schmalkaldischer Krieg 1546/47) vor dem Augsburger Religionsfrieden 1555, bei der Intervention des schwedischen Königs Gustav Adolf gegen die drohende katholisch-habsburgische Hegemonie in Mitteleuropa 1631 und dann insbesondere bei den preußisch-österreichischen Auseinandersetzungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, bei denen Preußen für sich in Anspruch nahm, der aufgeklärtere und modernere Staat zu sein. Bereits die publizistisch unterfütterte Zeit der Reformation gab Anlaß zu einer weit in die Population hineinreichenden politischen Identitätsbildung. „Wir" und „die anderen", das ließ sich übersetzen in die Kontrastierung von „teutscher libertät" und „spanischem Servitut" (spanisches Militärpotential unter Karl V. auf dem deutschen Kriegstheater mit despotischer Gesinnung), von römischer Fremdbestimmung gegenüber dem wahren, durch die Reformation neu freigelegten christlichen Glauben.30 Läßt man sich auf die Hypothese einer, wenigstens in Teilen durchaus modern anmutenden Nationsbildung vor der Zäsur der Französischen Revolution ein, so spielt dabei insbesondere auch die Literatur eine herausragende Rolle. Dabei stehen nationale und universale Elemente nebeneinander. Hans-Martin Blitz zeigt in seiner Studie „Aus Liebe zum Vaterland. Die deutsche Nation im 18. Jahrhundert", daß das Moment des Integrativen, die Nation als einen Bestandteil einer größeren Ordnung verstehend, wie das differente, sich in Antistereotypen ergehende Bild vorfindbar sind. Im Blick auf die deutsche Entwicklung nach der Französischen Revolution bleibt für diese Frühzeit offen, welches Moment das wirkungsmächtigere sein konnte. In jedem Fall waren damals bereits die kulturellen und politischen Erfahrungen mit demfranzösischen Nachbarn, Erfahrungen des Hegemonialen wie Erfahrungen der Bereicherung, von ausschlaggebender Bedeutung. Für das Antifranzösische stehen etwa in der Zeit des Siebenjährigen Krieges der publizistisch gefeierte Sieg Friedrichs des Großen am 5. November 1757 gegenfranzösische Truppen wie gegen die Reichsarmee bei Roßbach - Friedrich der Große hatte durch den Überfall auf Sachsen im Vorjahr den Reichskrieg gegen sich als Friedensstörer provoziert. 31 Die Jahre nach dem Siebenjährigen Krieg bringen dann geradezu eine „Konjunktur des

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Zu diesen Konfigurationen der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts vgl. Georg Schmidt , Teutsche Kriege. Nationale Deutungsmuster und integrative Wertvorstellungen im frühneuzeitlichen Reich, in: Langewiesche/Schmid (Anm. 26), S. 33-61, hier insbesondere S. 35f. 31 Zur Bedeutung des friderizianischen Sieges Blitz (Anm. 26), S. 205.

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Deutschen".32 Verwiesen sei auf Johann Gottfried Herders 1773 veröffentlichte Aufsatzsammlung unter dem Titel „Von deutscher Art und Kunst", die „Vaterländische" Dichtung Friedrich Gottlieb Klopstocks mit der Ode „Mein Vaterland" und dem Drama „Hermannsschlacht" aus dem Jahre 1768 und den literarischen „Sturm und Drang", über den der Historiker Otto Dann schreibt: „Diese Bewegung war mehr als Sturm und Drang, mehr als nur eine literarische Bewegung [...] Will man ihr Anliegen verstehen, sollte man [...] die Sachaussagen wie auch die gesellschaftlichen Anliegen jener Bewegung schärfer ins Auge fassen. Man würde dann schnell erkennen, daß damals in einer kritischen Auseinandersetzung mit den bestehenden Verhältnissen versucht wurde, das Gemeinsame und Charakteristische des eigenen Volkes neu zu erfassen, sich mit dessen Schicksal zu identifizieren und dessen künftige Entwicklung zur eigenen Sache zu machen. Es war in einem originären Sinne eine ,deutsche' Bewegung."33 Finden wir das antifranzösische Moment in der Zeit nach dem Siebenjährigen Krieg, in dem sich Preußen gegen diese ursprüngliche europäische Hegemonialmacht aus der Zeit Ludwigs XIV. durchgesetzt hatte, literarisch insbesondere in Lessings Stück „Minna vorn Barnhelm", so trat doch vor allem als frühes Nationalstück Goethes „Götz von Berlichingen" hervor. 34 Das Stück, von Goethe im November und Dezember 1771 geschrieben, ist nicht zuletzt auch Resultat von Johann Gottfried Herders Konzeption einer Volksliteratur. Das Drama jenes adeligen Unruhestifters in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, der politisch reaktionär und fortschrittlich zugleich war (reaktionär im Festhalten am Alten Reich und an persönlichen Antipathien gegenüber dem heraufkommenden Territorialstaat, fortschrittlich in seinem Erscheinungsbild als Individuum und als Anwalt der unteren Stände), spiegelt über zwei Jahrhunderte später im 18. Jahrhundert eine geradezu expressive Modernität Goethes, der in dieser Zeit alles andere als verzopft erscheint: „Das Interesse Goethes Anfang

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Ebd., S. 343. Ebd., S. 347. 34 Zwar weist Willi Jasper (Lessing. Aufklärer und Judenfreund, München 2001, S. 71) gerade Goethes Eindruck zurück, Minna von Barnhelm sei „von vollkommenem norddeutschen Nationalgehalt", wohl gegründet auf das Zusammenspiel von preußischem Offizier, sächsischer Adliger und dem klischeehaften, frivol gezeichneten französischen Leutnant Riccaut de la Marlinter. Aber es fällt schwer, in diesem Dreieck mit seinen Typen, mit einer positiv überhöhten preußisch-norddeutschen Ehre gegenüber gallischer Verworfenheit, nicht eben doch nationale Stereotype und nicht nur eine weitbürgerliche Komödienstruktur jenes Dichters zu sehen, aus dessen Feder ja auch „Nathan der Weise" hervorging. Zum politisch-historischen Ort von Goethes Götz von Berlichingen vgl. Wolfgang Burgdorf „Das Reich geht mich nichts an". Goethes Götz von Berlichingen, das Reich und die Reichspublizistik, in: Schnettger (Anm. 26), S. 27-52; ferner aus der jüngeren Goethebiographie Nicholas H. Boyle, Goethe. Der Dichter in seinerzeit, Bd. I: 1749-1790, München 1995, insbesondere S. 144ff. 33

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der 1770er Jahre an Geschichte, Sprache und Kunstformen des deutschen 16. Jahrhunderts, an dem Deutschland Luthers, Fausts und Dürers, des Paracelsus und Hans Sachs, an dem Deutschland des Bänkelliedes und des Holzschnitts, erklärt sich nicht allein aus seinem eigenen Suchen nach dem modernen Material der Literatur oder aus dem Einfluß von Herders Theorien, sondern auch aus dem Wunsch nach Identifikation mit und Heimkehr zu einer bürgerlichen deutschen Kulturtradition, die unabhängig wäre von höfischem Absolutismus und dessen geistigen Stützen, dem Pietismus und der Leibnizschen Aufklärung." 35 Was die politische Deutung des Götz von Berlichingen anlangt, so ist zumindest eine Linie denkbar, die die Reichskrise der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, gekennzeichnet durch gefährdete Position der Reichsritterschaft, Reformation, Türkengefahr und Bauernkrieg, in der Reichskrise nach dem Siebenjährigen Krieg spiegelt, als die realen politischen Verhältnisse, das Duopol von zwei deutsch-europäischen Großmächten, mehr und mehr die Konsistenz des Alten Reiches zu überwältigen drohten. Goethe hat diese Entwicklungen als aufmerksamer Zeitgenosse wie als Jurist am Reichskammergericht zu Wetzlar naturgemäß wahrgenommen, und dies hieße, daß er sich als Fürsprecher des Reiches und als Gegner territorial-etatistischer Egoismen zu erkennen gibt.36 Gleichzeitig werden Brüche der politischen Ordnung erkennbar; es stehen einander nicht plausible Konzepte gegenüber, und es agieren tragische Individuen im literarischen Sinne. Wolfgang Burgdorf zitiert Herder: „Berlichingen ist ein deutsches Stück, groß und unregelmäßig, wie das deutsche Reich ist, aber voll von Charakteren, von Kraft und Bewegungen."37 Insofern ist das Stück zugleich durch metapolitische Krisen von Existenzen geprägt. Es mag eine Zufälligkeit sein, aber es verdient doch Erwähnung, daß Goethes späterer Landesherr, Herzog Carl August von Sachsen-Weimar, fast 20 Jahre danach, am Vorabend der Französischen Revolution, in einem Brief vom 30. März 1788 die Motive zusammenfaßt, die ihn und andere kleinstaatliche Fürsten zu einer vor allem gegenüber Preußen vergeblichen Kooperation veranlaßt hatten: „Man hoffte [...], daß mit diesem Kranze die deutsche Union sich als ein wahres wirkliches Corps zur Aufrechterhaltung deutscher Freiheit, Sitten und Gesetze zuletzt schmücken sollte." Es sei darum gegangen, „daß der Nationalgeist in unserem Vaterlande erwecket werden könnte."38 Geltend gemacht wird von der Forschung, daß hier bis in die Begrifflichkeit hinein die Einflüsse 35

Ebd., S. 143. Eine derartige Schlußfolgerung scheint sich aus dem Werk von Burgdorf (Anm. 34) zu ergeben. 37 Zit. nach ebd., S. 52. 38 Zit. nach Maiken Umbach, Reich, Region und Föderalismus als Denkfiguren in politischen Diskursen, in: Langewiesche/Schmid (Anm. 26), S. 191-214, hier S. 195. 36

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von Goethe, Herder und Klopstock vorfindlich sind, insbesondere die bekannten Codes von Freundschaft und Empfindsamkeit, welche auf einen normativen, werthaften Vorgaben verpflichteten Patriotismus zielten. Ein Stück weit scheint hier vielleicht der Götz auf, auch er ein kleiner Landesherr, auf Freiheit insistierend, schließlich größeren Faktoren unterliegend. Wie Georg Schmidt gezeigt hat39, resultiert die borussische Geschichtsschreibung vor allem aus der preußischen Erfolgsgeschichte seit dem Siebenjährigen Krieg und legitimiert diese Entwicklung durch eine Prolongierung der Agonie des Alten Reiches rückwärts bis zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, teilweise darüber hinaus. Auch für große Teile der Zunft der Historiker läßt sich so zeigen, wie das Sein das Bewußtsein prägt, ja überschießend wirkt. In dieser Linie ist die preußische Erfolgsgeschichte zentrale Orientierung, ob man positiven oder negativen Bewertungen folgt: „Die Fixierung der Geschichtsschreibung auf den ersehnten und wenig später legitimierten nationalen Machtstaat führte dazu, daß dem frühneuzeitlichen Reich - im Gegensatz zum fernen Staat des Mittelalters oder den erhalten gebliebenen Fürstenstaaten, insbesondere Brandenburg-Preußen - jede Staatlichkeit abgesprochen wurde. Stattdessen konstruierte man ein Reich, das angeblich seit der Stauferzeit einen traumatischen Fall erlebt hatte, wobei die Gegner der Reformation, der Dreißigjährige Krieg und der Westfälische Frieden als Beschleunigungsfaktoren gewertet wurden. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts machte die Geschichtsschreibung aus dem späten Alten Reich ein zersplittertes, verteidigungsunfähiges und von fremden Mächten kontrolliertes Konglomerat, dessen Hauptverdienst darin bestanden haben sollte, die Staatswerdung Preußens nicht verhindern zu können. Als Antipode zu diesem siegespreußisch, schwarz-weiß-rot grundierten Geschichtsbild figurierte insbesondere seit den sechziger Jahren in der Bundesrepublik jene Sozialgeschichtsschreibung, die gleichfalls preußenfixiert den politisch reaktionären, sozial repressiven Charakter dieses Staatswesens hervorhob. Ansatzweise befindet sich Heinrich August Winkler auf dieser Linie. „Sein" Sonderweg resultiert, wie gezeigt, freilich weniger aus der Bewertung der preußisch-kleindeutschen Entwicklung, sondern eher aus einem imperialen Reichsbild, das die Deutschen nie selbstkritisch hätten verarbeiten können. Mit einigem Recht verwahrt sich hingegen Georg Schmidt gegen Sonderwegskonstrukte jeglicher Provenienz: Er sieht in der deutschen Entwicklung seit der Reformation eine spezifisch spannende, die zudem nicht, wie oft kolportiert, in ein überhöhtes Untertansyndrom gemündet habe. Widerspruch der Untertanen sei im 39 Georg Schmidt, Das frühneuzeitliche Reich - Sonderweg und Modell für Europa oder Staat der deutschen Nation?, in: Schnettger (Anm. 26), S. 247-276. 40 Ebd., S. 265.

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Alten Reich möglich, in Folge vorhandener Rechtswege legitim gewesen, so daß Deutschland wegen der stärkeren Partizipation, Rechtlichkeit und Pluralität durch weniger Revolutionsnachfrage als insbesondere Frankreich gekennzeichnet gewesen sei. Eben ein derartiger Befand könne nicht im Sinne politischer Zurückgebliebenheit interpretiert werden. An diesem Punkt ist jedoch einzuwenden, daß es historisch naturgemäß auch überholende Entwicklungen geben kann, ausgelöst durch einen vergleichsweise größeren Problemstau. So wie sich agrarische Gesellschaften ohne belastende Altindustrien, wie die Nachkriegszeit gezeigt hat, teilweise besonders schnell modernisieren können, so dürfte es auch im 18. Jahrhundert revolutionäre Schübe an Deutschland vorbei gegeben haben.

5. Frühere Geschichtsbilder 5.1 Treitschke Heinrich von Treitschkes „Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert", Erstausgabe der fünf Bände 1879 bis 1894, atmet, Treitschke war Sohn eines sächsischen Generals, einen nachgerade typischen Überborussismus dieses preußischen Renegaten. Die 15. Auflage des Großen Brockhaus (Band 19 erschien 1934 in Leipzig), weist aus, daß 1933 eine gekürzte Ausgabe mit einer Einleitung des NSIdeologen Alfred Rosenberg erschienen ist. Obwohl kein „Blut- und Bodenhistoriker", war Treitschke für die Nationalsozialisten in mindestens viererlei Hinsicht verdienstvoll: durch seine antislawische Ausrichtung („Das deutsche Ordensland Preußen, 1862"), durch den von ihm kolportierten Antisemitismus, durch die Auseinandersetzungen nicht nur mit dem marxistischen, sondern auch mit dem sogenannten Kathedersozialismus und schließlich durch seine nach Gründung des Kaiserreiches immer stärker werdende Abwendung von liberalen Positionen.41 Die antisemitische Orientierung Treitschkes ist der Nachwelt vor allem durch seine initiierende Rolle bei der Auslösung des sogenannten „Berliner Antisemitismusstreites" geläufig. Ausgangspunkt waren seine beiden Beiträge „Unsere Aussichten" (1879) und „Noch einige Bemerkungen zur Judenfrage" (1880). Treitschkes Antisemitismus ist vermutlich kein „eliminatorischer", freilich aber, ohne daß ihm dies in seiner Gegenwart so erkennbar gewesen sein mag, eine plausible Vorstufe. Treitschke, von dem die sprichwörtlich

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Die fünf Bände von Treitschkes Deutscher Geschichte im 19. Jahrhundert werden nach einer 1927 in Leipzig erschienenen Ausgabe zitiert. Zu Treitschke vgl. Ulrich Langer, Heinrich von Treitschke. Politische Biographie eines deutschen Nationalisten, Düsseldorf 1998 (mit der dort angegebenen weiteren Literatur).

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gewordene Formulierung „Die Juden sind unser Unglück" ausgeht, plädiert vielmehr für die Reduzierung jüdischer Einwanderung sowie für eine Assimilierung der verbliebenen Juden, die sie all jener Momente ihrer Identität entkleiden müsse, welche er für ein konstruktiv-aufbauendes Deutschtum als abträglich ansieht: „Was wir- von unseren israelitischen Mitbürgern zu fordern haben, ist einfach: Sie sollen Deutsche werden, sich schlicht und recht als Deutsche fühlen - unbeschadet ihres Glaubens und ihrer alten heiligen Erinnerungen, die uns Allen ehrwürdig sind; denn wir wollen nicht, daß auf die Jahrtausende germanischer Gesittung deutsch-jüdische Mischcultur folge." 42 Treitschkes „Deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts" umfaßt in verdichteter Form die Zeit von der napoleonischen Ära bis zum Vorabend der europäischen Revolutionen von 1848. Auch hier begegnen uns an vielen Stellen antisemitische Auslassungen, konzentriert vor allem bei der Auseinandersetzung mit den Intellektuellen des Vormärz in Band 3. 43 Wir finden die Differenzierung zwischen einem „positiven" Judentum in der - angeblichen - Genese von der jüdischen Position im mittelalterlichen, maurisch besetzten Spanien nach Westeuropa hinein; in diese Richtung positiv sei in Deutschland etwa Felix Mendelssohn-Bartholdy zu sehen. Dagegen stehe aber der Typ eines reinen l'art pour 1'art-Intellektuellen, wie Treitschke ihn exemplarisch in Heinrich Heine verkörpert sieht. Ein gewisses Maß an Lob findet Heine kurioserweise da, wo er, bewußt oder unbewußt, vom Judentum ins Deutschtum gewechselt sei, so bei der Schaffung des Loreley-Liedes. Freilich folgt auch hier ein antisemitischer Fußtritt: Heine habe den Stoff sozusagen Clemens von Brentano geraubt „und sein Eigentum genommen [...], wo er es gefunden." 44 Gerade bei der Auseinandersetzung mit Heine ergibt sich freilich eine Beobachtung, die zeigt, worin für Treitschke eine weitere Todsünde des Düsseldorfer Dichters bestand: „Der einzige politische Gedanke, den er sein Lebelang [sie!] treulich festhielt, war der Todhaß gegen Preußen, und dieser Haß war nicht ganz frivol, nicht ohne naturwüchsige Kraft; in ihm verriet sich der Rheinländer."45 Hier spricht aus Treitschke nicht so sehr der deutsche Antisemit, sondern der preußische Chauvinist, dem es an Sensibilität wie an intellektuellem Verständnis für die anderen Linien der deutschen Geschichte, die katholische, die des Alten Reiches, die föderative mangelt. Und das durch den Wiener Kongreß 1815 an Preußen gelangte Rheinland war ja wegen seiner großbürgerlichen Substanz, seiner römischkatholischen Prägung und seiner Nähe zum in dieser Lesart „frivolen" Frank-

42 Zit. nach Klaus Holz, Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg 2001, S. 210. Ausführungen zu Treitschkes Rolle hier S. 165-247. 43 Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 3, Leipzig 1927, S. 703ff. 44 Ebd., S. 713. 45 Ebd.

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reich vielen Ostelbiern im Berliner Staatsapparat ohnehin suspekt. Zwar erfährt das Alte Reich zu Beginn von Treitschkes Gesamtdarstellung ein Mindestmaß an Respekt, aber es ist ein Respekt, der sich auf Tradition als Wert an sich bzw. auf die Rückkopplung zu germanisch-frühmittelalterlichen Ursprüngen bezieht, denen eben nur eine Zeit des Abstiegs und der Entleerung gefolgt sei. Juristisch formuliert hieße dies wohl, das Alte Reich habe formal noch sehr viel länger bestanden, als es materiell einen Anspruch darauf besessen habe. Hinzu tritt eine innerdeutsche Differenzierung, was die Fähigkeit zu Staatsbildung und Machterhalt anlangt: „Die zähe Willenskraft der norddeutschen Stämme war dem weicheren und reicheren oberdeutschen Volkstum in der Kraft der Staatenbildung von alters her überlegen."46 Diese innerdeutsche ethnische Hierarchisierung ist für Treitschke bereits imfrühen Mittelalter vorfindlich: „Nur so lange der Sachsenstamm die Krone trug, blieb die deutsche Monarchie ein lebendiges Königtum; ihre Macht zerfiel unter den Händen der Franken und der Schwaben."47 Positiv bewertet Treitschke für das Mittelalter die Hanse, den Deutschen Orden und die brandenburgische Staatsschöpfung, wobei er für letztere zu einem völkisch untersetzten Lob gelangt, das von nationalsozialistischer Begrifflichkeit kaum mehr zu unterscheiden ist: „Dort in den Marken jenseits der Elbe war aus dem Grundstock der niedersächsischen Eroberer, aus Einwanderern von allen Landen deutscher Zunge und aus geringen Trümmern des alteingesessenen Wendenvolkes ein neuer norddeutscher Stamm emporgewachsen, hart und wetterfest, gestählt durch schwere Arbeit auf kargem Erdreich, wie durch die unablässigen Kämpfe des Grenzerlebens, klug und selbständig nach Kolonistenart, gewohnt mit Herrenstolz auf die slawischen Nachbarn herabzusehen."48 Daß diese sozusagen schlichte, kämpferische Disposition Ostelbiens - jedenfalls nach dieser Lesart - mit relativer Kulturlosigkeit einherging, findet eine ausgesprochen positive Bewertung; nichts habe Brandenburg von der Fundamentalaufgabe militärisch begründeten politischen Aufstiegs abhalten können: „Der Römischen Kirche ist aus dem Sande der Marken niemals ein Heiliger erwachsen; selten erklang ein Minnelied an dem derben Hofe der askanischen Markgrafen [...] Allein durch kriegerische Kraft und starken Ehrgeiz ragte der Staat der Brandenburger über die Nachbarstämme vor." 49 Brandenburg-Preußens weiterer Aufstieg, insbesondere seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts unter dem Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm (16401688), war in dieser Interpretation selbstverständlich nicht die durch bestimmte Umstände bevorzugte und durch innere Triebkräfte forcierte Entwicklung eines 46 47 48 49

Treitschke (Anm. 41), Bd. 1, S. 24f. Ebd., S. 25. Ebd. Ebd.

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Territoriums unter anderen, sondern ein lange verkanntes nationales Engagement: „Deutschland aber fand endlich wieder einen Mehrer des Reichs. Mit dem Aufsteigen Preußens begann die lange blutige Arbeit der Befreiung Deutschlands vonfremder Herrschaft." 50 Dabei rekurriert „fremde Herrschaft" auf diefranzösische Politik im Alten Reich wie auf katholisch-österreichische Fremdbestimmung. In diese Linie wird auch ein - angeblich - national-evangelisches Geschichtsbild Friedrichs des Großen integriert: „Er sieht in der Erhebung der Schmalkaldener, im Dreißigjährigen Krieg, in allen Wirren der jüngsten zwei Jahrhunderte nichts als den unablässigen Kampf der deutschen Freiheit wider den Despotismus des Hauses Österreich." 51 Die „Nationalisierung" Friedrichs des Großen, ein herkömmliches deutsches Interpretationsmuster spätestens seit der Verreichlichung Preußens in der Wilhelminischen Ära, findet man auf eine bereits klassische Weise vorgeformt. Treitschkes Geschichte des 19. Jahrhunderts erscheint uns so als ein idealtypischer Entwurf für ein manipulatives, ideologisch begründetes Umpolen komplexer historischer Abläufe im Sinne eines linear und scheinbar alternativlos 1871 erreichten telos, des preußisch geführten kleindeutschen Reiches.

5.2 Sybel Der zweite Akteur der borussischen Geschichtsschreibung über das 19. Jahrhundert mit einem geschichtspolitischen Oeuvre, auf das hier eingegangen wird, ist Heinrich von Sybel, gleich Treitschke nicht nur Historiker, sondern auch Publizist, Politiker und Parlamentarier. Sybel, unter anderem 1856 bis 1861 Lehrstuhlinhaber wie Gründer des ersten deutschen historischen Seminars in München und dort Opfer politischer Zerwürfnisse, war seit 1875 Direktor der preußischen Staatsarchive. Auch letztere Funktion illustriert seine Nähe zum Berliner Regierungsapparat mit entsprechenden Konsequenzen für die eigene Veröffentlichungstätigkeit. Sybel vollzog wie viele andere nach Königgrätz 1866 den Weg ins Lager der Bismarckanhänger. Sein wesentliches Werk, um das es hier zu tun ist, sind die mit Unterstützung Bismarcks - frühe Benutzung einschlägiger Archivalien - 1889 bis 1894 erschienenen sieben Bände „Die Begründung des Deutschen Reichs durch Wilhelm I." 5 2 Was den

50

Ebd., S. 33. Ebd., S. 50. 52 Heinrich von Sybel, Die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I. vornehmlich nach den preußischen Staatsakten, Ausgabe Merseburg, Leipzig 1930, hier in drei Bänden, nach denen im folgenden zitiert wird. Vgl. ferner Volker Dotterweich, Heinrich von Sybel. Geschichtswissenschaft in politischer Absicht (1817-1861), Göttin51

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nach der Reichsgründung privilegierten Aktenzugang Sybels anlangt, bietet sich im übrigen geradezu eine Parallele nach der zweiten deutschen Vereinigung bzw. Wiedervereinigung an, nämlich die Unterstützung von zwei großen zeitgeschichtlichen Werken durch das Bundeskanzleramt in der zweiten Hälfte der Ära Kohl nach 19-90 mit einer Intention, bei der es sicher spannend wäre, einmal geschichtspolitische Zusammenhänge im Abstand von einem Jahrhundert zu vergleichen.53 Eine Parallele gab es zwischen Treitschke und Sybel nicht nur in ihrem, auch lager- und milieumäßig weitgehend ähnlichen politischen Engagement, sondern auch in ihrem ideologisch aus mittelalterlichen Konstrukten abgeleiteten kleindeutschen bzw. nordostdeutschen Geschichtsbild: Sybel verfocht mit aller Energie die These von einer Vergeudung deutscher Kraft durch die Italienpoligen 1978 und die insgesamt faire Bewertung bei Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1849-1914, München 1995, S. 239ff. 53 Gemeint sind die insbesondere unter Zugriff auf Akten des Bundeskanzleramts in der ersten Hälfte der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts erschienenen vier Bände „Geschichte der deutschen Einheit" sowie die Edition „Deutsche Einheit" aus den Akten des Bundeskanzleramtes; vgl. Karl-Rudolf Körte, Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft. Regierungsstil und Entscheidung 1982 bis 1989, Stuttgart 1998; Werner Weidenfeld mit Peter M. Wagner und Elke Bruck, Außenpolitik fur die Deutsche Einheit. Die Entscheidungsjahre 1989/90, Stuttgart 1998; Wolfgang Jäger in Zusammenarbeit mit Michael Walter, Die Überwindung der Teilung. Der innerdeutsche Prozeß der Vereinigung 1989/90, Stuttgart 1998 und Dieter Grosser, Das Wagnis der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Politische Zwänge im Konflikt mit ökonomischen Regeln, Stuttgart 1998. Zu nennen ist femer: Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit, Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, bearb. von Hanns Jürgen Küsters und Daniel Hofmann, München 1998. Gewiß ist es einigermaßen kühn, Sybels Darstellung auf der einen Seite und die genannten Veröffentlichungen auf der anderen in eine Parallele zueinander zu setzen. Womöglich sind die Unterschiede sogar größer als die Analogien: Bei der Schilderung des Geschehens 1989/90 wird klar, daß es sich um einen sehr komplexen nationalen, europäischen und globalen Prozeß handelte, bei dem vor allem öffentliche Meinungsbildung, ökonomische Faktoren und im Blick auf die unmittelbare politische Szene innenpolitische Kalküls (Einflüsse auf Wahlausgänge, insbesondere von Kohl inspirierter Sieg der „Allianz für Deutschland" bei der Volkskammerwahl vom 18. März 1990) eine sehr viel größere Rolle spielten als in den etwas mehr als zwei Dezennien, die Sybel von der Revolutionszeit 1848/49 bis zum deutsch-französischen Kriegsausbruch im Juli 1870 behandelt. Insofern muß man auch gegenüber den Autoren des zweiten Einigungsgeschehens, denen es weitgehend gelungen ist, ein schwieriges Bühnenstück mit vielen Einzelszenen zu bündeln, Fairneß walten lassen. Gleichwohl sollte man Analogien sehen: In beiden Fällen gibt es zumindest eine Grundsympathie zwischen genannter Historiographie und jeweils entscheidendem Akteur, das eine Mal Otto von Bismarck, das andere Mal Helmut Kohl. Zudem ist in jedem von beiden Fällen das Interesse offenkundig, ein auch durch die spätere Historiographie nicht mehr einfach zu revidierendes Bild zu zeichnen. Femer wird konkret nachvollziehbar, welchen Vorsprung Darstellungen gewinnen, wenn sie bei großer zeitlicher Nähe zu ihrem Thema zugleich authentischeres Material als das zusammengetragene Wissen der Medien zur Grundlage haben.

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tik der früh- und hochmittelalterlichen Kaiser („Die deutsche Nation und das Kaiserreich" von 1862). Die preußisch-österreichischen Auseinandersetzungen um die künftige Gestaltung Mitteleuropas - in der zeitgenössischen Tagespolitik ging es insbesondere um die Frage, ob Preußen sich bei der Konfrontation Österreichs mit Italien-Piemont und Frankreich 1859 als Adlatus Wiens engagieren und so sein Potentialfremdbestimmen lassen solle oder nicht - fanden so ihre historiographisch-ideologische Spiegelung in der einschlägigen Kontroverse Sybels mit dem in Innsbruck lehrenden, aus dem katholischen Milieu Westfalens stammenden Mediävisten Julius Ficker, der ganz den Primat einer christlich-universalistischen Reichsordnung vertrat. 54 Auch wenn uns die politisierenden Historiker des 19. Jahrhunderts heute vielfach nicht nur antiquiert, sondern förmlich mumifiziert anmuten mögen, sollten wir zweierlei Tatsachen nicht übersehen: zum einen den genuinen Fortschritt, den auch und gerade sie der Historiographie eröffnet haben, im Falle Sybels etwa, welcher der prominenteste Ranke-Schüler war, durch die Begründung der „Historischen Zeitschrift" 1859 und die Übernahme von Editionen. Das zweite, viel bedeutungsvollere Moment ist die jeweils geltende Standortund Zeitgebundenheit, die sich mindestens ebenso eindrucksvoll im Blick auf große Teile der westdeutschen Historiographie in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts konstatieren läßt: Die Zahl prominenter deutscher Historiker, welche damals aus der Tatsache einer immer irreversibler anmutenden deutschen Teilung den Schluß zogen, eben diese Teilung sei sozusagen a posteriori auch mit einer Art innerer Logik und für viele nach den deutschen Kriegsverbrechen auch moralischer Legitimation zu versehen und als positiv zu bewerten, übersteigt das Fassungsvermögen eines mittleren Klassenzimmers. Auch prognostische Fähigkeiten waren, legt man dabei sogar nicht einmal den Maßstab beeindruckender fachlicher Kompetenz, sondern „nur" analoger Durchdringung struktureller Zusammenhänge an, nicht sonderlich entwickelt: Bei allem Räsonieren über den Anachronismus eines (deutschen) Nationalstaates hatten westdeutsche Historiker, nicht zuletzt solche, die im Bereich der Sozialgeschichte beheimatet waren, nicht einmal eine banale Tatsache antizipieren können, die beim Nachdenken über unterschiedlich effektive Wirtschaftsordnungen in Deutschland und Europa wohl jedem Einzelhandelskaufmann und Steuerberater sofort geläufig sein mußte, die Tatsache nämlich, daß bei einem Verschwinden des machtpolitischen und ideologischen Antagonismus in Europa eine dann dem Weltmarkt schutzlos preisgegebene DDR ökonomisch sofort kollabieren und daher mit allen politischen Konsequenzen Anlehnung an die Bundesrepublik suchen mußte. Schließlich hätte eine „europäische" Alternative, wie sie damals nicht selten akademisch-abstrakt entworfen wurde, die Bereit54

Vgl. Wehler (Anm. 52), S. 240.

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schaft der Europäischen Gemeinschaft vorausgesetzt, die notwendigen hohen Transfers an die DDR allein aus europäischen Kassen zu übernehmen.55 Warum gerade, was nun die moralische Seite anlangt, die DDR-Deutschen durch sehr viel härtere Lebensbedingungen ein größeres Maß an ,Buße' tragen sollten, wurde naturgemäß auch nie überzeugend begründet. So sehr Heinrich von Sybel selbst Akteur der geschichtspolitischen Kontroversen seiner Zeit war, so klassisch diplomatiegeschichtlich eng gefaßt mutet seine Darstellung des von Preußen generierten kleindeutschen Einigungsprozesses an. Konflikte werden aus den jeweiligen Interessen abgeleitet; das Werk ist alles andere als eine antiösterreichische bzw. antikatholisch-reichische Streitschrift. So wird die diplomatische Niederlage Preußens gegen Österreich in Olmütz 1850, als Berlin sein eigenes kleindeutsches Unionskonzept begraben und unter dem Druck der österreichischen wie der süddeutschen und russischen Politik wieder in den ungeliebten Deutschen Bund zurückkehren mußte, mit einer auch heute noch bemerkenswerten Fairneß geschildert.56 Man muß in dem ganzen Werk sehr eingehend nach Stellen suchen, die über die Schilderung der Abläufe diplomatiegeschichtlicher und auch militärischer Entwicklungen hinaus - die militärische Seite des innerdeutschen Krieges von 1866 wird in einer Breite geschildert, die für die heutige Historiographie gänzlich undenkbar wäre Präferenzen und Koordinaten des Autors klarlegen: Eine dieser raren Stellen ist die Schilderung der Positionen im deutschen Bürgertum am Vorabend des Krieges von 1866: Hier geht Sybel einen sehr geschickten Weg. Er konfrontiert nicht die späteren Kriegsgegner, sondern er konstatiert, daß das liberale Bürgertum in Süddeutschland sich schon vor dem ersten Schuß auf den Weg gemacht 55

Dieser Hinweis ist in keiner Weise denunziatorisch gemeint; er soll vielmehr nur die Notwendigkeit dartun, intellektuelle Irrtümer aus früheren Zeiten fair und jeweils kontextbezogen zu bewerten. Für die hier einschlägigen Positionen westdeutscher Historiker vor der Wiedervereinigung seien beispielhaft zitiert Hans Mommsen, der es als problematisch ansah, „wenn die deutsche Geschichte gleichsam gegen ihre Stromrichtung im wilhelminischen Sinne neu gelesen würde als Bestätigung des Existenzrechtes der ungeteilten deutschen Nation" {Hans Mommsen, Auf der Suche nach der Nation, in: Evangelische Kommentare, 12/1979, S. 565-567, hier S. 567) und Heinrich August Winkler, der eine Binationalisierung Deutschlands prognostizierte, diese Position dann allerdings 1990 revidierte. Vgl. die einschlägige Auflistung in dem materialreichen, freilich seinerzeit vielfach auch von Rechthaberei a posteriori nicht frei anmutenden Buch von Jens Hacker, Deutsche Irrtümer. Schönfärber und Helfershelfer der SED-Diktatur im Westen, Frankfurt a.M. 1992, S. 352ff. Vgl. auch Martin Sabrow, Die Historikerdebatte über den Umbruch von 1989, in: Martin Sabrow/Ralph Jessen/Klaus Große Kracht (Hrsg.), Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen seit 1945, München 2003, S. 114-137. Sabrows Beitrag vermeidet geradezu konsequent eine wirklich präzise Auseinandersetzung mit den eigentlich prominenten Namen und zentralen Darstellungen, die sich durch gravierende, mehr oder weniger ideologisch präformierte Fehleinschätzungen auszeichneten. 56 Sybel (Anm. 52), Bd. 1, S. 281ff.

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habe, sich allmählich Preußen anzuschließen, während das preußische Bürgertum selbst, noch in der Konfrontation des Verfassungskonflikts aus den Jahren zuvor befangen (fehlende parlamentarische Bewilligung der Finanzierung der Heeresreform) in Distanz zur politischen Führung des eigenen Landes verharrt habe.57 Damit wird subtil die Kulisse für ein späteres gesamtdeutsch-patriotisches Bürgertum aufgebaut; denn daß sich auch das Publikum in Preußen nach Königgrätz und spätestens nach Sedan (Kapitulation einerfranzösischen Armee und Kaiser Napoleons III. am 2. September 1870) vier Jahre später hinter Bismarck sammeln würde, war jedem Leser des Werkes geläufig. Bismarck entsprach den Wünschen seines Historiographen insbesondere insofern, als er den militärischen Erfolg von 1866 politisch gegenüber innenpolitischen Kontrahenten wie Kriegsgegnern nur mit einem unumgänglichen Minimum ausnutzte und so ein Maß an „innerer Einheit" (wieder) herstellte, das - und das ist hier das politisch-strategisch entscheidende Moment - nicht nur die Option zur späteren staatlichen Einheit Deutschlands, sondern auch zum Durchstehen eines Konflikts mit dem eigentlichen Schurken in diesem Spiel, mit Frankreich, eröffnete. So heißt es über Bismarck: „Wie auf dem Schlachtfelde von Königgrätz sein erster Gedanke die Herstellung der alten Freundschaft mit Österreich war, so antwortete er [...] auf den Vorschlag, nach dem günstigen Ausfall der Landtagswahlen Schritte zur Beendigung des Verfassungsstreits zu tun, mit herzlicher Zustimmung. Der Blick auf Frankreich bestärkte seine Überzeugung in beiden Richtungen. Hinter dem Abschluß des jetzigen Kriegs sah er weitere Gefahren emporwachsen, welchen er Preußen, und hoffentlich ganz Deutschland, in gesunder Einigkeit entgegenzustellen wünschte." 58 Es folgt in diesem Abschnitt noch eine nationale Romanze: Nach Sybels Schilderung teilte Bismarck dem bayerischen Regierungschef von der Pfordten bei den Friedensverhandlungen zwischen Berlin und München - Bayern war ja auf der Seite Österreichs Kriegsverlierer - mit, Preußen könne an Bayern beträchtliche territoriale Forderungen richten. Es gebe aber noch einen anderen Weg der Einigung: Derfranzösische Botschafter Benedetti habe, sozusagen als Kompensation für den preußischen Erfolg, am 5. August 1866 Forderungen erhoben, die auch zum Verlust großer Teile der bayerischen Rheinpfalz an Frankreich führten müßten. Preußen habe das nicht zugelassen; könne es nun bei der Abwehr solcher Ambitionen auf Bayern zählen? „Die Antwort läßt sich denken. Die beiden Männer umarmten sich, und so erwarb Bayern durch die Unterzeichnung des Schutz- und Trutzbündnisses Erhaltung seines Landbesitzes und Deckung der Rheinpfalz gegen etwa sich wiederholende Gelüste Frankreichs." 59 57 58 59

Sybel (Anm. 52), Bd. 2, S. 473ff. Sybel (Anm. 52), Bd. 3, S. 43. Ebd., S. 43.

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Daß Süddeutschland in Sybels Darstellung der Reichseinigung so schlecht gar nicht wegkommt, mutet plausibel an, geht man von einer nationalintegrativen Funktion des Werkes aus. Eine weitere Frage ist die nach der wohlwollenden Charakterisierung Österreichs als nach Logik der Dinge unvermeidlicher, aber eben nicht pejorativ gezeichneter Gegenspieler. Bismarck selbst hat den 1879 mit Österreich geschlossenen Zweibund ja durchaus nicht nur als rein militärische Allianz, sozusagen Sicherheitspolitik als Ding an sich, gesehen. Gewiß diente dieses Abkommen, das für Preußen-Deutschland insofern einen Paradigmenwechsel darstellen mußte, als es die traditionelle special relationship zwischen Berlin und St. Petersburg mit ihren konservativen und antipolnischen Färbungen über kurz oder lang gefährden würde, zunächst der Abschirmung gegen das immer unberechenbarer werdende Rußland.60 Aber gerade für Bismarck ging es auch um sehr viel mehr, um ein wichtiges Stück deutscher Innenpolitik: Gegen Ende des Kulturkampfes, in dem sich Staat und katholisches Milieu feindselig gegenübergetreten waren, sollten die alten Verwundungen aus den Konflikten von 1848/49 und 1866 zwischen Konfessionen und Milieus möglichst endgültig geheilt werden. Bismarck strebte zunächst mit Österreich ein Vertragsverhältnis an, das insofern zumindest teilweise an die kleindeutschen Lösungsversuche von 1849 anknüpfte, die für Österreich in einem weiteren Bund eine enge rechtliche Beziehung zum deutschen Kern vorgesehen hatten, als auch jetzt ein durch parlamentarische Ratifizierung öffentlich notifiziertes Vertragsverhältnis und Vereinbarungen in verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens vorgesehen waren. Im Gespräch beschrieb Bismarck seine Intention so: „Was beiden Teilen nützlich sein würde, das wäre eine dauernde organische Verbindung, [...] welche [...] den beiderseitigen gegenwärtigen Besitzstand garantierte und sich zur Aufrechterhaltung des mitteleuropäischen Friedens, zu Schutz und Trutz, mittels bleibenden Institutionen verpflichtete. Damit wäre nicht ausgeschlossen, sondern vielmehr mit inbegriffen eine Reihe von Vereinbarungen zu gleichheitlichen Einrichtungen auf den Gebieten der Rechtspflege, der Gesetzgebung, der Verwaltung sowie der wirtschaftlichen und sozialpolitischen Dinge, eine Zusammenwirkung, welche ohne Zweifel sehr segensreich sein könnte zwischen zwei Gemeinwesen, welche so sehr berufen sind, einander zu ergänzen."61 Die dahinter stehenden Assoziationen brachte

60 Vgl. zur deutsch-russischen Entfremdung mit dem Ergebnis der russischfranzösischen Allianzbildung 1891/92, bei allen Personifikationen wohl immer noch am besten George F. Kennan, Bismarcks europäisches System in der Auflösung. Die französisch-russische Annäherung 1875 bis 1890, Frankfurt a.M. u.a. 1981; ders., Die schicksalhafte Allianz. Frankreich und Rußland am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Köln 1990. 61 Gespräch mit dem nationalliberalen Reichstagsabgeordneten Braun, zit. nach Otto Pflanze, Bismarck. Der Reichskanzler, München 1998, S. 220.

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Bismarck in einem Brief an Kaiser Wilhelm I., der in alter Verbundenheit zwischen preußischen Hohenzollern und russischen Romanows dem Projekt reserviert gegenüberstand, so auf den Punkt: „Mit dem Staate Österreich haben wir mehr Momente der Gemeinsamkeit als mit Rußland. Die deutsche Stammesverwandtschaft, die geschichtlichen Erinnerungen, die deutsche Sprache, das Interesse der Ungarn für uns, tragen dazu bei, ein österreichisches Bündnis in Deutschland populärer, vielleicht auch haltbarer zu machen als ein russisches."62 Für manchen Beobachter hätte die Realisierung einer sozusagen sicherheitspolitisch grundierten Konföderation zwischen dem Deutschen Reich und Österreich bzw. seit dem „Ausgleich" in der Donaumonarchie von 1867 Österreich-Ungarn, auch eine Neuauflage jener Pläne des österreichischen Ministerpräsidenten Schwarzenberg aus der Revolutionszeit drei Jahrzehnte zuvor bedeutet, die auf eine Gesamtfusion der Habsburgermonarchie mit sämtlichen deutschen Staaten hinauslaufen sollten. Allerdings hatten sich nunmehr die Vorzeichen umgekehrt: Bei einer Neuauflage wäre jetzt Österreich-Ungarn nicht in der Rolle des zentralen Faktors, sondern des Juniorpartners gestanden. Vor diesem Hintergrund lehnte Wien nunmehr derlei Ansinnen ab, und es kam schließlich „nur" zur Unterzeichnung eines konventionellen, zunächst auch noch geheimen Bündnisvertrages. Zumindest drang die neue sicherheitspolitische Konstellation bald in die Öffentlichkeit und entfaltete dann doch eine wichtige politisch-psychologische Wirkung in Deutschland wie Österreich. Ob vor diesem Hintergrund Heinrich von Sybels relativ Österreich gewogene Darstellung in seiner Schilderung der Ereignisse bis 1870 zu sehen ist, läßt sich hier nicht beantworten. Jedenfalls deutet ein gewisses Maß an Plausibilität in diese Richtung.

5.3 Kaindl Das Bündnis von 1879 führt uns in ein ganz anderes, geradezu antagonistisch entgegengesetztes historiographisches Lager, bei an diesem Punkt allerdings weitgehend analoger Bewertung: 1926 erschien Raimund Friedrich Kaindls Darstellung „Österreich, Preußen, Deutschland. Deutsche Geschichte in großdeutscher Beleuchtung"63, im Gesamtduktus derart antipreußisch gehalten, daß selbst das eigentliche Oberhaupt der großdeutschen Geschichtsschreibung Heinrich von Srbik hier glaubte, kritisch eingreifen zu müssen, damit zwischen der deutschen wie der österreichischen Öffentlichkeit nicht zu viel Porzellan zer62

Schreiben Bismarcks an Kaiser Wilhelm I. vom 24. August 1879, zit. nach Jürgen Angelow, Kalkül und Prestige. Der Zweibund am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Köln u.a., S. 40, Fußnote 47. 63 Kaindl (Anm. 13).

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schlagen werden würde. Zeitgeschichtlicher Hintergrund war die Phase nach den Verträgen von Versailles und St. Germain, die Deutschland und Österreich einen damals von den Bevölkerungen unstrittig gewünschten Zusammenschluß untersagt hatten. In der Folge sahen große Teile der jeweiligen Publizistik wie der jeweiligen politischen Klassen eine wichtige Aufgabe darin, zumindest in der Meinungsbildung wie in ihrer historischen Unterfütterung die Voraussetzungen für eine derartige Entwicklung zu schaffen und zu stabilisieren, damit ein solcher Schritt unter gewandelten Umständen vollzogen werden könne.64 Anschlußintentionen gingen unter den demokratischen Umständen des ersten Jahrzehnts nach Ende des Ersten Weltkriegs vor allem von den sozialdemokratischen Lagern in Deutschland und Österreich aus, während jeweils das katholische in Österreich und das evangelisch-deutschnationale in Deutschland von einer derartigen Fusion eher prekäre Infektionen für das jeweils eigene Milieu befürchteten. Gleichwohl blieb ein deutsch-österreichischer Zusammenschluß unter der Prämisse einer als gemeinsam angesehenen Nation eine unbestreitbare Projektion, wenn sich dann auch nach der Annexion Österreichs durch das nationalsozialistische Deutschland 1938 und dessen Zusammenbruch sehr schnell das Bild einer eigenen, spezifisch europäisch begründeten rot-weiß-roten Nation durchsetzte. Die hier skizzierte Problematik der zwanziger Jahre ist insofern „aufgehoben", nicht mehr existent; das ändert aber nichts an ihrer historischen Substanz.65 Kaindl, der sich vielfach geradezu als eine Art „Preußenfresser" geriert, zeichnet die Bismarcksche Politik gegenüber Österreich nach der Reichsgründung 1871 durchaus positiv, wobei er sich eben wesentlich auf die nicht wirklich zum Austrag gelangten Bemühungen konzentriert, eine Art Konföderation (wieder) zu errichten. 66 Auch in Kaindls Darstellung ist die preußische Entwicklung des 18. Jahrhunderts wesentlich der Lackmustest, an dem sich die Bewertungen entscheiden: Ist diese Entwicklung für Treitschke nationaler Rettungsanker, um habsburgisch-reichischem Verfall eine positive Entwicklung entgegenzusetzen, so dreht Kaindl den Spieß um, zeichnet Friedrich den Gro-

64 Vgl. zur Kritik Srbiks an Kaindl: Michael Derndarsky, Zwischen „Idee" und „Wirklichkeit". Das Alte Reich in der Sicht Heinrich von Srbiks, in: Schnettger (Anm. 26), S. 189-205, hierS. 192. 65 Vgl. Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien 1994, S. 270ff. Populärwissenschaftlich, aber materialreich Hugo Portisch, Österreich I. Die unterschätzte Republik, Wien 1989; Andreas Hillgruber, Das Anschlußproblem (1918 bis 1945) aus deutscher Sicht, in: Robert A. Kann/Friedrich E. Prinz (Hrsg.), Deutschland und Österreich, Wien/München 1980, S. 161-178; Gerhard Botz, Das Anschlußproblem (1918 bis 1945) aus österreichischer Sicht, in: Ebd., S. 179-198. Für die politische Entfernung (West-)Deutschlands und Österreichs nach 1945: Matthias Pape, Ungleiche Brüder. Osterreich und Deutschland. 1945 bis 1965, Köln u.a. 2000. 66

Kaindl (Anm. 13), S. 238ff.

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ßen als antinationale Figur: „Ihm war nicht nur das Nibelungenlied keinen Schuß Pulver wert; auch die neuere deutsche Literatur mißachtete er [...]. So fremd war er deutschem Wesen, daß er Lessings Minna auf seinem Theater in französischer Übersetzung aufführen ließ."67 Im Hinblick auf Österreich und den Wiener Hof wird nicht das Bild eines substanzlosen Kosmopolitismus in Treitschke-Manier, sondern, auch hier wieder in antifranzösischer Zielrichtung, das Bild deutscher Tugend gezeichnet: „Und dagegen halte man Maria Theresia, die zu ihrer Tochter Marie Antoinette nach Paris schrieb: ,Nehmen Sie nicht diesefranzösische Leichtfertigkeit an, bleiben Sie eine gute Deutsche und nehmen Sie es sich zur Ehre, eine Deutsche zu sein.'"68 Setzt man Treitschke und Kaindl gegeneinander, so hat man es mit einem edlen Wettbewerb der Chauvinisten zu tun: Es geht darum, wer eigentlich national und - darin entscheidet sich dies - wer wirklich antifranzösisch ist. Die Gesamtbewertung Preußens fällt so aus: „Vom deutschen Standpunkt betrachtet, muß das Urteil über das Vorgehen Friedrichs II. lauten: Preußen, das selbst nicht an die Spitze Deutschlands treten konnte, hat aus selbstsüchtigen Absichten die Erstarkung der deutschen Vormacht verhindert." 69 Spiegelt man beide Antipoden, Treitschke und Kaindl, nochmals ineinander, so ergibt sich ein bemerkenswert analoger Befund: Beide zeigen sich derart national fixiert, daß ihnen die Erkenntnis dessen, was im 18. Jahrhundert Staatsräson eigentlich bedeuten mußte, nämlich die Interessen absolutistisch-monarchisch geführter Staatswesen, weitgehend ohne Mitsprache von deren Populationen, offenkundig gänzlich verschlossen bleiben muß. Daß es unter dieser Oberfläche Anfänge nationalen Bewußtseins in schmalen Segmenten gab, hat damit noch gar nichts zu tun.

5.4 Srbik Das nächste, hier kurz zu betrachtende Opus sind Heinrich von Srbiks vier Bände „Deutsche Einheit" mit dem Untertitel „Idee und Wirklichkeit vom Heiligen Reich bis Königgrätz".70 Der Österreicher Srbik positionierte sich politisch in einem großdeutsch-deutschnationalen Sinn, 1929 in der ersten österreichischen Republik unter Bundeskanzler Schober, der der großdeutschen Richtung zuzurechnen war, als Unterrichtsminister, nach dem „Anschluß" Öster67

Ebd., S. 19. Ebd. 69 Ebd., S. 21. 70 Heinrich von Srbik, Deutsche Einheit. Idee und Wirklichkeit vom Heiligen Reich bis Königgrätz, Bde. 1-4, München 1935 bis 1942; Bd. 1 1935, hier zitiert nach der 3. Auflage 1940, Bd. 2 ebenfalls München 1935, hier zitiert nach 3. Auflage 1940, Bd. 3 erste Auflage 1942, Bd. 4 erste Auflage 1942. 68

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reichs im März 1938 als Mitglied des Reichstages und Präsident der Akademie der Wissenschaften in Wien auch formal in einem NS-Bezug. Seine Orientierung zielte grundsätzlich auf eine großdeutsche Hegemonialposition in Mitteleuropa, die sich ideologisch aus dem Universalanspruch des Alten Reiches speisen sollte, in österreichischer Tradition in Richtung Mittelost- und Südosteuropa gehend. Srbik sah Preußen keineswegs so negativ wie sein innerösterreichischer Grazer Kontrahent Kaindl: Für ihn kam es vielmehr darauf an, das preußische und das österreichische Moment in der deutsch-mitteleuropäischen Geschichte als elliptische Brennpunkte zu interpretieren, die dann den großdeutschen Auftrag erfüllten, wenn sie nicht in Konfrontation, sondern in Kooperation zueinander standen. Insofern findet man Sybels preußenzentrierte und doch nicht dezidiert antiösterreichische Darstellung in gewisser Weise aufgefangen. Schon in Srbiks anderer Monumentalveröffentlichung, der doppelbändigen Biographie des österreichischen Staatskanzlers Fürst Metternich, ist diese Koinzidenz auch in personifizierter Form angelegt:71 Im resümierenden Schlußkapitel der Metternich-Biographie, die im Grundtenor österreichischer und zugleich europäischer als die vier Bände zur deutschen Entwicklung im 19. Jahrhundert gehalten ist, hebt Srbik auf Parallelen zwischen Metternich und Bismarck ab: Beide erscheinen alsfriedensorientierte Koordinatoren der europäischen Politik nach 1815 bzw. 1871, als relativ prinzipienfreie Konservative und von Mißtrauen gegenüber demokratischen und liberalen Tendenzen erfüllt. 72 Dabei fällt freilich eine Differenz ganz außer Betracht, die heute allgemein geläufig ist: Obwohl gewiß nicht Demokrat bzw. auch nur parlamentsorientierter Liberaler, war der „Bonapartist" Bismarck fähig und gewillt, mit den Faktoren des heraufziehenden politischen Massenmarktes zu arbeiten, die Presse zu instrumentalisieren, Parlamentarier für sich einzunehmen, durch außenpolitische und militärische Erfolge innenpolitisch wie nach Königgrätz 1866 zu mobilisieren und gleichzeitig, teilweise auch gegen monarchische Führung und hohe Militärs, das Pfund parlamentarischer Mehrheiten auf die Wagschale zu werfen. Insofern war er politisch-kulturell gewiß mindestens ein bis zwei Generationen weiter - eine Differenz, die Srbik wohl aus großdeutschem Harmoniebestreben ausblendete.73

71 Heinrich von Srbik, Metternich. Der Staatsmann und der Mensch, Bd. 1 und Bd. 2, München 1925. 72 Srbik (Anm. 71), Bd. 2, S. 520ff. 73 Zu Bismarcks raffiniertem, nach außen kaum erkennbaren Mobilisieren parlamentarisch-politischen Widerstandes gegen militärische Präventivkriegsneigungen gegen Ende der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts jetzt Michael Schmid, Der „Eiserne Kanzler" und die Generäle. Deutsche Rüstungspolitik in der Ära Bismarck (1871 bis 1890), Paderborn u.a. 2003, insbesondere S. 434ff.; zum Einsatz medialer und parlamentarischer Instrumente insgesamt Otto Pflanze, Bismarck. Der Reichsgründer, München

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Srbiks Darstellung zur Entwicklung Deutschlands im 19. Jahrhundert beginnt - in gewisser Analogie zu Treitschke - mit der Geschichtswerdung im frühen Mittelalter, wobei hier, wohl dem Zeitgeist der dreißiger Jahre geschuldet, gleich zu Beginn der Begriff des „Raumes" Verwendung findet. 74 In Analogie zu seinem preußischen Kontrahenten konstatiert Srbik, wenn auch mit anderer Folgerung, die innere Auszehrung des Alten Reiches in der Neuzeit. Er zieht freilich nicht die Schlußfolgerung des jeweils anderen, Treitschke oder Kaindl, Preußen oder Österreich trage Schuld an einer mißlichen nationalen Entwicklung, sondern zollt dem Aufstieg Preußens als reiner Machtstaat Respekt und leitet daraus das Idealbild einer Kooperation der beiden deutsch-europäischen Großmächte ab. Beide hätten einander nicht nur politisch-strategisch ergänzen können, sondern auch innerlich, im Gegensatz zum Dritten Deutschland im Westen und Südwesten mit seiner Vielzahl an Territorien und spezifischen Traditionen, ein eigenes, sehr viel härteres und damit auch leistungsfähigeres Profil besessen: „Diese deutschen Großmächte waren [...] beide aus dem weiträumigen ostkolonialen Boden erwachsen, beide waren folglich gespeist von Altdeutschland, beide waren Träger großer Daseinsprinzipien mit eigenen Lebenskräften." 75 Damit wird zugleich ein ideologischer Mutterboden greifbar, aus dem sich dann der Nationalsozialismus in wesentlichen Zügen speiste: Kulturelle, so wertvoll sie sein mag, Sublimierung wie in der Zeit der Klassik in den kleineren deutschen Territorien tritt gegenüber einem Raum- und Machtstaatsdenken zurück, das zugleich einen Hegemonieanspruch gegenüber anderen Populationen in sich trägt. Für das dann spätere 19. Jahrhundert übt Srbik Kritik an einer zu präpotenten Politik Österreichs gegenüber Preußen, so in der komplexen Konstellation des Krimkrieges zu Beginn der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts.76 Das Schlußstück von Srbiks Werk ist, nach einer längeren Unterbrechung im Zenit des Zweiten Weltkrieges, 1942, publiziert worden. Das Erscheinen datiert somit von einem Zeitpunkt, an dem einerseits das nationalsozialistische Deutschland bis etwa Oktober, November des Jahres den äußersten und damit zugleich den Wendepunkt seiner militärischen Erfolgsbahn und seiner territorialen Eroberungen erreicht hatte. Andererseits muß man freilich und vor allem jene Faktoren ins Kalkül bringen, die bereits 1940 und 1941 eingetreten waren und an sich für einen Beobachter, der in langen historischen Prozessen zu den1997; ders. (Anm. 61); gmndsätzlich zu dieser Thematik jetzt Lothar Gall (Hrsg.), Regierung, Parlament und Öffentlichkeit im Zeitalter Bismarcks. Politikstile im Wandel, Paderborn u.a. 2003. 74 Srbik (Anm. 70), Bd. 1, S. 15. 75 Ebd., S. 144. 76 Srbik (Apm. 70), Bd. 2, S. 219: „Es ist kein Zweifel, daß damals eine Politik offener Loyalität Österreichs gegenüber Preußen ein Gebot der Stunde war."

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ken gewohnt war, die Möglichkeit eines militärischen Sieges Deutschlands schwerlich hatten realistisch erscheinen lassen: 1940 hatte sich Großbritannien behauptet, das Festlaufen des Rußlandfeldzuges unter enormen Verlusten vom Spätherbst 1941 an war jedermann erkennbar, mit den USA war gegen Ende desselben Jahres die ökonomisch weitaus potenteste Weltmacht zum Kriegsgegner Deutschlands geworden.77 Hinzu kam der Unrechtscharakter des deutschen Regimes in einem ganz elementaren Sinn, der historisch geschulten Beobachtern auch dann klar sein mußte, wenn einstweilen viele Einzelheiten und Abläufe verborgen mochten. Trotz dieser „Rahmenbedindungen" feiert Srbik die 1938 eingetretene förmliche Erfüllung der deutschen Geschichte: Er äußert sich hier so, daß er zunächst nach dem Ausscheiden Österreichs aus Deutschland 1866 auf dessen übernationale Funktion für das restliche Deutschland verweist; es sei sozusagen der Katalysator gewesen, durch den Deutschland in den Jahrhunderten zuvor mehr gewonnen und sich mehr erschlossen habe, als es ihm in seinem engeren Bereich möglich gewesen wäre.78 Dieser „Mehrwert" sei durch 1866 zwar verloren gegangen, aber die weitere Zukunft habe seit dem Ersten Weltkrieg wieder zu einer positiven Korrektur geführt: Zunächst habe die Ausfüllung des deutsch-österreichischen Bündnisses von 1879 im Ersten Weltkrieg entscheidend zur Wiederbelebung des großdeutschen Gedankens beigetragen, sodann habe die nationalsozialistische Politik von 1938 an die 1866 geschlagenen Wunden zum Vernarben gebracht. An dieser Stelle kommt es zu einer Apotheose für den Österreicher Adolf Hitler, ohne daß dessen Namen ausdrücklich Erwähnung fände - es ist vom „Sohn des deutschen Österreich" 79 die Rede. Klar wird auch, daß der Autor in zweierlei Hinsicht über die Anschlußambitionen des ersten Jahrzehnts der Zwischenkriegszeit hinaus geht. Er sieht im Anschluß Österreichs und des Sudetenlandes die Voraussetzung für eine legitime deutsche Hegemonie: „Der Kontinent Europa hat in dem großdeutschen Reich wieder seine ordnende und fuhrende Mitte erhalten, die auf gewaltiger Macht beruht und von Verantwortungsgefühl für die Gliederungen erfüllt ist." 80 Das andere Moment ist die Übernahme einer außerstaatlichen, auf Volk bzw. „Blut- und Schicksalsgemeinschaft" gegründeten Semantik. Diese Schlußbemerkungen signalisierten in der skizzierten Konstellation des Jahres 1942 ein außerordentlich hohes Maß an Identifikation mit zentralen Zielrich-

77 Vgl. zur Peripetie des Zweiten Weltkrieges Horst Boog/Werner Rahn/Reinhard Stumpf/Bernd Wegner, Der globale Krieg. Die Ausweitung zum Weltkrieg und der Wechsel der Initiative 1941-1943, in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 6, hrsg. v. Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Stuttgart 1990, insbesondere S. 1103ff. 78 Srbik (Anm. 70), Bd. 4, S. 472. 79 Ebd., S. 482. 80 Ebd., S. 483.

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tungen nationalsozialistischer Politik. Gewiß erreicht Srbik nicht in allen Bereichen die volle nationalsozialistische Programmatik, von Rasse ist kaum die Rede, und auch der weit in den russisch-sowjetischen Raum hineinzielende Beherrschungs- und ethnische Eliminierungsgedanke scheint nicht auf. Aber: Die Schnittmengen zu den ideologisch präformierten Intentionen des Nationalsozialismus sind in jedem Fall größer als etwaige Modifikationen, die vor allem in einer Art Reichsromantizismus zu sehen wären. Insbesondere ist der Gedanke einer Gleichheit von Staaten wie Populationen fundamental in Frage gestellt.81 Exemplarisch hat die „großdeutsche" Historiographie gerade in der von Srbik vertretenen Ausrichtung schon Mitte der zwanziger Jahre den Widerspruch der kleindeutsch, etatistisch orientierten gefunden. Das prominenteste Beispiel war hier von Anfang an Gerhard Ritter. 82 Zwar kam auch Ritter nicht umhin, einen prinzipiellen Selbstbestimmungsanspruch für Österreich im Sinne einer Wendung zu Deutschland zu konstatieren - aber ein schlichter Anschluß war ihm zweifellos suspekt. Insofern dachte er dabei wohl allenfalls an ein erweitertes Bundesverhältnis, wie es eben auch Bismarck immer wieder vorgeschwebt war, und hielt zugleich auch Mitte der dreißiger Jahre an einer eindeutig kleindeutschen, sozusagen territorial und geistig präzise definierten Position fest: „Ich bin allerdings der Meinung, daß für das 19. Jahrhundert [...] die preußischkleindeutsche Lösung unvermeidlich, eiserne Notwendigkeit gewesen ist [...]. Und mir liegt [...] viel daran, daß die einmal errungene Einsicht in diese Notwendigkeit nicht durch allerhand Reflexionen post festum wieder verdunkelt wird." 83 Weitere Gräben zu Srbik taten sich auf, als letzterer sich 1935 an dem „Theater der Berliner Institutseröffhung", der Feier zur Eröffnung des (NSorientierten) Reichsinstituts für die Geschichte des neuen Deutschland durch

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Vgl. dazu auch Fritz Fellner, Die Historiographie zur österreichisch-deutschen Problematik als Spiegel der nationalpolitischen Diskussion, in: Heinrich Lutz/Helmut Rumpier (Hrsg.), Österreich und die deutsche Frage im 19. und 20. Jahrhundert. Probleme der politisch-staatlichen und soziokulturellen Differenzierung im deutschen Mitteleuropa, München 1982, S. 33-59, hier S. 56: „Die historische Fragwürdigkeit der Sinngebung der österreichischen Geschichte in der gesamtdeutschen Geschichtsauffassung Heinrich von Srbiks liegt in der Identifikation der Geschichte des Habsburger Reiches mit einer ausschließlich deutschen Aufgabe, in der Deutung einer besonderen, eigenständigen österreichischen Mission als deutsche Kulturaufgabe. Nicht nur die Unterschätzung, ja Mißachtung nichtdeutscher Kulturleistungen war die Folge dieser Überbewertung deutschen Geistes und deutscher Leistung, sondern die Umsetzung der gesamtdeutschen Geschichtsauffassung zu einem Instrument eines deutschen Imperialismus. Die ursprünglich freiheitlich-demokratisch konzipierte Idee des Großdeutschtums aus dem Jahr 1848 war überlagert worden von der machtpolitischen Idee eines militaristisch-expansiv konzipierten Großdeutschland des Nationalsozialismus." 82 Vgl. Christoph Cornelißen, Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2001, S. 278ff. 83 Ebd., S. 283.

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Walter Frank beteiligte. Nach dem Anschluß Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland im März 1938 mußte Ritter aber naturgemäß in eine interpretatorisch schwierige Situation geraten. Vor diesem Hintergrund verdient eine Rede Beachtung, die er am 17. Juni 1938 zum Thema „Großdeutsch und Kleindeutsch im 19. Jahrhundert" an der Universität Freiburg hielt. Zwar wurde ein Lob des Anschlusses ausgesprochen (die „bisher kühnste und glücklichste außenpolitische Tat unserer neuen Staatsführung" 84); aber damit sei die Fragestellung eigentlich noch nicht erledigt; es könne jetzt ein schlüssiges kleindeutsch-nationales Programm als abgeschlossen gesehen werden (in der Terminologie der Zeit die „rein völkische Lösung des deutschen Problems im Sinne der Kleindeutschen"), oder der Anschluß Österreichs sei nur der Auftakt „zur Lösung von raumpolitischen Problemen und , Ordnungsaufgaben 4 des Donauraumes im Sinne der großdeutschen oder vielmehr ,mitteleuropäischen' Publizistik" nach Wiener Lesart.85 Konsequenzen für das Verhältnis beider Historiker zum Nationalsozialismus sind offenkundig: „Während der staatsbetont argumentierende Ritter durch seine sehr spezifisch , deutsch-völkisch' etikettierte und kleindeutsche Geschichtsauffassung gegen eine Beteiligung am NSEroberungskrieg immunisiert wurde, erwies sich die weitaus offenere, universalistisch, teilweise auch humanistisch begründete Geschichtsauffassung Srbiks als instrumentalisierbar für die Eroberungs- und Volkstumspolitik der Nationalsozialisten."86

5.5 Schnabel So sehr Gerhard Ritter bei der Abgrenzung zu Heinrich von Srbik in der Retrospektive als der eindeutig vernünftigere' Historiker anmutet, so sehr werden doch Defizite seiner Grundposition erkennbar, führt man den Vergleich mit dem letzten der hier skizzierten Historiker zur deutschen Entwicklung bis 1871, mit Franz Schnabel, durch.87 Franz Schnabels vor allem kulturell breit abgestützter Ansatz machte ihn, über 1945 hinaus, zum Außenseiter unter der etatistisch orientierten deutschen Historiographie. Schnabel konzentrierte sich in besonderem Maße auf jenen Teil Deutschlands, der sich durch relative Machtarmut im europäischen Kontext, wohl aber durch konstitutive und intellektuelle Vielfalt ausgezeichnet hatte. Daher ergab sich bei ihm gerade nach dem Kollaps des (natio84

Ebd., S. 285. Ebd., S. 286. 86 Ebd., S. 287. 87 Vgl. Schnabel (Anm. 2); aus der Literatur zu Schnabel vgl. insbesondere Thomas Hertfelder, Franz Schnabel und die deutsche Geschichtswissenschaft. Geschichtsschreibung zwischen Historismus und Kulturkritik (1910 bis 1945), München 1998. 85

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nalsozialistischen) Deutschen Reiches 1945 eine Bismarck-Kritik, die die im 19. Jahrhundert unterlegenen konföderalen Ansätze in Weiterentwicklung des Deutschen Bundes präferierte. Rein politisch standen für solche Bemühungen unter (gescheiterter) Zusammenfassung der Mittelstaaten in Süd- und Mitteldeutschland vor allem die Anstrengungen des sächsischen Außenministers Friedrich Ferdinand Freiherr von Beust in den fünfziger und sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts, in unmittelbarer Auseinandersetzung mit Bismarck als preußischem Ministerpräsidenten.88 Gerhard Ritter qualifizierte derlei Überlegungen, wie sie Schnabel im September 1949 in Speyer vorgetragen hatte, als eine „unklare, romantische Träumerei [...], und zwar im Sinne der baierischösterreichischen Ecke."89 Was Ritter wohl habituell überforderte, war die Tatsache, daß eine derart konföderal bzw.föderal-süddeutsch orientierte Position an sich sehr viel besser als die Prolongierung der preußisch-kleindeutschen Position zur politischen Topographie der eben ins Leben getretenen Bundesrepublik paßte, die sich ja wesentlich - mit Ausnahme Thüringens und Sachsens aus dem alten Dritten Deutschland der Mittelstaaten des 19. Jahrhunderts wie aus solchen preußischen Gebieten (Rheinland, Hannover respektive Niedersachsen) zusammensetzte, die jüngere, teilweise durch Annexion gewonnene borussische Gebiete waren und nicht zum politisch-kulturellen Kernbestand Preußens gehörten. Ritter hingegen sah die Bundesrepublik weniger in einer derart politisch-kulturellen Verortung als in der staatsrechtlich unbestreitbaren Fortführung des Bismarckreiches. Schnabel, geborener Badener, mütterlicherseits mit katholischen und französischen Wurzeln, war durch eine grundsätzlich positive, jeweils moderate Haltung zu Liberalismus, Katholizismus und Föderalismus geprägt; ihm stand ferner die zivilisatorische Leistung desfranzösischen Nachbarn ungemein nahe. Das schloß im wesentlichen auch seine Bewertung derfranzösischen Position ein. Wenn Schnabel sich auf das ihm an sich fern liegende Gebiet der Außenpolitik einließ, dann geschah dies, wie seine Einschätzung der internationalen Entwicklungen vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges in den zwanziger Jahren zeigte, in einem alles andere als national-apologetischen Sinne.90 Für die deutschen Historiker der Zwischenkriegszeit eher ungewöhnlich und vielfach wohl auch befremdlich war Schnabels Bekenntnis zur Weimarer Repu-

88 Vgl. Jonas Flöter, Beust und die Reform des Deutschen Bundes 1850 bis 1866. Sächsisch-mittelstaatliche Koalitionspolitik im Kontext der deutschen Frage, Köln u.a. 2001. 89 Cornelißen (Anm. 82), S. 514. 90 Vgl. Hertfelder (Anm. 87), S. 156ff. mit den Thesen einer kontraproduktiven deutschen Englandpolitik und einem Defizit an politischer Steuerungskompetenz der europäischen Eliten in der Krise des Jahres 1914.

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blik, und zwar insbesondere in ihrer (auch)föderalistischen Struktur; gerade der Anspruch, Kulturstaat zu sein, verlange die Existenz wirkungsmächtiger Gliedstaaten.91 Vor diesem Hintergrund fand insbesondere der Staatsstreich der Reichsregierung Papen vom 20. Juli 1932 gegen die preußische Regierung Braun den heftigsten Widerspruch Schnabels: „Unsere rühm- und leidvolle deutsche Geschichte lehrt, wie der deutsche Staat auf rechtsstaatlicher und bundesstaatlicher Grundlage erwachsen ist, und daß die Beseitigung dieses doppelten Charakters einen größeren und schlimmeren Bruch mit der Vergangenheit darstellen würde, als dies jemals die Revolution von November 1918 gewesen ist."92 Mit Gerhard Ritter war Schnabel schon 1931 aneinandergeraten, als beide aus Anlaß des 100. Todestages des Freiherrn vom und zum Stein Biographien des preußischen Reformers veröffentlichten. Beide stilisierten hier Stein geschichtspolitisch in unterschiedliche Richtungen: Ritter als Exponenten der preußisch-kleindeutschen Entwicklung, Schnabel als Urliberalen, was wiederum Ritter veranlaßte, Schnabel eine manipulative Instrumentalisierung Steins im Sinne der Demokratiewerdung von 1918 vorzuhalten. Schnabels mit dem Nationalsozialismus in keiner Weise kompatible Geschichtsauffassung kostete ihn 1936 den Lehrstuhl in Karlsruhe, sein 1939 weitgehend fertiggestellter fünfter Band zur deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts, der vor allem die nationale Bewegung selbst darstellen sollte, durfte nicht erscheinen. 1947 übernahm Schnabel einen Lehrstuhl in München. Wie die Nationalsozialisten seine Position, gerade im Blick auf die herkömmliche, hier skizzierte deutsche Historiographie einschätzten, ergibt sich aus einem Schreiben des badischen Kultusministeriums an das Rektorat der Universität Heidelberg, das die Frage nach einer Wiederverwendung Schnabels im akademischen Unterricht aufgeworfen hatte, vom 5. Mai 1944: „Prof. Schnabel wurde zwar seinerzeit aufgrund des § 4 des Gesetzes über die Entpflichtung und Versetzung von Hochschullehrern [...] entpflichtet. Im Hintergrund aber stand die Tatsache, daß Prof. Schnabel in seinen Schriften, insbesondere in der ausdrücklich gegen Heinrich Treitschkes klassische Darstellung gerichteten ,Deutschen Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts' als Vertreter eines politischen Katholizismus gilt." 93

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Zum Föderalismus in Kaiserreich wie Weimarer Republik vgl. Holste (Anm. 20). Franz Schnabel, Neudeutsche Reichsreform, in: „Hochland" und „Badischer Beobachter", zit. nach Eberhard Weis, Einleitung zur Taschenbuchausgabe von Franz Schnabel (Anm. 2), Bd. 1, S. XVI. 93 Zit. nach Hertfelder (Anm. 87), S. 674. 92

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Anders als Treitschke und Srbik geht Schnabel nicht den Weg einer langen, mehr oder weniger prozeßhaften Schilderung der Vorgeschichte des 19. Jahrhunderts seit den frühmittelalterlichen Staatsbildungen in Europa. Schnabel wählt vielmehr einen strukturellen Ansatz, der im ersten Band mit der Gesamttopographie Europas einsetzt und die drei Wurzeln Antike, Christentum und Germanentum an die erste Stelle setzt. Vor diesem allgemeinen europäischen Hintergrund entfalten sich dann die für die deutsche Geschichte desfrühen 19. Jahrhunderts entscheidenden Wurzeln, die innerdeutsche Geschichte ebenso wie die Französische Revolution. Hinzu kommt der intellektuelle Kosmos des späteren 18. Jahrhunderts: Herder, Kant, Weimarer Klassik in der Literatur wie Wiener Klassik in der Musik und schließlich die Romantik in Religion und Literatur. Damit ist der Boden für die auf die napoleonische Herausforderung reagierende innerdeutsche Entwicklung, namentlich in Preußen, gelegt. Band 2 thematisiert die frühen Verfassungskämpfe, vor allem in Preußen, Band 3 die Entwicklung der Kultur- wie der Naturwissenschaften, Band 4 schließlich, der heute den größten Wert haben dürfte, weil er sich einer vielfach verdrängten bzw. hintangestellten Frage zuwendet, untersucht die Landschaft der Glaubensüberzeugungen, Konfessionen und Konflikte zwischen Kirchen und Staat in Deutschland. Gerade hier hat das historiographische Borussentum naturgemäß vielerlei Stoff gegen Schnabel gesucht und gefunden: Vorgänge wie die Verhaftung des Kölner Erzbischofs Clemens August von Droste-Vischering am 20. November 1837, der den Vorgaben der preußischen Regierung im Blick auf Willenserklärungen bei gemischt-konfessionellen Eheschließungen nicht zu folgen bereit war, und die von Schnabel breit geschilderten innerdeutschen Konsequenzen fanden in seiner Lesart naturgemäß nicht das Wohlgefallen der preußenfreundlichen Historiographie. Schnabel schrieb über die Konsequenzen des Kölner Kirchenstreites: „Der katholisch gebliebene Teil des deutschen Volkes war dem Reichsgedanken besonders nahe verbunden, aber er geriet nach den Erfahrungen des rheinischen Kirchenstreites immer stärker in eine innere Ablehnung gegenüber dem preußischen Staate, und er fand dabei mehr noch als an Österreich einen Halt an Bayern [...]. Für die Preußen wurde Bayern das Land der ,dicksten Finsternis', während die Bayern in dem norddeutschen Staate die Hochburg des friderizianischen Rationalismus und der volksfremden Bürokratie sahen: Die Entfremdung steigerte sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt und belastete den Werdegang der deutschen Nation."94

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Schnabel (Anm. 2), Bd. 4, S. 150.

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6. Abschließende Überlegungen 6.1 Resümee Die hier entwickelten Zusammenhänge beziehen sich, wie zu Beginn schon angedeutet, jedenfalls auf den ersten Blick, wenig auf die Geschichte der DDR und die Entwicklung der deutschen Frage nach 1945. Aber dieses Bild ist trügerisch. Zum einen sollte klar geworden sein, wie kontextabhängig und ideologisch präformiert die Darstellungen großer Prozesse im weiteren Vergleich auch dann erscheinen, wenn man beim Rückblick antisemitische bzw. chauvinistische Muster wie bei Treitschke und Srbik nicht in die Betrachtung einbezieht, weil es für solche Verirrungen in der heutigen historiographisch-professionellen Landschaft kaum Entsprechungen gibt. Man denke aber nur an das so verbreitete Konstrukt einer angeblichen deutschen Nation mit sozusagen modernen Bewußtseinslagen an der Schwelle vom ersten zum zweiten Jahrtausend, die dann durch Fragmentierung, Territorialbildung, Schwächung des nationalen Zentrums einen Abstieg erlebt habe, den schließlich das 19. Jahrhundert zu korrigieren vermochte. Ideologisches Konstrukt war ferner die Annahme, die deutsche Nation sei erst das schlagartige Resultat des napoleonischen Zeitalters. Vielmehr hat Nation als Bewußtseinsgemeinschaft, freilich mit jeweils spezifischen Themen eng verbunden, zuvor stattgefunden, aber eben wesentlich nur als Bild relativ kleiner Bevölkerungssegmente. All die hier geschilderten Erfahrungen sollten den Historiker zu Differenzierung und zur Betrachtung aus einer Weitwinkelperspektive unter Bereitschaft zu steter Revision von Ergebnissen anhalten. Insbesondere im Blick auf die deutsche Geschichte nach 1945 gilt es, nicht eine Binnensicht der Systemkonkurrenz zwischen Rhein und Oder in typisch deutscher Manier „über alles" zu stellen, sondern vor allem europäische Kontexte und Bedingungen zu rekonstruieren: So wie die deutsche Einigung 1870/71 nicht als isolierter Prozeß vonstatten ging, sondern als Teil einer großen Modernisierungs- und Formierungsentwicklung, so gilt dies auch für die Ereignisse 1989/90. Dabei sei für das 19. Jahrhundert nicht nur an die fast gleichzeitige italienische Einigung erinnert, wobei die regional-kulturelle Fragmentierung Italiens auf der Apenninhalbinsel viele Parallelen zu Deutschland aufwies, sondern auch an die nicht zustande gekommene Neueinrichtung eines polnischen Staatswesens, an den französischen Spätbonapartismus unter Napoleon III. und - diese Parallele wird leider viel zu selten gesehen - an den amerikanischen Bürgerkrieg von 1861 bis 1865, der im Resultat nicht nur die Aufhebung der Sklaverei, sondern vor allem auch den Übergang von einer noch stark konföderativen zu einer deutlich nationalstaatlichen Ordnung brachte. Hinzunehmen muß man für Deutschland die außenpolitischen Bedingungsfaktoren, insbesondere die sogenannte Krimkriegskonstellation von Mitte der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts an, also das Zurücktreten der Flügelmächte Großbritannien und Rußland aus den Abläufen in der Mit-

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te des Kontinents. So wurde erst das „Spielfeld" für das Bismarcksche Agieren geöffnet. Durchaus in Parallele finden wir mit dem Beginn der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts endogene und exogene Faktoren, die die kommunistischen Regime und die Konfrontätionskonstellation des Kalten Krieges zum Einsturz brachten. Nachdem die NATO gegen die sowjetische Vorrüstung im Bereich der Mittelstreckensysteme (SS-20) ihren berühmten Doppelbeschluß nicht nur 1979 gefaßt, sondern auch zu praktizieren begonnen hatte, drehte sich die sowjetische Rüstungsspirale zunehmend ins Leere; hinzu kam die wachsende technische und kommunikative Überlegenheit des Westens durch die immer mehr an Bedeutung zunehmende Mikroelektronik und durch die grenzüberschreitende Wirkung von Rundfunk und Fernsehen. Dissidenten in den sowjetischen Satellitenstaaten, so schwach sie sein mochten, gewannen durch den Reflex über westliche Sender wachsende Bedeutung. Ideologisch hatte der MarxismusLeninismus ausgespielt, und charismatisch wurde er durch die spirituelle Wirkung des ersten slawischen Pontifikats, des Pontifikats von Johannes Paul II. seit 1978, übertrumpft. Johannes Paul II, Ronald Reagan, sein Nachfolger George Bush und Michail Gorbatschow bezeichnen so ein Quartett von weltpolitisch entscheidenden Akteuren, die die Revolution von 1989/90 in Europa weitgehend vorbereiteten, trugen oder doch abschirmten. Nach Polen, in dem die Kräfte der SolidarnoSö 1988/89 nach der langen Durststrecke des Kriegsrechts von 1981 an effektiv an der Macht beteiligt worden waren, scherte vor allem Ungarn aus der Gruppe der orthodox gebliebenen Satelliten aus. Am Ende wurde es im Herbst 1989 um die DDR und die Tschechoslowakei, die in Moskau beide keinen Rückhalt mehr besaßen, einsam. Als dann ab Mitte/Ende November 1989 die operativen Arbeiten zur Durchführung der deutschen Wiedervereinigung einsetzten - wichtigste außenwirksame Zäsur war dabei der Zehnpunkteplan Helmut Kohls vom 28. November 1989 - , war von vornherein klar, daß ein künftiges Gesamtdeutschland europäisch zuverlässig vertäut werden mußte. Gerade nachdem sich das Bismarckreich in der wilhelminischen Ära ab 1890 aus allen Vertäuungen gelöst hatte, galt es jetzt, Deutschland sicherheitsund integrationspolitisch fest einzubinden. In dieser Schlußfolgerung waren sich die Weltmächte wie die europäischen Nachbarn bei allen ursprünglichen Differenzen - Probleme der Sowjetunion mit einer gesamtdeutschen NATOMitgliedschaft - im Prinzip von vornherein einig, und gerade die Tatsache, daß das eine so eng mit dem anderen zusammenhängt, die historischen Erfahrungen der Nachbarn Deutschlands mit Hegemonialansprüchen, Exzessen und zwei Weltkriegen mit der internationalen Lösung und Aufhebung der deutschen Frage 1989/90, verweist uns auf die Notwendigkeit, in Bildern und Prozessen zu denken, die über die Zeitgeschichte hinausweisen. Die hier entfalteten Überlegungen haben zum einen gezeigt, daß unser nationales Geschichtsdenken in sehr viel stärkerem Maße nicht nur in der program-

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matischen Forderung, sondern auch in der tatsächlichen Ausfüllung europäisiert werden muß. Die dabei an der Formel „Der lange Weg nach Westen" anzubringenden Zweifel wurden bereits ausgeführt. Es geht weniger um ein Idealbild, dem weitgehend die inhaltliche Füllung fehlt, noch um eine unterstellte Annäherung, die zu beschreiben außerordentlich schwer fällt. Es geht vielmehr um ein weites Spektrum von Wechselwirkungen, zugleich auch Differenzen. Deutsche Geschichte läßt sich z.B. und vor allem ohne Erörterung deutsch-französischer Interaktionen nicht (mehr) schreiben. Zugleich müßte es darum gehen, die sozusagen im Windschatten dieses privilegierten Beziehungsmusters liegenden deutsch-italienischen Beziehungen, vor allem Parallelen viel stärker ins Bewußtsein zu bringen: Deutschland und Italien sind historisch durch moderne wie durch feudale Regionen geprägt, durch Stadtrepubliken und Territorien, durch vielfache Schwächungen und Interventionen von außen - in beiden Fällen spielt diefranzösische Politik eine erhebliche Rolle, in Italien seit dem Ende des 15. Jahrhunderts, in Deutschland spätestens seit dem Dreißigjährigen Krieg. Beide zeichnen sich durch das Fehlen einer starken Zentralgewalt aus. Das zeigt sich schon im Grunde darin, daß sie beide ein Hauptstadtproblem haben: Berlin und Rom - letzteres trotz seiner kulturellen und spirituellen Bedeutung als italienische Kapitale sehr jung - sind keine über lange Zeitstrecken selbstverständliche Hauptstädte. Auch die deutsche These von der singulären Bundesstaatlichkeit, mit vergleichbaren Strukturen nur in Österreich, wo sie sich aus der gemeinsamen Tradition des Heiligen Römischen Reiches herleiteten, und in Belgien bedarf einer europäischen Korrektur. Staatsrechtlich mag diese These einigermaßen haltbar sein, schwerlich aber historisch-kulturell. Nicht nur Italien, sondern auch Frankreich und Spanien zeichnen sich durch geschichtlich verfestigte regionale Identitäten, teilweise ja mit dem zumindest zeitweiligen Anspruch auf Nationsbildung und Separatismus, aus. Man denke nur an Katalonien, an das Baskenland, an die Bretagne, Korsika und Sizilien, dazu im Falle Italiens an die rhetorisch grelle Schöpfung „Padanien" der Lega Nord. Im Zuge der jüngeren europäischen Entwicklung haben alle diese Räume, ohne nun unbedingt den staatsrechtlichen Status deutscher Länder zu erreichen, an eigener politischer Konsistenz wieder hinzugewonnen. In Deutschland wird zwar der Föderalismus in vieler Munde geführt, oft nur im Blick auf die anstehenden Verteilungskämpfe im Bundesstaat, ohne daß dabei aber seine historische Unterfütterung wirklich noch bewußt wäre. Hier tut sich durchaus ein Bildungsproblem auf: Föderalismus bedeutet nicht nur konstitutive Spielregeln der Teile in einem größeren Ganzen - das ist etwa das Niveau, auf dem sich ein Teil der Politikwissenschaft bewegt. Föderalismus leitet sich vor allem aus den langen Prozessen gewachsener Multizentralität ab. Ohne diefrüheren Reichsstädte, die Vielzahl der weltlichen Höfe und die „Germania sacra", das weite Gefilde der einst

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reichsunmittelbaren katholischen Hochstifte und Abteien, wäre heute das kulturelle Antlitz Deutschlands nicht zu denken. Deutschland ist auch in seinem jetzigen territorialen Rahmen zwischen Rhein und Oder, Nord- und Ostsee wie Alpen ein Land unzähliger Zentren und gewachsener kreativer Spannungen. Man blicke nur im Falle Württembergs auf den Gegensatz zwischen dem evangelisch-pietistischen Kernland um Stuttgart und dem katholischen, barocken Oberschwaben, gegründet auf frühere Reichsabteien und reichsunmittelbare Fürsten und Grafen, die in der napoleonischen Zeit zu sogenannten Standesherren mutierten. Man blicke nach Thüringen, ohne dessen Höfe in Weimar und Meiningen die Entwicklung der deutschen Theaterlandschaft schwerlich denkbar wäre. Man nehme Thüringen und Sachsen zusammen und spreche mit gutem historischen Grund von „Mitteldeutschland" - nicht in einem territorialrevisionistischen Sinne nach den deutschen Gebietsverlusten, sondern im Sinne einer vermittelnden, einer Übergangsfunktion zwischen Oberdeutschland südlich des Mains und den ostelbischen Bereichen mit dem Zentrum Berlin, dazu auch im Sinne der religiösen und kulturellen Prägekraft, die Reformation und Klassik entfalteten.

6.2 Ausblick Gerade die Vielfalt dieser Zentren und Wirkfaktoren läßt die für das heutige Deutschland geltende staatsrechtliche Bezeichnung als „Bundesrepublik" besonders gelungen erscheinen. Insofern sollte der Neigung bestimmter Politikwissenschaftler, Publizisten und Politiker, die so gerne von einer 1990 - angeblich - konstituierten „Berliner Republik" sprechen, nachhaltig und mit gutem Grund widersprochen werden. Dieser Begriff läßt vor allem auf Kurzatmigkeit in der Wahrnehmung wie auf einen erheblichen Mangel an Sensibilität und historischer Bildung schließen. Die besonderen Rollen, die Berlin während des 20. Jahrhunderts in der deutschen Geschichte spielte, von der Proklamation der Republik am 9. November 1918 bis zum Beschluß des Deutschen Bundestages vom 20. Juni 1991, in die deutsche Hauptstadt auch wesentliche Regierungsund Parlamentsfunktionen zu verlegen, bilden gewiß einen weiten und eindrucksvollen Bogen. Insbesondere war Berlin Brennpunkt deutscher Geschichte während des Kalten Krieges. Das alles rechtfertigt es aber keineswegs, dem deutschen Staatswesen insgesamt durch eine solche Beifügung eine Orientierung zu geben, die zum einen das Spezifikum deutscher Geschichte, nämlich ihre Multizentralität, ausblendet und die sich zum anderen so geriert, als habe das Gemeinwesen in Deutschland mit einem Mal eine neue werthafte Ausstattung bzw. Orientierung erhalten. Gerade dies sollte mit dem Beitritt von fünf Ländern (und von Ost-Berlin) auf dem Gebiet derfrüheren DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland nicht verbunden sein. Im übrigen käme kein Mensch in Deutschland darauf, den Namen einer

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Stadt, und sei sie auch die Hauptstadt, in Verbindung mit der Benennung des Landes zu bringen, wenn es nicht das Beispiel der „Weimarer Republik" gäbe. Gerade dieses Beispiel taugt aber am allerwenigsten als „Vorbild": Weimar stand für Neuanfang nach militärischer Niederlage und Kollaps des Ancien régime, entstammte technischen Zwängen beim Ausweichen aus der unsicher wirkenden Metropole in eine kleine Stadt im Zentrum des Landes, und Weimar stand zumindest partiell in Zeiten machtpolitischer Verluste für Kompensationsbemühen durch Orientierung auf literarisch-geistiges Erbe. Im übrigen steht Weimar in der Retrospektive für ein schreckliches Scheitern. All dies sollte nicht Analogien stiften können, die nun im Begriff eine „Berliner Republik" zu legitimieren hätten. Nicht wenige haben nach 1945 in Deutschland das nationale Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Da Nation kompromittiert schien und da der Nationalstaat von der Bildfläche verschwunden war, wurde eine mehr oder weniger heile Welt der Landschaften und kleinen Räume beschworen und konstruiert. Andere flüchteten sich in das Mantra Europa, das Heilung von allen nationalen Verstörungen versprach. So sehr gerade dieser Beitrag die ideologischen Abirrungen nationalistischer Geschichtsbilder in den Mittelpunkt stellt, so sehr muß man sich doch davor hüten, Nation als das sogenannte Unanständige vor allem in der deutschen Retrospektive auszublenden. Auch wenn bei der Wiedervereinigung 1989/90 in Westdeutschland eher Nüchternheit vorwaltete - das war 1870/71 im damaligen Deutschland nicht so sehr viel anders; man feierte zwar chauvinistisch den Sieg über den vermeintlichen Erbfeind Frankreich, blickte aber außerhalb des nationalliberalen Bildungsbürgertums mit einiger Skepsis in die Zukunft - , so sehr bleibt in Deutschland Nation „Verantwortungs- und Haftungsgemeinschaft" (Richard Schröder). Auch im fusionierenden Europa wird es insofern nationale Differenzen und nationale Töne geben. Die deutsche Verantwortung und Haftung hat bleibend einen vielfach anderen Inhalt als die französische oder britische. Wer an „Verantwortung und Haftung" denkt, hat im deutschen Falle an erster Stelle naturgemäß und unabdingbar die Befassung mit der nationalsozialistischen Diktatur und ihren Verbrechen im Blick. Dabei mutet die Diskussion um die Zulässigkeit des Vergleichs als Instrument des Erkenntnisgewinns mittlerweile insofern überholt an, als sich die Einsicht durchgesetzt hat, daß Vergleich nicht gleichsetzen bedeutet, sondern vor allem die Möglichkeit bietet, Spezifika deutlich werden zu lassen. Das gilt bleibend vor allem für das flächendeckende, „fabrikmäßige" Ermorden der europäischen Juden. Es ist insofern klar und eindeutig, daß der Verweis auf andere Kontexte insbesondere den Holocaust nicht

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bagatellisieren oder relativieren darf. 95 Vor einem derartigen Hintergrund sollten auch außerdeutsche Entwicklungen und Belastungen in ihren je eigenen Zusammenhängen durchaus stärker wahrgenommen werden. Die Tatsache, daß sich die an der maritimen Peripherie Europas gelegenen Länder wie Spanien, Portugal, die Niederlande, Frankreich und Großbritannien im Gegensatz zu Mitteleuropa seit Beginn der Neuzeit politisch, ökonomisch und militärisch erheblich in außereuropäischen Regionen engagierten, Sprache, Religion, Landeskultur und Verwaltungsstrukturen exportierten, Rohstoffquellen wie Bevölkerungspotentiale in Anspruch nahmen, vielfach repressiv agierten und am Ende, wie zuletzt vor allem Frankreich in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre in Algerien, mit einem mörderischen Dekolonialisierungsprozeß konfrontiert waren, ist im binnenorientierten deutschen Geschichtsbild vielfach nicht oder kaum bewußt; die hier nur skizzierten Belastungen, Erfahrungen und Blickrichtungen sind aber in ihrer Summe eben auch wesentlich europäisch prägend.96

95 Zum Holocaust selbst die Darstellung Christopher Browning, Die Entfesselung der „Endlösung". Nationalsozialistische Judenpolitik 1939 bis 1942, München 2003. Vgl. auch die bemerkenswerte Feststellung des Holocaust-Forschers Ulrich Herbert: „In der Debatte wurde aber auch sichtbar, dass bei einem nicht unerheblichen Teil der Diskussionsteilnehmer aus dem liberalen und linken Lager mit dem pathetischen Vergleichsverbot andere Blindstellen überdeckt wurden. Denn die Furcht vor dem ,Aufrechnen' führte vielfach dazu, die Verbrechen in der stalinistischen Sowjetunion nicht wahrzunehmen, zu verkleinern oder zu funktionalisieren. [...] Die Einordnung von Vertreibung und Ermordung der Juden in den Kontext der ethnischen Säuberung und des radikalen Nationalismus im 20. Jahrhundert insgesamt und in den Kontext der Entgrenzung politischer Macht in den totalitären Vernichtungsdiktaturen hat den Judenmord weder verkleinert noch kommensurabel gemacht, sondern seine spezifische Gestalt und Bedeutung erst profiliert." Ulrich Herbert, Der Historikerstreit. Politische, wissenschaftliche, biographische Aspekte, in: Sabrow/Jessen/Kracht (Anm. 55), S. 94-113, hier S. 104f. Zur Spezifik des Holocausts siehe auch Hannah Arendt, zit. nach Nikolas Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003, S. 469: „Das Entscheidende ist ja nicht das Jahr 33, jedenfalls für mich nicht. Das Entscheidende ist der Tag gewesen, an dem wir von Auschwitz erfuhren. [...] Das war 1943, und erst haben wir es nicht geglaubt. [...] Das ist der eigentliche Schock gewesen. [...] Das war wirklich, als ob der Abgrund sich öffnet. Weil man die Vorstellung gehabt hat, alles andere hätte irgendwie noch einmal gutgemacht werden können, wie in der Politik ja alles einmal wiedergutgemacht werden kann. Dies nicht. Dies hätte nie geschehen dürfen. Und damit meine ich nicht die Zahl der Opfer. Ich meine die Fabrikation von Leichen [...]. Dies hätte nie geschehen dürfen. Da ist irgend etwas passiert, womit wir alle nicht mehr fertig werden. [...] Das war etwas ganz anderes. Mit allem anderen konnte man auch persönlich fertig werden. [...] Was immer 33 geschehen ist, ist eigentlich - angesichts dessen, was dann später geschah - unerheblich." 96 Die vielfach nicht positiven kolonialen Erfahrungen Deutschlands von der Mitte der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkrieges mit einer so blutigen Geschichte wie dem Völkermord von 1904 an den Hereros im damaligen Deutschsüdwestafrika erscheinen, in einer vergleichenden historischen Gewichtung ge-

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Ein anderes Beispiel zeigt zugleich, daß die politische und in hohen Graden auch kulturelle und mediale Integration Europas nicht zu vereinheitlichten Geschichtsbildern nach einem gewissermaßen mathematisch-schematischen Prozeß fuhren kann und darf: Die Erfahrung von Bevölkerungsvertreibungen und -Verpflanzungen hat für das Europa des 20. und in der Rückschau des

21. Jahrhunderts zweifellos zentrale Bedeutung. Der Bogen reicht vom brutalen Bevölkerungsaustausch zwischen Griechen und Türken nach dem Ersten Weltkrieg bis zu „ethnischen Säuberungen" und Mordaktionen auf dem Gebiet des früheren Jugoslawien seit 1991. Gerade der aktuelle Streit um ein Vertriebenenzentrum mit Darstellungs- und Forschungsanspruch, in Deutschland, respektive Berlin, oder außerhalb, macht dabei deutlich, daß es nicht um die Herbeiführung einer Resultante gehen darf, die die Vielfalt der Ursachen, Erfahrungen und Dimensionen eher überdeckt. Die deutsche Spezifik liegt einerseits in der „Urschuld" der Herbeiführung des Zweiten Weltkrieges wie in der mörderischterroristischen Form seiner Führung, die auch auf tiefgreifende Änderungen in den Bevölkerungszusammensetzungen Ostmittel- und Osteuropas zielte. Die deutsche Erfahrung liegt andererseits in der singulären Dimension von Flucht und Vertreibung für die eigene Population aus dazu großflächigen, geschlossenen Siedlungsräumen, in denen es vielfach gar keine ethnischen Konflikte gegeben hatte. Zum dritten liegt die spezifisch positive deutsche Erfahrung in der gelungenen Integration der vertriebenen Bevölkerung in das Wirtschafts-, Sozial» und Kulturleben Westdeutschlands.97 Dieses Bündeln nationaler Erfahrungen nicht isoliert für sich stehen zu lassen, aber eben doch auch als zentralen „eigenen" Faktor in einer kontinentalen Gesamterfahrung darzustellen und zu werten, scheint begründet und legitim. Offiziöse Geschichtskultur und Geschichtspolitik konzentrieren sich seit geraumer Zeit zunehmend auf Schlüsseldaten und Jubiläen. Man mag dies aus einer eher reflexiven Sicht belächeln, gleichwohl liegen hier große Chancen für Vermittlung und Bewußtmachung. In mittel- und längerfristiger Vorausschau sollten sich Wissenschaft und Öffentlichkeit dabei gerade auf zwei Jubiläen einstellen: auf das zweihundertjährige Ende des Alten Reiches 2006 und auf ein Jahrhundert nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Jahre 2014. Beide Daten werden vielfachen Anlaß geben, über historische Verluste und über die Frage nachzudenken, ob und inwiefern Entscheidungsträger Wirkungen dessen, was sie initiieren oder geschehen lassen, erkennen können. Freilich wird es dagenüber den kolonialen Prägungen der großen westeuropäischen Staaten, doch eher weniger prägend. 97 Vgl. mit dem kontrastierenden Blick auf Westdeutschland jetzt Michael Schwartz, Vertriebene und ,Umsiedlungspolitik\ Integrationskonflikte in den deutschen Nachkriegs-Gesellschaften und die Assimilationsstrategie in der SBZ/DDR 1945-1961, München 2004.

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bei auch darum zu gehen haben, vordergründige politische Vereinnahmungen zu verhindern. Wie immer sich auch Bewertungen verschieben mögen, bleibt doch die Grundtatsache, daß eine instrumentalisierte Geschichte mehr Schaden als Nutzen stiftet. Vor diesem Hintergrund sei abschließend kurz auf den Begriff einer (deutschen) „Leitkultur" eingegangen, zumal er tagespolitisch über einige Zeit für Aufregung gesorgt hatte und dann nahezu in der Versenkung verschwand. Eine, von herkömmlichen Schwarz-Weiß-Schemata abweichende Reflexion scheint kaum stattgefunden zu haben. Entweder war Leitkultur als vermeintlich deutschtümelnd kontaminiert oder - affirmiert und ohne spezifische Füllung nur propagiert. Leitkultur aber lediglich als Beschwörung des selbstverständlichen Erbes der europäischen Aufklärung und der Französischen Revolution, wie es die Verteidiger dieses Begriffes in nicht eingestandener argumentativer Not vertraten, wäre wohl zu wenig: Bezieht man sich (nur) auf Rechtsstaat, Gleichberechtigung der Geschlechter - insbesondere in Abgrenzung zum Islamismus - , Menschenrechte, Pluralismus und Demokratie als politisches Prinzip, dann befindet man sich auf einem gemeinsamen Nenner, der einerseits selbstverständlich und zugleich verbindlich ist, der andererseits jeder eigenen Schattierung entbehrt. Leitkultur hingegen als nationales, ethnisch-historisches Programm wäre eine chauvinistische Verirrung, die sich in Europa und namentlich in Deutschland schlichtweg verbietet. Was bleibt und was offenkundig nicht bzw. nahezu nicht thematisiert wurde, ist die Weitergabe eines nicht nur gemeinsamen, sondern eben in vielerlei Hinsicht auch differenten Erbes an Erfahrungen und Traditionen, die für künftige politische Kultur mit wertvoll sein mögen: Im deutschen Falle sind dies nach der doppelten Diktaturvergangenheit mit Nationalsozialismus und SED-Kommunismus die weiter zurückliegenden spezifischen Erfahrungen mit konfessioneller Teilung, mit einer zweiten staatlichen Ebene von Territorien unterhalb des Gesamtstaates, mit einem aufgeklärten Absolutismus, der immer wieder in Revolutionen von oben, kaum aber in Revolutionen von unten mündete. Diese unterschiedlich dichten und wirksamen, allesamt kulturell bedeutsamen Faktoren als spezifisch deutsches Erbe in europäische Identitätsbildung einzubringen, gewiß nicht präpotent, aber durchaus vernehmbar, sollte eine in Zukunft lohnende Aufgabe sein, an der mitzuwirken deutsche Historiker allen Anlaß hätten.

Regionalkultur und Heimat-Propaganda im Dritten Reich und in der S B Z / D D R

Von Thomas Schaarschmidt

1. Regionalkultur und „interactive dictatorship" Auf Grundlage seiner Forschungen zur Denunziationspraxis im nationalsozialistischen Deutschland kommt Robert Gellately zu dem Schluss, dass sich die Machthaber des Dritten Reichs in hohem Maße auf die Kooperationsbereitschaft der Bevölkerung verließen und verlassen konnten. Er schlägt daher vor, den in den 1970er Jahren von Martin Broszat für das Dritte Reich geprägten Begriff der „plebiszitären Diktatur" um den der „interactive dictatorship" zu ergänzen1. Zu Recht kontrastierte er diese Grundeinstellung mit dem Bestreben kommunistischer Diktatoren, das Instrument der Denunziation in einem top down- Prozess zur Durchsetzung ideologischer Leitvorstellungen gegen die eigene Bevölkerung zu nutzen. Wenn sich auch die taktischen Mittel der Machtsicherung und Machterhaltung ähnelten, fühlten sich Hitler und die Nationalsozialisten doch weitaus stärker verpflichtet, eine breite Zustimmung der deutschen Bevölkerung zu gewinnen, um dem angestrebten Ziel einer politisch und rassisch homogenisierten „Volksgemeinschaft" näher zu kommen, so der amerikanische Historiker 2. Trotz dieses markanten Unterschiedes in Intention und Herrschaftspraxis betont Gellately Anfang 2004 in einem Interview, dass sowohl der nationalsozialistische als auch der kommunistische Staat in einem viel stärkeren Maße auf die Beteiligung der Bevölkerung angewiesen waren, als es die gängigen Vorstellungen von Polizeistaaten erwarten ließen3. Von dieser Feststellung ist es nur noch ein kleiner Schritt zu der Frage, ob und inwieweit

1

Vgl. Robert Gellately, Hingeschaut und weggesehen. Hitler und sein Volk, Bonn 2003, S. 356. 2 Ebd. 3 L.-C. Gaultier , Robert Gellately. Une œuvre controversée, in: Aventures et dossiers secrets d'histoire 50 (2004), S. 40.

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sich das Konzept der „interactive dictatorship" auch auf kommunistische Herrschaftssysteme anwenden lässt. Diese Frage erscheint umso naheliegender, als die Forschungsdebatten der letzten Jahre um die Rolle der Gesellschaft in kommunistischen Diktaturen das Bild einer wechselseitigen Durchdringung von Staat, Partei und Gesellschaft nahe legen. Wie Ralph Jessen schon 1995 pointiert formulierte, sorgten in der DDR gerade die ideologisch motivierte Entgrenzung und Entdifferenzierung des Staates dafür, dass er „in einer gewissen Weise immer mehr vergesellschaftet wurde"4. Dabei versteht es sich von selbst, dass die „Vergesellschaftung" des Staates in kommunistischen Diktaturen ganz anderen Grundmustern folgte als in pluralistischen Demokratien. Will man sich vergegenwärtigen, in welchem Verhältnis soziale Eigendynamik und der umfassende Herrschaftsanspruch totalitärer Weltanschauungsdiktaturen zueinander standen, welche Rolle sie für die Stabilisierung der gesellschaftlichen Ordnung und die Mobilisierung der Bevölkerung spielten, oder wann strukturelle Systemdefekte in eine Destabilisierung der Gesamtsysteme umschlugen, ist es unverzichtbar, den Blick auf die Feinmechanik in den Wechselbeziehungen von Staat und Gesellschaften zu lenken5. Nur so lassen sich die Spezifika nationalsozialistischer und kommunistischer Diktaturen exakt erfassen und miteinander vergleichen. In dieser Perspektive wird auch das vermeintlich Irrelevante relevant. Könnte man auf den ersten Blick geneigt sein, die Bedeutung von Regionalkultur und Heimat-Bildern für den Bestand und das Funktionieren von Diktaturen gering zu veranschlagen, so zeigt eine detaillierte Untersuchung dieser Phänomene, wie eng die Instanzen von Staat und Partei in diesem Bereich mit gesellschaftlichen Interessen verflochten waren6. Der totalitäre Gestaltungsanspruch der herrschenden Parteiführungen und die seit Jahrzehnten in den Strukturen der Heimatbewegung gewachsenen organisatorischen und kulturellen Traditionen standen in einem unauflösbaren Spannungsverhältnis, das beide Seiten zu immer neuen Arrangements veranlasste. Diese wurden zwar von den ideologischen

4 Vgl. Ralph Jessen, Die Gesellschaft im Staatssozialismus. Probleme einer Sozialgeschichte der DDR, in: Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), 106. 5 Vgl. Sandrine Kott, Pour une histoire sociale du pouvoir en Europe communiste: introduction thématique, in: Revue d'histoire moderne et contemporaine 49 (2002) 2. 6 Die hier vorgestellten Ergebnisse beziehen sich in erster Linie auf Sachsen und basieren in weiten Teilen auf der Habilitationsschrift des Verfassers: Regionalkultur und Diktatur. Sächsische Heimatbewegung und Heimat-Propaganda im Dritten Reich und in der SBZ/DDR, Köln 2004. Willi überkrontes Habilitationsschrift ,„Deutsche Heimat'. Nationale Konzeption und regionale Praxis von Naturschutz, Landschaftsgestaltung und Kulturpolitik in Westfalen-Lippe und Thüringen (1900-1960)" (Paderborn 2004) beschäftigt sich unter der Frage nach ihrem Beitrag zu Naturschutz und Landschaftsgestaltung ebenfalls mit der Heimatbewegung im Nationalsozialismus und in der DDR.

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Prämissen und den jeweiligen Machtkonstellationen bestimmt, waren aber in den seltensten Fällen und allenfalls vorübergehend Ausdruck einseitiger politischer Machtausübung. Über weite Phasen der NS-Zeit und der DDR-Geschichte dominierten hingegen Versuche, Heimat-Stereotypen für die Propaganda zu nutzen und die Protagonisten und Mitglieder der Heimatbewegung mit einer Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche in das Fahrwasser der offiziellen Kulturpolitik zu manövrieren. Bevor hier der Versuch unternommen wird, das Konzept der „interactive dictatorship" auf die Funktion von Regionalkultur und Heimat-Propaganda im nationalsozialistischen Deutschland und in der SBZ/DDR anzuwenden, bedarf es einer Definition dessen, was unter dem schillernden Terminus „Regionalkultur" zu verstehen ist. Lässt schon der Begriff „Kultur" eine Vielzahl widersprüchlicher Deutungen zu, so gilt das kaum minder für das Kompositum „RegionalKultur". Als die Beschäftigung mit Region und Heimat in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren in der Bundesrepublik eine erstaunliche Renaissance erlebte, definierten der Volkskundler Konrad Köstlin und der Kultursoziologe Wolfram Lipp „Regionalkultur" - unabhängig voneinander - als ein Konstrukt zur Stiftung von Sinn und Identität. „Regionalkultur", so Lipp, sei „paradigmatisch zu verstehen als Muster, Verstärker und Haltepunkt für Identifikation" 7. Regionalkultur ist demnach nicht einfach ein kultureller Traditionsbestand, sondern ein von interessierten Kreisen mehr oder weniger explizit formuliertes werthaltiges und raumbezogenes Identifikationsangebot, das denjenigen, die es verinnerlichen, als handlungsleitendes Motiv dienen kann. Weniger einem Selbstzweck als vielmehr der Stärkung der Heimatverbundenheit dienen demnach Aktivitäten wie die Pflege - tatsächlicher oder vermeintlicher - regionaler Kulturtraditionen, die Erforschung der heimatlichen Geschichte, Kultur und Natur sowie der Denkmal-, Natur- und Landschaftsschutz. Traditioneller Träger dieser Bestrebungen waren die Vereine und Verbände der Heimatbewegung, die sich in Deutschland seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts entwickelt hatte. Auch wenn der Begriff „Heimatbewegung" Einheitlichkeit suggeriert, war sie alles andere als homogen. Sie setzte sich seit ihren Anfängen aus einer Vielzahl lokaler und regionaler Geschichts-, Heimat-, Volkskunstvereine zusammen, die zwar auf Reichs-, Landes- und Provinzebene über Dachverbände verfügten, sich in ihrer Arbeit aber zumeist an den Interessen der Mitglieder vor Ort orientierten und dabei nicht selten miteinander kon-

7 Wolfgang Lipp, Soziale Räume, regionale Kultur. Industriegesellschaft im Wandel, in: ders. (Hrsg.), Industriegesellschaft und Regionalkultur. Untersuchungen für Europa, Köln 1984, S. 38; Konrad Köstlin, Die Regionalisierung von Kultur, in: ders JHermann Bausinger (Hrsg.), Heimat und Identität. Probleme regionaler Kultur. 22. Deutscher Volkskunde-Kongress in Kiel vom 16. bis 21. Juni 1979, Neumünster 1980, S. 34f.

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kurrierten. Gelten Vereine und Verbände nach dem Modell der Zivilgesellschaft als essentielle Mikrostrukturen der gesellschaftlichen Selbstorganisation, so eignen sich gerade die Vereine der Heimatbewegung besonders dazu, die Prozesse gesellschaftlicher Transformation in totalitären Weltanschauungsdiktaturen zu erforschen.^ Aus ihrer starken organisatorischen Verfestigung und ihren an langen Traditionen orientierten Leitbildern ergaben sich sowohl Berührungspunkte als auch Reibungsflächen mit der offiziellen Kulturpolitik und -propaganda, die sich auf breiter Quellengrundlage erforschen lassen. Obwohl die Protagonisten der deutschen Heimatbewegung das zumeist bestritten, standen ihre Kulturvorstellungen und Identifikationsangebote in latenter Konkurrenz zum Totalitätsanspruch von NSDAP und SED, die ihrerseits versuchten, das Feld der Regionalkultur zu besetzen, um es für die politische Propaganda und Erziehung zu instrumentalisieren. Da sich keine der beiden Staatsparteien die Gelegenheit entgehen lassen wollte, die Attraktivität tradierter Heimat-Ideale zu nutzen, um die Akzeptanz ihrer gesellschaftspolitischen Zielprojektionen zu verbessern, blieben sie in hohem Maße auf die - weitgehend freiwillige - Mitarbeit der regionalkulturellen Vereine und ihrer Vertreter angewiesen, die sie zu diesem Zweck in parteinahe Kulturorganisationen zu integrieren versuchten. Letztere traten zwar mit dem offiziellen Anspruch auf, den kulturpolitischen Primat der herrschenden Parteien durchzusetzen, sahen sich aber ihrerseits in der praktischen Arbeit genötigt, auf die Bedürfhisse der neuen Mitglieder aus der traditionellen Heimatbewegung Rücksicht zu nehmen, wenn sie deren langfristige Assimilation erreichen wollten. Um die Mechanismen des Herrschaftsalltags in Diktaturen am Beispiel der Regionalkultur und ihrer propagandistischen Nutzung zu erfassen, soll im folgenden - zunächst für das nationalsozialistische Deutschland und dann für die SBZ/DDR - untersucht werden, -

in welchen Schritten und mit welchem Erfolg sich die Überführung der unabhängigen Vereine und Verbände in die systemkonformen Organisationsstrukturen vollzog,

-

inwieweit die Instrumentalisierung von Heimatvorstellungen für die Propagierung systemrelevanter Inhalte gelang, und

-

welche Bedeutung diese Bemühungen für die gesellschaftliche Stabilisierung und Mobilisierung in beiden deutschen Diktaturen hatten.

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2. Regionalkultur und Heimat-Propaganda in der NS-Zeit In den letzten Jahren ist eine Forschungskontroverse darüber entbrannt, wie stark sich das bürgerlich-konservative Vereinswesen in der Spätphase der Weimarer Republik unter dem Einfluss der Weltwirtschaftskrise wandelte und welche Möglichkeiten sich daraus für die NSDAP ergaben, die Vereine zu infiltrieren und für ihre Propaganda zu nutzen8. Ganz zweifellos kam es in der Zeit der Weimarer Republik zu einer Erschütterung der bürgerlichen Gesellschaft, die aber nicht erst mit der Weltwirtschaftskrise einsetzte, sondern bis in die Anfangsjahre der Republik zurückverfolgt werden kann9. In dieser Phase erlebten die Heimatvereine in Sachsen als einem Land mit relativ hoher Vereinsdichte eine Blütezeit10. Schaut man sich die Mitgliederzahlen an, so gingen diese zwar in der Krise der späten 1920er Jahre zurück, sie blieben aber immer noch auf einem relativ hohen Niveau11. Insgesamt betrachtet sollte man demzufolge davon sprechen, dass die regionalkulturellen Vereine und Verbände in Sachsen erst nach dem Ersten Weltkrieg den Durchbruch zur Massenbewegung vollzogen. Gerade die Heimatbewegung profitierte von der allgemeinen Wertekrise, da ihre Propagierung sogenannter heimatlicher Werte moralische Orientierung und einen vermeintlichen Ruhepol in den Stürmen der Zeit verhieß12.

8 Oded Heilbronner, Der verlassene Stammtisch. Vom Verfall der bürgerlichen Infrastruktur und dem Aufstieg der NSDAP am Beispiel der Region Schwarzwald, in: Geschichte und Gesellschaft 19 (1993) 2, S. 178-201; Frank Bosch, Das konservative Milieu. Vereinskultur und lokale Sammlungspolitik in ost- und westdeutschen Regionen (1900-1960), Göttingen 2002, S. 222; Claus-Christian Szejnmann, Theoretische und methodische Chancen und Probleme regionalgeschichtlicher Forschungen zur NS-Zeit, in: Michael Ruck/Karl Heinrich Pohl (Hrsg.), Regionen im Nationalsozialismus, Bielefeld 2003, S. 52f. 9 Vgl. Richard 1 Evans, Das Dritte Reich. Bd. I: Aufstieg, München 2004, S. 136ff. 10 Claus-Christian Szejnmann, Vom Traum zum Alptraum. Sachsen in der Weimarer Republik, Dresden 2000, S. 90 u. 92. 11 Sächsische Staatszeitung, 31.12.1928: „Neues Sächsisches Naturschutzgebiet" (SächsHStAD, Mdl, 5833-2, p. 163); Der deutsche Heimatschutz. Ein Rückblick und Ausblick, hrsg. v. der Gesellschaft der Freunde des deutschen Heimatschutzes, München 1930, S. 200; Die Kulturorganisation Landesverein Sächsischer Heimatschutz e.V. von der Gründung bis zur Gegenwart, Dresden [1934], S. 7; Tätigkeitsbericht des Erzgebirgsvereins auf die Zeit vom 1. Oktober 1932 bis 30. September 1933. Erstattet vom Schriftführer Kaufinann Curt Unger, Schneeberg, in: Glückauf! 53 (1933) 11, S. 254; Der Erzgebirgsverein e.V. Sitz Schneeberg. Was er erstrebte - und was er erreichte, [Januar 1947] (SächsHStAD, Landesregierung Sachsen [= LRS], HV Staatliche Museen, Schlösser u. Gärten, 38, p. 222). 12 Vgl. Hermann Bausinger, Heimat und Identität, in: ders./Konrad Köstlin (Hrsg.), Heimat und Identität. Probleme regionaler Kultur. 22. Deutscher Volkskunde-Kongress in Kiel vom 16. bis 21. Juni 1979, Neumünster 1980, S. 15.

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Wenn auch mit gewissen Abstrichen bildeten die regionalkulturellen Vereine und Verbände der Heimatbewegung in der Weimarer Republik einen integralen Bestandteil des kulturkonservativ-national-völkischen Lagers13. Dabei variierte der völkisch-rassistische Einschlag14, der in den Publikationsorganen der sächsischen Heimatbewegung zunächst nur eine untergeordnete Rolle spielte15. Größere Bedeutung hatten die Vorstellung einer nationalen Wiedergeburt aus der Heimat und die Propagierung der Heimat als einem unpolitischen Bezugspunkt der Volksgemeinschaft 16. In der Grundidee, dass die gemeinsame Besinnung auf - oft sehr willkürlich definierte - „Werte der Heimat" zu einer Aufhebung aller sozialen und politischen Differenzen und damit zur Konstitution der deutschen Volksgemeinschaft beitrügen, spiegelte sich eine unverkennbare Distanz zum Pluralismus der Weimarer Parteiendemokratie wider, die die antirepublikanische Stimmung stärkte und damit indirekt dem Nationalsozialismus zugute kam. Dass in Sachsen ein engerer Schulterschluss zwischen der Heimatbewegung und der NSDAP nicht schon vor dem 30. Januar 1933 zustande kam, lag nicht zuletzt an der schwer vereinbaren Haltung beider Seiten zum Föderalismus. Während sich die großen regionalkulturellen Organisationen noch 1931 in der sogenannten „Bewegung gegen den Berliner Reichszentralismus" engagierten, die den Notverordnungsdirigismus der Präsidialkabinette und die wirtschaftliche Benachteiligung Sachsens im Reich anprangerte17, verstanden sich gerade die führenden sächsischen Nationalsozialisten als Sachwalter des nationalen

13 Vgl. Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache - Rasse - Religion, Darmstadt 2001, S. 147f. 14 Karl Ditt, Raum und Volkstum. Die Kulturpolitik des Provinzialverbandes Westfalen 1923-1945, Münster 1988, S. 62f.; Werner Härtung; „Das Vaterland als Hort der Heimat". Grundmuster konservativer Identitätsstiftung und Kulturpolitik in Deutschland, in: Edeltraud Klueting (Hrsg.), Antimodernismus und Reform. Zur Geschichte der deutschen Heimatbewegung, Darmstadt 1991, S. 114. 15 Julius Kober, Heimatpflege, in: Sächsische Heimat. Mitteldeutsche Monatshefte. Leben, Kunst, Volkstum 8 (1924) 3, S. 119f. 16 Rudolf Heubner, Das Lebendige im Heimatgedanken, in: Die Neue Heimat. Monatsschrift für die sächsischen Lande. Literatur - Kunst - Wissenschaft 1 (1920) 7, S. 183f.; Kurt Arnold Findeisen, Heilige Heimat, in: Sächsische Heimat. Halbmonatsschrift für die obersächsischen Lande. Volkstümliche Kunst und Wissenschaft. Gewerbe. Wandern. Reisen. Schollenfreude 5 (1921) 1-2, S. lf. 17 Ansprache des Geheimen Rats Dr. Just in der Vorbesprechung über die Bildung eines Ausschusses zur Abwehr des Reichszentralismus am 4. Dezember 1931. Vertraulich, S. 3 (SächsHStAD, Nl. Hellmut Kretzschmar, 61); Sachsen gegen den Berliner Zentralismus. Bericht über die Kundgebung führender sächsischer Beamten-, Kulturund Wirtschaftsverbände am 29. April 1932, Dresden [1932] (Veröffentlichungen des Verbandes Sächsischer Industrieller, 66).

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Einheitsstaates18. Wenn sie auf Sachsen Bezug nahmen, dann geschah das nur mit Blick auf die Wirtschaftskrise im Lande oder die Entwicklung der Gauparteiorganisation19. Unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtergreifung kam es daher zu einer kurzen Phase der Irritation, als die Vereine und Verbände der sächsischen Heimatbewegung noch nicht genau abschätzen konnten, was sie von der neuen Staatsfiihrung zu erwarten hatten20. In dieser Zeit überboten sie sich mit Loyalitätsadressen an die neue Regierung, in denen sie sich mit großer Vorliebe als ideelle Vorläufer der Nationalsozialisten porträtierten, um dann unisono zu erklären, dass sie sich gar nicht mehr gleichzuschalten brauchten21. Teils entsprangen diese Bekundungen echten Überzeugungen, teils der Hoffnung auf staatliche Unterstützung und teils der Sorge um die organisatorische Autonomie der Vereine. Auf Seiten der NSDAP mangelte es zunächst an einer einheitlichen Strategie, wie mit dem bürgerlichen Vereinswesen verfahren werden sollte. Bekanntermaßen standen diese Aufgaben in den ersten Monaten nach der Machtergreifung hinter der Bekämpfung der Arbeiterparteien, der Gewerkschaften und des sozialistischen Vereinswesens zurück. Diese Situation nutzten gleich mehrere nationalsozialistische Kulturorganisationen, die seit Anfang 1933 danach strebten, sich das unabhängige Vereinswesen einzuverleiben. In der Anfangsphase des

18 Vgl. Colditzer Tageblatt, 16.12.1933: „Das Dritte Reich wird aufgebaut. Öffentliche Mitgliederversammlung der Colditzer NSDAP. Rede des Grimmaer Kreisleiters Otto Naumann" (SächsHStAD, Staatskanzlei, Nachrichtenstelle, Zeitungsausschnitte, 430-2). 19 Tageblatt Annaberger Volksblatt, 11.7.1932: „Bezirkstreffen und Grenzlandkundgebung der NSDAP" (SächsHStAD, Staatskanzlei, Nachrichtenstelle, Zeitungsausschnitte, 429-1); Allgemeine Zeitung Chemnitz, 20.6.1933: „Ein großer Tag für Chemnitz. 5000 SS-Männer vor Reichsstatthalter Mutschmann und Gruppenführer Süd-Ost von Woyrsch" (ebd., 429-2). 20 Tharandter Tageblatt, 27.2.1933: „Abschiedsabend des Hofrates Professor Seyffert" (SächsHStAD, Staatskanzlei, Nachrichtenstelle, Zeitungsausschnitte, 1424). 21 Walter Fröbe, 55. Abgeordneten- und Hauptversammlung des Erzgebirgsvereins im Radiumbad Oberschlema am 14. und 15; Oktober, in: Glückauf! 53 (1933) 11, S. 249f.; vgl. Chemnitzer Tageblatt, 16.4.1933: „Zielbewußte Arbeit der Heimatpflege. Frühjahrstagung des Erzgebirgsvereins. Wirken für Volk und Vaterland" (SächsHStAD, Staatskanzlei, Nachrichtenstelle, Zeitungsausschnitte, 1424); Die Kulturorganisation Landesverein Sächsischer Heimatschutz (s. Anm. 11); Für Heimat, Volk und Vaterland! In: Heimatblätter für Sachsen und Thüringen 10 (1933) 5, S. 8; [Werbeblatt des Sächsischen Altertumsvereins, Juni 1933] (SächsHStAD, Sächsischer Altertumsverein (= SAV), 50 c, p. 7f.); Woldemar Lippert an Willy Hoppe, 2.10.1933 (ebd., 126 b); Ernst Pietsch (Altertumsverein zu Plauen) an den Kampfbund für deutsche Kultur e.V. Ortsgruppe Plauen, 11.6.1934, Konzept (Stadtarchiv Plauen, Altertumsverein Plauen [=A.P.], 25, p. 112).

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NS-Regimes handelte es sich dabei vor allem um Alfred Rosenbergs „Kampfbund für deutsche Kultur", den neu gegründeten „Reichsbund Volkstum und Heimat", den „Nationalsozialistischen Lehrerbund", das „Deutsche Volksbildungswerk" und den „Bund Deutscher Osten". 1935 machten sich dann die „Nationalsozialistische Kulturgemeinde" als Nachfolgeorganisation des „Kampfbundes", die NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude" und in zunehmenden Maße Goebbels' Reichskulturkammer dasselbe Feld streitig. In den ersten Kriegsjahren erweiterte sich dieses Spektrum um regionale Gaukulturverbände und -heimatwerke, die sich allen nachträglichen Bemühungen des Reichspropagandaministers um eine Unterordnung entzogen22. Entsprechend den polykratischen Gesamtstrukturen des NS-Systems ergab sich daraus von vornherein eine Konkurrenzsituation, die es den Vereinen der Heimatbewegung in einem gewissen Rahmen ermöglichte, zwischen verschiedenen Dachorganisationen zu optieren und sich damit eine allzu starken Einflussnahme in ihre inneren Strukturen zu entziehen. Diese Tendenz wurde noch dadurch begünstigt, dass die meisten der NS-Kulturorganisationen mit der Integration und Kontrolle der Vereine und Verbände völlig überfordert waren und ihr Anspruch, bis ins letzte Dorf des Reiches präsent zu sein, nur auf dem Papier stand23. Folgenreicher als die formale Gleichschaltung erwies sich die pragmatische Kooperation mit den neuen Machthabern in den ersten Jahren der NSDiktatur 24. Von Seiten der NSDAP wurde die organisatorische Autonomie der regionalkulturellen Vereine und Verbände in dieser Zeit weitgehend respektiert, solange sie sich systemkonform verhielten und den Zielen der „Volkstumspflege" - im Dienste der NS-Volksgemeinschaft - unterordneten. Die wichtigste Brücke zwischen den regionalkulturellen Vereinen und Verbänden auf der einen und den NS-Kulturpolitikern bildeten dabei die weiten Überschneidungen im Volksgemeinschaftsideal 25.

22 Vgl. Volker Dahm, Nationale Einheit und partikulare Vielfalt. Zur Frage der kulturpolitischen Gleichschaltung im Dritten Reich, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 43 (1995) 2, S. 221-265. 23 Vgl. Thomas Schaarschmidt, Regionalkultur (s. Anm. 6), S. 46 u. 67f. 24 Sächsisches Gesetzblatt, 22.1.1943. Nr. 8: Ausführungsverordnung zum Gesetz zum Schutze von Kunst-, Kultur- und Naturdenkmalen (Heimatschutzgesetz) vom 17. Januar 1934, S. 19 (SächsHStAD, Ministerium für Volksbildung, HA Kunst und Literatur, 2231); Zehn Merksätze für das Bauen in Stadt und Land. Herausgegeben im Einverständnis mit dem Sächsischen Ministerium des Innern von der Bauberatungsstelle des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz, in Anlage zu: Landesverein Sächsischer Heimatschutz an die Amtshauptmannschaft Oelsnitz, 28.8.1934 (SächsHStAD, Amtshauptmannschaft Oelsnitz, 15-3, p. 7). 25

Alexander Kurt Passolt, Aus den Zweigvereinen: Zschopau, in: Glückauf! 53 (1933) 11, S. 269; Siegfried Sieber, Grenzland Erzgebirge. Sprechchor, Annaberg 1934; Vortrag des Kreiskulturwarts der NSDAP Annaberg Dr. Günther zur Haupttagung des

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Für die NSDAP hatte die Zusammenarbeit mit der Heimatbewegung den großen Vorteil, dass sie deren regionalkulturelle Leistungen als eigene Erfolge verbuchen konnte26. Im Gegenzug hofften die Vereine und Verbände auf größere Anerkennung ihrer Arbeit, die sich in ideeller und materieller Unterstützung auszahlte. Am weitesten kam der Sächsische Verband für Volkskunde den Instanzen der Partei entgegen. In Fortsetzung der jahrzehntelangen engen Zusammenarbeit mit den sächsischen Lehrern gelang es seinem Vorsitzenden Adolf Spamer bereits im Juli 1933, eine „Landesstelle für Volksforschung und Volkstumspflege" einzurichten, die in den Gauverband des „Nationalsozialistischen Lehrerbundes" integriert wurde27, um Einfluss und Infrastruktur der parteinahen Kulturorganisation für die wissenschaftliche Arbeit zu nutzen. Begünstigt durch diese Zusammenarbeit vollzog sich trotz des relativ schwachen Zugriffs der parteinahen Kulturorganisationen auf regionaler und lokaler Ebene gerade in der ersten Hälfte der 1930er Jahre eine kulturpolitische Assimilation der regionalkulturellen Vereine an nationalsozialistische Volkstumsvorstellungen, für die der Terminus „Selbstgleichschaltung" angemessen erscheint28. Diese schlug sich beispielsweise in Satzungsänderungen, im Ausschluss jüdischer Vereinsmitglieder, einem stärkeren Engagement in der Grenzlandpropaganda, in der zunehmenden Verwendung ideologischer Argumentationsmuster sowie in der Politisierung der Vereinsrituale nieder29. Wenn diese Anpassung in einigen Fällen auch eine Folge direkten Drucks der nationalsozialistischen Kulturpolitiker oder staatlicher Instanzen war 30, ergab sie sich doch weitaus häufiger in vorauseilendem Gehorsam oder in der Hoffnung, in Anlehnung an Staat und NSDAP die eigenen Interessen zu fordern. EV in Thalheim, in: Glückauf! 54 (1934) 11, S. 253; Max Günther, Warum eine erzgebirgische Tracht? In: Glückauf! 55 (1935) 8, S. 179. 26 Rödertal Zeitung/Arnsdorf, 6.10.1936: „Erhaltet die heimatliche Schönheit! ,Schönheit der Scholle4" (SächsHStAD, Staatskanzlei, Nachrichtenstelle, Zeitungsausschnitte, 1427-1). 21 Arthur Göpfert/Karl Ewald Fritzsch/Adolf Spamer, Das Landesamt für Volksforschung und Volkstumspflege im Nationalsozialistischen Lehrerbund, Gauverband Sachsen, S. 12, in: NSLB. Gauverband Sachsen (Göpfert/Jörschke) an die NSLBReichsleitung Bayreuth, 10.7.1933 (BArchBerlin, NS 12, 990). 28 Zu diesem Begriff vgl. Ian Kershaw, Hitler 1889-1936, Stuttgart 1998, S. 552 u. 594. 29 Sächsischer Altertumsverein an die Herren Gutherz, Katz, Nathanson und Salomon, 7.7.1933, Durchschlag (SächsHStAD, SAV, 50 c, p. 11); Änderungen zum Entwurf des Landesvereins für sächsische Geschichte (Sächsischer Altertumsverein) e.V. (ebd., 32 a, p. 119); Reichswandertreffen und Wimpelweihe in Annaberg, in: Glückauf! 54(1934) 6, S. 128-132. 30 Schreiben des Sächsischen Ministeriums des Innern, 8.5.1934 (SächsHStAD, Staatskanzlei, Nachrichtenstelle, Zeitungsausschnitte, 292-2: Rückseite eines Zeitungsartikels vom 21.7.1939).

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Diese Phase pragmatischer Kooperation endete im Verlaufe des Jahres 1936. Die Initiative für diese Kehrtwendung ging von der sächsischen Gauleitung aus, die das Feld der Kulturpolitik bis zu diesem Zeitpunkt weitgehend den zentralen kulturpolitischen Instanzen, den parteinahen Kulturorganisationen, unabhängigen Kulturverbänden, den Kommunen und anderen Parteigliederungen hatte überlassen müssen. Diese Zurückhaltung endete auch deshalb, weil Gauleiter Martin Mutschmann auf der Grundlage des Zweiten Reichsstatthaltergesetzes vom 30. Januar 1935 die Leitung der sächsischen Landesregierung übernommen hatte. Zu diesem Zeitpunkt wuchs in den regionalen und lokalen Parteigliederungen die Unzufriedenheit mit der begrenzten kulturpolitischen Kooperationsbereitschaft der unabhängigen Vereine und Verbände. Daraufhin hatten zunächst einzelne NSDAP-Kreisleitungen im Erzgebirge die Initiative zu eigenen Regionalausstellungen und zur Pflege und Förderung tatsächlicher öder vermeintlicher regionaler Traditionen ergriffen, um diese in den Dienst der Propaganda zu stellen31. Nach diesem Vorlauf wurde in Sachsen 1936/37 mit dem sogenannten „Heimatwerk Sachsen" eine Gaukulturorganisation geschaffen, die sich die kulturpolitische „Durchherrschung" der Gesellschaft auf die Fahnen schrieb. Als kulturelle Vorfeldorganisation der NSDAP konzipiert32, zielte sie in einem ersten Schritt auf die Eingliederung aller unabhängigen und parteinahen Kulturverbände ab, die der neuen Dachorganisation als korporative Mitglieder beitreten sollten33. Während die gesamte regionale Parteihierarchie des Gaus bis hinunter zum letzten Ortsgruppenleiter in die aufwändige Organisationsstruktur eingespannt wurde, sollte deren einheitliche Steuerung von der Staatskanzlei

31 Obererzgebirgische Zeitung, 11.6.1934, Beilage: „Die feierliche Eröffnung des Kreisparteitages" (SächsHStAD, Staatskanzlei, Nachrichtenstelle, Zeitungsausschnitte, 431); Allgemeine Zeitung Chemnitz, 28.11.1934: „Deutsche Krippenschau in Aue. Eröffnung am 1. Dezember" (ebd., 1051-1); Max Günther, „Weihnachtsglück im Erzgebirge." Christschau Annaberg, im Christmond 1935, in: Glückauf! 55 (1935) 12, S. 253f.); Kulturdienst der NS-Kulturgemeinde, 22.5.1936: „Grenzlandschaffen im Erzgebirge. 2500 Schnitzer in sieben Arbeitsgemeinschaften" (BArchBerlin, NS 5, 17313, p. 106). 32

Heimatwerk Sachsen. Verein zur Förderung des sächsischen Volkstums e.V. in Dresden. Satzung, [6.10.1936], S. 1; Das Heimatwerk Sachsen. Grundlegende Ausführungen des Gauleiters und Reichsstatthalters Martin Mutschmann zur Festkundgebung des Heimatwerkes Sachsen am 10. Oktober 1937 in Bautzen, [Dresden 1937] (BArchBerlin, NS 5, 17314, p. 142). 33 Heimatwerk Sachsen, Lagebericht Januar-Februar 1937. „Nicht zur Veröffentlichung", S. 3 (Stadtarchiv Leipzig, Schulamt, 2/805, Bd. 1, p. 129).

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aus erfolgen, die in Sachsen die entscheidende politische Schaltstelle unter Führung des Gauleiters und Reichsstatthalters darstellte34. Die Errichtung des „Heimatwerks Sachsen" diente einer Vielzahl kulturpolitischer Aufgaben, die alle eng miteinander zusammen hingen. Auf den ersten Blick konnte es den Eindruck erwecken, als ginge es dem sächsischen Gauheimatwerk lediglich um eine Koordination der konventionellen Fremdenverkehrsund Wirtschaftswerbung für Sachsen. Neu war daran allenfalls, dass die Propagierung eines übertrieben positiven Sachsen-Bildes von einer systematischen Bekämpfung des vermeintlich negativen Images des Landes in den anderen deutschen Regionen begleitet wurde, für das die Strategen des „Heimatwerks" vor allem die sogenannten „Sachsen-Komiker" verantwortlich machten35. Diese mit großem Aufwand betriebene Imagekampagne richtete sich nicht nur an interessierte Kreise des übrigen Reichsgebiets, sondern vorrangig an die sächsische Bevölkerung36. Gezielt sollten die sächsischen „Volksgenossen" zu mehr Heimatstolz erzogen werden, um sie durch die Besinnung auf die Leistungen ihrer Vorfahren für die Ziele des NS-Regimes zu mobilisieren37. Standen schon diese Bestrebungen eindeutig im Dienste des „Vierjahresplans" und der Kriegs Vorbereitung38, so galt das nicht minder für die Stärkung der Heimatbindung, welche 34 Arthur Graefe, Das Heimatwerk Sachsen auf dem Vormarsch. Rechenschaftsbericht 1938. Erstattet vom geschäftsführenden Vorstand in der Jahreshauptversammlung in Schneeberg am 27. November 1938, S. 1, in: Rednermaterial 1937/38,1 17 (Stadtarchiv Leipzig, Schulamt, 2/805, Bd. 2, p. 30); Dresdner Nachrichten, 24.4.1937: „Mobilisierung der sächsischen Grenzlanddeutschen. Ein Vortrag über die Ziele und Aufgaben des Heimatwerks Sachsen" (SächsHStAD, Staatskanzlei, Nachrichtenstelle, Zeitungsausschnitte, 1054-1). 35 Rednermaterial. Der sächsische Mensch und seine Heimat. Kampf gegen die Verächtlichmachung des sächsischen Menschen und seiner Sprechweise. Mehr Heimatliebe, mehr Heimatstolz, [1936], S. 9-14 (Stadtarchiv Leipzig, Schulamt, 2/805, Bd. 1, p. 1116); Das 1. Halbjahr der Sachsen-Aktion (April-September 1936). Sachsenmaterial der Staatskanzlei (zur Kenntnis). Für die Presse nicht zum Abdruck, S. 6f. (SächsHStAD, Staatskanzlei, Nachrichtenstelle, Zeitungsausschnitte, 437-2: Rückseite eines Zeitungsartikels vom 2.6.1938; ebd., 1450: Rückseite eines Zeitungsartikels vom 3.6.1938). 36 [Arbeitsplan, Juni/Juli 1936] (SächsHStAD, Staatskanzlei, Nachrichtenstelle, Zeitungsausschnitte, 438-1: Rückseite eines Zeitungsartikels vom 18.9.1940); Curt Robert Lahr, Rede des Ministerialdirektors Lahr auf der Verbandstagung des Landesfremdenverkehrsverbandes Sachsen, 15. und 16. Januar 1937 in Plauen i.V., [Dresden 1937], S. 6. 37 Curt Robert Lahr, Volkstumsarbeit formt Charakter und Haltung. Aus der Rede des Ministerialdirektors a.D. Präsident Lahr zur Heimatwerktagung in Olbernhau, in: Heimatwerk. Halbjahresmitteilungen des Heimatwerkes Sachsen, Nr. 1, [Juni] 1939, S. 6. 38 Völkischer Beobachter, 27.2.1937/Sonderbeilage „Sachsen, die Werkstatt Deutschlands": Geleitwort Mutschmanns (BArchBerlin, NS 5, 17313, p. 33); Florey, Sachsens Wirtschaft und das Heimatwerk Sachsen, S. 8, in: Rednermaterial 1937/38, V 11 (Stadtarchiv Leipzig, Schulamt, 2/805, p. 119).

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die Vordenker des „Heimatwerks Sachsen" als unerlässliche Voraussetzung für die Einfügung jedes Einzelnen in die nationalsozialistische Volksgemeinschaft betrachteten39. Zu den weiteren Bemühungen, die sächsische Bevölkerung auf ihre zukünftige Rolle im Krieg vorzubereiten, zählte die Beschwörung vermeintlicher militärischer Großtaten der sächsischen Geschichte ebenso wie die bis in die letzten Kriegsjahre mit großem Aufwand betriebene Erziehung zu einer disziplinierten und „soldatischen Sprechweise"40. Letztlich zielte die Arbeit des „Heimatwerks" darauf ab, die gesamte sächsische Bevölkerung organisatorisch zu erfassen, um unter Führung des Gauleiters und der regionalen Parteiorganisation einen Prototyp der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft auf sächsischem Boden zu schaffen 41. Das „Heimatwerk Sachsen" zeichnete sich durch eine teilweise äußerst subtile Propaganda aus, die bewusst auf unpolitische Motive und bekannte regionale Symbole setzte, für die eine größtmögliche Zustimmung breitester Bevölkerungskreise erwartet werden konnte. So wurden Anfang 1937 ganz bewusst die geschwungenen Kurschwerter aus dem traditionellen Markenzeichen der Meißner Porzellanmanufaktur als offizielles Emblem des „Heimatwerks" ausgewählt. Die Assoziation des sogenannten „Sachsenzeichens" mit einem bekannten regionalen Qualitätsprodukt sollte nicht nur „die sächsischen Volksgenossen zur höchsten Leistung verpflichten", sondern über die Parteimitglieder hinaus möglichst weite Kreise der sächsischen Bevölkerung ansprechen42. Noch einen Schritt weiter ging das von einem „Heimatwerks"-Mitarbeiter verfasste Mundartstück „Der Stein", das als „das große Theaterereignis" der 2. Sächsischen Gaukulturwoche von 1938 angekündigt wurde. In geradezu kongenialer Weise war es dem Verfasser gelungen, die regional eingefarbte VolksgemeinschaftsPropaganda der sächsischen Parteileitung in ein Theaterstück zu übersetzen, in

39 Das Heimatwerk Sachsen. Grundlegende Ausführungen des Gauleiters und Reichsstatthalters Martin Mutschmann zur Festkundgebung des Heimatwerkes Sachsen am 10. Oktober 1937 in Bautzen, [Dresden 1937], S. 8 (BArchBerlin, NS 5, 17314). 40 Arthur Graefe, Grenzland Sachsen. Ein Vorposten im deutschen Schicksalskampf, Dresden, 3., erg. Aufl. 1937, S. 84; Georg Hartmann, Sprachliche Haltung. Die Sprecherziehung in Sachsen. Mit einem Geleitwort von Reichsstatthalter und Gauleiter Martin Mutschmann, Dresden [1940], S. 14. 41 Vgl. Mundart am rechten Platz, in: Heimatblätter für Sachsen und Thüringer 13 (1936) 11, S. 11; Ein Jahr Heimatwerk Sachsen. Rechenschaftsbericht 1937. Erstattet vom geschäftsführenden Vorstand Regierungsdirektor Graefe in der Mitgliederversammlung in Schwarzenberg am 5. Dezbr. 1937, S. 12, in: Rednermaterial 1937/38,1 12 (Stadtarchiv Leipzig, Schulamt, 2/805, Bd. 2, p. 15); Berliner Tageblatt, 20.8.1937: „Das Reich und das Land. Bilder von einer Reise in Sachsen" von Willy Beer (BArchBerlin, NS 5, 17314, p. 157). 42 Heimatwerk Sachsen, Lagebericht März-April 1937. „Nicht zu veröffentlichen!", S. 4 (Stadtarchiv Leipzig, Schulamt, 2/805, Bd. 1, p. 147).

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dem ein Vorkämpfer des nationalen Sozialismus die zerstrittenen Bewohner seines Erzgebirgsdorfes durch die Besinnung auf die Werte der Heimat zu völkischer Geschlossenheit verpflichtete 43. Um die erwünschte Breitenwirkung entfalten zu können, war aber auch das „Heimatwerk Sachsen" auf die Kooperationsbereitschaft der anerkannten Repräsentanten der Heimatbewegung angewiesen44. Da deren primäres Interesse an der Pflege regionalkultureller Traditionen aber nur noch bedingt mit den weitgespannten politischen Zielen des „Heimatwerks Sachsen" in Einklang zu bringen war, fielen ihre Reaktionen sehr unterschiedlich aus. Sie reichten von ihrer bereitwilligen Eingliederung in die Strukturen der neuen Gaukulturorganisation45 bis zu hinhaltender Verweigerung, die nicht selten mit ostentativen politischen Loyalitätsbekundungen einher ging46. Mangels geeigneter Zwangsmittel gelang es dem „Heimatwerk" erst 1940/41, seinen organisatorischen Primat gegenüber den Vereinen und Verbänden der traditionellen Heimatbewegung durchzusetzen47. Zu diesem Zeitpunkt war jedoch bereits eine starke Überdehnung der „Heimatwerks"-Aktivitäten eingetreten, die sich immer mehr zur völligen Beliebigkeit verflüchtigten. Um den Heimatstolz der Sachsen zu beleben und sie auf die Traditionen ihres „Volkstums" zu verpflichten, wurden relativ wahllos alle Be-

43 Kanut Schäfer, Der Stein. Volksstück, Leipzig o.J.; „Kanut Schäfer. Ein Dichter der sächsischen Heimat" [Zeitungsartikel ohne Herkunfts- und Datumsangabe] (SächsHStAD, NS-Gauverlag, 107, S 17). 44 Ein Jahr Heimatwerk Sachsen. Rechenschaftsbericht 1937. Erstattet vom geschäftsführenden Vorstand Regierungsdirektor Graefe in der Mitgliederversammlung in Schwarzenberg am 5. Dezbr. 1937, S. 3, in: Rednermaterial 1937/38,1 12 (Stadtarchiv Leipzig, Schulamt, 2/805, Bd. 2, p. 11). 45 Bericht über die 6. Sächsische Volkskundetagung, veranstaltet von der Landesstelle für Volksforschung und Volkstumspflege im NSLB am 10.-13. Juni 1937 in Dresden und Pirna, in: Mitteldeutsche Blätter für Volkskunde 12 (1937) 3, S. 170; Curt Unger, Tätigkeitsbericht des Erzgebirgsvereins auf die Zeit vom 1. Oktober 1936 bis 30. September 1937. Erstattet auf der Hauptversammlung in Freiberg durch den Schriftführer Curt Unger, Schneeberg, in: Glückauf! 57 (1937), S. 169. 46 Martin Mutschmann, Das Heimatwerk Sachsen - Betreuer der gesamten Volkstumsarbeit. Rede des Reichsstatthalters und Gauleiters Martin Mutschmann zur Kundgebung des Heimatwerkes Sachsen am 26. November 1938 in Schneeberg, S. 4 u. 6, in: Rednermaterial 1937/38, I 16 (Stadtarchiv Leipzig, Schulamt, 2/9805, Bd. 2, p. 27f.); NS-Zeitung Zwickau, 3.10.1938: „Sächsischer Heimatschutz dankt dem Führer" (SächsHStAD, Staatskanzlei, Nachrichtenstelle, Zeitungsausschnitte, 1427-2). 47 Dresdner Neueste Nachrichten, 16.4.1940: „Neuer Leiter des Heimatschutzes" (SächsHStAD, Staatskanzlei, Nachrichtenstelle, Zeitungsausschnitte, 1427-2); Arthur Graefe, Bewährung auch im Kriege, in: Heimatwerk. Halbjahresmitteilungen des Heimatwerkes Sachsen 2 (1940) 1/2, S. 3; In wenigen Zeilen, in: Sachsenpost, Nr. 22 (Januar 1941), S. 15.

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strebungen gefördert, die mit Volkskunst und Heimatgeschichte zu tun hatten48. Je größer der Aktionsradius der Organisation wurde, desto mehr geriet das Ziel aus den Augen, alle regionalkulturellen Aktivitäten nach eindeutigen kulturpolitischen Leitlinien zu steuern. Damit eröffnete sich den traditionellen Kräften der Heimatbewegung zunehmend die Möglichkeit, die neu geschaffenen Strukturen des „Heimatwerks" zu nutzen, um eigene Interessen zu fördern, die sich bisher noch nicht hatten durchsetzen lassen. So erreichten die sächsischen Landeshistoriker nicht nur die seit Jahren überfällige Wiederbelebung der Sächsischen Kommission für Geschichte, sondern auch die Berufung eines qualifizierten Kollegen auf den Lehrstuhl für sächsische Landesgeschichte an der Universität Leipzig49. Wenn der geschäftsführende Vorstand des „Heimatwerks Sachsen" Arthur Graefe sich nach dem Krieg damit zu rechtfertigen versuchte, dass seine Arbeit „zum weitaus überwiegenden Teil unpolitischer Art" gewesen sei50, traf das auf die praktische Arbeit ansatzweise zu, ging aber völlig an den kulturpolitischen Intentionen der Gaukulturorganisation vorbei. Während die Attraktivität der sächsischen Gaukulturorganisation stets weit hinter den Erwartungen ihrer Protagonisten zurückblieb51, gelang auch die kulturpolitische Kontrolle der Mitgliedsvereine nur unvollständig. Während des Krieges ließ sie sogar noch weiter nach, als viele der für die Kulturarbeit zu-

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Vgl. Rudolf Kötzschke, Besprechung mit dem Heimatwerk Sachsen in Dresden. Freitag, den 17. März [1939] 11 Uhr (SächsHStAD, Nl. Kretzschmar, 2); Hellmut Kretzschmar an Rudolf Kötzschke, 26.3.1939, Durchschlag (ebd.); Walter Schlesinger an Hellmut Kretzschmar, 8.1.1942 (ebd., 54). 49 Max von Seydewitz, Aktennotiz, 2.2.1938, Abschrift für Hellmut Kretzschmar, S. 4 (SächsHStAD, Nl. Kretzschmar, 1); Memorandum [1938], in Anlage zu: Arthur Graefe an Werner Studentkowski, 23.2.1938 (ebd., Ministerium für Volksbildung, 10281-71, p. 34-39); [Hellmut Kretzschmar , Entwurf einer Pressemitteilung], Abschrift für Georg Hartmann, 6.1.1939 (ebd., Nl. Kretzschmar, 2); vgl. Esther Ludwig, Rudolf Kötzschke. Das schwere Bemühen um die Bewahrung der „unantastbaren Reinheit des geschichtlichen Sinnes", in: Wieland Held/Uwe Schirmer (Hrsg.), Rudolf Kötzschke und das Seminar für Landesgeschichte und Siedlungskunde an der Universität Leipzig. Heimstatt sächsischer Landeskunde, Beucha 1999, S. 62. 50 Arthur Graefe , Das Heimatwerk Sachsen, 20.7.1945, S. 6, in Anlage zu: Arthur Graefe an Ministerialdirektor Walther Gäbler (Landesverwaltung Sachsen), 4.8.1945 (SächsHStAD, Landesregierung Sachsen [= LRS], Ministerium für Volksbildung, HA Kunst u. Literatur, 2340). 51 Heimatwerk. Halbjahresmitteilungen des Heimatwerkes Sachsen, (Oktober) 1942, S. 32 (Stadtarchiv Leipzig, Verkehrsamt, Kap. 35, N. 1733, p. 109); vgl. Ein Jahr Heimatwerk Sachsen. Rechenschaftsbericht 1937. Erstattet vom geschäftsführenden Vorstand Regierungsdirektor Graefe in der Mitgliederversammlung in Schwarzenberg am 5. Dezbr. 1937, S. 12, in: Rednermaterial 1937/38, I 12 (Stadtarchiv Leipzig, Schulamt, 2/805, Bd. 2, p. 15).

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ständigen Parteifunktionäre zur Wehrmacht einberufen oder anderen Aufgaben zugeteilt wurden und oftmals die alten Führungskräfte der Vereine wieder das Ruder übernahmen52. Auch wenn sich die politischen und gesellschaftlichen Ausgangsvoraussetzungen 1945 grundlegend von denen im Jahre 1933 unterschieden, muss man für Sachsen trotz der kriegsbedingten Einschränkungen doch von einer erstaunlichen Kontinuität des regionalkulturellen Vereinswesens bis zum Ende der Kampfhandlungen ausgehen.

3. Auf dem Wege zu einer sozialistischen Heimatbewegung Obwohl viele Vereine und Verbände der sächsischen Heimatbewegung unmittelbar nach Kriegsende wieder zur Stelle waren und von der sowjetischen Besatzungsmacht kein generelles Vereinsverbot erlassen wurde53, ließ sich doch nicht übersehen, dass sich die Rahmenbedingungen 1945 grundlegend von denen in denfrühen 1930 Jahren unterschieden. Wenn sich auch viele Vereine vor der Öffentlichkeit - mehr oder weniger überzeugend - mit dem unpolitischen Charakter ihrer Arbeit in den vergangenen zwölf Jahren zu rechtfertigen suchten54, erkannten sie doch frühzeitig, dass sie von den neuen kommunistischen Machthabern nur wenig Gutes zu erwarten hatten55. Bei letzteren mischten sich zunächst Desinteresse und offene Feindseligkeit gegenüber der Heimatbewegung, die sie wie das gesamte Vereinswesen als Relikt der überwundenen bürgerlichen Gesellschaftsformation wahrnahmen56. Zum

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Curt Unger, Tätigkeitsbericht für 1941/42. Erstattet vom Organisationsleiter Curt Unger - Schneeberg, in: Glückauf] 62 (1942) 12, S. 119; ders., Tätigkeitsbericht 1944, in: Glückauf. Mitteilungen des Erzgebirgsvereins, Nr. 4 (Januar) 1945 (SächsHStAD, LRS, HV der Staatlichen Museen, Schlösser und Gärten, 37, p. 177f.); Friedrich A. Hauptmann (Vorsitzender des Vereins für die Geschichte Leipzigs) an Friedrich Schulze (Vorsitzender der „Abteilung Heimatgeschichtliche Wissenschaft"), 19.6.1944 (Stadtarchiv Leipzig, Kulturamt, Kap. 35, Nr. 33, Bd. 3, p. 169). 53 Vgl. Thomas Schaarschmidt, Das Vereinsverbot in der Sowjetischen Besatzungszone und das Schicksal des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz, in: Mitteilungen des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz (2003) 3, S. 11-17. 54 Fritz Unger an Horst Schimpf, 16.10.1945 (SächsHStAD, LRS, H V Staatliche Museen, Schlösser u. Gärten, 38, p. 193); [Werner Schmidt, Memorandum, Anfang März 1949], in Anlage zu: Werner Schmidt an Hellmuth Rauner, 4.3.1949 (SächsHStAD, Landesverein Sächsischer Heimatschutz [= LVSH], 97, p. 63). 55 Vgl. Hellmut Kretzschmar an Emil Menke-Glückert, 8.1.1947, Durchschlag (SächsHStAD, Nl. Kretzschmar, 48). 56 Magistrat der Stadt Berlin/Abteilung für Volksbildung an die Provinzialverwaltung Sachsen, 18.8.1954 (SächsHStAD, LRS, Ministerium für Volksbildung, HA Kunst u. Literatur, 2340); Bericht von der Besprechung wegen der Wiedererrichtung des Heimat-

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einen tendierten die deutschen Kommunisten dazu, die regionale Orientierung der Vereine mit Föderalismus und Separatismus in Verbindung zu bringen, die sie unweigerlich mit der Politik in den Westzonen identifizierten 57, zum anderen trieb sie die Sorge um, dass die Vereine zu Kristallisationskernen für reaktionäre Aktivitäten werden konnten58. Seit 1945 strebten daher führende politische Kräfte in der KPD nach einem grundsätzlichen Vereinsverbot und nach einer Kontrolle aller kulturellen Freizeitaktivitäten durch staatlich gelenkte Organisationen. Durchgehend gelang diese allerdings erst 1949 mit der zwangsweisen Überführung der sogenannten „volksbildenden Gruppen" in die von der SED dominierten Massenorganisationen. Die meisten Vereine und Verbände aus dem Spektrum der Heimatbewegung wurden in diesem Prozess in den Kulturbund integriert, in dem sie seit 1950 die Sektion der Natur- und Heimatfreunde bildeten . Erst nach der organisatorischen Integration der regionalkulturellen Vereine und Verbände begannen konzeptionelle Überlegungen für ihre zukünftigen Aufgaben. Während sie ihre praktische Arbeit zunächst weitgehend ungehindert fortsetzen konnten, verlangten die von der Kulturbund-Bundesleitung vorgegebenen Grundaufgaben einen klaren Bruch mit traditionellen Heimatvorstellungen, die - in glattem Widerspruch zum dialektischen Materialismus - eine Aufhebung der Klassengegensätze verheißen hatten60. Im Verlauf der 1950er Jahre wurde von einigen führenden Funktionären des Kulturbunds ein neuer sozialistischer Heimatbegriff formuliert, der sich nicht mehr an regionalen Traditionen, schutzes Sachsen, 5.10.1946, Abschrift (SächsHStAD, LVSH, 111, p. 12); Helmut Holtzhauer an Otto Buchwitz, 13.10.1948 (SächsHStAD, Landtag, 27, p. 529). 57 Zur Kulturwoche vom 24. bis 31. März [1946]. Anregungen für die morgige Besprechung (SächsHStAD, KPD-BL, I/A/046); Karl Kneschke , Was die Jugend der Welt von uns erwartet. Rede zur Dresdner Jugend anlässlich der Kulturwoche in der Skala am Dienstag den 26. März 1946, S. 4f. (BArchBerlin, SAPMO, DY 27, 480); vgl. Protokoll. Sitzung des Präsidialrates des Kulturbundes am 12. Februar 1946, S. 7 u. 10 [mit den Stellungnahmen Johannes R. Bechers und Klaus Gysis] (ebd., 908, p. 56 u. 59). 58 Landespolizeibehörde. Referat VP 3, Betr. Besprechung mit den Referatsleitern VP 3 am 13.4.1949. Protokoll, 19.4.1949 (SächsHStAD, LRS, Landesbehörde der DVP, 269, p. 82). 59 Vgl. Magdalena Heider, Politik - Kultur - Kulturbund. Zur Gründungs- und Frühgeschichte des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands 1945-1954 in der SBZ/DDR, Köln 1993, S. 103; Thomas Schaarschmidt, Formale Gleichschaltung und soziale Eigendynamik. Der Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, in: Rainer Behring u. Mike Schmeitzner (Hrsg.), Diktaturdurchsetzung in Sachsen. Studien zur Genese der kommunistischen Herrschaft 1945-1952, Köln 2003, S. 164f. 60

Karl Kneschke, Von der Liebe zur deutschen Heimat, in: Mitteilungen des Landesamtes für Volkskunde und Denkmalpflege Sachsen 1 (1951) 1/2, S. 5f.; ders., Die Landesdelegiertenkonferenzen des Kulturbundes, [1951], S. 4f. (BArchBerlin, SAPMO, DY 27, 1898).

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sondern an der sozialistischen Gesellschaftsordnung orientierte 61. Ihm zufolge schuf erst die „Enteignung der Junker und Kapitalisten" in der DDR die Voraussetzungen dafür, dass die „werktätigen Menschen" ihre Heimat in Besitz nehmen konnten62. Die Erziehung zur sozialistischen Heimatliebe wurde damit zum integralen Bestandteil der politischen Erziehung. Dabei lebte der sozialistische Heimatbegriff von der Erwartung, dass die Verbundenheit mit dem räumlichen und sozialen Nahbereich langfristig politische Loyalität und Engagement für den Aufbau des Sozialismus forderte 63. Obwohl seit 1950 im Kulturbund ein zentralistisches Anleitungs- und Kontrollsystem aufgebaut worden war 64, blieb der Zugriff der KB-Bezirks- und Kreisleitungen auf die lokale Ebene begrenzt65. Hier, wo die Mitglieder in Arbeitsgemeinschaften organisiert waren und ihren Interessen nachgingen, bestimmten die ehemaligen Vereinsmitglieder das Bild der Natur- und Heimatfreunde und nicht selten das Profil der gesamten Kulturbund-Ortsgruppen. Sobald sich die Mitglieder von den Kulturbund-Leitungen gegängelt fühlten, konnten sie ihre Mitarbeit verweigern, ohne deshalb mit Konsequenzen rechnen zu müssen66. Die Kreis- und Ortsgruppenleitungen des Kulturbunds standen daher vor dem Problem, dass sie ständig zwischen den zentralen Aufträgen und

61 [Karl Kneschke], Das Programm der Natur- und Heimatfreunde, [ca. 1950], S. 2 (SächsHStA, Kulturbund [= KB], 410); ders., Über den neuen Heimatbegriff, in: Natur und Heimat 7 (1958) 1, S. 4. 62 Unser Ziel. Wir wollen keine „Blümelpflücker" mehr sein! in: Sächsische Heimatblätter 4 (1958) 4, S. 254. 63 Vgl. Bernd Lohaus, Unsere Arbeit im Bezirk Dresden, in: Protokoll über die Bezirksdelegiertenkonferenz am 6. Dezember 1952, S. 28 (SächsHStAD, KB, 342); Karl Kneschke, Die Arbeit der Natur- und Heimatfreunde. Aus dem Bericht des 1. Bundessekretärs auf der Zentralen Arbeitskonferenz des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands am 20. Januar 1956 in Leipzig, in: Natur und Heimat 5 (1956) 3, S. 66; vgl. Um unsere sozialistische Heimat. Referat und Diskussionsbeiträge einer Tagung am 20. Juni 1958 in Berlin, hg.v. DKB/Zentrale Kommission der Natur- und Heimatfreunde, Berlin 1958; Kurzprotokoll von der Tagung der Bezirkskommission Natur und Heimat vom 11.2.1967 im Haus der DSF in Karl-Marx-Stadt, 3.3.1967, S. lf. (SächsStAChemnitz, 32682, 164/1). 64

Programm für die 2. Sitzung der Landeskommission am 20.12.1950. Top 5 „Arbeitsprogramm der Natur- und Heimatfreunde Sachsens" (SächsHStAD, KB, 407); KBLandesleitung Sachsen/Kommission N[atur]+H[eimat], Bericht über die im Januar durchgeführten Aufgaben an die Zentralkommission, 6.2.1951 (ebd., 410). 65 Willi überkronte, „Sozialistische Heimat". Zum Natur- und Landschaftsschutz in der frühen DDR, in: Katharina Weigand (Hrsg.), Heimat. Konstanten und Wandel im 19./20. Jahrhundert. Vorstellungen und Wirklichkeiten, München 1997, S. 230f. 66 Vgl. Thomas Schaarschmidt, Der Kulturbund als Heimatverein? Anmerkungen zu Anspruch und Realität des Kulturbunds in den vierziger und fünfziger Jahren aus regionalhistorischer Sicht, in: Heiner Timmermann (Hrsg.), DDR - Analysen eines aufgegebenen Staates, Berlin 2001, S. 382-387.

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den Interessen ihrer Mitglieder vor Ort lavieren mussten. Dieser Herausforderung versuchten sie teils durch völlige Missachtung zentraler kulturpolitischer Vorgaben, teils durch rein verbale Konzessionen und teils durch eine sehr eigenwillige Interpretation der zentralen Richtlinien gerecht zu werden, die diese oft bis zur Unkenntlichkeit verwässerten67. In klarer Orientierung an den kulturpolitischen Kurswechseln der SED schwankte der Umgang der Kulturbund-Bundesleitung mit den Natur- und Heimatfreunden seit denfrühen 1950er Jahren zwischen einer konzilianten und einer dogmatischen Haltung. Nachdem im Umfeld der II. SED-Parteikonferenz vom Juli 1952 noch eine frontale Vereinnahmung der Heimatbewegung angestrebt worden war 68, legten die Bundes- und Bezirkssekretariate in den folgenden Jahren beträchtliche taktische Flexibilität an den Tag, um eine schrittweise Assimilation der ehemaligen Vereinsmitglieder zu ermöglichen. Wie weit in dieser Zeit die Bereitschaft ging, den Interessen der Mitglieder in den Kulturbund-Ortsgruppen entgegenzukommen, zeigen die Gründung regionaler Arbeitskreise und neuer Heimatzeitschriften für die Territorien der 1952 aufgelösten Länder, die Aufnahme anerkannter Vertreter der alten Heimatbewegung in die Fachkommissionen der Natur- und Heimatfreunde und der Wettbewerb „Das schöne sozialistische Dorf' 69 . Letzterer knüpfte an Vorkriegstraditionen an und sollte die Landbevölkerung nach den Vorstellungen seiner Initiatoren durch die Mitwirkung am „Nationalen Aufbauwerk" auf praktische Weise an die Ziele des sozialistischen Aufbaus heranführen 70. Von den späten 1950er Jahren bis zu den frühen 1970er Jahren folgte eine Phase, in der SED und Kulturbund-Leitungen erneut versuchten, eine rigorose kulturpolitische Kontrolle durchzusetzen. Zu diesem Zweck wurde die Natur-

67 Gerhard Thümmler an Walter A. Friedeberger, 30.11.1954 (SächsHStAD, KB, 38); Diskussionsbeiträge anlässlich der Tagung des Kulturbundes am 25. Oktober 1952, S. 3 (ebd., 81); [Erwin Krämer], Meine Ausführungen zu der Kreisleitungssitzung am 12.9.53, S. 3 (ebd.); Bericht über die Jahreshauptversammlung der Ortsgruppe Bretnig vom 7.4.1955, 11.4.1955, S. 2 (ebd., 92); Walter Friebe, Rechenschaftsbericht zur Kreisdelegierten-Konferenz des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, Kreis Freital, am 23.4.1955, S. 21f. (ebd., 98); KB Bischofswerda, Protokoll [der Kreisleitungssitzung vom 10.1.1956], Abschrift, S. 3 (ebd., 120); Erwin Weniger an die KB-Bezirksleitung Dresden, 26.5.1956 (ebd., 101). 68 Vgl. Alfred Baumann, Zwickauer Plan - Kampfplan zur Entwicklung aller Reserven (Rede auf der II. SED-Parteikonferenz), in: Zwickauer Plan. Vorwärts zum Aufbau des Sozialismus, o.O. 1952, S. 13f. (BArchBerlin, SAPMO, DY 27, 1903). 69 Vgl. Thomas Schaarschmidt, Regionalkultur und Diktatur (s. Anm. 6, S. 427-433). 70 Bericht über die Bezirksfachausschuss-Sitzung „Heimat- und Denkmalpflege" am 24.10.1955, 26.10.1955, S. 2 (SächsHStAD, KB, 419); Gerhard Thümmler, Mensch, Landschaft und Siedlung - ein Kulturproblem, in: Heimatkundliche Blätter für die Bezirke Dresden, Karl-Marx-Stadt und Leipzig, Heft 16/17 (1956), S. 1-6.

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und Heimatfreunde-Organisation Ende der 1950er Jahre noch enger als zuvor in die Anleitungs- und Kontrollstrukturen des Kulturbundes eingebunden71. Die Verschärfung des kulturpolitischen Kurses hatte sich bereits damit angekündigt, dass der 1955 vom Kulturbund initiierte Wettbewerb „Das schöne sozialistische Dorf' im Vorfeld-des V. SED-Parteitags einseitig auf die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion und die Durchsetzung der Kollektivierung ausgerichtet und dem Nationalrat der Nationalen Front überantwortet worden war 72. Während in denfrühen 1960er Jahren nicht nur die von der Bundesleitung zentral herausgegebene Zeitschrift „Natur und Heimat", sondern auch die meisten erst wenige Jahre zuvor gegründeten regionalen Heimatorgane ihr Erscheinen einstellen mussten73, trat 1965 das „Jahrbuch für Regionalgeschichte" an ihre Stelle, das in weitaus stärkerem Maße auf die Grundsätze des dialektischen Materialismus und die Propagierung eines sozialistischen Patriotismus verpflichtet 74

war . Diese politische Linie endete Mitte der 1970er Jahre mit der sogenannten „Erbe und Tradition"-Debatte, von der sich die SED-Führung eine Stärkung der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft" und nicht zuletzt propagandistische Vorteile in der Systemauseinandersetzung mit der Bundesrepublik erhoffte 75. 71 Arbeitsplan der Bezirksleitung [Dresden] des Deutschen Kulturbundes für das Jahr 1960, 12.12.1959, S. 3 (SächsHStAD, KB, 1); Wichtiger Bestandteil der Kulturbundarbeit. Zur Perspektive der Tätigkeit der Natur- und Heimatfreunde, in: Die Aussprache 15 (1960) 1, S. 12f. 72 Nationale Front/Büro des Präsidiums, Hausmitteilung an Büge, 28.2.1958 (BArchBerlin, SAPMO, DY 27, 2804); „Alle Kraft für die maximale Steigerung der landwirtschaftlichen Marktproduktion." Richtlinien der Zentralen Kommission für den Wettbewerb „Das schöne sozialistische Dorf', [1960], S. 3 (ebd., 2671); vgl. KBBezirksleitung Dresden, Beantwortung des Fragespiegels zur Arbeit der Natur- und Heimatfreunde, 21.8.1959, Durchschlag, S. lf. (ebd., 2916); Bezirkskulturkonferenz Dresden am 13. und 14.12.1960. 1. Tag, S. 108 (SächsHStAD, SED-BL, IV.2.9.02.044); Horst Rößler (Mitglied der Bezirkskommission Karl-Marx-Stadt der Natur- und Heimatfreunde), Gedanken zur weiteren Entwicklung der Bewegung der Natur- und Heimatfreunde im Deutschen Kulturbund, [1961/62?], S. lf. (SächsStAChemnitz, 32682, 164/1). 73 Helga Raschke, Methoden und Organisationsformen der Heimat- und Regionalgeschichte in der DDR, in: Manfred Treml (Hg.), Methoden und Themen der Landes-, Regional» und Heimatgeschichte in Bayern, Sachsen und Thüringen. Kolloquiumsbericht, München 1991, S. 36. 74 Vgl. Karl Czok, Zu den Entwicklungsetappen der marxistischen Regionalgeschichtsforschung in der DDR, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 1 (1965), S. 9-24. 75 Horst Bartel, Erbe und Tradition in Geschichtsbild und Geschichtsforschung der DDR, in: Zeitschrift für Geschichtsforschung 29 (1981) 5, S. 389 u. 392f.; vgl. Alexander Fischer u. Günther Heydemann, Weg und Wandel der Geschichtswissenschaft und des Geschichtsverständnisses in der SBZ/DDR seit 1945, in: dies. (Hrsg.), Geschichtswissenschaft in der DDR. Bd. 1: Historische Entwicklung, Theoriediskussion und Geschichtsdidaktik, Berlin 1988, S. 18-22 u. 28-30.

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Bei klaren ideologischen Vorgaben und einem eindeutigen politischen Erziehungsauftrag eröffnete der Zugriff auf die gesamte deutsche Geschichte auch der regionalkulturellen Arbeit neue Freiräume 76. Dazu zählten ein erweitertes Themenspektrum für die heimatgeschichtliche Forschung, neue Organisationsformen im Rahmen der 1979 gegründeten „Gesellschaft für Heimatgeschichte" und zusätzliche regionale Publikationsorgane, wie sie seit Einstellung der älteren Heimatzeitschriften in den 1960er Jahren von interessierten Kreisen immer wieder gefordert worden waren77. Hatte der moderatere Kurse in der Mitte der 1950er Jahre eine stabilisierende und teilweise sogar mobilisierende Wirkung zur Folge gehabt, so fiel die Bilanz des Kurswechsels seit den späten 1970er Jahren weitaus gemischter aus. Legitimiert durch eine neue Auffassung von „Erbe und Tradition" und gefordert durch die akademische Regionalgeschichtsforschung, konnte nun auch die Geschichte des bürgerlichen Vereinswesens thematisiert werden78. Dabei wurde dieses in einigen Fällen nicht nur als „Erbe", sondern auch als „Tradition" interpretiert, wenn beispielsweise lokale Vertreter der Gesellschaft für Heimatgeschichte mit Publikationen und Veranstaltungsformen gezielt an die Praxis ihrer Vorläuferorganisationen anknüpften 79. Dass sie damit einen gleitenden Über-

76 Vgl. Hanns-Heinz Kasper, Anforderungen und Aufgaben zur weiteren Entwicklung der heimatgeschichtlichen Forschung und ortschronistischen Tätigkeit nach dem XI. Bundeskongreß. Referat zur 5. Bezirksleitungssitzung Karl-Marx-Stadt des Kulturbundes der DDR, [1988], S. 3f., 6 u. 8 (SächsStAChemnitz, 32682, 137). 77 Ralf-Peter Ehrentraut, Unsere Vogtländischen ... Ein Beitrag in eigener Sache, in: Vogtländische Heimatblätter 1 (1981) 1, S. 30f.; Bezirksdelegiertenkonferenz] H[eimat] G[eschichte], [Februar 1987], S. llf. (SächsStAChemnitz, 32682, 15); vgl. Protokoll Arbeitsausschuß der Bezirkskommission Natur- und Heimatfreunde. Mittwoch, 29.1.64, im Bezirkssekretariat des DKB Karl-Marx-Stadt, 3.2.1964, S. 2f. (ebd., 164/2); Wolfgang Theilig, Zeitschriften des Vogtlandes, einst und heute, in: Greizer Heimatbote 14 (1968) 1, S. 8. 78

Vgl. Konrad Marwinski, Heimatgeschichte und bürgerliche Geschichtsvereine in Ostthüringen. Gekürzte Fassung eines Vortrages zum Tag der Heimatgeschichte im Kreis Zeulenroda 1987 im Museum Reichenfels, in: Jahrbuch des Museums Hohenleuben-Reichenfels 35 (1990), S. 59-63; Friedrich Wilhelm Trebge, Geschichte des Vogtländischen Altertumsforschenden Vereins zu Hohenleuben e.V. Festschrift zum 175jährigen Bestehen des Vogtländischen Altertumsforschenden Vereins, Hohenleuben 2000, S. 173. 79 Wolfgang Schräder, Das Museum Hohenleuben-Reichenfels in Geschichte und Gegenwart, in: Heimatgeschichtlicher Kalender des Bezirkes Gera 7 (1986), S. 84-90; vgl. ders., Politisch-wissenschaftliche Grundkonzeption für das Museum HohenleubenReichenfels. Fachschulabschlussarbeit an der Fachschule für Museologen, Leipzig 1981, S. 15 u. 31.

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gang in die Vereinsstrukturen der Nach-Wendezeit erleichterten 80, war Mitte der 1980er Jahre noch nicht abzusehen. Entgegen den Intentionen der „Erbe und Tradition'-Politik förderten die neuen Freiräume in den 1980er Jahren die Pflege eines unpolitischen Heimatbewusstseins, das im Vergleich zur zeitlich parallelen Entwicklung in der Bundesrepublik stark traditionsverhaftet wirkte. Anstatt zur Festigung des sozialistischen Bewusstseins beizutragen, bestätigte die Praxis der regionalkulturellen Arbeit geradezu den allgemeinen Eindruck, dass sich das Deutungsmonopol der SED weiter abschwächte. Im Rahmen der zunehmenden Krisenerscheinungen in der Spätphase der DDR blieb es auf jeden Fall eine Illusion zu glauben, dass man durch eine Stärkung der Heimatbindung noch eine dauerhafte Stabilisierung von Staat und Gesellschaft erreichen konnte81.

4. Vergleichende Einschätzung Gerade weil moderne Weltanschauungsdiktaturen beanspruchten, alle Sphären gesellschaftlichen Lebens organisatorisch zu erfassen und in den Dienst der jeweils herrschenden Ideologie zu stellen, entwickelten sie sich zu „interactive dictatorships" im Sinne Gellatelys. Indem Nationalsozialisten und deutsche Kommunisten die traditionellen Strukturen der Heimatbewegung in ihre parteinahen Kulturorganisationen integrierten, hofften sie, diese zunächst kontrollieren und langfristig für ihre jeweiligen politischen Ziele mobilisieren zu können. Die Mitglieder der Heimatbewegung sollten nicht nur praktisch am Aufbau der neuen politischen und gesellschaftlichen Ordnungen mitwirken, sondern sich mit diesen identifizieren und einen eigenen Beitrag zur Propaganda leisten. Da dieses Engagement aber Freiwilligkeit voraussetzte, kam die offizielle Kulturpolitik nicht umhin, immer wieder taktische Konzessionen zu machen und sich zumindest ansatzweise auf das kulturelle Traditionsverständnis der Heimatbewegung einzulassen, um dessen Stereotypen für die Propaganda instrumentalisieren zu können. Das fiel den Nationalsozialisten aufgrund ihrer Affinität zur kulturkonservativ-völkischen Orientierung der meisten regionalkulturellen Vereinigungen we80 Vgl. Sekretariat der KB-Bezirksleitung Gera, Niederschrift über die erweiterte Sitzung des Bezirksvorstandes Gera der Gesellschaft für Heimatgeschichte, 26.2.1990 (ThüringerStAGreiz, KB, 31, p. 220); [Zeitungsartikel ohne Herkunftsangabe], 12.6.1990: „Exkursionen fielen ins Wasser. Gesamtvogtländische Tagungen setzen Tradition fort. 1991 Oelsnitz Treffpunkt" (ebd., 15). 81 Vgl. Erklärung des Arbeitsausschusses der Gesellschaft für Heimatgeschichte im Kulturbund der DDR/Bezirksvorstand Karl-Marx-Stadt {Hanns-Heinz Kasper), [Ende 1989], S. lf. (SächsStAChemnitz, 32682, 138).

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sentlich leichter als den deutschen Kommunisten, aber auch die NS-Kulturorganisationen blieben auf die freiwillige Kooperation der Vereinsmitglieder angewiesen. Sie unter Druck zu setzen, war zumeist kontraproduktiv und beeinträchtigte letztlich die Wirkung der offiziellen Heimat-Propaganda. In Anbetracht des mangelnden Rückhalts in der deutschen Bevölkerung fiel die Überführung des unabhängigen Vereinswesens in parteinahe Kulturorganisationen in der SBZ/DDR weitaus konsequenter und rigider aus als im Dritten Reich. Zur zwangsweisen Eingliederung der Heimatbewegung in die Strukturen des Kulturbundes gab es kein Pendant in der NS-Zeit. Jedoch stießen die Kulturbund-Leitungen bei der praktischen Durchführung auf ganz ähnliche Probleme wie die miteinander konkurrierenden Kulturverbände der NSDAP. Während es ihnen in seltensten Fällen gelang, eine „Durchherrschung" der Organisation bis zu den Einzelmitgliedern auf der lokalen Ebene durchzusetzen, verlor der Kulturbund mit der Integration der Heimatbewegung und ihrer Mitglieder an kulturpolitischem Profil und entwickelten sich zu dem, was sein Präsident Johannes R. Becher einmal selbstkritisch als „Allesbetreuer-Organisationen" bezeichnete82. Gerade die Überführung der unabhängigen Vereine in die offiziellen Natur- und Heimatfreunde-Arbeitsgemeinschaften sorgte dafür, dass sich der Kulturbund - in einem ganz anderen als von seinen Vordenkern intendierten Sinne - zu einer „gesellschaftlichen Organisation" mit beträchtlichen Gestaltungsspielräumen für die einzelnen Mitglieder entwickelte. Zumindest phasenweise leistete die Einbindung der Heimatbewegung in die Organisationsstrukturen der beiden Parteidiktaturen einen substanziellen Beitrag zur Stabilisierung und Mobilisierung der Gesellschaft. Sie gelang besonders dann, wenn auf die Interessen der Heimataktivisten vor Ort Rücksicht genommen wurde. Indem Partei und Staat das Anliegen der regionalkulturellen Vereine und ihrer Nachfolgeorganisation im Kulturbund anerkannten und unterstützten, nahmen sie zwar politikferne Freiräume in Kauf, vermittelten den Mitgliedern aber das Gefühl, politisch erwünschte Aufgaben im eigenen Interesse auszuführen. Damit eröffneten sie die Möglichkeit, trotz möglicher politischer Differenzen praktische Loyalität zu üben. Was einem langfristigen Erfolg dieser Bemühungen indes entgegenstand, waren zum einen krisenhafte Veränderungen des politischen Gesamtsystems, zum anderen der periodisch wiederkehrende Rückfall in frontale Politisierungskampagnen, die mit dem Bestreben, den kulturpolitischen Führungsanspruch der herrschenden Partei kurzfristig durchzusetzen, nur in den seltensten Fällen den gewünschten Effekt erzielten. Kaum etwas erleichterte die Integration der Gesellschaft in das politische System der

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M. Heider, Kulturbund (s. Anm. 59), S. 151.

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Diktatur so sehr wie die an sich systemwidrige und zumeist nur taktisch motivierte Tolerierung gesellschaftlicher Freiräume.

Deutschlands Rolle in der Welt Deutschlands Fundament - die USA

Von Arnulf Baring

1. Historische Ausgangslagen Wenn man unsere Landsleutefragt, woran das Deutsche Reich 1945 gescheitert ist, kommt regelmäßig die Antwort: an Hitlers Verbrechen. Das ist falsch. Zwar hat der Führer uns durch seine Massenmorde auf immer und ewig diskreditiert. Aber er wäre auch dann gescheitert, wenn er keinem Juden, Polen, Russen ein Haar gekrümmt hätte. Das Reich ging zu Grunde, weil es von Bismarck bis Hitler von dem Gedanken besessen war, es müsse eine völlig eigenständige, unabhängige Großmacht sein. Dieser Entschluß verhinderte, daß man sich an einen mächtigeren Verbündeten anlehnte, ihm nachordnete. Wo hätte sich Deutschland damals anlehnen sollen? Man hat gesagt, das Deutsche Reich von 1871 sei eingekreist geboren worden. Warum? Frankreich war von Anfang an ein Gegner des in Versailles proklamierten Kaiserreichs. Nicht allein wegen der schweren Niederlage im deutsch-französischen Krieg, der die Einigung Deutschlands möglich gemacht hatte, und auch wesentlich nicht wegen der schmerzlichen Abtretung von Elsaß und Lothringen an die Deutschen. Entscheidend für diefranzösische Feindschaft war, daß Frankreich durch Bismarck aus der Vormachtrolle verdrängt wurde, die es unter Kaiser Napoleon III. noch einmal inne zu haben glaubte. Mit Rußland, ohne dessen Rückendeckung die Einigung Deutschlands unmöglich gewesen wäre, entwickelte sich der Gegensatz erst im Laufe der Zeit, und zwar vor allem deshalb, weil Rußland ähnlich wie Österreich-Ungarn auf dem Balkan das sieche ottomanische Empire zu beerben gedachte. Mit beiden Staaten war das Reich verbündet. Rußland war nach 1878 latent verdrossen, weil es sich durch den Berliner Kongreß um die Früchte eines Sieges über die Türken gebracht glaubte. Zugleich lud es sich in jenen Jahren nationalistisch und panslawistisch auf. Vier Jahre nach Bismarcks Entlassung kam es 1894 zum Zweibund zwischen Rußland und Frankreich, damit von nun an für Deutschland zur Gefahr eines Zweifrontenkrieges.

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In dieser Lage wäre, um der latenten Bedrohung im Falle des Falles standhalten zu können, der einzig richtige Ausweg ein Bündnis mit der damaligen einzigen Weltmacht, dem britischen Empire, gewesen. Berlin unternahm auch einige halbherzige Versuche in dieser Richtung, mit denen man aber nicht weit kam, weil London ehertkühl reagierte. Man sah an der Themse nicht recht, welchen Nutzen ein Bündnis mit den Deutschen für Großbritannien habe. Aber das Reich hätte sich geduldig um eine Verständigung bemühen müssen. Da man jenseits des Kanals immer einen Kontinentalblock fürchtet - etwa die Wiederkehr der für die Briten bedrohlichen Situation, als Napoleon Europa beherrschte hätten sich die Engländer vermutlich im Falle einesfranzösisch-russischen Angriffs auf Deutschland an unsere Seite gestellt. Weil das wilhelminische Deutschland aber koloniale Ambitionen hatte und seine Zukunft nicht nur, wie bisher, in einem mächtigen Heer, sondern auch in einer imposanten Flotte sah, trat Großbritannien mehr und mehr an die Seite Frankreichs. 1904 kam es zur Entente Cordiale. Damit formierte sich eine Koalition zwischen London, Paris und St. Petersburg. Gegenüber diesen drei Verbündeten hatte Deutschland nur ÖsterreichUngarn auf seiner Seite, auch das Osmanische Reich - Vielvölkerstaaten, die von Nationalitätenkonflikten unterminiert wurden. Damit war der Kampf schon verloren, ehe er begonnen hatte, zumal sich bald abzeichnete, daß auch die junge Großmacht der Vereinigten Staaten auf Seiten der Entente eingreifen, gegen Deutschland Krieg führen würde. Die Konstellation des Ersten (1914 - 1918) hat die des Zweiten Weltkriegs (1939 - 1945) vorweg genommen. Zwar konnte diesmal Frankreich zunächst besiegt werden, und Großbritannien hatte weit weniger Gewicht als ein Vierteljahrhundert früher. Aber die Sowjetunion und erst recht die Vereinigten Staaten waren jetzt eine so gewaltige Machtballung, daß ihr Deutschland, auch wenn es sich nunmehr „Großdeutsches Reich" nannte, auf Dauer nichts entgegenzusetzen hatte. Wenn wir Deutschen uns mit Außenpolitik, mit den internationalen Beziehungen beschäftigen - und das sollten wir tun, weil wir in der Mitte Europas immer in einer schwierigen, einer exponierten Lage sind, bei der sich alle Machtverschiebungen auf dem Kontinent unmittelbar auf uns auswirken - , dann müssen wir eine einzige Mahnung immer beherzigen. Wir dürfen nie aus dem Auge verlieren, daß Deutschland nicht noch einmal in die Isolierung geraten darf. Deutschland muß sich an eine Macht anlehnen, die stärker ist als wir selber. Denn wenn sie, wie etwa Frankreich, schwächer ist als wir, wird sie uns nicht die erforderliche Sicherheit, den unerläßlichen Schutz in Krisenzeiten geben können. Wir sind nicht nur immer wieder durch Waffen bedroht, obwohl das viele Landsleute nach Jahrzehnten des Friedens gar nicht für möglich halten. Wir

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sind auch bedroht durch unsere Angst, in der Welt als unbeliebt zu gelten. Stärker als andere Völker sind wir innerlich unsicher und daher darauf angewiesen, uns beliebt zu machen. Ohne einen großen, verläßlichen Verbündeten kann uns leicht erneut das kalte Grauen überkommen. Vor 1945 haben die Deutschen in ständiger Unruhe, in angstvoller Erregung gelebt. Das übermächtige Gefühl, isoliert und eingekreist zu sein, die Zwangsvorstellung einer überwältigenden äußeren Gefahr und die wilde Entschlossenheit, sich ihr gewachsen zu zeigen, charakterisierten seit der Jahrhundertwende in wachsendem Maße unser öffentliches Klima. Diese widersprüchlichen Impulse prägten unser kollektives Verhalten, das demgemäß zwischen Ohnmachtsanwandlungen und der Allmachtsphantasie, der Welt zeigen zu wollen, was in uns stecke, haltlos hin- und her schwankte.

2. Außenpolitischer Wandel Nach Hitler war es mit dieser explosiven Unausgeglichenheit vorbei. Die Deutschen wurden still, vernünftig, ausgeglichen - wie befreit. Sie fanden ihre Ruhe, machten endlich Frieden mit sich und der Welt, wie es Thomas Mann 1937 aus der Ferne in bewegenden Worten erhofft hatte. Mit der äußeren fanden sie die innere Sicherheit, jene Balance, die sie so lange entbehrt hatten. Diese Stabilisierung unseres Nationalcharakters war darauf zurückzuführen, daß wir uns nicht mehr in einer gefährdeten Mittellage sahen, umzingelt von mehr oder weniger feindlichen Nachbarn, bedroht von den anderen europäischen Mächten, sondern in eine sichere Randlage entrückt waren. Wir empfanden uns in den ersten Nachkriegsjahrzehnten erleichtert als sinnvollen Teil eines kommenden großen Ganzen: des Bundesstaates Westeuropa, auf den alle Entwicklungen zuzulaufen schienen, ein neues, zweites Machtzentrum an der Seite Amerikas. Die politische Nähe der USA war das wichtigste Element unserer Beruhigung. Wir fühlten uns in ihrer neuen atlantischen Schutzzone geborgen, einbezogen in ihre Einflußsphäre, behütet vom amerikanischen Bündnissystem. Die Bundesdeutschen wurden, was Deutsche nie gewesen waren: eingebettet in Nato und EU, also in zwei Allianzen, umringt von neuen Freunden, kleine Brüder an der Hand der Großen. Was auch immer die Fehler und Schwächen des europäisch-atlantischen Bündnissystems gewesen sein mögen, es schuf eine psychische Realität, ein neues Lebensgefühl: die Westverankerung. Wer im Kaiserreich oder in der Weimar Republik aufgewachsen war, fand sich nach 1945 in der westdeutschen Innenpolitik ohne weiteres zurecht. Hier gab es Kontinuitäten. Aber außenpolitisch hatten alle Deutschen von Grund auf umlernen müssen. Hier war es zu einem wirklichen Bruch gekommen. Das Deutsche Reich Bismarcks war ein Reich in der Mitte und eine Großmacht ge-

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wesen. Die Bundesrepublik war keine Großmacht mehr, das sah jeder. Aber sie war auch nicht mehr Macht in der Mitte, sondern ein Randstaat, der vorgeschobene Grenzposten eines neuen westlichen Staatensystems, in das sie fest eingefügt war und in dem Amerika die maßgebende Rolle spielte. Die Entscheidung der Vereinigten Staaten nach 1945, sich auf Dauer in Europa zu engagieren und die Vereinigung unseres Kontinents zu ihrer eigenen Sache zu machen, war ein Bruch mit ihrer auf George Washington zurückgehenden Tradition, Bündnisverpflichtungen unbedingt zu vermeiden. Die USA wurden, was sie noch nach dem Ersten Weltkrieg bewußt vermieden hatten, zu einer „Weltmacht wider Willen", wie man damals gesagt hat. Weshalb entschlossen sie sich zu diesem fundamentalen Kurswechsel? Weil sie feststellen mußten, daß nur sie und die Sowjetunion als potentielle Weltmächte nach 1945 übrig geblieben waren. Entweder mußten sich also die USA, entgegen ihren althergebrachten Grundsätzen, in Europa engagieren oder den Russen die freien Teile Europas überlassen. Es waren ganz wenige Männer in Washington, die sich bald nach Kriegsende des ganzen Ausmaßes der Verelendung und damit der Bedrohtheit Europas bewußt wurden. Sie besaßen zugleich die Kühnheit, ein Milliarden-DollarHilfsprogramm zu entwerfen statt einer bloßen Millionen-Unterstützung, wie bis dahin der Kongreß erwogen hatte. Der (nach dem damaligen USAußenminister benannte) Marshall-Plan war nominell für ganz Europa, praktisch aber wesentlich für Westdeutschland bestimmt, ohne dessen Sanierung Washington einen Wiederaufbau Westeuropas für unmöglich hielt. Diese großzügige Unterstützung des früheren Gegners unterschied sich sehr positiv von der distanzierten Haltung, die man nach 1918 gegenüber Deutschland eingenommen hatte. Man kam bei der amerikanischen Nachkriegsplanung zu dem Schluß, daß Deutschland umfassend in die Weltmärkte einbezogen werden müsse, um eine erneute, erbitterte Vereinzelung der Deutschen zu verhindern. Wir sollten uns künftig ohne schwere Beeinträchtigung eigenen Wohlergehens nie mehr in einen abgeschlossenen Autarkie-Raum zurückziehen können. Natürlich war der deutsche Wiederaufbau nach 1945 nur zu einem Bruchteil amerikanischen Zahlungen zu verdanken. George F. Kennan, als damaliger Planungschef im State Department der intellektuelle Urheber des Projekts, hat behauptet, fünfzig Prozent dessen, was die USA mit dem Marshall-Plan bewerkstelligen wollten - die Stabilisierung Westeuropas - , habe man bereits mit der Verkündung erreicht. Denn in der Hilfszusage habe die Garantie gesteckt - und sie war das Wesentliche - , daß die Amerikaner in Europa bleiben würden. Zugleich banden die Vereinigten Staaten ihre Hilfsangebot an die europäische Zusage eines gemeinsamen Aufbauprogramms. Die Europäer mußten sich also zugleich verpflichten, eine organische Verflechtung ihrer Volkswirtschaften in die Wege zu leiten. Insofern haben die Vereinigten Staatenfrühzeitig und ausfreien Stücken den Grundstein zur europäischen Einigung gelegt.

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Man beschreibt diese fordernde Rolle der USA in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik oft als Vater-Kind-Beziehung oder auch Adoptionsverhältnis. Die Schlußfolgerung lautet dann, daß Deutschland dergleichen loswerden, abwerfen müsse, weil wir erwachsen geworden seien, unsere Emanzipation überfallig werde. Solche Forderungen beruhen aber auf der irrigen Gleichsetzung des unerläßlichen Lösungsprozesses zwischen Kindern und Eltern mit dem ganz anders gearteten, nämlich auf Stabilität angelegten Verhältnis zwischen verbündeten Staaten. Hier geht es wesentlich nicht um Gefühle, deren Entwicklung und Wandlung, sondern um gemeinsame Interessen der beteiligten Länder, ihren Schutz in verläßlichen Allianzen. Diese Beziehungen müssen, sollen sie taugen, für beide Seiten berechenbar bleiben, dauerhaft sein. Ein anderer Denkfehler liegt der hübschen, aber leider leichtfertig formulierten Formel zugrunde: Wir seien nicht antiamerikanisch, sondern nur unamerikanisch. Hier wird eine - angeblich notwendige - politische Distanzierung aus kulturellen Unterschieden der beiden Völker abgeleitet. Nun wird niemand bestreiten, daß es Verschiedenheiten gibt, obwohl sie zwischen Deutschen und Amerikanern erstaunlich gering sind, kleiner als zwischen fast allen anderen westlichen Völkern. Wir sind den Amerikanern vermutlich heute ähnlicher als vielen europäischen Nachbarn. Aber wie auch immer: Für die Frage, ob das Bündnis auch künftig erforderlich, ja vielleicht für uns lebensnotwendig ist, geben Besonderheiten unserer Kultur nichts her. Wer anderer Meinung ist, also unsere kulturelle Eigenständigkeit und Kraft betont, läßt die für Deutschland schon vor mehr als hundert Jahren charakteristische Verwechslung von Geist und Macht wieder aufleben und will damit sagen, unsere (angeblich höherwertige) Kultur könne die (uns fehlende) Macht ersetzen. Wer so argumentiert, bejaht erneut unseren Weg in die Isolation. In den ersten Nachkriegsjahrzehnten waren wir gegen diese Gefahr gefeit. Adenauers Politik und die Zustimmung, die sie mehr und mehr fand, wurde gestützt und befördert durch einen unverhofften, von den Deutschen selbst ungläubig bestaunten Wohlstand, dessen tiefere Ursachen wesentlich auf die Vereinigten Staaten zurückzuführen waren. Denn die USA gewährten der Bundesrepublik, was die europäischen Großmächte infrüheren Jahrzehnten dem Reich verweigert hatten: ein Sicherheitsbündnis sowie den weitgehend ungehinderten Zugang zu den Märkten der Welt. Die Generationen der ersten Nachkriegszeit waren sich stets dieser Zusammenhänge bewußt und haben quer durch alle Schichten, mit einer Mischung aus Respekt, Vertrauen und Stolz auf die eigene Leistung, viel dazu beigetragen, die fünfziger und sechziger Jahre zur besten Phase des deutsch-amerikanischen Verhältnisses zu machen.

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3. Antiamerikanismus in Deutschland Das änderte sich ab Ende der sechziger Jahre, im Zeichen des Vietnamkrieges, der in den USA und in vielen westlichen Gesellschaften junge Generationen gegen Washington auf die Beine brachte. Bei unsförderte diese Jugendbewegung eine amerikakritische Grundströmung, die in den ersten Nachkriegsjahrzehnten undenkbar gewesen wäre. Gleichzeitig kam es unter Willy Brandt zur Neuen Ostpolitik und damit zu einer Phase der Ost-West-Entspannung auch in Deutschland, die im Bewußtsein breiter Kreise die kommunistische Bedrohung verblassen ließ, das sowjetische Waffenarsenal aus dem Bewußtsein verdrängte. Einerseits wurde also der sowjetische Imperialismus jetzt verharmlost, andererseits den USA imperialistische Neigungen unterstellt. Als Bundeskanzler Helmut Schmidt in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre besorgt auf Moskauer Versuche aufmerksam machte, durch die Stationierung von Mittelstrekkenraketen, denen Westeuropa nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen hatte, eine Gefahr für unseren Teil des Kontinents heraufzubeschwören, gelang es ihm, diese Einschätzung den USA plausibel zu machen. Das führte zum sogenannten Nato-Doppelbeschluss, also der Ankündigung einer Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen für den Fall, daß man sich nicht mit Moskau auf eine entsprechende Abrüstung verständigen könne. Der Beschluß löste in der Bundesrepublik eine ungeheure Erregungswelle aus, jahrelange, leidenschaftliche Auseinandersetzungen, ein zeitweilig gewaltig anwachsendes Protestpotential, Demonstrationszüge und Massenkundgebungen. Diese Aufwallungen in der Bevölkerung trugen wesentlich zum Sturz der Regierung Schmidt bei, weil sie sich, mit schwindender Unterstützung aus den eigenen Reihen, der Flut der Friedensfreunde entgegengestemmt hatte. Es war die erste große Leistung der neuen Regierung unter Helmut Kohl, den Doppelbeschluß in Deutschland durchzusetzen und damit zum Untergang der Sowjetunion in den folgenden Jahren erheblich beizutragen. Was blieb, war eine breite Mißstimmung im linken westdeutschen Spektrum gegenüber den Vereinigten Staaten. Man kann die damalige Entfremdung schon am Vokabular erkennen. Da wurde von der Bundesrepublik als einem Satelliten, einer Kolonie oder einem Protektorat gesprochen. Otto Schily beklagte die „strikte Anlehnung und Unterordnung gegenüber den USA", während Oskar Lafontaine die „Verselbständigung Europas" forderte. Erhard Eppler erklärte, beiden Weltmächte jener Tage stünden gleichermaßen in der Tradition der Pax Romana, also einer Siegerordnung zur Erzwingung der Friedsamkeit der Besiegten. Deutschland sei „in beiden Staaten ein besetztes Land", behauptete Heinrich Albertz, während Dorothee Solle in der Bundesrepublik einen „Satellitenstaat der Amerikaner", eine „Militärkolonie" erblickte, und Egon Bahr meinte, „der Mangel an deutscher Selbstbestimmung" sei „so gut wie vollständig".

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Trotz halblauten linken Gemaules blieb indessen das Bild der Bundesrepublik in den Vereinigten Staaten positiv, das Vertrauen Washingtons in die Berechenbarkeit und Verläßlichkeit Bonns groß. Nur so läßt sich der Mainzer Vorschlag des amerikanischen Präsidenten George Bush, Vater des jetzigen Präsidenten, vom Mai 1989 erklären, Deutschland solle für die USA in Europa eine herausgehobene Rolle spielen, nämlich ein „Partner in Leadership" sein. Diese erwartungsvolle Einstellung uns gegenüber erklärt die unbeirrbar zielstrebige, dabei umsichtige Politik der USA 1989/90, der wir die Wiedervereinigung wesentlich zu verdanken haben. Paris wollte sie nicht, London lehnte sie ab, von Moskau ganz zu schweigen. Es lag allein an Washington, wenn sie zustande kam. Insofern war die Wiedervereinigung eine Stunde der Wahrheit, die wir nie vergessen dürfen. Es ist nicht nur undankbar, sondern töricht (weil es unsere wahre Lage in Europa verschleiert), wenn wir diese fundamental wichtige Erfahrung in den Wind schlagen. Im Bewußtsein der deutschen Öffentlichkeit aber war und ist die entscheidende Rolle Washingtons beim Zusammenbruch der DDR nicht präsent. Damit wird die Bedeutung der USA dem deutschen Publikum nicht deutlich, gleichzeitig die Frankreichs überschätzt. Man soll unseren europäischen Verbündeten und Partnern ihr damaliges Zögern nicht nachtragen. Aber man darf natürlich ihre Verhinderungstaktik ebenso wenig vergessen. Denn ein Bündnis kann nur dann Bestand haben, wenn man weiß, was man am anderen hat - und was eben nicht. Während Frankreich, Großbritannien und die Sowjetunion auf Zeitgewinn spielten, sahen Amerikaner und Deutsche, daß die Zeit drängte, ein „window of opportunity" nur kurz offen stand: Gorbatschow mußte, um die DDR aufzugeben, schon geschwächt sein, und gleichzeitig immer noch so mächtig, diese Konzession an den Westen in den eigenen Reihen, im Politbüro der KPdSU, durchzusetzen. Es besteht heute Einigkeit darüber, daß diese Frist im Dezember 1990, zwei Monate nach der Wiedervereinigung, abgelaufen war. Eine solche Entwicklung hatte man in Washington früh vorausgesehen und entsprechend gehandelt. Ohne Bush und Baker, den damaligen Außenminister, wäre es vermutlich nie zum Ergebnis des 3. Oktober 1990 gekommen. Leider haben die wiedervereinten Deutschen danach das Angebot einer konstruktiven, internationalen Aufgabenteilung mit den USA nicht angenommen. Wir hätten uns verpflichten sollen, maßgeblich an der Stabilisierung Ostmitteleuropas mitzuwirken, mit Billigung und Rückendeckung der Vereinigten Staaten. Wir sind dasjenige westliche Land, das diesem Raum am nächsten liegt. Uns muß daher viel an stabilen Nachbarn im Ostteil des Kontinents gelegen sein. Der Gedanke einer deutschen Regional-Verantwortung müßte und könnte als unser Beitrag zur Sicherheit in der Welt Washington plausibel gemacht werden. Aber leider hat er bisher noch nicht einmal unter uns Deutschen breite Zu-

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Stimmung gefunden. Mit uns ist überhaupt nicht mehr sehr viel anzufangen. Uns ist bisher kaum bewußt, daß die neue Rolle des vereinigten Landes viel größere - gedankliche und materielle, auch militärische - Anstrengungen erfordert, als wir sie bisher für nötig und möglich gehalten haben. Europas Kardihalproblem gegenüber Amerika ist seit Jahren unsere Antriebsarmut, unser begrenzter Nutzwert. Die Folge unserer Lähmung ist die drohende Abwendung der USA vom alten Kontinent auf Dauer, gerade auch von Deutschland. Das ist gefahrlich für uns. Denn wir müssen eine solche Distanzierung mehr fürchten als andere. Die Amerikaner finden uns zunehmend uninteressant. Früher gab es viele Deutschlandkenner in der Washingtoner Regierung, unsfreundlich gesinnte Senatoren und Kongreßabgeordnete, gab es die „Germanisten" in den Denkfabriken. Ihre Zahl ist stark geschrumpft, ihre Stimmen sind verstummt. Ohne den bedrängenden Gegner hinter dem Eisernen Vorhang hat der Vorrat an Gemeinsamkeiten stark abgenommen. Die amerikanische Solidarität ist einer wachsenden Gleichgültigkeit gegenüber Deutschland gewichen. Auch auf unserer Seite ist inzwischen eine erstaunliche Provinzialisierung zu beobachten. Schon Europa tritt auf deutscher Seite oft nur oberflächlich ins Blickfeld. Erst recht sind die USA hinter dem Horizont der meisten unserer Politiker verschwunden. Menschliche Bindungen trocknen aus. Otto Graf Lambsdorff (einer der wenigen Parlamentarier, die regelmäßig Washington besuchen) warnt immer wieder vor neuer transatlantischer Kontaktschwäche. Deutsche und Amerikaner, sagte er, sprächen zu viel über einander und zu wenig miteinander. „Leute, die nicht miteinander reden, lernen einander nicht kennen, und Leute, die aufhören, zueinander zu sprechen, werden Fremde." Untergründig spielt immer wieder zwischen den beiden Völkern eine Rolle, daß die 68er während des Vietnamkrieges eine außerordentlich skeptische, oft feindselige Haltung gegenüber den USA entwickelten. In deutschen Medien gibt es einen verbreiteten Antiamerikanismus, werden die Amerikaner in Krisenzeiten immer wieder sehr kritisch gesehen. So hat man beispielsweise während des Golfkrieges Anfang 1991 erschreckend einmütig die Motive der Amerikaner verdächtigt, ihr Verhalten verurteilt. Das blieb damals ohne direkte Auswirkungen, weil Kohl die Presse gering schätzte, sich über sie hinwegsetzte. Daher war Deutschland zwar nicht mit Soldaten, aber mit einem sehr erheblichen Finanzbeitrag an der Seite der Vereinigten Staaten im Golfkrieg zu finden.

4. Neue Herausforderungen Das ist inzwischen, bei der Irak-Krise, bekanntlich anders. Dabei haben wir offenbar vergessen, wie unentbehrlich die USA für uns sind und bleiben. Wer

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statt der Vereinigten Staaten, ja gegen die USA, seine Hoffnungen auf die UNO setzt, ja die Weltorganisation zum Gegengewicht der Amerikaner machen möchte, verkennt völlig die internationalen Machtrealitäten. Ohne die aktive Beteiligung der einzigen wirklichen Großmacht sind die Vereinten Nationen nur ein kraftloser Torso, obendrein zunehmend der inneren Auflösung nahe. Ebenso wenig hilft der Hinweis auf das Völkerrecht in den aktuellen Verständigungsschwierigkeiten. Denn seit den 11. September 2001 fehlt überall eine verläßliche Vorstellung, wie denn dieser ganz neuartigen, schwer fassbaren Bedrohung rechtlich und tatsächlich beizukommen sein könnte. Das herkömmliche Völkerrecht sagt dazu natürlich nichts. Auch die europäischen Kritiker des einseitigen Vorgehens der USA haben bisher nur ratlose Redensarten zu bieten. Wer die Vereinigten Staaten wegen ihres eigenmächtigen Vorgehens kritisiert, sollte aber imstande sein, klar und deutlich zu sagen, wie denn anders wirksam der höchst realen terroristischen Herausforderung begegnet werden kann. Bisher sind solche Gegenvorstellungen der Europäer jedoch nicht bekannt geworden. Bei traditionellen europäischen Regionalkonflikten bleibt die Tatkraft der Vereinigten Staaten ebenso unentbehrlich. Selbst mit den noch ziemlich konventionellen Balkankrisen der neunziger Jahre sind die Europäer von sich aus nicht zurande gekommen. Ohne die USA hätte sich das auseinanderbrechende Jugoslawien zu einer noch ungleich größeren Katastrophe ausgewachsen. Es wurde die erste Bewährungsprobe Europas nach dem Kalten Krieg. Schon unmittelbar nach der Wiedervereinigung zeichnete sich für Bonn ab, daß dieser Kunststaat ohne die Klammer des titoistischen Kommunismus keinen Bestand haben werde. Mit den westlichen, katholischen Teilen dieses Landes stärker verbunden als mit seinem Osten und Süden, auch gedrängt von Menschenrechtsgruppen und den Kirchen, preschte die Bundesregierung mit der Anerkennung Kroatiens und Sloweniens vor - sehr zum Mißvergnügen der Engländer und Franzosen, auch der Russen, die sich der Waffenbrüderschaft mit Serbien im Ersten Weltkrieg, mit Jugoslawien im Zweiten, dankbar erinnerten und daher nicht wahrhaben wollten, daß die Tage der Vorherrschaft Belgrads über die nichtserbischen Landesteile gezählt seien. Auch die USA waren gegenüber dem deutschen Vorstoß skeptisch, weil sie noch eine ganze Weile glaubten, der jugoslawische Gesamtstaat werde sich als Föderation erhalten lassen. Für die Deutschen war diese Entwicklung eine große, ärgerliche Überraschung. Sie glaubten einerseits, sie sähen die krisenhafte Zuspitzung in Jugoslawien deutlicher als ihre Verbündeten (womit sie recht hatten). Andererseits wunderten sie sich. Offensichtlich wirkten in Paris und London, in Moskau sowieso, die Erinnerungen an die gemeinsamen Kriegsbündnisse mit den Serben weitaus stärker als die aktuellen Beobachtungen und Argumente der Deutschen. Die alte Verbindung der beiden Westmächte mit diesem Teil des Balkans wog

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deutlich stärker als die Bundesgenossenschaft mit den Deutschen, obwohl die beiden Westmächte doch mit ihnen inzwischen fast ein halbes Jahrhundert lang in gemeinsamen Bündnissen zusammenarbeiteten, also ihnen hätten glauben sollen, ihrem Urteil hätten vertrauen können. Die Deutschen erschraken. Sie erlebten die Rückkehr einer Situation, von der sie fest geglaubt hatten, sie gehöre inzwischen längst ein für alle mal der Vergangenheit an. Deutschland stand wieder innerhalb Europas allein. Der Bann löste sich erst, als die USA ihre Position veränderten. Sie erkannten, daß ein Festhalten an der Einheit Jugoslawiens zum Scheitern verurteilt war, und mußten darüber hinaus feststellen, ohne ihr aktives Eingreifen werde es keine Lösung der verschiedenen Regionalkonflikte geben, die wegen der nationalistischen, gewaltbereiten Entschlossenheit der Serben, ihr Gebiet zu erweitern und „zu säubern", immer mehr um sich griffen. Mit dieser Umorientierung Washingtons waren die Deutschen gerettet, aus ihrer Isolation befreit. Die - zumindest zeitweilige - Befriedung von Bosnien-Herzegowina, dann des Kosovo war wesentlich den Vereinigten Staaten zu verdanken. Aber auch die Deutschen spielten eine bedeutsame Rolle, nicht nur in den beiden genannten Konfliktgebieten, sondern später auch in Mazedonien. Dabei hat sich die seit 1998 amtierende rot-grüne Koalition besondere Verdienste erworben. Hätte sich die Vorgängerregierung Kohl hier - wie später in Afghanistan - vergleichbar stark engagiert, wäre es vermutlich zu heftigen Protesten der deutschen Linken gekommen. Gegenüber der eigenen Regierung hielt sie stille. Als im Sommer 2002, weil man mit einer Niederlage dieser Koalition rechnete, verschiedene Medien fragten, was von Rot-Grün bleiben werde, lobten Kommentatoren besonders die Außenpolitik der neuen Regierung. Schröder und Fischer, hieß es allgemein anerkennend, sei in der Außen- und Sicherheitspolitik eine Normalisierung des deutschen Auftretens zu verdanken. Bei dieser positiven Einschätzung spielte eine wesentliche Rolle, daß der Bundeskanzler nach dem 11. September 2001 den Vereinigten Staaten „uneingeschränkte Solidarität" zugesichert hatte. Das war, wie immer wieder bei ihm, eine spontane Geste. In der Stunde des Schocks, daß die USA nicht mehr unverwundbar waren, Terroristen vieltausendfachen Tod in Zentren amerikanischen Selbstvertrauens schicken konnten, war es für ihn selbstverständlich, fest an der Seite der Verbündeten zu erscheinen. Es sah damals so aus, als sei er sich der entscheidenden Bedeutung Amerikas für uns voll bewußt. Dieser Eindruck hielt sich monatelang. Als es um die Entsendung deutscher Soldaten nach Afghanistan ging und die Bundestagsmehrheit widerstrebte, machte Schröder sein politisches Überleben von einer positiven Entscheidung abhängig - und setzte sich durch.

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5. Deutschland im Wahlkampf Doch im Spätsommer 2002 änderte sich das Bild, und zwar drastisch. Der Kanzler liebt zwar deutliche Worte und weiß sie auch wirkungsvoll vorzutragen. Aber da er kjeine festen, unverrückbaren Überzeugungen und Grundsätze hat, kann man auf ihn nicht bauen, keinen seiner Merksprüche festnageln. Er ist eben flatterhaft. Als eine Niederlage bei der anstehenden Bundestagswahl vom 22. September wahrscheinlich wurde, entschloß sich Schröder abrupt am 3. August seine proamerikanische Solidarität in Frage zu stellen. „Wir sind zur Solidarität bereit", sagte er, obwohl das nun nichts mehr bedeutete. „Aber dieses Land wird unter meiner Führung für Abenteuer nicht zur Verfügung stehen." Der deutsche Regierungschef hatte dem amerikanischen Präsidenten bei dessen Berlin-Besuch im Mai 2002 zugesichert (und das bei einem späteren Telefongespräch wiederholt), Deutschland habe Verständnis, wenn die USA Aktionen gegen Saddam Hussein für notwendig hielten. Man werde nichts dagegen sagen, schon gar nicht unternehmen. George W. Bush hielt das für eine Zusage, deutscherseits stille zu halten. Die Amerikaner glaubten, der Kanzler werde sich durch das gegebene Wort gebunden fühlen. Da hatten sie sich jedoch getäuscht. Bei ihren Planungen für einen künftigen Irak-Krieg war den Amerikanern von Anfang an klar, daß eine aktive Beteiligung Deutschlands schon deshalb ausgeschlossen war, weil Deutschland für solche Einsätze keine verfügbaren Truppen hatte. Der größte Teil der Bundeswehr ist immer noch für die Verteidigung Mitteleuropas bestimmt und kommt für Auslandseinsätze aus mehreren Gründen nicht in Betracht. Was an Soldaten verfügbar ist, steht auf dem Balkan und in Afghanistan. Insofern erweckte der Kanzler von vornherein einen falschen Eindruck, wenn er so tat, als ob auch wir am Vorabend eines Krieges stünden, bei dem deutsche Verbände einem zweifelhaften Vorhaben geopfert würden. Insofern war von Anfang an problematisch, daß unsere Regierung immer wieder die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzte, um das eigene politische Überleben zu sichern. Dies galt umso mehr, als ohne Anlaß unserem wichtigsten Verbündeten Knüppel zwischen die Beine geworfen wurden. Es hätte Rot-Grün von Anfang an stutzig machen müssen, daß ihre politischen Darbietungen im irakischen Fernsehen ausführlich wiederholt wurden, und sie hätten sich fragen sollen, wenn sie eine friedliche Lösung anstrebten, wie denn eine glaubhafte Drohkulisse ohne die gemeinsame Entschlossenheit des Westens, notfalls Gewalt anzuwenden, auszusehen habe. Wenn man großherziges Verständnis für die Wahlkampfhöte der Koalition aufbrachte, konnte man bis zum 22. September ihre Entgleisungen zwar unschön, aber doch irgendwie verständlich nennen. Schließlich ließe sich hoffen, nach der Wahl werde sich das Verhältnis zu Washington irgendwie einrenken.

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Vermutlich war auch der Kanzler dieser Auffassung. Er nahm offenbar an, wenn er Bush seine Zwangslage im Wahlkampf erkläre, mit Schulterklopfen und Händeschütteln, werde das gestörte Vertrauensverhältnis rasch wieder in Ordnung kommen. Solche Hoffnungen trogen von Anfang an. Berlin verkannte, wie sehr Schröders Wortbruch das persönliche Vertrauensverhältnis erschüttert hatte, zumal eine ganze Reihe amerikakritischer Äußerungen folgten, die drüben kränken mußten. Das galt besonders für den (historisch völlig abwegigen) Vergleich Bushs jun. mit Hitler. Es gilt aber erst recht, wenn man die Unterstützung und den Rückhalt bedenkt, den uns die Amerikaner über mehr als ein halbes Jahrhundert gewährt haben. Es waren wesentlich sie, die uns von Hitler befreiten. Sie haben während der Blockade 1948/49 das Überleben der Freiheit in Berlin gesichert, haben Westdeutschland über Jahrzehnte hinweg die Russen vom Leibe gehalten, durch ihre Präsenz in Europa uns und anderen Völkern einen geradezu märchenhaften materiellen Wohlstand ermöglicht, schließlich umsichtig die deutsche Wiedervereinigung zustande gebracht. Angesichts einer derart eindrucksvollen Erfolgsgeschichte empfand man es nicht nur in Washington, sondern in der Breite der amerikanischen Bevölkerung als groben Undank, aus nichtigem Anlaß wegen unterschiedlicher Einschätzungen der Gefährlichkeit Saddam Husseins öffentlich verhöhnt, lächerlich gemacht zu werden. Man muß nicht, wenn man die Amerikaner für unseren wichtigsten Rückhalt, für die Garantie unserer Freiheit, Sicherheit und Gestaltungskraft hält, alles an ihnen großartig und bewundernswert finden. Niemand muß New York oder Hollywood lieben, niemand Jeans tragen oder Coca-Cola trinken. Es ist auch zuzugeben, daß der Umgang mit Vertretern einer Weltmacht gelegentlich mühsam ist; Amerikaner sprechen selbst gelegentlich kritisch von der Arroganz ihrer Macht. Andererseits wachsen auch in Washington die Bäume nicht in den Himmel; Befriedungserfolge in Afghanistan, im Irak lassen auf sich warten. Wer gefürchtet hat, künftig werde eine imperiale Weltmacht als „Neues Rom" jahrhundertelang die ganze Erde unterjochen, kann schon jetzt erleichtert aufatmen. In Kabul, in Bagdad zeigen sich die engen Grenzen amerikanischen Einflußes. Aber man darf andererseits trotz dieser Einsicht in die Beschränkungen des Einflußes der USA nie vergessen, was Deutschland an den USA immer hatte und hat, darf keine Minute glauben, die sicherheitspolitische Stabilität in Europa sei ein naturwüchsiger Zustand, der sich von ganz allein in der Balance halte. Wenn wir wirklich das Wohlwollen der USA verspielen, werden wir uns noch wundern, wie die alten Gefahren der Isolierung und Selbstisolierung erneut über uns kommen.

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6. Abschließende Überlegungen Die europäische Union ist keine belastbare Versicherung gegen künftiges Unheil. Dieser ökonomische Zweckverband wird vermutlich nie, jedenfalls noch lange kein Bundesstaat oder auch nur Staatenbund werden. Falls sogar die Türkei - und dann auch Israel - EU-Mitglied wird, kann dieses zunehmend heterogene Gebilde kaum mehr als eine große Freihandelszone sein - nützlich, aber kein Ersatz für altmodische Allianzen weiterhin (halb-)souveräner Nationalstaaten. Ohne Not hat Schröder unsere jahrzehntelang bewährte Balance zwischen Washington einerseits, Paris andererseits aufgekündigt und sich in eine einseitige Abhängigkeit von Frankreich begeben. Alfred Grosser hatte schon vor langer Zeit hellsichtig geschrieben, eine Abhängigkeit von Frankreich werde für die Deutschen natürlich weniger Schutz bedeuten, als sie von den USA erwarten könnten. Sie werde ihnen keinesfalls mehr Mitbestimmung bei zentralen außenpolitischen Entscheidungsprozessen einräumen. Wir sind daher auf dem besten Wege, das Bündnis mit den Vereinigten Staaten dauerhaft zu zerrütten - und uns zugleich in Europa zu isolieren. Denn die überwältigende Mehrheit unserer Partner in der EU teilt unsere amerikakritische Haltung nicht. Ohnehin verloren Nato und Europäische Union in den letzten Jahren an Zusammenhalt. Diesen Zerfallsprozeß haben Kanzler und Außenminister mit ihrer halbstarken Kraftmeierei tatkräftig vorangetrieben. Statt ihren wahlkampfbedingten Fehler rasch zu korrigieren (und sei es mit der Entschuldigungsformel, der Irak sei vielleicht doch gefährlicher als anfangs gedacht, zumindest für innenpolitische Gegner Saddam Husseins wie etwa die Kurden), haben sie ihre Position verhärtet und kämpferisch zugespitzt. Im SPDParteivorstand wie in der Bundestagsfraktion hat der Regierungschef erkennen lassen, er halte es für seine Aufgabe, ja seine Pflicht, die hegemoniale Vormachtstellung der USA zu verhindern; Deutschland müsse auf eine neue, ausgewogenere Weltordnung hinwirken. Da möchte man laut lachen, wenn die Sache nicht so traurig, so gefährlich wäre. Jedes Kind weiß, daß wir weniger denn je irgendeine Aussicht haben, die Macht der USA konfrontativ zu beschränken. Aber die Macht, uns selbst zu isolieren und damit ins Unglück zu stürzen, ist uns geblieben. Man muß geradezu kindlich naiv sein, um zu glauben, daß wir die USA ernsthaft provozieren können, ohne daß sie es uns ihrerseits fühlen lassen. Washington wird unsere Bündniseignung hart auf immer weitere Proben stellen. Außerdem ist, wenn sich die amerikanische Öffentlichkeit über uns empört, immer mit dem Boykott deutscher Waren, mit wirtschaftlichen Sanktionen zu rechnen.

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Und warum das alles? Wegen nichts und wieder nichts. Da unsere volle, aktive militärische Beteiligung am Irak-Krieg nie zur Debatte stand, kann man Schröder den Vorwurf nicht ersparen, uns leichtfertig in eine Krise gestürzt zu haben, die die Berechenbarkeit und Verläßlichkeit Deutschlands als Bündnispartner rundum in, Frage stellt: die Grundlagen, auf denen von Konrad Adenauer bis Helmut Kohl fünfzig Jahre lang bundesrepublikanische Außenpolitik erfolgreich betrieben wurde.

Die Tradition des „deutschen Weges" Neutralistische Bestrebungen bei SPD und Grünen

Von Alexander Gallus

1. Einleitende Überlegungen Bundeskanzler Gerhard Schröder hat seine Friedens- und Sicherheitspolitik im Vorfeld der Bundestagswahlen 2002 kurzzeitig unter den Begriff eines besonderen „deutschen Weges" gestellt. Dies mußte um so mehr erstaunen, als dieser Terminus häufig mit jenem des „deutschen Sonderwegs" in Verbindung gebracht wird, der mit überwiegend negativen Konnotationen behaftet ist.1 Er bezeichnet, grob gesprochen, einen Gegensatz zu dem Weg westlicher Systeme und den „Ideen von 1789", welchen die „Ideen von 1914" gegenüberstehen. Der Historiker Rudolf Vierhaus spricht mit Blick auf letztere von einer „Ideologie eines nicht-liberalen, nicht-kapitalistischen, nicht-demokratischen, eines ,deutschen' Weges".2 Dieser Lesart zufolge befindet sich der deutsche Weg in krassem Widerspruch zur Verwestlichung. Die Terminologie des „deutschen Weges" dürfte dazu beigetragen haben, Befürchtungen zu nähren, daß die Politik einer konsequenten, das heißt auch sicherheitspolitischen Westbindung von der Bundesregierung aufs Spiel gesetzt würde. Während die einen mithin in der Haltung der deutschen Regierung im Irak-Konflikt einen ebenso tiefen wie verhängnisvollen Bruch mit der traditionel1

Vgl. Bernd Faulenbach, Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1980; ders.\ Überwindung des „deutschen Sonderweges"? Zur politischen Kultur der Deutschen seit dem Zweiten Weltkrieg, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 51/1998, S. 1123; Werner Weidenfeld, Der deutsche Weg, Berlin 1990; Hartwin Spenkuch, Vergleichsweise besonders? Politisches System und Strukturen Preußens als Kern des „deutschen Sonderwegs", in: Geschichte und Gesellschaft 29 (2003), S. 262-293. 2 Rudolf Vierhaus, Die Ideologie eines deutschen Weges der politischen und sozialen Entwicklung, in: Rudolf von Thadden (Hrsg.), Die Krise des Liberalismus zwischen den Weltkriegen, Göttingen 1978, S. 109.

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len und berechenbaren bundesdeutschen Außenpolitik erkennen, so begrüßen sie die anderen als wichtigen und richtigen Schritt zu einer maßgeblich von Deutschland beflügelten europäischen Außen- und Sicherheitspolitik.3 Dieser Aufsatz macht es sich indes nicht zur Aufgabe, Schröders Irakpolitik im einzelnen nachzuzeichnen und zu bewerten oder Argumente für und wider eine deutsche Führungsrolle in Europa als Gegenmacht zu den Vereinigten Staaten abzuwägen. Er versucht vielmehr zu ergründen, weshalb gerade eine rot-grüne Bundesregierung einen „deutschen Weg" in der Außenpolitik propagiert oder, da sie inzwischen zum Begriff auf Distanz gegangen ist, zumindest der Sache nach beschreiten will. Wo liegen die Wurzeln dieses „deutschen Weges", in welcher Tradition steht er? Auf der Suche nach Antworten stößt man unweigerlich auf neutralistische Tendenzen, die innerhalb der deutschen Sozialdemokratie (und bei den Grünen) in der Zeit ab 1945 wiederholt anzutreffen waren. Darin kommt ein - im Vergleich zu den konservativen Parteien - ambivalentes Verhältnis zur militärisch-sicherheitspolitischen Westbindung und zu Amerika zum Ausdruck. Dieser Umstand dürfte einerseits für Unbehagen sorgen, andererseits erwachsen daraus möglicherweise Chancen für eine Horizonterweiterung und eine (behutsame) Neuorientierung deutscher Außenpolitik nach dem Ende des Kalten Krieges - jenseits einer bloßen Kontinuitätsrhetorik, von nationalem Revisionismus oder Quietismus.4

2. Die SPD zwischen militärischer Neutralität und kollektiver Sicherheit Der erste SPD-Vorsitzende nach dem Krieg Kurt Schumacher war ein klarer Gegner der Westintegration, wie sie Bundeskanzler Konrad Adenauer konsequent verfocht. Um das Ziel der deutschen Einheit möglichst rasch zu verwirklichen, trat der Sozialdemokrat für die militärische - nicht politische - Neutralität des Landes ein.5 In einer Stellungnahme vom April 1949 machte er auf die 3 Siehe zu den unterschiedlichen Positionen Christian Hacke, Deutschland, Europa und der Irakkonflikt, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 24-25/2003, S. 8-16; Hanns W. Maull u.a. (Hrsg.), Deutschland im Abseits? Rot-grüne Außenpolitik 1998-2003, Baden-Baden 2003; ders., Auf leisen Sohlen aus der Außenpolitik, in: Internationale Politik 58 (2003), Heft 9, S. 19-30; Wilfried von Bredow, Neue Erfahrungen, neue Maßstäbe. Gestalt und Gestaltungskraft deutscher Außenpolitik, in: Ebenda, S. 1-11; Dieter S. Lutz, Der deutsche Weg und seine Erfolgsstory, in: Frankfurter Rundschau vom 4. September 2002. 4 Vgl. von Bredow (Anm. 3), S. 10. 5 Vgl. zu der z.T. sehr widersprüchlichen und wechselvollen Position Kurt Schumachers Alexander Gallus, Die Neutralisten. Verfechter eines vereinten Deutschland zwischen Ost und West 1945-1990, Düsseldorf 2001, S. 65-75; Heinrich August Winkler,

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Unterscheidung zwischen politischer und militärischer Neutralität aufmerksam: „Es gibt wohl für uns die absolute Notwendigkeit der militärischen Neutralität, es kann aber für uns nie den Begriff der politischen Neutralität gegenüber einem Faktor geben, der diesen Begriff weder nach der politischen noch nach der rechtlichen oder moralischen Seite respektiert, wie die Sowjetrussen. Das wäre keine Neutralität, sondern das wäre kaschierte Parteinahme für Rußland gegen den Westen."6 Die von den Sozialdemokraten in den Jahren 1953 bis 1960 vertretene Politik der Paktfreiheit des wiedervereinigten Deutschlands stand mithin in einer weiter zurückreichenden Tradition. Zwar lehnte die Partei den Begriff der Neutralisierung meist ab, aber tatsächlich bestand ihre Politik genau darin, wenn sie auch anders überschrieben wurde: Blockfreiheit, Europäisierung, System kollektiver Sicherheit, Disengagement. Mit der Ablehnung des „Schreckwortes" der Neutralisierung wollte die SPD offensichtlich Mißverständnisse und die Unterstellung proöstlichen Verhaltens vermeiden. Die Sozialdemokraten lehnten die Westverträge ab, insbesondere die auf ein militärisches Westbündnis hinauslaufenden. Auf dem Berliner Parteitag der SPD im Juli 1954 forderte Fritz Erler, der nach Schumachers Tod die deutschland- und sicherheitspolitische Position seiner Partei wesentlich entwickeln sollte, seine Landsleute auf, von sich aus darauf zu verzichten, „daß ein wiedervereinigtes Deutschland einer westlichen oder einer östlichen Militärallianz angehört".7 Auch nach dem westdeutschen NATO-Beitritt wich die SPD nicht von der zuvor vertretenen Politik ab. Sie griff nun die Disengagement-Vorschläge auf, die eine atomwaffenfreie Zone und ein Auseinanderrücken der Blöcke in Mitteleuropa vorsahen. Sie wurden von dem ehemaligen amerikanischen Diplomaten George F. Kennan, der britischen Labour-Party um Hugh Gaitskell und vom polnischen Außenminister Adam Rapacki auf die Tagesordnung gebracht. Das von den Sozialdemokraten in jenen Jahren vorgetragene System der kollektiven Sicherheit glich Vorschlägen eines Gürtels neutraler, bewaffneter Staaten, die

Kurt Schumacher und die nationale Frage, in: Nach-Denken. Über Kurt Schumacher und seine Politik, hrsg. von der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1996, S. 41-52; Ulrich Buczylowski, Kurt Schumacher und die deutsche Frage. Sicherheitspolitik und strategische Offensivkonzeption vom August 1950 bis September 1951, Stuttgart-Degerloch 1973. 6 Rede Kurt Schumachers in der gemeinsamen Sitzung der obersten Parteigremien, der Fraktion des parlamentarischen Rates und der sozialdemokratischen Ministerpräsidenten: Unverzichtbare Bedingungen für die Zustimmung zum Grundgesetzentwurf vom 20. April 1949, in: Willy Albrecht (Hrsg.), Kurt Schumacher. Reden - Schriften - Korrespondenzen 1945-1952, Berlin/Bonn 1985, S. 642. 7 Rede Fritz Erlers vom Juli 1954, in: Wolfgang Gaebler (Hrsg.), Fritz Erler. Politik für Deutschland. Eine Dokumentation, Stuttgart-Degerloch 1968, S. 449.

110

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sich gegenseitig zu Beistand verpflichteten und dazu noch unter Schütz einer Großmächte-Garantie standen. Nicht nur sozialdemokratische Politiker, sondern auch ihre Anhänger wiesen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung eine stärkere Neigung zu neutralistischen Positionen auf. Inl Dezember 1955 fragte das Allensbacher Institut für Demoskopie die Bundesbürger: „Was meinen Sie: Sollen wir uns verpflichten, keine Bündnisse einzugehen und nach allen Seiten neutral zu bleiben, wenn wir damit bei den Russen die Wiedervereinigung erreichen?" 36 Prozent der Befragten begrüßten eine solche Verpflichtung, 31 Prozent waren dagegen und 33 Prozent unentschieden. Abweichend von der Gesamtbevölkerung ergab sich innerhalb der Gruppe der SPD-Anhänger stets eine klare Mehrheit für nationalneutralistische Vorschläge.8 So stimmten bei der letzten Frage 49 Prozent der sozialdemokratischen Wähler für ein neutrales wiedervereinigtes Deutschland. Die Antworten auf die Frage „Wenn wir aus der NATO austreten und auf ein Militärbündnis mit dem Westen verzichten: würden die Russen dann einer Wiedervereinigung zustimmen?" erbrachten ähnliche Ergebnisse (siehe Tabellen 1 und 2). Der Wunsch nach der Einheit wog bei den SPD-Anhängern insgesamt offenbar schwerer als die Furcht vor einer russischen Bedrohung für ein neutrales Gesamtdeutschland.

8

Vgl. Hans-Peter Schwarz , Die Westdeutschen, die westliche Demokratie und die Westbindung im Licht von Meinungsumfragen, in: James A. Cooney u.a. (Hrsg.), Die Bundesrepublik und die Vereinigten Staaten von Amerika. Politische, soziale und wirtschaftliche Beziehungen im Wandel, Stuttgart 1985, S. 114; Hans-Erich Volkmann, Die sozialdemokratische innerparteiliche Diskussion über Sicherheit, Entspannung und deutsche Einheit (1953-55), in: Bruno Thoßlders. (Hrsg.), Zwischen Kaltem Krieg und Entspannung. Sicherheits- und Deutschlandpolitik der Bundesrepublik im Mächtesystem der Jahre 1953-1956, Boppard a.Rh. 1988, S. 153-177.

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Tabelle 1 Frage: „Was meinen Sie: Sollen wir uns verpflichten, keine Bündnisse einzugehen und nach allen Seiten neutral zu bleiben, wenn wir damit bei den Russen die Wiedervereinigung erreichen? 4' (Angaben in Prozent) Dezember 1955

Bevölkerung insgesamt

Anhänger der CDU/CSU

SPD

FDP/D VP

Nicht verpflichten

31

45

29

41

Ja, verpflichten

36

29

49

44

Unentschieden

33

26

22

15

Summe

100

100

100

100

Quelle: Elisabeth Noelle/Erich Peter Neumann (Hrsg.): Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1957, Allensbach am Bodensee 1957, S. 324.

Tabelle 2 Frage: „Wenn wir aus der NATO austreten und auf ein Militärbündnis mit dem Westen verzichten: Würden die Russen dann einer Wiedervereinigung zustimmen?" (Angaben in Prozent) September 1956

Bevölkerung

Anhänger der

insgesamt CDU/CSU SPD

FDP/D VP

Wahrscheinlich nicht zustimmen

31

38

23

64

Wahrscheinlich zustimmen

34

32

49

26

Weiß nicht

35

30

28

10

Summe

100

100

100

100

Quelle: Elisabeth Noelle/Erich Peter Neumann (Hrsg.): Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1957, Allensbach am Bodensee 1957, S. 324.

Erst im Juni 1960 bekannte sich Herbert Wehner stellvertretend für seine Partei vor dem Deutschen Bundestag zur Westbindung: „Die SPD geht davon aus, daß das europäische und das atlantische Vertragssystem, dem die Bundesrepublik angehört, Grundlage und Rahmen für alle Bemühungen der deutschen Außen- und Wiedervereinigungspolitik ist."9 Auf hoher Parteiebene gab es innerhalb der SPD während der späten vierziger und der fünfziger Jahre wohl keine Neutralisten aus Überzeugung, zumindest aber Verfechter einer Politik, 9 Herbert Wehner im Bundestag am 30. Juni 1960, in: Deutscher Bundestag, 3. Wahlperiode, Stenographische Berichte, 30. Juni 1960, S. 7056f.

112

Alexander Gallus

die im Status der Neutralität zeitweise ein pragmatisches Mittel erkannten, um die deutsche Einheit zu erlangen.

3. Der Fall Egon Bahr Daß die neutralistische Tradition mit der überraschenden Wende des Jahres 1960 indes keineswegs vollkommen abbrach, belegt nicht zuletzt der Fall Egon Bahr. 10 Der Architekt der Neuen Ostpolitik sah sich wiederholt dem Vorwurf ausgesetzt, er sei Neutralist und Nationalist, zudem antiwestlich und antiamerikanisch eingestellt. So urteilte Henry Kissinger in seinen Memoiren: „Bahr gehörte zwar zur Linken, aber ich hielt ihn jedoch vor allem für einen deutschen Nationalisten, der Deutschlands zentrale Lage ausnutzen wollte, um mit beiden Seiten zu feilschen. Er gehörte zu den Leuten, die immerfreundschaftliche Beziehungen zum Osten unterhielten oder wenigstens keine Feindschaft aufkommen ließen. Offensichtlich war Bahr kein überzeugter Anhänger der westlichen Gemeinschaft wie die Politiker, die wir aus denfrüheren deutschen Regierungen kannten; er war auch frei von allen gefühlsmäßigen Bindungen an die Vereinigten Staaten. Für ihn war Amerika nur ein Gewicht, das auf die richtige Art und zur rechten Zeit zugunsten der Bundesrepublik auf die Waagschale gelegt werden mußte."11 Mit dieser Einschätzung stand Kissinger nicht allein da. Die Berliner Politologin Gesine Schwan zählte Bahr 1983 zu einer Gruppe in der SPD, deren „gemeinsamer Nenner [...] die kritische Distanz gegenüber dem Westen, das Mißtrauen (bis hin zur Gegnerschaft) gegen die Politik der USA und das Fördern nationalistischer Ressentiments gegen die Supermächte"12 sei. Wenige Jahre später meinte Arnulf Baring, Bahr sei „ausschließlich auf die Deutschen fixiert, ohne tieferes Verständnis für unsere Partner und Freunde im Westen".13 Der Berliner Zeithistoriker bezog sich dabei nicht nur auf die Ideen des sozialdemokratischen Vordenkers in den achtziger Jahren, sondern auch auf die Vor-

10 Vgl. Andreas Vogtmeier, Egon Bahr und die deutsche Frage. Zur Entwicklung der sozialdemokratischen Ost- und Deutschlandpolitik vom Kriegsende bis zur Vereinigung, Bonn 1996; siehe auch das biographische Kurzporträt von Alexander Gallus, Artikel „Bahr, Egon Karl Heinz", in: Udo Kempf/Hans-Georg Merz (Hrsg.), Kanzler und Minister 1949-1998. Biographisches Lexikon der deutschen Bundesregierungen, Wiesbaden 2001, S. 108-112. 11 Henry Kissinger, Memoiren 1968-1973, Band 1, München 1979, S. 443. 12 Gesine Schwan, Die SPD und die westliche Freiheit, in: Die Neue Gesellschaft 30 (1983), S. 934. 13 Arnulf Baring, Unser neuer Größenwahn. Deutschland zwischen Ost und West, Stuttgart 1988, S. 145f.

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Stellungen des SPD-Manns in den sechziger Jahren. Bahr habe stabile Grundgedanken. Ein wesentlicher zielte langfristig auf den Bruch mit Adenauers Weststaatskonzept. Den Amerikanern stand er nach Barings Auffassung mit „großer Reserve" gegenüber. Erneut Gesine Schwan warf Bahr 1988 vor, er beabsichtige einen deutschnationalen Alleingang zurück zu Bismarck. Bahr gehe es keineswegs in erster Linie um Sicherheit, sondern um die deutsche nationale Souveränität. Er erstrebe ein Machtgleichgewicht, das auf einem Europa der souveränen Nationalstaaten beruhe.14 Nicht zuletzt die Dokumentation eines Gesprächs des damaligen Staatssekretärs im Bundeskanzleramt mit dem amerikanischen Politikwissenschaftler Walter F. Hahn aus dem Jahr 1969 trat eine Lawine von Neutralismusvorwürfen gegen Egon Bahr und die Brandt-Regierung in der amerikanischen Publizistik15 wie in Deutschland los. In dem Interview trug Bahr einen Vier-Stufen-Plan vor. Die erste Stufe bestand in der faktischen, nicht der staats- und völkerrechtlichen Anerkennung der DDR. Die zweite Stufe sah Gewaltverzichtserklärungen und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu den Ostblock-Staaten vor. Auch sollte in diesem Zeitraum die Anerkennung von Grenzen, darunter die OderNeiße-Linie, vorgenommen werden. Als dritte Stufe waren weitreichende Abrüstungsschritte in Betracht zu ziehen. Vor allem hätten NATO und Warschauer Pakt sich über eine Verringerung der konventionellen Streitkräfte und Waffen in Bundesrepublik und DDR zu verständigen. Sobald eine Reduzierung und Balance der konventionellen Kräfte erreicht sei, stünde als vierte Stufe die Vollendung des europäischen Sicherheitssystems in Aussicht. Den Kern des kollektiven Sicherheitssystems in Mitteleuropa würden auf östlicher Seite die DDR, Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn, auf westlicher Seite die Bundesrepublik Deutschland, Dänemark und die Beneluxstaaten bilden. Später könnten Rumänien, Bulgarien und Jugoslawien sowie Italien, Norwegen und Schweden hinzustoßen. Aus Deutschland und aus allen am neuen Sicherheitssystem beteiligten Staaten hätten sowohl Amerikaner als auch Sowjets vollständig abzuziehen. Überhaupt würden NATO und Warschauer Pakt dann überflüssig und aufgelöst. An ihre Stelle träten neue bilaterale Beziehungen zwischen den Supermächten, möglicherweise unter Beteiligung der beiden Nuklearländer England und Frankreich. Hahn verließ damals das Gespräch mit Bahr verunsichert und beunruhigt darüber, daß ein einflußreicher deutscher Politiker eine Strategie vorgetragen 14 Vgl. Gesine Schwan, Souveräner Alleingang zurück zu Bismarck. Das DeutschNationale in der SPD: Auseinandersetzung mit Egon Bahrs sicherheits- und deutschlandpolitischem Konzept, in: Rheinischer Merkur/Christ und Welt vom 6. Mai 1988. 15 Vgl. Meggy Steffens, Die deutsche Ostpolitik im Spiegel publizistischer Stellungnahmen in den USA 1969-1973, Frankfurt am Main 1988, S. 220-231.

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hatte, die den Interessen der Vereinigten Staaten zuwiderlief. Nicht nur erinnerte ihn Bahrs Politik eines kollektiven Sicherheitssystems an Pläne, wie sie für einige Zeit von der Sowjetunion und später in Polen von Rapacki und Gomulka vorgetragen worden waren, sondern auch an die nationale Politik Bismarcks und die Tradition^des deutschen Idealismus: „Bahr's conceptions call to mind both the Bismarckian idea and the romantic nationalism that several times wrenched Germany into disastrous veers of policy." Außerdem spiegelten Bahrs Ideen, folgt man Hahn, ein typisch deutsches Phänomen wider, nämlich die eigene Fähigkeit zu überschätzen und zu glauben, das politische Umfeld und den Kontinent formen und gestalten zu können. Die Pläne des SPD-Politikers müßten deshalb „as a loud warning bell for American policy in NATO and the Atlantic Community"16 wahrgenommen werden. In der Bundesrepublik veröffentlichte die Zeitschrift „Quick" im gleichen Zeitraum durch eine Indiskretion ein geheimes Planungspapier Bahrs aus dem Jahre 1968 unter der Überschrift „Wie Egon Bahr Deutschland neutralisieren will" 17 . Die Planungsstudie zur europäischen Sicherheit präsentierte drei Konzeptionen für die Lösung der Sicherheitsfrage. Konzept A wollte Entspannung unter Fortbestand der Militärbündnisse. Konzept B ging vom Weiterbestehen der Pakte mit Verklammerung aus. Die sogenannte Konzeption C, die Bahr zwar für schwer umsetzbar, aber für die wünschenswerteste hielt, sah eine Überwindung der Blöcke, die Schaffung eines europäischen Sicherheitssystems und darin die Wiedervereinigung Deutschlands vor. Bahr wies die Vorwürfe wiederholt zurück. Der Kritik, er sei antiwestlich, kam er nur insoweit entgegen, als er nationale Interessen und eine pragmatische Politik ideologischen Gegensätzen überordnete. Der Behauptung, er sei ein Nationalist, kam er insoweit entgegen, als er sich einen nationalbewußten Deutschen nannte. Nur dem Vorwurf, er sei ein Neutralist, ließ er nicht gelten. Den Neutralismus-Verdacht wies er ohne Wenn und Aber von sich. Wer Bahrs Ideen indes mit denen anderer Neutralisten18 vergleicht, kann seine Argumentation kaum überzeugend finden. Seine Gedankenführung gleicht der von Neutralitätsanhängern der fünfziger Jahre, die für eine völkerrechtlich garantierte Neutralität Deutschlands eintraten. Auch sie dachten zum Teil in europäischen Dimen16

Walter F. Hahn, West Germany's Ostpolitik. The Grand Design of Egon Bahr, in: Geoffrey Stewart-Smith (Hrsg.), Brandt and the Destruction of NATO, Richmond 1973, S. 101. 17 Quick vom 27. September 1973, S. 10a-10d sowie 114a-l 14d. 18 Vgl. die Gesamtdarstellung von Gallus (Anm. 5); zu Strömungen in den fünfziger Jahren schon Rainer Dohse, Der Dritte Weg. Neutralitätsbestrebungen in Westdeutschland zwischen 1945 und 1955, Hamburg 1974; neuerdings auch Dominik Geppert/Udo Wengst (Hrsg.), Neutralität - Chance oder Chimäre? Konzepte des Dritten Wegs für Deutschland und die Welt 1945-1990, München 2005.

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sionen und bezogen andere Staaten in ihre außenpolitischen Modelle mit ein. Der Begriff des europäischen Sicherheitssystems wäre von Fall zu Fall eine adäquate Bezeichnung für ihre Vorstellungen gewesen. Für den britischen Historiker Timothy Garton Ash folgten Bahrs Pläne zwar nicht einfach dem Prinzip „Einheit für die Gegenleistung der Neutralität". Allerdings stünden sie neutralistischen Vorstellungen weitaus näher als Adenauers Westbindungspolitik.19

4. Patrioten für den Frieden bei SPD und Grünen im Widerstreit mit Befürwortern der Zweistaatlichkeit Ab Ende der siebziger Jahre flammte die Neutralismus-Diskussion im Zuge des NATO-Doppelbeschlusses erneut auf. Die Nachrüstungsdebatte konnte damals im In- und Ausland den Eindruck erwecken, Deutschland wolle sich vom Westen „abkoppeln" und befinde sich in einer „Akzeptanzkrise". Der Historiker Michael Stürmer warnte in jener Zeit fast beschwörend vor einem „Niedergang der Pax Americana", mit dem der „Aufstieg eines neuen Nationalismus neutralistischer Observanz" einhergehe. In dieser Entwicklung lägen „Gefahren, die die Nachricht vom Ende des deutschen Sonderwegs durch die Realität bald dementieren könnten".20 Intellektuelle verschiedener Couleur waren damals aufgeschreckt: Hans-Ulrich Wehler sah schon die Auferstehung der „Chimäre eines neutralisierten Gesamtdeutschland"21, Arnulf Baring wunderte sich über „unseren neuen Größenwahn" und wies auf die Gefahr einer zumindest „inneren Neutralisierung bei Aufrechterhaltung der formalen Westbindungen" hin.22 Und derfranzösische Beobachter Pierre Hassnerfragte alarmiert: „Was geht bloß in Deutschland vor?" 23 Angesichts der - vermeintlichen oder tatsächlichen Drohkulisse sowie des möglichen internationalen Vertrauensverlusts wurden führende Politiker der Union, der Liberalen, aber auch der Sozialdemokraten (die in dieser Hinsicht eine besonders wechselvolle Geschichte aufwiesen) nicht

19 Vgl. Timothy Garton Ash, Im Namen Europas. Deutschland und der geteilte Kontinent, München 1993, S. 122. 20 Michael Stürmer, in: Deutscher Sonderweg - Mythos oder Realität? Kolloquien des Instituts für Zeitgeschichte, München/Wien 1982, S. 45. 21 Hans-Ulrich Wehler, Wohlbehagen im Wolkenkuckucksheim. Die Chimäre eines neutralisierten Gesamtdeutschland, in: ders., Preußen ist wieder chic... Politik und Polemik in zwanzig Essays, Frankfurt am Main 1983, S. 47-52. 22 Baring (Anm. 13), S.61. 23 Pierre Hassner, Was geht in Deutschland vor? Wiederbelebung der deutschen Frage durch Friedensbewegung und alternative Gruppe, in: Europa-Archiv 37 (1982), S. 517-527.

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Alexander Gallus

müde, ihre Abneigung gegenüber jeglichen „neutralistischen Sonderwegen" zum Ausdruck zu bringen.24 Der SPD-Anhänger und Historiker Heinrich August Winkler malte damals - irritiert angesichts des ambivalenten Verhaltens seiner Partei im Stationierungsstreit - das Schreckbild einer isolierten Bundesrepublik Deutschland, die schutzlos dem Einfluß der Sowjetunion ausgeliefert sein würde. „Das ist", davon war er überzeugt, „die Logik des ,neutralistischen Nationalismus', den es in Teilen der Friedensbewegung und [...] an den Rändern der SPD gibt."25 Der CDU-Bundestagsabgeordnete Herbert Czaja äußerte sich im Oktober 1979 besorgt darüber, daß die sozialliberale Koalition eine „Neutralisierung und eine Distanzierung vom westlichen Bündnis" in der Tradition Egon Bahrs betreibe.26 Im Jahr 1983 steigerte Oskar Lafontaine, damals Vorstandsmitglied der SPD wie Oberbürgermeister von Saarbrücken, solche Befürchtungen weiter und erregte Aufsehen, als er von der „Angst vor den Freunden" sprach und für ein Abrücken von der militärischen Westbindung eintrat.27 Statt über kurz oder lang Opfer eines von den USA konzipierten begrenzten Nuklearkrieges zu werden, befürwortete er eine „Verselbständigung Europas"28, Block- und Atomwaffenfreiheit sowie eine Umrüstung der Bundeswehr auf Defensivwaffen. Als einen ersten konkreten Schritt schlug er das Ausscheiden der Bundesrepublik aus der militärischen Organisation der NATO vor. Noch im Jahr der deutschen Einheit 1990 warnte Bundeskanzler Helmut Kohl vor neutralistischen Positionen, die bei der deutschen Linken und bei der Bevölkerung an Einfluß und so auch innenpolitisch an politischer Stoßkraft gewinnen könnten.29 In einem Gespräch mit demfranzösischen Staatspräsidenten François Mitterrand äußerte er Anfang März 1990 die Befürchtung, „daß die gleichen Leute, die sich 1983 gegen die

24 Zur Haltung der Parteien und Außenseiterpositionen in ihren Reihen während der achtziger Jahre vgl. Gallus (Anm. 5), S. 311-333. 25 Heinrich August Winkler, Wohin treibt die SPD? Die Bundesrepublik Deutschland braucht eine regierungsfähige Opposition, in: Jürgen Maruhn/Manfred Wilke (Hrsg.), Wohin treibt die SPD? Wende oder Kontinuität sozialdemokratischer Sicherheitspolitik, München 1984, S. 34. 26 Herbert Czaja, Deutschland-Vertrag gegen Neutralisierungspolitik. Die NATO stärken, in: Deutschland-Union-Dienst 33 (1979), Nr. 205, S. 3. 27 Vgl. Oskar Lafontaine, Angst vor den Freunden. Die Atomwaffenstrategie der Supermächte zerstört die Bündnisse, Reinbek bei Hamburg 1983. 28 Ebenda, S. 84. 29 Zum schwankenden sicherheitspolitischen Meinungsklima in Bevölkerung und Parteien während jener Zeit vgl. Rafael Biermann, Zwischen Kreml und Kanzleramt. Wie Moskau mit der Einheit rang, Paderborn 1997, S. 481-486.

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Stationierung der Pershing II eingesetzt hätten, heute versuchten, eine Politik der Neutralität für ein vereinigtes Deutschland durchzusetzen".30 Lafontaine ging es freilich weder 1983 noch 1990 um die Wiederherstellung des souveränen Nationalstaats, den er ausdrücklich ablehnte. Der von Winkler erhobene Vorwurf eines nationalen Neutralismus traf auf ihn nicht zu, auch nicht auf die Verfechter einer „zweiten Phase der Entspannungspolitik" in den Reihen der Sozialdemokratie, denen allerdings eine Lockerung des Bündnisses und eine Verselbständigung oder „Europäisierung Europas"31 vorschwebten. Innerhalb der Friedensbewegung und des grünen Spektrums gab es ebenfalls Bemühungen um ein neutrales Deutschland.32 Die vorwiegend von den „linken Patrioten" Herbert Ammon und Peter Brandt beeinflußte AG Berlin- und Deutschlandpolitik in der Berliner Alternativen Liste strebte ein mäßig bewaffnetes neutrales Deutschland an, weil sie nur so der erhöhten Kriegsgefahr entgehen zu können glaubte. Die besondere Bedrohung des eigenen Landes war ein wesentlicher Beweggrund, für eine Wiedervereinigung - über den Zwischenschritt der Konföderation - einzutreten. Mit der Lösung der deutschen Frage sei zugleich einfriedenspolitischer Impuls verbunden, weil darin ein erster Schritt zu einem allgemeinen Disengagement, letztlich zur Schaffung einer die Blockkonfrontation aufhebenden gesamteuropäischen Friedensordnung bestehe. Neben dieserfriedenspolitischen Argumentation, die nicht mit einer pazifistischen Haltung gleichzusetzen war, hob die AG in ihren Schriften stets einen weiteren Begriff hervor, nämlich den der nationalen Identität der Deutschen, die sich nur in einem nach außen und innen selbstbestimmten Land wahrhaft demokratisch entfalten könne. Diese nationalemanzipatorische Haltung war vage mit einem sozialemanzipatorischen Ansatz gekoppelt: ein Deutschland jenseits der bestehenden Formen kapitalistischer oder sozialistischer Ordnung zu errichten. Der letztgenannte Aspekt fand in den Texten der AG wiederholt Erwähnung, doch blieb die Erörterung der gesellschaftspolitischen Zielsetzung im Vergleich 30 Helmut Kohl in einem Telefongespräch mit François Mitterrand am 5. März 1990, in: Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, hrsg. vom Bundesministerium des Innern unter Mitwirkung des Bundesarchivs, bearbeitet von Hanns Jürgen Küsters und Daniel Hofmann, München 1998, S. 911. 31 Peter Bender, Das Ende des ideologischen Zeitalters. Die Europäisierung Europas, Berlin 1981. 32 Vgl. zum gesamten Themenkomplex Gallus (Anm. 5), S. 334-384; Peter Fleischmann, Nation und Demokratie bei den Grünen. Eine Untersuchung der politischen Konzeptionen und Strategien der Partei Die Grünen von ihrer Gründung 1980 bis zur Wiedervereinigung Deutschlands 1990, Phil. Diss. Freie Universität, Berlin 1995; Florian Roth, Die Idee der Nation im politischen Diskurs. Die Bundesrepublik Deutschland zwischen neuer Ostpolitik und Wiedervereinigung (1969-1990), Baden-Baden 1995, S. 219-240.

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Alexander Gallus

zu der intensiveren und wesentlich umfangreicheren friedens- und sicherheitspolitischen Argumentation marginal. Im Kern glichen die Forderungen des ehemaligen Mitglieds des Bundesvorstandes der Grünen Rolf Stolz und seines Kölner Initiativkreises Linke Deutschland-Diskussion (LDD) jenen der AG Berlin- und Deutschlandpolitik der AL. Um die Kriegsgefahr, die besondere Bedrohung für Deutschland („Gefahrengemeinschaft" 33) und Europa, zu überwinden, sollte ein Friedensvertrag zu einer atomwaffenfreien Zone, zum Abzug der alliierten Truppen von deutschem Boden führen, auf dem künftig nur noch defensiv umgerüstete nationale Streitkräfte zur Landesverteidigung stationiert sein würden. Zugleich müßte die OderNeiße-Grenze endgültig anerkannt und den Deutschen das Recht auf Selbstbestimmung und zur freien Entfaltung der Volkssouveränität zurückgegeben werden. Die beiden souveränen und blockfreien deutschen Staaten könnten dann unabhängig von dritten Mächten in einen Dialog miteinander treten und eine Konföderation bilden („Deutscher Bund"34). Zunächst auf dieser Grundlage, über die Zwischenstufe eines Staatenbundes, später wiedervereinigt wäre Deutschland befähigt, seine „historische kulturelle Mission" zu verwirklichen: „ein Brückenkopf der Weltoffenheit und des Internationalismus in einem Meer provinziell-egoistischer Nationalismen zu sein, Brücke und Mittler zu sein zwischen dem Westen und Osten Europas".35 Am Ende dieses mit Deutschlands Abkopplung und Blockfreiheit eingeleiteten Prozesses sollte einfriedliches Europa,36 gar eine ebenso utopische wie illusorische „Welt ohne Waffen, ohne Not, ohne Ausbeutung und Unterdrückung" 37 stehen.

33

Rolf Stolz, Ein deutscher Sonderweg außerhalb der Blöcke. Abkopplung als Überlebensstrategie, in: ders., Ein anderes Deutschland. Grün-alternative Bewegung und neue Antworten auf die Deutsche Frage, Berlin 1985, S. 27. 34 Presseerklärung zum 8. Mai 1985 vom 6. Mai 1985 anläßlich der LDD-Tagung in West-Berlin am 4./5. Mai 1985, in: Materialbrief Deutsche Probleme - Probleme mit Deutschland, 2. Jg., Nr. 5 vom Juli 1985, S. 34. 35 Rolf Stolz, 12 Thesen zur Selbstbefreiung Deutschlands, in: Materialbrief Deutsche Probleme - Probleme mit Deutschland, 5. Jg., Nr. 12/13 vom Juni 1988, S. 27, S. 29f. 36 Stolz kritisierte allerdings diejenigen Anhänger der Blockfreiheit und Neutralität, welche die deutsche Frage gegenüber europäischen Gesamtlösungen weit in den Hintergrund drängten. Vgl. Initiativkreis LDD: Die Linke und die deutschen Fragen, in: Materialbrief Deutsche Probleme - Probleme mit Deutschland, 2. Jg., Nr. 4 vom Mai 1985, S. 3. Dies galt etwa für das sogenannte „Friedensmanifest" der Grünen vom Oktober 1981, in dem es hieß: „Unser Ziel ist ein atomwaffenfreies, entmilitarisiertes Europa, ein Europa der Blockfreiheit und der Neutralität." Zitiert nach: Wolf Dieter Karl, Zur Außen» und Sicherheitspolitik der GRÜNEN, in: Manfred Langner (Hrsg.), Die Grünen auf dem Prüfstand. Analyse einer Partei, Bergisch-Gladbach 1987, S. 403. 37

Presseerklärung zum 8. Mai 1945 (Anm. 34).

Die Tradition des „deutschen Weges"

119

Die gemeinsame Zielprojektion von LDD und Berliner AL-AG auf ein bald konföderiertes, bald wiedervereinigtes, „friedliches, blockfreies, sozialistisches Deutschland"38 als Grundstein für ein allgemeines Disengagement und der hohe Rang, den das Instrument des Friedensvertrags bei beiden einnahm, konnten nicht die Unterschiede der zwei Gruppen überdecken, die durch Stolz' aggressive Sprache besonders deutlich hervortraten. Vor allem in drei Aspekten wichen er und sein Kreis zumindest graduell, in der Akzentsetzung, von dem Neutralisten-Zirkel innerhalb der Berliner Alternativen Liste ab. Diese bestanden in: (1) Stolz' feindlicher Haltung gegenüber den Vereinigten Staaten, (2) seiner scharfen Kritik, ja Diffamierung der Bundesrepublik und ihres politischen Systems, (3) seinem offensiven Streben nach einem Sonderweg, einem dritten Weg39, der ihn ideologisch in die Nähe der (weit rechten) Nationalrevolutionäre rückte, mochte er diesen Vorwurf auch noch so nachdrücklich zurückweisen. Insgesamt hatten die national orientierten Neutralisten bei den Grünen indes einen schweren Stand. Das Deutschland-Thema nahm auf der Prioritätenskala grüner Politik einen nachgeordneten Rang ein. Es existierte ein „Grundkonsens", der in der „Absage an eine Politik" bestand, „die auf nationalstaatliche Wiedervereinigung zielt". 40 Im Jahr 1986 legte die Arbeitsgruppe deutschdeutsche Beziehungen der Bundestagsfraktion ein Grundsatzpapier vor, das die dort vorherrschende Tendenz schriftlich fixierte: „Aufgrund der negativen historischen Erfahrungen mit dem deutschen Nationalstaat in der Mitte Europas, der Zerschlagung des Deutschen Reiches am Ende des Zweiten Weltkrieges und der Konfrontation zwischen den Militärblöcken im Nachkriegseuropa halten wir eine auf Wiedervereinigung zielende nationalstaatliche Politik in bezug auf die beiden deutschen Staaten weder für realistisch noch für wünschenswert."41 Bei den Grünen dominierte die antinationale Strömung, die freilich zum geringsten Teil aus NATO-Befürwortern bestand. Den Mainstream bei den Grünen machten europaneutralistische Zweistaatlichkeitsbefürworter aus.

38

Rolf Stolz, Initiativkreis Linke Deutschland-Diskussion gegründet, in: Materialbrief Deutsche Probleme - Probleme mit Deutschland, 1. Jg., Nr. 2 vom November 1984, S. 32. 39 Zum Begriff und dem damit verbundenen Bedeutungsspektrum vgl. Alexander Gallus/Eckhard Jesse, Was sind Dritte Wege? Eine vergleichende Bestandsaufnahme, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 16-17/2001, S. 6-15. 40 Lothar Probst, Deutschlandpolitik und die Deutsche Frage aus Sicht der Grünen, in: Dieter Blumenwitz/Gottfried Zieger (Hrsg.), Die deutsche Frage im Spiegel der Parteien, Köln 1989, S. 121. 41 Zitiert nach: ebenda; vgl. auch den vollständigen Text: Ansätze und Perspektiven grüner Politik in den deutsch-deutschen Beziehungen, abgedruckt in: Deutschland Archiv 19(1986), S. 1053-1063.

120

Alexander Gallus

In abgeschwächter Form, aber den Grünen ähnlich, beabsichtigten vor allem Teile der SPD-Linken, das Verhältnis von Westeuropa zu den Vereinigten Staaten innerhalb des Bündnisses neu zu definieren, ohne - wie Lafontaine - die Verteidigungsgemeinschaft von vornherein in Frage zu stellen. Sie wollten für die Bundesrepublik und Westeuropa wohl eine Sonderrolle im, hingegen keinen Sonderweg aus dem Bündnis. Sie hielten eine stärker auf Eigenständigkeit bedachte europäische Sicherheitspolitik, deren Mittelpunkt die deutsch-französische Zusammenarbeit bilden würde, für notwendig, um nicht von den Vereinigten Staaten in den „zweiten Kalten Krieg" hineingezogen zu werden. Die Befürworter einer „zweiten Phase der Entspannungspolitik", zu deren Exponenten Egon Bahr, Günter Gaus und auch Willy Brandt zählten, betonten nachdrücklich das gestiegene Spannungsverhältnis ab Beginn der Präsidentschaft Ronald Reagans „zwischen amerikanischen Hegemonial- und westeuropäischen Entspannungs- und Selbstbehauptungs-Interessen".42 Im Vergleich zur Union und den Liberalen, bei denen der Antineutralismus einer gewachsenen Überzeugung entsprang und der Auffassung, daß in der Westbindung die Staatsräson der Bundesrepublik liege, war die Mißbilligung (national-)neutralistischer Vorstellungen in Teilen der SPD anders begründet und oberflächlicher. Sie standen der NATO kritischer gegenüber und betrachteten den Atlantikpakt als Zweckbündnis, wußten aber, wie sehr in der Bundesrepublik die Regierungsfähigkeit an eine Befürwortung der Westbindung gekoppelt war. Die vielen Beteuerungen, eine neutralistische Politik abzulehnen, hatten auch hier eine Ursache. Der Hauptgrund dafür, daß die SPD nicht länger mit einem nationalen Neutralismus sympathisierte, lag jedoch an folgendem Umstand: Sie relativierte die Wiedervereinigungsperspektive während der achtziger Jahre weiter, betrachtete den Status quo als endgültigen Zustand und notwendig für die Sicherung des Friedens und redete einer „Bundesrepublikanisierung" das Wort. Wer Ergebnisse demoskopischer Befragungen aus jener Zeit heranzieht, kann gleichfalls klare Unterschiede je nach Parteineigung feststellen. Unter den Anhängern der Grünen fand sich in den achtziger Jahren eine große Mehrheit für den Austritt der Bundesrepublik aus dem NATO-Bündnis. Während in den Jahren 1981 und 1983 auf die Frage „Was wäre Ihrer Ansicht nach die bessere Außenpolitik: Sollten wir uns weiter fest mit den Amerikanern militärisch verbünden, oder sollten wir versuchen, ganz neutral zu sein?" (Tabelle 3) sich in der Bevölkerung insgesamt 33 und 34 Prozent für die Neutralität aussprachen, so waren es bei den Anhängern der Grünen das eine Mal 82, das andere Mal immerhin noch 78 Prozent. 42 So Dieter Groh/Peter Brandt, „Vaterlandslose Gesellen". Sozialdemokratie und Nation 1860-1990, München 1992, S. 324.

Die Tradition des „deutschen Weges"

121

Tabelle 3 Frage: „Was wäre Ihrer Ansicht nach die bessere Außenpolitik: Sollten wir uns weiter fest mit den Amerikanern militärisch verbünden, oder sollten wir versuchen, ganz neutral zu sein?" (Angaben in Prozent) Bevölkerung insgesamt

Anhänger der Grünen

Grünen Juli 1983

November

Juli

November

1981

1983

1981

48

49

5

8

Neutral sein

33

34

82

78

Unentschieden

19

17

13

14

Summe

100

100

100

100

Mit den Amerikanern verbünden

Quelle: Allensbacher Jahrbücher 1983, Bd. 8, S. 630; Archiv des Instituts für Demoskopie (IfD) Allensbach, IfD-Umfragen 4002,4030.

Daß sich diese Haltung auch 1990 nicht grundlegend gewandelt hatte, beweist die folgende Tatsache: 62 Prozent der Grünen-Wähler bevorzugten bei der Frage „Was ist Ihrer Ansicht für die Zukunft die beste Politik? Sollen wir weiter ganz auf der Seite der Westmächte stehen, oder sollen wir versuchen, unser Bündnis mit den Westmächten aufzugeben und ganz neutral bleiben?" die letztgenannte Option.43 Im Dezember 1986 vor die Wahl gestellt, ob man ein gutes Verhältnis zu Rußland oder zu den Vereinigten Staaten für die Zukunft der Deutschen für bedeutender halte, entschieden sich nur 18 Prozent der Grünen-Anhänger für Amerika, 24 für Rußland, und 58 Prozent waren unentschieden. Im Gegensatz zu den Anhängern der Union und Liberalen, die damals mit 68 und 60 Prozent für die USA optierten, waren es auf sozialdemokratischer Seite nur 39 Prozent.44 Die Anhänger der Grünen und, in schwächerem Maße, die der SPD tendierten zur Neutralität und zeigten sich zugleich besonders skeptisch gegenüber dem westlichen Verteidigungsbündnis (vgl. Tabelle 4).

43 Die vom Institut für Demoskopie Allensbach erhobenen Daten sind abgedruckt bei Gallus (Anm. 5), S. 493. 44 Vgl. ebenda, S. 497.

122

Alexander Gallus Tabelle 4

Frage: „Darüber, wie die Beziehungen der Bundesrepublik zu anderen Staaten aussehen sollen, gibt es ja ganz unterschiedliche Ansichten. Könnten Sie einmal lesen, was die beiden hier sagen. Welchem würden Sie eher zustimmen?" Der eine: „Das Bündnis mit Amerika und den anderen befreundeten Staaten der westlichen Welt hat der Bundesrepublik seit mehr als 30 Jahren den Frieden und die Freiheit gesichert. Als neutraler Staat wären wir allein zu schwach, um uns bei einem Angriff verteidigen zu können." Der andere: „Die Freiheit der Bundesrepublik ist auch dann nicht bedroht, wenn sie neutral wird. Und für den Weltfrieden und die Verständigung der Völker untereinander können wir mehr tun, wenn wir zu keinem der beiden Machtblöcke gehören." (Angaben in Prozent) Bevölke-

Dezember 1982

Juni 1983

Anhänger der

Anhänger der

rung insgesamt

Grü-

CDU/

ndl

CSU

SPD FDP Grünen

82

29

80

48

76

22

29

11

57

9

30

11

69

SPD FDP

Dez.

Juni

CDU/

1982

1983

CSU

66

60

82

56

Als neutraler Staat 22

21

11

Als neutraler Staat und allein wären wir nicht verteidigungsfähig

könnten wir für den Weltfrieden mehr tun Unentschieden

12

19

7

15

7

14

11

22

13

9

Summe

100

100

100

100

100

100

100

100

100

100

Quelle: Archiv des Instituts für Demoskopie (IfD) Allensbach, IfD-Umfragen 4010, 4011, 4018, 4028, 4033, 4044,4083/84; Allensbacher Jahrbücher 1983, Bd. 8, S. 630.

Insgesamt jedoch war das Bekenntnis zur Gemeinschaft der westlichen Demokratien bei der Bevölkerung fest verankert. Die Westbindung hat eine Tradition ausgebildet, ist zur Staatsräson der Bundesrepublik und ihrer Bürger geworden.45 Insofern bestanden deutliche Grenzen der Mobilisierbarkeit für eine neutralistische Bewegung. Andererseits war das Spannungsverhältnis zwischen Westintegration und Wiedervereinigung kaum zu leugnen. Unter den Bedin45

Vgl. Schwarz (Aran. 8), S. 134-140.

Die Tradition des „deutschen Weges"

123

gungen des Ost-West-Konflikts waren beide Elemente schwer überzeugend miteinander kombinierbar. Mit dem Erfolg der westdeutschen Demokratie war, wie man bald erkennen konnte, die Hinnahme der Teilung verbunden. In dieser Unvollständigkeit des (west-)deutschen Staates lag die wohl wesentliche Schwäche des westlich-deutschen Bündnisses. Tabelle 5 Frage: „Es gibt ja verschiedene Vorschläge, ob und in welcher Form ein vereintes Deutschland einem Bündnis angehören soll. Hier auf dieser Liste sind vier Möglichkeiten aufgeschrieben. Wenn Sie bitte einmal lesen. Welchem dieser vier Vorschläge stimmen Sie am ehesten zu, Vorschlag A, B, C oder D?" (Angaben in Prozent) März 1990

Bevölke-

Wähler der

rung insgesamt Vorschläge:

CDU/CSU

FDP

SPD Grünen

A: Ein vereintes Deutschland gehört

16

27

12

13

12

B: Deutschland gehört zur NATO, aber die Bundeswehr wird nicht auf dem Gebiet der heutigen DDR stationiert.

23

28

29

19

19

C: Deutschland erhält einen Sondersta-

25

17

36

30

21

21

14

15

26

39

15

14

8

12

9

ohne jegliche Beschränkung zur NATO.

tus, ähnlich wie Frankreich, das politisch, aber nicht militärisch mit der NATO verbunden ist. D: Deutschland wird neutral und gehört keinem Bündnis an. Unentschieden

Quelle: Archiv des Instituts für Demoskopie (IfD) Allensbach, IfD-Umfrage 5032.

Doch ungeachtet dieses neuralgischen Punktes des Weststaats stand fest: Neutralismus um jeden Preis, zum Preis der Sicherheit und Freiheit, konnte es für die westdeutsche Bevölkerung zu keinem Zeitpunkt geben. Eine deutliche Mehrheit für ein neutrales wiedervereinigtes Deutschland war nur unter der Garantie von Freiheit und Frieden/Sicherheit vorhanden. In diesem - freilich wenig realistisch erscheinenden - Fall hätte die Mehrheit der Westdeutschen in den achtziger Jahren wahrscheinlich auf die militärische Westintegration verzichtet und einen außenpolitischen dritten Weg beschritten. Eine generelle Abwendung vom Westen lehnten sie stets ab. Für Neutralismus, verstanden als

124

Alexander Gallus

Austritt aus dem NATO-Bündnis, und nicht nur als vage Tendenz, sich aus Spannungen des Ost-West-Konflikts herauszuhalten, trat während der achtziger Jahre mit großer Mehrheit einzig die Anhängerschaft der Grünen ein. Nimmt man die Ergebnisse der fünfziger Jahre hinzu, so läßt sich die These aufstellen, daß es innerhalb der Bevölkerung im linken Spektrum eine stärkere Neigung zur Neutralität gab als im rechten. Diese Tendenz ist auch bei der Kopplung der Neutralitätsfrage mit der nach der Wiedervereinigung zu erkennen (vgl. Tabellen 5 und 6). Tabelle 6 Frage: „Ob ein vereintes Deutschland weiter in der N A T O bleiben oder ein neutraler Staat sein soll, darüber gibt es unterschiedliche Meinungen. Die einen sagen: Man darf die Sicherheit nicht gefährden und muß deshalb in einem starken Bündnis bleiben. Die anderen sagen: Die Militärbündnisse zerfallen und haben bald keine Bedeutung mehr. Deshalb kann Deutschland auch neutral werden. Welcher Meinung stimmen Sie eher zu, der ersten oder der zweiten?" (Angaben in Prozent) März 1990

Bevölke-

Wähler der

rung insgesamt CDU/CSU

FDP

SPD

Grünen

Der ersten (Im Bündnis bleiben)

46

62

61

38

12

Der zweiten (Deutschland kann

32

18

25

42

66

22

20

14

20

22

neutral werden) Unentschieden

Quelle: Archiv des Instituts für Demoskopie (IfD) Allensbach, IfD-Umfrage 5032.

5. Schluß Eine generelle Debatte über Deutschlands Außenpolitik nach Ende des Kalten Krieges ist lange Zeit ausgeblieben.46 Dabei gab es schon früh nach 1990 46 von Bredow (Anm. 3), S. 1, spricht von einer „überfällige[n] diskursive[n] Horizonterweiterung". Siehe auch den Überblick von Volker Rittberger , Deutschland in der internationalen Politik: welche Rolle nach der Vereinigung?, in: ders. (Hrsg.), Demokratie - Entwicklung - Frieden. Schwerpunkte Tübinger Politikwissenschaft, Baden-Baden 2003, S. 75-97.

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Ansätze zu einer Diskussion, Anregungen, auch provokative Stellungnahmen zur Positionierung der deutschen Außenpolitik und der Haltung des Landes zu NATO und Westbindung. So erregte 1993 ein maßgeblich von dem Berliner Zeithistoriker Rainer Zitelmann herausgegebener Sammelband unter dem Titel „Westbindung" einige Aufmerksamkeit. Er wollte Chancen und Risiken dieser Maxime ausloten. Die Herausgeber warnten vor der Schaffung eines europäischen Bundesstaates als einer „Utopie einer Totalwestintegration"47 Zugleich ließen sie eine skeptische Haltung gegenüber der NATO durchblicken und ihre Hoffnung auf eine Renaissance des geopolitischen Denkens.48 Acht Jahre nach Vollendung der deutschen Einheit verdeutlichte auch Egon Bahr mit seiner Streitschrift „Deutsche Interessen", daß er sich weiterhin als scharfer Kritiker der Pax Americana verstand. Darin machte er kein Geheimnis aus seinem Wunsch, ein sicherheitspolitisch eigenständiges Europa zwischen den Vereinigten Staaten und Rußland zu schaffen. Ihm liege vom sicherheitspolitischen Standpunkt aus der Osten näher als die atlantische Weltmacht; schließlich sei die „geopolitische Realität [...] unverändert: Der Raum zwischen Lissabon und Wladiwostok muß als Einheit betrachtet werden, soweit es um Sicherheit geht." Die Vereinigten Staaten sollten so rasch als möglich aus Europa verbannt werden, denn, so heißt es, Europa benötige „Amerika nicht mehr zu seinem Schutz vor einem Gegner, den es nicht mehr gibt". Die NATO sei als „Kind des Kalten Krieges", als Zweckbündnis von den Ereignissen überholt worden. „Sie sollte die alte Bundesrepublik schützen, bis die Einheit erlangt sein würde. Für uns hat das Bündnis erreicht, wozu es gebraucht und gedacht war." Sobald sich aus dem OSZE-Prozeß eine tragfähige europäische Sicherheitsstruktur am Himmel abzuzeichnen beginne, müsse das Ende der NATO in Europa eingeläutet werden.49 Die skeptische Haltung gegenüber dem deutschen Nationalstaat und der Defmierung nationaler Interessen, das fehlende Verständnis des Zusammenhangs von Verantwortung und Machtpolitik, das war in der Tat eine schwere Hypo-

47 Michael Großheim/Karlheinz Weißmann/Rainer Zitelmann, Einleitung: Wir Deutschen und der Westen, in: Rainer Zitelmann u.a. (Hrsg.), Westbindung. Chancen und Risiken für Deutschland, Frankfurt am Main/Berlin 1993, S. 15; siehe dazu kritischere/ Schmidt, Abschied vom Westen? Zur Debatte um die Historisierung der „Bonner Republik", in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 10/2000, S. 1207-1218. 48 Vgl. Karl-Eckhard Hahn, Westbindung und Interessenlage. Über die Renaissance der Geopolitik, in: Heimo Schwilk/Ulrich Schacht (Hrsg.), Die selbstbewußte Nation. „Anschwellender Bocksgesang" und weitere Beiträge zu einer deutschen Debatte, Berlin/Frankfurt am Main 1994, S. 327-344. 49 Egon Bahr, Deutsche Interessen. Streitschrift zu Macht, Sicherheit und Außenpolitik, München 1998, S. 43, 49, 70, 103.

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thek für die deutsche Außenpolitik nach der Einheit.50 Deutschland hat den antiwestlichen Sonderweg des Deutschen Reiches zwar erfolgreich überwunden, dafür aber noch mit dem antinationalen der alten Bundesrepublik zu kämpfen. Für Christian Hacke ist der „Verweis auf die große außenpolitische Tradition der Bundesrepublik [...] zwar lobenswert und richtig", doch sei dies allein nicht mehr ausreichend und werde es zwingend, Traditionslinien neu zu bewerten.51 Erleben wir nun den Streit um die Traditionen,52 der nach 1945 gar nicht erst richtig ausbrach, weil die Besatzungsmächte, besonders aber Konrad Adenauer ihn nicht zuließen? Es stellt sich die Frage, ob diese Debatte, nachdem das wiedervereinigte Deutschland seine volle Souveränität erlangt hat, nachgeholt oder neu entfacht wird. Angeregt von der Haltung der Bundesregierung im Irakkonflikt plädierte erneut Bahr offensiv für einen „deutschen Weg".53 Der außenpolitische Grand seigneur der SPD wünscht sich ein geringeres Maß an „AmerikaBeflissenheit" 54 und mehr Mut bei der Formulierung und Verfolgung genuin deutscher Interessen - mit einem Sinn für Machtfragen. Ihm schwebt eine eigenständige deutsche Politik oder sogar Führungsrolle innerhalb europäischer Sicherheitsstrukturen vor. Der letzte Aspekt ist ihm wichtig zu betonen, denn er weiß, daß Deutschland nicht einfach in die klassische Mitteleuropalage zurückgekehrt ist, sondern vielmehr zu den „postklassischen" Nationalstaaten55 zählt, die sich von der klassischen souveränen Form darin unterscheiden, daß sie fest in supranationale Organisationen eingebunden sind. In diesem Rahmen müsse Deutschland zur Normalität finden und sich von seiner Vergangenheitsfixierung lösen: „Die Deutschen", fordert Bahr nachdrücklich, „müssen endlich die Abnormalität abschütteln, bei vielen Problemen von heute auf gestern zurückzuschauen und damit Lösungen für morgen zu erschweren." Die Ausbildung eines normalen Verhältnisses zur Nation nennt er eine „Bringschuld der Deutschen".56

50 Vgl. Gregor Schöllgen, Angst vor der Macht. Die Deutschen und ihre Außenpolitik, Berlin/Frankfurt am Main 1992. 51 Christian Hacke, Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Weltmacht wider Willen?, 3. Aufl., Berlin 1997, S. 537. 52 Vgl. den „klassischen" Aufsatz von Waldemar Besson, Der Streit der Traditionen, in: Karl Kaiser/Roger Morgan (Hrsg.), Strukturwandlungen der Außenpolitik in Großbritannien und der Bundesrepublik, München 1970, S. 94-109. 53 Vgl. Egon Bahr, Der deutsche Weg. Selbstverständlich und normal, München 2003. 54 Ebenda, S. 149. 55 Vgl. Heinrich August Winkler, Abschied von den Sonderwegen. Die Deutschen vor und nach der Wiedervereinigung, in: ders., Streitfragen der deutschen Geschichte. Essays zum 19. und 20. Jahrhundert, München 1997, S. 123-147. 56 Bahr (Anm. 53), S. 137.

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Das sind starke und provozierende Thesen.57 Bahr ist allerdings nicht der einzige, der Schröders Auftritt, seinen Washington-kritischen Kurs, begrüßt und, damit verbunden, „Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne"58 erhofft - dabei im übrigen weit entfernt von antiamerikanischen Verschwörungstheorien, statt dessen eher bewundernd gegenüber dem machtpolitischen Realismus der US-Administration. Ebensowenig ist mit diesen Forderungen ein Plädoyer für das Ende der Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten verbunden, sondern vielmehr eines für die Fortsetzung der Kooperation auf erneuerter Grundlage. Diese sollte wesentlich im forcierten Aufbau europäischer Sicherheits- und Verteidigungsstrukturen bestehen, die dem Alten Kontinent Stärke verleihen und ihn grundsätzlich zu eigenständigem Handeln befähigen würden - dann auch als Korrektiv zu hegemonialen Tendenzen der atlantischen Supermacht.59 Es will so scheinen, als hätte die Diskussion über die außenpolitischen Grundlagen der „Berliner Republik" (mit über zehn Jahren Verspätung) eingesetzt. Es ist an der Zeit, Positionen und Traditionen fern aktualistischer Aufgeregtheiten zu überdenken.

57 Patrick Bahners, Deutsche Wege. Wir sind wir, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. September 2003, meint: „Hätte ein CDU-Vordenker solche Sätze publiziert, hätten die Jusosfrüher Mahnwachen vor dem Konrad-Adenauer-Haus aufgestellt." 58 Gregor Schöllgen, Der Auftritt. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne, München 2003. 59 Vgl. Werner Link, Das antiimperiale Europa, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. August 2003.

Sicherheit in Freiheit - die doppelte Herausforderung Erfahrungswerte der deutschen Nachkriegsdemokratie

Von Johannes Urban

1. Einleitung Kaum einer hat die zerstörerische, alles Private durchdringende Gewalt des nationalsozialistischen Unrechtssystems so gut beschrieben wie Sebastian Haffner. Dieser Staat habe ihn gelehrt, was es heißt, Geschichte am eigenen Leib zu erleben: „Alle Europäer der jetzt lebenden Generation können das von sich sagen; und gewiß niemand mehr als die Deutschen."1 Auch nach der „Stunde Null" gehörte das nun geteilte Deutschland zu den das Weltgeschehen prägenden Schauplätzen. Unter den Argusaugen verfeindeter Supermächte versuchten beide Teile den Neuanfang. Auf den Ruinen eines Unrechtsstaates, der Deutschland in den Abgrund gestürzt und die Deutschen zu Unmenschen gemacht hatte, sollte ein Deutschland entstehen, daß seinen Platz in der Völkerfamilie als friedfertige, freie und geachtete Nation wiedergewinnen wollte. Die langen Schatten der Vergangenheit prägten und prägen seither das Ringen der Deutschen, die innere wie äußere Sicherheit von Staat und Bürgern zu gewährleisten - ohne die Freiheit als Grundwert des demokratischen Verfassungsstaats zu kompromittieren. Sicherheit in Freiheit, darin bestand und besteht die doppelte Herausforderung der deutschen Nachkriegsdemokratie. Der Streit über die richtige Balance der beiden Elementargüter - hier die Schutzpflicht des Staates, dort die Pflicht des Schutzes vor dem Staat - prägte viele der zentralen sicherheitspolitischen Entscheidungen nach 1945. Von der Wiederbewaffhung über die Notstandsgesetzgebung bis zur aktuellen Diskussion über die angemessene Reaktion Deutschlands auf den islamistischen Terrorismus: Kern der Debatte war und ist das Verhältnis von Sicherheit und Freiheit. Daß viele Deutsche ihrem Staat kaum zutrau(t)en, einen angemessenen Aus1 Sebastian Hqffher, Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914-1933, Stuttgart/München 2000, S. 12.

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gleich dieser Werte herzustellen, kann nicht verwundern. Schließlich hatte der totalitäre NS-Staat Deutschland in totale Unfreiheit und Unsicherheit geführt. Als Trauma pervertierter Staatlichkeit begründen diese Schrecken noch heute politische Werte und Haltungen. Doch auch die „westdeutsche" Gegenwart von 55 Jahrenfreiheitlicher Demokratie ist längst zu einer Vergangenheit mit Ausstrahlung auf die Zukunft geworden. Sie kann helfen, angesichts neuer Gefahren für Staat und Bürger die Balance von Sicherheit und Freiheit angemessen zu bestimmen. Daß eine Neubestimmung unausweichlich ist, dürfte mit Blick auf die Terroranschläge in New York, Washington, Istanbul, Madrid und anderswo offenkundig sein. Während zunehmend Konsens einkehrt, was Art und Ausmaß der neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen betrifft, ist höchst umstritten, welche Lehren die Vergangenheit für Gegenwart und Zukunft bereithält. Auch wenn solche Lehren nicht ohne weiteres übertragbar sind: Es liegt nahe, auf der Suche nach historischen Erfahrungswerten zentrale sicherheitspolitische Entscheidungen der Bundesrepublik Revue passieren zu lassen.2 Von Nutzen könnte der Blick vor allem auf diejenigen Debatten sein, bei denen das Verhältnis von Sicherheit und Freiheit eine besondere Rolle spielte. In der Auseinandersetzung über eine Wiederbewaffnung der (West-)Deutschen mußte die junge Nachkriegsdemokratie - und die Allianz ihrer westlichen „Garanten" erstmals für die prekäre Balance von Sicherheit und Freiheit Verantwortung übernehmen. Auf sie folgte wenig später ein Streit der Demokraten, wie die noch junge, von Innen wie Außen bedrohte Demokratie vor ihren Feinden zu schützen sei. Implizit ging es dabei um weit mehr als den Schutz der Demokratie: Mächtige Akteure rangen um Einfluß und Handlungsspielräume; sie definierten Sicherheit und Freiheit nicht ohne Grund exklusiv und konträr. Kaum waren die „Notstandsgesetze" nach zähem Ringen verabschiedet, geriet der Staat in einen Notstand, den kaum jemand erwartet hatte: die Konfrontation mit gewaltbereiten Linksextremisten. Der „Deutsche Herbst" markiert in mehrfacher Weise den Scheitelpunkt der Debatte über das Verhältnis von Sicherheit und Freiheit. Nie zuvor sah sich der demokratische Staat mehr herausgefordert, Bürgerrechte einzuschränken, um den Schutz der Allgemeinheit zu garantieren. Der Auseinandersetzung mit der RAF gebührt deshalb besondere Aufmerksamkeit. Heute, beinahe dreißig Jahre nach der Eskalation des Linksterrorismus sieht sich die deutsche Nachkriegsdemokratie erneut einer Herausforderung durch Terrorismus und Extremismus gegenüber. Wie in den 1970er Jahren - als kaum jemand Terrorismus in einer hochentwickelten, demokratischen Industriegesell-

2 Die historische Erörterung der Balance von Sicherheit und Freiheit steht nicht in Konkurrenz zur juristischen Debatte; sie unterstützt jene bei der Ermittlung der für die Verhältnismäßigkeitprüfung wesentlichen „politischen Realität".

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schaft für möglich gehalten hatte3 - offenbart sich eine Bedrohung neuer Qualität: „Der Terror, mit dem wir es heute zu tun haben, ist mit dem seinerzeitigen in der Bundesrepublik nicht zu vergleichen. Die RAF agierte - wenn auch hin und wieder mit Unterstützung vom Ausland her - auf nationaler Ebene. Das heutige Netz der Al Kaida-Kämpfer und ihrer Verbündeten und Sympathisanten agiert global. Und es agiert unter mißbräuchlicher Berufung auf angebliche Lehren einer Weltreligion - nämlich des Islam. Auf diesem Hintergrund ist es in der Lage, junge Menschen, denen die sofortige Aufnahme ins Paradies versprochen wird, als Selbstmordattentäter zu gewinnen. Deshalb ist die Gefahr heute um ein Vielfaches größer."4 Das größere Ausmaß, wie die von politischen, religiösen, kulturellen und ökonomischen Interdependenzen herrührende Komplexität dieser Herausforderung, provoziert beinahe zwangsläufig Einschränkungen der bürgerlichen Freiheitsrechte. Die hohen Güter Sicherheit und Freiheit drohen mehr denn je in der Geschichte der deutschen Nachkriegsdemokratie in unauflösliche Spannung zu geraten. Ist die deutsche Demokratie dazu verdammt, eines oder gar beide hohen Güter zu kompromittieren? Die bisherigen Erfahrungen können zumindest Hinweise darauf geben, ob und wie das nunmehr akute Dilemma aufzulösen wäre. Die Analyse birgt nicht zuletzt deshalb Brisanz, da auch jeder der hier beleuchteten Debatten - um Wiederbewaffnung, Notstandsgesetze und Bekämpfung der RAF - geprägt war von der jeweiligen Wahrnehmung der nochfrischen Erfahrungsweite mit Demokratie und Diktatur. Und daß diese deutschen Erfahrungen eine besondere europäische Dimension aufweisen, gilt für die Vergangenheit wie für die Gegenwart und Zukunft. Auch sechzig Jahre nach dem Zusammenbruch des totalitären NS-Systems blickt die Welt mit wachem Auge auf Deutschland - um so mehr wenn es um die Wahrung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und die Verteidigung gegen Extremismus und politische Gewalt geht.

2. Wiederbewaffnung gegen die „Gefahr aus dem Osten" Das Ausmaß der Zerrüttung von Staat und Gesellschaft nach der doppelten Katastrophe von NS-Herrschaft und Weltkrieg läßt sich heute kaum noch nachvollziehen. Der Leitspruch „Nie wieder Krieg" wurde zum Selbstverständnis ei-

3 Vgl. Uwe Backes/Eckhard Jesse, Totalitarismus, Extremismus, Terrorismus, Opladen 1984, S. 13. 4 Hans-Jochen Vogel , Essay zur Sicherheitsdebatte: Die Gefahr ist heute um ein Vielfaches größer, in: Tagesschau.de vom 13.7.2004, auf: http://www.tagesschau.de (Zugriff am 13.7.2004).

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ner sich formierenden demokratischen Nachkriegsgesellschaft, die im Krieg als solchen - und in der Existenz eines deutschen Militärapparats - die Wurzel allen Übels sah. Ganz im Gegensatz zu den Westmächten, vor allem den USA, und wenigen führenden westdeutschen Politikern, darunter als treibende Kraft Konrad Adenauer, betrachtete die Bevölkerung die aggressive Expansion der Sowjetunion in Mitteleuropa zunächst nicht als „deutsches Problem". Vor der „Gefahr aus dem Osten" sollten (West-)Deutschland die Besatzungstruppen der Westalliierten verteidigen. Jene wiederum waren davon ebensowenig begeistert, wie sie einem Wiederaufstieg Deutschlands zur kontinentalen Vormacht Vorschub leisten wollten. Insbesondere Frankreich, militärisch schwach und in schmerzhafter Erinnerung des deutschen Besatzungsregimes, wehrte sich zunächst gegen jede Form einer Wiederbewaffhung oder Wiederaufnahme Deutschlands in einer westlichen Verteidigungsallianz. Eben dies war das Ziel des wichtigsten deutschen Befürworters einer Wiederbewaffhung: Konrad Adenauer. Für ihn war sie der entscheidende, unvermeidbare Schritt in Richtung staatlicher Souveränität des demokratischen (West-)Deutschland. Er verstand sie zugleich als Doppelstrategie, um einerseits die Bundesrepublik als Teil der westlichen Verteidigungs- und Wertegemeinschaft der „freien Völker" zu verankern und andererseits diese, von vielen Deutschen abgelehnte Westbindung im eigenen Land durchzusetzen. Daß Adenauer sich gegen die ebenso zahlreichen wie entschlossenen Gegner einer Wiederbewaffhung im In- und Ausland durchsetzen sollte, ist vor allem einer dramatischen Veränderung des sicherheitspolitischen Kontexts der frühen Nachkriegszeit geschuldet. Das Aufbrechen des Block-Gegensatzes auf dem Schauplatz des besetzten Deutschland führte zu einer Revolution der westlichen Sicherheitsstrategie. Statt den europäischen Alliierten die Kontrolle eines demilitarisierten Deutschlands zu überlassen, sahen sich die USA gezwungen, der sowjetischen Expansion ein starke Militärpräsenz in Westeuropa entgegenzustellen. Konrad Adenauer nutzte den sich vor allem mit der Korea-Krise verschärfenden Blockgegensatz als Beleg der Notwendigkeit eines deutschen Verteidigungsbeitrags. Dessen Gegner in den Reihen der Westalliierten und unter den (West-)Deutschen selbst gerieten vor dem Hintergrund der Eskalation zwischen Ost und West in die Defensive. Zunehmend verdrängte die Frage nach dem „Wie" die Diskussion über das „Ob" einer Wiederbewaffhung. 5 Um den verständlichen Befürchtungen und Ängsten, insbesondere derfranzösischen Seite, Rechnung zu tragen, sollte Deutschland deshalb eine Armee bekommen, die stark genug sein sollte, die „Soviets" abzuschrecken - ohne jedoch die Belgier

5 Vgl. Georg Meyer, Innenpolitische Voraussetzungen der westdeutschen Wiederbewaffnung, in: Alexander Fischer (Hrsg.), Wiederbewaffhung in Deutschland nach 1945, Berlin 1986, S. 36.

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zu erschrecken.6 Der unter starkem amerikanischen Druck auf Deutschland und Frankreich gefundene Kompromiß sah eine Kontrolle der deutschen Verteidigungskapazität durch Beschränkung ihrer Fähigkeiten, vor allem durch einen supranationalen Überbau vor. Konrad Adenauer, der von vornherein eine Einbindung in westliche Bündnisstrukturen angestrebt hatte, gelang es, das Sicherheitsbedürfiiis der Westalliierten kompatibel zu seinen Zielen zu befriedigen. Letztlich gingen die mit der Konstruktion einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft verabschiedeten Souveränitätsbeschränkungen - die ja nicht alleine für Deutschland, sondern auch für die europäischen Partner gelten sollten dann den Abgeordneten der Französischen Nationalversammlung zu weit. Ihr „Non" konnte zwar das Inkrafttreten der EVG-Verträge verhindern, nicht aber die Wiederbewaffnung Westdeutschlands im Rahmen des westlichen Bündnisses. Zu groß war das Drängen der USA und auch Großbritanniens, die in der Einbindung Westdeutschlands die letzte verbliebene Option zur Abwendung einer sowjetischen Dominanz auf dem Kontinent sahen.7 Die Aufnahme der Bundesrepublik in die NATO bereitete den Weg für die Aufstellung der Bundeswehr. Mit dem Generalvertrag und der NATO-Mitgliedschaft erlangte Deutschland beschränkte Souveränität; als exponierter Verbündeter und Vorposten am immer dichter geknüpften Eisernen Vorhang konnte es nun zunehmend Einfluß auf Entscheidungen der Westallianz nehmen. Fürchteten die Skeptiker unter den Alliierten um die Sicherheit des europäischen Kontinents, trugen sich die innerdeutschen Kritiker mit einer Reihe politischer, juristischer und letztlich ethisch-moralischer Bedenken. Selbst viele Offiziere der ehemaligen Wehrmacht lehnten einen militärischen Beitrag der Bundesrepublik zur Verteidigung „des Westens" ab - weil sie darin eine weitere Schmach der Unterordnung sahen oder gar darauf hofften, daß Deutschland nach einer Konfrontation von Ost und West lachender Dritter sein würde. Voraussetzung ihrer Unterstützung der Wiederbewaffnung war eine Art „Rehabilitation des deutschen Soldaten", wie sie Dwight D. Eisenhower - der nie ein Hehl aus seiner Abscheu gegenüber Generälen NS-Deutschlands gemacht hatte - auf Drängen von General Clay 1951 in einer Art Ehrenerklärung aussprechen sollte.8 Daß die Westalliierten selbst in dieser moralisch aufgeladenen

6 Dieses metaphorische Paradoxon geht auf Franz Josef Strauß zurück und wurde eine Art Motto der Bundeswehr in ihren frühen Tagen. Vgl. David Clay Large , Germans To The Front. West German Rearmament In The Adenauer Era, Chapel Hill/London 1996, S. 86. 7 Siehe Rolf Steininger, Wiederbewaffnung: Die Entscheidung für einen westdeutschen Verteidigungsbeitrag, Erlangen 1989, S. 8. 8 Zur Bedeutung dieser Annäherung siehe Large (Anm. 6), S. 114.

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Frage Entgegenkommen zeigten, verdeutlicht, für wie notwendig und schwierig sie es hielten, die Deutschen an die Front des Kalten Krieges zu bringen.9 Tatsächlich galt es für Adenauer und seine Partner enorme Widerstände zu überwinden. Als erbitterter Gegner der Wiederbewaffnung erwies sich Kurt Schumacher, der * einen deutschen Verteidigungsbeitrag für ein westliches Bündnis als Absage an die deutsche Einheit ablehnte. Tatsächlich rückte die Wiedervereinigung mit der Westbindung als von Adenauer zumindest rhetorisch verfolgtes Fernziel in den Hintergrund. Nicht nur die Einheit, auch die Freiheit der Deutschen sahen Gegner der Wiederbewaffnung als gefährdet an. Für die Kirchen und kirchennahe Politiker, insbesondere aus dem protestantischen Milieu, kam die Wiederbewafifhung so kurz nach Auflösung der Wehrmacht einem Öffnen der Büchse der Pandora gleich. Franz Josef Schöningh umschrieb das Empfinden vieler in der Bevölkerung so: „Noch niemals war ein Volk [...] bereiter, allem militärischen Ehrgeiz abzuschwören [...]; es will nicht sowjetisiert werden, es will sich zum Westen bekennen um jeden Preis. Aber auch um den Preis der Wiederbewaffnung? Etwa auch dann, wenn jene Kräfte wiederbelebt werden, die zu seiner und Europas Katastrophe beigetragen haben?".10 Für Gustav Heinemann, den prominenten Wiederbewaffiiungs-Kritiker in den Reihen der Union, ging von der Wiederbewaffnung die Gefahr einer „geistigen Verwirrung" der soeben demilitarisierten Deutschen aus, die „unsere junge Demokratie [...] in höchstem Maße gefährdet" hätte.11 Eine ReMilitarisierung kam für ihn einer Re-Nazifierung gleich.12 Pastor Martin Niemöller, ehemaliger U-Boot-Kapitän und NS-Verfolgter als Mitbegründer der „Bekennenden Kirche", teilte diese Befürchtung und fand im ruhigen Abwarten und Erwarten göttlicher Hilfe die aus seiner Sicht einzige moralisch vertretbare Alternative zur Wiederbewaffnung. Mit Goethe entgegnete Konrad Adenauer ihm: „Nur jene Völker verdienen die Freiheit, die sie täglich aufs Neue erkämpfen!" 13 Ging es Adenauer angesichts einer ja realen Bedrohung um die Freiheit von und die Sicherheit vor dem totalitären sowjetischen Machtapparat, sahen seine Kritiker vor allem die Preisgabe fundamentaler, aber noch keineswegs gefestigter Grundwerte der bundesrepublikanischen Demokratie als Bedrohung an. Adenauer strebte danach, die Freiheit der Demokratie vor kommunistischer Fremdbestimmung zu verteidigen; die Kritiker der Wiederbewaffnung sorgten 9

So umschreibt David Clay Large die US-amerikanische Zielsetzung. Sie rührte von realpolitischen Notwendigkeiten, bei einigen Entscheidungsträgem aber auch von einer Wertschätzung der „deutschen Erfahrung" in der Bekämpfung der kommunistischen Bedrohung (ebd.). 10 Zitiert nach Meyer (Anm. 5), S. 43. 11 Ebd., S. 38. 12 Vgl. Large (Anm. 6), S. 76. 13 Ebd.

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sich um die „innere Freiheit" in der Bundesrepublik, die bürgerlichen Freiheitsrechte gegenüber der Autorität des neuen Staates. So war die Auseinandersetzung um eine demokratischen Maßstäben genügende Sicherheitspolitik der Bundesrepublik von Beginn an eine stark innenpolitisch geprägte Debatte. Sie war letztlich immer eine stark historisch geprägte Auseinandersetzung über ein angemessenes Verständnis des Begriffs und Werts der Freiheit und darüber, wie sie praktisch zu verwirklichen sei. In eben dieser Erkenntnis liegt der aktuelle Wert des Blicks auf die Wiederbewaffiiung: Der so selbstverständliche Begriff der Freiheit bezeichnet keinen statischen Wert. Sein Bedeutungsgehalt erschließt sich in seiner Vollständigkeit nicht ohne den jeweiligen politischen Kontext. Die Wahrnehmung dieses Kontexts prägt nicht selten die Sichtweise auf die jeweilige Politik, die im Verdacht steht, der Freiheit zu schaden. So erklärt sich, warum Gegner der Wiederbewaffiiung primär eine drohende Aushöhlung der „inneren Freiheit" als Gefahr ansahen, die Befürworter dagegen aus der Bedrohung der „äußeren Freiheit" die Notwendigkeit für mehr Sicherheit ableiteten. Waren - und sind - diese Facetten des Freiheitsbegriffs unversöhnlich? Nicht, wenn ein angemessener Ausgleich der ihnen zu Grunde liegenden Güter gefunden wird. Dies ist - im Großen und Ganzen - für die Wiederbewaffiiung kaum zu bestreiten. Die starken Vorbehalte bei den Deutschen und ihren westlichen Alliierten führten letztlich zu einer Wiederbewaffiiung unter Auflagen, die den in der Sache nachvollziehbaren Bedenken Rechnung trug. Nach außen waren diese Auflagen auf eine supranationale Einbindung und Kontrolle des westdeutschen Militärpotentials gerichtet; nach dem Beitritt Deutschlands entwickelte sich die NATO von einem System der kollektiven Verteidigung vor Deutschland hin zu einem System kollektiver Sicherheit und Verteidigung mit Deutschland. Nach innen fand die Bundesrepublik mit neuen wehrpolitischen Grundsätzen - etwa dem Prinzip der „Inneren Führung" innerhalb der Bundeswehr, einer strikten Beschränkung ihres Einsatzes auf äußere Verteidigung und Katastrophenhilfe und rechtsstaatlichen Abwehrrechten wie dem Recht auf Gewissensentscheidung gegen den Dienst an der Waffe ebenso eine Balance der Güter. Mit Georg Meyer läßt sich deshalb bilanzieren, daß die Wiederbewaffiiung eine Festigung des noch jungen demokratischen Staatswesens nach innen und außen und damit einen ,,sichere[n] Gewinn an Freiheit" 14 bewirkte. Die Bundesrepublik etablierte sich nach außen als verläßlicher Partner im westlichen Bündnis; im Inneren erwarben sich die „Staatsbürger in Uniform" - von vereinzelten Mißständen15 abgesehen - die Reputation einer Armee der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. 14

Meyer (Anm. 5), S. 44. Jüngstes Beispiel sind Mißhandlungen in einzelnen Einheiten während der Grundausbildung und Vorbereitung von Auslandseinsätzen. 15

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Für die Gegenwart liegt der Schluß nahe, daß selbst delikate sicherheitspolitische Maßnahmen - und keine Entscheidung der Bundesrepublik dürfte delikater gewesen sein als die, wenige Jahre nach der Auflösung der Wehrmacht eine neue deutsche Armee ins Leben zu rufen - die bürgerlichen Freiheiten in vertretbarer Weise beeinträchtigen, wenn effektive Kontroll-Mechanismen für einen angemessenen Güter-Ausgleich sorgen. Nicht historisch begründen läßt sich dagegen die Ablehnung eines Einsatzes spezialisierter Kräfte der Bundeswehr im Inneren - etwa zur Beseitigung unkonventioneller Kampfstoffe nach einem Terroranschlag. Denn angesichts der bisherigen Erfahrungen der Deutschen mit der Bundeswehr scheinen die angeführten Ängste vor Soldaten im Inlandseinsatz zumindest für solch spezielle Szenarien weit hergeholt. Auch wenn die historisch begründeten Ängste vor einer aus der Wahrnehmung von Aufgaben im Innern möglicherweise wachsenden innenpolitischen Rolle der Bundeswehr nachvollziehbar sind: Aus diesem Grunde jedwede organisatorisch eigenständige, über die Amtshilfe hinausgehende Wahrnehmung von Aufgaben abzulehnen, ignoriert die positiven Erfahrungen mit einer Institution, die den zu Recht an sie gesellten, besonderen Ansprüchen an ihr Handeln zumindest bisher weitgehend gerecht wurde. Wie in der Debatte um die Wiederbewaffnung spielen auch in der aktuellen Debatte über den Einsatz der Bundeswehr im Innern historisch unterfütterte Übertreibungen eine wenig konstruktive Rolle. So wie die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik mit der Gründung der Bundeswehr nicht zur Wiedergeburt eines Militarismus preußischer Prägung führte, steht auch für den Fall, daß die Bundeswehr spezielle Aufgaben im Rahmen der Terrorismusbekämpfung übernimmt, keine Wiederkehr des militaristischen, antidemokratischen „Staats im Staate" zu befurchten. Die behauptete Dichotomie zwischen völligem Verzicht auf ein Auftreten im Innern und einem von Panzern geprägten Straßenbild existiert nicht; vielmehr ist bereits im Grundgesetz - das den Einsatz der Bundeswehr vorsieht, wenn andere Institutionen nicht in der Lage sind, die anstehende Aufgabe zu erledigen - die gebotene Abwägung der Umstände angelegt.16 Eine solche Abwägung nimmt schließlich auch das von der Regierungskoalition eingebrachte „Luftsicherheitsgesetz" vor, mit dem eine Rechtsgrundlage für den Einsatz der Luftwaffe zur Abwehr terroristischer Gefahren aus der Luft geschaffen wird. Unabhängig von der Frage, ob die von Bundespräsident Köhler geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken - die sich gegen die Abwägung von Leben gegen Leben in der Entscheidung für den Abschuß eines entführten Flugzeugs richten - Bestätigung finden, ist offenkundig: Was im Luftsicherheitsgesetz richtig

16 Für eine Erläuterung der Zusammenhänge siehe Mattias G. Fischer, Bundeswehr und Terrorismusbekämpfung. Zur Diskussion über den Inneneinsatz der Streitkräfte, in: Die Politische Meinung, Bd. 47 (2002) 5, S. 51-55.

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ist, nämlich der Einsatz spezialisierter Streitkräfte zur Lösung einer speziellen Aufgabenstellung, kann für die Bewältigung unkonventioneller Szenarien wie den Einsatz von Massenvernichtungswaffen nicht falsch sein. Auch in diesem Falle gilt es mit Blick auf die speziellen Fähigkeiten der Bundeswehr - und die positiven historischen Erfahrungen mit ihr - ideologische Scheuklappen abzulegen. Dies gilt um so mehr, da etwa Anschläge mit Chemikalien und nuklearem Abfall nicht länger als utopische Horrorszenarien gelten dürfen, sondern angesichts grassierender Proliferation und blinden ideologisch-religiösen Hasses islamistischer Terroristen tatsächlich einen öffentlichen Notstand provozieren könnten.

3. Gesetze für den Staatsnotstand Die Frage, wie der Staat in Ausnahmesituationen handlungsfähig, also in der Lage bleiben kann, den Bürger und die öffentliche Ordnung zu schützen, entwikkelte sich schon bald nach der Wiederbewaffhung zu einer die politische Kultur der Bundesrepublik maßgeblich prägenden Debatte. Mehr noch als die delikate Wiederbewaffhung spalteten die sogenannten „Notstandsgesetze" die Republik entlang unterschiedlicher Auffassungen, wie weit die deutsche Demokratie ihrer Sicherheit willen auf Freiheit verzichten darf. Dabei ging es auch hier nicht nur um die „innere", sondern auch um die „äußere" Freiheit. Die AdenauerRegierung sah es angesichts wachsender Spannungen mit dem Ostblock - Stichwort Berlin-Krise und Mauerbau - als ihre Pflicht an, für den „Staatsnotstand" vorzusorgen. Als Staatsnotstand verstand sie einen drohenden Verteidigungsfall ebenso wie innere Unruhen oder schwerwiegende Störungen der öffentlichen Ordnung durch Berlin- oder Moskau-hörige Agitatoren. Im Geist einer „wehrhaften Demokratie" wollten die Regierung Adenauer und ihre unionsgestützten Nachfolger Gesetze erlassen, die es im Staatsnotstand erlauben sollten, die Demokratie ihres Überlebens willen in Form elementarer Bürgerrechte vorübergehend einzuschränken. Die Gegner von Grundrechtseinschränkungen wiesen solche Gesetze - viele sahen darin eine Analogie zur „Machtergreifung" Hitlers mit Hilfe des Ermächtigungsgesetzes 1933 - als Angriff auf bzw. Gefahr für Demokratie und Rechtsstaat zurück.17 Ergebnis dieser Frontstellung: eine langwierige, mitunter unversöhnlich geführte politische Auseinandersetzung, die wesentlich zur Herausbildung der außerparlamentarischen Opposition (APO) beitrug.

17 Zu den engagiertesten Gegnern zählten von Beginn an die Gewerkschaften, insbesondere die IG Metall.

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Doch wie kam es zu dieser Konfrontation; wodurch wurde die Debatte zum politischen Sprengsatz? Die Regierung Adenauer hatte schon kurz nach Abschluß des Generalvertrags 1955 die Arbeit an einem Notstandsgesetz begonnen. Der Vertrag sah in Art. 5 Abs. 2 weitreichende Vorbehalte der Alliierten solange vor, wie die Bundesrepublik nicht durch geeignete Gesetze Schutz und Sicherheit der stationierten Truppen - ausdrücklich auch vor einer ernsten Störung der öffentlichen Ordnung - sicherstellen konnte. Eben dies sahen die Westalliierten nicht als gegeben an; damit blieben ihre Vorbehalte, die einer Einschränkung der Souveränität der Bundesrepublik gleichkamen, in Kraft. Vor diesem Hintergrund hielten Politiker aus allen im Parlament vertretenen Parteien18 eine grundgesetzliche Regelung für sinnvoll - auch wenn einige ihrer Fraktionskollegen und auch mancher Staatsrechtler die bereits bestehenden Regelungen für ausreichend erachteten. Der Streit unter den Parteien entzündete sich am „Wie" der Notstandsgesetzgebung; ein Streit der lange und hitzig werden sollte. Dazu trug die vehemente Ablehnung der Gewerkschaften bei, die in den Notstandsgesetzen einen Anschlag auf die Demokratie im Allgemeinen und das Streikrecht als wichtigstes Machtmittel der Gewerkschaften im besonderen sahen. Tatsächlich enthielt der erste, von Innenminister Schröder im Dezember 1958 vorgestellte Entwurf weitreichende Vollmachten der Exekutive, die nach einem Beschluß mit einfacher Parlamentsmehrheit („Kanzlermehrheit") bei inneren wie äußeren Krisen die Grundrechte weitgehend einschränken und auch Soldaten bei inneren Unruhen einsetzen hätte dürfen. Dieser Vorschlag fand wenig Unterstützung; nach einigen Überarbeitungen stellte Schröder im Januar 1960 einen neuen, wesentlich detaillierteren Entwurf vor. Er enthielt abermals weitreichende Exekutivkompetenzen, dieses Mal auch - für den Fall einer Verhinderung des Parlaments - die Befugnis des Bundespräsidenten zur Ausrufung des Notstands, mit Gegenzeichnung des Kanzlers. Der Bundestag wiederum sollte jederzeit befugt sein, den Notstand aufzuheben. Auch dieser Entwurf wurde nicht Gesetz; zu groß waren die Widerstände, insbesondere auf Seiten der Gewerkschaften und in Teilen der SPD. Sie kritisierten vor allem, daß die Kanzlermehrheit den Notstandsfall beschließen können sollte, daß die Vorlage

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In den Unionsparteien lag die Initiative vor allem bei den Regierungsmitgliedern. Zu den Befürwortern einer verfassungsrechtlichen Regelung innerhalb der SPD zählten u.a. Carlo Schmid und Adolf Arndt, die frühzeitig auf ein Schließen der Gesetzeslücken hinwirkten, um deren Mißbrauch in der Not zu verhindern. Sie knüpften ihre Zustimmung an Kriterien der Rechtsstaatlichkeit und parlamentarischen Beschlußgewalt, denen im Verlauf der Debatte auch Rechnung getragen werden sollte. Größere Teile und wichtige Persönlichkeiten in der SPD, unter ihnen Walter Menzel, lehnten Notstandsgesetze prinzipiell ab, vgl. Michael Schneider, Demokratie in Gefahr? Der Konflikt um die Notstandsgesetze, Bonn 1986, S. 38-40.

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nicht zwischen innerem und äußerem Notstand unterschied und daß auch die Bundeswehr im Inneren hätte eingesetzt werden können.19 Eben diese Bedenken - und daraus entwickelte politische Forderungen wurden zum Leitmotiv der weiteren parlamentarischen Auseinandersetzung, wie sie sich nach der Vorstellung weiterer Entwürfe durch die Bundesinnenminister Herrmann Höcherl und Paul Lücke entspann. Beide Seiten - Befürworter und Gegner bzw. Kritiker der jeweiligen Entwürfe - sahen sich dabei als Beschützer der freiheitlichen Demokratie. Die Befürworter wollten sie vor ihren Feinden schützen - den äußeren wie inneren, die sie angesichts prokommunistischer Haltungen in der APO in einem engen Zusammenhang sahen. Ihre Entschlossenheit nahm angesichts des Mauerbaus und der gewaltsamen Niederschlagung der Reformbewegungen in Ungarn und der CSSR noch zu. Doch auch der innenpolitische Kontext veränderte sich. Waren es anfangs lediglich die Gewerkschaften, die klar gegen die Notstandsgesetze Stellung bezogen, bildete sich mit der APO eine von Künstlern, Wissenschaftlern und Studenten geprägte Protestbewegung heraus, die gegen die Notstandsgesetzgebung auf verschärfte Weise vorging. Sie begriff die Gesetze als Symbol des Obrigkeitsstaats; ihre Führer nutzten die Debatte als Chance, politischen Machtanspruch zu formulieren. Oft genug erlagen sie dabei Einflüsterungen des kommunistischen Propagandaapparats.20 Die parlamentarischen Kritiker der Notstandsgesetzgebung, besonders in der SPD, waren einem doppelten Druck ausgesetzt: Einerseits konnten sie sich nicht gegen die Erkenntnis wehren, daß Notstandsgesetze zur Krisenvorsorge tatsächlich notwendig waren. Sie wollten zudem bei der breiten Bevölkerung nicht den Eindruck nähren, die Sicherheit der Bundesrepublik nicht schützen zu wollen.21 Da die SPD zudem eine Regierungsbeteiligung anstrebte - und später unter Georg Kiesinger zu den Regierungsparteien zählte - konnte sie keine allzu konfrontative Haltung einnehmen. Andererseits sahen viele in der SPD, die den Gewerkschaften verbunden waren, ihre Aufgabe darin, die freiheitliche demokratische und soziale Grundordnung vor Eingriffsmöglichkeiten der Exekutive zu schützen.

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Ebd., S. 57. Aufschlußreich ist etwa ein Vergleich der von Hans Hein Holz und Paul Neuhöffer gebrachten Argumentationsmuster in dies. (Hrsg.), Griff nach der Diktatur? , Köln 1965 mit denen von M. Hoffmann und K. H. Werner, in dies. (Hrsg.), Notstandsgesetzgebung - totale Kriegsvorbereitung, Berlin (Ost) 1960. Die Parallelität der Argumentation von SED und APO erschließt sich auch bei Lektüre von Bernd Leonhard, l x l der Notstandsgesetze. Was jeder von den Notstandsgesetzen wissen muß, Frankfurt a.M. 1963. 21 Dies war der sich trotz erheblicher innerorganisatorischer Meinungsverschiedenheiten herauskristallisierender „Common Sense" in der SPD. Für eine detaillierte Beschreibung siehe Schneider (Anm.18), S. 68-81. 20

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Diese Konstellation führte zu Zerwürfnissen innerhalb der SPD, zwischen der Partei und den Gewerkschaften sowie zwischen SPD und Union. Die Folge war ein zähes Ringen beider politischer Lager um einen tragfähigen Kompromiß. Ein solcher konnte mit der „Notstandsverfassung" 22 erst nach zehnjähriger Debatte, und erst als die SPD Teil der Regierungsmehrheit geworden war, gefunden und durchgesetzt werden. Er trug den Bedenken der Kritiker im wesentlichen Rechnung. Dies gilt erstens für die Ausdifferenzierung der Notstandsdefinition in fünf Szenarien, für die jeweils spezifische Rechtsfolgen festgelegt sind. Der Notstand des Verteidigungsfalls muß mit „Zwei-Drittel-Mehrheit" 23 beschlossen werden; die parlamentarische Beschlußgewalt bleibt auch während des Notstands in Form eines Not-Parlaments (Gemeinsamer Ausschuß) erhalten. Diese Vorkehrungen stehen an Stelle eines Notverordnungsrechts Weimarer Prägung; sie erlauben eine Konzentration des Regierungshandelns, ohne jedoch das Parlament aus dem politischen Prozeß auszuschließen. Ebenfalls den Kritikern weit entgegen kommen die Regelungen zur Einschränkung von Grundrechten. Sie beschränken sich im wesentlichen auf das Recht der freien Berufsausübung; möglich sind im Verteidigungsfall jedoch auch aufs Minimale beschränkte Eingriffe in das Eigentumsrecht24 und das Freiheitsrecht. 25 Die Parteien der großen Koalition folgten mit diesem Kompromiß letztlich der Empfehlung des sozialdemokratischen Verfassungsrichters Rudolf Katz. Er hatte - wie einige andere Verfassungsrechtler - bereits 1959 bekräftigt, daß eine Notstandsgesetzgebung für äußere wie auch innere Notstände vonnöten sei, und die Parteien zur gemeinschaftlichen Behebung der Gesetzeslücken aufgefordert. 26 Warum aber waren mehr als zehn Jahre erbitterter Streit für die Verabschiedung des Notstands-Kompromisses nötig? Welche Lehren können wir daraus für die aktuelle Debatte über den Umgang mit den neuen Gefahren des Internationalen Islamistischen Terrorismus ziehen? Wiederum ist es der historische Kontext, mit dem sich das damalige Geschehen erschließt. Die Argumentation von Befürwortern und Kritikern speiste sich explizit wie implizit aus der

22 Kern der „Notstandsverfassung" sind die Bestimmungen zum Verteidigungsfall in Art. 115 GG. Hinzu treten eine Reihe weiterer Normen, die andere Notstandsfälle - z.B. den inneren Notstand nach Art. 10, 11 und 87 GG. - bzw. die jeweiligen Rechtsfolgen bestimmen (vgl. Dieter Hesselberger, Das Grundgesetz. Kommentar für die politische Bildung, 12. überarb. Auflage, Neuwied 2001, S. 356). 23 Gemeint sind zwei Drittel der im Bundestag abgegebenen Stimmen, mindestens aber die Mehrheit der Stimmen der Mitglieder (Kanzlermehrheit). Auch der Bundesrat muß mit einfacher Mehrheit zustimmen. 24 Enteignung gegen Entschädigung, vgl. Hesselberger (Anm. 22), S. 359. 25 Freiheitsentzug bis zu vier Tage wenn keine richterliche Oberprüfung möglich ist (ebd.). 26 Vgl. Schneider (Anm. 18), S. 51-52.

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Vergangenheit des Scheiterns von Weimar und des verhängnisvollen Mißbrauchs exekutiver Autorität erst durch Hindenburg, dann durch die Nationalsozialisten. Sie ist zudem im Licht der damaligen Gegenwart zu sehen, die beide Seiten in ihren Befürchtungen und Forderungen bestärkte: „Die Entwürfe Schröders und Höcherls mußten in der Tat ein tiefes Mißtrauen gegen die Stärkung obrigkeitsstaatlicher Exekutiv-Vollmachten wecken; und die in immer neuen Krisen aktualisierte Bedrohung einer friedlichen Nachbarschaft von Ost und West verlieh dem Ruf nach gesetzlicher Vorsorge für den Krisenfall Plausibilität."27 Doch wie erklärt sich die gegensätzliche Interpretation von Vergangenheit und Gegenwart, die zu gegensätzlichen Befürchtungen und Forderungen führte? Wiederum hilft die Unterscheidung zwischen „innerer" und „äußerer" Freiheit. Während die Kritiker und Gegner der Notstandsgesetzgebung primär einen Freiheitsbegriff zum Maßstab erhoben, der auf die Freiheit vor dem Staat, manifest etwa in einem auch politischen Streikrecht der Gewerkschaften, rekurrierte, ging es den Befürwortern primär um die Freiheit des Staates - als Organisationsform und Wahrer des Gemeinwohls - vor Fremdbestimmung durch aggressive Minderheiten. Dieser eng mit dem Gut der Sicherheit von Staat und Bürger verknüpfte Freiheitsbegriff ist für seine Gegner eine Perversion; seine Befürworter betrachten ihn als notwendige Ergänzung der klassischen Staatsabwehrrechte, als Voraussetzung eines ganzheitlichen Freiheitsbegriffs. Eben jener ist die normative Grundlage einer freiheitlichen Demokratie, die sich gegen ihre Feinde schützt. Die wehrhafte Demokratie der Bundesrepublik verteidigt beide Freiheiten, die „innere" wie die „äußere". Die 1968 verabschiedeten Notstandsgesetze fügen sich in dieses Staats- und Demokratieverständnis. Denn als Kompromiß aller wesentlichen politischen Kräfte tragen sie dem Gut der Freiheit wie dem Gut der Sicherheit Rechnung. Selbst Kritiker sehen in ihnen - im Nachhinein - eine bestandene Bewährungsprobe der bundesdeutschen Demokratie.28 Erfahrungswerte mit aktueller Gültigkeit birgt sowohl der Ausgang der Diskussion um die Notstandsgesetze wie auch ihr Verlauf. Um zu einem Ergebnis zu gelangen, mußte sich eine breite Mehrheit der Kompromißbereiten gegen eine lautstarke, vor allem außerparlamentarisch organisierte Minderheit durchsetzen. Parallelen zu den aktuellen Problemen, Mehrheiten für eine abermalige Anpassung des Grundgesetzes an neue sicherheitspolitische Herausforderungen zu finden, drängen sich auf. Wie damals liegt es an der Sozialdemokratie, Totalverweigerer in ihrem Umfeld für einen maßvollen Kompromiß zwischen den Gütern der Sicherheit und der Freiheit zu gewinnen. Personelle und ideologische Kontinuitäten zwischen der APO von damals und den Gegnern einer si27 28

Ebd., S. 279-280. Ebd.

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cherheitspolitischen Anpassung an die Gegebenheiten von heute sind unverkennbar. Eine Auflösung dieser Blockadesituation scheint daher, ähnlich der Auflösung des Konflikts um die Notstands-Gesetzgebung, nur in einer großen Koalition der beiden Volksparteien gelingen zu können. Programmatik, Sozialisation wie Identität dieser politischen Kräfte scheint am ehesten geeignet, die schwierige Balance zwischen den betroffenen, kostbaren Gütern Sicherheit und Freiheit zu definieren, auszugestalten und durchzusetzen. Daß dies auch in schwieriger Lage möglich ist, zeigt das Beispiel der Notstandsgesetzgebung deutlich. Trotz zum Teil eskalierender Kontroversen gelang es den demokratischen Kräften, eine mit den Grundsätzen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht nur vereinbare, sondern auch eben jene Grundsätze sichernde Regelung zu treffen. Sie hat weder zu einer befürchteten „Machtergreifung" der Exekutive geführt, noch hat sie die legitimen Partizipationsrechte auch systemkritischer Kräfte entwertet. Der Schlüssel zu diesem Ergebnis liegt in der differenzierenden Regelung verschiedener Szenarien, der Beschränkung exekutiver Sonderrechte auf das Allernötigste sowie der maßvollen und kontrollierten Einschränkung der Grundrechte im Verteidigungsfall. In dieser Differenzierung liegt jedoch auch die Problematik für die Bewältigung der neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen. Wo mit dem Internationalen Islamistischen Terrorismus die Grenze zwischen Innerer und Äußerer Sicherheit verschwimmt, wo der zu befürchtende Staatsnotstand auf keine der fünf geregelten Szenarien mehr paßgenau zutrifft, scheint eine Anpassung des bisherigen Regelwerks unausweichlich. Hier ist politische Konsequenz gefragt: Wer - wie die Parteien der Großen Koalition 1968 - aus gutem Grund zugunsten differenzierter Regelungen auf eine Generalklausel nach dem Muster der Weimarer Verfassung verzichtet, verpflichtet sich zugleich, bei Eintreten neuer Gefährdungen weitere Differenzierungen vorzunehmen. Eben dieser politischen, angesichts der drohenden Gefahren 29 auch normativen Verpflichtung wird die Politik bis dato nicht gerecht. Der Grund dafür ist kaum in der Sache zu finden; es sind - selbst nach über 35 Jahren - ideologische Restbestände im politischen Denken der 1968er Generation, die eine Anpassung der Notstandsgesetze an die neuen Gegebenheiten verhindern. Dabei haben diejenigen, deren „Marsch durch die Institutionen" Erfolg beschieden war, auch im politischen Denken einen weiten Weg zurück gelegt. Geradezu symbolhaft etwa ist das Drängen des Bundesinnenministers Otto Schily auf zusätzliche Kompetenzen der staatlichen Sicherheitsbehörden, denen er in jungen Jahren eine Beseitigung der Demokratie durchaus zutraute. Das sieht auch er heute als „übertriebene Angstphantasien",

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Zu diesen Gefahren siehe u.a. Armin Pfahl-Traughber, Islamismus in der Bundesrepublik Deutschland. Ursachen, Organisationen, Gefahrenpotenzial, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament", B 51/2001, S. 43-53.

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seinen Amtsvorgänger Ernst Benda lobte er unlängst für den „sicheren Kompaß", den jener bei der Festigung des Rechtsstaats bewiesen habe.30 Und dennoch: Eine Anpassung der Notstandsgesetze lehnt Schily - vielleicht auch des Drucks aus seiner ehemaligen Partei wegen - ab. Selbst heute noch scheint die historisch begründete Angst vor einem „Ende der Demokratie"31 stärker zu sein als die Einsicht in die Notwendigkeit, das politische System rechtzeitig und maßvoll auf neue Herausforderungen vorzubereiten. Historischer Erfahrungswert ist schließlich auch, daß in verfassungspolitisch sensiblen Fragen eine Vorgehensweise gefragt ist, die parteipolitischer Instrumentalisierung möglichst entgegen wirkt. Setzte die Regierung Adenauer anfangs auf interfraktionelle Gespräche, beendete die nicht mit anderen Fraktionen vorbesprochene Vorstellung des „Höcherl-Entwurfs" jäh jede bedeutungsvolle interfraktionelle Zusammenarbeit. Offensichtlich schätzte Höcherl die Brisanz seiner Vorschläge und den Stand der politischen Willensbildung völlig falsch ein - oder meinte, über sie hinweg gehen zu können. Es bedurfte der sehr speziellen Konstellation einer Großen Koalition, um zur - angesichts der notwendigen „Zwei-Drittel-Mehrheit" ja unvermeidlichen - einvernehmlichen Lösung zu kommen. Auf Seiten der Notstandskritiker wiederum war es mangelnder Wille oder Fähigkeit, innerhalb eines angemessenen Zeitrahmens zu einer einheitlichen Position zu kommen. Dies erschwerte die Bemühungen um einen Konsens sehr. Ausschlaggebend für dieses Defizit dürfte die mangelnde Emanzipation gegenüber den Gewerkschaften und anderen außerparlamentarischen Kräften gewesen sein. Unzulänglichkeiten und Übertreibungen auf beiden Seiten trugen erheblich zur Verschärfung der Auseinandersetzung bei - und geben für die Gegenwart ein Beispiel, welche Untiefen zugunsten einer ergebnisorientierten Willensbildung vermieden werden sollten. Sind die wesentlichen politischen Kräfte dazu in der Lage, profitieren die Sicherheit wie die Freiheit des demokratischen Staates und seiner Bürger. So scheinen es auch manche Spitzenpolitiker von Union und SPD zu sehen, die sich auf dem Feld der Inneren Sicherheit zunehmend bemühen, gegen die Widerstände in der Regierungskoalition zu einvernehmlichen Lösungen zu kommen. Die Verhandlungen über das Zuwanderungsgesetz, das nach einigem Hin- und Her nun auch Bestimmungen zur Verbesserung der Inneren Sicherheit enthält, sind beispielhaft. Allen Fehlern 32 zum Trotz, markiert das Zuwanderungsgesetz doch einen neuen Anlauf

30 Otto Schily, zitiert nach Reinhard Müller, „Beten Sie". Benda, Schily und Schäuble über Notstand, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. Januar 2005, S. 7. 31 Ebd. 32 Für eine kritische Würdigung des Zuwanderungsgesetzes im Kontext der Bekämpfung des islamistischen Extremismus und Terrorismus siehe Johannes Urban, A wie Afghanistan, Z wie Zuwanderung. Terrorismusbekämpfung im Licht einer umfassenden

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der Regierenden in Bund und Ländern, angesichts neuer Gefahren sicherheitspolitischen Konsens herzustellen.

4. „Schweinestaat" gegen „Baader-Meinhof-Bande" Wie sehr die Bundesrepublik auf einen sicherheitspolitischen Konsens der tragenden politischen Parteien angewiesen war, zeigte sich nur wenige Jahre nach der Verabschiedung der Notstandsgesetze. Aus der außerparlamentarischen Protestbewegung gegen sie ging gegen Ende der 1960er Jahre eine radikalisierte Splittergruppe hervor, die im bewaffneten Kampf die letzte verbliebene Option zur Beseitigung des „Schweinestaats" Bundesrepublik sah. Getreu dem Selbstverständnis einer revolutionären Avantgarde sahen ihre Akteure sich als „aufständischer Fötus, der den Aufstand selbst schafft". 33 Um als „proletarische Gegenmacht" die kapitalistische Ordnung der Bundesrepublik aus den Angeln zu heben, wollte die „Rote Armee Fraktion" (RAF) einen Riß zwischen Staat und Massen erzeugen, jene für den Kampf um eine neue, gerechte Ordnung mobilisieren. Wie eine solche Ordnung aussehen sollte, beschrieb die RAF nicht - von kommunistischen Phrasen einmal abgesehen. Sie beschränkte sich auf die ideologische, mehr noch aber auf die bewaffnete Auseinandersetzung mit einem System, das sie als notdürftig getarnte Symbiose von Kapitalismus und Faschismus ansah.34 Die Funktionsträger in diesem „Schweinestaat" waren nach Meinung der RAF-Ideologin Ulrike Meinhof keine Menschen, sondern Schweine: „Es ist falsch, überhaupt mit diesen Leuten zu reden, und natürlich kann geschossen werden."35 Der Staat wiederum wehrte sich - unter Rückgriff auf Philosophie und Instrumente der „wehrhaften Demokratie" - gegen die militanten Angriffe der „Baader-Meinhof-Bande", wie sie von denen bezeichnet wurde, die ihre Ablehnung einer quasivölkerrechtlichen Anerkennung der „Rote Armee Fraktion" als ebenbürtige Konfliktpartei auch verbal zum Ausdruck brachten. Die Konsequenz dieser Frontstellung: eine Eskalation der terroristischen Gewalt wie der staatlichen Gegenmaßnahmen.

Systematik, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 16, Baden-Baden 2004, S. 169-186. 33 Horst Herold, Die Lehren des Terrors, in: Süddeutsche Zeitung vom 20. Mai 2000, S. 9. 34 Für eine kompakte Erläuterung siehe Sonja Zekri, Der kalte Schmerz. Warum die RAF der Politik so wenig zu sagen hat, in: Süddeutsche Zeitung vom 17. Oktober 2002, S.2. 35 Ulrike Meinhof in einem dem „Spiegel" zugespielten Tonband, zitiert nach Stefan Aust, Der Baader Meinhof Komplex, 2. Auflage, Hamburg 1997, S. 31.

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Wie kam es zu dieser Eskalation? Was können wir für Gegenwart und Zukunft aus dem Konfliktverlauf lernen? Ihren Ausgangspunkt nahm die Welle terroristischer Gewalt mit den Studentenprotesten der späten 1960er Jahre. Nach ihrem Scheitern - sie konnten beispielsweise nicht die Verabschiedung der Notstandsgesetze verhindern - radikalisierte sich ein Teil des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) und anderer Gruppierungen. Die Motive und Triebkräfte dieser Radikalisierung waren unterschiedlich. Gudrun Ensslin, die sich als Verlegerin linker Schriften profiliert stark für einen Sieg der SPD bei den Wahlen für den Bundestag 1965 engagiert hatte, verlor mit der Bildung der Großen Koalition den Glauben an die Wandlungsmöglichkeit des „Systems": „Wir mußten erleben, daß die Führer der SPD selbst Gefangene des Systems waren, die politische Rücksichten nehmen mußten auf die wirtschaftlichen und außerparlamentarischen Mächte im Hintergrund." 36 Sie verabschiedete sich, wie viele andere linke Aktivisten, von der Sozialdemokratie und der Strategie des evolutionären Wandels zugunsten einer letztlich gewaltsamen Revolutionsstrategie. Der Weg in die revolutionäre Praxis vollzog sich schleichend; aus gewaltfreien Protesten entwickelte sich allmählich die Bereitschaft, „neue Demonstrationsformen" zu erproben. 37 Kurz zuvor war ein „Pudding-Attentat" der Kommunarden auf den US-Vizepräsidenten Hubert Humphrey verhindert und zum vereitelten Terroranschlag stilisiert worden. Die Schwelle zu terroristischer Gewalt durchschritten als erste Gudrun Ensslin und Andreas Baader. Nach dem Vorbild des Brüsseler Kaufhausbrands plazierten sie am 2. April 1968 Brandsätze im Frankfurter Kaufhaus „Schneider"; zeitgleich brannte es im „Kaufhof 438 . Kurze Zeit nach der Tat wurden die Täter verhaftet, später wegen „menschengefährdender Brandstiftung" verurteilt. Mit der Inhaftierung Baaders und Ensslins sowie der Ermordung des prominenten und charismatischen SDSFührer Rudi Dutschke durch einen rechtsextremistischen Einzeltäter kurze Zeit später, nahmen die Dinge ihren Lauf. Die Ereignisse gaben letztlich für einige radikalisierte Linksextremisten den Ausschlag, von nun an mit Gewalt gegen den Staat vorzugehen. „Vom Protest zum Widerstand" lautete die Überschrift einer Kolumne der profilierten linken Journalistin Ulrike Meinhoff nach dem Mord an Dutschke, welchen sie offensichtlich „dem System" anlastete.39 Zu36

Gudrun Ensslin, zitiert nach Aust (Anm. 35), S. 43. Als solche bezeichnete ein Flugblatt der „Berliner Kommunarden", das an der FU Berlin verteilt wurde, z.B. den Brand im Kaufhaus „À l'Invitation" in Brüssel am 22. Mai 1967. 38 Dieses Verbrechen konnte den Tätern um Baader nicht zweifelsfrei zugeordnet werden. Zum Prozeß siehe Aust (Anm. 35), S. 74ff. 39 Diesen Schluß erlaubt die Lektüre der „konkret"-Kolumnen nach dem Mord (ebd., S. 73). 37

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sammen mit Gudrun Ensslin befreite sie wenig später Andreas Baader mit Waffengewalt aus der Haft. Die im Vergleich zu späteren Terrorakten einerseits relativ „harmlose", andererseits prägende40 „Aktion" markierte den Startschuß für die über 20 Jahre anhaltende Gewaltkampagne der RAF. Erstmals setzte die „Stadtguerilla" RAF Schußwaffen ein, verletzte einen unbeteiligten Mitarbeiter des wissenschaftlichen Instituts, in dem die Befreiungsaktion stattfand, lebensgefährlich. Anschließend setzte sich die Gruppe in den Nahen Osten ab, wo sie von der palästinensischen Befreiungsorganisation El Fatah bzw. der Terrorgruppe PFLP-SC in Syrien paramilitärisch ausgebildet wurde.41 Zurück in Deutschland startete die erste Generation der RAF - ihr sollten zwei weitere folgen - unter Führung von Baader und Meinhof eine sieben Jahre anhaltende, mit dem „Deutschen Herbst" 1977 kulminierende Gewaltkampagne gegen Funktionsträger des „Schweinestaates" - und alle die dabei im Wege standen. Bis zur Auflösung der RAF töteten ihre Aktivisten 34 Menschen, darunter hochrangige Repräsentanten von Politik und Wirtschaft ebenso wie deren Angestellte oder andere Unbeteiligte. Dieser „Krieg der sechs gegen 60 Millionen", wie Heinrich Böll den asymmetrischen Konflikt überspitzt umschrieb, rief eine Reaktion des herausgeforderten Staats hervor, der sich als „wehrhafte Demokratie" vor allem mit den Mitteln des Rechtsstaats zur Wehr setzte. Das konspirative Vorgehen der „Stadtguerilla", die sich wie Maos Fische im Flusse der Anonymität deutscher Großstädte bewegte, offenbarte schnell die Grenzen traditioneller Polizeiarbeit. Zwar konnten zu Beginn auch mit klassischen Fahndungsmethoden Erfolge erzielt werden; so wurde etwa im Mai 1971 die Gesuchte Astrid Poll von einem Tankwart erkannt und anschließend von der Polizei festgenommen.42 Die Beamten fanden bei ihr die Schlüssel zu einer konspirativen Wohnung, die - nachdem Polizisten die Schlüssel an 2167 Wohnungstüren im Umkreis ausprobiert hatten - gefunden und untersucht werden konnte. Solche Erfolge blieben jedoch selten und waren oftmals glücklichen Umständen, einem unkonventionellen Vorgehen oder beidem geschuldet. Ins Zentrum der polizeilichen Methodik rückte deshalb die Logistik der RAF, die als Untergrundbewegung konspirative Wohnungen unterhalten, Fahrzeuge, Ausweise und Waffen beschaffen und all dies auch finanzieren mußte: „Mit jeder Ausweitung stieg der Geldbedarf; folglich mußten mehr Banken überfallen werden, was wiederum neue

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Gudrun Ensslin bezeichnete die Befreiungsaktion später als „ersten gewonnenen Machtkampf 4, als „Beispiel" für die späteren Aktionen (ebd., S. 300). 41 Die RAF leistete im Gegenzug Unterstützungstätigkeiten im Kampf gegen „die neuen Faschisten in Israel". Für eine detaillierte Darstellung siehe Gunther Latsch, Pakt des Terrors, in: Der Spiegel, 44/2002, S. 62ff. 42 Vgl. Aust (Anm. 35), S. 187.

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Wohnungen Kraftfahrzeuge, Ausweise verlangte."43 Diese Notwendigkeiten zogen bestimmte Verhaltensweisen der RAF-Aktivisten nach sich, welche die Behörden erschweren bzw. für die Ermittlungsarbeit nutzbar machen wollten. Da die RAF ihren Geldbedarf vornehmlich durch das „Enteignen" von Bankfilialen deckte, gab das BKA die Empfehlung heraus, die Barbestände vor Ort zu verringern. Dies geschah; die Erträge der einzelnen Aktionen sanken. Die Fahnder versuchten, die Gewohnheiten der RAF zu erfassen und zu nutzen. Dies galt für die Wahl der Automarke BMW und anderer sportlicher Fahrzeuge, mehr noch aber für die Barzahlung von Rechnungen für angemietete Wohnungen und Telefonanschlüsse: Doch wie sollte es den Sicherheitsbehörden möglich sein, von alltäglichen, legalen Aktivitäten auf terroristische Straftaten zu schließen - und dies ohne die Freiheitsrechte der Bürger durch einen Generalverdacht oder unangemessene Vorgehensweisen zu gefährden? Der im September 1971 als BKA-Chef eingesetzte Horst Herold sah den Schlüssel zu erfolgreicher Ermittlungsarbeit in einer stärker systematischen Erfassung und Auswertung der für die Logistik relevanten Aktivitäten.44 Fasziniert von den Möglichkeiten der in den Kinderschuhen steckenden elektronischen Datenverarbeitung entwarf er mit PIOS45 und BEFA 46 ein weltweit einzigartiges polizeiliches Informationssystem. Es wurde zur starken Waffe gegen die RAF und ihr extremistisches Umfeld und zugleich - zusammen mit dem RAFHochsicherheitstrakt im Gefängnis Stammheim - zum Symbol staatlicher Eingriffe in die Freiheitsrechte der Bürger zum Schutz der Sicherheit des Staats und seiner Bürger. Stein des Anstoßes und zugleich der entscheidende Erfolgsfaktor des Systems war die Kombination umfangreicher Sammlungen von Erkenntnissen und Spuren mit der Möglichkeit, diese zeitnah und in Kombination mit neuen Erkenntnissen oder Anfragen abzugleichen. Diese sogenannte „Rasterfahndung" erlaubte nicht nur eine verbesserte Auswertung der gesammelten Hinweise; erstmals konnten selbst ohne Hinweise aus dem Täterumkreis wichtige Erkenntnisse gewonnen und für die präventive Bekämpfung terroristischer Straftaten genutzt werden. Grundlage des Systems waren einzelne Datenbanken, die u.a. 2,1 Millionen Fingerabdrücke, 1,9 Millionen Lichtbilder sowie Informatio-

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Horst Herold , Die Lehren des Terrors, in: Süddeutsche Zeitung vom 20. Mai 2000,

S. 9. 44

Darin sah und sieht Horst Herold einen wesentlichen Ansatzpunkt von Terrorismusbekämpfung (ebd.). 45 Das Programm-Kürzel steht für die im System zu erfassenden, RAF-relevanten Personen, Institutionen, Objekte und Sachen. 46 Abkürzung für „Beobachtende Fahndung".

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nen zu begrenzten, RAF-relevanten Personenkreisen47 enthielten.48 Herold baute dieses System mit Rückendeckung des Bundesinnenministers Genscher auf; sein Etat wuchs dabei von 54,8 Millionen DM 4 9 auf 290 Millionen DM 50 . Damit einher ging eine erhebliche politische Aufwertung der zuvor wenig einflußreichen Bundesbehörde. Da angesichts einer Bedrohung der Inneren Sicherheit der ganzen Bundesrepublik die Herausforderung RAF kaum von den einzelnen Ländern zu lösen war, setzte Herold einen faktischen, auf „informatorischer Überlegenheit" und den Notwendigkeiten einer eskalierenden Lage basierendes Koordinations- und Führungsanspruch durch. In seiner Gesamtheit beanspruchte der expandierende Organismus zur Verteidigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung mehr Macht vor allem gegenüber dem Bürger. Die sozial-liberale Regierungsmehrheit sah sich im Verlauf der RAF-Kampagne gezwungen, über Widerstände in den eigenen Reihen hinweg zu gehen und die rechtlichen Grundlagen der Bekämpfung Extremismus und Terrorismus erheblich zu verschärfen. Den Anfang machten Änderungen des Strafverfahrensrechts um die Verfolgung relevanter Straftaten zu erleichtern und es den Angeklagten bzw. ihren Anwälten schwerer zu machen, Strafverfahren zur Informationsgewinnung und Agitation zu mißbrauchen. Verteidiger der RAF - die eine zentrale Funktion für Kommunikation und Zusammenhalt innerhalb der „ersten" und zwischen den RAF-Generationen ausfüllten - konnten von nun an aus Verfahren ausgeschlossen werden.51 Neue Straftatbestände dienten dazu, Vorfeld- und Unterstützungsaktivitäten zu erschweren und schließlich, als Kernpunkt des „Anti-Terror-Gesetzes", mit § 129a bereits die Bildung einer Vereinigung mit terroristischen Zielen unter Strafe zu stellen. Die Bundesrepublik entschloß sich damit zu einer präventiven Bekämpfung jeglicher Form von Terrorismus; sie begründete zugleich das konzentrierte Vorgehen nicht nur gegen aktive Terroristen, sondern auch gegen Werber und Unterstützer. Zum Schutz gegen weitere Anschläge und eine weitere Eskalation der resultierenden innenpolitischen Krise griff der Staat bewußt und konzentriert auf Personen im Umkreis der RAF in die bürgerlichen Freiheitsrechte ein. Zu diesen strukturellen Neuerungen der Sicherheitspolitik im Inneren traten Innovationen - und Pannen - der operativen Arbeit, die ebenfalls als Grundrechtseingriffe gelten müssen. Dazu zählten neben der Rasterfahndung massive 47

Hierzu zählte etwa die „Kommunekartei" oder die Datei „Gewalttätige Störer". Vgl. Aust (Anm.35), S. 217. 49 Bei Amtsantritt 1971 (ebd., S. 216). 50 Bei Herolds Ausscheiden 1981 (ebd.). 51 Die Anwälte wurden zu Boten des RAF-internen Kommunikationssystems. Über die geschützte Verteidigerpost sandten die Gruppenmitglieder sich gegenseitig verschlüsselte Befehle und Strategiepapiere (ebd., S. 290-292). 48

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Polizeiaktionen im öffentlichen Raum, bei denen in mehreren Fällen Unbeteiligte unter der verschärften Gangart zu leiden hatten. Die Kontrollaktionen der Polizei hatten vor allem den Sinn, die Bewegungsfreiheit für die RAF einzuschränken, die Sympathisantenszene zu verunsichern und die Öffentlichkeit für die Problematik zu sensibilisieren. Größte dieser Aktionen war die „Operation Wasserschlag". Nach mehreren Sprengstoff-Attentaten kontrollierte die Polizei mit zehntausenden Einsatzkräften und allen verfügbaren Helikoptern wichtige Verkehrsknoten im Bundesgebiet. Der operative Ertrag der Maßnahme war gering. Sie demonstrierte indes die Entschlossenheit des demokratischen Staats, seine Machtinstrumente gegen die RAF einzusetzen. Die Entscheidungsträger trafen damit den Nerv einer durch fortgesetzte Anschläge verunsicherten Bevölkerung. Sie brachte, auch wenn zu Beginn der RAF-Kampagne in einer Allensbach-Umfrage eine nicht geringe Zahl junger Menschen Verständnis für die RAF gezeigt hatte, der Bewegung wenig Unterstützung entgegen. Im Gegenteil: eine breite Mehrheit der Bevölkerung - und in allen wesentlichen politischen Parteien - unterstützte ein konsequentes Vorgehen des Staates gegen den Terrorismus der RAF.52 Und so waren es im wesentlichen Hinweise aus der Bevölkerung, die es - unterstützt durch die neuen Methoden der Informationsverarbeitung - den Behörden ermöglichten, nach und nach die Mitglieder der ersten RAF-Generation um Baader und Meinhof zu fassen. Potential wie Problematik der von Herold angestoßenen, von den Entscheidungsträgern der sozialliberalen Koalition unter Helmut Schmidt geschaffenen Strukturen und Vorgehensweisen zeigte sich in ihrem Scheitern am Scheitelpunkt der RAF-Krise, im „Deutschen Herbst". Wiederum war es der Versuch einer Gefangenenbefreiung, die den vierundvierzig Tage währenden „Showdown" zwischen der RAF und der Bundesrepublik auslöste. Auf Druck der in Stammheim inhaftierten ersten RAF-Generation beschlossen die Aktivisten der zweiten Generation um Peter Jürgen Boock, von denen viele wegen Baader und Meinhof in den Untergrund gegangen waren, es „hart durch[zu]ziehen".53 Am 5. September 1977 entführten sie den Präsidenten der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Hanns Martin Schleyer. Die RAF sah den exponierten Vertreter des „Schweinestaats" als aussichtsreichen Kandidaten für 52 Als Gradmesser der Einstellungen zur RAF können repräsentative Meinungsumfragen des Allensbacher Instituts gelten. Nach einer Umfrage aus dem Jahr 1978 - dem Jahr nach dem „Deutschen Herbst" - forderten im Durchschnitt 71 Prozent der Bevölkerung ein schärferes Vorgehen gegen Terrorismus (vgl. Elisabeth Noelle-Neumann/Edgar Fiel [Hrsg.], Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1978 - 1983, Band VIII, München 1983). 53 Peter Jürgen Boock bei einer Sitzung, die Boock später als „Wannseekonferenz" der RAF bezeichnete. Zitiert nach Aust (Anm. 35), S. 478.

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einen „Gefangenenaustausch". Sie war sich sicher, daß der Staat sich auf die Forderung einlassen würde, schließlich waren zuvor verurteilte Strafgefangene gegen den von der „Bewegung 2. Juni" entführten CDU-Politiker Lorenz ausgetauscht worden. Bei der Entführung des gut geschützten Managers Schleyer ging die RAF äußerst brutal vor; das Kommando erschoß vier Begleiter Schleyers und verschleppte jenen unbemerkt in das vorbereite Versteck, eine Hochhauswohnung in Erftstadt-Liblar. Kurze Zeit nach der Tat zog die Polizei einen Fahndungsring um den Tatort. Das BKA unter Führung Herolds übernahm die Koordination der polizeilichen Abläufe und setzte die Rasterfahndung ein, um das „Volksgefängnis" der RAF aufzuspüren. Schon 48 Stunden nach der Tat wies die Polizei Erftstadt die vorgesetzte Behörde auf ein Appartment in ihrem Gebiet hin, das alle für das Ermittlungsraster definierten Merkmale erfüllte. Tatsächlich war Schleyer dort gefangen, zeitweise eingepfercht in einem Einbauschrank. Dennoch erhielten die lokalen Polizeibeamten, die in der Wohnung den Aufenthaltsort Schleyers vermuteten, keine Untersuchungserlaubnis; das BKA wurde nicht auf die Wohnung aufmerksam. 54 Wäre der Hinweis am BKAComputersystem überprüft worden, hätten die vorhandenen Einträge zu einer Erstürmung der Wohnung, und damit vielleicht auch zur Befreiung und Rettung Schleyers geführt. Bereits 48 Stunden nach der Entführung hatten die Sicherheitsbehörden den Schlüssel in der Hand - und konnten ihn doch nicht nutzen. Dazu trug maßgeblich das offenkundige Kompetenz-Chaos bei, an dem auch die BKA-Koordination kaum etwas änderte.55 Kontraproduktiv waren demnach auch politische Einflußnahmen beherzter Krisenmanager, z.B. des Bundesinnenministers Maihofer. Während sich also das Ermittlungs- wie auch das Analysesystem bewährte, Herold hatte auf eine von der Analyse des BKA angeleitete, aber lokal durchgeführte Ermittlungsarbeit gesetzt, scheiterten die diversen Akteure von Polizei, Justiz und Politik in der Zusammenarbeit. Die erst in der Krise spontan konstruierten, koordinierenden Schnittstellen waren der Komplexität und dem Umfang der Koordinationsaufgaben nicht gewachsen. Zudem hatten die Sicherheitsbehörden im Rechtsstaat Bundesrepublik hohen Anforderungen an die Zulässigkeit und Verhältnismäßigkeit ihres Vorgehens zu genügen. Die Frage, welches Vorgehen verhältnismäßig war und wie der Staat handeln sollte war eine politische. Sie stellte die von Helmut Schmidt im überparteilichen „Großen Krisenstab" versammelten obersten Entscheidungsträger der Republik vor eine Belastungsprobe. Die große Mehrheit war sich einig, daß den Entführern nicht nachgegeben werden durfte, weil dies weitere Erpressungen nach sich ziehen würde. Trotz des Drucks, die RAF-Inhaftierten gegen Schleyer 54 Vgl. Aust (Anm. 35), S. 509ff. Zur Kette der Pannen siehe auch Heribert Prantl, Warum Schleyer sterben mußte, in: Süddeutsche Zeitung vom 5. September 2002, S. 9. 55 Vgl. ebd., S. 502-508; S. 528-523.

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auszutauschen, entschied sich das Gremium für den Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Die verurteilten RAF-Terroristen sollten nicht freigelassen werden. Durch zeitintensive Verhandlungen würde man die RAF zermürben und genügend Zeit gewinnen, um die Geisel zu finden und zu befreien. Das Kalkül wäre wohl beinahe aufgegangen. Die Entführung der mit deutschen Urlaubern besetzten Lufthansa-Maschine „Landshut" indessen durchkreuzte die Salamitaktik der Bundesregierung. Sie trieb die Risiken auf beiden Seiten in eine Höhe, in der eine gewaltsame „Lösung" als einzige Alternative zur weltöffentlichen Kapitulation vor dem Terrorismus verblieb. In den frühen Morgenstunden des 18. Oktober 1977 erstürmte die Spezialeinheit „GSG 9" in Mogadischu die entführte Maschine und befreite die Geiseln; in der selben Nacht begingen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe im Sicherheitstrakt des Gefängnisses Stammheim Selbstmord, Irmgard Möller überlebte knapp.56 Hanns Martin Schleyer wurde von seinen Bewachern exekutiert. Seit dem gewaltsamen Ende der Krise, insbesondere dem Tod der Häftlinge in Stammheim, prägen Vorwürfe und Schuldzuweisungen die Debatte um den „Deutschen Herbst". Hat das „demokratische System", wie Hans-Christian Ströbele - damals wie auch Bundesinnenminister Schily RAF-Verteidiger, heute Mitglied im Vorstand der Fraktion Bündnis90/Die Grünen im Deutschen Bundestag - meint, bei der Bekämpfung der RAF versagt, Sicherheit in Freiheit zu gewährleisten?57 Welche Lehren lassen sich aus den historischen Erfahrungen mit der RAF für die gegenwärtige und zukünftige Balance von Sicherheit und Freiheit ziehen, gerade angesichts neuer terroristischer Bedrohungen? Mehr als 25 Jahre nach dem „Deutschen Herbst" sind die Wahrnehmungen des damaligen Geschehens so unterschiedlich wie die abgeleiteten Schlußfolgerungen. Was von Befürwortern des „§ 129a" und anderer Gesetzes Verschärfungen nicht zuletzt als Beitrag zur präventiven Verhinderung von Straftaten - und damit zur Deeskalation - gesehen wird, bewerten Gegner der gesetzlichen Verschärfung als Demontage des Rechtsstaats und Versagen der Demokratie durch einseitige Betonung des Sicherheitsziels: „Der Staat BRD zeigte sich nicht in der Lage, ein Mindestmaß an Gerechtigkeit zu garantieren, nicht in der Krisensituation und nicht für seine Feinde [...]. Die Bundesregierung und der Krisenstab versagten: Statt einer friedlichen Verhandlungslösung bevorzugte man die Logik von Kampfund Krieg." 58

56 Nach Aussage einiger RAF-Aktivisten wurde der Selbstmord bewußt geplant, um Legitimation für den Kampf weiterer RAF-Generationen zu schaffen. Vgl. Aust (Anm. 35), S. 632ff. 57 Hans-Christian Ströbele, Der Rechtsstaat blieb auf der Strecke, in: taz-Journal, 20 Jahre Deutscher Herbst, Berlin 1997, S. 62f. 58 Ebd.

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Doch bestand die von den RAF-Anwälten ins Spiel gebrachte Verhandlungsoption wirklich? Schließlich hatten die Stammheimer RAF-Häftlinge gegenüber BKA und Justizministerium angekündigt, bei ihrer Freilassung vom Ausland aus weiterhin gegen das „imperialistische System" kämpfen zu wollen.59 Sie waren es gewesen, die nach der Ermordung von Jürgen Ponto und dem Scheitern der Stockholmer Botschaftsbesetzung Druck auf die „zweite Generation" ausgeübt hatten, eine gewaltsame Befreiung zu versuchen. Wiederum war es die RAF, die mit der in ihrem Namen durchgeführten Entführung unbeteiligter Urlauber dem Staat eine Verhandlungslösung unmöglich machte. Das diese Eskalation maßgeblich von der RAF ausging ändert jedoch nichts daran, daß die Spitzen der Bundesregierung - und mit ihr die in den Beratungen hinzugezogenen Oppositionspolitiker und Repräsentanten der Länder - umfangreiche Eingriffe in die bürgerlichen Freiheitsrechte anordneten. Dabei ging es jedoch, wie bei der Diskussion um die Notstandsgesetze vorweggenommen worden war, gerade nicht um eine Beseitigung der Freiheit. Ziel der Maßnahmen waren der Schutz und die Sicherheit von Staat und Bürgern sowie zugleich die Erhaltung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung als Grundlage und Garantie der Freiheit. Die RAF stellte mit ihrer Gewaltkampagne und ihrer revolutionären Zielsetzung eben nicht nur die Sicherheit, sondern auch die innere und äußere Freiheit in der Bundesrepublik in Frage. Als extremistische Minderheit agierte sie gegen die Freiheitsrechte der übergroßen Bevölkerungsmehrheit - und mißbrauchte die ihr zugestandenen Freiheitsrechte dazu, die Freiheit der anderen zu beseitigen. Daß der Rechtsstaat diesen Mißbrauch zu verhindern suchte, indem er die Rechte der Angeklagten bzw. Inhaftierten und ihrer Anwälte beschränkte, war nicht konträr, sondern kongruent zur materiellen Substanz und Zielsetzung der freiheitlichen Demokratie. Auch die gegen das terroristische, linksextremistische Vorfeld gerichteten Maßnahmen hoben nicht die Freiheit per se auf, sondern schränkten die mißbrauchten Freiheitsrechte für eine möglichst geringe Zahl Betroffener ein. Deshalb ist den juristischen Entscheidungen oberster Gerichte, der Verfassungsgerichtsbarkeit und der Europäischen Kommission für Menschenrechte zuzustimmen, die mit wenigen Ausnahmen60 die zur Bekämpfung der RAF erlassenen Vorschriften und Gesetze billigten. Sie wurden angesichts des politischen Kontexts als verhältnismäßige Eingriffe gewertet. Auch wenn man davon ausgehen kann, daß im „Eifer des Gefechts" einzelne staatliche Organe bzw. einzelne ihrer Angehörigen die Grenzen der Verhältnismäßigkeit überschritten haben und die für den demokratischen Rechtsstaat essentielle Souveränität gegenüber extremistischen und terroristischen

59

Vgl. Aust (Anm. 35), S. 620-622. Beispielsweise die in § 88 und § 130 StGB geschaffenen Vorschriften gegen die Billigung oder Belohnung von Straftaten. 60

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Herausforderungen vermissen ließen: Selbst während des „Deutschen Herbstes" wurde die Freiheit nicht auf dem Altar der Sicherheit geopfert, sondern eine möglichst schonende Güterabwägung versucht. All das bedeutet nicht, daß es aus der Krise, in die der Staat durch die RAF geriet, nicht wichtige Lehren für Gegenwart und Zukunft zu ziehen gäbe. Dies betrifft die Vorgehensweise der Sicherheitsbehörden und der politischen Entscheidungsträger wie auch den weiteren Zusammenhang der Beschaffenheit staatlicher Institutionen, die von Terrorismus betroffen sind. Mehr noch als bei der Verabschiedung der Notstandsgesetze zeigte sich die Notwendigkeit und Bedeutung eines von allen wesentlichen demokratischen Parteien gestützten politischen Vorgehens: „Cooperation and unity of resolve among all democratic forces in such a time is, I believe, of the utmost importance."61 Diese Erfahrung gibt Hans Jürgen Wischnewski, damals Staatsminister, all jenen Staaten mit auf den Weg, die vor terroristischen Herausforderungen stehen. Seine Argumentation folgt einer einfachen Logik: Eine sachliche, Transparenz erzeugende Debatte über die richtige Gewichtung staatlicher Maßnahmen hat wesentlich mehr Chance auf Erfolg als das parteipolitisch bzw. ideologisch motivierte Ausschlachten der Herausforderung durch Extremismus und Terrorismus. In der Gemeinsamkeit der Demokraten liegt das stärkste Bollwerk gegen die Untergrabung des demokratischen Verfassungsstaates; ein von sachlichen Argumenten geprägter Diskurs bietet die größte Chance, zu ergebnisorientierten und verhältnismäßigen Maßnahmen zu gelangen. Die Verlagerung der politischen Willensbildung in die von Bundeskanzler Schmidt geleiteten Krisenstäbe hatte jedoch auch eine Kehrseite: Geheimhaltungspflicht und Nachrichtensperre sorgten dafür, daß selbst die Masse der Abgeordneten des Deutschen Bundestags die von ihnen zu vertretenden Entscheidungen - z.B. über das Kontaktsperre-Gesetz - während der Krise nicht auf der Grundlage einer umfassenden Tatsachen-Kenntnis fällen konnte. Dies widerspricht dem Ideal der parlamentarischen Demokratie und ist ein starkes Indiz dafür, daß das politische System nicht auf eine durch Terrorismus ausgelöste Staatskrise der erlebten Dimension vorbereitet war. Wo de facto ein Staatsnotstand vorlag, konnten eben nicht die in der Dekade zuvor verabschiedeten Notstandsgesetze - die eine angemessene Beteiligung der Legislative an allen wichtigen Entscheidungen vorgesehen und in Gestalt des Gemeinsamen Ausschuß ermöglicht hätten - zum Einsatz kommen, da jene weder breit noch spezifisch genug gefaßt waren. Statt dessen mußte improvisiert werden; die Exekutive nahm das Heft in die Hand. Sie bewies dabei nur bedingt Geschicklichkeit. Chancen auf eine Befreiung Schleyers blieben ungenutzt, weil den vielen Hän61 Hans Jürgen Wischnewski, Lessons from German Counterterrorism, in: New Perspectives Quarterly 12 (1995), Heft 3, S. 2.

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den der Exekutive die für eine reibungslose Zusammenarbeit notwendige Struktur fehlte. Daß der offensichtliche Bedarf an einer Neuordnung der „Deutschen Sicherheitsarchitektur" bis dato erkannt, jedoch nicht behoben ist, ist besonders problematisch. Horst Herolds Vision eines „Informationsverbundes" aller relevanten Sicherheitsbehörden, der die Stärken zentralisierter Analyse mit denen lokalisierter Ermittlungsarbeit vereint, bleibt auch nach neuen Anläufen im Zuge der Bekämpfung des Internationalen Islamistischen Terrorismus Utopie. Daran ändert auch die Einrichtung getrennter Lagezentren, in denen Vertreter der wichtigsten Sicherheitsbehörden und Nachrichtendienste fallweise Erkenntnisse austauschen dürfen, nur wenig. Die Forderung einer Anpassung der Notstandgesetze an neue Szenarien terroristischer Gewalt bleibt unerfüllt - weil ihre Gegner ihren Mißbrauch mehr fürchten als das im Krisenfall wahrscheinliche, im „Deutschen Herbst" erlebte Wirrwarr konkurrierender Akteure und Kompetenzen. Aller Erfahrung nach böte gerade eine nach demokratischer Willensbildung beschlossene, mit Kontrollmaßnahmen versehene Neuordnung der Strukturen die größte Chance nicht nur auf Effizienz und Effektivität, sondern auch auf Einhaltung demokratischer und rechtsstaatlicher Maßstäbe. Lehren des Umgangs mit der RAF gilt es schließlich auch für das strategische Konzept der Bekämpfung von Terrorismus und Extremismus und dessen Umsetzung durch die beteiligten Akteure zu ziehen. Dies gilt insbesondere für die Frage, inwieweit durch präventive Sicherheitspolitik eine Eskalation, wie sie die Bundesrepublik im „Deutschen Herbst" erlebte und nun den Konflikt zwischen militanten Islamisten und dem Westen kennzeichnet, eingedämmt werden könnte: „When it comes to fighting terrorism, an in-depth analysis of its origin is of paramount importance. Above all, serious levels of alienation in society, whether among university students, the ethnically oppressed or any group that feels slighted, must be detected and heeded."62 Ob und wie die Ursachen von Terrorismus jemals beseitigt werden können, steht freilich auf einem anderen Blatt. Gerade für den islamistischen Terrorismus, der mehr noch als der Linksextremismus in einer aggressiven, totalitären Ideologie wurzelt und von einer Reihe von Kontextfaktoren profitiert, erscheint dies schwierig. Wichtig ist, daß der Staat sich nicht alleine auf die nicht zu vermeidende repressive Bekämpfung terroristischer Akteure beschränkt. Sinnvoll erscheint gerade aus historischer Perspektive ein mehrdimensionales, den verschiedenen Facetten der Problematik Rechnung tragendes Vorgehen.63 Ein umfassender Bekämpfungsansatz erleichtert zudem die offensichtlich schwierige Balance zwischen Sicherheit und Freiheit - oder erlaubt gar die wechselseitige Verstärkung beider Güter wie et-

62

Ebd., S. 3. Zur Frage, welche Facetten als Ansatzpunkte dienen können, siehe Urban (Anm. 32). 63

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wa durch den Einsatz der Bundeswehr zur Förderung von Sicherheit und Demokratie in Afghanistan. Das Beispiel Afghanistan zeigt zugleich ein symptomatisches Defizit der aktuellen Terrorismusbekämpfimgspolitik auf: Entgegen aller PräventionsRhetorik ist die Politik zumindest bisher nicht bereit, entschlossen gegen die Ursachen und Triebkräfte des islamistischen Terrorismus vorzugehen. Obwohl längst mehr Bürger der Bundesrepublik von islamistischen Terroristen getötet wurden, als der RAF zum Opfer fielen, bleiben die Anstrengungen zur Beseitigung des Närbodens für den islamistischen Extremismus vergleichsweise übersichtlich. Allen Anstrengungen in Afghanistan zum Trotz gilt dies für die Maßnahmen im Inneren wie im Äußeren. Während deutsche Soldaten und Entwicklungshelfer sich in vergleichsweise sicheren Gebieten aufhalten, fallt der Osten und Süden des Landes zunehmend wieder in die alten, den Extremismus begünstigenden Strukturen zurück. Selbst in den von Deutschland betreuten Gebieten dominiert in einer Weise der Drogenanbau, daß jede Anstrengung zur Etablierung demokratischer Strukturen in Wirtschaft und Politik an der Macht der Drogenbarone zu scheitern droht.64 Auch innerhalb Deutschlands kommt die Ursachenbekämpfung nur wenig voran; die geistig-politische Auseinandersetzung mit dem islamistischen Terrorismus kann nicht erfolgreich sein, wenn die zentrale Rolle der islamistischen Ideologie als Triebfeder des islamistischen Extremismus und Terrorismus nicht in genügendem Maße ernst genommen wird. Während Bundesinnenminister Schily sich um Aufklärung bemüht, weist mit Franz Müntefering der Partei- und Fraktionsvorsitzende der größeren Regierungspartei die Forderung nach einer „Bekämpfung des politischen Islamismus" als „leichtfertige Verknüpfung" der Themen Integration, Extremismus und Terrorismus zurück.65 Wie am Vorabend des „Deutschen Herbstes" die Bedeutung der Ideologie für die Radikalisierung linksextremistischer Gewalttäter verkannt wurde, ignorieren die heute politisch verantwortlichen die zentrale Rolle der islamistischen Ideologie. Es bedeutet nicht, die Lehren der RAF-Eskalation zu ziehen, wenn man erneut die ideologischen Motive der Täter verdrängt. Im Gegenteil: Gerade diese Denkblockade führt zu einer Wiederholung des alten Fehlers, erst dann offensiv gegen den extremistischen Nährboden vorzugehen, wenn aus Extremisten bereits Terroristen geworden sind. Sie provoziert gerade-

64 Die Anbaufläche für afghanischen Schlafmohn wuchs im vergangen Jahr um ca. 64 Prozent und liefert nun ca. 87 Prozent des im Westen verkauften Heroins. Der Drogenanbau macht zwei Drittel der Jahreswirtschaftsleitung des Landes aus. Vgl. United Nations Office on Drugs and Crime (Hrsg.), Afghanistan Opium Survey 2004, Wien 2004, S. 2ff. 65 Franz Müntefering, zitiert nach dem Protokoll der Debatte im Deutschen Bundestag vom 2. Dezember 2004, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Plenarprotokoll der 145. Sitzung, Berlin 2004, S. 13440.

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zu eine Situation, in der die wehrhafte Demokratie sich genötigt sieht, extremistische und terroristische Strukturen zu zerschlagen, deren Wachstum durch entschlossenere Präventionsarbeit zumindest hätte begrenzt werden können. Je später der Staat gegen islamistische Strukturen vorgeht, desto größer fallen die Eingriffe in bürgerliche Freiheitsrechte aus. Dafür sorgt die Logik der Eskalation, wie sie am Verlauf des „Deutschen Herbstes" exemplarisch studiert werden kann. Nur: Im Vergleich zur Auseinandersetzung mit der RAF birgt der Konflikt mit dem militanten Islamismus ein weitaus größeres Gefahrenpotential. Dies gilt für den Staat und seine Funktionsträger, mehr noch aber für unbeteiligte Bürger, die - wie in New York, Bali, Djerba oder Madrid geschehen - als „weiche Ziele" in großer Zahl haßerfüllten Attentätern zum Opfer fallen.

5. Sicherheit und Freiheit nach dem „Ende der Geschichte" Einen globalen Konflikt zwischen „Gotteskriegern" und „westlicher Zivilisation" hatte, von Samuel P. Huntington einmal abgesehen, niemand vorausgesagt. Im Gegenteil: Der Fall der Berliner Mauer nährte bei vielen die Hoffnung auf ein Ende ideologischer Konflikte, und damit des ewigen Dilemmas, Freiheit und Sicherheit gleichermaßen zu gewährleisten. Wieder war Berlin der Schauplatz, auf dem eine Entwicklung globaler und historischer Bedeutung ihres sichtbarsten Ausdruck fand; wie von Sebastian Haffiier beschrieben66 erlebten die Berliner wiederum Geschichte am eigenen Leib. Die auf den Zusammenbruch der kommunistischen Zwangsherrschaft folgende Auflösung des BlockGegensatzes von Ost und West vereinte und versöhnte Generationen von Deutschen und Europäern. Entsprechend groß wie die Erwartung eines friedlichen Miteinander der Staaten und Völker nach dem Muster der liberalen Demokratie. Und nicht minder ausgeprägt war die angesichts neu aufbrechender Konflikte einsetzende Ernüchterung. Der Fall der Mauer markierte eben nicht das „Ende der Geschichte", wie es Francis Fukuyama formulierte 67, sondern den Beginn einer Epoche mit neuen wie alten Unsicherheiten und Unfreiheiten. Doch muß sich deshalb die Gegenthese Samuel Huntingtons eines unentrinnbaren Kampfs der Kulturen 68 zwangsläufig bewahrheiten? Mitnichten. Dies verbietet die Hoffnung auf die Gemeinsamkeiten aller Menschen, die Gestaltungskraft verant-

66 67

Vgl. Haffner (Anm. 1). Vgl. Francis Fukuyama,

Das Ende der Geschichte: wo stehen wir?, München

1992. 68 Vgl. Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen: Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, 3. Aufl., München 2002.

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wortlicher Politik und damit auf die „Offenheit der Geschichte".69 Und doch kann die Geschichte Ratgeber sein für Gegenwart und Zukunft. Für Herfried Münkler etwa sind die „neuen Kriege", zu denen er prototypisch den Kampf islamistischer Terroristen gegen die liberale Zivilisation des Westens zählt, „in mancher Hinsicht eine Wiederkehr des ganz Alten", des vorstaatlichen Krieges.70 Münkler lenkt die Aufmerksamkeit auf private Akteure und ihre Motive als Triebfeder von zunehmend innerstaatlichen Konflikten. Ihre Protagonisten fordern die staatliche Autorität heraus, indem sie deren Fähigkeit zum Schutz von Sicherheit und Freiheit in Frage stellen. Damit rücken erneut Terrorismus und Extremismus ins Zentrum der sicherheitspolitischen Agenda. Terrorismus und Extremismus des Islamismus sind die neue Gefahr nicht nur für einen sich ihm entgegen stellenden Staatsapparat, sondern auch für die Errungenschaften der freiheitlichen Demokratie im Geiste des Liberalismus.71 Erneut steht die Bundesrepublik vor der doppelten Herausforderung, Sicherheit in Freiheit zu gewährleisten - und nicht nur der deutsche Staat, sondern auch alle anderen westlichen Demokratien. Als wehrhafte und zugleich dem Gebot größtmöglicher Toleranz verpflichtete Demokratie ist die Bundesrepublik prinzipiell gut auf die Herausforderungen des islamistischen Terrorismus und Extremismus vorbereitet. Das Grundgesetz erteilt den politisch Handelnden implizit wie explizit den Auftrag, Sicherheit in Freiheit zu gewährleisten. Es fordert den Schutz der bürgerlichen Freiheiten auf der Grundlage des Schutzes von Staat und Bürger vor politischer Gewalt und Fremdbestimmung. Durch alle Krisen und Debatten hindurch versuchten die Entscheidungsträger der deutschen Nachkriegsdemokratie, dieser Forderung gerecht zu werden. Daß es dabei - ob im Ringen um die Notstandsgesetze oder während des „Deutschen Herbstes" - vereinzelt auch zu Fehlern und Übertreibungen kam, ist bedauerlich aber angesichts der Schwierigkeit des Ausgleichs solch zentraler Güter nicht verwunderlich. So geben die beschriebenen historischen Erfahrungen mit der Balance von Sicherheit und Freiheit zugleich Anlaß zu Hoffnung und Pessimismus. Dies gilt nicht minder für den Umgang mit der Herausforderung des Internationalen Islamistischen Terrorismus. Mut macht die Tatsache, daß die Politik begonnen hat, die freiheitliche demokratische Grundordnung trotz historisch und ideologisch begründeter Widerstände auch gegen den militanten Islamis69

Vgl. Eckhard Jesse, Politischer Extremismus heute: Islamistischer Fundamentalismus, Rechts- und Linksextremismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament", B 46/2001, S. 3. 70 Herfried Münkler, Die neuen Kriege, Reinbek 2002, S. 9. 71 Für eine detaillierte ideengeschichtliche Erörterung siehe Paul Berman, Terror and Liberalism, New York 2003.

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mus zu verteidigen. In einigen Politikbereichen, die Pragmatismus und parteienübergreifende Arbeitsteilung erfordern, bildet sich gemeinschaftliches und entschlossenes Handeln nicht nur gegen den Internationalen Islamistischen Terrorismus, sondern auch seinen islamistischen Nährboden heraus. Beispiele sind die verbesserte Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern sowie die Einführung integrationspolitischer Standards im neuen Zuwanderungsgesetz. Andererseits sind eben diese Beispiele symbolhaft für die institutionellen und ideologischen Verkrustungen der deutschen Nachkriegsdemokratie. Noch immer dominiert die historisch begründete und von linksliberalen Dogmatikern geschürte Angst vor einem „Bundessicherheitshauptamt" über die Einsicht in die Notwendigkeit pragmatischer Reformen. Die zur Bekämpfung der islamistischen Ideologie dringend gebotene Vermittlung grundsätzlicher Werte und Rechtsvorstellungen - auf denen sich das Zusammenleben aller Menschen in der Bundesrepublik gründet - im Rahmen einer „nachholenden Integration" scheitert an der ideologisch begründeten Ablehnung jedweden ,Assimilationsdrucks". All dies nährt den Eindruck, daß ideologische und strukturelle Verkrustungen die Fähigkeit der politisch Verantwortlichen zur Gestaltung der Zukunft gefährden. Hierzu bedarf es - wie Verlauf und Ergebnis der analysierten sicherheitspolitischen Debatten verdeutlichen - des Mutes, politisches Handeln und politische Strukturen an neue Gegebenheiten anzupassen. Die im Grundgesetz geschaffene demokratische Ordnung ist kein statisches Gebilde; sie ist - wie die Institutionen, die sie mit Leben füllen - ein Organismus, der eine an den Grundprinzipien orientierte Ausgestaltung erfordert. Nur so sind die zahlreichen Aufgaben des Ausgleichs konkurrierender Rechtsgüter zu leisten, die das Grundgesetz zu einer am Wohl des Einzelnen in der Gemeinschaft orientierten Ordnung machen. Der Weg zu Sicherheit in Freiheit führt über eine undogmatische, am Kerngehalt beider Güter orientierte Balance. Sie herzustellen ist die beständige Herausforderung demokratischer Sicherheitspolitik und damit derer, die im Staat Verantwortung übernehmen.

Die westdeutsche Friedensbewegung Entstehung, Entwicklung und Unterwanderungsversuche

Von Florian Hartleb

1. Einleitung Eine Friedensbewegung, die auf Politik wie Gesellschaft gleichermaßen wirkt und Hunderttausende auf die Straße bringt, scheint ein nicht wiederholbarer Teil bundesdeutscher Geschichte zu sein. Die Kriege im Irak und in Afghanistan brachten zwar die Menschen beispielsweise in den traditionellen Ostermärschen auf die Straße, sie sorgten aber lediglich für konjunkturellen Protest, der sich gegen die Politik der USA richtete. Ein Wiederaufflammen der Friedensbewegung nach dem Zerfall des realen Sozialismus ist bereits aufgrund mangelhaften Organisationsgrades nicht festzustellen. Es fehlt das apokalyptische Szenario - die Angst vor dem Atomtod. Die Anlässe für Proteste seit den 1990er Jahren sind sehr selektiv gewählt. Gegen den Krieg in BosnienHerzegowina beispielsweise regte sich überhaupt kein Widerstand. Wenn die USA nicht direkt daran beteiligt sind, werden Kriege und Bürgerkriege mit bis zu einer Million Toten wie in Tschetschenien nur wenig erörtert und beklagt. Eine Wiederbelebung der Massenproteste brachte erst der Golfkrieg im Jahr 2003, nachdem die USA, Großbritannien und ihre Verbündeten ohne UNMandat in den Irak einmarschiert waren. So gab es in Berlin die bis dahin größte Demonstration in der Geschichte der Bundesrepublik mit rund 500.000 Teilnehmern. Der Protest wurde ganz wesentlich von der jungen Generation getragen, die ihre Empörung über das Vorgehen der USA, weniger grundlegend pazifistische Überzeugungen zum Ausdruck brachte. Mit Kriegsbeginn war die breite Front der Friedensbewegung gleichwohl zerfallen, die Überzeugungskraft ihrer Argumente schwand. Radikale Kräfte bekamen Auftrieb, gemäßigte Kriegsgegner zogen sich zurück. Zeitgeschichtlich betrachtet ist der Zenit der Mobilisierung von Bevölkerungsgruppen in den neuen sozialen Bewegungen

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überschritten. Diese stellten in den 1980er Jahren eine besondere Herausforderung für den politischen Prozeß der Bundesrepublik dar.1 Die Friedensbewegung der 1980er Jahre entpuppte sich als die größte Protestbewegung in der Geschichte der Bundesrepublik. Sie hatte nicht nur ein hohes Maß an politischer Wirkung erreicht, ihr war auch internationale Aufmerksamkeit zugeflossen. Die Massendemonstrationen fanden als internationales Thema in den Medien der USA Beachtung. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Die geopolitische Lage an der Nahtstelle der beiden weltpolitischen Machtblökke machte die sicherheitspolitische Konstellation der Bundesrepublik einzigartig, obwohl die Friedensbewegung an sich keine deutsche Besonderheit war. Den Dreh- und Angelpunkt der Friedensthematik bildete der Protest: Protest gegen Interventionen der Großmächte, die (Atom-)Bombe, militärische Drohgebärde und Aufrüstung. Fleißig wurde an Legenden gestrickt, wie auch bei anderen sozialen Bewegungen der vermeintlich ausgeprägte „basisdemokratischemanzipative [...] Charakter"2 gepriesen. In der öffentlichen wie in der wissenschaftlichen Diskussion ist die Friedensbewegung weitgehend verschwunden, lediglich ihre Unterwanderung durch die DDR scheint ein Thema. Eine wissenschaftliche Diskussion über die westdeutsche Friedensbewegung der 1980er Jahre findet seit geraumer Zeit nicht mehr statt, obwohl vor allem in den Protesten gegen die Irak- und Afghanistan-Kriege immer wieder von einer Renaissance der Friedensbewegung die Rede war. Dieser Beitrag will daher die westdeutsche Friedensbewegung unter systematischen Gesichtspunkten beleuchten, ihre Entstehung, Entwicklung und ihren Einfluß auf gesellschaftliche wie parteipolitische Kräfte darstellen. Dazu sollen die Versuche der DDR, auf die Friedensbewegung einzuwirken, in einem kurzen Abriß aufgezeigt werden.

2. Entstehungsanlaß Die Politikfelder Außen- und Sicherheitspolitik hatten in der Bundesrepublik lange nicht zu jenen Themenbereichen gehört, die den politischen Problemhorizont des Bürgers tangierten. Von den großen Kontroversen um NATO-Beitritt, Wiederaufrüstung und Atombewaffiiung mit der Kampagne „Kampf dem Atom-

1 Vgl. Christiane Lemke, Neue soziale Bewegungen, in: Thomas Ellwein/Everhard Holtmann (Hrsg.), 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Rahmenbedingungen - Entwicklungen-Perspektiven, Opladen/Wiesbaden 1999, S. 440. 2 Karl-Werner Brand, Kontinuität und Diskontinuität der neuen sozialen Bewegungen, in: Roland Roth/Dieter Rucht (Hrsg.), Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik, Bonn 1987, S. 44.

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tod" in den 1950er Jahren abgesehen, hatte es bis zu den 1980er Jahren keine mit öffentlicher Anteilnahme gefühlten Debatten gegeben. Lediglich zeitweiligen und eher symbolischen Aktionismus auf der Straße entfachte die von England inspirierte Ostermarsch-Bewegung in der ersten Hälfte der 1960er Jahre. Ihre Anhänger zeichnete ein ethisch-religiöser Pazifismus aus, später wirkte sie als Sammlungsbewegung für unterschiedliche weltanschauliche Richtungen. Die politischen Entscheidungsträger verfügten über einen großen Handlungsspielraum. In den 1970er Jahren blieben Friedensproteste nahezu vollständig aus. Es ließ sich eine „Absenz öffentlicher Diskussion"3 über fundamentale militärische Konzepte diagnostizieren. Das Bemühen der deutschen Regierung um Entspannung und Rüstungskontrolle kam Befürchtungen der Bevölkerung entgegen. Nukleare Fragen fanden kaum Beachtung. Den entscheidenden Impuls für die Entstehung der Friedensbewegung gaben die Nachrüstung und die damit verbundene Stationierung neuer Mittelstreckenraketen zu Beginn der 1980er Jahre. Der von der NATO im Dezember 1979 gefaßte Doppelbeschluß besagte, daß die Weltmächte über eine Reduzierung der neuaufgestellten sowjetischen Mittelstreckenraketen verhandeln mußten. Nur für den Fall einer mangelnden Einigung sollte der Westen ab 1983 eine eigene Nachrüstung vornehmen, die eine Stationierung atomarer Mittelstreckenwaffen auch in der Bundesrepublik beinhaltete. Im Grunde sah der Doppelbeschluß zwei Alternativen vor: entweder die Verheißung einer vereinbarten Abrüstung oder die Drohung mit der amerikanisch-europäischen Nachrüstung. Letztgenannte sollte für die Sowjetunion ein Anreiz zum Verhandeln sein. Ganz anders die Einordnung des NATODoppelbeschlusses durch die geistigen Väter der Friedensbewegung. Das Kernstück ihrer Deutungsmuster hieß Nachrüstung, nicht Doppelbeschluß. Selbst in der regierungsamtlichen Deutung tauchte die Sowjetunion als zentrales Bezugsobjekt praktisch nicht auf. Die Politik des frisch ins Amt gekommenen USPräsident Ronald Reagan wurde als Machtstrategie interpretiert mit dem Ziel, den USA das Führen begrenzter Atomkriege in Europa zu ermöglichen. Die Nachrüstung galt als fest eingeplantes Teilstück der weltweiten Offensivstrategie der USA. Es herrschte die Auffassung vor, Reagan würde skrupellos nach einer weltweiten Hegemonie der USA streben, und Deutschland sei ein treuer Vasall bzw. Opfer. 4 Dazu kam ein generelles Legitimationsdefizit der Militärpolitik, insbesondere der Nachrüstungspolitik. Hieraus ergab sich die Be3 Vgl. Rudolf Wildenmann, Public Opinion and the Defence Effort: Trends and Lessons - Europe, in: Bertram, Christoph (Hrsg.), Defence and Consensus - The Domestic Aspects of Western Security, London 1983. 4 Vgl. Rüdiger Schmitt, Die Friedensbewegung in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1990, S. 83-88.

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gründung für die Bemühungen zur Mobilisierung der Friedensbewegung: Unmittelbares Ziel sollte die Verhinderung der Nachrüstung sein, welche die Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs in Europa dramatisch erhöhen würde. Eine zweite Argumentationslinie zielte auf die allgemeine Kritik an der Abschrekkungspolitik und den durch sie verursachten Rüstungswettlauf. Einzelne Akteure der Friedensbewegung versuchten, den Anspruch auf „Widerstand" gegen die Nachrüstung mit dem im Grundgesetz festgelegten Widerstandsrecht gegen die Verletzung derfreiheitlichen Verfassung 5 in Verbindung zu bringen. Eine solche Konstruktion sollte suggerieren, beim Kampf gegen die Raketenstationierung gehe es zugleich um die Verteidigung des Rechtsstaats. Sie stieß in der Öffentlichkeit fast einhellig auf Zurückweisung. Eine eindeutige Antwort auf die Frage, ob sie eine plebiszitäre Entscheidung für eine eventuelle Raketenstationierung befürworten würde, blieb die Friedensbewegung schuldig.6 Dem NATO-Bündnis an sich brachte die Bevölkerung fast ungeteilte Sympathie entgegen. Der Antrieb der Friedensbewegung lag daher weniger in der Wirklichkeit objektiver Umstände, vielmehr in der subjektiven Wahrnehmung der Beteiligten. Die starke Emotionalisierung der Sicherheitspolitik, begleitet durch Pathos führte zu einer eigenen Interpretation des NATO-Bündnisses: Abrüstung und Rüstungskontrolle rückten in die Nähe des Unmoralischen. Auf die Frage „Finden Sie den Doppelbeschluß alles in allem gut?" antworteten im Mai 1981 53 Prozent mit ja, während 20 Prozent verneinten.7

3. Mobilisierung Unterschiedliche Zentren beflügelten die Entstehung der Friedensbewegung: kirchliche und gewerkschaftliche Einrichtungen, Hochschulen, Initiativgruppen und Verbände. Es kam flächendeckend zu regionalen, örtlichen und stadtteilbezogenen Friedensinitiativen. Signifikant war der hohe Anteil der jüngeren Generation, oft mit hoher Schulbildung. Innerhalb einer neuen Mittelschicht gab es postmaterialistische Orientierungen, welche ein positives Umfeld für die Frie-

5 Art. 20 IV GG, dessen Entstehung in der parlamentarischen Debatte über die so genannte Notstandsverfassung fußt, besagt: „Gegen jeden, der es unternimmt, die staatliche Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist." 6 Widerstandsrecht im demokratischen Staat? Umstrittene Ansprüche und Begriffe in der deutschen Raketenhypothese, in: Neue Zürcher Zeitung vom 9. Oktober 1983. 7 Elisabeth Noelle-Neumann, Ein großer Teil der Bevölkerung bleibt standfest (Allensbach-Institut), in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. Oktober 1981.

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densbewegung schufen:8 Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, Achtung, Anerkennung und Selbstverwirklichung standen im Vordergrund. Daraus resultierte eine Wertschätzung für Basisdemokratie und eine unkonventionelle, direkte Form der Partizipation. In der Bundesrepublik entstanden in den 1970er Jahren zahlreiche Bürgerinitiativen. Die lokalen Protestgruppen sahen im Kampf gegen die Kernenergie einen gemeinsamen Gegner, dessen proklamierte Gefährlichkeit sie auch für andere Politikfelder sensibilisierte. Einer der ersten Schritte auf dem Weg zur Mobilisierung der westdeutschen Friedensbewegung erfolgte nicht in der Bundesrepublik, sondern in den Niederlanden. Dort startete im Jahr 1977 der Interkirchliche Friedensrat (IKV) - eine 1966 von kirchlichen Gruppen gegründete Organisation - eine Kampagne mit dem Motto „Helft die Atomwaffen aus der Welt zu schaffen, und laßt uns in den Niederlanden damit beginnen". Diese Initiative fand in der Bundesrepublik die Aufmerksamkeit der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste (AS/F), einer evangelischen Organisation in Tradition der bekennenden Kirche. Sie befaßte sich mit einer Geschäftsstelle und 25 hauptamtlichen Mitarbeitern vorrangig um die Organisation von freiwilligen sozialen Diensten im Ausland. Erstes Ergebnis der Kooperation der beiden Gruppen war die Übernahme des Konzeptes der so genannten Friedenswochen, die ab 1980 in der Bundsrepublik zusammen mit Bürgerinitiativen und anderen Gruppen jeweils im November durchgeführt wurden. Von 1981 an konzentrierten sich diese Friedenswochen auf die Nachrüstungsthematik. Zusammen mit der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF) - die ebenfalls der evangelischen Kirche angehörte und mit 150 Mitarbeitern die Dachorganisation einer Reihe kleinerer christlicher Organisationen war - übernahm die Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste in den folgenden Jahren wesentliche Koordinierungs- und Organisationsfunktionen für die sich entfachende Friedensbewegung.9 Größtes Zeichen sichtbarer Massenmobilisierung waren die beiden Großdemonstrationen des Jahres 1981, zu denen sie zahlreiche politische und soziale Organisationen gewinnen konnte, beispielsweise den Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU): Die Demonstration „Fürchtet euch, der Atomtod bedroht uns alle!" am 20.06.1981 in Hamburg lockte ca. 100.000 Menschen auf die Straße, die Demonstration „Gegen die atomare Bedrohung gemeinsam vorgehen - Für Abrüstung und Entspannung in Europa!" am 10.10.1981 in Bonn sogar 300.000 (50.000 wurden

8 Vgl. Ronald Inglehart, The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles among Western Publics, Princeton 1977. 9 Vgl. Reiner Steinweg (Hrsg.), Die neue Friedensbewegung. Analysen aus der Friedensforschung, Frankfurt a.M. 1982.

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lediglich erwartet). 10 Die Zusammenarbeit verdichtete sich anläßlich der Vorbereitung von Großveranstaltungen. Nach den Erfolgen ließ die Friedensbewegung die Mobilisierungsphase hinter sich und versuchte, als Massenbewegung zu einem politischen Faktor zu werden. Die Institutionalisierung erfolgte mit dem zentralen Koordinierungsausschuß der Friedensbewegung (KA) im Jahre 1983. Dieses Gremium, das Politik oft als Gegenteil zum kultivierten Mythos von der Basisdemokratie praktizierte, hatte eine permanent besetzte Geschäftsstelle in Bonn und wurde von bis zu 30 Organisationen beschickt, auch den Grünen. Er führte Verhandlungen mit Kirchen-, Verbands- und Parteivertretern und leistete eine professionelle Öffentlichkeitsarbeit. Die Medien bevorzugten ihn als Ansprechpartner. 11 Auch die Deutsche Kommunistische Partei (DKP), deren eigentlicher politischer Einfluß als nicht-arrivierte Kleinpartei kontinuierlich minimal war, machte durch Nebenorganisationen wie das Komitee für Frieden, Abrüstung und Zusammenarbeit (KFAZ) und die Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte Kriegsdienstgegner e.V. (DFG-VK) ihre Interessen geltend. Dadurch hatte sie einen Zugriff auf das zentrale Gremium der Friedensbewegung, den sie durch geschlossenes Auftreten und kontinuierliche Präsenz sichern konnte. In den Sitzungen des Koordinierungsausschusses stellte die DKP bis zu 50 Prozent der Teilnehmer. Nach dem Stationierungsbeschluß von 1983 und der Aufstellung amerikanischer Pershing-II-Raketen ließ das Massenmobilisierungspotential der Friedensbewegung erkennbar nach. Im Herbst 1983 war mit den „Widerstandsaktionen" - maßgeblich von Autonomen initiiert - der Gipfel erreicht, danach folgte der stetige Abstieg. Der Schock, daß die Bundesregierung trotz der massiven Proteste den NATO-Nachrüstungsbeschluß vollzog, saß tief. Der Beschluß erschütterte die Friedensbewegung, die von allen sozialen Bewegungen wohl die komplizierteste Organisationsstruktur und das empfindlichste Innenleben besaß, in ihren selbstgesteckten Zielen. Die evangelische Kirche, zuvor in der Friedensbewegung vor allem während der „Gründungsphase" aktiv beteiligt, befaßte sich mit Friedenspolitik nur mehr sporadisch. Die „Friedenswochen" verflüchtigten sich, wiewohl mit anderen Themen verknüpft („für den Frieden, gegen Sozialabbau und Ausländerfeindlichkeit"). Mit zentralen Großaktionen sollte der Vollzug des Nachrüstungsbeschlusses rückgängig gemacht werden. Die Perspektivlosigkeit dieser Aktivitäten und die

10 Vgl. Lorenz Knorr , Geschichte der Friedensbewegung in der Bundesrepublik, Köln 1983, S. 197. 11 Vgl. Thomas Leif, Die professionelle Bewegung. Friedensbewegung von innen, Bonn 1985, S. 123.

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schon weit verbreiteten Ohnmachtsgefühle verhinderten jedoch neue inhaltliche Impulse. Zugleich stieg die Zahl derer, die zivilen Ungehorsam befürworteten, beträchtlich an; dieser erfuhr allmählich sogar allgemeine Akzeptanz.12 1984 kam es zwischen verschiedenen Mitgliedern des zentralen Koordinierungsausschusses der Friedensbewegung zu Konflikten über seine Aufgaben. Eine Spaltung konnte nur knapp verhindert werden, das Mißtrauen unter den Mitgliedern blieb. Basis war der kleinste gemeinsame Nenner, die Nachrüstung. Der „Minimalkonsens" wurde zwar immer von anderen, grundlegenderen Forderungen einzelner Organisationen und Spektren begleitet. Mehrheitsfähig waren die weitreichenderen Programme beispielsweise für die Überwindung der Abschrekkungspolitik oder einen durchgreifenden Antimilitarismus jedoch nicht. Das Repertoire gemeinsamer Forderungen schien ausgeschöpft. Auch eine halbjährige Beratungspause von Dezember 1984 an änderte an der Grundproblematik nichts. In der Folgezeit gab sich die Friedensbewegung Themenschwerpunkte, ohne sich festzulegen: konventionelle Abrüstung und atomwaffenfreie Zonen, Verringerung der Rüstungsausgaben oder die Forderung nach Aufnahme des Atomwaffenverzichts ins Grundgesetz.13 Angesichts des unübersehbaren und außerordentlich rasanten Entspannungsprozesses in Mitteleuropa wirkte die einst progressiv wirkende Friedensbewegung anachronistisch. Das Komitee für Grundrechte und Demokratie, Mitglied im Koordinierungsausschuß, stellte in einem offenen Brief an die Anhänger der Friedensbewegung resigniert fest: „Die Friedensbewegung läuft Gefahr, eine historische Chance zu verpassen. [...] Wie soll es weitergehen? Müssen wir dieses oder jenes Waffensystem an den Pranger stellen? Sollen wir atomwaffenfreie Korridore fordern? Haben nicht längst die Regierungen die Ziele der Friedensbewegung zu ihren eigenen gemacht, so daß Friedensbewegung, Parteien und Großorganisationen ein Bündnis eingehen sollten? Oder können wir uns sogar beruhigt zurücklehnen und alles weitere den Großen überlassen? Fragen über Fragen, unbewußte Wünsche, Hoffnungen, die Illusionen erzeugen und viele von uns handlungsunfähig machen."14 Die Ratlosigkeit war symptomatisch. Auch eine Radikalisierung, verbunden mit der Verbreitung des Themenspektrums beispielsweise durch eine Demonstration gegen die „mögliche Intervention der USA in Nica-

12 Vgl. Thomas Laker, Ziviler Ungehorsam. Geschichte - Begriff - Rechtfertigung, Baden-Baden 1986. 13 Vgl. Astrid Hölscher, Je größer die Ratlosigkeit, desto länger der Text. Beim großen Ratschlag der Friedensbewegten in Bonn wurde Streit vermieden und die Widersprüche blieben, in: Frankfurter Rundschau vom 3. November 1987. 14 Das Komitee für Grundrechte und Demokratie, „Die alte und immer wieder neue Frage: Was tun?". Offener Brief an die Friedensbewegung, in Frankfurter Rundschau vom 12. November 1987.

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ragua", konnte nicht verhindern, daß ab 1984 statt Hunderttausender nur noch einige Tausende auf die Straße gingen. In der Realität zeichnete sich die Friedensbewegung durch eine strategische Kurzatmigkeit aus: „Die Planungen knüpften meist an aktuelle Anlässe an, richteten sich nach dem Rhythmus von Aktion zu Aktion, unterlagen Themenkonjunkturen sowie Zeiterscheinungen und konnten dem Druck der Aktualitätsschübe kaum weichen."15 Die eine Friedensbewegung16 gab es zu keinem Zeitpunkt, zu groß war deren Heterogenität. Die Einigung der USA und der UDSSR 1987 über eine „Null-Lösung" bei den Mittelstreckenraketen sorgte für weitere Konfusion. Der zentrale Koordinierungsausschuß der Friedensbewegung löste sich 1989 auf, nachdem zuvor die Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste demonstrativ ausgetreten war. Dieser Beschluß markierte freilich nur die Anpassung an längst vorhandene politische Realitäten. Die Friedensbewegung war mit dem Anforderungsprofil einer umfassenden, langfristig angelegten Strategie überfordert. Zwei nachhaltige Wirkungen konnte sie gleichwohl herstellen: Erstens: Die Friedensbewegung entfachte eine Debatte über gewaltlosen und gewalttätigen Widerstand, besonders forciert von den autonomen Friedensgruppen. Eine ständige Suche nach neuen Aktionsformen kennzeichnete sie. Lokale Friedensinitiativen wurden beispielsweise ermuntert, ihre Gemeindevertretungen aufzufordern, den jeweiligen Ort per Gemeinderatsbeschluß zu einer „atomwaffenfreien Zone" zu erklären oder hilfsweise per Aufkleber ihre Häuser oder Wohnungen zu einer „atomwaffenfreien Zone" zu deklarieren. Die Initiatoren der Kampagne wußten, daß derartige Erklärungen lediglich von ihrer Symbolkraft lebten.17 Zweitens: Die Friedensbewegung verfügte über eine starke Außenwirkung, konnte auch wegen ihrer Professionalität eine Nähe zum etablierten Mediensystem herstellen und trotz ihrer Heterogenität zeitweise eine - scheinbar - kollektive Identität erzeugen. Sie gebrauchte ganz gewöhnliche Katalysatoren öffentlicher Aufmerksamkeit wie Diskussionsabende, Kongresse, medienwirksame Pressekonferenzen, Anzeigenkampagnen in der Presse, zudem juristische Mittel wie Petitionen an den Bundestag.18 Eine Art wissenschaftliche Friedensfor15 Thomas Leifl Die Friedensbewegung zu Beginn der achtziger Jahre. Themen und Strategien., in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 26/1989, S. 37. 16 Die Bezeichnung „Friedensbewegung" hatten sich die maßgeblichen Begründer selbst ausgesucht. 17 Wilfried von Bredow/Rudolf H. Brocke, Krise und Protest. Ursprünge und Elemente der Friedensbewegung in Westeuropa, Opladen 1987, S.157f. 18 Vgl. Karl-Heinz Stamm, Alternative Öffentlichkeit. Die Erfahrungsproduktion neuer sozialer Bewegungen, Frankfurt a.M./New York 1988, S. 190.

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schung sollte die eigenen Deutungsmuster argumentativ rechtfertigen und öffentlich untermauern.19 Medien wie Der Spiegel, Die Zeit, Stern oder Süddeutsche Zeitung trugen mit einer Art „kritischen Sympathie" zur Verbreitung der Friedensbewegung bei. Sie spielten dabei eine größere Rolle als die „bewegungsnahen" Selbstdarstellungsmedien wie beispielsweise die tageszeitung.20 Der Journalist Franz Alt, CDU-Mitglied, trat öffentlich für die Friedensbewegung ein und wurde deshalb vorübergehend von seinen Aufgaben als ARDFernsehmoderator entbunden. Gleichwohl waren Häufigkeit und Erscheinen der Friedensbewegung abhängig von konkreten Aktivitäten. Teilweise entstand eine regelrechte gesellschaftliche „Subkultur". Es kam zu einer Art zivilem Ungehorsam, begleitet von Sitzblockaden, einer symbolischen Inszenierung „von unten", die durch eine manipulierende Wesensart partiell zum bloßen Abbild symbolischer Politik „von oben" geriet. Die Friedensbewegung neigte zu unorthodoxen Maßnahmen wie Sit-ins und Go-ins, systematischen Regelverletzungen wie unangemeldete Demonstrationen und plakativen Sprüchen.21

4. Friedensbewegung und Parteien Eine für die Unterstützer der Friedensbewegung typische Orientierung war neben der Affinität zu den neuen sozialen Bewegungen und den Grünen die allgemein negative Wahrnehmung politischer Eliten. Die Einstellung zur Friedensbewegung lag gleichwohl nicht - wie oftmals behauptet wurde - „quer zu den etablierten Parteien"22. Sie folgte parteipolitisch einer Achse, die sich vom „rot-grünen" Lager, dem Mitglieder und Anhänger der Bewegung zuzuordnen sind, zum „christlich-liberalen" Lager, in dem sich die Gegner befanden. Das „Lagermodell" im Parteienspektrum spiegelte sich in der Friedensbewegung 19 Ein Beispiel dafür war Alfred Mechtersheimer, promovierter Politikwissenschaftler, der einer breiteren Öffentlichkeit durch sein Engagement als entschiedener Gegner des NATO-Doppelbeschlusses bekannt wurde. Er geriet darüber in Konflikt mit der CSU, die das Mitglied Ende 1981 von der Partei ausschloß. Seine friedenspolitischen Überlegungen vertrat Mechtersheimer weiterhin als Redner und Diskussionsteilnehmer. 1987 gelangte er als Parteiloser über die baden-württembergische Landesliste der Grünen für eine Legislaturperiode in den Bundestag. 20 Hans-Josef Legrand, Die bundesrepublikanische Friedensbewegung 1979-1988. Entstehung, Verlauf und Wirkungsaspekte einer neuen sozialen Bewegung, in: Ulrike C. Wasmuth (Hrsg.), Alternativen zur alten Politik? Neue soziale Bewegungen in der Diskussion, Darmstadt 1989, S. 229. 21 Vgl. Uwe Backes/Eckhard Jesse, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, 4. Aufl., 1996, S. 214-220. 22 Karl-Heinz Reuband, Politisches Selbstverständnis und Wertorientierungen von Anhängern und Gegnern der Friedensbewegung, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 16 (1985), S. 33.

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eindeutig wider. Im Vergleich zu anderen sozialen Bewegungen zeigte sich trotz des fortbestehenden Aufstiegs der Grünen eine relativ große Nähe zur SPD. Bis zum Koalitionsbruch 1982 besaß die Friedensbewegung auch vereinzelte Anhänger in der FDP. Lediglich die CDU/CSU-Anhänger waren offensichtlich in ihrer überwiegenden Mehrheit kontinuierlich immun gegen die Mobilisierungsbemühungen der Friedensbewegung.23 Die Union geriet durch das Aufkommen der Friedensbewegung zeitweilig in arge strategische Schwierigkeiten. Sie wollte die Friedensbewegung als kommunistisch inspirierte Erscheinung brandmarken und ihr mit der Klassifizierung „so genannte" die Identität entziehen. Die CDU fühlte sich nach Meinung ihres Generalsekretärs Heiner Geißler „im Kern getroffen, wenn man mit christlicher Argumentation unserer Sicherheitspolitik die Moral abspricht."24 Die Komponente der Entspannung in der sicherheitspolitischen Programmatik gewann in der Aufschwungsphase der Friedensbewegung unschwer an Bedeutung. Als Gegengewicht zu den Antikriegsdemonstrationen im Herbst 1983, dem Höhepunkt der Friedensbewegimg, startete sie eine Veranstaltungskampagne unter dem Motto „10.000 Friedenstage der CDU", um trotz weitaus geringerer Beteiligung die Medienpräsenz der Friedensbewegung zu schmälern. Die Union wollte vor allem auf die Rechtsbrüche innerhalb der Bewegung hinweisen, die den inneren Frieden des Landes gefährden würden.25 Die SPD, die als Regierungspartei unter Bundeskanzler Helmut Schmidt treu zum NATO-Doppelbeschluß stand, begann ab 1981 eine mit Vorsicht geführte direkte Auseinandersetzung mit der Friedensbewegung, besonders auf lokaler und regionaler Ebene. Die Devise lautete: Die Friedensbewegung ist ernst zu nehmen, insbesondere junge Menschen dürfen nicht „diffamiert" werden. Auf Parteitagen regionaler SPD-Gliederungen wurde die innerparteiliche Abneigung gegen den Doppelbeschluß so deutlich, daß Bundeskanzler Helmut Schmidt zum äußersten Mittel der Rücktrittsandrohung griff, um seine Partei hinter sich zu bringen. Der Verlust der Regierungsmacht 1982 brachte schließlich für die SPD die entscheidende Wende. Befreit vom übergeordneten Interesse der Regierungspartei appellierten prominente SPD-Politiker, die Stationierung durch Verhandlungen überflüssig zu machen. Die SPD wollte sich einen festen Platz in der Friedensbewegung sichern. Zudem zweifelte sie an der Ernsthaftigkeit

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Vgl. Rüdiger Schmitt , Was bewegt die Friedensbewegung?, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 18 (1987), S. 125. 24 Zit. nach Dieter Buhl , Herausforderung von der Straße. Der Bundestag muß sich der Friedensbewegung stellen, in: Die Zeit vom 9. September 1983. 25 Vgl. Hartmut Palmer, „Wir nehmen die Sorgen der Mitbürger ernst". Die „10.000 Friedenstage" der Union, in: Der Spiegel vom 26. September 1983.

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der amerikanischen Verhandlungsführung. 26 Die Friedensbewegung hatte damit erreicht, die sicherheitspolitische Einigkeit der etablierten Parteien aufzubrechen. Die weitere Entwicklung der SPD-internen Diskussion nach 1983 mündete in einer umfassenden Neubestimmung der sicherheitspolitischen Linie, die 1986 einen vorläufigen Abschluß fand. Als zentrales Konzept fungierte die Denkfigur der „Gemeinsamen Sicherheit"27: Sie implizierte die programmatische Abkehr von konfrontativer Sicherheit einschließlich atomarer Abschreckung. Das sicherheitspolitische Ost-West-Verhältnis sei folglich eine „Gefährdungsgemeinschaft", die zur „Sicherheitspartnerschaft" werden müsse. Die Rüstungspolitik sollte strikt defensiv gehalten werden, politisch die „Gemeinsame Sicherheit" auf der Grundlage von Entspannungspolitik stehen. Für die Friedensbewegung bedeutete die Annäherung der SPD, die freilich in der sozialdemokratischen Tradition der kollektiven Sicherheit stand, den Verlust der Meinungsführerschaft. Nachdem der Stern der Friedensbewegung am Sinken war, empfahl das SPD-Präsidium offiziell die Unterstützung der vom Koordinierungsausschuß organisierten Großveranstaltungen. Sie wollte in Idealkonkurrenz zu den Grünen möglichst viele Anhänger aus der „Konkursmasse" der Friedensbewegung gewinnen.28 Selbst der Vorsitzende der SPD, Willy Brandt, bekannte sich mit seiner Unterschrift am 17. Juni bei einer Volksbefragung der Friedensbewegung gegen die Raketenstationierung zum Schulterschluß zwischen der SPD und der Friedensbewegung.29 Die Grünen profitierten zu Beginn der 1980er Jahre davon, daß sich die Anhänger der Friedensbewegung zu einem erheblichen Teil aus der Ökologiebewegung rekrutierten. 30 Sie hatten sich als einzige bedeutende politische Partei komplett als Bewegungsorganisation in die Friedensbewegung eingegliedert. Ein programmatischer Eckpfeiler der Grünen war die Forderung nach einer einseitigen Abrüstung ohne Vorbedingungen, die in dem Wunsch nach einer Herauslösung der Bundesrepublik aus der NATO und der Auflösung der Militärblöcke gipfelte. Die Grünen bekannten sich daher ohne Einschränkung gegen die Verwirklichung des NATO-Doppelbeschlusses. Im Sinne ihres Grundprin26 Vgl. Hans Günter Brauch, Die Raketen kommen! Vom NATO-Doppelbeschluß bis zur Stationierung, Köln 1983, S. 226f. 21 Egon Bahr/Dieter S. Lutz (Hrsg.), Gemeinsame Sicherheit. Idee und Konzept, Bd. 1 und 2, Baden-Baden 1986/1987. 28 Günther Bannas, Die Finanzen der Friedensbewegung. Die SPD engagiert sich mit Personen und Geld, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. September 1984. 29 Vgl. Michael Ploetz, Wie die Sowjetunion den Kalten Krieg verlor. Von der Nachrüstung zum Mauerfall, München 2000, S. 200f. 30 Vgl. Gerd Langguth, Protestbewegung. Entwicklung - Niedergang - Renaissance. Die Neue Linke seit 1968, Köln 1983, S. 257.

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zips der Gewaltfreiheit lehnten sie jede militärische Verteidigung ab und wollten statt dessen gewaltfreie Strategien der sozialen Verteidigung entwickeln. Entsprechend forderten sie ein Verbot des Waffenhandels, die Umstellung der Rüstungsprotokolle auf zivile Produkte und den Abzug allerfremden Truppen vonfremden Territorien. 31 Bei den Bundestagswahlen 1980 erhielt die neu gegründete „Anti-ParteiPartei"32 1,5 Prozent der Zweitstimmen und scheiterte noch an der Fünfprozenthürde. Die ersten Parlamentssitze hatten die Grünen zu diesem Zeitpunkt bereits errungen: In Bremen hatte die dortige „Grüne Liste" bereits 1979 5,1 Prozent der Stimmen gewonnen. Auch in anderen Bundesländern konnten die Grünen schnell reüssieren. Bei der Bundestagswahl 1983 schließlich gelang der Einzug in den Bundestag. Zunächst konzipiert als parlamentarisches Spielbein des Alternativsektors, näherten sich die Grünen vor allem in der parlamentarischen Arbeit den etablierten Parteien an. Sie entwickelten sich schnell vom Auftragsempfänger des Alternativsektors zu einer eigenständigen politischen Kraft innerhalb des Alternativsektors. Den Grünen gelang es nach und nach, den starken Einfluß der DKP im Koordinierungsausschuß zurückzudrängen. Deren Versuch mit einem vor allem in Nordrhein-Westfalen aktiven Personenbündnis, der Friedensliste, eine neue politische Basis zu schaffen, scheiterte.33 Nach einer empirischen Studie anläßlich der Bundestagswahlen 1983 waren von denjenigen, welche die Grünen eventuell oder sicher wählen würden, 69,3 Prozent Unterstützer der Friedensbewegung.34 Mit gemischten Gefühlen sahen die Grünen, daß die SPD ab 1983 als aktiver Teilnehmer in die Friedensbewegung drängte. Lukas Beckmann, Sprecher der Grünen im Koordinierungsausschuß der Grünen, warnte davor, die vermeintliche Unabhängigkeit der Friedensbewegung durch die Beteiligung der Sozialdemokraten zu gefährden. 35 Neben den einzelnen Parteien selbst beteiligten sich zahlreiche Vertreter der Grünen und SPD aktiv in der Friedensbewegung; statt Verfeindung entstanden eine vorsichtige Verzahnung und begrenzte Zusammenarbeit. Die Friedenbewegung hatte in ihrer Aufschwungsphase mit Josef „Jo" Leinen, dem Vorsitzenden des Bundesverbandes Bürgerinitiativen Umweltschutz, ein Gesicht, das sie me31 Vgl. Ferdinand Müller-Rommel/Thomas Poguntke, Die Grünen, in: Alf Mintzel/Heinrich Oberreuter (Hrsg.), Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1990, S. 290. 32 Vgl. Petra Kelly , in: Der Spiegel vom 14. Juni 1982 (Interview). 33 So kandidierte die Friedenliste mit der Essener Theologin Uta Ranke-Heinemann, Tochter des Bundespräsidenten aD., als Spitzenkandidatin bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen 1985 und erreichte lediglich 0,7 Prozent der Stimmen. 34 Vgl. Schmitt (Anm. 4), S.133, FN 20. 35 Vgl. Thomas Leif, Die strategische (Ohn-)Macht der Friedensbewegung. Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen in den achtziger Jahren, Opladen 1990, S. 328.

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dienwirksam vertrat. Die umweltpolitischen Anliegen seines Verbandes verschmolzen zunehmend mit den Zielen der Friedensbewegung. Leinen, zugleich Mitglied der SPD-Umweltschutzkommission, wurde zum Symbol für spektakuläre, auch gewalttätige Großdemonstrationen. Der SPD-Ministerpräsidentenkandidat Oskar Lafontaine holte ihn als Zugpferd, um den Grünen in ihren Spezialpolitikfeldern Umwelt und Frieden Paroli bieten zu können. Mit Erfolg: Die SPD holte bei den Landtagswahlen im März 1985 eine knappe Mehrheit, die Grünen verfehlten den Einzug ins Parlament, und Leinen wurde als Umweltminister Mitglied des saarländischen Kabinetts. Lafontaine selbst gebrauchte ähnliche Argumentationsmuster wie die der Friedensbewegung: Die USA greife zu einer neuen Strategie der nuklearen Kriegsführung; ein Atomkrieg in Deutschland sei schreckliche Vision.36 Die SPD stand in direkter Konkurrenz zu den Grünen und profitierte in besonderer Weise. Vom 1. bis 3. September wurde vor der vorgesehenen Stationierungsbasis für Pershing-II-Raketen im schwäbischen Mutlangen eine Sitzblockade durchgeführt. Neben namhaften Schriftstellern wie Heinrich Böll, Günter Grass oder Walter Jens nahm eine Reihe von SPD-Politikern wie Erhard Eppler, Oskar Lafontaine, Hans-Ulrich Klose und Heide Wieczorek-Zeul teil. 37 Vor allem auf lokaler Ebene zeigten sich Parteivertreter der Grünen und SPD von Anfang an offen gegenüber der Friedensbewegung.

5. Unterwanderungsversuche Nach der herrschenden Lehre brauchte die SED keine Friedensinitiativen. Die DDR-Verfassung schrieb fest, daß der zweite deutsche Staat „eine dem Sozialismus und dem Frieden, der Völkerverständigung und der Sicherheit dienende Außenpolitik" betreibt, daß er sich für eine „Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, für eine stabile Friedensordnung in der Welt und eine stabile Anrüstung" einsetzt. Mit den verbalen Floskeln mit Blick auf den eigenen Staat ließ es die SED nicht bewenden; sie hatte einerseits die Angst, die westdeutsche Friedensbewegung könnte „überschwappen", andererseits sah sie die Chance, die Bundesrepublik nachhaltig zu destabilisieren.38 Bereits Monate vor der offiziellen Entscheidung der NATO über ihren Doppelbeschluß beherrschten dieser

36 Vgl. Oskar Lafontaine, Angst vor den Freunden. Die Atomwaffenstrategie der Supermächte zerstört die Bündnisse, Reinbek 1983. 37 Vgl. Schmitt (Anm. 4), S.100, FN 13. 38 Vgl. Karl-Heinz Baum, Pazifistische Töne sind nicht erwünscht. Die Friedensbewegung in der Bundesrepublik streift auch die DDR-Bürger, in: Frankfurter Rundschau vom 14. November 1981.

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absehbare Schritt des westlichen Verteidigungsbündnisses und die möglichen Reaktionen der bundesrepublikanischen Protestbewegungen die strategischen Überlegungen der SED. Die DDR wirkte als „unsichtbarer Bestandteil"39 der Friedensbewegung. Als Folge der Diskussion um den NATO-Doppelbeschluß sah sie die Gelegenheit für eine übergreifende Friedensbewegung und einen Zugriff auf die außerparlamentarische Protestbewegung in der Bundesrepublik - im Hintergrund spann die Sowjetunion die Fäden. Die sowjetische Strategie wollte eine antiamerikanische Stimmung in der Bundesrepublik erzeugen. SED-Medien ließen westliche Rüstungsgegner ausführlich zu Wort kommen. Die SED erarbeitete Konzeptionen für die Entwicklung des „Friedenkampfes" in Westdeutschland. Erich Mielke wollte die bundesdeutsche Friedensbewegung nicht nur wohlwollend begleiten, sondern auch fordern und unterstützen. Jeder Erfolg an der Seite der „friedliebenden Kräfte des Westens" setzte nach Ansicht der SED ein Zeichen gegen die westliche Hochrüstungspolitik und entlarvte den sozialen Rückschritt in der kapitalistischen Welt.40 Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) schleuste zu diesem Zweck zahlreiche Innoffizielle Mitarbeiter ein und baute sich ein Netzwerk von Bündnisorganisationen auf 41 Die Einflußnahme zeigte in der Organisation des Krefelder Appells mit seinem dramatischen Signum „Der Atomtod bedroht uns alle" im Herbst 1983 ihre Wirkung. Etwa 4,7 Millionen Menschen unterschrieben den Aufruf nach Angabe der Initiatoren. Der Appell brandmarkte den Raketenbeschluss der NATO als verhängnisvolle Fehlentscheidung und ließ die sowjetischen Raketen unerwähnt.42 Bekannte Persönlichkeiten wie Petra Kelly traten auf dem Forum in Krefeld auf. Die Organisation der Kampagne lag in der Hand von Josef Weber, einem ehemaligen Wehrmachtsoberst und Mitbegründer der Deutschen Friedensunion (DFU). Die Organisation, welche die KPD nach deren Verbot zu kompensieren versuchte, war mit ihrer Bundesgeschäftsstelle Kontaktadresse

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Bernadette Droste , Protestbewegung - deskriptive Vokabel für einen weiten Kreis von Verhaltensweisen und Bestrebungen. Entwicklungsgeschichtliche Skizze und verfassungsschutzrechtliche Überlegungen, in: Bundesamt für Verfassungsschutz (Hrsg.), 50 Jahre im Dienst der inneren Sicherheit, München 2000, S. 306. 40 Vgl. Ralf Georg Reuth, Genau wie es in der „Einheit" steht. Der Rektor der SEDAkademie schreibt über Friedenskampf und Klassenkampf, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. April 1987. 41 Vgl. Hubertus Knabe, Der lange Arm der SED. Einflußnahmen des Ministeriums für Staatssicherheit auf politische Protestbewegungen in Westdeutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 38/1999, S. 15f. 42 Vgl. Andrei S. Markovits/Philip S. Gorski, Grün schlägt Rot. Die deutsche Linke nach 1945, Hamburg 1997, S. 168.

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der Krefelder Initiative. Unterlagen aus dem Zentralkomitee der SED zeigen, daß die Geldmittel der DFU zum großen Teil aus der DDR stammten.43 Die Westabteilung äußerte sich über die Ostermärsche 1984 euphorisch: „Die Ostermärsche 1984 sind Ausdruck der erreichten politischen Breite der Friedensbewegung'. Bemerkenswert war über das traditionelle Spektrum der Friedensbewegung hinaus die weitaus größere Teilnahme von Betriebsräten, Mitgliedern und Funktionären der Gewerkschaften sowie von Sozialdemokraten. Flächendeckend fanden im gesamten Bundesgebiet Osteraktionen statt."44 Zugleich erkannte die SED im gleichen Jahr den fortschreitenden Auflösungsprozeß der Friedensbewegung und gab in einem Strategiepapier den Grünen dafür die Schuld: „Die Mitarbeit bestimmter Vertreter der Grünen war auf der letzten Aktionskonferenz der Friedensbewegung durch spalterische Bestrebungen gekennzeichnet. Sie stellten ihre Forderungen nach ,Emanzipation von den beiden Supermächten' und nach ,blockübergreifender Friedensbewegung' in den Vordergrund. Außerdem versuchten sie, die Friedensbewegung für die Einmischung in die inneren Angelegenheiten der sozialistischen Länder und durch Organisierung konterrevolutionärer Aktivitäten zu mißbrauchen."45 Auffällig war die opulente finanzielle Ausstattung der DKP-nahen Kräfte. In ihrem Rechenschaftsbericht für 1981, zu dem die DKP laut Parteiengesetz wie alle anderen Parteien verpflichtet war, gab sie Gesamteinnahmen von etwa 15 Millionen DM an. Tatsächlich erhielt sie unter anderem durch die Kommerzielle Koordinierung (KoKo) von Alexander Schalck-Golodkowski viereinhalb Mal so viel, nämlich über 69 Millionen DM jährlich. Allein für ihre Tarnorganisationen wie die Deutsche Friedensunion (DFU) oder das Komitee für Frieden, Abrüstung und Zusammenarbeit (KFAZ) gab die DKP 1989 für Gehälter und Honorare 10,1 Millionen DM im Jahr aus.46 Die starke Dominanz der DKP und ihrer Tarnorganisationen im Koordinierungsausschuß sorgte dafür, daß selbst Resolutionen, in denen nur verhaltene Kritik an der Sowjetunion geübt wurde, keine Mehrheit fanden 4 7 43 Deutscher Bundestag (Hrsg.), Der Bereich Kommerzielle Koordinierung und Alexander Schalck-Golodkowsky - Werkzeuge des SED-Regimes (Abschlußbericht des 1. Untersuchungsausschusses des 12. Deutschen Bundestages), Bonn 1994, Anlagenband 1, S. 305. 44 Zit. nach Michael Ploetz/Hans-Peter Müller, Ferngelenkte Friedensbewegung? DDR und UdSSR im Kampf gegen den NATO-Doppelbeschluß, Münster 2004, S. 346. 45 Zit. nach Ploetz (Anm. 29), S. 194. 46 Armin Boyens, „Geteilter Friede" - Anmerkungen zur Friedensbewegung in den achtziger Jahren, in: Heiner Timmermann (Hrsg.), Diktaturen in Europa im 20. Jahrhundert - der Fall DDR, Berlin, 1996, S. 422f. 47 Vgl. Alexander R. Alexiev, The Soviet Campaign Against INF. Strategy, Tactics, Means, Santa Monica 1985, S. 39.

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Das MfS erkannte, daß der Aufstieg der Grünen die DKP existentiell bedrohte. Sie wollte daher auf solche Organisationen einwirken, die größeren Einfluß hätten, und deren Initiativen wie den sozialdemokratischen Bielefelder Aufruf „begleiten". Während eines SPD-Parteitages im April 1982 kam es zum Versuch, durch Inoffizielle Mitarbeiter und Kontaktpersonen den politischen Druck auf die Parteiführung zu forcieren. Das Konzept sah vor, während der Tagung Initiativanträge zu formulieren, um die Manöver der Führung zu unterlaufen. 48 Gleichwohl ließ sich die Friedensbewegung nicht instrumentalisieren. So gelang es ihr nicht, die kritische Auseinandersetzung mit der sowjetischen Hochrüstung oder mit der Menschenrechtssituation in den sozialistischen Ländern zu unterbinden. Spätestens mit dem Auseinanderbrechen des Minimalkonsenses der Friedensbewegung nach dem Beginn der NATO-Nachrüstung wurde der Einfluß der SED rückläufiger. Letztlich scheiterte sie an den Strukturen einer pluralistischen Gesellschaft. 49 Es gelang ihr weder, die Friedensbewegung zu einem festen Bollwerk gegen den Westen zu formieren, noch, die Bundesrepublik zu destabilisieren. Die Annahme einer kommunistischen Steuerung der Friedensbewegung wirkt überzogen. Wie die Staatssicherheit in der Friedensbewegung konkret operierte, ist schwer nachzuzeichnen.50

6. Fazit Die Friedensbewegung, die eine direkte Mobilisierung des Publikums anstrebte, zeigte einen Populismus „von unten".51 Basisdemokratie innerhalb der Friedensbewegung war freilich ein Mythos, erfolgte doch der Versuch einer Institutionalisierung mit dem zentralen Koordinierungsausschuß der Friedensbewegung (KA). Das zentrale Organ hatte gleichwohl Schwierigkeiten, die heterogenen Kräfte zu bündeln. Durch die vielfältigen Motivationen war keine monolithische Organisation herstellbar. Der anfängliche starke Einfluß der DKP und ihrer Nebenorganisationen wurde durch den Kurswechsel der SPD ab 1983 und den Aufstieg der Grünen zurückgedrängt. Die Friedensbewegung war zu 48 Vgl. Rita Selitrenny/Thilo Weichert, Die Spionageabteilung der Stasi, Leipzig 1991, S. 196-200. 49 Vgl. dazu Udo Baron, Kalter Krieg und heißer Frieden. Der Einfluß der SED und ihrer westdeutschen Verbündeten auf die Partei „Die Grünen", Münster 2003, S. 267. 50 Vgl. Hubertus Knabe, Die unterwanderte Republik. Stasi im Westen, Berlin 1999, S. 251. 51 Populismus konstruiert mit bilderreicher Sprache eine direkte Verbindung zum „Volk", tritt agitatorisch, mit spontanem Eklat und einfachen Botschaften in einer gegen das Establishment gerichteten Haltung auf. Eine notorische Beschwerdeführung mit dem Gestus der chronischen Entrüstung zeichnet ihn aus. Auf die Friedensbewegung traf eben diese Charakterisierung zu.

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keinem Zeitpunkt eine Volksbewegung - trotz des hohen symbolischen Wertes ihrer öffentlichen Aktionen. Mehr als der kleinste gemeinsame Nenner „Protest gegen die Nachrüstung" konnte trotz vielfaltiger Bemühungen programmatisch nicht realisiert werden. Die Friedensbewegung, die sich als eine Art Befreiungsbewegung verstand, war ihrem Wesen nach eine Anti-Nuklearrüstungs-Bewegung, keine AntikriegsBewegung. Mit Beginn der sowjetisch-amerikanischen Abrüstungsverhandlungen verlor die westdeutsche Friedensbewegung ihre Mobilisierungswirkung. Ihr Zerfall schien nach dem Ende der Nachrüstungsdebatte eine Frage der Zeit. Radikalisierung und Streitigkeiten im Koordinierungsausschuß taten ein Übriges. Bereits bei den Bundestagswahlen im März 1983 reüssierten mit CDU und FDP jene Parteien, die sich im Wahlkampf eindeutig für den Nato-Doppelbeschluß einschließlich der Stationierung bekannt hatten. Von 1984 an konnten sich kein Themenschwerpunkt und kein breit akzeptierter Forderungskatalog durchsetzen. Interne Machtkämpfe brachen aus. Parallel zu der abnehmenden Mobilisierung verlor die Friedensbewegung die Fähigkeit, mit einem von allen Strömungen getragenen Programmprofil in die Öffentlichkeit zu treten. Eine Bewegung lebt von ihrer Dynamik, braucht kontinuierlich neue Anreize. Diese waren immer schwieriger zufinden. Die westdeutsche Friedensbewegung konnte, obwohl sie stark auf die sicherheitspolitischen Positionen aller politischen Parteien wirkte, die nationale Verteidigungspolitik entgegen der eigenen Vorstellungen kaum beeinflussen. 52 Die Bevölkerung wurde aber nicht zuletzt durch die professionelle Öffentlichkeitsarbeit für sicherheitspolitische Themen sensibilisiert. Eine Rekonstruktion der Unterwanderungsversuche seitens der DDR erweist sich als schwieriges Unterfangen. Fest steht, daß es vielfaltige Versuche der Einflußnahme gegeben hat - nicht nur auf die DKP und deren Nebenorganisationen, die im Koordinierungsausschuß eine wichtige Funktion innerhalb der Friedensbewegimg gerade in ihrer Aufschwungsphase ausübte, sondern auch auf SPD und Grüne. Gleichwohl wäre die Annahme einer kommunistischen Steuerung übertrieben, obgleich die westdeutsche Friedensbewegung in den strategischen Überlegungen eine wichtige Rolle spielte. Als deren Mobilisierungspotential deutlich abnahm, resignierte die SED und sah vornehmlich die Grünen als Sündenbock.

52 Vgl. Wolfgang Riidig, Peace and Ecology Movements in Western Europe, in: West European Politics, 11 (1988), S. 37.

Familienpolitik in Deutschland Bilanz eines schwierigen Politikfeldes

Von Irene Gerlach

1. Einleitende Überlegungen Familie gehört zu den kulturellen Universalien; dennoch gibt es eine Vielfalt unterschiedlicher Leitbilder, Funktionsvorstellungen und empirischer Ausprägungen von Familie. Familie wird in Phasen des gesellschaftlichen Umbruchs oft zum Kerninhalt staatlicher Steuerungsversuche mit dem Mittel des Rechts, der Moral oder auch des Geldes. Dies kann deutlich am unterschiedlichen Umgang von Politik und Gesellschaft mit Familie in der DDR und der Bundesrepublik Deutschland veranschaulicht werden, dessen Nachwirkungen auch heute - 15 Jahre nach der deutschen Einigung - zu spüren sind. Zu den Schlüsselinhalten von Familienpolitik gehört die staatlichgesellschaftliche Vermittlung eines erwünschten Familienleitbildes, für das jeweils insbesondere das Verhältnis von Erwerbsarbeit und Familienarbeit, die Festlegung von Männer- und Frauenaufgaben von Bedeutung war. In der Zeit zwischen 1945 und 1990 lassen sich im Vergleich der beiden Teile Deutschlands insbesondere im Hinblick auf die Bedeutung der mütterlichen Erwerbstätigkeit zumindest für die ersten Jahrzehnte erhebliche Unterschiede feststellen. Erstaunlich dabei ist die lange andauernde Nachwirkung entsprechender Leitbilder, die sich z.B. noch heute im Hinblick auf die Akzeptanz von Fremdbetreuung von Unter-Drei-Jährigen im Osten und Westen nachweisen lässt. Die Unterschiede in den Lebenssituationen von ost- und westdeutschen Familien erklären sich darüber hinaus aber vor allem aus den jeweiligen Verhältnissen des Arbeitsmarktes. Die folgende Bilanz vergleicht zunächst die familienpolitischen Leitbilder der DDR und der Bundesrepublik und gibt anschließend einen Überblick über die wichtigsten Maßnahmen, und - anhand ausgewählter Inhalte - der Situation von Familien in Ost und West. Es folgt eine kurze Beschreibung einigungsbedingter Familienpolitik. Der Aufsatz schließt mit einer Skizze zentraler aktueller und zukünftiger Handlungserfordernisse.

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2. Die unterschiedlichen Leitbilder der Familienpolitik in der Bundesrepublik und der DDR Zentral für die marxistisch-leninistische Auseinandersetzung mit der Familie wie für die Politik-in der DDR war das sozialistische Emanzipationsverständnis, wonach die materielle Sphäre (der Produktion) die wichtigste Quelle der Persönlichkeitsentwicklung ist und die Arbeitsmoral als Basis der Familienmoral gilt.1 Entsprechend betonte Walter Ulbricht vor dem V. Parteitag der SED 1958, „dass sich die Umerziehung des Menschen zur bewussten Beachtung und Anerkennung sozialistischer Verhaltensweisen am klarsten und eindeutigsten im Arbeitskollektiv vollziehe und somit die Arbeitsmoral auch die wichtigste Quelle der Familien[moral] sei".2 Folgerichtig war eine möglichst rasche Verwirklichung von Gleichberechtigung der Geschlechter, und zwar durch durchgängige Teilnahme der Frauen am Produktionsprozess, vorrangiges Ziel der DDRFamilienpolitik, die genau genommen bis weit in die 60er Jahre hinein eigentlich eher als Frauen- bzw. Arbeitspolitik und -gesetzgebung bezeichnet werden muss. In der Bundesrepublik Deutschland dagegen galt die Familienpolitik der 50er undfrühen 60er Jahre dem Ziel, die Familie in ihrer bürgerlichen Ausgestaltung mit geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung, d.h. der männlichen Erwerbsarbeit und der weiblichen Haus- und Familienarbeit zu stärken. Erst 1977 wurde das Leitbild der Hausfrauenehe aus dem BGB „getilgt". Bezüglich eines Leitbildes der Familienpolitik in der Bundesrepublik Deutschland lassen sich Konturen nicht so eindeutig zeichnen wie bei der DDR. Zum einen muss in der Bundesrepublik einerseits zwischen dem Leitbild unterschieden werden, wie es durch das Grundgesetz in den Art. 1, 2, 3, 6 und 20, das Bürgerliche Gesetzbuch und schließlich die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes definiert wurde. Andererseits aber lassen sich ganz erhebliche Verschiebungen der politischen Leitbilder von Familie im Verlauf des Bestehens der Bundesrepublik Deutschland feststellen, die sich sowohl in der Rechtsentwicklung als auch im Familienverständnis der Parteien niedergeschlagen haben. Wenn es auch beim Leitbild der DDR-Familienpolitik vor allem in den 70er Jahren zu Modifizierungen kam, die in der fehlenden durchgängigen Akzeptanz des durch die SED formulierten Familienleitbildes begründet waren und zu stark sinkenden Geburtenraten geführt hatten, die durch die weibliche Doppelbelastung von Familie und (geforderter) Erwerbstätigkeit ausgelöst wurden. Das neue Leitbild betonte

1

Vgl. Gisela Helwig,

Frau und Familie in beiden Deutschen Staaten, Köln 1982,

S. 8. 2 Zitiert nach Gisela Helwig, Stichwort „Familie", in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DDR Handbuch, Köln 1987, S. 371.

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nun die gleichwertige Bewertung von Familien- und Berufsarbeit, 3 gleichwohl blieb die mütterliche Erwerbstätigkeit bis zum Ende der DDR unverzichtbar. Sowohl die Verfassung als auch das 1965 verabschiedete Familiengesetzbuch formulierten das Leitbild einer staatlich und gesellschaftlich zu schützenden und zu fordernden Familie, die auf der durch das Gleichberechtigungsprinzip zwischen den Ehepartnern beruhenden Ehe aufbaut. Sie wurde als „Grundkollektiv" der sozialistischen Gesellschaft verstanden, das zu anderen Kollektiven wie denen im Betrieb, in der Hausgemeinschaft und in der Schule in Beziehung steht, dies mit der Intention der völligen gesellschaftlichen Integration.4 Mit Blick auf den hohen Stellenwert der Frauenerwerbstätigkeit formulierte das Familiengesetzbuch der DDR die gegenseitige Verpflichtung der Ehepartner, ihre Beziehung so zu gestalten, dass beide das Recht auf Entfaltung ihrer Fähigkeiten zum eigenen und gesellschaftlichen Nutzen voll wahrnehmen, wobei darauf zu achten sei, dass „die Frau ihre berufliche und gesellschaftliche Tätigkeit mit der Mutterschaft vereinbaren kann" (Familiengesetzbuch § 2 u. 10). Bezüglich der Entwicklung in der Bundesrepublik kam es vor allem durch Recht zu ganz grundlegenden Änderungen der Leitbilder. Beispielhaft sei die (durch das Bundesverfassungsgericht 1957 erzwungene) Anpassung des Bürgerlichen Gesetzbuches an den Art. 3 GG genannt, der das Gleichberechtigungsprinzip auch auf die Familie übertrug, ebenso das Nicht-Ehelichen-Gesetz von 1969, mit dem nichteheliche Kinder den ehelichen (nahezu) gleichgestellt wurden, sowie die endgültige Aufgabe des Leitbildes der Hausfrauenehe mit der Ehe- und Familienrechtsreform im Jahr 1977. In der DDR war Gesellschafts- und Familienpolitik von 1971 an bestimmt durch die von der SED verkündete Ideologie der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik".5 Familienpolitik als institutionell abgegrenzte Policy, so wie es sie in der Bundesrepublik seit der Gründung des Bundesfamilienministeriums im Jahr 1953 gibt, gab es in der DDR nicht. Gleichwohl ist die Familienpolitik auch in der Bundesrepublik Deutschland von Anfang an immer mit sozialpolitischen Maßnahmen verbunden gewesen. In diesem Zusammenhang ist besonders die Entwicklung des Konzeptes der sozialen Marktwirtschaft von Bedeutung, das Familie als wichtige Institution im Rahmen des Subsidiaritätsprinzips einordnete.

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Vgl. Ulrike Enders, Kinder, Küche, Kombinat - Frauen in der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 6-7/1986, S. 26-37, hier S. 29; Helwig (Anm. 2), S. 371. 4 Vgl. Helwig (Anm. 1), S 8. 5 Martina Schuster/Annegret Tügel, Die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Kindererziehung - Ein Vergleich von Leitbildern und Regelungen in der DDR und in der BRD, in: Arbeit und Sozialpolitik 8/9 (1990), S. 318.

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Ein wesentlicher Unterschied der familienpolitischen Konzeptionen in den beiden ehemaligen Teilen Deutschlands zeigt sich mit Blick auf das bevölkerungspolitische Motiv. Spätestens von den 70er Jahren an war die Sicherung des erreichten Bevölkerungsstandes durch pronatalistische Maßnahmen erklärtes und propagiertes Ziel der DDR-Familienpolitik.6 Konkret wurde von der Mitte der 70er Jahre an die Drei-Kinder-Familie bzw. die Mehr-Kinder-Familie zur gewünschten sozialistischen Normfamilie erklärt. 7 In der Bundesrepublik war es dagegen lange tabuisiert, bevölkerungspolitische Ziele mit Familienpolitik zu verbinden. Trotz der Unterschiede in den Leitbildern von Familie und Familienpolitik in beiden Teilen des deutschen Staates, können auch eine Reihe von Gemeinsamkeiten festgestellt werden. So ist für beide Leitbilder die im Prinzip mit lebenslanger Perspektive geschlossene Ehe Grundlage der Familie, und beide gehen von einem grundsätzlichen staatlichen Schutz- und Förderungsgebot der Familie aus. Auf den ersten Blick zeigen sich maßgebliche Unterschiede darin, dass das familienpolitische Leitbild der DDR von der Zielsetzung der durchgängigen weiblichen Erwerbstätigkeit dominiert war. Bei genauerem Hinsehen kann aber davon ausgegangen werden, dass es im Verlauf des Bestehens der beiden Staaten zu einer diesbezüglichen Angleichung kam. Wurde in der DDR spätestens seit den 70er Jahren die weibliche Familienarbeit aufgewertet, so sind die familienpolitischen Leitbilder in der Bundesrepublik spätestens seit Beginn der 80er Jahre durch eine zunehmende Akzeptanz eines „doppelten weiblichen Lebensentwurfes" mit paralleler oder serieller Erwerbsarbeit und Familientätigkeit gekennzeichnet.

3. Entwicklung der Familienpolitik in Deutschland 3.1 Entwicklung der Familienpolitik in der Bundesrepublik Ein Schlüsseldatum der Familienpolitik der Bundesrepublik Deutschland8 war das Jahr 1953, in dem der Beschluss gefasst wurde, ein Bundesfamilienministerium einzurichten. Leitziel schien zunächst der vor allem weltanschaulich 6 Vgl. Anita Grandke/Jürgen Leymann, Jürgen, Die Verantwortung der örtlichen Staatsorgane bei der Verwirklichung sozialistischer Familienpolitik, in: Neue Justiz (1971), S. 162; Schuster/Tügel (Anm. 5), S. 324. 7 Vgl. Gesine Obertreis, Familienpolitik in der DDR 1945-1980, Opladen 1986, S. 301. 8 Zur detaillierten Darstellung vgl. für die DDR: Irene Gerlach, Familie und staatliches Handeln. Ideologie und politische Praxis in Deutschland, Opladen, 1996; für die Bundesrepublik und Gesamtdeutschland: dies., Familienpolitik, Wiesbaden 2004.

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verankerte Institutionenschutz, wonach es der Familienpolitik vor allem darum ging, die familiale Leistungserbringung durch die in Arbeitsteilung und Rollenwahrnehmung traditionell bestimmte Familie zu sichern. Entsprechende Maßnahmen waren in eine Sozialpolitik eingebettet, die sicherstellen sollte, dass Elternschaft nicht zum Grund für Armut würde. Frauen- bzw. Müttererwerbstätigkeit wurde als Bedrohung der Funktionserfüllung von Familie gesehen. In den 60er Jahren begann Familienpolitik langsam, sich einer Öffnung des traditionellen Familienbildes zu stellen, indem einerseits Frauenerwerbstätigkeit nicht mehr in dem Maße kritisiert wurde, wie dies zuvor der Fall gewesen war, andererseits aber Einflüsse aus der Gesellschaft, insbesondere aus der 68er Bewegung die politisch wirksamen Leitbilder erfassten und eine flexiblere Sicht von Familienrealitäten vorbereiteten. Eine Schlüsselstellung für die Beschreibung von Familienrealitäten und die Markierung politischer Handlungsnotwendigkeiten entwickelten die Familienberichte, die seit Ende der 60er in unregelmäßigen Abständen verfasst werden. Derzeit steht der 7. Familienbericht kurz vor seiner Veröffentlichung. Mit der Regierungsübernahme durch die sozialliberale Koalition im Jahr 1969 kam es zum Umschlag einer die Familie in ihrer klassischen Zusammensetzung stärkenden Politik zu einer Politik, die schwerpunktmäßig Rechte einzelner Familienmitglieder in ihrem Fokus hatte. Wichtige Schritte der Familienpolitik waren nun die rechtlich-praktische Öffnung des Familienbegriffes (Nichtehelichengesetz, Adoptionsgesetz, Ehe- und Scheidungsrechtsreform) und die Durchsetzung von Familienmitgliederinteressen insbesondere von Frauen und Kindern. Familienpolitik verstand sich als Teil einer gestaltenden Gesellschaftspolitik. Das Hauptaugenmerk der Frauenpolitik im Rahmen der Familienpolitik (die seit 1972 in Form des Frauenreferates im Bundesministerium für Familie, Jugend und Gesundheit institutionalisiert ist) war auf die Vereinbarkeit von Erwerbs- und Familientätigkeit gerichtet. Die wichtigste Maßnahme war die Einführung des Mutterschaftsurlaubes im Jahr 1979, für berufstätige Frauen. Ein weiterer Schwerpunkt der Familienpolitik lag in der gleichmäßigen Verteilung von Mitteln des Familienlastenausgleiches nach der Zahl der Kinder und unabhängig vom Einkommen der Eltern (Kindergeld für alle Kinder, Abschaffung der steuerlichen Kinderfreibeträge). Die christlich-liberale Regierung kehrte ab 1982 zum Modell eines einkommensbezogenen Familienlastenausgleiches zurück, indem sie die steuerlichen Freibeträge für Kinder wieder einführte und sukzessive anhob, dies allerdings in Reaktion auf Urteile des Bundesverfassungsgerichtes. Das Kindergeld wurde vom zweiten Kind an einkommensabhängig gezahlt, und ein Kindergeldzuschlag für Eltern, die wegen zu geringen Einkommens die Steuerfreibeträge nicht nutzen konnten, wurde geschaffen. Der ebenfalls vom Bundesverfassungsgericht erzwungene Wechsel zum „Optionsmodell" des Familienlastenbzw. Leistungsausgleichs im Jahr 1996 galt dem Ziel der steuerlichen Freistel-

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lung des kindlichen Existenzminimums, instrumenten über die Auszahlung von Kindergeld oder, wenn es nach Einkommen der Eltern vorteilhafter war, durch Steuerfreibeträge umgesetzt. Die realen Werte für das kindliche Existenzminimum lagen jedoch schon im Jahr des Inkrafttretens über den entsprechenden Leistungen bzw. Erstattungen. Der Wechsel vom Mutterschaftsgeld zum Erziehungsgeld (1986), das nunmehr von allen Eltern - nicht nur Von erwerbstätigen Müttern - bezogen werden konnte, symbolisierte eine Hinwendung der Familienpolitik zu diversifizierten Lebensentwürfen ebenso wie zu einer leistungsgerechten Bewertung von Familie, d.h. sowohl Erwerbstätigkeit als auch Familienarbeit werden in ihrer gesellschaftlichen und persönlichen Bedeutung anerkannt und honoriert. Die Einkommensgrenzen für die Zahlung des ungekürzten Erziehungsgeldes blieben jedoch bis 2001 unverändert, und auch die Anpassung im Rahmen der Reform des Bundeserziehungsgeldsgesetzes 2001 war so gering, dass die Mehrzahl der Familien das Erziehungsgeld nach dem siebten Lebensmonat des Kindes nicht mehr in voller Höhe erhält. Diese gesellschaftliche (und finanzielle) Anerkennung von Familienleistungen ist der Anerkennung von Pflegeleistungen durch die Familie ab 1989 geschuldet. Gleiches gilt für die Anrechung der Kindererziehungsjahre in der Rentenversicherung mit 100 Prozent des durchschnittlichen Einkommens ab 2000. Eine entsprechende Anerkennung der Diversifizierung von Lebensformen und eine damit verbundene Lockerung des politischrechtlichen Bildes der „Normfamilie" kann auch in der Einführung und sukzessiven Erhöhung von Haushaltsfreibeträgen und Kinderbetreuungskosten für Alleinerziehende gesehen werden, die mit den 80er Jahren begann. Wesentliche Änderungen im Familienlastenausgleich wurden in der Zeit der rot-grünen Koalition durch Urteile des Bundesverfassungsgerichtes erzwungen. Die Anpassungen im Familienlastenausgleich, die 2000 bis 2002 mit dem Ziel geschahen, der Verwirklichung von horizontaler Steuergerechtigkeit gerecht zu werden, sind durch die Abzugsfähigkeit von unvermeidbaren Kosten der Erziehung und Betreuung für Eltern vor allem als Schritte auf dem Weg der Anerkennung von Familienleistungen zu sehen. Dies gilt - wiewohl nur in sehr bescheidenem Ausmaß - auch für gewisse Familienkomponenten der Rentenreform 2001. Für die Entwicklung der deutschen Familienpolitik in den 90er Jahren und den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts war nicht nur die relative Verbesserung der wirtschaftlichen Situation von Familien durch erhöhtes Kindergeld und höhere Freibeträge von Bedeutung, sondern auch die Tatsache, dass Mindesthöhe und Struktur der Leistungen weitgehend verfassungsrichterlich vorgegeben waren und daher ihre traditionelle Rolle als finanzpolitische Manövriermasse aufgegeben hatten. Was Reformen des BGB angeht, sind vor allem die Kindschaftsrechtsreform 1998 sowie - von der rot-grünen Koalition verabschiedet das Lebenspartnerschaftsgesetz des Jahres 2001 nach den bedeutsamen Zäsuren der Rechtsentwicklung in den 70er Jahren als weitere wesentliche Schritte der

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Rechtsanpassung an gelebte Formen von Familie und der Öffnung des Familienbegriffes einzuordnen. Mit den Maßnahmen wurde eine Entwicklung fortgesetzt, in deren Zusammenhang der Familienbegriff unter zunehmender Akzeptanz empirischer bzw. gelebter Familienwirklichkeiten offener gestaltet worden ist und in der sich das Leitbild von Familienpolitik im Verlauf des Bestehens der Bundesrepublik Deutschland immer stärker der sozialen Realität angepasst hat, nachdem zu Beginn der Institutionalisierung von Familienpolitik versucht worden war, staatliche Politik gelebten Entwicklungen entgegenzusetzen. Diese Anpassung des Leitbildes erfolgte dabei größtenteils im Nachhinein, d.h. wir können durchaus von einem „political lag" in der Formulierung von normativen Grundlagen der Familienpolitik sprechen. Ein Rückblick auf die Familienpolitik der letzten Jahrzehnte lässt vier Handlungsbereiche erkennen, die sich allerdings gegenwärtig in sehr unterschiedlichen Entwicklungsstadien befinden: Diese Kernbereiche der Familienpolitik, wozu die Anerkennung pluraler Familienformen, Reformen des Familienlastenausgleichs, eine tendenzielle gleichberechtigte Anerkennung familialer und erwerbswirtschaftlicher Leistungen durch Maßnahmen wie das Erziehungs- bzw. Elterngeld und schließlich eine zunehmend kompatible Gestaltung von Familien-, Arbeits- und Bildungssystem gehören, haben sich in den letzten Jahrzehnten systematisch entwickelt, und zwar über Regierungswechsel hinweg. Die Familienpolitik scheint demnach einen eigendynamischen Charakter entwickelt zu haben, demzufolge von einer politics-Determination des Policy-Bereiches auszugehen ist. Dies ergibt sich einerseits durch die Tatsache, dass Familienpolitik sich immer weiter von ihrer klassischen Weltanschauungsprägung entfernt hat, andererseits durch die zunehmende Dominanz eines politischen Akteurs, der eigentlich nicht zu den Gestaltern von Politik im Zusammenhang der Verfassungsordnung Deutschlands gehört: des Bundesverfassungsgerichtes.

3.2 Entwicklung der Familienpolitik in der DDR Ist es im Hinblick auf die Entwicklung einer systematischen Familienpolitik in der Bundesrepublik Deutschland schon schwierig, deren Beginn zu markieren und deren organisatorische Grenzen zu bezeichnen - wird von dem eher symbolisch bedeutsamen Datum der Ministeriumsgründung abgesehen so gilt dies in besonderem Maße für die DDR. Hier gab es, mit Ausnahme der kurzen Regierungszeit unter Lothar de Maiziere im Jahr 1990, in der von der Regierungsbildung am 14. April bis zum Beitritt der DDR ein Ministerium für Frauen und Familie unter Leitung von Christa Schmidt (CDU) existierte, kein Ministerium, das ausschließlich für Familienpolitik zuständig war. Gesetze und Maßnahmen mit Wirkung auf die Lebenssituation von Familien wurden entworfen als Bestandteile der Arbeits- und Sozialpolitik - insbesondere unter dem Primat der Einheit von Sozial- und Arbeitspolitik-, der Justiz-, der Bildungs- und der

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Gesundheitspolitik (hier die Hauptabteilung Mutter und Kind im Ministerium für Gesundheitswesen) und von der Volkskammer verabschiedet. Den westdeutschen Familienberichten vergleichbare Schlüsseldokumente zur Familienpolitik gab es in der DDR nicht. Im Rückblick lassen sich drei politische Handlungsfelder identifizieren, in denen dem Inhalt nach Familienpolitik stattfand: in der Frauenpolitik im Sinne einer nach dem Gleichberechtigungsprinzip strukturierten Arbeitspolitik (Ministerium für Arbeit und Berufsbildung); in der Gesundheitspolitik im Sinne einer umfassenden medizinischen und sozialen Versorgung von Schwangerschaft, Geburt und Kinderbetreuung (Ministerium für Gesundheitswesen, insbes. Hauptabteilung Mutter und Kind, die Abteilung wurde 1958 in Hauptabteilung Soziale Betreuung umbenannt); in der Bildungspolitik im Sinne einer systematischen Entlastung der Familie von Erziehungs- und Sozialisationsaufgaben und einer durchgesetzten inhaltlichen Bindung von Erziehung an die Staatsziele (Ministerium für Volksbildung). In den 50er Jahren galt das Hauptaugenmerk der SED der systematischen Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt und einer Qualifizierung des weiblichen Arbeitskräftepotentials. Im ersten Fünfjahresplan war daher eine Erhöhung des Frauenanteils an den Erwerbstätigen auf 42 Prozent vorgesehen. Eine entsprechende Rate konnte allerdings nur sehr viel langsamer realisiert werden: 1951 waren 25 Prozent der Frauen erwerbstätig, zum Ende des ersten Fünijahresplans wurde nur ein Anteil von 37 Prozent erreicht.9 Der Staat antwortete auf diese Verzögerungen der Realisierung seiner Planung nicht zuletzt unter dem Druck ständig sinkenden Erwerbspersonenpotenzials durch Abwanderung in den Westen mit einer „Frauenoffensive" zum Ende der 50er Jahre, mit der es gelingen sollte, das Arbeitskräftereservoir der nicht berufstätigen Frauen besser auszuschöpfen. In ihrem ersten Abschnitt (1958 bis 1960) war die „Frauenoffensive" vor allem von dem Ziel getragen, die Frauen überhaupt in den Arbeitsmarkt zu integrieren, in ihrer zweiten Phase wurde Wert auf die Qualifizierung von Frauen gelegt. Diese „Frauenoffensive" wurde mit großem propagandistischen Aufwand und einer Vielzahl von Frauenkonferenzen eingeleitet, die sich mit der Rolle der Frau in der sozialistischen Gesellschaft beschäftigten. 10 Die Frauenqualifizierungspolitik der 60er Jahre wurde durch das vom Politbüro des Zentralkomitee der SED 1961 verkündete Frauenkommunique („Die Frau, der Frieden und der Sozialismus") sowie einen sich anschließenden Ministerratsbeschluss zu dessen Durchführung („Ministerratsbeschluß über die 9 Vgl. Petra Koch/Hans Günther Knöbel, Familienpolitik der DDR im Spannungsfeld zwischen Familie und Berufstätigkeit von Frauen, Pfaffenweiler 1988, S. 48. 10 Vgl. Obertreis (Anm. 7), S. 142.

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Aufgaben der Staatsorgane zur Förderung der Frauen in Durchführung des Kommuniques des Politbüros des ZK der SED") eingeläutet. Nicht mehr die Integration der Frauen in das Erwerbsleben sollte allein Ziel der Politik sein, sondern eine systematische Qualifizierung der Frauen, die nicht zuletzt auch als Garantin für die Herausbildung sozialistischer Persönlichkeiten und sozialistischer Familienbeziehungen gesehen wurde. Die klassische marxistische Emanzipationstheorie wurde modifiziert, von nun an hing der Grad der Emanzipation nicht von der Erwerbstätigkeit als solcher ab, sondern vom Qualifikationsstand der Frauen. Interessant an der familienpolitischen Entwicklung derfrühen 60er Jahre ist zweierlei: Zum einen waren die angestrebten Qualifizierungsmaßnahmen mit entsprechenden Maßnahmen zur Erleichterung der Vereinbarkeit von Familien- und Berufsarbeit verbunden. Ein „doppeltes Frauenbild", in dem auch die Familienaufgaben ihren festen und gesellschaftlich anerkannten Platz hatten, entwickelte sich zum offiziellen Bild der Partei. Zum anderen waren aber die frauen- und familienpolitischen Diskussionen und Maßnahmen mit einer Umorientierung wirtschaftspolitischer Leitlinien konfrontiert. Die zunehmende Kritik am zentralen Planungs- und Leitungssystem und das Scheitern des Siebenjahrplanes (1956 bis 1962) führten zur Verabschiedung eines neuen Planungsund Leitungssystems („Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft") auf dem VI. Parteitag der SED im Januar 1963.11 Im Jahr 1974 wurde berechnet, dass die verheirateten berufstätigen Frauen täglich durchschnittlich fünf Stunden für hauswirtschaftliche Tätigkeiten und die Pflege und Betreuung von Personen aufwenden mussten, davon allein 100 Minuten für die Zubereitung von Mahlzeiten, wenn alle Mitglieder der Familie an Gemeinschaftsverpflegungen partizipierten und sogar 248 Minuten, wenn dies nicht der Fall war. 12 Zusätzlich erschwert wurde für die Frauen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf dadurch, dass mit Beginn der 70er Jahre zur besseren Nutzung der „Grundfonds" (Maschinen, Gebäude, Anlagen) immer stärker Schichtarbeit eingesetzt wurde, an der Frauen im Zwei- und Dreischichtsystem teilnahmen.13 Spätestens nach Inkrafttreten des Familiengesetzbuches im Jahr 1965 setzte eine Entwicklung in der Bevölkerung ein, die als Ausdruck der Unwilligkeit (vor allem der Frauen) gesehen werden muss, die Konsequenzen aus der Widersprüchlichkeit zwischen Familienleitbild und familialer, durch massive Doppelbelastungen der Frauen gekennzeichneter Alltagspraxis zu tragen. Der Anteil der Frauen, die von einer Voll- zu einer Teilzeitbeschäftigung übergingen, wuchs ständig; dies war aufgrund des Arbeitskräftemangels wie des propagierten Frauen- und Familienleitbildes in hohem Maße unerwünscht. Die 11 12 13

Vgl. ebd., S. 166. Vgl. Koch/Knöbel (Anm. 9), S. 59-63. Vgl. ebd., S. 88.

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Geburtenrate sank gleichzeitig rapide. Sie betrug noch 1950 16,5 Lebendgeborene pro 1000 Einwohner und verringerte sich auf 13,9 im Jahr 1979.14 Die Anzahl der Ehescheidungen nahm dagegen - vermutlich unter dem hohen Druck, den die gleichzeitige Berufs- und Familientätigkeit bei Erhaltung des „klassischen" Verhaltens- der Partner mit sich brachte, - erheblich zu (von 14,3 pro 10.000 Einwohner im Jahr 1955 auf 16,1 im Jahr 1970 und 24,7 im Jahr 1975).15 Der Staat antwortete auf diese Entwicklung mit einer Reihe von bevölkerungs- und familienpolitischen Maßnahmen. Diese Maßnahmen umfassten 1972 neben der Erweiterung des Angebotes von Krippen-, Kindergarten- und Hortplätzen Differenzierungen von Arbeitszeit und Mindesturlaub nach der Zahl vorhandener Kinder, Verbesserungen des Mutterschutzes, insbesondere des Wochenurlaubes, die Erhöhung der Geburtenbeihilfe auf 1.000 Mark vom ersten Kind an, die je nach Nutzung der Vorsorgeuntersuchungen in Teilbeträgen ausgezahlt wurde, sowie die Einführung zinsloser Anschaffungskredite von höchstens 10,000 Mark für junge Ehepaare, deren Partner maximal 26 Jahre alt waren, die bei der Geburt von Kindern sukzessive erlassen werden. Zu diesen Maßnahmen gehörten die Verbesserung der besonderen Förderung von studierenden Müttern sowie die Ermöglichung von Schwangerschaftsabbrüchen im Rahmen der Fristenlösung. Auf dem IX. Parteitag der SED 1976 wurden weitere familienpolitische Maßnahmen verabschiedet, durch die es gelang, die Geburtenraten wieder zu steigern. Zu nennen sind die Einführung der 40-Stundenwoche für Mütter mit mindestens zwei Kindern, die Erweiterung des Schwangerschafts- und Wochenurlaubes von 20 auf 26 Wochen und vor allem die Einführung eines bezahlten Babyjahres. Im Jahr 1980 wurde in der DDR mit 245.000 lebend geborenen Kindern tatsächlich wieder die Geburtenrate von 1968 erreicht. Da aber aufgrund des Fehlens von Frauen im gebärfähigen Alter in den entsprechenden Jahrgängen für 1990 bis 1995 erneut von einem starken Absinken der Geburtenrate ausgegangen wurde, wurde von Beginn der 80er Jahre an die Drei-KinderFamilie zur Normfamilie erklärt. 1981 wurde das Kindergeld für dritte und weitere Kinder auf 100 Mark erhöht, dasjenige für erste und zweite blieb bei 20 Mark. Die neue Politik der Drei-Kinder-Familie wurde durch die Übernahme von Patenschaften für dritte Kinder durch Erich Honecker „gekrönt". Das zu über 90 Prozent genutzte Babyjahr führte allerdings zu erheblichen Arbeitskräfteausfällen in den Bereichen, in denen vorrangig Frauen beschäftigt waren, da 14 Vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch für das vereinte Deutschland, Wiesbaden 1991, S. 75. 15 Vgl. Statistisches Amt der DDR (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch der DDR, Berlin 1989, S. 379.

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keine Ersatzkräfte eingestellt wurden.16 Von der Möglichkeit der bezahlten Freistellung machten die Mütter genau im zugelassenen Maße Gebrauch, d.h., sie meldeten die Kinder exakt für 4 bis 6 Wochen im Jahr krank, vor der Einführung der bezahlten Freistellung wurden die Kinder deutlich weniger oft krank, fielen die Krankmeldungen deutlich geringer aus.17 Auch diese Verhaltensweisen sind ein Indiz für die starke Doppelbelastung der Frauen. Ab 1984 wurden die Bestimmungen der Kinderreichenverordnung von 1975 auch auf Familien mit drei Kindern angewandt. Darüber hinaus wurde das „Babyjahr" für Mütter mit drei und mehr Kindern auf 1,5 Jahre bezahlten Urlaub ausgedehnt. Für die Pflege erkrankter Kinder wurden sie für 8 bis 13 Wochen im Jahr freigestellt und erhielten während dieser Zeit Krankengeld. Ab 1986 schließlich gab es das bezahlte Babyjahr schon beim ersten Kind. Zur Pflege erkrankter Kinder konnten nunmehr an Mütter (in Ausnahmefällen bereits Väter) mit zwei Kindern freigestellt werden. 1987 wurde das Kindergeld in beträchtlichem Ausmaß erhöht - und zwar auf 50 Mark für das erste, 100 Mark für das zweite und 150 Mark für weitere Kinder.

4. Die Situation von Familien zum Zeitpunkt der deutschen Einigung und ihre Entwicklung 4.1 Familienstrukturen 1989 zeigten die beiden Bevölkerungen teilweise gravierende Unterschiede in ihrem demographischen Verhalten. Die durchschnittliche Lebenserwartung lag für Männer bei 72,6 Jahren in der Bundesrepublik und 69,8 Jahren in der DDR (Frauen: 79,0 Jahre in der Bundesrepublik und 75,9 Jahren in der DDR).18 50,1 Prozent aller Familien in der DDR hatten im Jahr vor dem Beitritt ein Kind, 40,6 Prozent zwei Kinder und nur 8,3 Prozent drei und mehr Kinder. 19 In der Bundesrepublik Deutschland dagegen hatten 47,1 Prozent der Familien ein

16 Vgl. Gisela Erler/Monika Jäckel/Uta Meier/Rudolf Peutinger/Jürgen Saß, Familienpolitik im Umbruch? Ergebnisse einer explorativen Studie zu familienpolitischen Maßnahmen in der DDR, Polen, Sowjetunion und Ungarn. Arbeitsgruppe: Familienpolitik. DJI Arbeitspapier 5-026, 1991, S. 13. 17 Vgl. ebd., S. 11. 18 Vgl. Bundesministerium für Familie und Senioren (Hrsg.), Familien und Familienpolitik im geeinten Deutschland - Zukunft des Humanvermögens. Fünfter Familienbericht, (Bt-Drs. 12/7560), Bonn 1994, S. 39. 19 Vgl. Gunnar Winkler, Frauenreport 90. Gutachten im Auftrag des Ministerrats für die Gleichstellung von Frauen und Männern, Berlin 1990, S. 103.

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Kind, 38,2 Prozent zwei und 14,7 Prozent der Familien drei und mehr Kinder. 20 Der Anteil kinderloser Frauen lag in der DDR unter 10 Prozent, für den Geburtsjahrgang 1958 in der Bundesrepublik aber schon bei 22,9 Prozent.21 Sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik hatte es bis zur Mitte der 60er Jahre Geburtenraten vergleichbare Geburtenraten gegeben, anschließend setzte ein deutlicher Rückgang der Geburtenzahlen ein. Die DDR reagierte mit familienpolitischen Maßnahmen, die deutlich bevölkerungspolitischen Charakter trugen. Diese familienpolitischen Rahmenbedingungen bewirkten einen Wiederanstieg der Geburten ab 1975 auf eine durchschnittliche Kinderzahl pro Frau von knapp 2,0.22 Nachdem die Fertilität ab 1981 wieder gesunken war, betrug sie im Jahr des „Mauerfalls" 1989 bei 1,57 Kindern pro Frau.23 In der Bundesrepublik dagegen war es nicht gelungen, das Absinken der Geburtenzahlen zu verhindern, so dass 1985 nur noch eine Fertilität von 1,28 Kindern pro Frau vorlag. In der zweiten Hälfte der 80er Jahre, als die geburtenstarken Jahrgänge in ihre reproduktive Phase kamen, stieg die zusammengefasste Geburtenziffer wieder leicht an. Zum Zeitpunkt der Einigung 1990 hatte Westdeutschland eine Fertilität von 1,45 Kindern pro Frau. Während die zusammengefasste Geburtenziffer in Westdeutschland bis 1994 auf 1,34 Kinder pro Frau absank, halbierte sie sich in Ostdeutschland und erreichte 1994 einen Wert von 0,77.24 Heirats- und Scheidungsverhalten in beiden Teilen Deutschlands haben sich tendenziell gleich, aber auf unterschiedlichem Niveau entwickelt. In der DDR waren - den Anteil Wiederverheirateter eingerechnet - 70 Prozent der Menschen verheiratet, in der Bundesrepublik dagegen nur 64 Prozent.25 Zudem wurde in der DDR deutlich früher geheiratet als in der Bundesrepublik. Das durchschnittliche Erstheiratsalter lag 1989 bei 25,3 Jahren für Männer und 23,2 Jahren für Frauen, während es in der Bundesrepublik bei 28,3 und 25,7 Jahren lag.26 Die Scheidungswahrscheinlichkeit lag Ende der 80er Jahre in der DDR um knapp ein Fünftel höher als in der Bundesrepublik, in der durchschnittlich

20 Vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Familien heute, Strukturen, Verläufe und Einstellungen, Stuttgart 1990, S. 32. 21 Vgl. Bundesministerium für Familie und Senioren (Anm. 18), S. 37. 22 Vgl. Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, Bevölkerung. Fakten - Trends Ursachen - Erwartungen, Wiesbaden 2000, S. 3; Internet-Version: www.bibdemographie.de/bibbroschuere.pdf. 23 Vgl. ebd., S. 3. 24 Vgl. ebd., S. 6. 25 Vgl. Hans Bertram, Familienstand, Partnerschaft, Kinder und Haushalt, in: ders. (Hrsg.), Die Familie in den neuen Bundesländern. Stabilität und Wandel in der gesellschaftlichen Umbruchsituation, Opladen 1992, S. 41-81, hier: S. 41. 26 Vgl. Bundesministerium für Familie und Senioren (Anm. 18), S. 49.

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30 Prozent der Ehen geschieden wurden.27 Die Übertragung des bundesrepublikanischen Scheidungsrechtes im Anschluss an die Einigung führte in den neuen Bundesländern zu Verunsicherungen und diese wiederum vorübergehend zu einem starken Rückgang der Scheidungsziffern - ebenso wie dies nach der Eheund Scheidungsrechtsreform 1977 in der Bundesrepublik der Fall gewesen war. Insgesamt gab es 1991 in der Bundesrepublik 35,3 Millionen Privathaushalte mit knapp 82 Millionen Haushaltsmitgliedern. Während sich die 28,6 Millionen Haushalte 1991 im früheren Bundesgebiet zu 35,1 Prozent auf Einpersonenhaushalte, 30,5 Prozent auf Zweipersonenhaushalte, zu 16,4 Prozent auf Drei-, zu 12,7 Prozent auf Vier- und zu 5,3 Prozent auf Fünfpersonenhaushalte bzw. noch größere Haushalte verteilten, zeigte sich in den ostdeutschen Ländern eine deutlich andere Verteilung, deren wesentlichstes Kennzeichen einerseits der geringere Anteil von „Single-Haushalten" und andererseits die geringere Streuung unter den Haushaltstypen war. Hier wurden 1991 32,0 Prozent der Haushalte aus zwei Personen gebildet, und nur 27,6 Prozent waren Einpersonenhaushalte. Die Zahl der Drei- und Vierpersonenhaushalte fiel mit 20,0 Prozent und 16,5 Prozent etwas stärker aus als imfrüheren Bundesgebiet, dagegen der Anteil der Haushalte mit fünf und mehr Personen etwas kleiner (4,0 Prozent).28 Nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern waren in der DDR deutlich stärker verbreitet als im alten Bundesgebiet. Für das Jahr 1991 konnte von ca. 1,1 Mio. Haushalten nichtehelicher Lebensgemeinschaften im früheren Bundesgebiet ausgegangen werden, von denen 81,4 Prozent kinderlos waren und 18,6 Prozent Kinder hatten. In Ostdeutschland lebten dagegen in 55,0 Prozent der rund 327.000 nichtehelichen Lebensgemeinschaften Kinder. 29 Der Anteil der Eheschließungen, bei denen die Partner gemeinsame voreheliche Kinder hatten, war 1991 in den neuen Bundesländern fast dreimal so hoch wie in den alten.30 Dieses Faktum, das auch im Verlauf der 90er Jahre so bestehen blieb und zu den wesentlichen Merkmalen des demographischen Verhaltens der ostdeutschen Bevölkerung gehört, ist durch die unterschiedliche Bedeutung nichtehelicher Geburten im Osten und Westen Deutschlands zu erklären. Im Osten wird viel häufiger erst nach der Geburt von Kindern geheiratet. Vor der Vereinigung betrug die Nichtehelichenquote in der DDR 33,6 Prozent, in der Bundesrepublik dagegen nur 10,5 Prozent.31 Diese Unterschiede haben sich bis heu-

27

Vgl. ebd., S. 52. Vgl. Hermann Voit, Haushalt und Familie. Ergebnisse des Mikrozensus April 1991, in: Wirtschaft und Statistik Nr. 3 (1993), S. 191-199, hier: S. 191. 29 Vgl. ebd., S. 194. 30 Vgl. ebd. 31 Vgl. Bundesministerium für Familie und Senioren (Anm. 18), S. 54. 28

190

Irene Gerlach

te erhalten. Im Westen nämlich wurden 1998 nur ca. 15 Prozent der Kinder nichtehelich geboren, im Osten dagegen 47,1 Prozent.32 Eine Problemgruppe mit in den 80er und vor allem 90er Jahren deutlich wachsender Bedeutung für die Familienpolitik sind die Alleinerziehenden. Aufgrund der höheren Nichtehelichenquote sowie der ebenfalls höheren Scheidungswahrscheinlichkeit in der DDR setzt sich die Gruppe der Alleinerziehenden im Vergleich von West- und Ostdeutschland unterschiedlich zusammen. 1991 waren imfrüheren Bundesgebiet 16,7 Prozent der Alleinerziehenden ledig, 11,3 Prozent verheiratet, jedoch getrennt lebend, 35,3 Prozent verwitwet und 36,6 Prozent geschieden. In den ostdeutschen Bundesländern betrug der Anteil Lediger 33,6 Prozent, derjenige Getrennt lebender 3,1 Prozent, der Verwitweter 19,3 Prozent und derjenige Geschiedener schließlich 44,0 Prozent.33 Ein Vergleich der demographischen Maßzahlen zu Beginn der 90er Jahre zeigt einen deutlich höheren Standardisierungsgrad von Lebensläufen bei der DDR-Bevölkerung als bei der westdeutschen Bevölkerung, deren Verhalten stärker durch Individualisierungs- und Deinstitutionalisierungsrozesse geprägt ist. Dies gilt insbesondere für die höhere Zahl Verheirateter, für die Wiederverheiratungsquoten, für die Familiengröße mit häufiger ein oder zwei Kindern und für die deutlich geringere Kinderlosigkeit, die ausdrückt, dass umgekehrt fast 90 Prozent der Frauen in der DDR Kinder hatten. Schließlich unterschied sich auch die Bedeutung von Single-Haushalten, die im Westen häufiger vorkamen und zu erheblichen Ausmaßen auch mittlere Altergruppen einschlossen und nicht wie in der DDR schwerpunktmäßig alte Menschen.

4.2 Ökonomische Situation Für viele Menschen in den ostdeutschen Bundesländern bedeutete die Einigung den Ersatz der Sicherung des Lebensunterhalts durch zwar nivellierte, aber zuverlässig einzuplanende Erwerbseinkommen durch Transfers in der Folge von Arbeitslosigkeit. Als Indiz dafür können z.B. die unterschiedlichen Gründe in den alten und neuen Bundesländern herangezogen werden, die zum Bezug von Sozialhilfe gefuhrt haben ebenso wie der rasante Anstieg der Zahlen von Sozialhilfebeziehern. So erhielten Ende 1992 20 von 1000 Einwohnern Ostdeutschlands Sozialhilfe (in den alten Bundesländern waren es 1991 28 von 1000 gewesen). Allein von 1991 auf 1992 war der Anteil von Sozialhilfeempfangern in

32 33

Vgl. Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (Anm. 22), S. 13. Vgl. Bundesministerium für Familie und Senioren (Anm. 18), S. 57.

Familienpolitik in Deutschland

191

Ostdeutschland um 44,3 Prozent gestiegen.34 Arbeitsmarktbezogene Gründe spielten für den Bezug von Sozialhilfe in den ostdeutschen Ländern 1990 in 86 Prozent und 1991 in 76 Prozent der Fälle die Hauptrolle. Dies gilt insbesondere für die Situation Alleinerziehender, die in den neuen Bundesländern 1990 in mehr als der Hälfte der Fälle durch Arbeitslosigkeit in Sozialhilfeabhängigkeit gekommen waren, während bei westdeutschen Alleinerziehenden der Ausfall des Ernährers eine große Rolle spielt.35 Von den Haushalten, die 1991 in Westund Ostdeutschland laufende Hilfe zum Lebensunterhalt erhielten, waren 28,1 Prozent Familien (11,1 Prozent Ehepaare mit Kindern und 17,0 Prozent Alleinerziehende).36 Anfang des neuen Jahrtausends lebte jedes siebte Kind (rund zwei Millionen) in einem Haushalt, der als relativ arm einzustufen ist, jedes 14. Kind (rund eine Million) war auf Sozialhilfe angewiesen. In Großstädten, aber auch in ländlichen Gemeinden Nord- und Ostdeutschlands sind Sozialhilfequoten von 20 bis 25 Prozent die Regel, jedes vierte bis fünfte Kind ist hier arm.37 Insgesamt unterschieden sich die Haushaltseinkommen der Familien nach der Vereinigung in West- und Ostdeutschland erheblich voneinander. In den neuen Bundesländern gehörten 1991 über 60 Prozent der Familien den Einkommensklassen (Haushaltsnettoeinkommen) bis 3.000 DM pro Monat an, während in den alten Bundesländern über 60 Prozent den Einkommensklassen über 3.000 DM pro Monat zuzurechnen waren.38

34 Vgl. Deutscher Bundestag (Bt-Drs. 12/6224), Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Michael Habemannn, Christel Hanewinckel, Angelika Barbe, weiterer Angeordneter und der Fraktion der SPD (Bt-Drs. 12/4353), Wirtschaftliche Situation von Familien und deren soziale Auswirkungen, Bonn 24. November 1993, S. 22. 35 Vgl. ebd., S. 22. 36 Vgl. ebd., S. 18. 37 Vgl. Gerda Holz, Kinderarmut verschärft Bildungsmisere, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 21-22/2003, S. 1; Internet-Version: http://www.bpb.de/publikationen/ 5FTSAU,0,0,Kinderarmut_versch%E4rft_Bildungsmisere.html. 38 Vgl. Bundesministerium für Familie und Senioren (Anm. 18), S. 124.

192

Irene Gerlach Tabelle 1 Monatliches Haushaltsnettoeinkommen verschiedener Haushaltstypen, 2000

Haushaltstyp39

Deutschland

Früheres

Neue Länder

Bundesgebiet

und Berlin-Ost

Durchschnitt je Haushalt und Monat, in € Haushalte insges.

2.583

2.714

2.024

Alleinlebende

1.538

1.636

1.095

2.887

3.059

2.180

3.499

3.614

2.948

1.777

1.874

1.465

Paare 40 ohne Kinder Paare

41

mit Kindern

Alleinerziehende 43

42

Quelle: Die Familie im Spiegel der amtlichen Statistik, bearb. von Heribert Engstler und Sonja Menning, hrsg. vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Berlin 2003, S. 149.

4.3 Frauen- und Müttererwerbstätigkeit Die ökonomische Situation von Familien wird in wesentlichem Ausmaß durch den Umstand bestimmt, ob beide Elternteile erwerbstätig bleiben können oder - in der Regel die Mütter - ganz oder teilweise zugunsten der Kinderbetreuung aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Für Mütter in Ostdeutschland ergab sich diese Alternative erst nach der Vereinigung mit dem langsamen Abbau der Kinderbetreuungsmöglichkeiten oder wurde durch zunehmende Arbeitslosigkeit erzwungen. Das Modell der erwerbstätigen Mutter war in der DDR beim Fall der Mauer schon in der zweiten Generation nicht nur staatlich vermitteltes, sondern auch von den Frauen bevorzugtes Modell der Lebensorganisation, während in den alten Bundesländern das Drei-Phasen-Modell mit der zeitweiligen Unterbrechung oder sogar dem Abbruch der Erwerbstätigkeit zugunsten der Kinderbetreuung vorherrschte 44 Die Frauen hatten mit ihrer Erwerbstätigkeit in der DDR etwa zu 40 Prozent zum Familieneinkommen beige-

39

Haushalte jeweils nur mit den bei der Typisierung genannten Mitgliedern. Ehepaare und nichteheliche Lebensgemeinschaften. 41 Ehepaare und nichteheliche Lebensgemeinschaften. 42 Ehepaare und nichteheliche Lebensgemeinschaften. 43 Kinder unter 18 Jahren. 44 Vgl. Barbara Bertram, Frauenerwerbstätigkeit im Osten als familienpolitische Kondition, in: Theorie und Praxis der sozialen Arbeit, Nr. 6/1992, S. 216-221, hier: S. 216. 40

Familienpolitik in Deutschland

193

tragen.45 In Ostdeutschland lag die Frauenerwerbsquote 1990 bei 81,7 Prozent (Frauen im Alter zwischen 15 bis 65 Jahren), in Westdeutschland dagegen nur bei 58,5 Prozent. Die Erwerbsbeteiligung der Mütter (verheiratet, 25 bis 35 Jahre) betrug 1991 in den neuen Bundesländern 97 Prozent, in den alten Bundesländern dagegen -nur 51 Prozent.46 Wenngleich diese unterschiedlichen Erwerbsquoten auch normativ begründet waren, was z.B. daran zu erkennen ist, dass der Anteil kinderloser, nicht erwerbstätiger verheirateter Frauen in Westdeutschland deutlich höher war als in Ostdeutschland,47 lagen die Hauptursachen in der unterschiedlichen Dichte des Kinderbetreuungsnetzes in der DDR und der Bundesrepublik Deutschland, die auch in der ersten Hälfte der 90er Jahre noch weitgehend erhalten blieb. Im Westen waren 1995/1996 12,9 Prozent der Mütter in Ehepaar-Familien vollzeiterwerbstätig, im Osten dagegen 48 Prozent. Alleinerziehende arbeiteten zu 35,2Prozent im Westen in Vollzeiterwerbstätigkeit, im Osten dagegen zu 48,0 Prozent.48 2003 waren rund 5,7 Millionen Mütter im erwerbsfähigen Alter (15 bis unter 65 Jahre) mit mindeijährigen Kindern erwerbstätig. Damit lag ihre Erwerbstätigenquote bei 65 Prozent. Allerdings ist eher der Anteil der Mütter gestiegen, die in Teilzeit arbeiten, als derjenige Vollzeit arbeitender Mütter. Zwischen 1996 und 2003 erhöhte sich die Erwerbstätigenquote der Mütter, die nach eigenen Angaben eine Teilzeittätigkeit ausüben, um knapp zehn Prozentpunkte auf 38. Zugleich ging die Erwerbstätigenquote vollzeittätiger Mütter um fünf Prozentpunkte auf 22 Prozent zurück. Während 85 Prozent der westdeutschen Mütter mit minderjährigen Kindern die Teilzeittätigkeit im Mai 2003 aus persönlichen oder familiären Gründen ausübten, waren es im Osten nur 37 Prozent. Dagegen gab knapp jede zweite teilzeittätige ostdeutsche Mutter (47 Prozent) mit Kindern unter 18 Jahren an, keine Vollzeitstelle zu finden; in Westdeutschland traf dies nur auf jede 25. teilzeittätige Mutter (4 Prozent) zu.49

45 Vgl. Juliane Roloff, Erwerbsbeteiligung und Familienstand von Frauen - ein deutsch-deutscher Vergleich, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, Nr. 1 (1993), S. 105-112, hier: S. 108. 46 Vgl. ebd., S. 108. 47 Vgl. ebd., S. 108. 48 Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.), Dokumentation. Alleinerziehende in Deutschland 1995/1996. Materialien zur Familienpolitik Nr. 1, Bonn 1997, S. 80. 49 Vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.), http://www.destatis.de/presse/deutsch/ pm2004/pl 910026.htm.

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Irene Gerlach

4.4 Kinderbetreuung Die Kinderbetreuungssituation stellte sich zum Zeitpunkt der Vereinigung in Ost- und Westdeutschland sehr unterschiedlich dar. Grundsätzlich können hinsichtlich der institutionellen Betreuung Krippen (Kinder von 0 bis 3 Jahre), Kindergärten (3 bis 6 Jahre) sowie Horte (6 bis 10 Jahre) unterschieden werden.50 Zusätzlich hatte es in der DDR in ländlichen Gebieten Erntekindergärten und Saisonkrippen und für Kinder von Schichtarbeiterinnen sowie Wochenheime und Dauerkrippen gegeben.51 Diese Betreuungsplätze waren für Eltern - bis auf einen Verpflegungsbeitrag - kostenlos. Sie befanden sich in kommunaler, betrieblicher oder - in wenigen Fällen - in kirchlicher Trägerschaft und wurden aus dem Staatshaushalt oder aus speziellen Fonds betrieblicher Träger finanziert. In Westdeutschland wurden die Plätze dagegen über eine Kombination aus öffentlicher Finanzierung, Trägeranteil (nach Bundesland unterschiedlich) sowie Elternbeitrag finanziert. Im Durchschnitt betrug der Anteil des Elternbeitrags zu Beginn der 90er Jahre 16 bis 20 Prozent.52 Im Hinblick auf die Betriebskosten ergaben sich mit der Vereinigung erhebliche Unterschiede für die Einrichtungen in Ost- und Westdeutschland, die auch in den Folgejahren anhielten. Noch 1992 betrugen die Kosten für Kindergartenplätze (ganztägig mit Über-Mittag-Betreuung) in Westdeutschland 9.000 DM jährlich, in Ostdeutschland dagegen nur 4.800 DM. 53 Mit der Vereinigung gingen die meisten Kindertageseinrichtungen in kommunale Trägerschaft über, 14 Prozent wurden von freien Trägern übernommen. 1989 waren in den neuen Bundesländern über 50 Prozent der Kinder im Alter zwischen 0 bis 3 Jahren in einer Krippe untergebracht, 100 Prozent im Alter zwischen 3 bis 6 Jahren besuchten einen Kindergarten, und ca. 85 Prozent der 6- bis 10-jährigen besuchten einen Hort. 54

50 Vgl. Michaela Kreyenfeld/Katharina C. Spieß/Gert G. Wagner, Finanzierungsund Organisationsmodelle institutioneller Kinderbetreuung. Analysen zum Status Quo und Vorschläge zur Reform, Darmstadt 2001, S. 136. 51

Vgl. Gerlach (Anm. 8), S. 136f. Vgl. Europäische Kommission, Generaldirektion V, Ein Überblick über Angebote für kleine Kinder innerhalb der Europäischen Union 1990-1995, bearbeitet vom Netzwerk der Europäischen Kommission für Kinderbetreuung und andere Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Brüssel 1996, S. 52. 53 Vgl. Deutscher Bundestag (Anm. 34), S. 14. 54 Vgl. Europäische Kommission (Anm. 52), S. 50ff. 52

Familienpolitik in Deutschland

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Tabelle 2 Versorgungsquoten bei Krippen-, Kindergarten- und Hortplätzen (alte Bundesländer: 1990; neue Bundesländer: 1989) Bundesland

Versorgungsgrad (in Prozent bezogen auf die entsprechende Altersgruppe) Krippenplätze

Kindergartenplätze

Hortplätze

Baden-Württemberg

1,7

103,9

2,8

Bayern

1,3

72,0

4,5

Berlin (West)

26,9

64,9

29,3

Bremen

3,0

66,8

15,1

Hamburg

15,0

51,1

19,6

Hessen

2,7

90,0

7,2

Niedersachsen

2,5

58,7

3,1

Nordrhein-

1,3

74,3

3,6

Rheinland-Pfalz

0,8

97,5

2,4

Saarland

1,2

94,7

1,9

Schleswig-Holstein

1,1

54,1

3,9

Berlin (Ost)

60,5

121,5

86,5

Brandenburg

58,0

111,5

86,8

Mecklenburg-

58,0

110,3

117,9

Sachsen-Anhalt

57,1

114,5

69,7

Sachsen

52,2

113,2

85,9

Thüringen

57,5

110,8

87,1

Westfalen

Vorpommern

Quelle: Familien und Familienpolitik im geeinten Deutschland - Zukunft des Humanvermögens, Fünfter Familienbericht (Bt-Drs. 12/7560), zusammengestellt vom Bundesministerium für Familie und Senioren, Bonn 1994.

Nach 1990 wurde die Zahl der Plätze in den neuen Bundesländern reduziert - und zwar bei den Krippen zwischen 1989 und 1990 zunächst um ein Prozent, zwischen 1990 und 1991 um 27 Prozent. Die Zahl der Kindergartenplätze sank zwischen 1989 und 1990 um drei Prozent und zwischen 1990 und

196

Irene Gerlach

1991 noch einmal um 17 Prozent, diejenige der Hortplätze zwischen 1989 und 1990 um 17 Prozent.55 Diese Reduzierungen wurden durch den rasanten Rückgang der Geburtenrate teilweise ausgeglichen. Zudem waren von der wachsenden Arbeitslosigkeit zunehmend Frauen mit Kindern betroffen, so dass es auch hier zu einer Reduzierung der Nachfrage kam. Ende 2002 gab es in Westdeutschland für 88 Prozent der Kinder im Kindergartenalter Betreuungsplätze, für 3 Prozent der Kinder im Krippenalter und für 5 Prozent der Schulkinder. In Ostdeutschland gab es dagegen eine Platz- Kind-Relation von 105 Prozent in Kindergärten, von 37 Prozent in Krippen und von 41 Prozent in Horten. Nahezu alle Einrichtungen bieten auch Ganztagsbetreuung.56

5. Einigungsbedingte Handlungsnotwendigkeiten Die deutsche Einigung war eine der größten Herausforderung für die Familienpolitik der ersten Hälfte der 90er Jahre. Dies bezog sich einerseits auf die Notwendigkeit, die ökonomischen Lebensverhältnisse der Familien in den neuen Bundesländern denen der Familien in den alten Bundesländern anzupassen. Zur Schaffimg einer entsprechenden Informationsgrundlage beauftragte das Familienministerium 1991 die Sachverständigenkommission für den Fünften Familienbericht mit dessen Erstellung zum Thema „Familien und Familienpolitik im geeinten Deutschland - Zukunft des Humanvermögens".57 Andererseits waren für den Gesetzgeber durch den Einigungsvertrag Aufgaben formuliert worden. Familien- undfrauenpolitische Belange wurden dort im Wesentlichen an drei Stellen angesprochen. Dies galt zunächst für Art. 31, der den gesamtdeutschen Gesetzgeber ausdrücklich dazu aufforderte, nicht nur die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen weiter zu entwickeln und Maßnahmen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Mütter und Väter zu treffen, sondern auch bis zum 31. Dezember 1992 für eine Neuregelung des § 218 StGB zu sorgen und damit die Übergangssituation zweier getrennter Rechtsgebiete zum Schwangerschaftsabbruch in Deutschland zu beenden. Er sah ebenfalls eine Übergangsregelung für die Kindertagesstättenfinanzierung im Beitrittsgebiet vor. Darüber hinaus wurden in den Bestimmungen zur Überleitung

55

Vgl. ebd., S. 53. Vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.), http://www.destatis.de/presse/deutsch/ pk/2004/kindertagesbetreuung_2002i.pdf, S. 5f. 57 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Anm. 18). 56

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von Bundesrecht Aussagen zur Übertragung des Familienrechts sowie zum Mutterschutzgesetz der DDR und zum KJHG gemacht.58 Zusammenfassend stellten sich einigungsbedingte Regelungserfordernisse unter drei Perspektiven dar: Harmonisierung familien- und arbeitsrechtlicher Situationen von Familien in beiden Teilen Deutschlands sowie der Situation im FLA; normative Angleichung und damit Integration der Familienleitbilder sowie; zukünftige Gestaltung von Familienpolitik und ihrer Grundlagen. Im Bereich der Harmonisierung 5 9 ergaben sich Regelungsnotwenigkeiten über die in Art. 31 Einigungsvertrag genannten Gebiete hinaus vor allem im Hinblick auf folgende Probleme: -

In der DDR war zum 1. Januar 1990 ein Kindergeldzuschlag eingeführt worden, der als Ausgleich für den Fortfall der zuvor gezahlten Subventionen für Kinderkleidung dienen sollte. Mit dem Inkrafttreten des Bundeskindergeldgesetzes zum 1. Januar 1991 im Beitrittsgebiet wurde ein Kindergeld von 50 DM für erste Kinder gezahlt, womit die Eltern von Einzelkindern faktisch schlechter gestellt wurden als zuvor. Mit dem Haushaltsbegleitgesetz 1991 wurde deshalb für erste Kinder im Beitrittsgebiet ein Zuschlag von monatlich 15 DM eingeführt.

-

Nach Ablauf des Wochenurlaubs war in der DDR Mütterunterstützung in der Form von Krankengeld gezahlt worden (je nach Kinderzahl bis zum 12., maximal 24. Lebensmonat des Kindes). Diese Regelung galt allerdings nur für Erwerbstätige und damit Sozialversicherungspflichtige. Die Regelungen des bundesdeutschen Erziehungsurlaubs und des Erziehungsgeldes galten im Beitrittsgebiet für Eltern, deren Kinder nach dem 31. Dezember 1990 geboren wurden. Für Elternfrüher geborener Kinder galt das DDR-Recht weiter. Eine Versorgungslücke ergab sich hier also für nicht erwerbstätige Mütter von zwischen dem 3.Oktober 1990 und dem 31.Dezember. 90 geborene Kinder. Durch eine Gesetzesänderung vom 1. August 1991 wurde geregelt, dass diese Mütter eine Mindestunterstützung von 250 bis 350 DM (nach Kinderzahl differenziert) erhielten.

58

Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.), Bulletin Nr. 104/S. 877, Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands. Einigungsvertrag, Bonn den 6. September 1990, S. 919-922. 59 Für eine differenzierte Gegenüberstellung der familienpolitischen Leistungssysteme vgl. das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen: Bundesministerium für Familie und Senioren (Hrsg.), Leitsätze und Empfehlungen zur Familienpolitik im vereinigten Deutschland. Schriftenreihe des Bundesministeriums für Familie und Senioren, Bd. 1, Stuttgart, Berlin und Köln 1991.

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Irene Gerlach

-

In der DDR hatte es umfangreiche Freistellungsregelungen für Mütter, teilweise auch für Väter gegeben. Dazu gehörte der sogenannte Hausarbeitstag, die Reduzierung der Wochenarbeitszeit von 43 auf 40 Stunden sowie die Freistellung von Eltern für die Pflege erkrankter Kinder für zwischen vier (ein Kind) und 13 Wochen (fünf und mehr Kinder) pro Jahr. Diese Regelung galt laut Einigungsvertrag bis zum 30. Juni 1991 im Beitrittsgebiet fort. In der Bundesrepublik hatte eine Freistellungsmöglichkeit von bis zu fünf Tagen pro Kind gegolten, allerdings nur für Kinder bis zum Alter von acht Jahren oder für behinderte Kinder. Die Koalitionsvereinbarungen sahen eine Erhöhung auf 10 Tage und eine Anhebung der Altersgrenze auf 12 Jahre vor. Die im Einigungsvertrag gesetzte Frist verstrich jedoch, so dass sich das Land Berlin zu einer Bundesratsinitiative veranlaßt sah.60 1992 wurde die Freistellung wegen erkrankter Kinder auf 10 Tage pro Kind und Jahr angehoben.

-

Jungen Eheleuten wurden in der DDR bis zum August 1990 zinslose Kredite bis zur Höhe von 7 000 DM gewährt, die binnen elf Jahren in Raten zurückgezahlt werden mussten, wobei die Geburt von Kindern jeweils zu erheblichen Teilerlassen führte. Mit dem Entwurf des Haushaltsbegleitgesetzes 1991 war vorgesehen, dass die Kredite zukünftig von Geschäftsbanken verwaltet und zu marktüblichen Zinsen zurückzuzahlen seien. Das bisherige „Abkindern" sollte für nach dem 31. Dezember 1991 geborene Kinder nicht mehr möglich sein. Das Gesetz passierte zwar den Bundestag, aber nicht den Bundesrat. Nach Tätigwerden des Vermittlungsausschusses konnte verhindert werden, dass die Familien zukünftig die marktüblichen Zinsen zahlen mußten.61

-

Während in der DDR Unterhaltsvorschüsse für alle Kinder gezahlt wurden, die einen titulierten Anspruch hatten, sah das Unterhaltsvorschussgesetz der Bundesrepublik zum Zeitpunkt der Einigung nur die Zahlung des Unterhalts für Kinder unter sechs Jahren vor. Darum wurde mit dem Einigungsvertrag die Beibehaltung der unterschiedlichen Regelungen für eine Übergangszeit beschlossen. Mit dem „Gesetz zur Änderung des Unterhaltsvorschussgesetzes und der Unterhaltsverordnung" vom 20.Dezember 1992 wurde für das gesamte Bundesgebiet festgelegt, dass ab dem 1.Januar 1993 für Kinder bis zum 12. Lebensjahr Unterhaltsvorschüsse beantragt werden konnten, und zwar für die Dauer von sechs Jahren statt wie bisher von drei Jahren.

60 Vgl. Heinz-Günter Maaßen, Die aktuelle Situation der Familienpolitik in den neuen Bundesländern einschließlich Berlins, in: EAF. Familienpolitische Informationen, Nr. 5 (September/Oktober 1991), Bonn, S. 2. 61 Vgl. ebd., S. 2.

Familienpolitik in Deutschland

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Mit Blick auf die normative, insbesondere die verfassungsrechtliche Anpassung und Schaffung einer gemeinsamen Leitbildgrundlage bedienten sich die Verhandlungsparteien im deutschen Einigungsprozess eines Verfahrens der zweistufigen Einigung,62 demzufolge in einer ersten Stufe alle zwar von einzelnen Gruppen geforderten, aber nicht konsensfähigen Verfassungsänderungen wie z.B. die Einführung sozialer Grundrechte aus dem Einigungsvertrag ausgeklammert wurden. In einer zweiten Stufe wurde mit dem Auftrag an den gemeinsamen deutschen Gesetzgeber, sich binnen einer Frist von zwei Jahren mit diversen Fragen möglicher Verfassungsänderungen auseinander zu setzen, die Möglichkeit geschaffen, die entsprechenden Fragen abgekoppelt vom hohen Zeitdruck der Einigungsverhandlungen zu diskutieren. Das dazu geschaffene Gremium, die Gemeinsame Verfassungskommission des Bundestages und des Bundesrates, beschäftigte sich mit Wirkung für die Familienpolitik vor allem mit der Notwendigkeit der Neuformulierung der Artikel 3 und 6 GG. Im Rahmen der Diskussionen ergab sich im Hinblick auf Art. 3 Abs. 2 ein überraschend einheitliches Bild, das sich dann auch in der anschließenden Ergänzung von Art. 3 Abs. 2 durch Satz 2 im Jahr 1993 widerspiegelte. Seitdem heißt es: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin." Viel stärker als bei Art. 3 stand die Frage nach den Möglichkeiten der Änderung des Grundgesetzes unter den Folgewirkungen des sozialen Wandels im Mittelpunkt der Diskussion von Art. 6. Problematisch erschien die Institutsgarantie für Ehe und Familie in Art. 6, welche andere Lebensbeziehungen und Lebensformen von dem besonderen Schutz durch die staatliche Ordnung ausschloss. Bei Art. 6 GG kam es zu keinem Änderungsvorschlag, der mit einer Zweidrittelmehrheit verabschiedet werden konnte. Einigungsbedingt waren daneben die Schwierigkeiten, die sich mit dem Aufbau familienpolitischer Institutionen sowie des entsprechenden Verwaltungsapparates in Ostdeutschland ergaben. Dies galt zum einen für die Unübersichtlichkeit des Antragsverfahrens für familienpolitische Leistungen, andererseits für die Organisation der Verwaltung. Gleiches galt für Familienbildungs-, -beratungs- und -erholungsangebote, die nun diejenigen der Betriebe bzw. des FDGB ersetzen mussten. Insgesamt war der Aufbau einer frei-gemeinnützigen Trägerstruktur von Einrichtungen durch Wohlfahrtverbände notwendig. Die Problematik des Schwangerschaftsabbruchs bot ein weiteres Aufgabenfeld für die Politik nach der Vereinigung. Hier prallten zwei Wertgemeinschaf62 Vgl. Helge-Lothar Opladen 1996, S. 24.

Batt, Die Grundgesetzesreform nach der deutschen Einheit,

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ten aufeinander, die eine säkulare der DDR, in der es von 1972 an die Fristenregelung gab, und die Wertgemeinschaft des Grundgesetzes mit dem eindeutigen Imperativ des Lebensschutzes für das ungeborene Kind. Wie offensichtlich diese Konfrontation war, ist z.B. an der Tatsache zu erkennen, dass der Verfassungsentwurf des-Kuratoriums für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder aus dem Jahr 1991 die Aufnahme eines „Grundrechtes" auf Abtreibung in das Grundgesetz vorsah.63 Schon im 4. Leitsatz seines Urteils aus dem Jahr 1975 hatte das Bundesverfassungsgericht gefordert, den Lebensschutz nicht allein durch das Strafrecht, sondern auch durch darüber hinausgehende Maßnahmen zu gewährleisten. Ein großer Teil der durchgeführten familienpolitischen Maßnahmen in den 80er Jahren sollte zu einem integrierten System zusammengefasst werden, das sowohl materielle als auch soziale und ideelle Unterstützung für Eltern und Kinder bieten sollte. Der Reformprozess zwischen 1990 und 1992 ist durch die Zielsetzung geprägt worden, einen Lebensschutz durch die Verbindung der Strafrechtsreform mit weiteren begleitenden familienpolitischen Maßnahmen zu garantieren. Hierzu gehörten die Ausdehnung der von 1984 an bestehenden „Bundesstiftung Mutter und Kind- Schutz des ungeborenen Lebens" auf die ostdeutschen Bundesländer im „Hilfsfonds für schwangeren Frauen in Not" sowie Maßnahmen zur Verbesserung der ökonomischen Situation von Familien im Allgemeinen durch das Jahressteuergesetz 1996. Im Rahmen des darin beschlossenen „Optionsmodells" konnten zwar alternativ nur Steuerfreibeträge oder Kindergeld genutzt werden, beides wurde aber deutlich angehoben.64 Eine weitere Verknüpfungslinie ergab sich mit der Novelle zum Kinder- und Jugendhilfegesetz und der Einführung eines Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz für alle dreijährigen Kinder, die 1996 in Kraft trat. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz war im März 1990 im Bundestag verabschiedet worden und trat ab 1.1.1991 in Kraft. Das neue Gesetz im Unterschied zu seinem Vorgänger präventiv ausgerichtet, enthält eine breite Palette von unterstützenden Hilfen für Familien, um deren Erziehungskraft zu stärken. Die besondere Bedeutung, die dem Gesetzgebungsprozeß zum §218 StGB zukam, spiegelt sich in der Tatsache wider, dass nicht weniger als sieben Entwürfe zur Abstimmung im Bundestag kamen. Keiner der Entwürfe konnte die notwendige Mehrheit erzielen. Verabschiedet wurde dagegen der von einer interfraktionellen Gruppeninitiative aus SPD, FDP und Teilen der CDU einge63

Vgl. Bernd Guggenberger/Ulrich Preuß/Wolfgang Ulimann (Hrsg.), Eine Verfassung für Deutschland. Manifest - Text - Plädoyers, München 1991, S. 99. 64 Das Kindergeld wurde von 70 D M auf 200 D M für erste und zweite und von 140 D M auf 300 bzw. 350 D M für weitere Kinder angehoben. Der Kinderfreibetrag erhöhte sich von 4.104 D M auf 6.264 DM.

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brachte Antrag einer Fristenregelung mit Beratungspflicht. 65 Dabei handelte es sich um eine Fristenregelung mit obligatorischer umfassender Beratung. Sie wurde durch zwölf flankierende Reformen in weiteren Gesetzen ergänzt. Die Beratung war mit Blick auf den gebotenen Lebensschutz nicht näher beschrieben. Die Finanzierung von Schwangerschaftsabbrüchen sollten die Krankenkassen übernehmen, was einen Anknüpfungspunkt für die Klage der Landesregierung Bayerns und 249 Bundestagsmitgliedern vor dem Bundesverfassungsgericht bot. Das Bundesverfassungsgericht setzte das Gesetz am 28. Mai 1993 in weiten Teilen außer Kraft. Am 26.Mai 1994 verabschiedete der Bundestag den Koalitionsentwurf eines „Schwangeren- und Familienrechtsänderungsgesetzes",66 dem allerdings die Zustimmung des Bundesrates versagt blieb, so dass die Bundesregierung den Vermittlungsausschuss anrief. Die im Juli 1995 verabschiedete Neufassung sah den Nachweis einer dem Lebensschutz verpflichtete Beratung bei einer anerkannten Beratungsstelle als Voraussetzung für die Straffreiheit vor.

6. Zentrale aktuelle familienpolitische Handlungsnotwendigkeiten 15 Jahre nach dem Vollzug der Deutschen Einheit erlebt die Familienpolitik einen fast epochalen Bedeutungs- und Strukturwandel. Dieser Bedeutungszuwachs lässt sich einerseits unter Hinweis auf die gleichsam politikformende Rolle des Bundesverfassungsgerichtes in den letzten beiden Dekaden erklären und andererseits mit Blick auf die vielen Bereiche unserer Gesellschaft, in denen die systemgefährdenden Konsequenzen der demographischen Strukturen deutlich geworden sind, die die öffentliche Bedeutung von Familienleistungen vor Augen geführt haben. Im Wesentlichen können vier zentrale aktuelle und zukünftige Aufgabenbereiche identifiziert werden: -

In einem ersten Handlungsfeld geht es um die finanzielle Anerkennung von Familienleistungen und die Reduzierung der Opportunitätskosten, d.h. um eine weitgehende Sozialisierung der Verzichtskosten, die Eltern leisten, um Kinder zu betreuen. Eine Aufgabe, die besonderer Sensibilität bedarf, gilt angesichts eines durchschnittlichen Anteils von einem Drittel Kinderloser in unserer Gesellschaft auch dem Ausgleich zwischen Eltern und Kinderlosen.

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Vgl. Bt-Drs. 12/2605 in der Fassung 12/2875. Vgl. Bt-Drs. 12/6643 vom 20.1.94 sowie 12/6669, 12/6944, 12/6988, 12/7660.

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Die Gewährleistung von Vereinbarkeit zwischen Erwerbsleben und Elternschaft unter dem Primat der Wahlfreiheit ist ein zweiter wesentlicher Handlungsbereich.

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Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass zunehmend Defizite in der Erziehung von Kindern beobachtet werden können67, muss eine weitere Zielsetzung aktueller und zukünftiger Familienpolitik die breite Unterstützung und Entwicklung von Elternkompetenz betreffen.

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Zusammenhängend mit den beiden letzten Handlungsfeldern und darüber hinaus veranlasst durch die bildungspolitische Diskussion nach „PISA" besteht die Notwenigkeit, Betreuung, Erziehung und Bildung in einer Gesamtkonzeption aufeinander abzustimmen.

Bezogen auf den Familienlastenausgleich gab es in den 90er Jahren und zu Beginn des neuen Jahrtausends zahlreiche Urteile des Bundesverfassungsgerichts, 68 die dem Gesetzgeber verbindliche Vorgaben für die Höhe sowie die Struktur von Leistungen bzw. steuerlichen Entlastungen für die Familie vorgaben. Der Charakter der fiskalischen Manövriermasse entsprechender Mittel, der lange Zeit bezeichnend für die deutsche Familienpolitik war, ist damit überwunden. Darüber hinaus machte das Bundesverfassungsgericht Aussagen grundsätzlicher Art, die sich auf die Organisation von Familienpolitik im Allgemeinen69 bezogen sowie auf die Berücksichtigung von Familienleistungen in den Systemen der Sozialversicherung.70 In der Bilanzierung dieser Urteile sind einerseits die Leistungen des Familienlastenausgleichs heute kaum noch zurücknehmbar und ist dem Gesetzgeber andererseits eine Vielfalt von Aufgaben zur Um- und Neugestaltung von Familien- und Sozialpolitik aufgegeben. Ein spezifisches Element zur Berücksichtigung der Einkommenslagen gering verdienender Eltern ist mit dem 1. Januar 2005 und dem Kinderzuschlag71 geschaffen worden. Aufgrund der nach wie vor geringeren Familieneinkommen in Ostdeutschland wird sich diese Maßnahme insbesondere hier bemerkbar machen. Ein weiteres Handlungsfeld im Zusammenhang des Familienlastenausgleichs wird die Neuausrichtung des Erziehungs- bzw. des - wie es seit 2001 heißt - Elterngeldes sein. Das Erziehungsgeld war 1986 als Maßnahme der Vereinbarkeit 67

Vgl. hierzu das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.), Familiale Erziehungskompetenzen. Beziehungsklima und Erziehungsleistungen in der Familie als Problem und Aufgabe, München 2005. 68 Vgl. Gerlach 2004 (Anm. 8), S. 130ff. 69 Vgl. 1 BvL 1/01 und 1 BvR 1749/01. 70 Vgl. BVerfGE 87, 1; BVerfGE 94, 241; BVerfGE 97, 102; BVerfGE 103, 242. 71 Eltern, die erwerbstätig sind, aber durch Elternschaft in den Sozialhilfebezug geraten, können bis zu 140 € pro Kind und Monat erhalten.

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von Elternschaft und Erwerbstätigkeit eingeführt worden und sollte die Betreuung von Kindern in den ersten Lebensjahren durch die Eltern ermöglichen. In der Praxis hat sich allerdings das Modell des Erziehungsurlaubs bzw. der Elternzeit als eher nicht zielführend erwiesen. Dies gilt einerseits, weil durch die fehlende Anpassung von Verdienstgrenzen für den ungekürzten Bezug der 300 € das Erziehungsgeld zu einer fast ausschließlichen Leistung für geringverdienende Eltern geworden ist, und andererseits, weil sich die Elternzeit für die Mütter, die nach wie vor über 90 Prozent der Nutzerinnen darstellen, als Hürde für das berufliche Fortkommen erwiesen hat. Derzeit geplant ist daher eine Verkürzung der Zeit und zugleich die Anhebung der Leistungen auf Lohnersatzniveau, was die Möglichkeit für die Väter in vielen Fällen erst schafft, die Elternzeit zu nehmen. Vor dem Hintergrund der Tatsache schließlich, dass 42 Prozent der 1965 und nach den neuesten Mikrozensusdaten bis jetzt 62 Prozent der 1970 bis 1975 geborenen Frauen mit Universitätsabschluss kinderlos sind, gilt es speziell diese Zielgruppe auch finanziell zu entlasten - etwa durch Steuerfreibeträge für Kinderbetreuung in marktgerechter Höhe. Die Vereinbarkeitsproblematik präsentiert sich familienpolitisch mindestens unter zwei Perspektiven: Einerseits muss es darum gehen, die Realisierung vorhandener Kinderwünsche zu ermöglichen. Dies ist - das lehren nicht zuletzt die Erfahrungen aus den familienpolitischen Maßnahmen der DDR in den 70er Jahren - nur durch die Verbindung von finanzieller Unterstützung und Vereinbarkeitsregelungen möglich. Allerdings ist gerade durch ein gibt es keineswegs wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse über die Gründe von Elternschaft bzw. Kinderlosigkeit. Eine Befragung des Instituts für Demoskopie Allensbach,72 die Ende 2003 durchgeführt wurde, wies einen Anteil von nur 13 Prozent Kinderloser aus, die sich bei einer Verbesserung des Betreuungsangebotes für ein Kind entscheiden würden. Auf die Frage, was wichtiger sei, die Erhöhung des Kindergeldes um 30 € oder die Verbesserung des Betreuungsangebotes, votierten 48 Prozent für das Kindergeld und nur 35 Prozent für die Betreuung. Die Online-Befragung von „Perspektiven für Deutschland",73 durchgefühlt um die Jahreswende 2003/2004, wies dagegen einen Anteil von 24 Prozent kinderloser Frauen aus, die sich bei einer Besserung der Betreuungssituation für ein Kind entscheiden würden. Das Max-Planck-Institut für demographische Forschung, Rostock hat zusammen mit dem Mannheimer Forschungsinstitut für Ökonomie und demographischen Wandel einen höchst interessanten Zusammenhang entdeckt. Die Eltern in Ostdeutschland und in Westdeutschland beziehen unter-

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Einflussfaktoren auf die Geburtenrate; Ergebnisse einer Repräsentativbefragung der 18- bis 44jährigen Bevölkerung, Archiv-Nr. 5177. 73 Initiatoren: McKinsey & Company, das Magazin Stern, das ZDF und das Unternehmen AOL.

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schiedliche Gesichtspunkte in ihre Entscheidung für Kinder mit ein. Dabei spielen unterschiedliche Erwartungen an die Elternaufgaben eine Rolle (im Westen halten es mehr Menschen für sinnvoll, die Kinder in den ersten Jahren selbst zu betreuen) wie Kalküle um die Betreuung. Aber hier hängt die Entscheidung im Osten eher von einem institutionellen Betreuungsangebot ab, im Westen scheint dagegen ein deutlicher Zusammenhang mit dem Vorhandensein von privaten Netzwerken zu bestehen, insbesondere vom Vorhandensein einer Großmutter am Wohnort. Allerdings wird es, demographisch bedingt, in naher Zukunft zu einem erheblichen Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials kommen. Während z.B. die Altersgruppe der 35 bis 49jährigen heute etwa einen Bevölkerungsanteil von 40 Prozent stellt, wird sie bis 2050 von 20 Mio. auf 14 Millionen, d.h. um 31 Prozent geschrumpft sein.74 Hier wird es also künftig auch darum gehen, Vereinbarkeit zu sichern, um das Ausscheiden von Eltern aus dem Erwerbsleben zugunsten der Kinderbetreuung angesichts eines drohenden Arbeitskräftemangels zu vermeiden. Die Entfaltung und Unterstützung von Elternkompetenz als Schwerpunkt familienpolitischen Handels mag erstaunen; es gibt dennoch deutliche Hinweise darauf, dass Elternkompetenzen keine Selbstverständlichkeit besitzen. Im Rahmen der PISA-Studie gaben rund zwei Drittel der untersuchten Jugendlichen an, dass sich ihre Eltern nicht oder nur wenig für ihre schulischen Belange interessierten. Kinderbefragungen haben schon zur Mitte der 90er Jahre gezeigt, dass viele Kinder sich zwar an ihre Eltern um Rat wenden, hilfreiche Gespräche oder Unterstützung aber vermissen.75 Auch die Shell-Jugendstudie weist einen Anteil wenig gesprächsbereiter, uninteressierter und wenig unterstützender Eltern nach.76 Dabei entfaltet das Problem von Elternkompetenzen umso mehr Bedeutung als Familienpolitik im Sinne der Unterstützung bei der Schaffung von Humanvermögen verstanden wird. Gut ausgebildete Kinder und Jugendliche mit Sozialkompetenz, die sie vornehmlich im Elternhaus erwerben können, bilden das Kapital unserer Gesellschaft. Mit dem letzten der oben aufgeführten Handlungsbereiche, der Notwendigkeit, Betreuung, Erziehung und Bildung in einer Gesamtkonzeption zu verankern, trifft die Familienpolitik das Herz der deutschen Staatsorganisation: die föderale Kompetenzordnung. Erziehung obliegt - neben den Eltern - auch staatlichen Stellen auf kommunaler oder Landesebene, rechtlich ist sie durch Bundesgesetz, das Kinder- und Jugendhilfegesetz geregelt. Bei der Betreuung 74 Vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Bevölkerung Deutschlands bis 2050. 10. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, Wiesbaden 2003, S. 37. 75 Vgl. R. K. Silbereisen/L. A. Vaskovics/J. Zinnecker (Hrsg.), Jungsein in Deutschland. Jugendliche und junge Erwachsene 1991 und 1996, Opladen 1996. 76 Vgl. Deutsche Shell, Jugend 2000. 13. Shell Jugendstudie, Opladen 2000.

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stehen die Kommunen nicht nur in der Gewährleistungsverantwortung, müssen also ein ausreichendes Betreuungsangebot vorhalten, was durch die Verabschiedung des Tagesbetreuungsausbaugesetzes 2004 verschärft wurde. Sie sind zugleich für die Finanzierung von Gebäuden und (eines Teils) des Personals zuständig. Bildung gehört schließlich in den Bereich der Länderkompetenz. Gleichwohl erscheint eine Verbindung der drei Bereiche unverzichtbar, leicht zu veranschaulichen an Fragen von Qualitätssicherung und übergreifenden curricularen Konzeptionen. Das Scheitern der Föderalismuskommission 2004 war aber gerade durch bildungspolitische Fragestellungen verursacht.

7. Abschließende Überlegungen Die zentralen Aussagen der Ausführungen haben ein „doppeltes Gesicht". Zum einen ging es darum, den unterschiedlichen Umgang der beiden Teile Deutschlands in der Zeit zwischen 1945 und der Vereinigung deutlich zu machen. Von großer und die Vereinigung lange überdauernder Bedeutung waren dabei vor allem die unterschiedlichen Leitbilder von Familie, die im Recht, aber auch in den familienstützenden Maßnahmen zum Ausdruck kamen. Auf der anderen Seite hat der Policy-Bereich Familie seit Beginn der 90er Jahre einen massiven Bedeutungswandel erfahren. Ursache dafür ist die zunehmende (zu einem großen Teil vom Bundesverfassungsgericht erzwungene) Akzeptanz der volkswirtschaftlichen Leistungen, die Familien erbringen und die im Sinne der Orientierung von Politik am Kriterium der Leistungsgerechtigkeit entgolten werden müssen. Damit hat sich der Charakter des familienpolitischen Diskurses geändert. War Familienpolitik zuvor stark durch moralisch-ideologische Argumentation charakterisiert (dies gilt für die DDR wie für die Bundesrepublik), wird ihr Diskurs durch die Orientierung am Maßstab der Leistungsgerechtigkeit zunehmend objektiviert. Aber auch die immer deutlicher zu spürenden Konsequenzen der demographischen Verschiebungen, die sich als Folge nicht hinreichender Erfüllung von Familienaufgaben im Bereich der reproduktiven Funktion von Familie verstehen lassen, scheinen den klassischen politischen Konfliktlinien eine weitere hinzuzufügen: diejenige zwischen Eltern und Kinderlosen. Der Vergleich zwischen der DDR-Familienpolitik und der bundesrepublikanischen war vor diesem Hintergrund aus zwei Perspektiven aufschlussreich: Einerseits hat er gezeigt, dass die Beeinflussung von Familien allein über Leitbilder nicht funktioniert. Das war deutlich an der Tatsache zu erkennen, dass allein das sozialistische Familienleitbild ohne entsprechende Unterstützung der Frauen die massiven Geburtenrückgänge zum Ende der 60er Jahre nicht verhindern konnte. Andererseits bieten die Erfolge der familienpolitischen Maßnahmen der 70er Jahre, durch die ein weiterer Rückgang der Geburten in der DDR im Ge-

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gensatz zur Bundesrepublik verhindert werden konnte, ein eindeutiges Indiz für die Wirksamkeit von Familienpolitik. Wichtig dabei war vor allem der Charakter der „Paketmaßnahmen", d.h. der Kombination monetärer und infrastruktureller Erleichterungen, der diesen Erfolg bewirkt hat. Vor diesem Hintergrund setzt die aktuelle familienpolitische Diskussion richtig an, indem an eine Kombination aus monetärer Anerkennung von Leistungen, der Gewährleistung von Vereinbarkeit und der Vernetzung von Betreuung, Erziehung und Bildung gedacht wird.

Innerdeutsche Film- und Festivalbeziehungen nach dem Grundlagenvertrag: ARD und ZDF auf der Leipziger Dokumentarfilmwoche

Von Andreas Kotzing

1. Neue Voraussetzungen durch den Grundlagenvertrag Intensive Kontakte im Kulturbereich waren zwischen der Bundesrepublik und der DDR nach dem Mauerbau lange Zeit kaum denkbar. Die politischen Rahmenbedingungen ermöglichten keinen Kulturaustausch. Zwar entwickelten sich zwischen beiden deutschen Staaten bereits in den 1960er Jahren erste kulturpolitische Beziehungen - eine wirkliche Annäherung erfolgte jedoch erst im Zuge der „Neuen Ostpolitik" durch die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt und Walter Scheel. Als Brandt in seiner ersten Regierungserklärung im Oktober 1969 erklärte, „mehr Demokratie wagen" zu wollen, leitete er damit auch eine neue Phase in der Deutschlandpolitik ein: Eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR schloß Brandt zwar nachdrücklich aus, dennoch unterbreitete er ein offensives Gesprächsangebot, das in den folgenden Jahren zu intensiven Kontakten mit der SED-Regierung führte. Am Ende dieses Prozesses stand im Dezember 1972 die Unterzeichnung des „Grundlagenvertrages", der maßgeblich zur Entspannung der politischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR beigetragen hat.1 Der Grundlagenvertrag sah ausdrücklich auch eine Verbesserung der kulturpolitischen Beziehungen zwischen beiden Staaten vor und beinhaltete zum Beispiel auch den Austausch von Korrespondenten im Film- und Fernsehbereich. Das folgende Beispiel zeigt jedoch, daß die praktische Umsetzung der neuen „innerdeutschen Beziehungen" auf dem Gebiet der Kultur von zahlreichen Schwierigkeiten begleitet war. Am Beispiel des Konflikts um die Teilnahme der 1 Vgl. zum Grundlagenvertrag: Detlef Nakath, Deutsch-deutsche Grundlagen. Zur Geschichte der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der DDR und der Bundesrepublik in den Jahren 1969 bis 1982, Schkeuditz 2002.

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öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten an der Leipziger Dokumentär- und Kurzfilmwoche in den 1970er Jahren soll im folgenden verdeutlicht werden, daß die kulturpolitischen Barrieren zwischen Ost und West auch nach dem Grundlagenvertrag nur mühsam überwunden werden konnten.2

2. ARD und ZDF auf der Dokumentarfilmwoche In der Geschichte der Leipziger Dokumentarfilmwoche haben Filme aus der Bundesrepublik von Beginn an immer eine besondere Rolle gespielt.3 In den ersten beiden Jahren (1955 und 1956) war das Festival zunächst noch eine nationale und gesamtdeutsche Veranstaltung, die den Filmaustausch zwischen beiden Ländern fordern und darüber hinaus Kontakte zwischen den Filmemachern ermöglichen sollte.4 Lange ließ sich das gesamtdeutsche Konzept jedoch nicht aufrechterhalten, so daß die Dokumentarfilmwoche nach einer dreijährigen Pause ab 1960 als „Internationales Filmfestival der DDR" stattfand. Dies geschah ausdrücklich auch in Abgrenzung zu den westdeutschen Festivals in Mannheim und insbesondere in Oberhausen, das sich verstärkt um einen filmischen Austausch mit den sozialistischen Staaten bemühte. Innerhalb der deutschen Festivallandschaft führte der Mauerbau zunächst zu einer deutlichen Distanzierung seitens der Bundesrepublik: 1962 wurden keine DDR-Produktionen zu den Oberhausener Kurzfilmtagen eingeladen. Daraufhin sagten auch alle anderen sozialistischen Staaten ihre Teilnahme ab.5 Doch bereits 1963 war die DDR wieder in Oberhausen vertreten, mehrere Jahre sogar in einem gemeinsamen Länder-

2 Auch jüngere Forschungsarbeiten weisen auf diese Schwierigkeiten hin und betonen die Umwege, auf denen ein Kulturaustausch möglich war. Vgl. u.a. Matthias Seinle, Vom Feindbild zum Fremdbild. Die gegenseitige Darstellung von BRD und DDR im Dokumentarfilm, Konstanz 2003; Roland Berbig (Hrsg.), Stille Post. Inoffizielle Schriftstellerkontakte zwischen West und Ost, Berlin 2005. 3 Vgl. hierzu insgesamt: Andreas Kotzing, Die internationale Leipziger Dokumentarund Kurzfilmwoche in den 1970er Jahren. Eine Studie über das „politische Profil" des Festivals, Media-Studien 12, Leipzig 2004, sowie zur Geschichte des Leipziger Festivals die in Frankreich entstandene Dissertation von Caroline Moine, Le cinéma en RDA, entre autarcie culturelle et dialogue international, 1949-1990. Une histoire du festival international de films documentaires de Leipzig. 4

Vgl. Christiane Miickenberger, Fenster zur Welt. Zur Geschichte der Leipziger Dokumentär- und Kurzfilmwoche, in: Filmmuseum Potsdam (Hrsg.), Schwarzweiß und Farbe. DEFA-Dokumentarfilme 1946-92, Berlin 20002, S. 364-381. 5 Vgl. Manfred Dammeyer, Ein Festival im Kalten Krieg. Die westdeutschen Kurzfilmtage im Spannungsfeld der Politik, in: Kurz und Klein. 50 Jahre Internationale Kurzfilmtage Oberhausen, Ostfildern-Ruit 2004, S. 41-44, hier: S. 41f; Regina Aggio, Filmpolitische Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR 1956-1966, in: Deutschland Archiv, 38 (2005) 4, S. 634-640.

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Programm mit der Bundesrepublik; auch viele andere sozialistische Staaten zeigten regelmäßig Filme in Oberhausen.6 Auf dem Leipziger Festival überwog hingegen schon seit Anfang der 1960er Jahre eine deutlich ideologisch motivierte Abgrenzung. Aus der Bundesrepublik wie aus den westlichen Ländern allgemein sollten bis zu Beginn der 1970er Jahre Filme nur noch dann aufgeführt werden, wenn sie „den Kampf der Arbeiterklasse und anderer fortschrittlicher Kräfte gegen das imperialistische Gesellschaftssystem überzeugend gestalten".7 Gleichwohl wurde westdeutschen Produktionen oftmals eine besondere Stellung eingeräumt. „Fortschrittlichen Filmund Fernsehschaffenden" aus der Bundesrepublik sei die Teilnahme am Festival explizit zu ermöglichen, wenn ihre Filme „insgesamt der Abgrenzung vom Imperialismus dienen", hieß es in einer internen Konzeption der Dokumentarfilmwoche. Die gezeigten Filme erregten dabei aber kaum größeres Aufsehen: Zwischen 1960 und 1980 wurden insgesamt nur fünf Filme aus der Bundesrepublik mit Hauptpreisen, Goldenen oder Silbernen Tauben, ausgezeichnet. Ein weiteres, sehr wesentliches Merkmal im Zusammenhang mit der Präsenz der Bundesrepublik auf dem Leipziger Festival war die strikte Trennung von „BRD" und „Westberlin". Ob in der Gäste- und Teilnehmerliste, in den Berichten der Festivalleitung oder bei der Bekanntgabe der Preisträger: Westberlin wurde gemäß dem Viermächte-Abkommen vom 3. September 1971 als unabhängige politische Einheit stets separat aufgeführt. Für den späteren Konflikt mit der ARD war dies war entscheidender Bedeutung. Die öffentlichen Rundfunkanstalten ARD und ZDF waren bis Mitte der 1980er Jahre nicht mit eigenen Produktionen auf der Dokumentarfilmwoche vertreten. Erste Kontakte zwischen den westdeutschen Fernsehanstalten und dem Leipziger Festival gab es jedoch bereits 1972, als drei Vertreter des WDR als Gäste am Festival teilnahmen.8 Ein Jahr später versuchte der Bayerische Rundfunk seine Produktion „Robert - ein Kind, das nicht spricht" im Namen

6 Vgl. Wilhelm Roth, Die schwierigen Nachbarn. Ein Festival und seine Mythen, in: Kurz und Klein (Anm. 5), S. 9-14, hier: S. 9f. 7 Vereinbarung des Ministeriums für Kultur, des staatlichen Komitees für Femsehen beim Ministerrat der DDR und des Verbandes der Film- und Fernsehschaffenden der DDR über die Vorbereitung und Durchführung der XIV. Internationalen Leipziger Dokumentär- und Kurzfilmwoche für Kino und Fernsehen vom 20. bis 27. November 1971, Aktenbestand Leipziger Dokumentarfilmwochen im Bundesfilmarchiv Berlin (BFarch. Leipziger Dok.), 18/1971. 8 Vgl. Richard Dill, Deutsches Femsehen (Programmkoordination, Ausland und Festivals). ARD-Teilnahme an der Internationalen Leipziger Dokumentär- und Kurzfilmwoche für Kino und Femsehen, 14.1.1976, DRA Babelsberg Depo. SFB 339, Festivals allgemein K-R.

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der ARD für die Dokumentarfilmwoche anzumelden. „Der Beitrag wurde jedoch von der Auswahlkommission des Festivals als , ungeeignet' abgewiesen."9 Zwei Jahre später erweiterte die ARD ihre Bemühungen, in Leipzig präsent zu sein. Auf die Entsendung eines eigenen Beitrages wurde zwar verzichtet, nachdem sich alle Landesrundfunkanstalten geschlossen dagegen ausgesprochen hatten.10 Stattdessen wurde aber Richard Dill, Programmkoordinator der ARD in der Abteilung „Ausland und Festival", als offizieller Beobachter nach Leipzig entsandt. In seinem Bericht über den Verlauf der XVII. Dokumentarfilmwoche (1974) nahm er Bezug auf die Präsenz der Bundesrepublik in Leipzig und berichtete außerdem über mehrere Gespräche, die er mit Ronald Trisch, dem damaligen Festivaldirektor, und mit Vertretern des DDR-Fernsehens geführt hatte.11 Er machte dabei deutlich, daß seiner Meinung nach eine zukünftige Teilnahme der ARD nur unter zwei Bedingungen möglich sei. Erstens wünsche die ARD, in Zukunft übergreifend als Sendeanstalt eingeladen zu werden, anstelle von individuellen Einladungen an einzelne Personen, wie sie in den vergangenen Jahren üblich waren. Zweitens müssten die allgemeinen Richtlinien für die Aufführung von Filmen im Reglement des Festivals geändert werden: „Im Statut selbst sind es präzise sechs Worte, die uns stören", schrieb Dill in seinem Bericht. „Wir können z.B. Filme entsenden, die ,das Streben der Völker nach Freiheit von Ausbeutung' zeigen, aber nicht nach Freiheit von ,kapitalistischer* Ausbeutung. Wir können Filme zeigen, die ,von der Entfaltung des Menschen in der real existierenden Gesellschaft künden4, aber nicht in der real existierenden sozialistischen4 Gesellschaft." Dills Bericht zufolge klang in den Gesprächen mit Trisch jedoch durch, „daß eine Änderung des Statuts im Sinne einer Öffnung nach Westen möglicherweise nicht zu erreichen sein wird". Trotzdem schlug Dill den Landesrundfunkanstalten vor, eine Beteiligung der ARD im kommenden Jahr nicht von vornherein auszuschließen und eine Entscheidung erst dann zu treffen, „wenn die neuen Statuten und Einladungen eingetroffen sind".12 Als im Juli 1975 die neuen Einladungen bei der ARD eintrafen, gab es in der Tat kleine, aber sehr wichtige Veränderungen: Im Reglement des Festivals waren nicht nur sechs, sondern sogar neun Wörter nebst den entsprechenden For9

Ebd. Vgl. Rundschreiben von Richard Dill an die Fernsehdirektoren der ARD, 22.07.1974. Auf das Rundschreiben reagierten der SR, der SWF, der NDR, der WDR und der BR mit einer Ablehnung bezüglich der Teilnahme am Leipziger Festival, DRA Babelsberg Depo. SFB 339, Festivals allgemein K-R. 11 Richard Dill , Deutsches Fernsehen (Programmkoordination Ausland). Bericht über die XVII. Internationale Leipziger Dokumentär- und Kurzfilmwoche, 2.12.1974, DRA Babelsberg Depo. SFB 339, Festivals allgemein K-R. 10

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mulierungen verändert bzw. gestrichen worden.13 Die einzureichenden Filme mußten nun nicht mehr ausschließlich „von den humanistischen Idealen im Sozialismus" handeln und brauchten auch nicht mehr zwangsläufig das Streben der Völker nach „Freiheit von kapitalistischer Ausbeutung", nach „Sozialismus" und nach „antiimperialistischer Solidarität" sichtbar zu machen. Die „Entfaltung des Menschen in der real existierenden sozialistischen Gesellschaft" und die „Freiheit von imperialistischer Unterdrückung" blieben als Auswahlkriterien hingegen erhalten. Ganz neu war die Formulierung, daß die einzureichenden Filme auch „Sicherheit, sozialen Fortschritt und Menschenwürde" zeigen sollten.14 Aus den überlieferten Festivalakten läßt sich bislang nicht genau rekonstruieren, warum das Reglement des Festivals verändert wurde oder ob die neuen Formulierungen gar im Zusammenhang mit den Gesprächen zwischen Ronald Trisch und Richard Dill im Jahr zuvor standen.15 Unabhängig davon, welche Gründe es für die Änderung gab, war das neue Reglement in jedem Fall ausschlaggebend dafür, daß die ARD 1975 erneut versuchte, sich mit eigenen Produktionen am Festival zu beteiligen. Die Teilnehmer der Programmkonferenz im Juli 1975 in Baden-Baden hatten sich noch gegen eine Bewerbung ausgesprochen, aber auf einer Sondersitzung der Intendanten am 25. August wurde der Entschluß gefaßt, die WDR-Produktion „Buchenwald: Häftlinge organisieren Widerstand" für die Dokumentarfilmwoche zu nominieren.16 Außerdem wurde ein Film des Senders Freies Berlin (SFB) angemeldet und eine offizielle ARD-Delegation benannt, deren Vorsitz Erich Proebster, der damalige Fernsehdirektor des SFB, übernehmen sollte. Ein offizielles Schreiben wurde am 26. September an Ronald Trisch übersandt.17 Darin machte die ARD ausdrücklich darauf aufmerksam, daß ihre Delegation auch den SFB vertreten werde: „Wir legen Wert darauf, daß in allen offiziellen Dokumenten und Publikationen im Zusammenhang mit Ihrer Veranstaltung die Zugehörigkeit aller Delegationsmit13 Vgl. Rundschreiben von Richard Dill an die Fernsehdirektoren der Landesrundfunkanstalten, 7.7.1975, DRA Babelsberg Depo. SFB 339, Festivals allgemein K-R. 14 Vgl. das Reglement von 1974, BFarch. Leipziger Dok. 23/1974 und das Reglement von 1975, BFarch. Leipziger Dok. 25/1975. 15 Sowohl die internen Dokumente des Festivals, als auch die Akten des ZK der SED nehmen keinen direkten Bezug auf die Änderung des Reglements; vgl. dazu auch das Zeitzeugengespräch mit Ronald Trisch, in: Kotzing, Dokumentarfilmwoche (Anm. 3), S. 163 f. 16 Vgl. Deutsches Femsehen, ARD-Teilnahme (Anm. 8). 17 Vgl. Deutsches Femsehen, Programmdirektion, vertreten durch Richard Dill an Ronald Trisch, München 26.9.1975, DRA Babelsberg Depo. SFB 339, Festivals allgemein K-R. Der Delegation sollten außerdem auch Olrik Breckoff vom WDR, Michael Stoffregen-Büller vom HR sowie Hans Joachim Wack und Edgar Reineck von der Degeto Frankfurt a.M. angehören.

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glieder und aller Beiträge zur ARD ausgewiesen wird, d. h., daß die Bezeichnung nach dem Modell ,ARD/Landesrundfunkanstalt' erfolgt. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Ihre Zustimmung zu dieser Regelung bestätigen würden."18 Eine Zustimmung aus Leipzig erfolgte jedoch nicht. Im Gegenteil: Die Anmeldung der ARD geriet zu einem umfassenden Streitfall, der nicht nur die Auswahlkommission und das Leipziger Festivalkomitee beschäftigte, sondern auch den verantwortlichen Sekretären im ZK der SED sowie dem Außenministerium „erhebliche Kopfzerbrechen" bereitete.19

3. Reaktionen im Z K der SED Was war passiert? Die Abteilung Kultur des ZK der SED verfaßte am 29. Oktober 1975 ein Informationsschreiben über die sogenannte „Haltung der Fernsehstationen der BRD" zum Leipziger Festival. Das Schreiben zeigt klar und deutlich die Probleme, die die SED-Führung mit der Anmeldung der ARD hatte. Die Kritik richtete sich zunächst gegen den eingereichten WDR-Film.20 Im Mittelpunkt von „Buchenwald: Häftlinge organisieren Widerstand" stehe zwar „die Darstellung des antifaschistischen Widerstandskampfes im Konzentrationslager Buchenwald während der Nazizeit" und darüber hinaus enthalte „der Hauptteil des Films eine überwiegend richtige und positive Darstellung dieses Kampfes". Allerdings gebe es im „Kommentartext, der zum Teil mit Filmberichten über die Vorbereitung und Durchführung des verbrecherischen Hitlerkrieges unterlegt ist, auch einzelne politisch falsche und gehässige Aussagen und Formulierungen". Dazu gehörte zum Beispiel die Verwendung des Begriffes „Hitler-Stalin-Pakt", ebenso die Bezeichnung „Stalinsche KPD" - dennoch sei der Hauptteil des Films in seiner „Gesamtaussage [...] politisch akzeptabel".21 Auf wesentlich umfangreichere Kritik stieß jedoch die Rahmenhandlung des Films, die eindeutige Querverweise auf die Entwicklung der innerdeutschen Beziehungen enthielt. So wurde zum Beispiel das Erfurter Treffen von Willy 18 Ebd. Die Formulierung ging wortwörtlich auf Erich Proebster zurück, der zuvor um eine klare Stellungnahme bezüglich eines gemeinsamen Auftretens von ARD und SFB gebeten hatte, vgl. Deutsches Femsehen, ARD-Teilnahme (Anm. 8). 19 Rüdiger Steinmetz, Von der anti-imperialistischen Solidarität zu den Stärken des Sozialismus. Ein Blick zurück ins zweite Jahrzehnt des Festivals, in: Fred Gehler/Ders. (Hrsg.), Dialog mit einem Mythos, Leipzig 1998, S. 35-42, hier: S. 38. 20 Vgl. Abteilung Kultur, Information über die Haltung der Fernsehstationen der BRD zur „Internationalen Leipziger Dokumentär- und Kurzfilmwoche für Kino und Femsehen 1975", Berlin 29.10.1975, SAPMO DY 30/IV B 2/9.06/82.

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Brandt und Willi Stoph im Film aufgegriffen, wobei die genaue Darstellung des Treffens im ZK als indirekte Provokation aufgefaßt wurde: „Hier ist das verfugbare Filmmaterial so gestaltet, daß der Eindruck eines jubelnden Empfanges für Willy Brandt durch die Erfurter Bevölkerung entsteht." Auch das Ende des Films erregte Aufsehen. Ein Kameraschwenk über die Staatsgrenze der DDR, bei dem „vor allem Stacheldraht gezeigt" wird, provoziere angeblich einen „Vergleich mit den Stacheldrahtzäunen des KZ Buchenwald". Die SED witterte hinter diesen Szenen einen „raffinierten und gezielten politischen Schachzug" durch die ARD, die „das Thema des antifaschistischen Widerstandes in einer überwiegend richtigen Darstellungsweise nur deshalb" ausgewählt habe, „um die falschen ,innerdeutschen Akzente4 und den indirekten Angriff auf die Staatsgrenze der DDR [...] in Leipzig verbreiten zu können".22 Das Reglement der Dokumentarfilmwoche bot jedoch keine Möglichkeit, einen Film, der inhaltlich mit den Schwerpunkten des Festivals übereinstimmte, aus politischen Gründen abzulehnen. Deshalb wurde die Möglichkeit ins Auge gefaßt, den Film zwar nicht im Wettbewerb, aber in einer „Informationsschau" vor ausgewähltem Publikum zu zeigen. Allerdings verfügte Erich Honecker am 6. November persönlich, daß der Film nicht in Leipzig gezeigt werden sollte.23 Äußerst ablehnend reagierte die SED auch auf die Nominierung Erich Proebsters als Leiter der ARD-Delegation. Gemäß der Trennung von „Westberlin" und „BRD" sollte auch der SFB nicht in einer gemeinsamen Delegation mit der ARD vertreten sein. Die Nominierung des SFB-Direktors als Sprecher der Delegation wollte die SED unter keinen Umständen akzeptieren, da sie auch dahinter eine politisch motivierte Provokation vermutete. „Mit diesem Vorgehen will die ARD offensichtlich versuchen, auf diesem Festival die falsche BRD-Interpretation über den Status von Westberlin durchzusetzen. Das MfAA der DDR erklärte dazu in einer angeforderten Stellungnahme, die vom Stellvertreter des Ministers für Auswärtige Angelegenheiten, Genossen Dr. Grunert, unterzeichnet ist, daß die Ansprüche der ARD zurückgewiesen werden müssen."24 Dem Bericht entsprechend erging am 6. November eine Direktive von Kurt Hager, die als Richtlinie den weiteren Verlauf der Auseinandersetzung mit der

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Ebd. Der Bericht verweist auf eine frühere Auffuhrung des Films in der ARD, bei der der „Jubel auf Willy Brandt" noch nicht vorhanden gewesen sei. In den ARD-Akten gibt es jedoch keinen Beleg dafür, daß die entsprechenden Szenen tatsächlich erst nachträglich in den Film hineingeschnitten worden sind. 23 Vgl. ebd. Auf dem Bericht vermerkte Honecker handschriftlich „kommt gar nicht im Frage"; vgl. hierzu auch Steinmetz: anti-imperialistische Solidarität, S. 39. 24 Abteilung Kultur, Information über die Haltung der Fernsehstationen der BRD (Anm. 20).

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ARD vorgab.25 Ronald Trisch wurde als Festivaldirektor beauftragt, ein Treffen mit einem Vertreter der ARD zu vereinbaren. Er sollte bei dieser Gelegenheit bekannt geben, daß Erich Proebster nicht als Sprecher der ARD-Delegation akzeptiert werden könne, „da ein ständiger Einwohner von Berlin-West nicht als Repräsentant einer BRD-Institution auftreten kann". Proebster könne stattdessen am „Ende der Teilnehmerliste der BRD aufgeführt werden". Trisch sollte außerdem auch die Ablehnung von „Buchenwald: Häftlinge organisieren Widerstand" begründen, da es nicht zulässig sei, „daß Werke von Rundfunk- und Fernsehanstalten anderer Länder sich mit Ereignissen im Land des Gastgebers befassen". In Hagers Direktive wird nicht zuletzt deutlich, wie kompromißlos die SED-Führung in der Auseinandersetzung mit der ARD reagierte, denn ein Scheitern der Verhandlungen war von vornherein einkalkuliert: „Es ist deutlich zum Ausdruck zu bringen, daß das Leipziger Dokumentär- und Kurzfilmfestival kein Platz für nationalistische und gegen die DDR gerichtete Hetze ist. Sollten die Vertreter der ARD daraufhin ihre Nichtteilnahme am Festival erklären, so ist dies ohne weiteren Kommentar zur Kenntnis zu nehmen."26 Wenn es darum geht, die interne Haltung der SED zu rekonstruieren, ist Kurt Hagers Direktive sicherlich ein aussagekräftiges Dokument, auch wenn der vorausgegangene Diskurs darin auf eine scheinbar einheitliche „Parteilinie" reduziert wird. Darüber hinaus muss die Quelle jedoch mit Vorsicht interpretiert werden. Die Direktive lässt weder ernsthafte Rückschlüsse auf die tatsächliche Intention des WDR-Films zu, noch kann man aus ihr schließen, inwiefern die Nominierung Erich Proebsters tatsächlich eine gezielte Provokation gewesen ist. Der Vorwurf der „nationalistischen Hetz" ist indes Ausdruck einer überzogenen Sensibilität seitens des ZK der SED. Die bloße Vermutung, daß es sich hierbei um eine gezielte Aktion durch die Bundesrepublik gehandelt haben könnte, reichte aus, um eine kompromißlose Haltung zu entwickeln.

4. Verhandlungen mit der ARD Das anberaumte Treffen fand am 14. November in Leipzig statt. Für die ARD nahmen Richard Dill und Hans Joachim Wack, Direktor der ARDDegeto-Film GmbH, am Gespräch teil. Neben Ronald Trisch, der das Gespräch leitete, war außerdem der stellvertretende Festivaldirektor, Dr. Freyer, anwe-

25 Vgl. Direktive, unterzeichnet von Kurt Hager, Berlin 6.11.1975, DY 30/IV B 2/9.06/82.

2

Ebd.

SAPMO

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send.27 Die Unterhaltung dauerte insgesamt acht Stunden. Am Ende konnte keine Einigung erzielt werden. Die Ablehnung des „Buchenwald-Films" war dabei nicht entscheidend. Dill und Wack brachten sogar zum Ausdruck, daß sie mehr oder weniger damit gerechnet hätten. Maßgeblich für das Scheitern der Verhandlungen war der Streit um den Status des SFB.28 Trisch machte deutlich, „daß das Festival keine Formulierung akzeptieren kann, die durch die Verwendung der Bezeichnung ,ARD' auf eine Zugehörigkeit Westberlins und des Senders Freies Berlin zur BRD schließen läßt".29 Dill und Wack erklärten hingegen, „die ARD sei eine nichtstaatliche Organisation ohne völkerrechtliche Implikation, die Mitglieder aus der Bundesrepublik und aus Berlin (West) umfaßt", und „daß jede Formulierung, welche die Zugehörigkeit des SFB zur ARD nicht klar zum Ausdruck bringt, nicht annehmbar sei".30 Die Vertreter der ARD versuchten noch, die Festivalleitung zu einem Kompromiß zu bewegen, und schlugen vor, auf allen Publikationen (Programmheft, Informationsblätter, Gästelisten etc.) eine Fußnote zu veröffentlichen, die den nicht-völkerrechtlichen Status der ARD deutlich machen sollte.31 Diese Regelung hatte bereits auf dem Prager Filmfestival Verwendung gefunden, wurde aber durch Trisch abgelehnt, weil sie „nach wie vor die Verbindung ARD/SFB" beinhalte.32 Beide Verhandlungspartner bedauerten schließlich das Scheitern der Besprechung und versicherten sich ihr gegenseitiges Interesse, die Gespräche im nächsten Jahr fortzusetzen. Die ARD gab am 18. November in einer Presseerklärung bekannt, daß sie die gemeldeten Beiträge zusammen mit ihrer Delegation zurückziehen und nicht am Leipziger Festival teilnehmen werde.33

27 Vgl. Ronald Trisch, Bericht über ein Gespräch mit den Vertretern der ARD im Hinblick auf eine Teilnahme am X V I I I . Leipziger Festival, Leipzig 16.11.1975, SAPMO DY 30/TVB 2/9.06/81. 28 Vgl. Deutsches Fernsehen, ARD-Teilnahme (Anm. 8) sowie Richard Dill, Fernschreiben an die Intendanten und Fernsehdirektoren der Landesrundfunkanstalten, 17.11.1975, DRA Babelsberg Depo. SFB 339, Festivals allgemein K-R. 29 Trisch, Bericht (Anm. 27). 30 Dill, Femschreiben vom 17.11.1975 (Anm. 28), Bl. 2. 31 Die Fußnote sollte den Wortlaut haben: „Die ARD ist eine Vereinigung von öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, die Mitglieder aus der BRD und aus Berlin (West) umfaßt. Die Bezeichnung ARD sagt nichts über die völkerrechtlichen Beziehungen zwischen der BRD und Berlin (West) aus." Vgl. Trisch, Bericht (Anm. 27); vgl. zu den Regelungen in Prag und auf anderen Festivals: Deutsches Femsehen, ARDTeilnahme (Anm. 8). 32 Trisch, Bericht (Anm. 27), Bl. 3. 33 Der unklare Stellenwert des SFB wurde bereits im unmittelbaren Umfeld des Berlin-Abkommens durch den damaligen Botschafter der Bundesrepublik in Moskau, Ulrich Sahm, thematisiert; vgl. Botschafter Sahm an das Auswärtige Amt, Fernschreiben

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Mit dem Scheitern der Verhandlungen war der Konflikt um die Teilnahme der ARD am Leipziger Festival allerdings noch nicht beendet. Sowohl die Festivalleitung als auch die Programmdirektion der ARD vertagten das SFBProblem zunächst auf das kommende Jahr, doch bereits im unmittelbaren Anschluß an die XVIII. Dokumentarfilmwoche hatte die Absage der ARD ein intensives Nachspiel in verschiedenen westdeutschen Zeitungen. Die Frankfurter Rundschau titelte am 9. Dezember 1975 „Klassisches Eigentor oder Skandal um Leipzig" und warf der ARD ihre angebliche „Boykott"-Taktik vor. Im Zusammenhang mit „Buchenwald: Häftlinge organisieren Widerstand" und der Frage der Zusammengehörigkeit von SFB und ARD argumentierte die Frankfurter Rundschau ähnlich wie die SED-Führung. Die ARD hätte mit „konzentrierten Provokationen" das Scheitern der Verhandlungen verursacht. „Mit der Borniertheit der Verantwortlichen ist dieses Verhalten der ARD kaum zu erklären. Dahinter steckt Taktik - gar die Taktik der kalten Krieger?" 34 Weniger polemisch, aber gleichwohl kritisch berichtete die Süddeutsche Zeitung über die Absage der ARD: „In der Tat muß man den Eindruck haben, daß es der ARD weniger darauf ankam, in Leipzig Filme zu zeigen, als durch eine Anmeldung zu testen, wie weit die DDR auf kulturellem Gebiet die Bindung zwischen Berlin und dem Bund anzuerkennen bereit ist. Das Leipziger Festival, als eine Veranstaltung des Staates DDR, kann hier aber nicht anders entscheiden als die Regierung der DDR. Und ob im nächsten Jahr ein Kompromiß möglich ist: es wird wieder nicht vom Leipziger Festival und von der ARD abhängen, sondern von der politischen Entwicklung bis dahin."35 Auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die 1975 erstmals mit einem größeren Artikel über die Dokumentarfilmwoche berichtete, ging auf die Absage der ARD ein und wertete das Scheitern der Verhandlungen als „Debakel", welches „vielleicht hätte vermieden werden können".36

Nr. 1873, in: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1972, Bd. II, München 2003, S. 919-928, hier: S. 924. 34 Peter B. Schumann, Klassisches Eigentor oder Skandal um Leipzig. Zum Fernbleiben der ARD von der diesjährigen Dokumentär- und Kurzfilmwoche, in: Frankfurter Rundschau, 9.12.1975, S. 10. 35 Wilhelm Roth, Absurde Kontraste. Die Dokumentär- und Kurzfilmwoche in Leipzig, in: Süddeutsche Zeitung, 5.12.1975, S. 15. 36 Ulrich Gregor, Eine Statue fiel in Saigon. Bericht von der achtzehnten internationalen Dokumentär- und Kurzfilmwoche in Leipzig, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.12.1975, S. 19.

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5. Provokation oder Überreaktion? Die Frage, inwiefern die Anmeldung der ARD tatsächlich politisch motiviert war, läßt sich nicht so leicht beantworten, wie es die verschiedenen Zeitungsartikel suggerieren. Daß ein Film eingereicht wurde, der in einigen Szenen die innerdeutschen Beziehungen thematisierte; daß zusätzlich ein Beitrag des SFB angemeldet wurde, der nur als „ARD/SFB"-Produktion ausgewiesen werden sollte; daß ausgerechnet der Programmdirektor des SFB den Vorsitz der ARDDelegation übernahm - all das legt die Vermutung nahe, daß es innerhalb der ARD sehr wohl die Absicht gab, die Leipziger Bewerbung als „Testfall" für den Status des SFB bei Kulturveranstaltungen in der DDR zu benutzen. Ob damit ein politischer Querverweis auf die allgemeine Bedeutung von „Westberlin" gezogen werden sollte, ist jedoch fraglich. Die Analogien „SFB gleich Westberlin" und „ARD gleich Bundesrepublik"finden sich zwar in den Akten der SEDFührung, aber nicht in den Unterlagen der ARD-Programmdirektion. Ein Brief von Erich Proebster an Günter Gaus, den damaligen Staatssekretär der ständigen Vertretung der Bundesrepublik in der DDR, läßt jedoch in der Tat Rückschlüsse auf politische Überlegungen zu, die für die Anmeldung der ARD von Bedeutung gewesen sind. Proebster nannte in dem Brief verschiedene Punkte, die ausschlaggebend für die Anmeldung waren, darunter die Hoffnung auf eine mögliche Korrektur des Bildes von der Bundesrepublik und von WestBerlin, daß in den Jahren zuvor in Leipzig vermittelt worden sei. Außerdem sollte offiziell getestet werden, „ob die Zugehörigkeit des SFB zur ARD auf diesem Festival in Frage gestellt wird". 37 Aus Sicht der ARD erklärt sich dieser „Testversuch", da auf anderen Filmfestivals - unter anderem in Prag und beim TELEFORUM Moskau - bereits eine gemeinsame Vertretung von SFB und ARD akzeptiert worden war. Insofern waren die oben erwähnten Zeitungsberichte nur teilweise begründet. Franz Barsig, der Intendant des SFB, reagierte dementsprechend mit einem Leserbrief auf den Artikel „Klassisches Eigentor oder Skandal um Leipzig" in der Frankfurter Rundschau und zeigte sich verärgert: „Die politischen Motive, die der Autor im Verhalten der ARD vermutet, hat es niemals gegeben".38 Der „kalten Kriegstaktik" widersprach auch Jürgen Warner, stellvertretender Chefredakteur des ZDF, das sich in der Auseinandersetzung solidarisch mit der ARD verhielt und ebenfalls auf eine Teilnahme in Leipzig verzichtete. In seinem Leserbrief gestand er jedoch ein, daß mit „Buchenwald: Häftlinge organisieren Widerstand" ein Film eingereicht worden war, „der in Teilen vorhersehbare Kritik 37 Brief von Erich Proebster an Günter Gaus, 8.10.1975, DRA Babelsberg Depo. SFB 339, Festivals allgemein K-R. 38 Freie Aussprache, in: Frankfurter Rundschau, 15.12.1975, S. 2.

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erfahren mußte". Nichtsdestotrotz sei es ein „Ausdruck der Selbstachtung" gewesen, daß die ARD nicht bereit gewesen wäre, sich anzupassen, da in Leipzig nur Filme Zustimmung finden würden, „die das Gesellschaftssystem des Ostens loben oder das des Westens verurteilen". 39 Aus den Briefen von Warner und Barsig geht deutlich hervor, daß es offensichtlich Überlegungen gab, einen Film einzureichen, der zumindest nicht ohne Widerspruch bleiben sollte. Eine absichtliche Provokation in dem Ausmaß, wie sie durch die SED-Führung empfunden wurde, war damit jedoch nicht verbunden.

6. Erneute Verhandlungen Richard Dill machte ein Jahr später, im Vorfeld des 1976er Festivals, deutlich, daß eine Teilnahme an der Dokumentarfilmwoche „aus vielfachen Gründen" noch immer im Interesse der ARD liegen würde. Im Hinblick auf eventuelle Neuverhandlungen machte er jedoch deutlich, daß Gespräche nur über den Status des SFB geführt werden sollten und dabei keiner diplomatischen Lösung, „die das Problem verschleiert und die uns von verschiedenen Seiten nahegelegt wird", zugestimmt werden könne. „Fragen dagegen, welche den Status von Berlin und die Staatszugehörigkeit von Delegierten betreffen, können von der ARD nur im Auftrag und in Unterstützung der Bundesregierung vertreten werden. Über den Umfang der hier von der ARD zu erbringenden Solidarität wäre Übereinstimmung mit der Bundesregierung herzustellen." Dill erwähnte in seinem Bericht, daß es bereits einzelne Kontakte zu verschiedenen Institutionen gab, darunter auch dem Ministerium für Innerdeutsche Beziehungen, dem Bundeskanzleramt und dem Berliner Senat. Die Gespräche hätten aber lediglich deutlich gemacht, „daß es auch innerhalb der Bundesregierung bisher keine einheitliche Auffassung gibt". 40 Die Kontakte der ARD zur Bundesregierung hatten noch einen weiteren Hintergrund. Durch das Bundeswirtschaftsministerium wurde jährlich eine Liste herausgegeben, auf der alle wichtigen internationalen Festivals verzeichnet waren nur nicht die Leipziger Dokumentarfilmwoche. Die Liste war aus finanziellen Gründen wichtig, weil Filme, die auf den verzeichneten Festivals ausgezeichnet wurden, eine Sonderprämie durch die Filmförderungsanstalt erhalten konnten. Die Ausgliederung des Leipziger Festivals resultierte in diesem Fall aus rein politischen Gründen, die durch das Ministerium für Innerdeutsche Beziehungen auch öffentlich diskutiert wurden. Im Vordergrund stand dabei das Reglement des Festivals, das angeblich einer „Zensur" gleichkäme; außerdem handele es 39 40

Ebd. Deutsches Fernsehen, ARD-Teilnahme (Anm. 8).

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sich bei der Dokumentarfilmwoche um ein „völlig einseitiges propagandistisches Festival", auf dem nur „einseitige politische Filme" ausgezeichnet würden.41 Dem widersprach hingegen die Ständige Vertretung der Bundesrepublik, die in ihrem Bericht über die XVIII. Dokumentarfilmwoche zwar keinen Bezug auf die vom Wirtschaftsministerium herausgegebene Liste nahm, aber das dort gezeichnete Bild eines „ausschließlich propagandistischen Festivals" wesentlich korrigierte. Durch die Änderung des Reglements seien „inhaltliche Grenzen gelockert" worden: „Die politische Seite äußerte sich mit mehr Gelassenheit, die kämpferische Note wurde seltener und an anderen Schauplätzen deutlich gemacht und das menschliche Element kam - vor allem bei den Beiträgen der sozialistischen Länder über ihr eigenes Leben stärker als früher zur Geltung." Auch die Filme, die insbesondere das Gesellschaftssystem in der Bundesrepublik kritisiert hätten, seien in einem „erträglichen Rahmen" geblieben. Das Scheitern der ARD-Teilnahme wurde dem Bericht der Ständigen Vertretung zufolge in Leipzig auch nicht als Politikum aufgefaßt, sondern „von den anderen westlichen Sende-Anstalten, [...] ganz allgemein von der in Leipzig anwesenden Filmwelt und vom Veranstalter bedauert".42 Wie bereits erwähnt, äußerten sich auch Ronald Trisch und Richard Dill enttäuscht über den negativen Ausgang der Gespräche. Beide hatten bereits unmittelbar nach dem Scheitern der Verhandlungen den Entschluß gefaßt, im kommenden Jahr erneut über eine mögliche Teilnahme der ARD zu verhandeln, und so fand am 30. September 1976 ein neues Treffen statt, an dem neben Trisch, Dill und Wack auch Werner Rose, Arbeitsgruppenleiter des DEFA-Studios für Dokumentarfilme, teilnahm.43 Im Vorfeld des Gespräches hatten einzelne Briefe der Festivalleitung an verschiedene Vertreter der ARD den Eindruck erweckt, daß das Problem „SFB" in diesem Jahr gelöst werden könne,44 doch die separat

41 Zitiert nach H. Lölhöffel, Gedankenspiele um ein Festival. Bonn und die Leipziger Filmwoche, in: Süddeutsche Zeitung, 1.12.1975, S. 3; vgl. auch: Ein allzu durchsichtiger Coup, in: DOK-Filmwochen GmbH (Hrsg.), Weiße Taube auf dunklem Grund. 40 Jahre Internationales Leipziger Festival für Dokumentär- und Animationsfilm, Berlin 1997, S. 175f. 42 Vgl. Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland, Bericht über die XVIII. Internationale Leipziger Dokumentär- und Kurzfilmwoche für Kino und Femsehen vom 22.-29. November 1975, Berlin 3.12.1975, DRA Babelsberg Depo. SFB 339, Festivals allgemein K-R. Der Bericht ging an das Bundeskanzleramt, das Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen, das Wirtschaftsministerium, das Innenministerium, das Auswärtige Amt und - auf Anfrage von Erich Proebster - auch an den SFB. 43 Vgl. Ursula Rackwitz, Abteilung Kultur im ZK der SED, an Kurt Hager, 22.10.1976, SAPMO DY 30/IV B 2/9.06/82. 44 Vgl. u. a. Ronald Trisch und Annelie Thorndike an Franz Barsig, Intendant des SFB, Berlin 14.07.1976, sowie Franz Barsig an Richard Dill, Berlin 1.7.1976, beide Briefe DRA Babelsberg Depo. SFB 339, Festivals allgemein K-R.

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verschickten Einladungen an den SFB machten deutlich, daß der Verhandlungsspielraum sehr gering war. 45 Die ARD nominierte mit Wilfried Zirke erneut einen Vertreter des SFB als Mitglied ihrer Delegation, diesmal jedoch nicht als Leiter. Die Frage, wie Zirke in der Gästeliste aufgeführt werden sollte, bestimmte den Verlauf des Gesprächs. Die Bezeichnung „SFB/ARD", wie sie von Dill und Wack vorgeschlagen wurde, akzeptierte die Leipziger Festivalleitung nicht. Stattdessen schlug Trisch nun seinerseits eine umfangreiche Fußnote vor, die ausdrücken sollte, daß der SFB zwar „gemeinsam mit der Delegation der ARD" am Festival teilnimmt, die Westberliner Sektoren hingegen aber „kein Bestandteil der BRD sind und von ihr nicht regiert werden".46 Mit einer Fußnote, die keine Verwendung der Bezeichnung „SFB/ARD" einschloß, erklärten sich Dill und Wack jedoch nicht einverstanden. Die Verhandlungen scheiterten erneut. Nachdem die ARD auch 1976 nicht am Festival teilnahm, gerieten die Verhandlungen in den folgenden Jahren in eine Sackgasse. Die Leipziger Festivalleitung blieb bei ihrer Prozedur und lud die Vertreter des SFB weiterhin separat zum Besuch der Dokumentarfilmwoche ein. Die ARD deutete die eigenständige Einladung des SFB als symbolisches Zeichen, daß sich am Standpunkt der Festivalleitung nichts geändert hätte und verzichtete ohne weitere Verhandlungen auf eine Teilnahme.47 Auch der „Umweg" über die Ständige Vertretung der Bundesrepublik, den die Festivalleitung 1979 wählte, um ihre Einladungen zu verteilen, führte zu keinem Kompromiß.48 Erst in den 1980er Jahren war die ARD mit eigenen Beiträgen auf dem Leipziger Festival vertreten.

45 Vgl. Rundschreiben von Richard Dill an Vertreter der ARD und des ZDF, 27.7.1976, DRA Babelsberg Depo. SFB 339, Festivals allgemein K-R. 46 Die Fußnote sollte folgenden Wortlaut haben: „Der ,Sender Freies Berlin 4 von Berlin (West) nimmt gemeinsam mit der Delegation der ARD an dieser Veranstaltung gemäß Anhang I V und Punkt 2 d des vierseitigen Abkommens vom 3. September 1971 teil, welches festlegt, daß »ständige Einwohner der Westsektoren Berlins gemeinsam mit Teilnehmern aus der Bundesrepublik Deutschland am internationalen Austausch und an internationalen Ausstellungen teilnehmen können.' Ebenso bedingt das vierseitige Abkommen (Teil II, Punkt B, Anhang I I Punkt 1), daß ,(...) die Verbindungen zwischen Westsektoren Berlins und der BRD aufrechterhalten und entwickelt werden, unter Berücksichtigung dessen, daß die Sektoren weiterhin kein Bestandteil der BRD sind und von ihr nicht regiert werden (...)"', Rackwitz an Hager, 22.10.1976 (Anm. 43), Bl. 2. 47 Vgl. z. B. Werner Hess an die Intendanten der ARD-Rundfunkanstalten, Leipziger Dokumentär- und Kurzfilmwoche 1977, 11.11.1977, DRA Babelsberg Depo. SFB 339, Festivals allgemein K-R; sowie den Briefwechsel zwischen Heinz Adameck , Vorsitzender des Staatlichen Komitees für Femsehen beim Ministerrat der DDR, und Franz Bar sig, Intendant des SFB, aus dem gleichen Jahr, ebd. 48 Vgl. Briefwechsel von Günter Gaus und Wolfgang Haus, der 1979 das Amt des Intendanten beim SFB übernahm, DRA Babelsberg Depo. SFB 339, Festivals allgemein K-R; Ronald Trisch traf sich im Juli 1979 mit einem Mitarbeiter der Ständigen Vertre-

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7. Der ARD-Konflikt im Kontext der Film- und Festivalbeziehungen Das vorläufige Scheitern der Verhandlungen zwischen den Vertretern der ARD und der Leipziger Dokumentarfilmwoche ist ein anschauliches Beispiel für die Schwierigkeiten in der tatsächlichen Umsetzung der innerdeutschen Beziehungen - insbesondere weil indirekt der Status Berlins zur Disposition stand. Darüber hinaus darf das Scheitern jedoch nicht überbewertet werden. Die Tatsache, daß die Verhandlungen überhaupt stattfinden konnten, ist bereits Ausdruck jenes Wandels, der auch in anderen Bereichen der Film- und Festivalbeziehungen zu spüren war. Auf dem Leipziger Festival zeigte sich dies indirekt daran, daß die ideologische Ausrichtung der Dokumentarfilmwoche zwar auch nach 1972 nicht gänzlich durchbrochen wurde, aber mehr Filme den Weg ins Programm fanden, die auch kritisch über die gesellschaftliche Entwicklung der sozialistischen Staaten berichteten.49 Dies lag nicht zuletzt daran, daß mit Jürgen Böttcher, Volker Koepp, Gitta Nickel oder Richard Cohn-Vossen eine Generation von Dokumentarfilmregisseuren in den Vordergrund trat, die sowohl inhaltlich als auch ästhetisch eigene Wege bestritten und sich nicht mehr ausschließlich einer staatlichen Auftragsproduktion verpflichtet fühlten. 50 Auch auf anderen Festivals war eine vorsichtige Annäherung beider Staaten unübersehbar. An der Berlinale nahmen 1972 erstmals auch offiziell Delegierte aus der DDR teil, zusammen mit Vertretern der CSSR, Polens und vor allem der Sowjetunion, deren Auftreten zweifellos die Voraussetzung für die Teilnahme der anderen sozialistischen Staaten darstellte. Die Verhandlungen über eine eventuelle Teilnahme der Sowjetunion an den Berliner Filmfestspielen begannen bereits 1955 und zogen sich fast 20 Jahre hin, ehe 1974 erstmals ein sowjetischer Film auf der Berlinale gezeigt werden konnte.51 Ein Jahr später beteiligte sich auch die DDR mit einer eigenen DEFA-Produktion an der Berlinale: Frank Beyers „Jokob der Lügner", nach dem gleichnamigen Roman von Jurek Becker. Auch dieser Teilnahme gingen langjährige Verhandlungen voraus, wobei ebenfalls der politische Status Berlins eine entscheidende Rolle spielte: Die zuständigen Gremien des DDR-Kulturministeriums lehnten zunächst meh-

tung, um die persönlichen Einladungen zu überreichen; vgl. Vermerk von Winfried Staar über das Gespräch mit Trisch, Berlin 4.7.1979, ebd. 49 Vgl. Kotzing, Dokumentarfilmwoche (Anm. 3), S. 109ff. 50 Vgl. zur Entwicklung des Dokumentarfilms in der DDR in den 1970er Jahren: Eduard Schreiber, Zeit der verpaßten Möglichkeiten 1970-1980, in: Filmmuseum Potsdam (Hrsg.), Schwarzweiß (Anm. 4), S. 128-179. 51 Vgl. Wolfgang Jacobsen, 50 Jahre Berlinale, Berlin 2000, S. 209-218.

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rere Einladungen ab, ehe sie sich dazu entschließen konnten, an einer internationalen Kulturveranstaltung in Berlin teilzunehmen.52 Anders verliefen die Entwicklungen in Oberhausen, wo die DDR, wie bereits erwähnt, schon in den 1960er Jahren regelmäßig mit Filmen vertreten war. Gemäß dem Motto der westdeutschen Kurzfilmtage - „Wege zum Nachbarn" bildeten die Filmprogramme aus den sozialistischen Staaten stets einen Schwerpunkt in Oberhausen. Nicht selten nutzten gerade DDR-Produktionen das dortige Podium, um gezielt für das eigene politische System zu werben, durchaus auch im propagandistischen Sinne. Walter Heynowski und Georg Scheumann, die mit ihrem eigenen Studio „H&S" für ihre besonders agitatorischen Filme bekannt waren, sorgten in Oberhausen mehrfach für Aufsehen. Mit „O.K.", einem Film über eine junge Frau, die zunächst in die Bundesrepublik flüchtete, dort in einem Animierlokal für amerikanische Soldaten arbeitete, und anschließend enttäuscht in DDR zurückkehrte, wählten Heynowski und Scheumann eine äußerst plakative Darstellung, um das politische System der Bundesrepublik als amoralisch zu diffamieren. Der Film wurde 1965 in Oberhausen ausgebuht und selbst in der zeitgenössischen DDR-Kritik nicht ohne Widerspruch aufgenommen.53 Angesichts der in Oberhausen offen ausgetragenen Kritik am Gesellschaftssystem der Bundesrepublik, wirkt die spätere Auseinandersetzung um „Buchenwald: Häftlinge organisieren Widerstand" in Leipzig geradezu nebensächlich. Die Präsenz von Filmen aus der DDR war in Oberhausen stets ambivalent. Einerseits waren die westdeutsche Kurzfilmtage für die DDR mitunter ein nützliches Podium, wenn es darum ging, eine scheinbare Weltoffenheit zu demonstrieren: In Oberhausen wurden häufiger Filme gezeigt, die eher kritisch über die Zustände im eigenen Land berichteten und deswegen für eine Aufführung in Leipzig weniger geeignet waren. Andererseits waren es Produktionen, wie die von Heynowski und Scheumann, die angesichts ihres agitatorischen Stils eher für negatives Aufsehen sorgten. Die Ambivalenz existierte auch im Zusammenhang mit den Filmprogrammen der anderen sozialistischen Staaten. Der offenere Umgang mit jenen Filmen führte nicht zuletzt dazu, daß die Stadt Oberhausen sich lange Zeit vergeblich um einefinanzielle Unterstützung durch die Bundesregierung bemühte. Die „Wege zum Nachbarn" paßten erst ins politische

52

Ebd., S. 223f. Vgl. Steinte , Feinbild (Anm. 2), S. 293f. und generell zu den Filmen von Heynowski und Scheumann: Rüdiger Steinmetz/Tilo Prase , Dokumentarfilm zwischen Beweis und Pamphlet. Heynowski & Scheumann und Gruppe Kantins, Leipzig 2002. 53

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Konzept, als jene Wege auch realpolitisch durch die sozialliberale Koalition bestritten wurden.54 Dementsprechend veränderte sich auch in Oberhausen die Situation in den 1970er Jahren - auch wenn zahlreiche Streitfälle, wie zum Beispiel die komplizierte Filmauswahl, auf Dauer erhalten blieben. Ein generelles Problem trat mit dem Grundlagenvertrag ebenfalls nur langsam in den Hintergrund, denn bis dahin war das Streben nach internationaler Anerkennung in der DDR auch eng verbunden mit der Angst vor Infiltration. 55 Daß diese Angst auch in den 1970er Jahren erhalten blieb, zeigt nicht zuletzt die Auseinandersetzung um die Teilnahme der ARD an der Leipziger Dokumentarfilmwoche.

54 Vgl. hierzu den aufschlußreichen Briefwechsel zwischen der Oberhausener Bürgermeisterin, Luise Albertz, und den Vertretern der Bundesregierung, in: Kurz und Klein (Anm. 5), S. 45-56, sowie die Erinnerungen des ehemaligen Festivalleiters Wolfgang J. Ruf Grenzverläufe, Grenzüberschreitungen. Reminiszenzen an die Oberhausener Ostpolitik, in: ebd., S. 57-66. 55 Vgl. Roth, Nachbarn (Anm. 6), S. 10.

Kontrollierte Kontrolleure MFS, Zollverwaltung und das System der doppelten Überwachung an der Grenzübergangsstelle Marienborn

Von Jörn-Michael Göll

1. Die Grenzübergangsstelle Marienborn: Bollwerk, Nadelöhr, Seismograph Seit mittlerweile 15 Jahren rollt der Verkehr wieder ungehindert auf der Bundesautobahn 2 zwischen Braunschweig und Magdeburg. Daß diese heutige Selbstverständlichkeit für mehr als 40 Jahre eine undenkbare Vorstellung war, daran erinnert die Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn. Auf dem Gelände der bedeutendsten ehemaligen Autobahn-Grenzübergangsstelle (GÜSt) der DDR zur Bundesrepublik werden den Besuchern eindrucksvoll die Wesenszüge jenes Kontrollsystems vermittelt, das vor 1989 entscheidend dazu beigetragen hatte, die deutsch-deutsche Teilung aufrecht zu erhalten. Einem Bollwerk gleich steht die GÜSt für eine Einrichtung, die mit immensem geistigen und materiellen Aufwand entwickelt wurde, um Grenzdurchbrüche von DDR-Bürgern nahezu unmöglich zu machen. Gleich einem Nadelöhr konnte die faktisch unüberwindbare Grenze an dieser Stelle passiert werden, wenn auch nicht von jedem und nur unter strengsten Auflagen und Kontrollen. Und wie an einem Seismograph läßt sich an der Grenzübergangsstelle Marienborn das Spannungsverhältnis der innerdeutschen Beziehungen ablesen. Die Entwicklung der GÜSt Marienborn weist in vielerlei Hinsicht Parallelen zur Geschichte Europas nach dem Zweiten Weltkrieg auf. Verrichteten im Juli 1945 die Angehörigen der vier Besatzungsmächte auf der neu errichteten alliierten Kontrollstelle Helmstedt/Marienborn noch gemeinsam ihren Dienst, so war bereits kaum ein Jahr später abzusehen, daß der Ausbau der innerdeutschen Grenze und somit die Teilung Deutschlands faktisch nicht mehr aufzuhalten war. Ein erster Ausdruck der tiefen Spaltung war die Abriegelung aller Straßenund Eisenbahnverbindungen nach Berlin durch die Rote Armee in der Zeit vom 24. Juni 1948 bis zum 12. Mai 1949 als Reaktion auf die Währungsreform der westlichen Besatzungszonen. Nach Gründung der beiden deutschen Staaten ließ

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Jörn-Michael Göll

die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) ab Herbst 1949 den Kontrollpassierpunkt (KPP) Marienborn unmittelbar an der innerdeutschen Grenze ausbauen. Innerhalb weniger Wochen entstanden für die sowjetischen Militärs wie für die an den Kontrollen beteiligten Volkspolizisten der DDR Abfertigungsbaracken und Kasernen. Anfang der 1950er Jahre übertrug die Sowjetunion der SED-Führung schließlich die alleinige Verantwortung über den KPP Marienborn. Die Kontrolle von Transporten westlicher Alliierter von und nach Berlin blieb allerdings weiterhin den 15 bis 20 dort stationierten Soldaten und Offizieren der Roten Armee vorbehalten1. Auf das zunehmende wirtschaftliche Gefälle zwischen Ost und West, der „Stalinisierung" des Staatswesens und der damit einhergehenden verstärkten Massenflucht aus der DDR reagierte die SED ab 1952 mit der Errichtung von Sperranlagen an der „Demarkationslinie". Zudem erklärte sie den Bereich ab fünf Kilometern vor der westlichen Staatsgrenze zum Sperrgebiet. In Folge einer Ministerratsverordnung vom 26. Mai 1952 wurden 12000 Menschen aus diesem „Niemandsland" zwangsausgesiedelt. Die einzige Möglichkeit, mit vorheriger Genehmigung die deutschdeutsche Grenze legal zu passieren, war die Benutzung der eingerichteten Grenzübergangsstellen. Bis Anfang der 1970er Jahre waren an der Grenze der DDR zur Bundesrepublik fünf Straßengrenzübergänge vorhanden2. Die GÜSt Marienborn war dabei der einzige Übergangspunkt für Truppentransporte der in Westberlin stationierten Garnisonen Frankreichs, Großbritanniens sowie der USA. Aufgrund der geographischen Lage war die Ein- und Ausreise über Marienborn die kürzeste Verbindung zwischen der Bundesrepublik und Westberlin. Wohl deshalb entwickelte sich die GÜSt Marienborn schonfrüh zum meistfrequentierten Grenzübergang, insbesondere für den Transitverkehr 3. Bereits im Jahr 1964 hatten die eingesetzten Kontrollkräfte eine immense Zahl an Ein- und Ausreisen abzufertigen. In Spitzenzeiten betrug das Verkehrsaufkommen pro Tag rund 17400 Pkw und 1100 Lkw4. Der als Provisorium erbaute Kontrollpassierpunkt Marienborn mußte ständig durch neue provisorische Bauten erweitert werden und erstreckte sich schließlich auf eine Gesamtlänge von mehr als 1000 Metern. Berichte über Mängel bei der Kontrolle des Güterverkehrs 5 sowie über

1 Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn (Hrsg.), Broschüre zur Dauerausstellung, Marienborn 2000, S. 20. 2 Neben Marienborn waren dies die Grenzübergangsstellen Horst, Wartha, Hirschberg und Staaken. 3 Zahlen aus dem Zeitraum 1. Juli 1970 bis 30. Juni 1971 belegen, daß der Personendurchlauf an der GÜSt Marienborn mit rund sechs Millionen knapp doppelt so groß war wie die übrigen bis dahin bestehenden Straßengrenzübergangsstellen der DDR zur Bundesrepublik zusammen. Vgl. Bundesarchiv (BArch), Militärarchiv, GT 2181, Bl. 15. 4 Vgl. BArch, Militärarchiv, GT 6604, Bl. 16-36. 5 Vgl. BArch, Militärarchiv, GT 6604, Bl. 35.

Kontrollierte Kontrolleure

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erfolgreiche Grenzdurchbrüche 6 belegen, daß die GÜSt bereits zu diesem Zeitpunkt nicht mehr den abfertigungs- und sicherheitstechnischen Anforderungen genügte. Eine weitreichende Veränderung dieser Situation folgte nach Abschluß der deutsch-deutschen Verträge Anfang der 1970er Jahre. Das Vertragswerk hatte Auswirkungen auf die außen- und deutschlandpolitische Lage der DDR, die jetzt mehr Kontakte zwischen den Deutschen in Ost und West ermöglichte. Vor allem das Transitabkommen hatte zur Folge, daß zahlreiche neue Grenzübergangsstellen errichtet, bestehende Anlagen erweitert bzw. modernisiert und Transitstrecken ausgebaut wurden. Gleichzeitig erhöhte sich jedoch das Abgrenzungsbedürfiiis der Partei, wobei offene Repressionen nicht das eben erst gewonnene, internationale Renommee schädigen sollten. Ein massiver, personeller und struktureller Ausbau des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) war die Konsequenz7. Vor diesem Hintergrund beschloß der Ministerrat der DDR im Jahr 1971 den Neubau der GÜSt Marienborn und kam damit einer Forderung des MfS nach, das bereits Jahre zuvor die Sicherheit der alten GÜSt bemängelt hatte. Die neue Grenzübergangsstelle Marienborn/Autobahn sollte vor allem zwei Ansprüchen genügen: Zum einen sollte eine möglichst reibungslose Abfertigung der Ein- und Ausreisenden ermöglicht werden, deren Zahl ständig zunahm. Zum anderen sollte dabei unter allen Umständen Grenzdurchbrüche verhindert werden oder Waren illegal zur Ein- und Ausfuhr gelangen.

2. Grenzdurchbrüche ausgeschlossen: Planung und Bau der neuen Grenzübergangsstelle im Zeichen der Sicherheit Den Baumaßnahmen zur Errichtung der neuen Grenzübergangsstelle Marienborn/Autobahn gingen jahrelange Beratungen der Militärs der Nationalen Volksarmee (NVA), der Offiziere des MfS und Baubetrieben sowie Sonderbeauftragten des Verkehrsministeriums voraus8. Immer wieder wurden Baupläne von Seiten der „Sicherheitsorgane" als nicht ausreichend erachtet. Schließlich nahm sich mit dem SED-Politbüro das höchste Entscheidungsgremium der DDR selbst der Angelegenheit an und genehmigte einen großzügigen Finanzrahmen für das Projekt. Insgesamt wurden 60,2 Millionen Mark als „Gesamt6 Vgl. Aktenbestand der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU), MfS, ZAIG Nr. 1154, Bl. 5-9. 7 Bis Mitte der 1970er Jahre stieg die Zahl der Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) auf 180 000 (1968 noch 100 000). Vgl. Günther Heydemann, Die Innenpolitik der DDR, Enzyklopädie Deutscher Geschichte, Bd. 63, München 2003, S. 30. 8 Vgl. BArch, Militärarchiv, GT 7088.

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Wertumfang" festgelegt. Der Neubau wurde im Jahr 1971 beschlossen und 1974 fertiggestellt 9. Während dieser Zeit sollte die Abfertigung des grenzüberschreitenden Verkehrs am alten Kontrollpassierpunkt ungehindert weitergehen. Das gesamte Bauvorhaben wurde vom MfS überwacht. Sämtliche Pläne mußten der der Staatssicherheit vorgelegt werden; alle Personen, die am Bau der neuen GÜSt beteiligt waren, wurden durch hauptamtliche und Inoffizielle Mitarbeiter (IM) überprüft und überwacht. Die Aktion „Basalt", wie die Überprüfungen zum Bauvorhaben im MfS-Jargon genannt wurden, beschäftigte insgesamt 42 Inoffizielle Mitarbeiter und Gesellschaftliche Mitarbeiter Sicherheit (IM/GSM). 2456 Personen wurden vor Baubeginn überprüft, davon kamen 1610 zum Einsatz, 556 lehnte das MfS bereits in dieser Phase ab. Während der Bauzeit sind 25 Personen aus Sicherheitsgründen von der Baustelle verwiesen worden10. Die Baustelle durfte nur mit einem entsprechenden Passierschein betreten werden. Sie war von einem bis zu 2,5 Meter hohen, teilweise undurchsichtigen Zaun umgeben und ständig voll ausgeleuchtet11. Unter größten Sicherheitsbedingungen entstand so ein Komplex mit einer Gesamtlänge von 2145 Metern. Der eigentliche Kontrollabschnitt, der den Kern der heutigen Gedenkstätte bildet, maß 1060 mal 340 Meter und war ca. einen Kilometer von der Staatsgrenze entfernt. Damit kamen die Planer einer zentralen Forderung des Stabes der Grenztruppen entgegen, nach der die Lage der neuen GÜSt die „weitgehende Ausschaltung der Beobachtung des Kontrollterritoriums durch den Gegner"12 garantieren mußte. Unter der Aufsicht des MfS wurde ein modernes und perfide geplantes Kontrollobjekt entwickelt. Alle Schwachpunkte der alten Grenzübergangsstelle wurden dabei berücksichtigt und beseitigt. Getrennte Abfertigungsspuren für den Transitverkehr zwischen der Bundesrepublik und Westberlin, für den Transitverkehr in und aus anderen Ländern, für den Ein- und Ausreiseverkehr Bundesrepublik/DDR und für die Durchfahrt der in Westberlin stationierten alliierten Truppen, weiträumige Stauräume im Grenzstreckenabschnitt und eine Gesamtkapazität von 38400 Fahrzeugen täglich sollten für die reibungslose Abfertigung und lückenlose Kontrolle zur Verfügung stehen13. Um Grenzdurchbrüche zu verhindern, waren verschiedenste Einrichtungen vorhanden.

9

Vgl. Beschluß des Ministerrates vom 26. Mai 1971, in: BArch, Potsdam BdM 161/4/71, Bl. 69. 10 Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, 182 AKG, Bl. 418f. 11 Vgl. BArch, Militärarchiv, GT 7100, Bl. 29f. 12 Ebd., BL 25. 13 Vgl. BStU, MfS, HA V I Nr. 1300.

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Zum einen konnte von jedem Kontrollpunkt aus per Knopfdruck Alarm ausgelöst werden, angefangen bei einem Kontrollplatz der Volkspolizei an der Fünf-Kilometer-Sperrzone bis hin zu den Abfertigungsplätzen für Pkw und Lkw. Im Führungspunkt der NVA, einem viergeschossigen Turmbau, liefen alle Informationen zusammen, um ein reibungsloses Zusammenwirken der Sicherungskräfte im Ernstfall zu sichern. Telefonleitungen ermöglichten die schnelle Kommunikation unter allen Sicherungsposten. Neben sämtlichen Schlagbäumen konnte vom Führungspunkt aus eine Kfz-Sperranlange bedient werden. Der Stahlträger, der sich über beide Fahrbahnseiten ausfahren ließ, hielt dem Aufprall eines Lkw von 50 Tonnen bei einer Geschwindigkeit von 80 km/h stand14. Ferner ließ das MfS eine Fernbeobachtungsanlage installieren, mit der alle Hauptsicherungsbereiche der GÜSt erfaßt werden konnten15. Eine Kamera war an der Staatsgrenze montiert, um das Geschehen auf westdeutschem Gebiet beobachten zu können16. Anders als am alten KPP war das Kontrollterritorium weitestgehend von einem zwei Meter hohen Zaun umgeben, der in westlicher Richtung „blickdicht" gehalten wurde. Auch einzelne Gebäude waren teilweise umzäunt. An allen Dienstbereichen befanden sich Betonabweiser, die den Sicherungskräften im Falle eines Schußwechsels Deckung bieten sollten17. Das Kontrollterritorium war zudem mit einem begehbaren Tunnelsystem ausgestattet. Es verband einzelne Bereiche und Gebäude des Kontrollkomplexes miteinander. In erster Linie wurden in diesen Tunnelröhren Versorgungsleitungen für Heizung, Energie und Nachrichtenkabel verlegt18. Die Staatssicherheit sah in den unterirdischen Gängen darüber hinaus die Möglichkeit „zum gedeckten Heranführen von Kräften" 19, z.B. im Falle von Geiselnahmen. Das gesamte Territorium der GÜSt wurde nachts mittels Quecksilberdampfleuten beleuchtet. Der überdachte Raum an den Pkw- und Lkw-Kontrollstellen war zusätzlich mit Leuchtstofflampen ausgestattet, die eine völlig schattenfreie Ausleuchtung der Abfertigungsspuren gewährleisteten20. Im Falle eines Stromausfalls wurden alle sicherheitsrelevanten Bereiche der GÜSt automatisch per Notstrom versorgt 21.

14 15 16 17 18 19 20 21

Vgl. BArch, Militärarchiv, GT 7102, Bl. 431. Vgl. BStU, MfS, HA V I Nr. 1300, Bl. 3. Vgl. BArch, Militärarchiv, GT 7102, Bl. 287. Vgl. BStU, MfS, HA V I Nr. 1300, Bl. 3. Vgl. ebd., Bl. 412. Ebd., Bl. 3. Vgl. BArch, Militärarchiv, GT 7102, Bl. 450. Vgl. ebd., Bl. 452.

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3. „Unter Federführung des MfS": Aufgaben und Kompetenzen der am Kontroll- und Abfertigungsprozeß beteiligten Einrichtungen Wie aufwendig der Betrieb der neuen GÜSt Marienborn war, zeigt sich neben den baulichea Maßnahmen auch an der Zahl der Beschäftigten. In den letzten Jahren bis 1990 hatten dort über 1000 Personen ihren Arbeitsplatz22. Mit über 900 Personen war der weitaus größte Teil des Personals direkt oder indirekt als Sicherheitskräfte für die Kontrolle und Abfertigung des grenzüberschreitenden Verkehrs verantwortlich. Dabei arbeiteten drei formal getrennte Einrichtungen zusammen: die Grenztruppen der NVA, die Paßkontrolleinheiten und das Grenzzollamt. Die Aufgabenbereiche dieser Einrichtungen wurden nach der Abriegelung des Berliner Ostsektors am 13. August 1961 definiert und blieben von 1962 bis 1990 in ihren Grundzügen unverändert. Bereits vor der Neugestaltung des Kontrollsystems oblag den Grenztruppen der NVA ausschließlich die militärische Sicherung der Grenzübergangsstellen23. In Marienborn war dafür eine 102 Mann starke Sicherungskompanie im Einsatz, befehligt von einem Kommandanten und zehn diensthabenden Offizieren 24. Auf Beschluß des Nationalen Verteidigungsrates (NVR) zur Kontrolle des grenzüberschreitenden Personenverkehrs im Jahr 1962 übernahmen ab diesem Zeitpunkt spezielle „Paßkontrolleinheiten" (PKE) die Kontrolle der Personaldokumente an den Grenzübergangsstellen. Zuvor war das „Amt für Zoll und Kontrolle des Warenverkehrs" (AZKW), das am 30. April 1962 in „Zollverwaltung der DDR" umbenannt wurde, alleine für sämtliche grenzpolizeilichen Aufgaben zuständig gewesen25. Die PKE waren der Abteilung VI des MfS unterstellt. Sie hatten den Verfassungsauftrag, „durch eine exakte Paßkontrolle und Fahndung auf der Grundlage der gesetzlichen Bestimmungen und dienstlichen Weisungen, die Paß- und Visahoheit der DDR im grenzüberschreitenden Verkehr zu gewährleisten und durch die Erfassung und Analysierung aller Informationen, Vorkommnisse und Erscheinungen im grenzüberschreitenden Verkehr, staatsfeindliche Tätigkeit vorzubeugen und zu bekämpfen sowie wertvolle politischoperative Informationen und Ausgangsmaterialien für andere operative Dienst-

22

Neben den Sicherungskräften war eine beachtliche Zahl an Zivilpersonen beschäftigt, um den laufenden Betrieb der GÜSt aufrechtzuerhalten Auf dem Gelände befand sich die umsatzstärkste Wechselstube der DDR. Alleine dort arbeiteten 40 Angehörige der Staatsbank, 46 weitere Personen als Reinigungskräfte und Kantinenfrauen, als Handwerker der GÜSt-eigenen Tischler-, Elektro- und Schlosserwerkstatt, als Sanitäter oder als Fachkräfte der Sonderkontrollstelle für Pflanzenschutz bzw. der Veterinärstation. Vgl. Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn (Anm. 1), S. 40. 23 24 25

Vgl. BArch, DL 203, Az 00-02-01, Bl. 12. Vgl. Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn (Anm. 1), S. 40. Vgl. Gesetzblatt der DDR, T. 1,1962, Nr. 3 vom 31. März 1962.

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einheiten des MfS zu erarbeiten" 26. Die Sollstärke der PKE Marienborn bestand aus vier Männerschichten (Diensteinheiten) mit jeweils 116 Paßkontrolleuren und einer Frauenschicht mit etwa 80 Paßkontrolleurinnen27. Gut die Hälfte des Personals der GÜSt waren somit hauptamtliche Mitarbeiter des MfS. Die Grenzzollämter (GZÄ) waren den Bezirksverwaltungen der Zollverwaltung der DDR unterstellt. Laut Verfassungsauftrag hatten die Grenzzollämter „durch die Kontrolle des grenzüberschreitenden Waren-, Devisen- und Geldverkehrs das staatliche Monopol des Außenhandels und der Volkswirtschaft zu schützen"28. Außerdem war auf Grundlage des Zollgesetzes ausschließlich das Personal der GZÄ befugt, Personen im grenzüberschreitenden Verkehr einer Kfz-, Gepäckmittel- bzw. Personenkontrolle zu unterziehen29. Das Grenzzollamt (GZA) Marienborn arbeitete in vier Schichten (Diensteinheiten). Jede Diensteinheit bestand aus ca. 50 Zöllnern 30, darunter einige Frauen, die als Kontrolleurinnen eingesetzt wurden, aber im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen keine Dienstwaffen besaßen31. Die Kommandostrukturen der PKE und des GZA waren analog gegliedert. Für jedes „Organ" gab es einen Leiter. Jede Diensteinheit wurde von einem Zugführer befehligt. Jedem Zugführer unterstanden zwei Gruppenführer, wovon jeweils einer für die Kontrollkräfte im Bereich der Einreise und im Bereich der Ausreise Ansprechpartner war. Die Paßkontrollen und die Personen- bzw. Fahrzeugkontrollen wurden somit fortan von zwei formal getrennten Einrichtungen, der PKE und dem GZA, vorgenommen. Durch diese Organisation des Kontrollprozesses kam es dennoch aufgabenbedingt zur Zusammenarbeit. In der Regel erfolgte die Kommunikation zwischen den Kräften der PKE und des GZA nur über die jeweiligen Ebenen (Gruppenführer PKE - Gruppenführer GZA, Zugführer PKE - Zugführer GZA, Leiter PKE - Leiter GZA). Die einzelnen Kontrolleure beider „Organe" hatten normalerweise keinen direkten Kontakt, sondern verständigten sich über ihre jeweiligen Gruppenführer. Für die Reisenden wie für den größten Teil der Zoll-

26

BStU, MfS, JHS M F WS/160-1206/74, Bl. 3. Vgl. Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn (Anm. 1), S. 40. 28 BStU, MfS, JHS M F WS/160-1206/74, Bl. 10. 29 Vgl. BStU, MfS, JHS MF, WS/1137/79, Bl. 11. 30 Vgl. Interview der Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn mit Heiner Müller am 12. Februar 1996 (Müller, Interview). [Für die Verdichtung und Erweiterung der Quellenlage wurden von der Gedenkstätte Deutsche Teilung geführte Interviews mit ehemaligen PKE- und Zollmitarbeitern der Grenzübergangsstelle Marienborn durch den Autor ausgewertet bzw. weitere Interviews vom Autor persönlich geführt. Aus datenschutzrechtlichen Gründen wurden die Namen aller hier aufgeführten und verwendeten Zeitzeugen verändert. Die ursprünglichen Namen können gegebenenfalls beim Autor bzw. bei der Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn erfragt werden.] 27

31

Vgl. Interview des Autors mit Petra Linke am 11. März 2004 (Linke, Interview).

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mitarbeiter unbemerkt ging diese Zusammenarbeit jedoch weit über dieses Maß hinaus. Eine Dienstanweisung des Leiters der Zollverwaltung schrieb vor, daß alle Feststellungen im Kontrollprozeß, die zur Aufdeckung, Bekämpfung und Verhinderung der „Feindtätigkeit" beitragen können, an die PKE übergeben werden mußten. Bei den anschließenden Kontrollhandlungen waren die PKE gegenüber den GZÄ weisungsbefugt. „Feindtätigkeiten" waren unter anderem ungesetzliche Grenzübertritte, Personen- und Sachschleusungen sowie „Erscheinungen der politisch-ideologischen Diversion" (z.B. die Einfuhr verbotener Literatur) 32. Auch eine Dienstanweisung des Ministers für Staatssicherheit erteilte der Abteilung VI des MfS, die für die Überwachung des grenzüberschreitenden Verkehrs verantwortlich war, die Hauptverantwortung zur Verhinderung von „Feindtätigkeiten" im eben erwähnten Sinne33. Neben diesen beiden Vorschriften gab es eine Reihe weiterer Verordnungen, in denen das Zusammenwirken zwischen GZÄ und PKE geregelt wurde34. Aus allen geht klar hervor, daß das MfS mit der Gesamtverantwortung und insbesondere die Abteilung VI federführend für die „Sicherung, Kontrolle und Abfertigung des grenzüberschreitenden Verkehrs" 35 verantwortlich war. Die Hauptverantwortung des MfS für die Kontrollen an den Grenzübergangsstellen zeigt sich bereits bei der Anordnung der beiden Kontrolleinheiten im Ein- und Ausreisebereich der GÜSt Marienborn. Im Bereich der Einreise kontrollierte zunächst die PKE die Fahrzeuge, bevor das GZA seine Arbeit aufnahm. Auch im Bereich der Ausreise gelangten die Fahrzeuge zuerst zu einem Posten der PKE, dann in den Kontrollbereich des GZA, ehe sie im Anschluß nochmals von der PKE überprüft wurden. Durch diese Anordnung der Kontrolleinheiten war es der PKE im Bereich der Einreise möglich, bestimmten Personen bereits in der ersten Phase des Kontrollablaufs die Einreise in die DDR zu verweigern 36. Außerdem konnte die PKE hierdurch anordnen, daß einzelne Fahrzeuge vor den nachfolgenden Kontrollen durch das GZA befreit wurden oder besonders intensive Kontrollen durch das GZA erfolgen sollten. Im

32

Dienstanweisung (DA) 23/65 des Leiters der Zollverwaltung, in: BStU, MfS, JHS M F VVS/160-1206/74, Bl. 12f. 33 Vgl. DA 3/75 des Ministers für Staatssicherheit, in: BStU, MfS, JHS MF, VVS/1137/79, Bl. 8. 34 Speziell zur Bekämpfung der „zunehmenden Feindtätigkeit" sowie „des Schmuggels und der Spekulation" wurden vom Leiter der Zollverwaltung unter anderem die DA 13/71, DA 4/73 und deren 1. Ergänzung, DA 7/75 und DA 15/77 erlassen. 35 BStU, MfS, JHS MF WS/160-764/74, Bl. 14. 36 Beispielsweise sind Fälle dokumentiert, nach denen Reisenden die Einreise in die DDR verweigert wurde, wenn sie einen Aufkleber der „CDU" an ihrem Fahrzeug angebracht hatten. Vgl. BStU, MfS, ZAIG Nr. 10681, Bl. 138-151.

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Bereich der Ausreise verfügte die PKE über ein „Sonderkontrollobjekt" 37 zur Tiefenkontrolle von Fahrzeugen. Durch ihren ersten Posten in diesem Bereich war sie in der Lage, bestimmte Fahrzeuge aus dem Verkehrsstrom herauszuleiten und Kontrollhandlungen selbst anzuordnen, die anschließend durch das GZA durchzuführen waren. Mit dem letzten Kontrollposten vor der Ausreise oblag der PKE die Entscheidung, ob die Fahrzeuge tatsächlich ausreisen durften oder nicht.

4. Fahndung und Filtrierung: Das Kontrollverfahren der PKE Zu den administrativen Aufgaben der Paßkontrolleinheit gehörten die Entgegennahme und Überprüfung der Personaldokumente sowie das Ausstellen von Visa und anderen Grenzübertrittsdokumenten. Darüber hinaus fahndeten die Paßkontrolleure ganz gezielt nach Personen, die in den Speichern des MfS registriert waren und sie „filtrierten" den Verkehr, indem sie während des Abfertigungsprozesses in der Einreise so genannte „Ersthinweise" erarbeiteten, die eine genauere Beobachtung der Reisenden auf den Transitstrecken bzw. während ihres Aufenthalts in der DDR zur Folge hatten. Das Kontrollverfahren der PKE unterlag besonders ab Mitte der 1980er Jahre immer wieder Veränderungen, wobei jedoch die grundsätzlichen Aufgaben der einzelnen Kontrollbereiche erhalten blieben. Schwerpunktmäßig nahm die PKE ihre Kontrollhandlungen immer im Bereich der Einreise vor. Im Bereich der Ausreise suchte die PKE gezielt nach Personen und Fahrzeugen, für die bereits ein Fahndungsauftrag vorlag. Bei der Einreise war der Kontrollprozeß der Paßkontrolleinheiten in fünf Bereiche aufgeteilt. Dies waren der Bereich Vorkontrolle Einreise, Visakassierer bzw. Paßannehmer, Fahnder, Visaerteiler, Identitätskontrolleur 38. Der Bereich der Vorkontrolle Einreise war von zwei Mitarbeitern besetzt, wovon ein Mitarbeiter als so genannter „Innenkontrolleur" in einem Postenhäuschen arbeitete und ein weiterer als „Außenkontrolleur" direkt bei den Fahrzeugen stand. Der Außenkontrolleur forderte die Reisedokumente der Reisenden sowie die Fahrzeugpapiere ab, befragte die Personen nach ihrem Reiseziel und wies diese anschließend mit ihren Fahrzeugen in die entsprechenden Abfertigungsspuren, da in diesem Bereich das gesamte Verkehrsaufkommen aller Reisekategorien noch nicht voneinander getrennt war. Bei seiner Tätigkeit sollte der Außenkontrolleur auf Indizien achten, die eine genauere Untersuchung im weiteren Kontrollprozeß rechtfertigten. Ein solches Indiz konnte etwa sein, wenn sich Reisende auf37 38

Interview des Autors mit Peter Schmid am 11. März 2004 (Schmid, Interview). Vgl. BStU, MfS, JHS M F VVS/917/80, Bl. 12f.

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fällig verhielten, z.B. durch extreme Nervosität oder aggressives Auftreten. Aber auch Gegenstände im Fahrgastraum der Reisenden, die normalerweise im Kofferraum transportiert werden, oder die Straßenlage bzw. das Fahrverhalten der Fahrzeuge, beispielsweise ein tiefliegendes Heck, waren mögliche Anhaltspunkte. Der Außenkontrolleur meldete solche Indizien dem Innenkontrolleur. Dieser war für den Informationsfluß zum Abfertigungstrakt der PKE zuständig und informierte per Telefon den Gruppenführer bzw. Zugführer über derartige Ersthinweise. Zusätzlich registrierte der Innenkontrolleur Fahrzeuge, zu denen Ersthinweise vorlagen, in einem Erfassungsbogen. Die Effektivität der Vorkontrolle hing stark vom Verkehrsaufkommen ab. Besonders im vertragsgebundenen Transit (Transitverkehr nach Westberlin) waren oft mehrere Spuren geöffnet, um eine möglichst schnelle Abfertigung im Sinne des Transitabkommens zu gewährleisten. In diesem Fall mußten die Personen bzw. Fahrzeuge, zu denen die Vorkontrolle Ersthinweise erarbeitete, durch den Gruppenführer gesucht werden. Oft haben entsprechende Personen bzw. Fahrzeuge in dieser Zeit den Abfertigungstrakt bereits verlassen39. Im zweiten Kontrollbereich der PKE unterschied man zwischen Visakassierern und Paßannehmern. Der Paßannehmer war zuständig für einen Trakt des vertragsgebundenen Transits, wobei zwei Fahrzeugspuren einen Trakt bildeten40. Er befragte die Personen zu ihrem Reiseziel, kontrollierte die Personaldokumente auf ihre Gültigkeit sowie die zahlenmäßige Übereinstimmung von Reisenden und Personaldokumenten. Anschließend legte der Paßannehmer die Reisedokumente in eine Transporttasche und beschriftete diese, indem er die Reisenden im Fahrzeug per Zahlenkombination nach Erwachsenen und Kindern aufschlüsselte. Die Kennung „2/1" besagte beispielsweise, daß sich in dem Fahrzeug zwei Erwachsene und ein Kind befanden. Nach der Beschriftung legte er die Transporttasche auf ein Förderband, über das die Reisedokumente zur Weiterbearbeitung in den Abfertigungstrakt gelangten41. Die als Visakassierer bezeichneten Kontrolleure arbeiteten in den Trakten des Wechselverkehrs (Einreise DDR und allgemeiner Transit in Drittstaaten) und unterschieden sich von den Paßannehmern nur dadurch, daß sie neben den gerade genannten Aufgaben zusätzlich Visagebühren kassierten und entsprechende Gebührenmarken in die Pässe einklebten und abstempelten42. Wie bereits der Außenkontrolleur der Vorkontrolle, hatten sowohl die Paßannehmer als auch die Visakassierer die Aufgabe, Ersthinweise zu erarbeiten, die eine genauere Überprüfung der Perso39

Vgl. ebd., Bl. 16. Vgl. Interview der Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn mit Axel Friedmann am 12. Februar 1997 (Friedmann, Interview). 41 Vgl. BStU, MfS, JHS M F VVS/917/80, Bl. 17f. 42 Vgl. Friedmann, Interview (Anm. 40). 40

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nen und Fahrzeuge zur Folge haben konnten. VerhaltensaufFälligkeiten der Reisenden waren ebenso Verdachtsgründe wie neu ausgestellte Pässe oder Fahrzeuge, die konstruktionsbedingt große Kofferräume hatten. Schöpfte der Visakassierer bzw. Paßannehmer Verdacht, so beschriftete er die Transportmappe neben der Personenkennung mit festgelegten Symbolen, um so den nachfolgenden Kontroll- und Abfertigungsbereich zu informieren. Über das Transportband gelangten die Dokumente der Reisenden in den jeweiligen Fahndungsraum eines Abfertigungstraktes. Die Fahndungsräume waren immer abgeschlossen und durften nur von „bestätigten" (als zuverlässig eingestuften) Fahndern betreten werden. Pro Trakt waren bis zu drei Fahnder im Einsatz43. Die Fahndungstätigkeit bildete das „Herzstück" der Kontrollen der PKE. Zum einen mußten die Fahnder die Reisedokumente auf Echtheit und auf eventuelle Veränderungen (z.B. das Austauschen des Lichtbilds, Überschreibungen usw.) untersuchen44. Zum anderen prüften die Fahnder, ob zu den einreisenden Personen oder Fahrzeugen ein Fahndungsauftrag des MfS vorlag. In einer so genannten „Fahndungskiste" waren Fahndungskarteien mit verschieden Rastern enthalten. Zum einen gab es eine Namenskartei, auf der in alphabetischer Reihenfolge alle gesuchten Personen mit Vor- und Nachnamen sowie dem Geburtsdatum registriert waren, zum anderen eine Kfz-Kartei für inländische und ausländische Fahrzeuge, die nach Kennzeichen und Zahlen sortiert war. Jede Fahndungskarte hatte eine eigene Fahndungsnummer. Wurde der Fahnder fündig, war also ein Fahrzeug oder eine Person in der „Fahndungskiste" registriert, meldete er dies per telefonischer Direktleitung dem operativen Leitzentrum (OLZ) der Abteilung VI des MfS. Dort lag für jede Fahndungsnummer eine entsprechende Maßnahmennummer vor, nach der anschließend das „Fahndungsobjekt" behandelt wurde. Maßnahmen waren z.B. die Observierung des Fahrzeugs auf der Transitstrecke durch die Abteilung VIII des MfS oder ein Kontrollersuchen an das Grenzzollamt für eine intensive Zollkontrolle vor Ort. Waren Maßnahmen direkt vor Ort zu ergreifen, so informierte der Fahnder den zuständigen Gruppenführer. Danach stellte der Fahnder einen Fahndungsrapport aus, auf dem neben der Fahndungsnummer auch die Personalien der Reisenden und gegebenenfalls Angaben zum Fahrzeug eingetragen wurden45. Der vorletzte Kontrollbereich der PKE war der des Visaerteilers. Er stellte die entsprechenden Visa aus und stempelte die Pässe ab46. Die Paßkontrollstempel waren chemisch gesichert, was bedeutete, daß die Paßkontroll-

43 44 45 46

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

ebd. BStU, MfS, JHS M F VVS/917/80, Bl. 24. Friedmann, Interview (Anm. 40). BStU, MfS, JHS M F VVS/917/80, Bl. 25.

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einheit bei der Ausreise-GÜSt später den Stempel auf Echtheit überprüfen konnte, indem sie mit einem speziellen Stift über den Stempel fuhr. Der Stift enthielt eine chemische Lösung, auf Grund dessen sich die Farbe des Stempels veränderte47. Jeder Stempel enthielt eine fünfstellige Buchstabenkombination. Wurde dem Visaerteiler durch den Fahnder mitgeteilt, daß die Reisedokumente Personen gehörten, die zur Fahndung ausgeschrieben waren, so stempelte der Visaerteiler eine besonders festgelegte Buchstabenkombination hinein. Dafür wurden fünf Buchstaben festgelegt, die auf ein Fahndungsobjekt hindeuteten, wenn diese Buchstaben in ihrer Kombination ein Wort ergaben48. So wurde den PKE-Mitarbeitern an der Ausreise-GÜSt signalisiert, daß zu diesen Reisedokumenten ein Fahndungsauftrag vorlag 49. Der Visaerteiler reichte die Dokumente weiter an den Identitätskontrolleur, der abschließend die Reisedokumente zweifelsfrei den Fahrzeuginsassen zuordnen können mußte50. Er verglich das Kennzeichen des Kfz mit den Angaben im Fahrzeugschein und die Lichtbilder der Pässe mit den Reisenden51.

5. Fahrzeug- und Personenkontrollen: Das Kontrollverfahren des Grenzzollamts Grundsätzlich kann die Hauptaufgabe des GZA in der Durchsetzung des Außenhandels- und Valutamonopols gesehen werden, wobei im Zuge dieser Aufgabe auch immer Hinweise erarbeitet werden sollten, die auf „illegales Verlassen" der DDR sowie „staatsfeindlichen Menschenhandel" hindeuteten. Dem Zoll oblag die Kontrolle von Fahrzeugen und Personen nach mitgefühlten Gegenständen und Devisen auf Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen sowie die Gebührenerhebung auf bestimmte Waren, die zur Ein- und Ausfuhr gebracht werden sollten. Das Kontrollverfahren des Grenzzollamts muß differenzierter betrachtet werden als das der PKE, denn die Kontrollhandlungen des GZA bei 47

Vgl. Friedmann, Interview (Anm. 40). Vgl. ebd. 49 Beispielsweise konnten die Buchstaben D, E, L, O und R auf einen Fahndungsauftrag hinweisen, allerdings nur, wenn sie in ihrer Kombination ein Wort ergaben, beispielsweise RODEL. Ergab die Kombination kein Wort bzw. wurden andere Buchstaben verwendet, so handelte es sich nicht um ein Dokument, das im Zusammenhang mit einer Fahndung stand. 50 Vgl. BStU, MfS, JHS M F WS/1073/84, Bl. 21. 51 Das eben beschriebene Kontrollverfahren wandte die PKE bei jeder Verkehrsart in der Einreise an, also im Wechsel- wie im Transitverkehr, wobei im Transitverkehr eine beschleunigte Abfertigung vorgeschrieben war. Bei hohen Verkehrsaufkommen konnte dies dazu führen, daß die Fahndungstätigkeit nicht immer so intensiv wie eben beschrieben durchgeführt werden konnte. 48

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der Abfertigung des spezifischen Transits unterschieden sich maßgeblich von denen des Ein- und Ausreiseverkehrs. Der spezifische Transitverkehr war mit Abstand die Verkehrsart mit dem höchsten Verkehrsaufkommen. Im Jahr 1983 waren von insgesamt 4 109 195 abgefertigten Fahrzeugen 3 420 770 von und nach Westberlin unterwegs52. Aus dem Transitabkommen geht hervor, daß der Verkehr in dieser Kategorie auf die „einfachste, schnellste und günstigste Weise" abgefertigt werden sollte. Für den Pkw-Verkehr bedeutete diese Vorgabe, daß an der Grenzübergangsstelle im Regelfall nur Kontrollen durch die PKE zur Personenidentifizierung angewandt wurden53. Weitergehende Kontrollen waren ausschließlich bei dem „begründeten Verdacht einer Straftat" gestattet. Die Kontrolleure der Zollverwaltung durften im Transit-Pkw-Verkehr keine eigenen Kontrollhandlungen durchführen, es sei denn, die Angestellten der PKE ordneten eine „Verdachtskontrolle" an. Statt mit Kontrollen waren die Kontrolleure des GZA im Transitverkehr mit dem Befragen und Beobachten der Reisenden beauftragt. Auf der Höhe des Paßannehmers der PKE ging jeweils ein Zollangestellter durch einen Trakt und befragte die Transitreisenden nach genehmigungspflichtigen Gegenständen, die über die Transitstrecke transportiert werden sollten. Insbesondere handelte es sich dabei um Waffen, Munition und Funkgeräte. Waffen und Patronen wurden „eingebeutelt" und zollsicher verschlossen, Funkgeräte (in der Spätphase der DDR vor allem die ersten Mobilfunkgeräte) durften im Transit nicht betrieben werden und mußten zur Durchfuhr registriert werden. Auf diese Gegenstände wurde eine Gebühr erhoben und das Grenzzollamt der GÜSt Drewitz (am Ende der Transitstrecke) informiert 54. Neben der Befragung der Reisenden nach solchen Gegenständen hatten die Zöllner die Aufgabe, durch eine „durchgängige gründliche Beobachtung des Pkw-Verkehrs die Feststellung von Anhaltspunkten und Verdachtsmomenten für Vorbereitungshandlungen von Personenschleusungen [...] zu sichern"55. Doppelte Kraftfahrzeugkennzeichen (Kennzeichen mit Wechselautomatik), Veränderungen am Rücksitz des Pkw, Abweichungen von der normalen Straßenlage des Pkw und Gegenstände, die normalerweise nicht

52

Vgl. BStU, MfS, JHS M F VVS/673/84, Bl. 44. Vgl. BStU, MfS Rechtsstelle Nr. 1033, Bl. 1. 54 Vgl. Interview des Autors mit Thorsten Schumann am 25. März 2004 (Schumann, Interview). 55 Rahmenordnung für die Zollkontrolle des Transitgüter- und -reiseverkehrs zwischen der BRD und Berlin (West) zur Durchsetzung des Transitabkommens vom 3. September 1971, in: Archiv des Bildungszentrums der Bundesfinanzverwaltung, Außenstelle Plessow. [Im Archiv des Bildungszentrums der Bundesfinanzverwaltung, Außenstelle Plessow, sind verschiedenste Befehle, Ordnungen, Dienstanweisungen und Durchführungsanweisungen der ehemaligen Zollverwaltung der DDR vorhanden, jedoch ohne laufende Archivnummer.] 53

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im Fahrgastraum transportiert werden, waren solche Anhaltspunkte. Sie ähnelten den Kriterien beim Kontrollverfahren der PKE. Traf ein Zöllner solche Feststellungen, so mußte er dies unmittelbar dem nächsten Paßkontrolleur der PKE melden56. Im Rahmen der Befragungs- und Beobachtungstätigkeit sollten die Zöllner darüber hinaus auf besondere Vorkommnisse achten. Wenn Reisende provokant oder gereizt auftraten oder demonstrativ westliche Presseerzeugnisse (z.B. die Bild-Zeitung oder Magazine mit pornographischem Inhalt) im Fahrzeug plazierten, so daß sie den Kontrolleuren offensichtlich auffallen sollten, wurden diese Vorkommnisse auf dafür vorgesehenen Kontrollzetteln samt dazugehörigem Pkw-Kennzeichen, Datum und Uhrzeit festgehalten und über den Gruppenführer an den Zugführer weitergeleitet57. Inwiefern diese Vorkommnisse anschließend statistisch aufbereitet wurden und welche Konsequenzen diese Erfassung für die Reisenden hatte, ist nach den bisher erschlossenen Quellen noch unklar. Aufgrund des Kontrollverfahrens liegt es nahe, daß das MfS gerade die Abfertigung des vertragsgebundenen Transits als großes Sicherheitsrisiko einstufte. In jedem Fall galt es zu verhindern, daß Fahrzeuge dieser Kategorie die vorgegebene Transitstrecke verlassen oder auf Tank- und Rastplätzen Güter oder Personen illegal aufnahmen oder absetzten. Aus diesem Grund waren auf den Transitstrecken rund um die Uhr „verdeckte Ermittler" tätig, die die Reisenden beobachteten. Neben den Einheiten der Volkspolizei und des MfS war auch die Abteilung Transitüberwachung des Zolls mit dieser Aufgabe betraut. Aus einem Bericht aus dem Jahr 1973 geht hervor, daß die Transitüberwachung des Zolls innerhalb eines Jahres auf der Transitstrecke Drewitz-Marienborn insgesamt 170 Feststellungen traf 58. Bei 35 Feststellungen leitete die Transitüberwachung gegen betreffende DDR-Bürger ein Verfahren zur Verfolgung von Zoll- und Devisenverstößen ein. 135 Feststellungen übermittelte sie direkt an die Abteilung VIII des MfS 59 . Diese informierte die Paßkontrolleinheit der Grenzübergangsstellen, an der die entsprechenden Fahrzeuge eingereist sind bzw. Ausreise erwartet wurden. Auf der Transitstrecke Helmstedt-Berlin waren dies die Grenzübergangsstellen Marienborn/Autobahn bzw. Drewitz. Ein aus Drewitz kommendes und im Transit befindliches verdächtiges Fahrzeug wurde bei der Vorkontrolle der PKE, noch vor Einfahrt in das eigentliche Kontrollterritorium der GÜSt Marienborn, aus dem Verkehr herausgeleitet und fuhr zur Tiefenkontrolle in ein „Sonderobjekt"60 der PKE. Dieses Gebäude war blickdicht um56 57 58 59 60

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

BStU, MfS, JHS M F VVS/917/80, Bl. 21. Schumann, Interview (Anm. 54). BStU, MfS, HA V I Nr. 13332, Bl. 3. ebd., Bl. 4. Schmid, Interview (Anm. 37).

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zäunt, die Fenster vergittert; Zollmitarbeiter hatten darin ohne ausdrückliche Erlaubnis keinen Zutritt. Für die Kontrollen in diesem Sonderobjekt wurde in den meisten Fällen ein Diensthund eingesetzt. Da nur das GZA über Diensthunde verfügte, wurden dafür ein Hundeführer sowie der im Dienst befindliche Zugführer des Grenzzollamts herangezogen, die auf Anweisung der PKE das Fahrzeug nach versteckten Gegenständen und Personen durchsuchten. Während der Kontrollen befanden sich mehrere mit Maschinenpistolen bewaffnete PKEKräfte in dem Gebäude. Durch eine stecknadelgroße Öffnung in der Wand des Kontrollraums machte das MfS verdeckt Fotoaufhahmen von den Reisenden61. Die anschließende Vernehmung führten Angehörige der PKE in einem separaten Raum. Die dortigen Stühle waren aus Sicherheitsgründen fest am Boden verschraubt. Bei der Kontrolle des Güterverkehrs im vertragsgebundenen Transit hatten die Zollmitarbeiter weitergehende Aufgaben als im Personenverkehr. Die Fahrzeuge wurden in verschiedene Kategorien eingeteilt, die sich aus dem Transitabkommen ergaben. Größtenteils waren dies Fahrzeuge gemäß den Artikeln sechs, sieben und 20 62 . Transportmittel gemäß Artikel sechs waren Fahrzeuge, die unter zollsicherem Verschluß fuhren. Die Abfertigungszeit sollte in der Einwie in der Ausreise zwei Minuten nicht überschreiten. Die Kontrollhandlungen beschränkten sich daher auf die Überprüfung der Warenbegleitscheine und der äußeren Beschau des Fahrzeugs sowie die Einsichtnahme in die Fahrerkabine bei der Entgegennahme der Begleitdokumente. Besonders sollte darauf geachtet werden, daß die Zollverschlüsse echt und korrekt angelegt waren und daß LkwPlanen keine Risse aufwiesen. Dadurch sollte verhindert werden, daß Personen oder Gegenstände auf der Transitstrecke hinein- bzw. herausgelangen konnten. Fahrzeuge, die konstruktionsbedingt nicht verschlußsicher eingerichtet werden konnten (z.B. Tieflader oder Beton-Mischfahrzeuge) oder aufgrund ihrer Ladung nicht dauerhaft verschließbar waren (beispielsweise wegen sperriger Güter oder weil lebende Tiere transportiert wurden), galten als Transportmittel gemäß Artikel sieben. Für diese durfte die Abfertigungszeit in der Ein- und Ausreise fünf Minuten nicht übersteigen. Neben der Überprüfung der Warenbegleitscheine sowie der Einsichtnahme in die Fahrerkabine sollten die Zöllner vor allem eine Beschau der Ladung vornehmen, jedoch ohne diese anzuheben oder auszuladen. Waren an Fahrzeugen angelegte Verschlüsse mangelhaft oder fehlten sie ganz, wurden diese als Transportmittel gemäß Artikel 20 bezeichnet. In diesem

61

Vgl. Interview des Autors mit Anton Berger am 16. März 2004 (Berger, Inter-

view). 62

Vgl. 1. Durchführungsanweisung zum Befehl 8/72 in der Fassung vom 5. Juli 1978, Bl. 3-15, in: Archiv des Bildungszentrums der Bundesfinanzverwaltung, Außenstelle Plessow (Anm. 55).

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Fall gab es in der Ein- wie in der Ausgangskontrolle keine zeitliche Beschränkung der Kontrollhandlungen. Hier sollten neben der Prüfung der Warenbegleitscheine und der Beschau der Fahrzeugkabine auch der Laderaum und die Ladung selbst auf Versteckmöglichkeiten überprüft werden, die sich zur Personenschleusung eigneten. Insbesondere in der Ausreise konnten bei Fahrzeugen dieser Kategorie Teilentladungen angeordnet werden. Generell stand für den Bereich Güterverkehr-Ausreise der GÜSt Marienborn ein Diensthund zur Verfügung, den die Zöllner im Verdachtsfall eingesetzten63. Wurden im Verlauf der Kontrollhandlungen Feststellungen oder Verdachtsmomente erarbeitet, so verständigte der Kontrolleur den diensthabenden Zugführer des GZA, der über die Durchführung einer „Verdachtskontrolle" entschied und zugleich für ein „enges, unmittelbares Zusammenwirken mit der PKE" 64 verantwortlich war. Feststellungen jeglicher Art waren auf einem Feststellungs-/Erfassungsbeleg festzuhalten und statistisch aufzuarbeiten. Auf Wunsch der PKE erfolgte eine Übergabe des Sachverhalts65. Darüber hinaus führte das GZA über jeden Lkw Buch, der die GÜSt Marienborn passierte. Dafür eingesetzte „Registrierer" 66 notierten die Ankunftszeit, das Kennzeichen, die Ladung und den Namen des Fahrers, gleich ob sich der LKW im Transit oder bei der Ein- bzw. Ausreise befand. Die Kontrollen beim Ein- bzw. Ausreiseverkehr durch das GZA erfolgten mit der Zielsetzung, illegale Grenzübertritte zu verhindern, Sachschleusungen von Waren, die zur Ein- bzw. Ausfuhr nicht zugelassen waren, aufzudecken sowie gegebenenfalls Gebühren auf Waren zu erheben, die zur Ein- oder Ausfuhr bestimmt waren. Die Kontrolleure des GZA hatten zur Durchsetzung dieser Vorgaben umfangreiche Befugnisse. Für den Ausreiseverkehr gab es festgeschriebene Mindestkontrollhandlungen67, die von den GZA-Mitarbeitern an jedem Fahrzeug durchgeführt werden mußten. Zuerst mußte der Motor des Fahrzeugs abgestellt werden und alle Fahrzeuginsassen aussteigen. Dann forderte der Zöllner den Fahrzeugführer auf, den Kofferraum sowie die Motorhaube zu öffnen. Alle größeren Gepäckstücke mußten durch Öffnung oder von speziell geschulten Röntgenkontrolleuren überprüft werden. Die Rückbank jedes Autos wurde angehoben, da sich konstruktionsbedingt bei vielen Fahrzeugen darunter ein Hohlraum befand. Durch das Abdrücken der Sitze überprüften die Zöllner, 63 Vgl. DA 3/79 des Leiters der Zollverwaltung vom 23. April 1979, in: Archiv des Bildungszentrums der Bundesfinanzverwaltung, Außenstelle Plessow (Anm. 55). 64 1. Durchführungsanweisung zum Befehl 8/72 in der Fassung vom 5. Juli 1978, Bl. 3, in: Archiv des Bildungszentrums der Bundesfinanzverwaltung, Außenstelle Plessow (Anm. 55). 65 Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, Abt X X Nr. 2625, Bl. 21-27. 66 Schmid, Interview (Anm. 37). 67 Vgl. 1. Durchführungsanweisung zur DA 16/73, in: BStU, MfS, Arbeitsbereich Neiber I Nr. 37, Bl. 191f.

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daß darin keine Gegenstände eingenäht waren. Zusätzlich überprüften sie mit Hilfe eines Spiegelwagens den Unterboden des Fahrzeugs. Anschließend nahmen die GZA-Mitarbeiter mit Hilfe von speziellen Tanksonden den Fahrzeugtank in Beschau. Je nach Ermessen des Kontrolleurs wurden zusätzlich mit Hilfe eines Kontrollendoskops Hohlräume der Fahrzeuginnenverkleidung ausgeleuchtet sowie weitere Gepäckstücke einer Röntgenkontrolle unterzogen. Entsprechende Kontrollen durften an Pkw bei der Einreise in die DDR vorgenommen werden. Dies geschah in der Einreise jedoch nur stichprobenartig und bei entsprechendem Verdacht. Die Intensität der Einreisekontrollen hing zudem vom momentanen Verkehrsaufkommen ab68. Der Schwerpunkt der Kontrollen lag eindeutig bei der Ausreise, was darauf hindeutet, daß die Kontrollhandlungen zu allererst den „staatsfeindlichen Menschenhandel" und das „illegale Verlassen der DDR", also Schleusungs- und Fluchtversuche aufdecken und verhindern sollten. Für diese These spricht auch die Tatsache, daß am GZA Marienborn neu ankommende Zöllner zunächst fast ausschließlich im Bereich Einreise und unter Aufsicht eines Lehrkontrolleurs eingearbeitet und geschult wurden69. Wenn keine Feststellung vorlag, berechnete und kassierte der Zöllner gegebenenfalls Ein- bzw. Ausfuhrgebühren auf die zum Verbleib in der DDR mitgefühlten bzw. aus der DDR ausgeführten Waren. Im Jahr 1982 nahm die DDR auf diese Weise 2,8 Millionen Mark an den Grenzübergangsstellen der DDR zur Bundesrepublik ein70. Bei der Einfuhr von Gegenständen mußten im Reiseverkehr Gebühren in Höhe von 20 Prozent der vergleichbaren Einzelhandelsverkaufspreise der DDR gezahlt werden71. Die Berechnung der Einfuhrgebühren erfolgte unter Beachtung festgelegter Freigrenzen. Ab dem 15. Februar 1982 wurden diese Freigrenzen auf das Doppelte erhöht und lagen seitdem bei 200 Mark pro Aufenthaltstag in der DDR, höchstens jedoch bei 1000 Mark 72. Dennoch wurden diese schnell überschritten. Besonders technisch hochwertige Konsumgüter überstiegen die Vergleichspreise in der DDR um das Vielfache 73. Die Praxis der Gebührenerhebung bei der Einfuhr von Gegenständen stieß bei vielen Reisenden auf Unverständnis und sorgte oftmals für Verärgerung. Die Situation spitzte sich besonders Ende der 1980er Jahre zu, als in der Bundesrepu-

68

Vgl. Schmid, Interview (Anm. 37). Vgl. Schumann, Interview (Anm. 54); Schmid, Interview (Anm. 37). 70 Vgl. Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO-BArch), D Y 30, Nr. 881, Bl. 12f. 71 Vgl. BStU, Arbeitsbereich Neiber 1, Nr. 144, Bl. 95. 72 Vgl. SAPMO-BArch; DY 30, Nr. 881, Bl. 12. 73 Ein Kassettenrecorder kostete in der Bundesrepublik Anfang der 1980er Jahre beispielsweise 100 D M , in der DDR jedoch 1500 Mark. Folglich wurden für die Einfuhr Gebühren von 300 Mark (20 Prozent von 1500 Mark) berechnet. Die Freigrenze für einen Tagesaufenthalt (200 Mark) war damit bereits überschritten. 69

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blik Heimcomputer zunehmend erschwinglich wurden und die Vergleichspreise in der DDR exorbitant höher lagen. Dieser Umstand veranlaßte die DDRRegierung ab 1987 zu einer anderen Regelung der Gebührenerhebung. Seitdem bildete der zwei- bis dreifache Kaufpreis in der Bundesrepublik die Grundlage der Gebührenfestsetzung 74. Erhärtete sich bei den Kontrollen der Verdacht auf Schmuggel und Spekulation, konnte das Fahrzeug in eine Kontrollgarage gefahren werden, in der eine Tiefenkontrolle erfolgte. Teilweise zerlegten die Zöllner dabei die Autos bis in ihre Einzelteile75, wobei im Anschluß daran der Zusammenbau von dem Reisenden selbst durchgeführt werden mußte. War der Reisende dazu nicht imstande, bot ihm das GZA an, einen Automechaniker herbeizurufen, der gegen Zahlung von Valutamark diese Arbeiten übernahm76. In besonderen Fällen konnte auf Anordnung bzw. mit Genehmigung des Dienststellenleiters, seines Stellvertreters operativ oder des diensthabenden Offiziers eine Körperdurchsuchung der Reisenden vorgenommen werden77. In jedem Fall erfolgte auf eine Feststellung die Vernehmung des Reisenden. Dabei war der Zöllner angehalten, dem Reisenden nachzuweisen, daß er die gesetzlichen Bestimmungen zur Ein- bzw. Ausfuhr mißachtet hatte, um so eine StrafVerfügung gegen ihn aussprechen zu können. Diese mußte der Reisende unterschreiben. Im Anschluß daran zog das GZA die geschmuggelten Gegenstände in der Regel ein und erhob eine Strafgebühr 78. Insgesamt wurden im Jahr 1982 an den Grenzübergangsstellen zur Bundesrepublik durch Einziehungen von Waren und Devisen sowie durch Strafgebühren weit über 6 Millionen Valutamark eingenommen79.

6. Personalmangel und Personalrekrutierung: Schlüsselprobleme des Grenzzollamts Was bereits für die Zollverwaltung im Allgemeinen galt, traf für das GZA Marienborn in ganz besonderem Maße zu: Die Sollstärke des GZA stand im 74

Vgl. BStU, MfS, Arbeitsbereich Neiber 1 Nr. 144, Bl. 97. Vgl. Müller, Interview (Anm. 30). 76 Vgl. Schmid, Interview (Anm. 37); Schumann, Interview (Anm. 54); Interview des Autors mit Andreas Kurz am 1. April 2004 (Kurz, Interview). [Andreas Kurz war im Gegensatz zu den anderen interviewten Personen kein ehemaliger PKE- bzw. Zollmitarbeiter, sondern reiste als Bürger der Bundesrepublik im Rahmen des kleinen Grenzverkehrs nahezu wöchentlich über die GÜSt Marienborn in die DDR.] 77 Vgl. DA Nr. 8/70 des Leiters der Zollverwaltung, Bl. 6, in: Archiv des Bildungszentrums der Bundesfinanzverwaltung, Außenstelle Plessow (Anm. 55). 78 Vgl. Schmid, Interview (Anm. 37). 79 Vgl. SAPMO-BArch, D Y 30, Nr. 881, Bl. 12f. 75

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krassen Widerspruch zu den tatsächlich vorhandenen Kräften. Der Personalmangel kann als Schlüsselproblem betrachtet werden, der Auswirkungen auf verschiedenste Aspekte der Arbeits- und Lebensbedingungen der Zöllner hatte. Im März 1989 stellte ein Zugführer der Paßkontrolleinheit Marienborn in einem internen Schreiben an die Abteilung VI der Bezirksverwaltung Magdeburg des MfS unter anderem fest: „Die Kräftesituation im GZA bedingt hohe Stundenleistungen der Mitarbeiter und Dienstzüge und daraus resultierend eine schlechte Stimmung im Mitarbeiterbestand, die nicht zuletzt auch die Gewährleistung der inneren Sicherheit im Mitarbeiterbestand des GZA negativ beeinflussen kann. Die den Mitarbeitern der Dienstzüge abverlangten hohen Stundenleistungen (derzeit bis zu 280 Stunden im Monat) haben zur Folge, daß die Leistungskader den Mitarbeitern wenig Disziplin und Ordnung abverlangen"80. Der Umstand der Unterbesetzung des Grenzzollamts war ein langjähriger Prozeß, dessen Ursachen und begünstigende Bedingungen bereits Ende der 1960er Jahre vorhanden waren. Seit Bestehen des GZA war die Sollstärke jeder der vier Dienstzüge auf mindestens 1:40 festgelegt, d.h. ein Zugführer leitete 40 Kontrolleure. In der frühen Phase entsprach diese Sollstärke in etwa auch der IstStärke. Seitdem nahm die Zahl der eingesetzten Kontrolleure pro Schicht mimer weiter ab, bis sie sich ab Mitte der 1970er Jahre auf etwa 25 einstellte und bis ins Jahr 1990 mehr oder weniger konstant blieb81. Doch zeitgleich mit der Abnahme der einsetzbaren Kräfte stieg das Verkehrsaufkommen kontinuierlich an, insbesondere durch den Abschluß der deutsch-deutschen Verträge, aber auch durch die allgemeine Zunahme des Straßengüterverkehrs. Im Jahr 1988 lag das Verkehrsaufkommen an der GÜSt Marienborn bei über zwölf Millionen Personen in knapp sechs Millionen Fahrzeugen82, Aus der Zunahme des grenzüberschreitenden Verkehrs ergab sich für die Staatsführung ein erheblich gesteigertes Sicherheitsbedürfiiis, das sich quantitativ und qualitativ sowohl auf die Kontrollen als auch auf die Kontrolleure auswirkte. Der Umfang der Kontrollen nahm zu, während die Zahl der Kontrolleure, bedingt durch steigende personalpolitische Anforderungen und die sich immer weiter verschlechternden Arbeitsbedingungen, auf einem äußerst niedrigen Niveau stagnierte. Da auch die übergeordnete Bezirksverwaltung Zoll Magdeburg von den 1980er Jahren an unter nicht besetzten Planstellen litt, war das Grenzzollamt Marienborn bei der Anwerbung neuer Mitarbeiter weitgehend auf sich alleine gestellt83. Deshalb gab es am GZA eine eigene „Werbegruppe", in der sechs bis sieben Zöllner ausschließlich mit der Gewinnung neuer Mitarbeiter beschäftigt 80 81 82 83

BStU, MfS, HA V I Nr. 4392, Bl. 667f. Vgl. BStU, MfS, HA V I Nr. 4392, Bl. 561. Vgl. BStU, MfS, HA V I Nr. 11598, Bl. 3. Vgl. BStU, MfS, HA X I Nr. 4392, Bl. 561.

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waren84. Die Hälfte der hierfür eingesetzten Zöllner war mit der Suche und Kontaktierung potentieller Nachwuchskräfte beschäftigt, während die andere Hälfte die Zollbewerber und deren Umfeld auf ihre „kaderpolitische Zuverlässigkeit" überprüfte. Das Auswahl- und Überprüfungsverfahren der Werbegruppe des GZA entsprach in weiten Teilen dem allgemeinen Verfahren der Zollverwaltung85. Zu jedem Zollbewerber wurden Ermittlungsberichte angefertigt und an die Kaderabteilung der Bezirksverwaltung Zoll nach Magdeburg weitergeleitet. Vor der Einstellung mußte die Abteilung VI der Bezirksverwaltung des MfS in Magdeburg ihre Zustimmung geben. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Aussage eines Zeitzeugen, der mehrfach beobachtet hat, daß vom Zoll ausgewählte und überprüfte Bewerber nach Prüfung durch die Abteilung VI zwar an der GÜSt ihren Dienst verrichteten, jedoch „in einer anderen Uniform" 86. Demnach nutzte die Staatssicherheit die Arbeit der Werbegruppe für die Auswahl und Gewinnung ihres eigenen Personalbestandes bei der Paßkontrolleinheit. Allerdings hat das MfS nicht nur Zollbewerber abgeworben, es hat auch die Zustimmung zur Einstellung am GZA verweigert, wenn ein Zollbewerber bereits vor der Kontaktaufhahme durch den Zoll von der Staatssicherheit angesprochen wurde und eine Zusammenarbeit mit dem MfS ablehnte87. Die Gewinnung neuer Kräfte für das GZA war bereits aus den eben genannten Gründen ein schwieriges Unterfangen. Zusätzlich wurde die Werbung durch weitere Faktoren erschwert. Nach dem Machtwechsel an der Spitze des Staatsapparats im Jahr 1971 wurde auf dem VIII. Parteitag der SED unter ihrem neuen Vorsitzenden Erich Honecker die weitere „Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes" als künftige Hauptaufgabe beschlossen und verkündet. Die daraufhin ergriffenen Maßnahmen zielten im Kern vor allem auf die Verbesserung der Wohnbedingungen durch ein umfassendes Bauprogramm88. Das Grenzzollamt Marienborn verfügte aber bereits ab Anfang der 1960er Jahre über genügend Wohnheime und Wohnblöcke in Marienborn, Harbke und Wefensleben. Für fast alle der befragten ehemaligen Kontrolleure lag das Hauptmotiv, den Dienst in der Zollverwaltung am GZA Marienborn aufzunehmen, in der Aussicht, rasch eine eigene Wohnung zu bekommen. Mit der Verbesserung der angespannten Wohnsituation verlor die Werbegruppe des GZA einen entscheidenden Trumpf. Ein weiterer Vorzug, die gute Bezahlung

84

Vgl. Schmid, Interview (Anm. 37). Vgl. Dienstlaufbahnordnung der Zollverwaltung, in: BStU, MfS, JHS MF VVS/873/81, Bl. 42ff.; Berger, Interview (Anm. 61); Schmid, Interview (Anm. 37); Interview des Autors mit Egon Linke am 11. März 2004 (Linke, Interview). 86 Berger, Interview (Anm. 61). 87 Ebd. 88 Vgl. Heydemann (Anm. 7), S. 29. 85

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der Zöllner, nahm ebenfalls Schaden durch die beschlossene „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik". Zwar lag der Verdienst eines Zollmitarbeiters ab den 1970er Jahren mit ca. 1000 bis 1600 Mark Netto89 weit über dem Durchschnittseinkommen in der DDR, doch die Vielzahl der Überstunden, die allesamt ohne Lohnausgleich geleistet werden mußten, relativiert diese vermeintliche Privilegierung. Für eine Anstellung in der Zollverwaltung mußte jeder Bewerber nachweisen, daß er seinen Dienst bei der NVA geleistet hatte. Daher konzentrierte sich die Werbegruppe bei ihrer Suche nach Nachwuchskräften vor allem auf Personen, die vor dem Abschluß ihres Wehrdienstes standen. Die Werber des GZA Marienborn suchten ihre Zielpersonen sowohl in den einzelnen Truppenteilen als auch in ihren Privatwohnungen auf. Bei den befragten Zeitzeugen, die während ihrer Zeit in der Zollverwaltung auch als Werber tätig waren, war diese Tätigkeit sehr unbeliebt. Einerseits standen sie unter dem Druck der Kaderabteilung der Bezirksverwaltung, die ständig auf die Einwerbung von Mitarbeitern drängte. Andererseits erlebten sie ihre Tätigkeit als „Klingelputzen" und „Betteln"90, da sie „immer weniger" und „immer zu wenig" Personen von einer Tätigkeit in der Zollverwaltung überzeugen konnten. Die Aussage eines Zeitzeugen, der in der Werbegruppe tätig war, ist bezeichnend und kann stellvertretend für die eben angedeuteten Entwicklungen stehen: „Also, rein vom geistigen Niveau, von den Schulzeugnissen, im Laufe der Jahre, ich will es mal überspitzt sagen, es kamen dann nur noch zum Schluß die Dummen. [...] Hauptsache er hatte eine saubere Kaderakte."91

7. Konfrontation und Korruption: Die Kontrolle der Reisenden durch das Grenzzollamt Wie bereits erwähnt, oblag es ausschließlich den Zollmitarbeitern, auf Grundlage des Zollgesetzes Personen im grenzüberschreitenden Verkehr einer Kfz-, Gepäckmittel- bzw. Personenkontrolle zu unterziehen. Die Mitarbeiter der Paßkontrolleinheit (und somit die hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit) mieden weitgehend den direkten Kontakt mit den Reisenden, wohl auch deshalb, um eine Einsicht dieser Personen in interne Strukturen des MfS zu ver-

89

Die hier genannten Zahlen ergaben sich aus der Befragung ehemaliger Zollmitarbeiter. Der Monatslohn hing vom jeweiligen Dienstgrad ab. Im Rahmen der Recherche für diesen Beitrag wurde kein Dokument gefunden, das eindeutige Angaben über den Verdienst macht. 90 Berger , Interview (Anm. 61); Linke, Interview (Anm. 85). 91 Berger, Interview (Anm. 61).

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hindern. Um dennoch über die Ergebnisse der Durchsuchungen voll im Bilde zu sein, mußte über die Kontrolltätigkeit am Grenzzollamt Marienborn genauestens Buch geführt werden. Die Kontrollergebnisse jedes Tages wurden in so genannten „Lagemeldungen" zusammengefaßt und per Fernschreiber an die Bezirksverwaltung Zoll nach Magdeburg abgesetzt92. Diese faßte die Lagemeldungen aller Grenzzollämter des Bezirks (Marienborn/Autobahn, Marienborn/Eisenbahn, Oebisfelde und Buchhorst) zu „Lagefilmen" zusammen. Die Tatsache, daß sich diese Lagefilme heute im BStU-Archiv befinden, läßt darauf schließen, daß der Bezirks Verwaltung des MfS jeweils eine Ausfertigimg zur Information übergeben wurde. Aus den Lagefilmen geht unter anderem hervor, wie viele Gütertransportmittel bei der Einreise im vertragsgebundenen Transit an den einzelnen GÜSt abgefertigt wurden, wie viele Vorgänge an die Paßkontrolleinheiten übergeben wurden, wie viele Personen kontrolliert wurden und welche Feststellungen dabei getroffen wurden93. Für den internen Gebrauch wurden von der Statistikabteilung des Grenzzollamts Listen geführt, aus denen die Anzahl und die Art der Feststellungen hervorgingen, die jeder einzelne Zöllner in einem bestimmten Zeitraum vorgenommen hatte. Es war Aufgabe der Zugführer des GZA, diese Listen regelmäßig zu kontrollieren 94. Hatte ein Kontrolleur über einen längeren Zeitraum keine oder wenige Kontrollerfolge, so wurde er von seinem Zugführer ermahnt. Hatte er dagegen auffällig viele oder große Feststellungen, so wurden ihm von Zeit zu Zeit Prämien ausgezahlt. Das Prämiensystem war ein wichtiges Instrument der Leiterebene, um die Kontrolleure für ihre Arbeit zu motivieren. Aus der Prämienordnung der Zollverwaltung der DDR geht hervor, daß Prämien „die Entwicklung der schöpferischen Initiative der Mitarbeiter der Zollverwaltung zur Erreichung höchster Ergebnisse bei der Lösung der von Partei und Regierung gestellten Aufgaben aktiv [unterstützen] sollten"95. Es standen Prämienfonds in Höhe von drei Prozent des gesamten Besoldungsvolumens der Zollverwaltung zur Verfügung, die von zentraler Stelle aus an die einzelnen Abteilungen und Dienststellen der Zollverwaltung weitergeleitet wurden. Über die Auszahlung einer Prämie entschied am GZA Marienborn der Dienststellenleiter auf Grundlage von Vorschlägen des jeweiligen Zugführers 96. Grundsätzlich wurden Prämien zu bestimmten Anlässen ausgezahlt, wie beispielsweise zum Tag der Republik, zum Tag der Zollverwaltung oder zum 1. Mai. Prämienempfänger waren Kontrolleure, die im

92

Vgl. Schmid, Interview (Anm. 37). Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, Abt. IX Nr. 1234. 94 Vgl. Berger, Interview (Anm. 61). 95 Ordnung 6/77 des Leiters der Zollverwaltung vom 7. September 1977 in: Archiv des Bildungszentrums der Bundesfinanzverwaltung, Außenstelle Plessow (Anm. 55). 96 Vgl. Berger, Interview (Anm. 61). 93

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Dienst hohen Einsatz zeigten, also besonders viele Überstunden leisteten oder viele Kontrollfeststellungen machten. Prämien konnten sowohl Geld- als auch Sachprämien (z.B. Bücher) sein, die in der Regel einen Wert von 100 bis 150 Mark hatten97. Über diese periodisch ausgezahlten Prämien hinaus stand der Leitung des GZA-ein Sonderprämienfond zur Verfügung. Die Mittel in diesem Fond waren zweckgebunden für die Prämierung überdurchschnittlicher Kontrollerfolge, beispielsweise der „Aufdeckung von raffinierten Schmuggelverstekken" oder der „Verhinderung von Menschenschleusungen"98. Diese Art Prämie wurde von den befragten ehemaligen Zöllnern als „Erfolgsprämie" 99 bzw. „Sofortprämie" 100 bezeichnet, da ihre Auszahlung bereits am kommenden Tag durch den Zugführer vorgenommen wurde. Die Höhe dieser Prämie richtete sich nach dem Wert der Feststellung, wobei bei einer aufgedeckten Personenschleusung laut Aussagen eines Zeitzeugen bis zu 500 Mark ausgezahlt werden konnten101. Während der täglichen Einweisung zum Dienst wurde die prämierte Feststellung besprochen und ausgewertet, anschließend durfte der Prämienempfänger vortreten und das Geld entgegennehmen. Das Prämiensystem war mit Sicherheit ein geeignetes Instrument, um die Zöllner zu verstärktem Einsatz und zu Wachsamkeit bei den Kontrollen zu motivieren - und zwar nicht nur durch die Auszahlung von Prämien, sondern auch durch deren Vorenthaltung. Wenn z.B. Kontrollen fahrlässig durchgeführt wurden oder wenn es zu negativen Äußerungen bezüglich des hohen Arbeitspensums kam, blieben für den Betroffenen Prämien für lange Zeit aus. Dies wirkte aus Sicht mancher Zeitzeugen eher frustrierend als motivierend102. Eine weitere negative Folge des Prämiensystems war der Neid unter den Zöllnern, da einige unter ihnen sehr häufig, andere wiederum selten oder nie eine Prämie erhalten haben103. Die schwierigen Arbeitsbedingungen sowie das Prämiensystem hatten auch Folgen für das Verhältnis zwischen den Zöllnern und den Reisenden104. Die Kontrolleure des GZA Marienborn waren wie kein anderes „Organ" Tag für

97

Vgl. ebd. Ordnung 6/77 des Leiters der Zollverwaltung vom 7. September 1977, Bl. 7f., in: Archiv des Bildungszentrums der Bundesfinanzverwaltung, Außenstelle Plessow (Anm. 55). 99 Berger, Interview (Anm. 61). 100 Linke, Interview (Anm. 31). 101 Vgl. Schmid, Interview (Anm. 37). 102 Vgl. Schumann, Interview (Anm. 54); Linke, Interview (Anm. 85). 103 Vgl. Linke, Interview (Anm. 31); Schumann, Interview (Anm. 54). 98

104

Die GÜSt Marienborn passierten täglich Reisende unterschiedlichster Herkunft. Den Großteil machten Bürger der Bundesrepublik aus. Daher wird der besseren Lesbarkeit halber der Begriff „Reisende" mit „Reisende aus der Bundesrepublik" gleichgesetzt.

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Tag den „Einflüssen des Westens" ausgesetzt. Sie waren es, die die Reisenden befragten, kontrollierten und vernahmen. Für die Reisenden wiederum waren die Kontrollen des Zolls ein prägendes Ereignis, nirgendwo sonst kamen sie in derart engen Kontakt mit Repräsentanten des DDR-Regimes. Das Verhältnis zwischen dem Zoll und den Reisenden war oftmals sehr emotional geprägt. Aus der Sicht des Zolls waren die Reisenden Vertreter des „Klassengegners", zumindest sollten sie es sein. Daher wurden größte Anstrengungen unternommen, diese Position bei den Zöllnern zu festigen. Nicht ohne Grund war es für Zöllner und deren Angehörige verboten, Westmedien zu nutzen oder Westkontakte zu unterhalten105. Auch während der Arbeit an der Grenzübergangsstelle war jeder Kontakt zu Reisenden, der über das Maß der notwendigen Kontrollhandlungen hinausging, untersagt. Während der mehrmonatigen Grundlehrgänge, die alle neu eingestellten Zöllner am GZA besuchen mußten, bevor sie für die Kontrollen zum Einsatz kamen, wurde neben der Vermittlung von zollspezifischen Kenntnissen auch auf Politunterricht Wert gelegt106. Darüber hinaus war die Teilnahme an monatlichen politischen Schulungen für alle Kontrolleure des GZA verpflichtend 107. Um innerhalb der Zollverwaltung einen höheren Dienstgrad zu erreichen 108, mußte ein Studium am Institut der Zollverwaltung abgeschlossen werden, was wiederum die Mitgliedschaft in der SED voraussetzte und die regelmäßige Teilnahme an Parteiversammlungen bedingte. Aus Sicht der Reisenden waren die Zöllner oftmals Vertreter eines Obrigkeitsstaats, der mit diktatorischen Mitteln einem Großteil seiner Bevölkerung das Recht auf Freizügigkeit verweigerte oder stark einschränkte. Das Verhalten der Reisenden gegenüber den Kontrolleuren reichte von starker Zurückhaltung und Angst bis hin zu Wut und Aggression. Die Meinung der Reisenden über das Grenzregime wurde neben eigenen Erfahrungen vor allem durch Berichte der westlichen Massenmedien geprägt. Beispielsweise sorgte der Tod des BRDBürgers Rudolf Burkert am 10. April 1983 an der GÜSt Drewitz für rege Berichterstattung in der westdeutschen Tagespresse. Burkert verstarb während einer Vernehmung durch Zollkontrolleure an Herzversagen. Die Obduktion des

105 Vgl. Dienstlaufbahnordnung der Zollverwaltung, in: BStU, MfS, JHS VVS/873/81, Bl. 49. 106 Vgl. Schumann, Interview (Anm. 54). 107 Dies bestätigten alle befragten ehemaligen Zöllner. 108 In der Zollverwaltung der DDR gab es folgende Dienstgrade (in aufsteigender Reihenfolge): Zollwachtmeister, Zolloberwachtmeister, Zollhauptwachtmeister, Zollassistent, Zolloberassistent, Zolluntersekretär, Zollsekretär, Zollobersekretär, Zollunterkommissar, Zollkommissar, Zolloberkommissar, Zollhauptkommissar, Zollrat, Zolloberrat, Zollinspekteur, Zollchefinspekteur. Ab dem Dienstgrad des Zollkommissars war ein Studium am Institut der Zollverwaltung Voraussetzung. Vgl. Amt für Zoll und Kontrolle des Warenverkehrs (Hrsg.), Handbuch für den Zolldienst, Berlin 1960, S. 493.

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Verstorbenen konnte die Vernehmung als Todesursache zwar nicht bestätigen, aber auch nicht ausschließen. Bezugnehmend auf diesen Vorfall kam der Leiter der Bezirks Verwaltung Zoll in Magdeburg in einem Schreiben vom 27. Mai 1983 zu dem Schluß, daß sich vor allem BRD-Bürger an den Grenzübergangsstellen des Bezirks „regelrecht aufsässig" 109 verhielten. Sie würden versuchen, sich der Kontrolle zu widersetzen, sie kämen Verfügungen nur widerwillig nach und versuchten Mitarbeiter der Zollverwaltung zu behindern, zu beleidigen oder zu diffamieren. Tatsächlich waren die Reaktionen der Reisenden zum Teil gereizt. Ein Reisender bemerkte am GZA Marienborn, nachdem gegen ihn ein Devisenverfahren eingeleitet wurde: „Jetzt weiß ich, wie der Burkert gestorben ist" 110 . Nachdem bei einer Reisenden am Körper versteckte Literatur entdeckt wurde, sagte sie: „Hier wird man wie ein Verbrecher behandelt - kein Wunder, wenn man dabei einen Herzinfarkt bekommt."111 Andere reagierten dagegen eher eingeschüchtert auf den Vorfall. Ein Reisender bat die Zöllner, daß seine Frau während der Kontrollen im Pkw sitzen bleiben durfte, da sie unter körperlichen Gebrechen litt. Er sagte wörtlich: „Ich möchte keine Schwierigkeiten bekommen. Mir soll es nicht so ergehen wie Burkert, und deshalb habe ich auch jetzt immer eine Bescheinigung für meine Ehefrau mit" 112 . Daß die Grenzkontrollen für viele Reisende eine Extremsituation bedeutete, steht fest. Der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen teilte im Mai 1983 mit, daß von 1978 an 34 Bürger aus der Bundesrepublik als Reisende an den Grenzübergangsstellen der DDR an Herzversagen, Herzinfarkt oder vergleichbaren Herzkrankheiten gestorben sind. Zwar deute nichts darauf hin, daß diese Todesfälle während Kontrollen oder Verhören eintraten, es könne jedoch nicht ausgeschlossen werden, daß die durch Kontrollmaßnahmen an der Grenze ausgelöste psychische Belastung im Einzelfall zu gesundheitlichen Gefährdungen geführt habe113. In der DDR-Presse wurden solche Äußerungen in der Regel als „Hetze" bezeichnet. Dennoch beweist der Umstand, daß westliche Zeitungsmeldungen über Vorfälle an den GÜSt von der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe des MfS (ZAIG) akribisch gesammelt und ausgewertet wurden, wie ernsthaft man mit Negativschlagzeilen umgegangen ist. Auch innerhalb des Grenzzollamts Marienborn achtete der Führungsstab auf korrektes Verhalten

109 Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt (LSHASA), MD, REP PI 3 SEDBezirksleitung Magdeburg vorl. Nr. 21024. 1,0 Ebd. 111 Ebd. 112 Ebd. 113 Vgl. Der Tagesspiegel vom 14. Mai 1983, in: BStU, MfS, ZAIG/1 Nr. 9443/1, Bl. 7.

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der Zollkontrolleure gegenüber den Reisenden. Generell von Willkür bei den Kontrollen zu sprechen, wäre abwegig. Schon was den Einsatz einzelner Kontrolleure anging, hatte der Zugführer jeder Diensteinheit darauf zu achten, wer in welchem Maße in Kontakt mit den Reisenden kam. Im Allgemeinen kann gesagt werden, daß in der Abfertigung des Güterverkehrs „rauhere Sitten" herrschten als im Reiseverkehr, dementsprechend wurden im Reiseverkehr vorzugsweise Kontrolleure eingesetzt, die nach Ermessen des Zugführers über das hinreichende Niveau und den entsprechenden Intellekt verfügten 114. Ein weiteres Indiz dafür, daß ein ordnungsgemäßes Verhalten gegenüber den Reisenden von Bedeutung war, zeigt sich im Umgang mit Dienstaufsichtsbeschwerden. Wenn sich Reisende schlecht behandelt fühlten, beschwerten sie sich oft an zentraler Stelle in Berlin. Laut den Aussagen aller befragten Zeitzeugen wurden diese Beschwerden immer zurückverfolgt. Der betreffende Zöllner wurde in den meisten Fällen ermahnt, das Vorkommnis oft während der nächsten Diensteinweisung besprochen, verbunden mit dem Hinweis, den Reisenden korrekt gegenüberzutreten 115. Ein ehemaliger Kontrolleur kam in diesem Zusammenhang zu dem Schluß: „Also wenn die Reisenden richtig gewußt hätten, was sie für Macht auf uns ausüben können, dann wäre das eine Katastrophe hier geworden"116. Dennoch gibt es keine Zweifel, daß die Zöllner gegenüber den Reisenden aufgrund ihrer Befugnisse über eine beträchtliche Autorität verfügten, was sich mitunter auch in obrigkeitsstaatlichem Verhalten ausdrückte117. So stand teilweise der Umfang der Kontrollen und Vernehmungen in keinem Verhältnis zu den Feststellungen. Was zählte, war oft nur der Kontrollerfolg, auch wegen der in Aussicht gestellten Prämien. Nicht unterschätzt werden darf ein gewisses Frustrationspotential, das bei manchen Kontrolleuren vorhanden war. Eine Ursache dafür war die enorme Arbeitsbelastung, die ein Zeitzeuge folgendermaßen kommentierte: „Es gab hier Situationen, wo hier manche Zwölf-Stunden-Dienst hatten und dann kamen sie an und sagen, paß auf, hier ist die Hölle los, kannst du nicht noch mal vier Stunden dran hängen, [...] wenn dir dann einer so dusselig kommt, daß man da mal aus der Haut fahren kann ist völlig normal" 118. Eine weitere Ursache kann in der materiellen Ungleichheit zwischen Reisenden und Zöllnern gesehen werden. Aus der Sicht mancher Zöllner waren es die Reisenden, die für die schlechte Versorgungslage in der DDR verantwortlich waren.

114 115 116 117 118

Vgl. Berger, Interview (Anm. 61); Müller, Interview (Anm. 30). Vgl. Schumann, Interview (Anm. 54). Linke, Interview (Anm. 85). Vgl. Schumann, Interview (Anm. 54); Berger, Interview (Anm. 61). Linke, Interview (Anm. 85).

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„Die haben uns ja ausgenommen, damals"119. „Dann kontrollierst du und machst den Kofferraum auf und kuckst du und dann hat der da stapelweise Bettwäsche drin und du rennst schon ein halbes Jahr hinter einem Bettlaken hinterher. [...] Für Westmark hast du alles gekriegt" 120. Ein weiterer möglicher Grund für ein unkorrektes Auftreten gegenüber den Reisenden kann das provozierende Verhalten mancher Reisender gewesen sein. Insbesondere im Bereich des vertragsgebundenen Transitverkehrs waren den Zöllnern bei den Kontrollen - abgesehen von einer äußeren Beschau der Fahrzeuge und der Frage nach genehmigungspflichtigen Gegenständen - die Hände gebunden. Der Dienst in den Abfertigungsspuren des vertragsgebundenen Transits war aufgrund der monotonen und immer gleichen Befragung der Reisenden bei vielen Kontrolleuren ohnehin unbeliebt. Unter den Zöllnern sprach man daher vom Dienst auf der „Papageieninsel"121. Manche Reisende nutzten den Umstand der Kontrollbefreiungen im Transitverkehr und breiteten demonstrativ die Bild-Zeitung im Auto aus, die in dicken Lettern über Vorkommnisse an der Grenze berichtete122. Darüber hinaus wurden Zeitschriften mit pornographischem Inhalt und rechtsgerichtete Blätter auf diese Weise zur Schau gestellt123. Neben diesem „konfrontativen" Zusammentreffen zwischen Zöllnern und Reisenden entwickelte sich in einigen Fällen ein durchaus als „leger" zu bezeichnendes Verhältnis. Insbesondere Reisende, die regelmäßig und zu bestimmten Zeiten die GÜSt passierten, trafen oftmals auf die gleichen Kontrolleure. Im Bereich des Güterverkehrs waren es vor allem Lkw-Fahrer von Speditionen, die regelmäßig in die DDR einreisten oder nach Westberlin fuhren. Ein früherer Zugführer kam zu der Auffassung: „Der Ton war etwas lockerer, würde ich mal sagen. Sollte zwar nicht sein, aber die Fahrer, kamen ja jede Nacht die gleichen, nicht? Die waren ja teilweise schon per du, sag ich jetzt mal übertrieben"124. Im Bereich des Reiseverkehrs waren dies vor allem Bundesbürger, die im Rahmen des „kleinen Grenzverkehrs" die GÜSt passierten. „Und mit denen hast du dich dann auch mal in Ruhe unterhalten, bist auch mal in die Garage gefahren, damit du deine Ruhe gehabt hast"125, meinte ein ehemaliger Kontrolleur. Wie bereits mehrfach erwähnt, waren derartige Kontakte und Verhaltensweisen unerwünscht. Dennoch ließen sie sich, wie eben gezeigt, nicht immer verhindern. Wesentlich schärfere Konsequenzen hatte es, wenn Reisende Geld oder 119 120 121 122 123 124 125

Interview des Autors mit Karsten Fink am 1. April 2004 (Fink, Interview). Linke , Interview (Anm. 85). Schumann, Interview (Anm. 54). Vgl. Linke, Interview (Anm. 31). Vgl. Schumann, Interview (Anm. 54). Berger, Interview (Anm. 61). Schmid, Interview (Anm. 37).

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Gegenstände anboten und Zöllner dieses Angebot annahmen. Beispielsweise konnte bereits die Annahme eines Kugelschreibers die fristlose Entlassung aus dem Dienst in der Zollverwaltung nach sich ziehen126. Besonders das MfS betrachtete jede Art der Kontaktaufnahme zwischen Reisenden und Zöllnern mit Argwohn. In einer Sicherungskonzeption der Abteilung VI zum Grenzzollamt Marienborn/Autobahn wies man ausdrücklich auf „die feindliche Kontaktpolitik und Kontakttätigkeit durch eine forcierte Einflußnahme auf Zollangehörige", „Bestechungs- und Kontaktierungsversuche" sowie auf „Spionageangriffe in all ihren Erscheinungsformen" 1 2 7 hin. Die „politisch-operative Sicherung des GZA Marienborn/Autobahn" 128 durch das MfS war für jeden Zöllner spürbar und durch die Präsenz der Paßkontrolleinheit allgegenwärtig. Einige Paßkontrolleure wurden zeitweise beauftragt, während des Dienstes bestimmte Zöllner zu beobachten129. Außerdem erfolgte ab 1982 eine Überwachung der Zöllner durch Fernsehfahndungstechnik, die in den Abfertigungsbereichen installiert wurde 130. Beide Maßnahmen waren jedoch kein hinreichendes Mittel. Die eigentliche, weit effizientere Art der Überwachung erfolgte in Form von Inoffiziellen Mitarbeitern aus dem Personalbestand des Grenzzollamts.

8. Kontrollierte Kontrolleure: Die Arbeit des MfS mit Inoffiziellen Mitarbeitern am GZA Marienborn Für die Abteilung VI des MfS bildete das GZA Marienborn/Autobahn gegenüber allen anderen Grenzzollämtern im Bezirk Magdeburg den „absoluten operativen Schwerpunkt"131. Mit dem Neubau der GÜSt stieg die Zahl der dort eingesetzten Inoffiziellen Mitarbeiter sprunghaft an und sollte bis ins Jahr 1990 weiter ausgebaut werden. Dennoch schätzte die Staatssicherheit den IMBestand in Marienborn zu keiner Zeit als ausreichend ein. Ganz im Gegenteil: Besonders aufgrund des bereits beschriebenen fortwährenden Personalmangels wurden auch noch im Jahr 1989 „ernsthafte Probleme der inneren Sicherheit"132 befürchtet. Die Durchdringung mit IM erfolgte unter Beachtung von festgelegten Schwerpunkten. Zum einen sollten die einzelnen Dienstzüge in ausreichendem Maß abgesichert sein. Im Jahr 1973 war beispielsweise der vierte Zug des

126 127 128 129 130 131 132

Vgl. ebd. BStU, MfS, BV Magdeburg, 159 AKG, Bl. 83. Ebd., Bl. 84. Vgl. BStU, MfS, HA V I Nr. 4392, Bl. 483. Vgl. BStU, MfS, HA V I Teil IV Nr. 1531, Bl. 50. BStU, MfS, HA V I Nr. 4932, Bl. 202. Ebd., Bl. 668.

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GZA noch durch keinen IM abgesichert133, bereits zwei Jahre darauf waren in jedem Dienstzug ca. vier bis fünf inoffizielle Kräfte vorhanden134. Die IM unter den Kontrolleuren wurden zu etwa zwei Dritteln im Bereich Ausreise und zu etwa einem Drittel im Bereich Einreise eingesetzt135. Zum anderen wurde darauf geachtet, daß es sich bei diesen IM vorwiegend um Zöllner handelte, die an den Mindestkontrollhandlungen beteiligt waren und zu entscheiden hatten, ob ein Fahrzeug einer Tiefenkontrolle unterzogen werden sollte oder nicht. Durch die Arbeit dieser IM sollte die offizielle Forderung der Abteilung VI des MfS überprüft werden, wonach die Zugführer jeder Diensteinheit dafür Sorge zu tragen hatten, daß nur zuverlässige Kontrolleure zum Einsatz kamen136. Einen weiteren Überwachungsschwerpunkt bildeten neben den Röntgenkontrolleuren und den Kontrolleuren, die im Bereich des Transitgüterverkehrs/Ausreise arbeiteten, die Diensthundeführer 137. Ab 1979 war jede der vier Hundeführerschichten des GZA Marienborn mit mindestens einem IM besetzt138. Neben den an den Kontrollhandlungen beteiligten Zöllnern bildete die Überwachung des Führungsstabs den zweiten großen Schwerpunkt. Bereits 1975 waren neun IM im Stab des GZA verankert 139. Dabei handelte es sich um den Stellvertreter operativ des Dienststellenleiters, seinen ersten Gehilfen, den Offizier für Versorgung und Finanzen, den Offizier für Zollrecht, einen Mitarbeiter in der Statistik sowie um einige Zug- und Gruppenführer 140. Vier Jahre darauf kam die Hauptabteilung VI des MfS zu der Einschätzung, daß alle wichtigen Schlüsselpositionen in den Grenzzollämtern in der Bezirksverwaltung Magdeburg mit IM besetzt sind. Dazu gehörte neben den genannten Positionen die des Dienststellenleiters141. Zusätzlich zu diesen IM am GZA selbst waren die Unterkünfte, besonders in Wefensleben, wo ein großer Teil der GZA-Mitarbeiter wohnte, durch IM und GMS „abgesichert". Bei diesen IM/GMS handelte es sich neben Zöllnern unter anderem um Postzusteller, Handwerker, Ärzte oder Verkaufskräfte in den naheliegenden Geschäften 142. Im „Bereich Wefensleben" standen im Jahr 1975 sieben Zöllner und acht weitere Personen zur Verfü-

133 134 135 136 137 138 139 140 141 142

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

ebd., Bl. 3f. ebd., Bl. 162. ebd., Bl. 196. ebd., Bl. 363. BStU, MfS, JHS MF VVS/1080/84, Bl. 17. BStU, MfS, HA V I Nr. 4932, Bl. 364. ebd., Bl. 197. ebd., Bl. 163. ebd., Bl. 356. BStU, MfS, JHS MF VVS/1080/84, Bl. 52.

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gung143. Diese wurden im Gegensatz zu den IM am GZA nicht direkt durch die Abteilung VI der Bezirksverwaltung Magdeburg des MfS angeleitet, sondern unterstanden der zuständigen Kreisdienststelle des MfS, mit der eine „enge Zusammenarbeit"144erfolgte. Zu den Aufgaben aller IM am GZA gehörte die „Sicherung sämtlicher operativer Kontrollprozesse". Die Inoffiziellen Mitarbeiter sollten dafür Sorge tragen, daß das GZA die Kontrollen im Sinne des MfS durchführte. Zudem wurden sie zur Gewinnung neuer Erkenntnisse bei eingeleiteten operativen Personenkontrollen (OPK) und operativen Personenaufklärungen (Sicherheitsüberprüfungen) von Zöllnern eingesetzt. Jeder IM hatte außerdem auf „Erscheinungsformen der politisch-ideologischen Diversion" bei Zöllnern zu achten; beispielsweise, ob Zollangehörige selbst oder über Dritte in Kontakt zum westlichen Ausland standen oder wie sie sich zu politischen und moralischen Fragen äußerten. Die IM im Bereich des Stabs sollten darüber hinaus über die „Führungsund Leistungstätigkeit" am GZA berichten. Durch sie sollte auch erreicht werden, daß „politisch richtige Entscheidungen" durch die Zug- und Gruppenführer getroffen wurden. Zudem versuchte man über IM in Schlüsselpositionen Einfluß zu nehmen auf die Zusammensetzung der einzelnen Diensteinheiten und Umbesetzungen bestimmter Zollangehöriger „im Interesse des MfS" 145 . Die Umbesetzung des Personalbestands am GZA Marienborn erfolgte jedoch nicht immer im Interesse des MfS. Vielmehr stellten Versetzungen in Bezug auf die Arbeit mit IM oftmals ein großes Problem für die Abteilung VI dar. Immer wieder kam es vor, daß neu gewonnene IM aus ihren Positionen herausgelöst wurden und nicht mehr in Marienborn zur Verfügung standen. So wurden im Jahr 1975 neun Zöllner, die als IM fungierten, in die Bezirksverwaltung nach Magdeburg, zur Transitüberwachung, in ein Postzollamt, zum Institut der Zollverwaltung nach Plessow oder in die Hauptverwaltung des Zolls versetzt. Im Vergleich dazu hat sich die Zahl der Versetzungen im Jahr 1984 nicht wesentlich verringert. Damals sind sieben IM wegen Versetzung ausgefallen. Diese Umstände können eine Erklärung dafür liefern, warum die Ausweitung des IM-Netzes in Marienborn nur schleppend voranging. Zur Sicherstellung des Personalbestands führte die Abteilung VI des MfS zu jedem Zöllner des GZA Marienborn eine so genannte „OPA-Akte" (Akte zur operativen Personenaufklärung). Aus diesen Akten ging hervor, wo der betreffende Zöllner eingesetzt wurde, ob er bereits in Vorkommnisse und Disziplinarverfahren verwickelt war, wie er die ihm gestellten Aufgaben erfüllte, ob „operativ bedeutsame Hinweise"

143 144 145

Vgl. BStU, MfS, HA V I Nr. 4932, Bl. 202. Ebd., Bl. 357. Ebd., Bl. 356.

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gegen ihn vorlagen, über welche Spezialkenntnisse er verfügte und ob er Geheimnisträger war. Darüber hinaus wurden seine Charaktereigenschaften, seine Familienverhältnisse und seine Vorlieben bei der Freizeitbeschäftigung beschrieben sowie Angaben über Verwandte, Bekannte und seinen Umgangskreis gemacht146. 1973 attestierte die Staatssicherheit diesen Handakten noch „unterschiedliche Aussagekraft" 147; bereits zwei Jahre später kam das MfS zur Auffassung, daß all diese Akten „sauber geführt" seien und „ordentliche Aussagen"148 über die Betroffenen gemacht werden könnten. Jährlich unterzog die Staatssicherheit ca. 40 bis 60 Zöllner des Grenzzollamts einer Sicherheitsüberprüfung, deren Ergebnisse dann in die entsprechenden OPA-Akten eingeflossen sind149. Bei einem Personalbestand von ca. 200 Zöllnern und einem Mittelwert von ca. 50 operativen Personenaufklärungen pro Jahr wurde jeder Zöllner im Turnus von vier Jahren überprüft. Tatsächlich aber richtete sich die Häufigkeit der Sicherheitsüberprüfungen danach, welche Position der GZA-Mitarbeiter einnahm. Bei Zöllner, die Schlüsselpositionen besetzten, erfolgte jährlich eine Überprüfung 150. Ebenfalls häufig überprüft wurden Zöllner, bei denen das MfS im Rahmen der OPA Sicherheitsmängel feststellte. Nicht selten führten diese Erkenntnisse zur Einleitung von operativen Personenkontrollen (OPK) oder operativen Vorgängen (OV) 151 . Exemplarisch werden im folgenden zwei Vorgänge beschrieben, die verdeutlichen, daß trotz der aufwendigen Absicherung des Personalbestandes keine lückenlose Überwachung der Zöllner möglich war und daß aufgedeckte Vorfälle oftmals drastische Konsequenzen nach sich zogen. Aus den Ermittlungsunterlagen zum GZA Marienborn geht hervor, daß es immer wieder zu Bestechungsversuchen seitens der Reisenden gegenüber den Zollbeamten kam. So konnte während einer OPK im Jahr 1975 einem Hundeführer nachgewiesen werden, daß er im Besitz von westlichen Kugelschreibern war. Die weiteren Ermittlungen ergaben, daß er bereits seit langer Zeit von Kraftfahrern westlicher Firmen Kugelschreiber, Tonbandkassetten, Pornozeitschriften, Schnaps, Bier und ähnliches angenommen beziehungsweise solche Gegenstände eingefordert hatte. Im Gegenzug verzichtete der Hundeführer auf die vorgeschriebenen Kontrollen. Es stellte sich heraus, daß sich weitere vier Hundeführer und ein Zollkontrolleur ähnlich verhalten hatten. Das MfS schätzte für die Betroffenen als charakteristisch ein, „daß sie untereinander mit den an146

Vgl. ebd., Bl. 481. Ebd., Bl. 130. 148 Ebd., Bl. 210. 149 Vgl. ebd., BL 482. 150 Vgl. Berger, Interview (Anm. 61). 151 Vgl. Siegfried Suckut (Hrsg.), Das Wörterbuch der Staatssicherheit, Definitionen zur „politisch-operativen Arbeit", Berlin 2001, S. 271 ff. 147

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genommenen Gegenständen prahlten, Sexzeitschriften ansahen und teilweise erhaltenes Bier oder Schnaps während des Dienstes zu sich nahmen"152. Erstaunlich in diesem Zusammenhang ist, daß dies „in den Diensträumen des Bereichs Ausreise oft gemeinsam mit PKE-Angehörigen"153 geschah. Nach Bekanntwerden der Vorkommnisse wurden alle sechs Zollangehörigenfristlos entlassen, drei weitere Zöllner wurden disziplinarisch belangt154. Gegenüber den beteiligten Paßkontrolleuren ließ man dagegen Milde walten. Gegen sie wurden zwar ebenfalls Disziplinarmaßnahmen eingeleitet, entlassen wurden jedoch nur zwei, da sie zu einem späteren Zeitpunkt erneut auffielen 155. Ein weiterer bedeutender Vorfall ereignete sich am 24. November 1981 am GZA Marienborn. Einem Diensthundeführer gelang damals die Flucht in die Bundesrepublik. Wie aus dem operativen Vorgang (OV „Mitfahrer") ersichtlich wird, konnte sich der Zöllner im Bereich Güterverkehr/Ausreise unbemerkt in einen Lkw schmuggeln und so die Grenze passieren. Die anschließend von der Abteilung VI eingeleiteten Maßnahmen „führten zu umfangreichen strukturellen und personellen Veränderungen im GZA" 156 . Innerhalb von eineinhalb Jahren nach diesem Vorfall wurden 16 Zollangehörige entlassen, zehn innerhalb des GZA umgesetzt und vier in das Hinterland versetzt; d.h., sie durften künftig das Sperrgebiet nicht wieder betreten157. Das drastische Vorgehen des MfS erklärt sich vor allem dadurch, daß der geflüchtete Hundeführer zum einen selbst einmal als IM tätig gewesen war 158 ; zum anderen verfügte er laut einer Einschätzung der PKE Marienborn über zahlreiche Kenntnisse, was die Sicherungsanlagen der GÜSt sowie die Kontrollmethoden und -instrumente der PKE und des GZA betraf 159. Die Flucht des Zöllners blieb allen befragten Zeitzeugen in lebhafter Erinnerung, nicht zuletzt deshalb, weil sich keiner der Befragten an einen ähnlichen Vorfall am Grenzzollamt erinnern konnte und die heftige Reaktion des MfS auf dieses Ereignis alle Zöllner erahnen ließ, welches Ausmaß die Überwachung der Zollangehörigen annehmen konnte. Doch trotz der aufgezeigten Überwachungsmaßnahmen ist es dem MfS nicht gelungen, das Personal des GZA vollständig zu kontrollieren. Die fortwährend angespannte Personalsituation und die ständig steigende Arbeitsbelastung demoralisierten viele Zöllner

152 153 154 155 156 157 158 159

BStU, MfS, HA V I Nr. 4392, Bl. 152. Ebd., Bl. 166. Vgl. ebd., Bl. 152f. Vgl. ebd., Bl. 428. BStU, MfS, HA V I Nr. 1531, Bl. 26. Vgl. BStU, MfS, HA V I Nr. 4392, Bl. 482. Vgl. BStU, MfS, HA V I Nr. 1531, Bl. 46. Vgl. ebd., Bl. 55-59.

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zuletzt dermaßen, daß selbst die aufwendigsten Überwachungsmaßnahmen den angestauten Unmut nicht in jedem Fall unterdrücken konnten.

9. Die Zollverwaltung der DDR: Handlanger des Ministeriums für Staatssicherheit? Wie sich die Bedeutung der Zollverwaltung als „Schutz- und Sicherheitsorgan" der Staats- und Parteiführung der SED und damit das Verhältnis zwischen der Zollverwaltung und dem Ministerium für Staatssicherheit weiterentwickelt hätte, bleibt nach den Ereignissen im Herbst 1989 Spekulation. Mit Sicherheit steht fest, daß das Zollorgan der DDR im Laufe seiner historischen Entwicklung immer stärker in die Arbeit des MfS einbezogen wurde. Bereits im Jahr 1964 faßte das Sekretariat des ZK der SED einen Beschluß zur Parteiarbeit und zum Parteiaufbau in der Zollverwaltung 160. Danach sollte der Parteieinfluß durch den Einsatz hauptamtlicher Parteifunktionäre in der Hauptverwaltung wie in den Bezirksverwaltungen verstärkt und die Zollverwaltung stärker in die Arbeit des MfS einbezogen werden. Für die Anleitung der Zollverwaltung war ab diesem Zeitpunkt der Sektor für Staatssicherheit der Abteilung für Sicherheitsfragen beim ZK der SED zuständig. Die eigentlichen Aufgaben des Zolls traten immer stärker in den Hintergrund. In operativen Fragen wurde die Zollverwaltung dem MfS unterstellt. Zuständig für die Zusammenarbeit mit der Zollverwaltung war beim MfS vor allem die Abteilung VI, dort speziell das Referat 3, „ZollAbwehr". Das Zollorgan mußte fortan eine Doppelfunktion realisieren: Auf Grundlage der Gesetze und dienstlicher Befehle des Leiters sollte sie einerseits den Waren- und Devisenverkehr kontrollieren, Schmuggel und Spekulation verhindern und somit zum Schutz des Außenhandels- und Valutamonopols beitragen, das für die staatlich gelenkte Planwirtschaft der DDR von systemimmanenter Bedeutung war. Im Zuge dieser zollspezifischen Aufgaben hatte sie jedoch andererseits immer auch ihren eigenständigen Beitrag im „Kampf gegen alle feindlich-negativen Handlungen gegen die Sicherheitsinteressen der DDR im engen Zusammenwirken mit anderen Schutz- und Sicherheitsorganen"161 zu leisten. Die einzelnen Bereiche und Ebenen der Zollverwaltung waren sehr unterschiedlich mit der Tätigkeit des MfS konfrontiert. Während sich diese Zusammenhänge beispielsweise für Mitarbeiter des Binnenzolls kaum zeigten, bestand für andere Bereiche die Aufgabe, ihre Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit 160 Vgl. Protokoll Nr. 57/64 der Sitzung des Sekretariats des ZK der SED vom 22. Juli 1964, in: SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/3/995, Bl. 3.

161

BStU, MfS, JHS MF VVS/282/88, Bl. 9.

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auszubauen.162. Die Tatsache, daß alle wichtigen Bereiche der Zollverwaltung mit „Offizieren im besonderen Einsatz" (OibE) besetzt waren 163, steht im Zusammenhang mit der Aussage des Leiters der Hauptverwaltung VI des MfS. Oberst Heinz Fiedler kommt in einem internen Schreiben an die Leiter der Abteilungen VI der Bezirksverwaltungen vom 2. Juni 1970 zu dem Schluß: „Viele politisch-operative Aufgabenbereiche des MfS können objektiv nicht ohne dem (sie!) Zusammenwirken mit der Zollverwaltung gelöst werden." 164 Auch die strengen Kriterien bei der Auswahl von Zollbewerbern und der beachtliche Aufwand bei der Überprüfung von Zollmitarbeitern unterstreicht die Bedeutung der Zollverwaltung für die „politisch-operative Arbeit" des MfS. Die Sicherung des Personalbestandes der Zollverwaltung war aus Sicht der Staatssicherheit vor allem aus zwei Gründen notwendig: Einerseits, um die Geheimhaltung der eigenen Strukturen gewährleisten zu können; andererseits, um ein Funktionieren der Zollverwaltung im Sinne des MfS überhaupt möglich zu machen. In seiner Eigenschaft als Nachrichtendienst wie auch als Geheimpolizei war das verdeckte Agieren für die Staatssicherheit von wesentlicher Bedeutung. Bestimmte Sicherheitsbereiche waren zwar von großer Wichtigkeit, konnten aber nicht unmittelbar durch das MfS kontrolliert werden, weil dies zur möglichen Preisgabe interner Strukturen geführt hätte. Das Beispiel der Grenzübergangsstelle Marienborn belegt, daß insbesondere bei der Kontrolle des grenzüberschreitenden Personen- und Güterverkehrs ein direkter und intensiver Kontakt mit den Reisenden unvermeidbar war, was für das MfS ein potentielles Sicherheitsrisiko darstellte. Mit der Zollverwaltung verfügte die Staatssicherheit über ein geeignetes Instrument, ihren Aufklärungs- und Informationsbedarf weitgehend zu decken und dabei das Risiko der „Dekonspiration" möglichst gering zu halten. Die kontrollierten Kontrolleure in Marienborn leisteten somit teils bewußt, teils unbewußt einen erheblichen Beitrag, das Machtmonopol der SED über 40 Jahre hinweg an der Nahtstelle zwischen Ost und West aufrechtzuerhalten.

162

Dies galt beispielsweise für den Bereich des Postverkehrs. Mit der Postzollfahndung hatte das MfS eine eigene Diensteinheit, die alle Paket- und Päckchensendungen noch vor dem Zoll kontrollierte und selbst Zolluniformen trug. Zusätzlich wurden von der Zollverwaltung spezielle Diensteinheiten geschaffen, die die Arbeit des MfS auf dem Gebiet der Paket- und Päckchenkontrolle unterstützten. Diese Einheiten wurden teilweise unmittelbar durch das Referat „Zoll-Abwehr" der Abteilung V I des MfS angeleitet. Vgl. Vermerk der Abteilung Zoll-Abwehr über die durchgeführte Beratung mit Spezialisten der 1. Züge der Postzollämter Leipzig vom 23. Juni 1981, in: BStU, MfS, ZA X V 2624/77, Band 4, Bl. 28. 163

Vgl. BStU, MfS, Sekr. NeiberNr. 282, Bl. 29-35; BStU, MfS, HA V I Nr. 3599.

164

BStU, MfS, HA VI Nr. 12760, Bl. 140.

„Asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte" Die Beziehungsgeschichte der beiden deutschen Staaten

Von Eckhard Jesse

1. Einleitung Man kann die Geschichte der beiden deutschen Staaten in vielerlei Hinsicht analysieren - als Geschichte zweier Staaten, die mehr als vierzig Jahre nebeneinander existierten, als Systemvergleich, der höchst unterschiedliche Formen anzunehmen vermag. Im ersten Fall wird die Geschichte Deutschlands als eine Art Parallelgeschichte beschrieben, im zweiten Fall ein Vergleich der beiden Systeme angestrebt, sei es, daß der jeweilige Staat an den eigenen Maßstäben gemessen wird (systemimmanenter Vergleich); sei es, daß der Vergleich an übergreifenden Kriterien erfolgt (systemtranszendenter Vergleich). Vor der deutschen Einheit gab es nur wenige Bücher, die die Entwicklung in beiden deutschen Staaten zusammen behandelten. Und wenn das geschah, dann meist wie im „Deutschland-Handbuch" von 1989, das den Anspruch erhob, „neue Impulse für eine vergleichende Deutschlandforschung" 1 zu vermitteln. Kurz vor dem revolutionären Umbruch in der DDR sah die „doppelte Bilanz" folgendermaßen aus: Der jeweilige Gegenstand wurde in parallelen Beiträgen untersucht, ohne jeweils Wechselbeziehungen, Unterschiede und Gemeinsamkeiten herauszustellen. Das war in gewisser Weise ein Reflex auf die Selbstanerkennung der Bundesrepublik Deutschland2, wie sie in der großen fünfbändigen „Geschichte der Bundesrepublik Deutschland" ihren Ausdruck gefunden hat, herausgegeben u.a. von Karl Dietrich Bracher, für den die Bundesrepublik

1 So Franklin Schultheiß/Horst Dahlaus/Wolfgang Maurus, Vorwort, in: Werner Weidenfeld/Hartmut Zimmermann (Hrsg.), Deutschland-Handbuch. Eine doppelte Bilanz 1949-1989, München 1989, S. 10. 2 Vgl. Wilfried von Bredow, Deutschland - ein Provisorium?, Berlin 1988.

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Deutschland vor der Herausforderung stand, „als postnationale Demokratie unter Nationalstaaten zu leben."3 Das zweibändige Werk von Christoph Kleßmann - „Deutsche Geschichte 1945-1955" und „Deutsche Geschichte 1955-1970" - gehörte zu den Ausnahmen: Hier wird (vor allem im ersten Band) ansatzweise und in durchaus gelungener Form versucht, die Entwicklungen in einem Staat auf die Geschehnisse im anderen Staat zu beziehen und vice versa.4 Das Resümee des Verfassers lautete: „Geblieben ist ein spannungsreiches Nebeneinander zweier politisch völlig unterschiedlicher, in ihrer sozialen Modernität deutlich verschiedener, einander aber keineswegs völlig fremder Staaten, die radikaler als alle übrigen europäischen Staaten voneinander getrennt sind, aber dennoch eine ,dialektische Einheit' bilden."5 Nach der so plötzlichen wie überraschenden deutschen Einheit war es wiederum Christoph Kleßmann, der in einer Reihe von Publikationen entschieden hingewiesen hat auf das „Spannungsverhältnis zwischen der Verflechtung beider Teilstaaten im Sinne eines fortwirkenden ökonomischen, politischen und kulturellen Zusammenhangs, ohne den eine Nation nicht denkbar ist, und einer bewußt oder unbewußt betriebenen oder gewünschten Abgrenzung auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Formen." Dieses Spannungsverhältnis lasse sich „als Leitlinie für 45 Jahre deutscher Nachkriegsgeschichte verstehen, die nicht einfach deutsche Nationalgeschichte im Zeitalter der Teilung, aber auch nicht ohne weiteres eine getrennte Geschichte zweier Staaten und Gesellschaften einer Nation ist."6 An anderer Stelle heißt es zu Recht, „eine solche ,asymmetrische verflochtene Parallelgeschichte' zwischen dem größeren, demokratischen und dem kleineren, diktatorischen Teil" 7 bilde einen geeigneten Zugang zur deutschen Nachkriegsgeschichte. Allerdings steckt die Umsetzung erst in den Anfängen, wie etwa Hermann Wentker in einer überaus informativen Einordnung der Literatur herausgearbeitet hat. Vor allem die Perzeptionsforschung kommt nicht genügend zur Geltung. 3 Vgl. Karl Dietrich Bracher, Politik und Zeitgeist. Tendenzen der siebziger Jahre, in: ders./Wolfgang Jäger/Werner Link, Republik im Wandel 1969-1974. Die Ära Brandt, Stuttgart/Mannheim 1986, S. 406. 4 Vgl. Christoph Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945-1955, Göttingen 1982; ders., Deutsche Geschichte 1955-1970. Zwei Staaten, eine Nation, Göttingen 1988. 5 Ders., Die doppelte Staatsgründung (Anm. 4), S. 303. 6 Ders., Verflechtung und Abgrenzung. Aspekte der geteilten und zusammengehörigen deutschen Nachkriegsgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament B 29-30/1993, S. 30. 7 Ders./Hans Misselwitz/Günter Wiehert, Vorwort, in: Dies. (Hrsg.), Deutsche Vergangenheiten - eine gemeinsame Herausforderung. Der schwierige Umgang mit der doppelten Nachkriegsgeschichte, Berlin 1999, S. 12.

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„Dieser Ansatz begreift die beiden deutschen Staaten als Konkurrenten, die einander nie aus den Augen ließen, sich voneinander sichtbar abgrenzten, in der Konkurrenz aber stets aufeinander bezogen blieben."8 Die meisten einschlägigen Studien stellen gemeinhin die Geschichte der beiden deutschen Staaten oder deren Strukturen dar - gleichsam nebeneinander, ohne Zusammenhänge zu würdigen, Parallelen einzubeziehen, Wechselwirkungen zu berücksichtigen. Selbst die große Geschichte des geteilten Deutschland von Peter Graf Kielmansegg, mit dem doppelsinnigen Titel „Nach der Katastrophe" versehen (doppelsinnig deshalb, weil der Titel nicht nur ein temporale, sondern auch eine kausale Konnotation andeutet) behandelt die Geschichte der DDR lediglich in einem gesonderten Kapitel, ohne Fokussierung auf die übergreifende deutsch-deutsche Perspektive9 - wie zuvor schon - im Jahre 1989 - der in der gleichen Reihe publizierte Band von Adolf M. Birke „Nation ohne Haus". Der Autor konnte seinen Anspruch nicht angemessen erfüllen, die Ära Adenauer und die Ära Ulbricht mit ihren Bezügen zum jeweiligen Widerpart aufzuarbeiten. 10 Der Publizist Peter Bender dagegen hat seit der deutschen Einheit in seinen Schriften „Deutsche Parallelen. Anmerkungen zu einer gemeinsamen Geschichte zweier getrennter Staaten"11, „Die ,Neue Ostpolitik' und ihre Folgen. Vom Mauerbau bis zur Vereinigung"12, „Episode oder Epoche? Zur Geschichte des geteilten Deutschland"13, „Fall und Aufstieg. Deutschland zwischen Kriegsende, Teilung und Vereinigung"14 die Interaktion der beiden Teile Deutschlands gut herausgearbeitet, vielleicht sogar überbetont. Kaum Widerspruch wird Kleßmanns vorsichtig formulierte Feststellung auslösen: „Wie die Geschichte der DDR als Entwicklung ohne Zukunft mit der bundesrepublikanischen Geschichte als einer im wesentlichen erfolgreichen Demokratiegründung zu verklammern ist, dürfte noch lange ein wesentlicher Diskussionsgegenstand für Historiker sein"15 - und nicht nur für sie.

8 So Hermann Wentker, Zwischen Abgrenzung und Verflechtung: deutsch-deutsche Geschichte nach 1945, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament B 1-2/2005, S. 16. 9 Vgl. Peter Graf Kielmansegg, Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland, Berlin 2000. 10 Vgl. Adolf M. Birke, Nation ohne Haus. Deutschland 1945-1961, Berlin 1989. 11 Berlin 1996. 12 4. Aufl., München 1996. 13 München 1996. 14 Halle 2002. 15 Christoph Kleßmann, Der schwierige gesamtdeutsche Umgang mit der DDRGeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament B 30-31/2003, S. 5.

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Die Konrad-Adenauer-Stiftung hat vor einigen Jahren ein Promotionskolleg zum Thema „Die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten und Gesellschaften in der Zeit ihrer Teilung (1949-1990)" ins Leben gerufen. Damit hebt sie die Bedeutung der Wechselwirkungen hervor - nicht nur in der Politik und der Geschichte, sondern auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen (wie der Kultur). Je weiter wir uns von der Zeit der Teilung entfernen, umso mehr stehen uns die vielfältigen Zusammenhänge zwischen Ost und West vor Augen. Wer dieses Thema als reizvoll ansieht, wertet die DDR im nachhinein nicht auf, macht sie keineswegs zu einem Akteur auf „gleicher Augenhöhe". Befürchtungen dieser Art sind unangebracht. Freilich wohnen der Frage nach der Interaktion manche anderen Gefahren inne. So muß stets kritisch geprüft werden, ob tatsächlich eine Interaktion vorgelegen hat. Und wer Verflechtungen konstatiert, schließt Asymmetrien nicht aus. Schließlich liegt die Vielfältigkeit der Wechselbeziehungen auf der Hand - denkt man an die Beziehungen der DDR zur Sowjetunion und an die der Bundesrepublik zu den USA. Die jeweilige Form der Einwirkungen fiel ganz unterschiedlich aus. Wer die Geschichte Deutschlands als ein Gegeneinander, als ein Nebeneinander und schließlich als ein Miteinander der beiden deutschen (Teil-)Staaten zu schildern sucht, kommt nicht umhin, die Wechselbeziehungen zwischen Ost und West zu berücksichtigen. Denn in dem einen deutschen Staat getroffene Entscheidungen bzw. sogar Weichenstellungen mochten eine Reaktion auf die Entwicklung im anderen deutschen Staat sein, wie auch immer die Gewichtung ausfiel. Diese Frage zu untersuchen, ist ein höchst reizvolles Unterfangen, das bisher - wie erwähnt - vielfach in den Anfängen steckt. Das gilt selbst für Bereiche, bei denen die Einwirkung auf der Hand liegt: etwa bei den Ostbüros der Parteien, der „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit", dem „Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen gegen die DDR" oder, ein heikles Thema, der Tätigkeit westlicher Geheimdienstleute in der DDR. Durch die Öffnung der Archive der Staatssicherheit ist die Wissenschaft über die in diesem Ausmaße nicht für möglich erachteten Einwirkungen der DDR weitaus besser informiert, 16 wobei versuchte Einflußnahme nicht notwendigerweise ein einflußreicher Versuch gewesen war. Die Akten der Staatssicherheit sind keineswegs immer zum Nennwert zu nehmen. So zeigten die Unterwanderungsmechanismen der Staatssicherheit bei den Grünen nur begrenzten Erfolg.

16 Vgl. etwa die beiden provozierenden Bücher von Hubertus Knabe: Die unterwanderte Republik. Stasi im Westen, München 1999; Der diskrete Charme der DDR. Stasi und Westmedien, München 2001.

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Wie ist der Beitrag aufgebaut? Zunächst sei am Beispiel der doppelten Staatsgründung 1945-1949 und am Beispiel der friedlichen Revolution 1989 wie der deutschen Einheit 1989/90 - also der faktischen Rücknahme der doppelten Staatsgründung - knapp aufgezeigt, daß diese beiden tiefen Einschnitte sich weniger gut eignen für den Beleg einer Beziehungsgeschichte, weil vor allem äußere Faktoren von dominierender Natur waren. Dagegen erhellen drei höchst unterschiedliche Bereiche gut die deutsch-deutsche Wechselbeziehung: Zunächst geht es um die offiziellen deutsch-deutschen Beziehungen. Bewegten sich diese auf der staatlichen Ebene, so berührt der nächste Punkt die Ebene der Parteien: das umstrittene SPD-SED-Papier von 1987. Der dritte Komplex schließlich betrifft die Frage, wie die Bürger im jeweiligen Landesteil die Entwicklung im anderen zur Kenntnis genommen haben. Aufgrund dieser drei höchst verschiedenartigen Aspekte sei abschließend ein thesenartiger Versuch für einige verallgemeinernde Aussagen gewagt. - Die Kernfrage lautet, ob und wie sich auf den drei Gebieten diese „asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte" niederschlägt.

2. Beginn der Gründung beider deutscher Staaten und Ende der DDR 2.1 Doppelte Staatsgründung 1945-1949 Nach der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht im Mai 1945 war Deutschland ein Spielball der Siegermächte. Hitler wollte Deutschland in seinem „Tausendjährigen Reich" zu den höchsten Höhen führen, und tatsächlich führte er es nach zwölf Jahren in den tiefsten Abgrund. Das politisch handlungsunfähige Deutschland wurde ein „Kondominium der Alliierten." 17 Die oberste Regierungsgewalt in ganz Deutschland ging auf die vier Siegermächte USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich über. Auf der Potsdamer Konferenz stimmten die „großen Drei" (Truman, Stalin, zunächst Churchill, später Attlee) trotz unterschiedlicher Vorstellungen grundsätzlich darin überein, Deutschland als Einheit zu erhalten, auch wenn eine zentrale Regierung zunächst nicht vorgesehen war. 18 Das Zweckbündnis zwischen den Alliierten zerbrach angesichts der machtpolitischen und ideologischen Unterschiede bald. Zwar machten die Westzonen in

17 So Theodor Eschenburg, Jahre der Besatzung 1945-1949. Mit einem einleitenden Essay von Eberhard Jäckel, Stuttgart/Wiesbaden 1983, S. 21-60. 18 Vgl. Wolf gang Benz, Potsdam 1945. Besatzungsherrschaft und Neuaufbau im Vier-Zonen-Deutschland, 4. Aufl., München 2005.

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vielerlei Hinsicht den ersten Schritt zur Teilung (z.B. Bildung der Bizone zum 1. Januar 1947), doch hatte die SBZ bereits zuvor vollendete Tatsachen geschaffen (z.B. Zwangsvereinigung von Kommunisten und Sozialdemokraten zur SED im April 1946). Erwiesen sich die Westalliierten - insbesondere die Amerikaner, aber auch die Briten, am wenigsten die Franzosen - relativ schnell als „befreundeter Feind"19, entpuppte sich die Sowjetunion als Kolonialmacht, die ihrer Zone mit Hilfe deutscher Kommunisten einfremdes System aufzuzwingen suchte.20 Daher ist der oft gebrauchte Terminus von der „zweiten deutschen Diktatur" 21 zumindest mißverständlich. Allerdings war die sowjetische Strategie keineswegs von vornherein auf Spaltung angelegt. Als die Westalliierten die Aussichtslosigkeit einer Verständigung mit der Sowjetunion erkannt hatten, arbeiteten sie entschlossen auf die Gründung eines demokratischen deutschen Staates hin und ließen sich davon auch durch massiven sowjetischen Druck - etwa in der Blockade der drei Westsektoren von Berlin - nicht abbringen. 1949 war das Jahr der doppelten und unterschiedlich demokratisch legitimierten Staatsgründung. Am 23. Mai wurde die Bundesrepublik Deutschland ins Leben gerufen, am 7. Oktober die Deutsche Demokratische Republik. Insgesamt ist die Zeit von 1945 bis 1949 nicht in erster Linie als Beziehungsgeschichte zwischen Ost- und Westdeutschen zu sehen, weil diese weithin Spielball der großen Politik waren und wenig eigenständige Tendenzen setzen konnten. Immerhin vermochte die westdeutsche Politik ein wenig unabhängiger von den Westalliierten zu agieren als die ostdeutsche von der sowjetischen Besatzungsmacht.

2.2 Friedliche Revolution 1989 und deutsche Einheit 1990 Die deutsche Einheit 1990 war die Folge der friedlichen Revolution von 1989.22 Diese wurde maßgeblich durch die politische Umorientierung in der 19 So Klaus-Dietmar Henke, Der freundliche Feind: Amerikaner und Deutsche 1944/45, in: Heinrich Oberreuter/Jürgen Weber (Hrsg.), Freundliche Feinde? Die Alliierten und die Demokratiegründung in Deutschland, München/Landsberg am Lech 1995, S. 41-50. 20 Vgl. Norman M. Naimark, Die Russen in Deutschland. Die sowjetische Besatzungszone 1945-1949, Berlin 1996. 21 Vgl. dazu Eckhard Jesse, Das Dritte Reich und die DDR. Zwei „deutsche" Diktaturen?, in: Totalitarismus und Demokratie 2 (2005), S. 39-60. 22 Zum Forschungsstand vgl. die nachfolgenden Beiträge: Detlef Pollack, Bedingungsfaktoren der friedlichen Revolution 1989/90; Eckhard Jesse, Die friedliche Revolution; Michael Richter, Der Weg zur deutschen Einheit, jeweils in: Rainer Eppelmann/Bernd Faulenbach/Ulrich Mählert (Hrsg.), Bilanz und Perspektiven der DDRForschung, Paderborn u.a. 2003, S. 188-195, S. 196-202, S. 353-359.

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Sowjetunion gefordert. Die DDR-Führung geriet immer stärker unter den Druck von Gorbatschows Reformpolitik. 23 Durch den Abbau der ungarischen Grenzbefestigungen gegenüber Österreich im Mai 1989 entstand zwischen beiden Ländern eine „grüne Grenze", auch wenn Ungarn DDR-Bürger zunächst am Verlassen des Landes gehindert hat. Am 11. September schließlich, einem Schlüsseldatum, ließ Ungarn die Fluchtwilligen über Österreich in die Bundesrepublik ausreisen. Flüchtlinge, die in den bundesdeutschen Botschaften Polens, Ungarns und der CSSR waren, gelangten durch Absprache hinter den Kulissen ebenfalls in die Freiheit. Diese Fluchtwelle zog eine Demonstrationswelle der Zurückgebliebenen nach sich. „Wir wollen raus" wurde bald überlagert von Stimmen, die „Wir bleiben hier" riefen. Beide Entwicklungen - die Flucht- und die Demonstrationsbewegung - lähmten das Regime24, an dessen Spitze mit Erich Honecker ein kranker und alter Mann stand, und brachten es zum Einsturz. Die Mauer wurde schließlich am 9. November 1989 aus demselben Grund geöffnet, aus dem sie am 13. August 1961 entstand: um die Macht der Herrschenden zu sichern. Was 1961 gelang (die DDR stabilisierte sich in der Folgezeit), mißlang 1989: Die DDR verlor die letzten Reste ihrer Stabilität. Dem Ruf „Wir sind das Volk" vor der Maueröffhung folgte jetzt der Massenchor: „Wir sind ein Volk." Die DDR-Oppositionellen waren 68er im doppelten Sinne. Sie standen den 68ern des Westens nahe, die ebenfalls mit einem reformerischen Sozialismus geliebäugelt hatten. Und sie sympathisierten mit den Ideen des „Prager Frühlings" von 1968, dem „Sozialismus mit einem menschlichen Antlitz". Bis 1989 hatten über drei Millionen Menschen die DDR in Richtung Bundesrepublik verlassen. So konnte sich eine deutliche System-Opposition nicht formieren. Zudem schob das kommunistische Regime Widerspenstige zum „Klassenfeind" ab. Allerdings wohnte der Berufung auf „sozialistische Ideen" zum Teil eine legitimatorisch-absichernde Funktion inne. Nach dem Zusammenbruch der Diktatur zeigte sich nämlich, daß die Oppositionellen sich nur einig in dem wußten, was sie nicht wollten (eine kommunistische Diktatur), aber nicht einig in dem, was sie wollten. Was die oppositionellen Kräfte wollten - eine andere DDR - , erreichten sie nicht. Was sie erreichten - die Beseitigung des Systems - , wollten sie so nicht.

23 Vgl. Alexandra Nepit, Die SED unter dem Druck der Reformen Gorbatschows. Der Versuch der Parteiführung, das SED-Regime durch konservatives Systemmanagement zu stabilisieren, Baden-Baden 2004. 24 Vgl. Albert O. Hirschmann, Abwanderung und Widerspruch und das Schicksal der Deutschen Demokratischen Republik: Ein Essay zur konzeptuellen Geschichte, in: Leviathan 20(1992), S. 330-358.

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Der von ihnen direkt oder indirekt propagierte „dritte Weg"25 erwies sich als ein Holzweg, nicht als Königsweg für einen Neuaufbau. Die kommunistische DDR war nicht reformierbar. Es mutet paradox an: Gerade weil die Bewegung als reformerisch galt (und sich so gab), leistete sie ihren Beitrag zur Unterminierung. In dem Moment, in dem der Ost-West-Konflikt seine Bedeutung verlor (durch den Niedergang einer „Supermacht"), kehrte die „deutsche Frage" auf die politische Agenda zurück. So könnte man die überaus paradox anmutende These formulieren, daß das Ende der DDR bereits 1945 präjudiziell war - zu einem Zeitpunkt, als es sie noch gar nicht gab. Doch war der Weg zur Einheit nicht von nationalistischem Furor getragen. Weder Nationalisten („Deutschland zuerst") noch anti-deutsche Linke („Deutschland verrecke") konnten aus dem Schlüsseljahr 1989 Honig saugen. Die deutsche Teilung war keine Folge des von Hitler angezettelten Zweiten Weltkrieges, sondern eine solche des Kalten Krieges. Hingegen sahen viele - in der DDR wie in der Bundesrepublik - sie als eine Art gerechte Strafe für den Zweiten Weltkrieg und für Auschwitz. Die Wiedervereinigung vollzog sich in atemberaubender Geschwindigkeit. Innen-, wirtschafts- und außenpolitische Faktoren flössen auf höchst komplexe Weise zusammen.26 Dem „Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafte- und Sozialunion" (Staatsvertrag) folgte der „Vertrag über die Herstellung der Einheit Deutschlands" (Einigungsvertrag), und am Ende stand der „Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland" („ZweiPlus-Vier-Vertrag"). Was das Gelingen der inneren Einheit Deutschlands betrifft, so weichen auch im Jahre 2005 die Auffassungen weit voneinander ab. Aber kein Ernstzunehmender will die deutsche Einheit rückgängig machen. Unter dem Strich gilt, daß die außenpolitischen Konstellationen 1989/90 prägend waren. Das trifft für diefriedliche Revolution wie für die deutsche Einheit zu. Die partielle (ökonomische) Hinwendung der DDR - die 1971 prokla-

25 Vgl. Dirk Rochtus, Zwischen Realität und Utopie. Das Konzept des „dritten Weges" in der DDR 1989/90, Leipzig 1999; Markus Trömmer, Der verhaltene Gang in die deutsche Einheit. Das Verhältnis zwischen den Oppositionsgruppen und der (SED-)PDS im letzten Jahr der DDR, Frankfurt a.M. 2002; Christof Geisel, Auf der Suche nach einem dritten Weg. Das politische Selbstverständnis der DDR-Opposition in den 80er Jahren, Berlin 2005. 26

Vgl. für Einzelheiten das voluminöse vierbändige Werk „Geschichte der deutschen Einheit": Karl-Rudolf Körte, Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft. Regierungsstil und Entscheidungsprozeß 1982-1989, Stuttgart 1998; Dieter Grosser, Das Wagnis der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Politische Zwänge im Konflikt mit ökonomischen Regeln, Stuttgart 1998; Wolfgang Jäger, Die Überwindung der Teilung. Der innerdeutsche Prozeß der Vereinigung 1989/90, Stuttgart 1998; Werner Weidenfeld, Außenpolitik für die deutsche Einheit. Die Entscheidungsjahre 1989/90, Stuttgart 1998.

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mierte „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" hatte in eine Sackgasse gefuhrt - zum geschmähten „Klassenfeind", der Bundesrepublik, trug allerdings ebenso zum Zusammenbruch des „realen Sozialismus" bei. Die DDR-Führung konnte es sich nicht mehr leisten, offen hart durchzugreifen. Und die schnelle deutsche Einheit war auch eine Folge des nachhaltigen Wunsches des größten Teils der DDR-Bevölkerung, mit der Bundesrepublik vereinigt zu werden.

3. Deutsch-deutsche Beziehungen auf staatlicher Ebene: die (Nicht-)Zusammenarbeit Nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der DDR im Jahre 1949 hatte es zwanzig Jahre lang deutsch-deutsche Beziehungen auf staatlicher Ebene so gut wie nicht gegeben. Deswegen trifft der Terminus von den „deutsch-deutschen Nichtbeziehungen"27 den Sachverhalt gut. Die Bundesrepublik sah die Abhaltung freier Wahlen in ganz Deutschland als Voraussetzung der Wiedervereinigung an, während die DDR die „Wiedervereinigung" - dieser Terminus wurde eigens gebraucht - auf der Grundlage von Verhandlungen anzustreben vorgab. Die Bundesrepublik machte unter Hinweis auf die fehlende demokratische Legitimierung der politischen Führung in der DDR ihren Alleinvertretungsanspruch geltend, den die andere Seite als Anmaßung empfand, und beantwortete bis zum Mauerbau von den über 50 Noten und Telegrammen der DDR, gerichtet an den Bundespräsidenten, den Bundestag und die Bundesregierung, nur deren zwei. Während der Großen Koalition war die Bundesrepublik bereit, mit der DDR Verhandlungen aufzunehmen. Ein Briefwechsel von 1967 führte jedoch zu keinem Erfolg. Die DDR forderte zunächst die Anerkennung ihres Staates. Da der Ost-West-Konflikt in den sechziger Jahren an Bedeutung verloren hatte, wollte die neue Bundesregierung den „Sonderkonflikt" (Richard Löwenthal) zwischen der Bundesrepublik und der DDR reduzieren. Ansonsten bestand, so die Haltung der Bundesregierung, die Gefahr einer möglichen Isolierung der Bundesrepublik im westlichen Bündnis. Die sozial-liberale Bundesregierung stellte sich auf den Boden der durch den Zweiten Weltkrieg und den Kalten Krieg geschaffenen Tatsachen. Nach dem Inkrafttreten der Ostverträge und des Viermächte-Abkommens über Berlin verhandelten die Bundesrepublik Deutschland und die DDR über die Normalisierung ihrer Beziehungen. Die sozial-liberale Regierung unternahm mit ihrer Ostpolitik nicht den Versuch, die DDR zu isolieren, sondern bezog sie in ihr Entspannungskonzept ein, hatte sich 27 So Michael Herms, Die deutsch-deutschen (Nicht-)Beziehungen bis zum Mauerbau, in: Eppelmann/Faulenbach/Mählert (Anm. 22), S. 333-337.

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doch gezeigt, daß eine Ausklammerung der DDR zu keinen Erfolgen führte. Die Existenz der DDR als zweiter deutscher Staat wurde in der Regierungserklärung 1969 nicht bestritten, wohl aber ihre völkerrechtliche Anerkennung abgelehnt. Brachten die Treffen der Regierungschefs im März 1970 in Erfurt und zwei Monate später in Kassel keine greifbaren Resultate, so führten die nach der Ratifizierung der Ostverträge aufgenommenen Verhandlungen zwischen den beiden deutschen Staaten über die Normalisierung der gegenseitigen Beziehungen zu einem positiven Ergebnis. Der Grundlagenvertrag stellte fest, daß die beiden Staaten normale gutnachbarliche Beziehungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung entwickeln wollen und keiner den anderen international vertreten oder in seinem Namen handeln kann. Die beiden deutschen Staaten erklärten ihre Bereitschaft, im Zuge der Normalisierung praktische und humanitäre Fragen zu regeln (Reise- und Besuchserleichterungen). Als im Herbst 1982 die Union die SPD abgelöst hatte, erwarteten Beobachter eine Änderung. Es kam jedoch weder zu einer „Eiszeit", wie von manchen Anhängern der SPD geargwöhnt, noch wurde gegenüber der DDR ein härterer Kurs eingeschlagen, wie von einigen Befürwortern der „Wende" erhofft. Tatsächlich herrschte weitgehend Kontinuität vor, auch wenn sich dies in der Terminologie nicht niederschlug. Sprach die Union von „innerdeutschen" Beziehungen, so bevorzugte die SPD den Terminus „deutsch-deutsche" Beziehungen. Die Union setzte ab 1982 weithin die Deutschlandpolitik der Vorgängerregierung fort. Kohl hatte in seiner Regierungserklärung deutlich gemacht, alle von der Bundesregierung übernommenen Verpflichtungen würden gegenüber der DDR eingehalten und längerfristige Abmachungen getroffen. Allerdings: Die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten waren in das allgemeine Ost-West-Verhältnis eingebettet. Ebenso wie der „Sonderkonflikt" zwischen der Bundesrepublik und der DDR bzw. der Sowjetunion nicht lange Bestand hatte, mußte die Annahme unrealistisch sein, die beiden deutschen Staaten könnten sich durch eine Art „Sonderkonsens" über die Spannungen der internationalen Lage hinwegsetzen. Es war schon viel gewonnen, wurden diese durch den Gegensatz zwischen der DDR und der Bundesrepublik nicht noch angeheizt. Und dies ließ sich in der Tat erreichen. Die fehlgeschlagenen Besuche der Regierungschefs der beiden deutschen Staaten zeigten auf, in welchem Ausmaß das deutsch-deutsche Verhältnis durch den Ost-WestKonflikt bestimmt war. Sowohl der Besuch Schmidts in der DDR (1981) als auch der Honeckers in der Bundesrepublik (1987) mußte zweimal verschoben werden. Wenig überzeugend sind nachträgliche Kritiken an der Nachgiebigkeit der westdeutschen Regierung gegenüber dem SED-Regime. Was den Honecker-

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Besuch betrifft, gab es „seinerzeit praktisch keine Opposition in dieser Frage."28 Der Handlungsspielraum war vor 1989 weit begrenzter als danach, so daß angemessene Alternativen zur eingeschlagenen Politik fehlten. Eine andere Frage ist, ob die Politiker des Westens bei ihren internen Gesprächen mit „drüben" manchmal zu viele Konzessionen gemacht haben - sei es des besseren Arbeitsklimas wegen, sei es wegen des gedanklichen Verzichts auf die Einheit Deutschlands.29 Der notorisch devisenschwachen DDR dürften manche Konzessionen durch finanzielle Großzügigkeit der Gegenseite erleichtert worden sein. Die Bundesrepublik zahlte in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre jährlich über eine Milliarde D-Mark an die DDR (u.a. Transitpauschale: 525 Millionen DM; Postpauschale: 200 Millionen DM; Straßennutzungspauschalen: 50 Millionen DM), ohne dabei die Vorteile der DDR durch den Überziehungskredit im innerdeutschen Handel („Swing") zu berücksichtigen. Für das Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen in beiden Teilen Deutschlands hing viel von der Aufrechterhaltung der persönlichen Kontakte ab. Diese hatten in den achtziger Jahren beträchtlich zugenommen, und zwar gleichermaßen für Reisen aus der DDR - auch für Personen, die noch nicht im Rentenalter waren - wie für Reisen in die DDR. Hinzu kamen vom Jahre 1986 an Städtepartnerschaften, die allerdings insgesamt nicht die erhofften Wirkungen zeigten. Die Bundesregierung hatte sich 1963 aus humanitären Erwägungen zu einem Freikauf von politischen Häftlingen entschlossen. Zwischen 1963 und 1989 wurden insgesamt 31 775 Personen zu einem Betrag von 3,4 Milliarden D-Mark „freigekauft". 30 Diese Aktionen „Menschen gegen Geld" wurden in der Öffentlichkeit angesichts ihrer „Sensibilität" diskret behandelt. Für den herausragenden britischen Publizisten Timothy Garton Ash hat die SPD ihr Ziel einer Liberalisierung durch Stabilisierung nicht erreicht. Die Annahme, eine stärkere DDR werde das Vertrauen ihrer Bürger erringen und diesen dadurch mehr Freiheiten schenken, sei eine Chimäre gewesen. Tatsächlich jedoch habe die Politik der Bundesrepublik in der DDR eine Stabilisierung ohne Liberalisierung bewirkt. Die Staatsführung der DDR grenzte sich immer von

28 Wilhelm Bruns, Von der Deutschland-Politik zur DDR-Politik, Opladen 1989, S. 170. 29 Vgl. für Einzelheiten Detlef Nakath/Gerd-Rüdiger Stephan (Hrsg.), Von Hubertusstock nach Bonn. Eine dokumentierte Geschichte der deutsch-deutschen Beziehungen auf höchster Ebene 1980-1987, Berlin 1995. 30 Vgl. für Einzelheiten Ludwig A. Rehlinger, Freikauf. Die Geschäfte der DDR mit politisch Verfolgten, Berlin 1991; Wolfgang Brinkschulte/Hans Jürgen Gerlach/Thomas Heise, Freikaufgewinnler. Die Mitverdiener im Westen, Frankfurt a.M./Berlin 1993.

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der Bundesrepublik ab, etwa in der nationalen Frage.31 Sind Garton Ashs Thesen stimmig? Unterschätzt er nicht den Wandel in der DDR (z.B. die vergleichsweise hohe Zahl der Westreisen) vor der „Wende"? Insofern ließe sich sein Argument umkehren und von einer Liberalisierung ohne Stabilisierung reden. Der Ausbau-der Staatssicherheit war schließlich einerseits eine Reaktion auf eine Liberalisierung (im Vergleich zur Ulbricht-Zeit etwa), andererseits eine Folge der rückläufigen Stabilisierung. Die etwa von sozialistischen Reformern in der DDR (und von linken Sozialdemokraten) verfochtene These, in das Gemeinwesen kehre eine Stabilisierung durch Liberalisierung ein, hat niemals gestimmt. Spätestens die Maueröffnung enthüllte das Debakel. So entpuppte sich die Ostpolitik der SPD angesichts eines nicht reformfähigen Staates durchaus als eine - freilich so nicht gewollte - „Aggression auf Filzlatschen", wie der frühere DDR-Außenminister Otto Winzer die berühmte „Wandel durch Annäherung"-Rede Bahrs von 1963 charakterisiert hatte. Insgesamt ist die Geschichte der deutsch-deutschen Beziehungen eine Geschichte teils unbeabsichtigter, teils beabsichtigter Paradoxien. Die Union wollte die DDR in den fünfziger und sechziger Jahren durch Nichtbeachtung in die Knie zwingen und hat sie damit eher stabilisiert. Die SPD hingegen trug später maßgeblich zu einer Labilisierung der DDR bei, obwohl dies partiell gar nicht intendiert war. Die deutsch-deutschen Beziehungen sind einerseits offenkundig eine Parallelgeschichte, andererseits waren sie nie frei von Asymmetrien. Die DDR fungierte stets als der schwächere Partner, auch wenn er sich offensiv gab. Nichts demonstrierte die eigene Schwäche so offenkundig wie die immer wieder an den Tag gelegte Unsicherheit und Nervosität.

4. Deutsch-deutsche Beziehungen auf parteipolitischer Ebene: das SPD-SED-Papier Das von der Grundwertekommission der SPD und der Akademie der Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED gemeinsam verabschiedete Papier „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit"32 fällt in die Phase der „zweiten Ostpolitik" der SPD. Die Partei wollte sich nicht mit ihrer eher passiven Rolle als Opposition bescheiden, sondern aktiv Einfluß auf die 31

Vgl. Timothy Garton Ash, Im Namen Europas. Deutschland und der geteilte Kontinent, München/Wien 1993, S. 261-291. 32 Zu diesem Thema liegen zwei neue Publikationen aus der Feder zweier Beteiligter vor (und zwar auf der Seite der SED): Erich Hahn, SED und SPD. Ein Dialog. Ideologie-Gespräche zwischen 1984 und 1989, Berlin 2002; Rolf Reißig, Dialog durch die Mauer. Die umstrittene Annäherung von SPD und SED. Mit einem Nachwort von Erhard Eppler, Frankfurt a.M./New York 2002.

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Deutschlandpolitik nehmen. In dem Papier bescheinigten sich beide Seiten Existenzberechtigung, Reformfähigkeit und Friedensfähigkeit. Kritiker argumentierten, die SPD habe mit ihrer „Nebenaußenpolitik" die Position der SED im Westen salonfähig gemacht, Anhänger des Papiers meinten gerade umgekehrt, dies träfe vielmehr für sozialdemokratische Positionen im Osten zu. In der DDR schien bei manchen Funktionären eine gewisse Verunsicherung eingekehrt zu sein. Offenkundig herrschte über die Auslegung des SPD-SEDPapiers kein Konsens. Auch wenn der Chefideologe Kurt Hager das SPD-SEDDokument eigens als einen wesentlichen Beitrag zum Realismus hervorhob, stand eine heftige Kritik an denfriedensunwilligen Kräften des Imperialismus im Mittelpunkt seines Artikels. Nicht nur der folgende Satz mußte sich wie eine indirekte Antwort auf das Papier verstehen: „Unser Feindbild ist klar: Wir hören nicht auf, die aggressiven Kräfte des Imperialismus als Feinde, als Gegner desfriedlichen Lebens der Menschheit zu bekämpfen". 33 Die Angst vor ideologischer Diversion war offenkundig. Die Reaktion von Otto Reinhold, der an der Kooperation mit der SPD beteiligt war, erfolgte im „Neuen Deutschland" 14 Tage später: Auch er setzte die Akzente anders als in dem Papier, griff die konservativen Kräfte im Westen an, interpretierte den Streit der Ideologien als Klassenkampf, spielte die Gemeinsamkeiten zur Sozialdemokratie herunter, wiewohl er nach wie vor an der „beidseitige(n) Friedensfähigkeit" 34 festhielt. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, daß die Antwort die indirekte Attakke Hagers „abzufedern" versuchte. Eine besondere Form der Dialektik bestand in der Berufung Reinholds auf Hager. Offenkundig waren die Positionen in der nach außen hin so homogenen SED verschieden. Über die Wirkung des SPD-SED-Papiers in der DDR gehen noch heute die Meinungen weit auseinander. Bei vielen Bürgern der DDR dürften zumindest Teile des Dokuments Zustimmung gefunden haben. Zum Dialog gehöre „der Besuch und Gegenbesuch, die Teilnahme an Seminaren, wissenschaftlichen, kulturellen und politischen Veranstaltungen über die Systemgrenzen hinweg".35 In jedem Fall stieß das Papier auf mehr Interesse im Osten als im Westen. Löste es in der Bundesrepublik kaum heftige Konflikte aus, so hinterließ es in der DDR einen nachhaltigen Eindruck. Die einen Systemkritiker sahen das Dokument als eine Grundlage für ihre Absichten und Ziele, die anderen wiederum beklagten die Kooperation der SPD mit der SED. 33

Kurt Hager, Friedenssicherung und ideologischer Streit, in: Neues Deutschland v. 28. Oktober 1987. 34 Otto Reinhold, Antworten auf Fragen zum Streit der Ideologien und zur gemeinsamen Sicherheit, in: Neues Deutschland v. 11. November 1987. 35 Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit, in: Deutschland Archiv 21 (1988), S. 91.

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Auch wenn heutzutage die Kritik an der Naivität vieler Formulierungen überwiegt (die Fixierung auf die Friedensfrage ging mit einer Vernachlässigung der Freiheitsfrage einher), so gilt es doch festzuhalten: In gewisser Weise war die sozialdemokratische Position in der DDR aufgewertet worden. Der SED fiel es schwerer, den Sozialdemokratismus" zu verteufeln. Wie die Ostpolitik der sozial-liberalen Regierung der DDR-Führung nicht nur Vorteile, sondern durch die Vermehrung der Kontakte zum Teil auch größte Schwierigkeiten gebracht hatte, so geriet die SED durch dieses Dokument in die Defensive. Jede Form der Öffnung mußte sich für die nicht demokratisch legitimierten Herrschaftsinteressen der SED nachteilig bemerkbar machen. Eine Auseinandersetzung mit gegnerischen Argumenten hatte sie zu scheuen. Feindbilder ließen sich jedenfalls dann schwerer reaktivieren. Gleichwohl war die gemeinsame Unterzeichnung eines Papiers durch eine Oppositionspartei in dem einen Teil Deutschlands und eine „Einheitspartei" in dem anderen Teil nur schwer verständlich. Die Antwort auf die Frage nach der „asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte" fällt positiv aus. Die Asymmetrie zeigte sich im Zusammenspiel einer demokratischen Oppositionspartei mit einer antidemokratischen Staatspartei. Das Risiko war schon aus diesem Grund für den Osten größer als für den Westen. Die Wechselbeziehung ist insofern asymmetrisch, als in der DDR das Papier auf deutlich mehr Aufmerksamkeit stieß. Das gilt für politisch interessierte Bürger wie Berufspolitiker gleichermaßen.

5. Deutsch-deutsche Beziehungen auf gesellschaftspolitischer Ebene: das Verhältnis der Bürger in Ost und West zueinander In dem anderen deutschen Staat waren die Bürger weitaus stärker auf den Westen Deutschlands ausgerichtet als umgekehrt. Die Unterschiede wurden durch die vielen verwandtschaftlichen Bezüge36 sowie durch Flucht und Übersiedlung in den Westen etwas relativiert. Gleichwohl gilt: Die Bundesrepublik hat „auf die DDR-Bewohner wie eine ,positive Vergleichsgesellschaft'" gewirkt, die DDR, „gerade auch im Vergleich zur Bundesrepublik eine außenorientierte und daher ,fragmentierte Identität'"37 besessen. Hingegen ließ die Bedeutung der DDR in der Bundesrepublik für den Bürger als „negative Ver36 Vgl. etwa Bernd Lindner , Trennung, Sehnsucht und Distanz. Deutsch-deutsche Verwandtschaftsverhältnisse im Spiegel der Zeitgeschichte, in: Deutschland Archiv 37 (2004), S. 991-1000. 37 Wilhelm Bleek, Die DDR als Teil unseres Selbstverständnisses?, in: Werner Weidenfeld (Hrsg.), Politische Kultur und deutsche Frage. Materialien zum Staats- und Nationalbewußtsein in der Bundesrepublik Deutschland, Köln 1988, S. 219. Das erste Zitat im Zitat stammt von M. Rainer Lepsius, das zweite von Hermann Rudolph.

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gleichsgesellschaft" nach. Die deutsche Demokratie bezog ihre Identität nicht aus der Abgrenzung zur DDR. Was Westwaren betraf, so wirkte die Werbung des Westfernsehens im Osten verführerisch. Viele konnten sich ihr nicht entziehen und Schein vom Sein keineswegs immer unterscheiden. Der Jeansträger aus dem Westen wurde beneidet. Selbst nach der „Wende" hatten es (gute) Ostprodukte zunächst schwer, sich gegenüber westlichen Erzeugnissen an den Ladentischen zu behaupten. Obwohl die politische Führung des Ostens Kontakte zum Westen zu unterbinden und die des Westens Kontakte zum Osten zufördern suchte, war es gerade umgekehrt. Die Bevölkerung in der DDR interessierte sich für das Leben in der Bundesrepublik Deutschland, die Bevölkerung in der Bundesrepublik jedoch weniger für das in der DDR. Diese war faktisch ein unbekannter, ein ferner Nachbar. „Täve" Schur, das Radsportidol, kannte im Westen kaum jemand, Franz Beckenbauer, das Fußballidol, fast jeder im Osten. DDR-Bürger verglichen ihr Leben und ihren Lebensstandard nicht mit den Polen oder Tschechen, sondern mit den Westdeutschen. Hingegen war die DDR für die Bürger im anderen Teil Deutschlands, die sich westwärts orientierten, kein angemessener Vergleichsmaßstab. Westdeutsche waren auf einen Vergleich mit Ostdeutschen nicht erpicht. Die oppositionellen Gruppierungen, die in der DDR vor allem in den achtziger Jahren entstanden waren, hatten keineswegs in erster Linie taktisch bedingte Angst vor einer Vereinnahmung durch den Westen. Ein krasses Beispiel: Reinhard Schult, einer der mutigsten Oppositionellen, schrieb nach den turbulenten Ereignissen bei der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration 1988, die zu Ausbürgerungen Oppositioneller führte (z.B. Freya Klier, Wolfgang Templin), über den Westen die folgenden Sätze: „In einer riesigen Propagandaschlacht konnte er seine antikommunistische Ideologie stärken, den Sozialismus als menschenfeindlich darstellen und das eigene kapitalistische System als Hort der Menschenrechte präsentieren." 38 Auch wenn ein solches Zitat nicht charakteristisch für die Protestbewegung ist: Die Intention fast aller Protestler in den achtziger Jahren war im Kern auf eine Verbesserung des sozialistischen Systems gerichtet, nicht auf dessen Abschaffung. War die große Masse der Bevölkerung konsumorientiert und äußerlich angepaßt, aber innerlich auf den Westen gerichtet, so läßt sich diese Diagnose für die politisch alternativen Gruppen cum grano salis umdrehen: nach au38 Zitiert nach Eckhard Jesse, Oppositionelle Bestrebungen in der DDR der achtziger Jahre - Dominanz des dritten Weges?, in: Karl Eckart/Jens Hacker/Siegfried Mampel (Hrsg.), Wiedervereinigung Deutschlands. Festschrift zum 20jährigen Bestehen der Gesellschaft für Deutschlandforschung, Berlin 1998, S. 96.

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Eckhard Jesse

ßen hin renitent, nach innen hin westkritisch. So bemängelte ein Bürgerrechtler 1987 die in der DDR „vorhandene Projizierung von Emanzipationsmöglichkeiten und Bedürfhissen auf die BRD". 39 Solche Vorstellungen lagen nicht zuletzt am Westen. Für das Verständnis eines beträchtlichen Teils der DDROppositionellen hat das Denken der West-68er, übrigens auch geprägt durch sogenannte „Abhauer" wie Rudi Dutschke und Bernd Rabehl, zumal im Westen Berlins, eine große Rolle gespielt. Insofern figurierte die subkulturelle Szene im Osten in mancher Hinsicht als eine Kopie jener des Westens. Die Asymmetrie zwischen West und Ost ist, was das Verhältnis der Bürger untereinander betrifft, mit Händen zu greifen. Die Masse der Ostdeutschen interessierte sich für den Westen, die Masse der Westdeutschen nicht für den Osten. Die Bundesrepublik Deutschland galt als das attraktivere Land. Ostdeutsche schauten nach dem Westen, Westdeutsche auch.

6. Thesenartige Zusammenfassung Erstens: Ein Kapitel, dem sich die Wissenschaft verstärkt zu stellen hat, ist die Frage der Wechselbeziehung der beiden deutschen Staaten. Wie hat die DDR auf die Bundesrepublik reagiert, wie die Bundesrepublik auf die DDR? Das gilt nicht nur für die „große Politik", sondern auch für den Alltag der Menschen. Solche Untersuchungen können neue Erkenntnisse zutage fördern, denn die Wechselwirkungen sind mit Händen zu greifen. Die Gründe für die bisher eher spärlichen Analysen sind vielfältig. Sie liegen u.a. in einem engstirnigen Revierverhalten begründet. Zweitens: Die Jahre 1945-1949, die zur doppelten Staatsgründung führten, eignen sich weniger zur Analyse im Sinne eines deutsch-deutschen Wechselspiels; sie sind vielmehr ein Beleg für die Einflußnahme von außen, im Osten mehr als im Westen. Drittens: Die Ereignisse des Jahres 1989/90 waren auch weitgehend von außen bestimmt, wenngleich nicht nur. Die DDR-Diktatur stürzte, als die Sowjetunion sie nicht mehr stützte. Die Einheit hing stark von außenpolitischen Konstellationen ab - insbesondere von der Zustimmung der „Supermächte". Viertens: Die deutsch-deutschen Beziehungen auf staatlicher Ebene schienen zunächst die DDR durch die Akzeptanz als gleichberechtigter Gesprächspartner zu stärken. Aber dies war die Voraussetzung für das Erkennen ihrer eklatanten 39 Reinhard Weißhuhn, Eine unabhängige Gesellschaft in Osteuropa - Samisdat und die zweite Kultur, in: Ilko-Sascha Kowalczuk (Hrsg.), Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985-1989, Berlin 2002, S. 348.

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Schwächen. Die Zunahme der Kooperation und die erhöhte Interdependenz brachte die DDR immer mehr in die Defensive. Die bisweilen irrationalen Ängste des Westens erwiesen sich als unbegründet. Fünftens: Das SPD-SED-Papier konkretisiert diesen Befund. Die Annahme, auf diese Weise werde die SPD aufgewertet, hat getrogen. Die SED geriet durch das Dokument in die Defensive. Insofern waren die Bremsmechanismen von Hardlinern konsequent und aus der Perspektive des „realen Sozialismus" berechtigt. Sechstens: Für die Menschen im Westen war die DDR eine Art unbekannter Nachbar, wenngleich die Politik an der Offenheit der deutschen Frage festhielt. Für die Menschen in der DDR fiel das Zusammengehörigkeitsgefühl vielfach größer aus, obwohl die Staatsführung die Kontakte zum „Klassenfeind" zu unterbinden bzw. zu reduzieren suchte. Eine ausgeprägte DDR-Identität entstand niemals. Siebtens: Charakteristisch für die Wechselwirkung zwischen Ost und West ist das hohe Maß an gegenseitiger Einflußnahme gewesen. Die Bundesrepublik war für die DDR geradezu „die" (positive) Vergleichsgesellschaft, die DDR keine (negative) Vergleichsgesellschaft (mehr). Achtens: Die Interaktion zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland ist nicht symmetrisch. Die Asymmetrie zeigte sich vor allem in zwei Punkten: Zum einen war die DDR - auf den verschiedensten Ebenen vielfach auf die Bundesrepublik fixiert, während diese die DDR weitaus weniger als Bezugspunkt ansah. Zum anderen war die Bundesrepublik in der Regel der überlegene Teil. Das Selbstbewußtsein speiste sich wesentlich aus der demokratischen Legitimation. Neuntens: Die Geschichte der innerdeutschen Beziehungen im allgemeinen, die Geschichte des SED-SPD-Papiers im besonderen sowie die Geschichte des wechselseitigen Verhältnisses zwischen den Bürgern im Osten und im Westen ist in mannigfacher Hinsicht eine Geschichte der Paradoxien. Intention und Auswirkungen klafften weit auseinander. Was gewollt wurde, trat nicht ein. Was eintrat, war so nicht gewollt. Zehntens: Auch nach der deutschen Einheit gibt es in mancher Hinsicht Wechselbeziehungen zwischen Ost und West. Die Erfolge der PDS haben neben anderen Faktoren etwas mit dem Trotz Ostdeutscher zu tun, die glauben, die wachgehaltene Erinnerung an die Diktatur laufe auf eine Entwertung ihrer Lebensleistung hinaus. Dieses ostdeutsche „Wir-Bewußtsein" wiederum verstehen Westdeutsche als ein Indiz für sozialistische Nostalgie. Das stimmt so nicht. 15 Jahre nach der deutschen Einheit wirkt die Vergangenheit noch nach.

Neue deutsche Parallelhistoriographie Zeitgeschichte aus PDS-naher Sicht

Von Werner Müller

1. Einleitende Bemerkungen Soweit sichtbar, findet eine deutsche Besonderheit seit 1990 in den anderen vormals „realsozialistischen" Ländern Mittel- und Osteuropas kein Gegenstück: In den neuen Ländern formierte sich im Umkreis der PDS1 in der ersten Hälfte der neunziger Jahre ein Netzwerk, das ohne staatlich-institutionellen Rahmen, aber organisiert vorwiegend in der Form von Stiftungen und Bildungsvereinen eine quantitativ beachtliche Vortrags- und Publikationstätigkeit entfaltete und sich geradezu als Kontrapunkt zum „offiziellen" (was auch immer damit gemeint sein sollte) Geschichtsbild der Bundesrepublik darstellte. Die Aktiven auf diesem Feld waren zumeist Angehörige der früheren Wissenschaftselite der DDR,2 in der Regel aus der Philosophie, der Geschichtswissenschaft, den Sozial» und Wirtschaftswissenschaften oder dem an den Universitäten und Hochschulen etablierten „Marxismus-Leninismus" gekommen. Diese Fächer waren bekanntlich nach 1990 besonders stark einem personellen Wandel unterworfen gewesen; die „Abwicklung" der Berliner Akademie der Wissenschaften als zentrales und leitendes Forschungsinstitut setzte ebenso ein beachtliches Wissenschaftlerpotential frei wie die Auflösung der parteieigenen Institute der SED.3

1 Vgl. Patrick Moreau/Jürgen Lang, Linksextremismus. Eine unterschätzte Gefahr, Bonn 1996, S. 112ff., 155ff. 2 Lothar Mertens, DDR-Historiker - Priester der Klio im neuen Gewände?, in: HansJoachim Veen (Hrsg.), Alte Eliten in jungen Demokratien? Wechsel, Wandel und Kontinuitäten in Mittel- und Osteuropa, Köln u.a. 2004, S. 156ff. 3 Vgl. Peer Pasternack, Die wissenschaftliche Elite der DDR nach 1989, in: Veen (Anm. 2), S. 121-148.

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Ein Blick in die Nachbarländer zeigt, wie wenig Vergleichbares existiert. Der Marxismus hatte traditionell in Frankreich und in geringerem Maße in Italien im akademischen und intellektuellen Bereich eine starke Bastion. Tschechien und wiederum Frankreich verfügen nach wie vor über kommunistische Parteien beachtlicher Stärke, die sich nicht allzu weit von der früheren „Orthodoxie" Moskauer Prägung entfernt haben. In Ungarn und Polen sind die früheren Kommunisten in unterschiedlicher Weise zu Sozialisten mutiert - im einen Fall in organisationspolitischer Kontinuität, im anderen Fall über den Weg einer Neugründung. Das deutsche Beispiel einer „zweiten Zeitgeschichte" scheint indes einzigartig. Selbstverständlich darf bei der Analyse der PDS-orientierten Parallelhistoriographie nicht außer Acht gelassen werden, dass die früheren SED-Eliten mehr als in anderen Wissenschaftsdisziplinen dem offiziellen „MarxismusLeninismus" verpflichtet und ihre Historiographie wie kaum ein anderes Fach den politischen Maximen und Leitlinien verpflichtet und naturgemäß eng in die aktuelle „Geschichtspolitik" der DDR-Fiihrung eingebunden war. Bekanntlich stand die SED ab 1946 am Beginn der Umgestaltung der Universitäten und bei der Intention, eine marxistische Geschichtsschreibung zu etablieren und zu verankern, vor dem Dilemma, nur über eine außerordentlich schmale Personaldecke auf diesem Feld zu verfügen. 4 Ebenfalls gründlicher untersucht ist inzwischen der langdauernde und mühselige Prozess, eine entsprechende Historiographie personell heranzubilden und sie auf die politischen und methodischen Vorgaben einzuschwören.5 Ebenfalls auf den ersten Blick fällt auf, dass die Protagonisten dieser PDSnahen Geschichtsdeutungen nicht selten Exponenten der alten DDRWissenschaft gewesen sind; mehr noch: Ein großer Teil von ihnen entstammt der „FDJ-Generation", die nach 1945 häufig über den Weg der „Arbeiter-undBauern-Fakultäten" oder über „Neulehrer"-Kurse den Weg in die akademische Karriere fanden. Ihre berufliche Sozialisation, ihr Aufstieg, ist damit eindeutig auch den Eigenarten des SED-Staates geschuldet, der Beseitigung der alten „bürgerlichen" Eliten. Sie stiegen im allgemeinen bereits in der Honecker-Zeit zu den Etablierten im Wissenschaftsbetrieb auf. Ihre Forschungs- und Publikationsthemen waren in besonderer Weise politiknah. Damit traf sie vermehrt als 4 Vgl. Werner Müller, Kommunistische Intellektuelle in der SBZ und in der frühen DDR, in: Gangolf Hübinger/Thomas Hertfelder (Hrsg.), Kritik und Mandat. Intellektuelle in der deutschen Politik, Stuttgart 2000, S. 239-265. 5 Vgl. u.a. mit einem Schwerpunkt auf dem Themenfeld der Zeitgeschichte: IlkoSascha Kowalczuk, Legitimation eines neuen Staates. Parteiarbeiter an der historischen Front. Geschichtswissenschaft in der SBZ/DDR 1945 bis 1961, Berlin 1997; Martin Sabrow, Das Diktat des Konsenses. Geschichtswissenschaft in der DDR 1949-1969, München 2001.

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Exponenten anderer Fachrichtungen nach 1990 die Entlassung aus dem Dienst oder die Schließung ihrer Institute. Viele von ihnen haben in den ersten Jahren nach dem Umbruch von 1989 das Pensionsalter erreicht. Sie können nicht zu Unrecht als „deklassierte Elite" bezeichnet werden.6 Die Nachfolger einer auf dem Gebiet der Geschichte der DDR arbeitenden Generation sind dagegen personell außerordentlich schwach vertreten - vielleicht auch ein Indiz für die geringe Attraktivität des Problemkreises DDR- und Kommunismus-Geschichte für die in der Kriegs- und Nachkriegszeit Geborenen. Auch die marxistisch oder linkssozialistisch orientierte Historiographie und Publizistik in Frankreich und Italien stellte den Grundkonsens der Einheitlichkeit ihrer Nation nie in Frage; für die DDR-Historiographie war die deutsche Zweistaatlichkeit hingegen mit konstitutiv: Dieser Staat war nicht nur ihr Staat, sondern zugleich auch der „bessere" deutsche Staat, seine Grundlage, der „Sozialismus in den Farben der DDR" war zugleich auch ihre (der Historiker) Existenzlogik. Eine „sozialistische deutsche Nationalgeschichte" als Konzept und Ziel war danach nur ein folgerichtiger Schritt.7 Der Untergang des Staates musste somit für diefrüheren DDR-Eliten mehr bedeuten als nur ein Karrierebruch und die Wahrnehmung eines NichtAngenommen-Werdens in der Wissenschaftslandschaft der Bundesrepublik, sondern vielmehr auch als Verlust oder zumindest Beschädigung eines DenkParadigmas. Wenn man Leszek Kolakowskis frühe Diagnose über den Niedergang des Marxismus teilt, er habe „gewissermaßen den Kontakt sowohl zur geistigen Entwicklung [...] als auch zu den gesellschaftlichen Realitäten verloren",8 scheinen Teile der früheren DDR-Wissenschaftseliten (ebenso wie das Marxismus-Spektrum in Frankreich) geradezu die sprichwörtliche Ausnahme von der Regel darzustellen. Gleichwohl darf Parteinähe nicht mit argumentativer Homogenität gleichgesetzt werden. Die Gemeinsamkeit einer fundamentalen „Kapitalismus"-Kritik und die Berufung auf ein - wie auch immer zu präzisierendes und konkretisierbares - „Sozialismus"-Konzept jenseits des Stalinismus9 lassen Spielraum für 6

Fasternack (Anm. 2), S. 141. Eberhard Kuhrt/Henning von Löwis, Griff nach der deutschen Geschichte. Erbeaneignung und Traditionspflege in der DDR, Paderborn-München-Wien-Zürich 1988. 8 Leszek Kolakowski, Die Hauptströmungen des Marxismus. Entstehung - Entwicklung-Zerfall, Dritter Band, 2., Überarb. Aufl., München-Zürich 1981, S. 574. 9 Der Begriff Stalinismus bleibt in der PDS-Historiographie ziemlich vage. Die Formel „Bruch mit dem Stalinismus als System" hatte zuerst Michael Schumann auf dem außerordentlichen Parteitag der SED/PDS im Dezember 1989 verwandt. Außerordentlicher Parteitag der SED/PDS. Protokoll der Beratungen am 8./9. und 16./17. Dezember 1989 in Berlin, hrsg. von Lothar Hornbogen/Detlev Nakath/Gerd-Riidiger Stephan, Berlin 1999, S. 179. 7

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Nuancen und Differenzierungen. Nahtloses Anknüpfen an die „offiziellen" Positionen der untergegangenen SED ist - wie noch zu zeigen sein wird - die Ausnahme. Das schlägt sich vor allem auf dem Feld politischer Strömungen (so vor allem vertreten durch die „Kommunistische Plattform" in der PDS) nachhaltiger und deutlicher als in der Historiographie nieder. Pluralismus als Vielfalt unterschiedlicher Absichten oder wissenschaftlicher Meinungsstreit im traditionellen Sinne ist damit nicht intendiert. So fallt auf, dass in der Regel die Verlautbarungen der „Historischen Kommission" der PDS, deren Sprecher derzeit Jürgen Hofmann ist, moderater ausfallen als Einzelpublikationen von Autoren aus diesem Kreis.

2. Grundlagen und Methoden Manfred Kossok, renommierter Lateinamerika- und Revolutionshistoriker, hatte in seinem letzten Aufsatz kurz vor seinem Tode 1993 den Weg vorgezeichnet, den diefrüheren DDR-Historiker in der Auseinandersetzung mit westdeutschen, aber auch jüngeren Kollegen aus der DDR gerne gingen: Er skizzierte allgemein gültige und prinzipiell konsensfähige Prinzipien und konstatierte anschließend deren vehemente Verletzung durch die „andere Seite". So postulierte er: „Geschichte auch gegenüber der Vergangenheit als offen anzunehmen, ergibt nur einen Sinn, wenn sich damit die Bereitschaft verbindet, ihre Widersprüchlichkeit anzuerkennen, die keine polare Fixierung in Gut und Böse zulässt, wenn darauf verzichtet wird, sie lediglich als Vehikel von Interessenkonstellationen zu benutzen. Es ist das Einfache, das so schwer zu machen ist, zumal ein erheblicher Teil der Geschichtswissenschaft der DDR ein wenig ruhmreiches Kapitel dazu geschrieben hat. Alte Fehler müssen allerdings nicht durch neue ersetzt werden".10 Die Realität zeige das Gegenteil: „Die Geschichte, die man uns jetzt lehrt, ist in Wirklichkeit die Vergottung der Gegenwart mit Hilfe der totalen Verketzerung der DDR-Geschichte." Er beklagt eine „Totalverurteilung der DDRErfahrung, ihre einseitige Fixierung auf die Auswüchse der Machtperversion einer intellektuell und biologisch degenerierten politischen Klasse, dazu die bewusste Vernachlässigung der globalstrategischen Faktoren."11 Im gleichen Atemzug legte er den Grundstein für ein oft aufgegriffenes Muster, als er sich

10

Manfred Kossok, Im Gehäuse der selbstverschuldeten Unmündigkeit oder Umgang mit der Geschichte, in: Ansichten zur Geschichte der DDR, hrsg. von Dietmar Keller , Hans Modrow und Herbert Wolf Bd. 1, Bonn-Berlin 1993, S. 12. - Insgesamt erschienen die Bände I - X I zwischen 1993 und 1998 mit wechselnden Herausgebern. 11

Ebd., S. 17 und 26.

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zum Sprecher der 16 Millionen Ostdeutschen zu machen versuchte, deren Erfahrungen „einen anderen Umgang mit der Geschichte" erforderten. Zuletzt deckte er seine Zukunftsvision auf, die im Kern und in den wesentlichen Merkmalen von der PDS-nahen Parallelhistoriographie getragen wird. Es ging ihm und anderen um die „Selbständigkeit der DDR als alternatives Deutschland gegenüber der Bundesrepublik [...], das durch einen humanen und demokratisch erneuerten, weltoffenen Sozialismus eigener Prägung seine eigene historische und gesellschaftliche Attraktivität unter Beweis stellen wollte".12 Nach Kossok reduzierte „man" die Auseinandersetzung mit der DDRVergangenheit auf die Begriffe „Unrechtsstaat, Diktatur, SED-Herrschaft, Staatssicherheit, Täter, Opfer". 13 Aus dem Umkehrschluss ergibt sich: Einbindung in die weltpolitische Konstellation, Legitimität, Eigengesetzlichkeit, Lebensfähigkeit und Lebens-Würdigkeit, „ A n t i f a s c h i s m u s " sind als Desiderate anzusehen. Die Historische Kommission der PDS unterstrich das in einer Erklärung zum 15. Jahrestag des Umbruchs in der DDR 2004 im Kern und fügte weitere Defizite auf sozialem und wirtschaftlichem Feld hinzu: „Enteignung der DDR-Bürger von ihrem gesellschaftlichen Reichtum, Überstülpung reformbedürftiger West-Strukturen, massiver Elitenaustausch, Wiederkehr der Arbeitslosigkeit, ein sich auflösendes Sozialsystem, Deindustrialisierung Ostdeutschlands und kulturelle Ausdünnung".14 Einen ähnlichen Weg beschritt sie im Jahre 1999 in einer Stellungnahme zum 50. Gründungstag der Bundesrepublik Deutschland. Sie hielt fest: „Das Scheitern der Deutschen Demokratischen Republik und ihr Beitritt zur Bundesrepublik vor einem knappen Jahrzehnt macht reichlich vier Jahrzehnte deutscher Zweistaatlichkeit nicht ungeschehen. Inzwischen wird kaum noch ernsthaft bestritten, dass die DDR-Gesellschaft als Sozialisationszusammenhang und zeitgeschichtlicher Erfahrungswelt den Staat, der sie hervorgebracht hat, wenigstens partiell überdauerte. Deshalb ist es für die Gesellschaft der Bundesrepublik abträglich, dieses Erbe zu ignorieren, auch wenn es aus Sicht maßgeblicher Eliten ein ungeliebtes sein sollte. Im staatlich wiedervereinigten Deutschland treffen zwei Stränge deutscher Nachkriegsentwicklung zusammen. Sie münden beide in aktuelle Prozesse und politische Konstellationen und gehören

12

Ebd., S. 21. Ebd., S. 11. 14 Für eine andere DDR - Chancen und Grenzen. Erklärung der Historischen Kommission beim Partei vorstand der PDS, 5. Oktober 2004, http://sozialisten.de/partei/ geschichte/view_html?zid=24040&bs=l &n= 1. 13

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somit zur historischen Substanz der heutigen Bundesrepublik, unabhängig davon, wie sie im einzelnen bewertet und gewichtet werden."15 Niemand wird ernsthaft in Frage stellen können, dass die Hinterlassenschaft der DDR insgesamt zum Fundus der neuen, größeren Bundesrepublik gehört, mit dem sie sich auseinanderzusetzen hat. Die Arbeit, die auf diesem Feld geleistet wurde und noch geleistet wird, etwa durch die Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit"16 oder die Tätigkeit der im Juni 1998 durch Bundesgesetz ins Leben gerufenen Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur17 sind damit aber offenkundig nicht gemeint. Die PDS monierte, mit einem „verengten Erkenntnisinteresse" sei die Geschichte der DDR „auf , SED-Diktatur' und damit bloße Negativgeschichte von Repression, Unrecht und Unterdrückung in der gesamten Gesellschaft und von Beginn der Existenz der DDR an" reduziert worden.18 Statt dessen regte sie an, ein „unabhängig konstituiertes Gremium" von Wissenschaftlern „aus Ost und West sowie verschiedener Disziplinen und Institutionen" zu berufen. 19 Der Verdacht ist nicht von der Hand zu weisen, dass mit dieser Forderung das Leitmotiv der SED-Deutschlandpolitik derfrühen fünfziger Jahre: „Deutsche an einen Tisch!" fröhliche Urständ feiern soll. „Parität", Gleichberechtigung und vor allem Gleichwertigkeit sowie die breite Herausstellung der „positiven Seiten" der DDR werden damit hinter den Metaphern Unabhängigkeit und Neutralität gefordert. Tatsächlich gerät das dann in den Arbeiten und Positionen der PDSnahen Historiographie schnell zur Fundamentalkritik am „Kapitalismus" und zur Abrechnung mit der Geschichte der „alten" Bundesrepublik. Die so erhobene Forderung nach einer Parallelgeschichte beider deutscher Staaten (einschließlich ihrer Vorgeschichte) kehrt die Verhältnisse gegenüber den Jahren bis 1989 um: In der Bundesrepublik war die Neigung gewachsen, die deutschen Nachkriegsstaaten nebeneinander und gleichsam mit dem Blick-

15

Die Doppelbiographie der Bundesrepublik. Zum Phänomen der deutschen Zweistaatlichkeit. Thesenpapier der Historischen Kommission, 12. März 1999, http:// Sozialisten. de/partei/geschichte/view_html?zid=3 3 51 &bs=21 &n=25. 16 Materialien der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit" (13. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), hrsg. vom Deutschen Bundestag, Acht Bände in 14 Teilbänden, Baden-Baden 1999. 17 Gisela Helwig, Aufarbeitung ist Zukunftsgestaltung. Enquete-Kommissionen und Bundesstiftung, in: Deutschland Archiv, 31 (1998), S. 70-77. 18 Entschließungsantrag der Gruppe der PDS im Bundestag, 16.6.1998, in: Materialien der Enquete-Kommission (Anm. 16), Bd. 1, S. 804. 19

Ebd, S. 16.

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winkel der Eigengesetzlichkeit oder der Eigenlogik zu betrachten.20 Die methodischen Grundlagen dafür waren mit den drei Publikationen „Materialien und Berichte zur Lage der Nation" aus den Jahren 1971 bis 1973 gelegt worden. Dort wurden - ohne Wertung - Daten einander gegenübergestellt.21 Peter Graf Kielmansegg hat,das Konzept einer Parallelgeschichte in seiner großen Geschichte des geteilten Deutschlands im Jahre 2000 mit guten Gründen für obsolet erklärt. 22 Manfred Görtemaker begründet den Verzicht auf die Betrachtung der DDR in seiner Geschichte der alten und neuen Bundesrepublik ebenfalls sehr plausibel: „Gerade weil die DDR gescheitert ist, stellt sich die Frage nach Funktionen und Misserfolg des SED-Regimes um so dringender. Der hohe theoretische Anspruch, einen im Vergleich zur Bundesrepublik und zu früheren deutschen Herrschaftssystemen ,besseren4 deutschen Staat zu schaffen, bedarf im Hinblick auf seine fehlgeschlagene Realisierung einer genauen Untersuchung. Außerdem haben die 16 Millionen Ostdeutschen einen Anspruch darauf zu erfahren, wofür sie einen großen Teil ihrer Lebens- und Schaffenskraft eingesetzt haben. Das ist jedoch ein gesondertes Thema, das eigene methodische Zugänge und einen tiefen Blick in die Quellen des SED-Staates fordert." 23 Damit sind die für einen Historiker unerlässlichen Reflexionen zu seinen forschungsleitenden Fragestellungen und zur Systematik seiner Vorgehensweise umrissen. Der Verzicht darauf muss dazu führen, dass Geschichte letztlich als konturenloser „Steinbruch" erscheint. Indes wird gerade diese Grundfrage in der PDS-nahen Historiographie ausgeblendet, werden unterschiedliche Wege skizziert und gleichsam „wertfrei" nebeneinandergestellt. Neben einem gemeinsamen „antifaschistischen und friedenspolitischen Gründungskonsens" zählen die Autoren auch Divergenzen auf: „Während im Westen die bürgerliche Gesellschaft erneuert und nach westlichem Demokratieverständnis gestaltet wurde, setzten im Osten die bestimmenden politischen Kräfte auf den radikalen Umbau der Gesellschaft und ihrer Strukturen." 24 Im Folgenden sollen einige dieser Punkte detaillierter geprüft und ihre Argumentationsketten vorgestellt werden. 20

So etwa die weit verbreiteten Untersuchungen von Christoph Kleßmann oder das von Werner Weidenfeld und Hartmut Zimmermann 1989 besorgte „DeutschlandHandbuch", das eine „doppelte Bilanz" der vier Nachkriegsjahrzehnte zog. 21 Auf detaillierte bibliographische Hinweise wird verzichtet. Zuletzt bibliographiert in: Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung, hrsg. von Rainer Eppelmann, Bernd Faulenbach, Ulrich Mahlert, Paderborn u.a. 2003. 22 Peter Graf Kielmansegg, Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland, Berlin 2000, S. 677. 23 Manfred Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart, München 1999, S. 12. 24 Die Doppelbiographie der Bundesrepublik (Anm. 15).

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3. Traditionslinien als Legitimitätsbasis der DDR Dass die Gründung beider deutscher Staaten und ihre Einbeziehung in die beiden antagonistischen „Lager" der Weltpolitik keine wie auch immer geartete souveräne Entscheidung deutscher Politiker gewesen ist, ist unumstritten. Wie weit deutsche Politik in Ost und West nach dem offenen Ausbruch des „Kalten Krieges" 1947 von Objekten alliierter Politik zu Mitträgern und Mitgestaltern wurden, kann hier unerörtert bleiben. Allerdings ist ebenso unstrittig, dass die nach 1945 maßgeblichen Gesellschaftskonzepte in Ost und West nicht nur ihre Wurzeln in den Jahren vor 1933 hatten, sondern auch „in Gestalt" der Besatzungsmächte nach 1945 prägend waren. Mit anderen Worten: Auch wenn es viele der Zeitgenossen nach 1945 anders sahen, blieb der prägende Gegensatz derjenige, der er schon seit 1917 gewesen war. Nicht die Alternative Kapitalismus oder Sozialismus trennte die „Lager" der Weltpolitik ohne Chance auf eine Verständigung, sondern der Antagonismus von Demokratie und Diktatur. Ob „Antifaschismus" auf der einen oder „Entnazifizierung" auf der anderen Seite, die Grundzüge der Bewältigung der NS-Diktatur wurden bereits vor 1933 gelegt.25 Es gab - fraglos in großer Zahl - Sozialisten aller Richtungen und Schattierungen in der „kapitalistischen" Hemisphäre, es gab zugleich auch manche Kommunisten, für die die „antifaschistische Demokratie" keine Leerformel oder nur eine Verschleierung der Herrschaftsinteressen der stalinisierten Parteiführungen war. Dem Verständnis von Faschismus, Nationalsozialismus, Diktatur und Demokratie musste also eine Schlüsselfunktion zukommen. Die Historische Kommission der PDS umgeht das Problem, behandelt die gegensätzlichen Entwicklungswege in Ost und West, als handele es sich um eine Alternative zwischen kommensurablen Größen: „Völlig unterschiedliche Ansätze wurden beim Austausch von Funktionsträgern des Deutschen Reiches, in der Eigentumsfrage und zur Frage des Staatsaufbaus verfolgt. Die Gründer der DDR [...] sahen in der zentralisierten Republik die geeignetste Form, um gesellschaftliche Umgestaltungen effektiv durchsetzen zu können. [...] Auch die erste Verfassung der DDR gewährte traditionelle Bürgerrechte, ermöglichte aber zugleich deren Beschränkung zugunsten gesellschaftlicher Umgestaltung. Die Gewaltenteilung war aufgehoben. Die deklarierte universelle Zuständigkeit der Volksvertretung missriet zur Allmacht der DDR und ihrer Führung."26 Die Begriffe Demokratie, Wahlen oder Pluralismus tauchen in diesem Kontext nicht auf. Immerhin sei

25 So überzeugend: Jeffrey Herf, Zweierlei Erinnerung. Die NS-Vergangenheit im geteilten Deutschland, Berlin 1998, S. 239ff. 26 Die Doppelbiographie der Bundesrepublik (Anm. 15), S. 2.

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daran erinnert, dass die KPD/SED sich zu Beginn und am Ende ihrer Diktatur der Brisanz dieses Problems durchaus bewusst war. Der Schein alliierter Einheit schloss 1945 das Bekenntnis aller vier Sieger zu einer demokratischen Neuordnung in Deutschland ein. Die „epochale Bedeutung der Demokratie"27 setzte auch sowjetische und deutsche Kommunisten unter Zwang. Nach Ende des Krieges und der nationalsozialistischen Herrschaft schien jede Art der Diktatur diskreditiert, auch die Diktatur des Proletariats. Der Gründungsaufruf des ZK der KPD vom 11. Juni 1945 brach radikal mit den Programmtraditionen aus den Jahren vor 1933. Die KPD-Führung erachtete es nun als unzeitgemäß, „Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen". Sie propagierte unter den gegenwärtigen Bedingungen „den Weg der Aufrichtung eines antifaschistischen, demokratischen Regimes, einer parlamentarisch-demokratischen Republik mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das Volk". 28 Dieses Demokratie-Versprechen blieb bekanntlich Papier. Noch vor der Zwangsvereinigimg bezeichnete der KPD-Vorsitzende Wilhelm Pieck den „konsequenten Marxismus-Leninismus" als „das granitene Fundament" der zukünftigen SED, forderte den „demokratischen Zentralismus und die eiserne Disziplin ihrer Mitglieder". Es stand außer Frage, dass „die Partei nur dann erfolgreich wird arbeiten können, wenn an der Spitze eine vom MarxismusLeninismus vollkommen durchdrungene Funktionärkörperschaft steht".29 In letzter Stunde, am Beginn des völligen Zerfalls der DDR-Staatspartei, versuchte die SED-Führung auf der 10. ZK-Tagung vom 8. bis 10. November 1989 fast verzweifelt, mit der Rückbesinnung auf demokratische Grundsätze, die von ihr geschaffene Ordnung zu stabilisieren. Sie versprach durchzusetzen: die Vereinigungsfreiheit, die Informationsfreiheit, „eine freie, allgemeine, demokratische und geheime Wahl" und den Abbau des politischen Strafrechts. Das sollte ergänzt werden durch die „demokratische Meinungs- und Willensbildung" in der SED, Meinungsstreit und „die Ausarbeitung von Alternativen zur politischen Entscheidungsfindung", die „Entflechtung von Partei und Staat" sowie einen Kurs auf „Gewinnung von Mehrheiten in den Volksvertretungen". 30 Das Demokratie-Defizit, genauer: der Mangel an jeglicher demokratischer Legitimation der DDR, soll gemäß den Bemühungen einiger Historiker mit gleicher Methode kompensiert werden wiefrüher in der DDR, nämlich mit dem 27

Karl Dietrich Bracher, Die Krise Europas. Seit 1917, Berlin 1993, S. 12. Schaffendes Volk in Stadt und Land! Männer und Frauen! Deutsche Jugend!, in: Deutsche Volkszeitung, 13. Juni 1945. 29 Wilhelm Pieck, Probleme der Vereinigung von KPD und SPD, Berlin 1946, S. 24ff. 30 Hans-Hermann Hertle/Gerd-Rüdiger Stephan (Hrsg.), Das Ende der SED. Die letzten Tage des Zentralkomitees, 2., durchges. Aufl., Berlin 1997, S. 221 und 231. 28

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Rekurs auf die Geschichte. Heinz Karl forderte wesentlich deutlicher als die Historische Kommission der PDS Kontinuitätslinien der SED zu den deutschen sozialistischen Traditionen ein: „Mit der Gründung der DDR wurde der staatliche und konstitutionelle Rahmen für diese demokratischen, antifaschistischen und antiimperialistischen Umgestaltungen geschaffen [gemeint sind die Enteignungen in der Nachkriegszeit], deren Aufgabenstellungen teils in das vorige Jahrhundert, bis - denken wir an die Bodenreform - in die achtundvierziger Revolution, ja den Vormärz zurückgeht, teils die Klassenauseinandersetzungen der Novemberrevolution und der Weimarer Republik prägte."31 Chiffren und Metaphern liegen hier unbestreitbar sehr eng bei den Maximen der DDR-Historiographie. Der Versuch, die sozialdemokratischen Traditionslinien für diese Politik in die Pflicht zu nehmen, blendet deren mehrheitsdemokratisches Grundelement aus: „In den Grundzügen lassen sie sich [gemeint sind die „gesellschaftlichen Veränderungen"] noch immer auf das Erfurter Programm zurückführen, und insgesamt halten sie sich - konkret historisch realisiert und modifiziert - in einem Rahmen der durch im Grunde übereinstimmende oder sich doch nahekommende Kernaussagen des Heidelberger Programms und des Prager Manifests (1934) der SPD oder des Gründungsparteitages, der Brüsseler und Berner Konferenzen (1935, 1939) der KPD markiert wird. Unbestreitbar wurde ,mit und in der DDR ein in der deutschen Geschichte angelegter Weg beschritten.'"32 Die PDS mochte ihrerseits nun nicht so weit gehen, sozialdemokratische Politik- und Programmtraditionen für sich zu reklamieren. Sie betonte anlässlich des 80. Jahrestages der KPD-Gründung an der Jahreswende 1918/19: „Die PDS ist der kommunistischen Tradition in der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung verbunden." Die Ermordung ihrer Führer, Liebknecht, Luxemburg und Jogiches, wertete sie als „traumatische Last", die es der KPD erschwert hätte, „die Weimarer Republik auch hinsichtlich ihrer Chancen zu begreifen". 33 Sie distanzierte sich zugleich von dem durch die stalinisierte KPD in der SED geprägten Geschichtsbild und berief sich „in entschiedenem Gegensatz dazu" auf die Traditionslinien einiger „Abweichler". Genannt wurden neben Rosa Lu-

31 Heinz Karl, Die DDR - Versuch einer sozialistischen Alternative oder Sackgasse von Anfang an?, in: Gerhard Fischer/Hans-Joachim Krusch/Hans Modrow/Wolfgang Richter/Robert Steigerwald (Hrsg.), Gegen den Zeitgeist. Zwei deutsche Staaten in der Geschichte, Schkeuditz 1999, S. 314. 32 Ebd. 33 Kommunistisches Gedankengut prägte das 20. Jahrhundert mit. Dietmar Bartsch zum 80. Jahrestag der Gründung der KPD, 29. Oktober 1998, in: http://sozialisten.de/ partei/geschichte/view_html?zid=3354&bs=21 &n=28.

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xemburg zunächst Paul Levi, ferner August Thalheimer, Heinrich Brandler, Clara Zetkin, Arthur Ewert, Ernst Meyer oder Anton Ackermann.34 In der Tat legte die PDS hier eine Namensliste vor, die mit gewissen Gründen in eine antistalinistische Tradition einzuordnen wären - aber eine demokratische „Ahnengalerie" kann sie damit nur schwer begründen. Rosa Luxemburgs Rolle als kompromisslose Kämpferin (bis hin zur Selbstzerstörung) gegen die Nationalversammlung ist hinlänglich bekannt, nach wie vor ist ihre Bewertung als „blutige Rosa" oder als „demokratische Sozialistin" umstritten.35 Paul Levi nahm nichts Geringeres als die späteren stalinistischen Parteistrukturen in der KPD vorweg, den bürokratischen Zentralismus. Allerdings sprach er sich gegen die sowjetische und Komintern-Taktik eines bewaffneten Aufstandes in Deutschland Anfang 1921 aus.36 August Thalheimer und Heinrich Brandler waren in die Vorbereitungen des kommunistischen Putsches zum Sturz der Republik im Oktober 1923 involviert (dessen Drahtzieher in der Komintern und in Moskau saßen). Clara Zetkin als „große alte Dame des deutschen Kommunismus" diente auch noch der stalinisierten KPD-Führung als Galionsfigur. Die „Versöhnler" Arthur Ewert und Ernst Meyer kapitulierten oder resignierten. Anton Ackermann wurde 1945/46 nicht zu Unrecht als Theoretiker eines „besonderen deutschen Weges zum Sozialismus" interpretiert. Ihn deswegen als Antistalinisten zu betrachten, geht völlig an der Sache vorbei, da Ackermann nichts anderes tat, als die damals gängige Generallinie der kommunistischen Weltbewegung zu interpretieren, die selbstverständlich von Stalin gebilligt war. Sein Credo war jedenfalls eindeutig: „Entwickelt sich der neue demokratische Staat als ein neues Gewaltinstrument in den Händen reaktionärer Kräfte, so ist der friedliche Übergang zur sozialistischen Umgestaltung unmöglich. Entwickelt

34

Ebd. Ottokar Luban, Demokratische Sozialistin oder „blutige Rosa"? Rosa Luxemburg und die KPD-Führung im Berliner Januaraufstand 1919, in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 35 (1999), S. 176-207; Manfred Scharrer, Rosa Luxemburg - „Die Revolution ist großartig, alles andere ist Quark", sowie Ottokar Luban, Rosa Luxemburg - demokratische Sozialistin oder Bolschewistin?, jeweils in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2000/2001, S. 391-408 und 409-420; ferner Eckhard Jesse, Demokratie oder Diktatur? - Luxemburg und der Luxemburgismus, in: „Ein Gespenst geht um in Europa". Das Erbe kommunistischer Ideologien, hrsg. von Uwe Backes und Stéphane Courtois, Köln u.a. 2002, S. 187-212. 36 Sigrid Koch-Baumgarten, Aufstand der Avantgarde. Die März-Aktion der KPD 1921, Frankfurt a.M. 1986, S. 114ff.; Jens Becker, Heinrich Brandler. Eine politische Biographie, Hamburg 2001, S. 126ff.; Otto Wenzel, 1923. Die gescheiterte deutsche Oktoberrevolution. Mit einer Einleitung von Manfred Wilke, Münster 2003; nunmehr als Dokumentation umfassend: Deutscher Oktober 1923. Ein Revolutionsplan und sein Scheitern, hrsg. von Bernhard H. Bayerlein, Leonid G. Babicenko, Fridrich I. Firsov, Alexander Ju. Watlin, Berlin 2004. 35

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sich aber die antifaschistisch-demokratische Republik als ein Staat aller Werktätigen unter Führung der Arbeiterklasse, so ist der friedliche Weg zum Sozialismus durchaus möglich, insofern dann die Gewaltanwendung gegen den (übrigens vollkommen legalen, vollkommen gesetzmäßigen) Anspruch der Arbeiterklasse auf die ganze Macht unmöglich ist."37 Dem fügt Ackermann drei Faktoren von Demokratisierung an. Es sind die bekannten: Bildung einer neuen Elite aus dem „schaffenden Volk", Bodenreform und „Zerschlagung der Trusts, Konzerne und Banksyndikate". Eine vorsichtige Korrektur wird auch in der Haltung zur Weimarer Republik und zum „Dritten Reich" sichtbar. Die Weimarer Republik - an deren Zerstörung sich die Kommunisten bekanntlich aktiv beteiligt haben - wird rehabilitiert: „Sie war eine Reform wert: Den Gewinn und Wiedergewinn demokratischer Rechte und aller ihrer Parlamente, die Demokratisierung ihrer Justiz und vieles andere, aber keine Vernichtung."38 Die Charakterisierung des „Dritten Reiches" verzichtet auf die Dimitroff-Formel und kennzeichnet den Machtantritt der NSDAP als Koalition „machthungriger Politiker, die sich um den zum , Erlöser' stilisierten Hitler scharten", und wesentlichen Teilen der antirepublikanischen Eliten, unter denen die „Repräsentanten der Großbanken, der Großindustrie sowie des Großgrundbesitzes" wieder herausgehoben werden (müssen). Verwiesen wird nicht nur auf den NS-Terror, sondern auch auf die Mobilisierungs- und Manipulierungsfähigkeit und die Fähigkeit der NS-Diktatur, mit dem Abklingen der Wirtschaftskrise weite Teile der Deutschen an sich zu binden.

4. Eine „deutsche Möglichkeit"? Insbesondere Rolf Badstübner hat - breit untermauert - die Auffassung vertreten, die DDR sei eine „deutsche Möglichkeit" (so eine Formulierung von Hermann Rudolph, bei ihm allerdings mit einem Fragezeichen versehen) gewe37 Anton Ackermann, Gibt es einen besonderen deutschen Weg zum Sozialismus?, in: Einheit. Monatsschrift zur Vorbereitung der Sozialistischen Einheitspartei, Berlin, Heft 1, Februar 1946, S. 22-27, hier S. 30. - Die Veröffentlichung in dieser Zeitschrift, von der lediglich drei Ausgaben erschienen und die mit der späteren „theoretischen Zeitschrift" der SED nur den Haupttitel gemeinsam hat, verstärkte wahrscheinlich das Phänomen, dass Ackermanns Aufsatz zwar häufig genannt, aber vermutlich selten vollständig zur Kenntnis genommen wurde. 38 Zum 70. Jahrestag des Beginns der Errichtung der faschistischen Diktatur in Deutschland. Erklärung der Historischen Kommission beim Parteivorstand der PDS vom 10. Dezember 2002, in: http://sozialisten.de/partei/geschichte/view_html? zid=3369&bs=ll&n=ll - das gilt auch für das folgende Zitat. Die Erklärung wurde entworfen von Kurt Finker.

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sen. Der weitgehend unumstrittene Kurs auf einen Weststaat habe den Weg zur DDR geradezu zum „Selbstläufer" werden lassen.39 Infrüheren Jahren hatte er prononcierter die (negative) Rolle der Westalliierten bei der Gründung eines Weststaates herausgestellt. Er unterstellte ihnen, sich früh von den Potsdamer Beschlüssen gelöst zu haben und sie „in solchen entscheidenden Punkten, wie Bodenreform und Monopolbeseitigung, Entnazifizierung und Elitenwechsel, gar nicht oder nur halbherzig und inkonsequent und ohne nachhaltige Wirkung durchgeführt" zu haben.40 Es verblüfft schon, wie selbstverständlich und ohne jede Reflexion er die sowjetischen und DDR-Interpretationen des Potsdamer Abkommens als allgemeingültig voraussetzt - tatsächlich war es nur die „Einheit als Schein" (Ernst Nolte).41 Im Gegenzug zeichnet er ein recht positives Bild der frühen SBZ und der ihr nach seiner Auffassung innewohnenden Entwicklungschancen. „So bildete sich im Zuge gesellschaftspolitischer Umgestaltungen und Elitenwechsel in der Ostzone - alternativ zu der sich regenerierenden bürgerlich-kapitalistischen Nachkriegsgesellschaft in den Westzonen - eine antifaschistisch geprägte Gesellschaft eines ,dritten Weges' heraus. Gemäß den verschiedenen Voten von SED, CDU und LDPD eröffneten sich für den weiteren Ausbau dieser SBZ-Gesellschaft unterschiedliche Möglichkeiten. Sowjetische Präsenz und Stalinisierung engten allerdings diese Möglichkeiten auf eine Variante ein. Die historische Chance, diese Gesellschaft demokratisch auszubauen und sie in Richtung auf einen demokratischen Sozialismus weiterzuentwickeln, wurde blockiert." 42 Damit knüpfte er an die im Dunstkreis der PDS häufig vertretene These einer „demokratischen Frühgeschichte" der SBZ/DDR 43

an. Zwar räumt Badstübner ein, „dass die gesellschaftlichen Umgestaltungen in der SBZ nicht das Ergebnis autochthoner sozialer Bewegungen waren", sondern „vielmehr auf dem Wege administrativer Reformen ,von oben', wenngleich auch mit Unterstützung ,von unten' vollzogen" wurden. Unschwer ist sichtbar, dass für ihn die soziale Umwälzung deutliche Priorität gegenüber dem demokratischen Procedere genießt. Die Einstufung als eine Art „dritten Weges" er39

Rolf Badstübner, Vom „Reich" zum doppelten Deutschland. Gesellschaft und Politik im Umbruch, Berlin 1999, S. 535, 537, 545f. 40 Ders., Alliierte Politik und Besatzungsherrschaft zur Schaffung eines antinazistischen, antimilitaristischen, demokratischen und friedlichen neuen Deutschlands und die Entstehung beider deutscher Staaten, in: Ansichten zur Geschichte (Anm. 10), Bd. 1, S. 44f. 41 Ernst Nolte, Deutschland und der Kalte Krieg, 2., neubearb. Aufl. Stuttgart 1985, S. 135. 42 Badstübner (Anm. 37), S. 546f. 43 Dazu grundsätzlich Hermann Weber, Gab es eine demokratische Vorgeschichte der DDR?, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 43 (1992), S. 272-280.

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scheint mehr alsfragwürdig, entsprach das Transformationskonzept der Sowjets und der KPD-Führung doch nahtlos der geltenden Strategie der kommunistischen Weltbewegung. Das schließt nicht aus, dass bei weiten Teilen der Bevölkerung soziale und Eigentums-Umbrüche populär oder konsensfähig waren. Seine bedingungslose Bevorzugung von Elitenwandel und Enteignungen gegenüber einem demokratischen Verfahren rückt seine Argumentation letztlich in die Kontinuität des orthodoxen Marxismus-Leninismus. Bei genauerer Prüfung stellt sich für Badstübner der Weg der frühen SBZ nicht nur als eine gleichberechtigte Alternative zur Bundesrepublik dar, sondern als der im Kern „bessere" und richtungsweisendere.44 Übergangen wird, dass er zudem nur mit offener oder versteckter Gewalt, mit Eingriffen in die Autonomie der „Bündnispartner" und Rückendeckung durch die Besatzungsmacht durchgesetzt werden konnte. Die bekannten Probleme der Zwangsvereinigung von KPD und SPD zur SED und das Ergebnis der Wahlen im September/Oktober 1946 in Berlin und in der sowjetischen Besatzungszone sprechen eine beredte Sprache. Nicht erst die Stalinisierung der SED45 und der DDR wiesen den Weg in eine Sackgasse. Daher gehen auch zwei häufig vorgebrachte Einwände ins Leere. Erstens: Namhafte westdeutsche Politiker und Eliten hättenfrüher noch als die Alliierten, wenn nicht sogar die Spaltung vorangetrieben, so doch zumindest nicht ernsthaft auf eine deutsche Einheit hingearbeitet.46 Zweitens beklagt er - wie so häufig - einen Antikommunismus. Es wäre wenig realistisch zu erwarten, dass eine Mehrheit der nichtkommunistischen Politiker des Westens oder der dortigen Wähler den erzwungenen Umbrüchen in der sowjetischen Zone von 1945 an, die im Namen des „Antifaschismus" 47 durchgesetzt wurden, zugestimmt hät44

So auch Rolf Badstüber, DDR. Gescheiterte Epochenaltemative, Aufbruch in die Sackgasse oder was sonst? Versuch einer Annäherung, Berlin 1994 - Ähnlich Stefan Doernberg, Zur Legitimität der beiden deutschen Wege nach 1945, in: Ansichten zur Geschichte der DDR (Anm. 10), Bd. IV, S. 123-135. 45 Andreas Malycha hatte - in Anlehnung an Ljudmila Andreevna Mercalowa - einen Katalog von 13 Merkmalen einer stalinistischen Partei erstellt. Dieser umfaßte unter anderem die „zentralistisch organisierte" und „einer einheitlichen Ideologie unterworfene" Partei ebenso wie die Rolle der Gewalt, den Führungsanspruch, das zum Selbstwert hochstilisierte Prinzip der „Einheit und Reinheit" der Partei, die Säuberungen bis hin zur Legitimation durch ein geschlossenes Geschichtsbild. Vgl. Andreas Malycha, Von der Gründung 1945/46 bis zum Mauerbau 1961, in: Die SED. Geschichte - Organisation - Politik. Ein Handbuch, hrsg. von Andreas Herbst, Gerd-Rüdiger Stephan, Jürgen Winkler, Berlin 1997, S. 2-4. 46 So für vieles Badstübner, (Anm. 40), S. 30; Siegfried Schwarz, Adenauers Kurs auf die Zweistaatlichkeit in Deutschland, in: Wie kam es zum 17. Juni 1953? Vortragsreihe I. Deutschlandpolitische Rahmenbedingungen, Berlin 2003, S. 5-25. 47 Das KPD/SED-Verständnis von „Antifaschismus" und seine Adaption in der PDS ist dargestellt bei Herfried Münkler, Antifaschismus als Gründungsmythos der DDR.

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ten oder sie gar für das eigene Besatzungsgebiet übernommen hätten. Insofern ist eine Kooperationsunwilligkeit nicht etwa erklärungsbedürftig, sondern selbstverständlich. Dafür stehen etwa die Namen Kurt Schumachers, Herbert Wehners48 oder - im Negativen - die vielfältigen Wendungen Otto Grotewohls. Dieser hatte im .Frühsommer 1945 das Demokratie-Bekenntnis der KPDFührung ernst genommen, wurde im Sommer 1945 eines Besseren belehrt und wandelte sich zum Exponenten der Eigenständigkeit der Sozialdemokratie, die er im November und Dezember 1945 deutlich herausstellte. Ab Januar 1946 schwenkte er auf die Positionen der Kommunisten ein und mutierte Mitte 1948 zu einem Exponenten der Stalinisierung der SED.49 Das betrifft nicht allein die Begleitumstände der Besetzung durch sowjetische Truppen,50 die in der SBZ/DDR und später in ihrer Historiographie völlig tabuisiert wurden, sondern auch die Etablierung einer kommunistischen Suprematie, deren Eckpfeiler trotz behaupteter Demokratie auch 1945 schon sichtbar waren.51 Auch unter diesen Blickwinkeln legitimiert sich der Weg in die DDR und die spätere Entwicklung des Gesamtstaates weder durch demokratische Prozesse noch durch freiwilliges konsensfähiges Verhalten der wesentlichen politischen Kräfte. Auf der politischen Ebene bekräftigte der PDS-Vorsitzende Lothar Bisky die Absicht, die „Doppelbiographie" des vereinten Deutschlands „in das gesellschaftliche Bewusstsein zu rücken und auf diese Weise das Bild von der Bundesrepublik als Gegenentwurf zu den - ahistorisch nahezu gleich gesetzten ,zwei Diktaturen in Deutschland' zu ergänzen."52 Im Klartext: Die Parallelgeschichte der beiden deutschen Nachkriegsstaaten sollte als Gegenbild zum Diktaturenvergleich dienen und die Bundesrepublik zum Vergleichsmaßstab für die Geschichte der DDR werden lassen. Das längere Thesenpapier der Historischen

Abgrenzungsinstrument nach Westen und Herrschaftsmittel nach innen, sowie Werner Müller, Bruch oder Kontinuität? SED, PDS und ihr „Antifaschismus", jeweils in: Manfred Agethen/Eckhard Jesse/Ehrhart Neubert (Hrsg.): Der missbrauchte Antifaschismus. DDR-Staatsdoktrin und Lebenslüge der deutschen Linken, Freiburg u.a. 2002, S. 79-99 und 363-374. 48 So etwa die berühmten und lange geheimnisumwitterten „Notizen" aus dem Jahre 1946. Herbert Wehner. Zeugnis, hrsg. von Gerhard Jahn, Köln 1982. 49 Vgl. Werner Müller, Die Gründung der SED - Alte Kontroversen und neue Positionen um die Zwangsvereinigung 1946, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 1996, S. 163-180. 50 Immer noch grundlegend Norman Naimark, The Russians in Germany. A History ofthe SovietZone of Occupation, 1945-1949, Cambridge-London 1995. 51 Zuletzt mit vielen instruktiven Beispielen Mike Schmeitzner/Stefan Donth, Die Partei der Diktaturdurchsetzung. KPD/SED in Sachsen 1945-1952, Köln u.a. 2002. 52 Zur deutschen Zweistaatlichkeit. Lothar Bisky zum Thesenpapier der Historischen Kommission, 14. März 1999, http://sozialisten.de/partei/geschichte/view_html?zid=3350 &bs=21k&n=24.

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Kommission der PDS53 versucht in der Tat, die Grundordnungen beider deutscher Staaten gleichrangig und gleichwertig zu behandeln: „Die Spaltung Deutschlands bot die Möglichkeit, die eigenen Leit- und Ordnungsvorstellungen wenigstens in einem Teil durchzusetzen, um sie später auf den anderen übertragen zu können. Beide deutsche Staaten begriffen sich deshalb zunächst als Provisorien, die zu gegebener Zeit um den konkurrierenden Teilstaat zu ergänzen waren. Jede Seite verstand sich als Kernstaat einer kommenden deutschen Einheit." In der Tat ist es sinnvoll, die „Alleinvertretungsansprüche und Einmischungsstrategien" auch der DDR hier zu benennen. Trotz der Länge dieser Stellungnahme vermieden es die Autoren, den Kern der politischen Systemauseinandersetzung klar zu benennen. In marxistischleninistischer Tradition wird statt dessen auf die ökonomischen Gesellschaftsformationen rekurriert: „Die Spaltung Deutschlands war wesentlich mit der Orientierung an völlig unterschiedlichen Gesellschaftsentwürfen verbunden. Während die DDR das Modell des Staatssozialismus übernahm, wurde in der Bundesrepublik ein sozialstaatlich regulierter Kapitalismus bestimmend. Die Verwirklichung der gegensätzlichen Gesellschaftskonzepte ließ beide deutschen Staaten immer weiter auseinanderdriften." Warum nun der östliche „Gesellschaftsentwurf' scheiterte, bleibt dem Leser vorenthalten, jedoch wird sein Zeitpunkt sichtbar gemacht: „Die Abschottung der DDR 1961 und der Rückzug der SED von der gesamtdeutschen Option Anfang der siebziger Jahre waren das faktische Eingeständnis, im Systemwettbewerb bei offenen Grenzen und fortdauernder nationaler Verklammerung nicht bestehen zu können." Nur an einer einzigen Stelle wird der Begriff Demokratie überhaupt erwähnt. Verklausuliert wird sie mit sozialer Sicherheit gleich gewichtet: „Der Mangel an Demokratie und an individuellen Freiheitsrechten, der die DDR-Gesellschaft prägte, entwertet nicht erfahrene soziale Sicherheit und Gerechtigkeit, die garantierte Einbeziehung ins Erwerbsleben sowie erlebte Möglichkeiten eigener Bildung und beruflicher Qualifikation." Dass dieses Verständnis einer „Doppelbiographie" Nachkriegsdeutschlands ziemlich allein auf dem Feld historiographischer Bemühungen stehen dürfte, steht außer Frage. Es bleibt abzuwarten, wie weit die so neu formulierten Prinzipien in der PDS-nahen Historiographie über das im Wesentlichen die Nachkriegsjahre behandelnde Werk Rolf Badstübners hinausgehen. Einen Fingerzeig haben die Verfasser bereits gegeben: Für sie bilden die deutsch-deutschen Beziehungen ein wichtiges Feld. Mit der „neuen Ostpolitik" war eine aus der Retrospektive erwünschte Konstellation von Gleichberechtigung und Gleichrangigkeit gegeben.

53 Die Doppelbiographie der Bundesrepublik (Anm. 15). Alle folgenden Zitate stammen aus diesem „Thesenpapier".

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5. Krisen der DDR in der Retrospektive Die Historische Kommission wie die Führung der PDS gab mitunter aus Anlass „runder" oder weniger runder Jubiläen und Jahrestagen Erklärungen heraus, die naturgemäß historische Probleme in ihrem Sinne interpretierten. Diese Stellungnahmen oszillieren häufig zwischen Entschuldigungen und Relativierungen. Naturgemäß nahm dabei die zwangsweise Gründung der SED als „eigentlicher" Punkt der Staatsgründung einen beträchtlichen Raum ein. 1995 hatte die Historische Kommission bereits eine sehr lange Erklärung publiziert, in der sie für eine faktenorientierte, plurale und von politischem Eifer freie Betrachtungsweise plädierte. Sie unterstrich zudem, sich von allen „Bestrebungen, ein verbindliches Geschichtsbild zu setzen, unmissverständlich verabschiedet" hatte.54 Sie räumt zwar „Zwänge" ein, vor allem ein „breitgefächertes Instrumentarium" der sowjetischen Besatzungsmacht bis hin zu „Inhaftierungen und Aburteilung durch Militärgerichte." Dennoch lehnte sie den Begriff der Zwangsvereinigung vehement ab; Die tatsächlichen Vorbehalte nicht nur unter Sozialdemokraten wurden vergleichsweise en passant verzeichnet: „Gleichwohl sind zeitgenössisch auch prinzipielle Einwendungen gegen einen auf solche Weise motivierten Zusammenschluß von Sozialdemokraten und Kommunisten vorgetragen worden, weil es sich um zwei unvereinbare politische Strömungen handle oder weil eine mehr gefühlsmäßig bejahte Einheit nicht dauerhaft tragfähig sei. In diesem Zusammenhang sind Warnungen ausgesprochen worden, die sich durch die spätere Entwicklung der Einheitspartei als nicht unbegründet erweisen sollten, Warnungen vor einem überwiegend taktisch angelegten Bekenntnis der KPDFührung zur Demokratie, Warnungen vor einer Auslieferung von Arbeiterorganisationen an die Siegermacht UdSSR." Die Taktik des Gleichsetzens kommt hier ebenso zum Tragen: „Zwängen waren auch die Vorkämpfer der Einheitspartei in den Westzonen ausgesetzt. Die dortige SPD-Führung drohte mit Ausschluß. Von den Besatzungsmächten wurden sie mit vielfältigen Ausgrenzungen und repressiven Maßnahmen belegt. Hier reichte das Instrumentarium von Benachteiligungen beim Zulassen von Parteien und Gewerkschaften, bei der Lizenzierung und Zensierung der Presse". Mit dem Begriff „Zwänge" werden nun fundamentale Unterschiede nivelliert. Verhaftungen mit langjährigen Lager- und Zuchthausstrafen blieben das „Privileg" der SBZ. Die Pressezensur der Sowjets, die jede Äußerung gegen die Zwangsvereinigung rigide zu unterbinden trachtete, und die relativ milde Pressezensur der Briten und Amerikaner auf eine Stufe zu stellen, ist nichts anderes

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Zum Zusammenschluß von KPD und SPD 1946. Erklärung der Historischen Kommission vom Dezember 1995 in: http://sozialisten.de/partei/geschichte/view_html? zid=3364&bs=31&n=38, S. 1. Daraus stammen auch die folgenden Zitate.

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als der Appell an die Unkenntnis des Lesers.55 Neben dieser gewundenen Stellungnahme gab es aus dem Kreis der DDR-Wissenschaftseliten eine Publikation, die die DDR-Maximen zum Thema ohne jeden Bruch übernahm.56 Die Geschichte ließ die PDS im wahrsten Sinne des Wortes nicht los. Im April 2001 erklärte die damalige Parteivorsitzende Gabi Zimmer aus Anlass des 55. Jahrestages der SED-Gründung: „Viele, die sich damals dem Zusammenschluss von KPD und SPD verweigerten, bezahlten das mit ihrer Freiheit, ihrer Gesundheit, nicht wenige mit ihrem Leben", nachdem sie eingangs die häufig wiederholten „Sünden" der Sozialdemokratie und der Kommunisten aufgeführt hatte.57 Der Parteivorstand korrigierte unmittelbar darauf die Position öffentlich und hielt fest: „Die Vereinigung von KPD und SPD war historisch legitim und bedarf keiner Entschuldigung. Nicht die Vereinigung, sondern die Art und Weise der Vereinigung beider Parteien und vor allem ihre spätere Vereinheitlichung [...] muss Gegenstand unserer historischen Kritik sein."58 Es folgen wieder einmal die allgemeingültigen „Lehren": „Die Tragödie der Spaltung der Arbeiterbewegung ist Teil der Tragödie des 20. Jahrhunderts. Sie wirken bis heute nach und erschweren politische Kooperation." Eine besondere Herausforderung mussten für die PDS-Historiker die Gedenktage für die Ereignisse der Jahre 1953, 1961, 1968 und 1989 werden, die die tiefen Existenzkrisen des Staatssozialismus sowjetischen Typs verkörpern. Diese Brüche werden insgesamt als Weg und (verpasste) Chancen für einen nichtstalinistischen59 und (im Sinne der PDS-Historiker) demokratischen Sozialismus ins Feld geführt. Die Historische Kommission konzedierte im April 2004, dass der Arbeiteraufstand, der in einen Volksaufstand überging, in der „Hauptsache" eine „spontane Arbeitererhebung" gewesen sei. „Klassische" Ar55 Vgl. zu den Westzonen Werner Müller, Die KPD und die „Einheit der Arbeiterklasse", Frankfurt a.M. 1979. 56 Hans-Joachim Krusch, Irrweg oder Alternative? Vereinigungsbestrebungen der Arbeiterparteien 1945/46 und gesellschaftspolitische Forderungen, Köln 1996. 57 Vor 55 Jahren: gewollt [sie] und verfolgt. Geschichte lässt sich nicht aufrechnen, in: http://sozialisten.de/partei/geschichte/view__html?zid=3345&bs=l 1 &n=l9. 58 Auseinandersetzung mit der Geschichte nicht instrumentalisieren. Der Parteivorstand der PDS hat sich in seiner Beratung am 5. Mai 2001 mit der von Gabi Zimmer und Petra Pau abgegebenen Erklärung vom 18. April 2001 zur Vereinigung von KPD und SPD ausgelösten Diskussionen auf folgende Positionen verständigt, in: http://sozialisten.de/partei/geschichte/view_html?zid=3344&bs=l 1 &n= 18. 59 Vgl. etwa das in weiten Teilen für diesen Kreis (bis auf das „Reizwort" totalitär) verallgemeinerungsfähige Stalinismus-Konzept von Gerhard Lozek. Er führt als Merkmale an: 1. das stalinistische Parteienverständnis, 2. das totalitäre politische System, 3. Partei gängelt Wirtschaft, 4. Misstrauen bestimmt Sicherheitsdoktrin und 5. der nationale Defekt. So Gerhard Lozek, Stalinismus - Ideologie, Gesellschaftskonzept oder was?, hrsg. vom Verein „Helle Panke" e.V., 2. Aufl., Berlin 1994, S. 18-23.

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beitskampfforderungen wären auch erfolgreich gewesen.60 Den Charakter einer Revolution sprach sie dem Aufstand ab. Anklänge an frühere DDR-Interpretationen waren offenkundig unvermeidlich; so taucht „die Wirksamkeit jahrelanger antikommunistischer Propaganda" ebenso auf wie die „Psychological warfare". Der Fülle der bekannten Fakten61 konnte diese Erklärung kaum etwas hinzufügen, stritt aber auch weithin Bekanntes nicht ab, auch was den Umfang der Aktionen und die Zahl der Beteiligten anbetrifft. Erfolg und Scheitern liegen für die PDS-Historiker eng beieinander: Stabilisierung der DDR und Scheitern einer Demokratisierung. Zum Ersten: „Doch anders als in jenen Staaten, die schonfrüher zum Sozialismus sowjetischer Prägung übergegangen waren, führte dieser Kurs [der „Neue Kurs"] in der DDR auch zur anhaltenden Neubelebung der Privatwirtschaft, gewährleistete er den Fortbestand des Demokratischen Blocks samt seiner nichtkommunistischen Parteien sowie die Entspannung zwischen Staat und Kirchen." Nun ja, dass die Privatwirtschaft schnell in das Prokrustesbett der „halbstaatlichen Betriebe" gezwungen wurde, übergehen die Verfasser; allerdings ist der zweiten Konklusion zuzustimmen: „Alle, die einen demokratischen Sozialismus gefordert hatten, wurden so oder so zum Schweigen gebracht, und viele von ihnen verließen das Land."62 Mehrere Publikationen aus dem Umkreis der PDS-Historiker unterstreichen den Tenor der Erklärung der Historischen Kommission. Günter Benser untersucht die II. Parteikonferenz, eine „durchkomponierte politische Großveranstaltung", die er für weniger bedeutsam hält. Eher sei es die danach durchgeführte politische Praxis, „die zu schlimmen Verwerfungen führte." 63 Die Konsequenz für ihn ist eindeutig: „So bleibt als Fazit, dass zwischen dem Aufbau des Sozialismus als fundamentalem Ziel und der Praxis einer durch Klassenkampf von oben forcierten Transformation der DDR zu unterscheiden ist." Jörg Rösler geht dem Zusammenhang von „lohnpolitischen und hochpolitischen Forderungen der Arbeiter" nach. „Der Aufstand gegen die Norm wurde zum Aufstand gegen die »Normierer' - wenn man Norm im weiteren Sinne interpretiert - gegen die im Osten Deutschlands etablierte sowjetische Variante des planwirtschaftlichen

60 Der 17. Juni 1953 - eine spontane Arbeitererhebung. Erklärung der Historischen Kommission beim Parteivorstand der PDS, 25. April 2003, in: http://sozialisten.de/ partei/geschichte/view_html?zid=3 3 71 &bs= 1 &n=9. 61 Angesichts der Fülle der Literatur zum 17. Juni sei hier nur auf die Sammelbesprechung von Eckhard Jesse verwiesen. Ders., Viel Altes, wenig Neues über den 17. Juni 1953 fünfzig Jahre danach, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Band 16, Baden-Baden 2004, S. 262-277. Ein Abschnitt ist auch der „PDS-nahen Literatur" gewidmet (S. 273-275). 62 Der 17. Juni 1953 (Anm. 60), S. 4. 63 Günter Benser, Als der Aufbau des Sozialismus verkündet wurde. Eine Rückschau auf die II. Parteikonferenz der SED mit Dokumentenanhang, Berlin 2002, S. 50.

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und politischen Systems."64 Hinweise der streikenden Arbeiter, die verstaatlichten Betriebe wieder zu privatisieren, fehlen vollkommen. Plausibel sind seine Folgerungen, die Forderung der Streikenden nach Absetzung der Regierung hätte im Erfolgsfalle wahrscheinlich in einer gesamtdeutschen SPD-geführten Regierung gemündet/5 Roeslers nüchterner und abwägender Analyse ging ein Beitrag von Siegfried Prokop voraus, der sich einerseits differenziert mit den Mythen in Ost und West um dieses Datum herum auseinandersetzt und andererseits zeigen will, „dass es 1952/53 in der deutschen Frage keine Situation einer alternativlosen Politik gab." Ob eine „von Ende Mai bis Ende Juni 1953 modifizierte sowjetische Deutschlandpolitik [...] sehr wohl Bewegungsmöglichkeiten in eine andere Richtung" eröffnet hätte,66 durfte nach wie vor nicht definitiv zu beantworten sein. Auch die Erklärung der Historischen Kommission zum 40. Jahrestag des Mauerbaus weist ambivalente Züge auf. Wie nicht selten, beklagen die Autoren zunächst das Verharren von Politik und Medien in „liebgewordenen Klischees" und fordern eine „sachkundige und kritische Auseinandersetzung",67 zu der ihre Erklärung selbst allerdings wenig Neues beiträgt. „Mit den Maßnahmen zum 13. August wollte die Partei- und Staatsführung in einer Art Befreiungsschlag mit den nicht mehr beherrschbaren Schwierigkeiten fertig werden. Was als Sieg gefeiert wurde, war in Wahrheit eine schwere Niederlage in der Systemauseinandersetzung auf deutschem Boden." Unstrittig dürften auch die Feststellungen sein, dass die Mauer „letztlich zu einem Kainsmal" wurde, „das die DDR auf internationalem Parkett isolierte und die sozialistische Idee diskreditierte." Der PDS-Vorstand ging noch einen Schritt weiter. Mit seiner Distanzierung zum Mauerbau wiederholt er die Erklärung, die PDS habe sich „vom Stalinismus der SED unwiderruflich befreit." 68 Wie auch in den Verlautbarungen zu den Krisen der Jahre 1953 und 1961, fehlt auch bei der Erinnerung an die Unterdrückung des „Prager Frühlings" von 1968 eine - wenn auch nur partielle - Schuldzuweisung an den Westen oder an den „Kapitalismus". Die PDS markiert (durchaus konsensfahig) die Intervention 64

Jörg Roesler, Der 17. Juni 1953. Aufstand gegen die Norm?, Berlin 2002, S. 42. Ebd., S. 38. 66 1Siegfried Prokop, Der 17. Juni 1953. Geschichtsmythen und historischer Prozess. Konzepte - Zeitzeugen - Chronik, Berlin 2003, S. 46. 67 Erklärung zum 40. Jahrestag des Baus der Berliner Mauer, 26. Juni 2001, in: http ://sozialisten. de/partei/geschichte/view_html?zid=3342&bs= 11 &n= 16. 68 Die PDS hat sich vom Stalinismus der SED unwiderruflich befreit. Erklärung des Parteivorstandes der PDS zum 13. August 1961, 13. Juli 2001, in: http://sozialisten.de/ partei/geschichte/view_html?zid=3340&bs=l l & n = l 5. 65

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der Warschauer-Pakt-Staaten als das Scheitern des „letzten Versuchs einer demokratischen Erneuerung des Realsozialismus".69 Ging es hier nur um eine bessere Alternative zum Realsozialismus, so zeigt sich bei der Bewertung der „Wende" deutlich die Präferenz eines gewünschten „dritten Weges". Für PDSHistoriker stellen sich die Wiedervereinigung und die pluralistische Demokratie eindeutig als negative Variante dar. „Für die DDR endete der epochale Umbruch mit der Aufgabe ihrer Souveränität und dem Beitritt zur BRD. Damit wurden alle Lebensbereiche dem Diktat einer immer weniger ,sozialen4, einer neoliberal dirigierten Marktwirtschaft, des Kapitalismus unterworfen. Die bisherigen DDR-Bürger gerieten in eine Gesellschaft, die selbst umfassend von Struktur- und Wirtschaftskrisen geschüttelt wird." 70 Sie stellen die demokratische Massenbewegung des Oktober und frühen November heraus und unterstreichen deren Ziele einer erneuerten und souveränen DDR. Sie konstatieren eine Kluft zwischen Bürgerbewegungen und SED. Deren Mitglieder und Funktionäre begegneten der Forderung nach Beseitigung der „Allmacht" der Partei und der „Auflösung des MfS" mit „Unverständnis und Widerspruch. Dies verhinderte ein koordiniertes Zusammenwirken". Offenkundig sind die PDSHistoriker der Meinung, dass sich SED-Funktionäre an die Spitze der Reformbewegung hätten stellen können und sollen. Unstreitig ist, dass das einer Selbstaufgabe der Bürgerbewegung gleichgekommen wäre. Nach wie vor ist eine detaillierte Untersuchung des Reformpotentials in der SED ein Desiderat. Dass allerdings der von vielen zu diesem gerechnete Hans Modrow dazu zählen könnte, dürfte auszuschließen sein, wenn man seine Erinnerungen würdigt. Die Perestroika war für ihn rückschauend kein Umbau, sondern eine Demontage.71 Schlimmer noch war für ihn allerdings Gorbatschows Deutschlandpolitik: Sie war dessen „größte außenpolitische Fehlleistung".72 Die PDS-Historiker sehen folgerichtig die Vereinigung Deutschlands nicht als Resultat demokratischer Mehrheiten, sondern der Steuerung von außen: „Mit dem Fall der Mauer, dem moralischen und politischen Bankrott der SEDFührung und unter der unmittelbaren Einwirkung westdeutscher Akteure endete

69 PDS und Präger Frühling 1968-1998. Erklärung angesichts der 30. Wiederkehr der militärischen Intervention von Staaten des Warschauer Vertrages in die CSSR, 14. August 1998, in: http://sozialisten.de/partei/geschichte/view_html?zid=3358& bs=31&n=32. 70 Herbst 89: Für eine andere DDR - Chancen und Grenzen. Erklärung der Historischen Kommission beim Parteivorstand der PDS, in: http://sozialisten.de/partei/ geschichte/view_html?zid=24040&bs=l&n=l - von dort stammt auch das folgende Zitat. 71 Hans Modrow, Die Perestroika. Wie ich sie sehe. Persönliche Erinnerungen und Analysen eines Jahrzehnts, das die Welt veränderte, Berlin 1998.

Ebd., S. 19.

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sie mit der Neuvergabe der Macht und der Einrichtung eines politischen Systems, das die Restauration des Kapitalismus vollzog".73 Auch die parlamentarische Demokratie wird skeptisch bewertet: Sie zeigte, „dass auch im Rechtsstaat der Willen und die Interessen des Volkes verzerrt oder gar missachtet werden können. Die Lebensleistungen nicht weniger Bürger wurden entwertet, und für viele führte der Weg in den sozialen Abstieg."74 Modrow selbst brachte es auf die Formel: „Von der Demokratie allein wurde keiner satt."75 - Wohlgemerkt: Er sprach nicht von der Weltwirtschaftskrise und dem Ende der Weimarer Republik! Schwere Geschütze auf der einen Seite (gegen Prozess und Folgen der Vereinigung) sowie differenzierte Bewertungen der Ursachen des Untergangs der DDR auf der anderen Seite trug bereits 1993 Siegfried Prokop vor. Die Ursachen des Zusammenbruchs der DDR sah er in ihr selbst begründet; es war die „Implosion eines extrem hierarchischen Systems".76 Gängige Interpretationen aus dem PDS-Umkreis, so den „Verrat" Gorbatschows77 oder die „Intervention" durch die Bundesrepublik, als „Revolution/Konterrevolution" durch die Bürgerbewegungen lehnte er ab. Umso heftiger kritisiert er die Defizite seit 1990: „Mit der DDR wurde auch der frische Demokratie-Ansatz der Bürger- und Volksbewegung und der vielen Runden Tische abgewickelt. Aber gerade dieses Mitbringsel der ,zweiten' DDR wäre bei der Überwindung der Verkrustungen der westdeutschen Parteienbürokratie hilfreich gewesen." Seine Liste der Liste der Fehler ist naturgemäß sehr lang: Er geißelt ein „Sonderrecht" für die Ostdeutschen statt der versprochenen Rechtsstaatlichkeit, laufend Durchbrechungen des Einigungsvertrages, den „nachteiligen Auswirkungen der Vermögensregelung" bis hin zur „repressiven Behandlung der ostdeutschen Eliten."78 Stefan Bollinger, einer der wenigen Vertreter einer jüngeren als der „FDJGeneration" angehörenden Historiker, zeigte Skepsis gegenüber der Chance eines demokratisch reformierten Sozialismus in der DDR nach 1989. „Aber nüchtern muss festgestellt werden: Ob es 1989 noch eine Chance gab, ist fraglich. Eine Reform des Staatssozialismus, sein Wandel zu einer demokratischsozialistischen Gesellschaft irgendwann zwischen 1968 und 1989 hätte möglicherweise auch nicht den Triumph des Kapitalismus verhindert. Die Produktiv73

Herbst 1989 (Anm. 70), S. 2. Ebd. 75 Modrow (Anm. 71), S. 184. 76 Horsta Krum/Siegfried Prokop, Das letzte Jahr der DDR. Implosion - Einigungsvertrag - „distinct society"?, Berlin 1994, S. 9. 77 So vehement vorgetragen etwa von Eberhard Czichon/Heinz Marohn, Das Geschenk. Die DDR im Perestroika-Ausverkauf. Ein Report, 2. Aufl., Köln 1999, S. 344ff. 78 Krum/Prokop (Anm. 76), S. 28, 29, 31. 74

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kraftrevolution mit der völlig neuen Rolle von Information und Informationstechnik hat weitreichende wirtschaftliche und soziale Folgen, für die bislang kein System adäquate Antworten hat. Aber eine erfolgreiche Veränderung des Realsozialismus, die tatsächliche Einbeziehung der Bürger, verwirklichte soziale wie politische Grundrechte hätte auch bei einem Weg in die deutsche Einheit zu anderen Ergebnissen geführt." 79 „Gescheiterter Staatssozialismus" und „zerstörerischer Kapitalismus" brachten aus seiner Sicht die PDS in ein Dilemma zwischen Scylla und Charybdis: Sie „ist heute nur hier und da in der Regierung. Sie steht dort infolge der Knappheit in den Kassen der Regierung ständig vor der Frage, zu prüfen, in welchem Maße sie den Abbau sozialer Substanz zu Lasten der Schwächsten und zugunsten der Sanierung des bestehenden Systems vermeiden oder tolerieren kann."80 Der sichtbaren Skepsis gegenüber der Regierungsbeteiligung der PDS ging eine Fundamentalkritik der Verhältnisse im vereinigten Deutschland voraus, die auch von der Historischen Kommission der PDS fast wörtlich übernommen wurde, allerdings ohne den Passus über die Regierungsbeteiligung: „Das Land steckt tief in einer sozialen und moralischen Krise, in der die Untauglichkeit des auf Profitmacherei ausgerichteten Systems, elementare und lebenswichtige aktuelle wie Entwicklungsprobleme in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft zu meistern, immer offenkundiger wird und der Druck, sie zu lösen, wächst."81

6. DDR-Alltag in der Retrospektive Allgemein üblich, pflegen rückschauende Urteile mit größerer historischer Distanz milder und versöhnlicher zu werden. In den Medien wird seit Jahren eine „DDR-Nostalgie" entweder beklagt, mit Freude oder mit Skepsis zur Kenntnis genommen. Wiederum Stefan Bollinger hält fest: „Augenscheinlich gilt auch für die DDR, dass zeitlicher Abstand nicht nur zu milderen Urteilen, sondern auch zu differenzierteren Einsichten führt. In der wissenschaftlichen Aufarbeitung der DDR ist dabei eine tendenzielle Verlagerung weg von rein machtpolitischen und totalitarismustheoretischen Betrachtungsweisen hin zu stärker alltagsgeschichtlichen und differenzierten Einschätzungen zu beobachten. Daran hat allerdings auch das Beharrungsvermögen der ostdeutschen Historikerschaft eine Aktie, die als einzige Gesellschaftswissenschaft recht geschlossen sowohl

79 Stefan Bollinger, Als die Verhältnisse tanzen lernten. Kalenderblätter einer abgebrochenen Revolution zwischen Herbst 1989 und Frühjahr 1990, Berlin 2004, S. 8. 80 Ebd., S. 45.

81

Ebd., S. 44; sowie Herbst 1989 (Anm. 14), S. 6.

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ausgegrenzt wie widerständig agiert, ohne in ihrer Mehrheit einer neuen Apologie zu verfallen." 82 Hier werden sowohl berechtigte Defizite vorgebracht als auch offene Türen eingerannt. Zunächst muss in diesem Zusammenhang auf die Problematik der Kategorie „Alltag" als Gegenstand historischer Forschung nicht erneut eingegangen werden. Auch für das Themenfeld DDR ist das nicht unbedingt ein neuer Zugang.83 Die beiden Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages hatten sich bereits dieses Themas angenommen.84 Es kann also den PDS-nahen Autoren nicht um Ergänzung und Vertiefung, sondern um die Korrektur eines aus ihrer Sicht von „westdeutscher Deutungsmacht"85 gezeichneten Bildes gehen. Dagegen pochen die Ostdeutschen, so unterstellt Evemarie Badstübner, „zunehmend auf das Recht, eine eigene kritische Erinnerungskultur auszubilden, und bestehen darauf, ihre durchaus heterogenen Lebenserfahrungen in die Geschichtsdebatten, aber auch in die übergreifenden gesellschaftlichen Diskurse der Gegenwart einzubringen, ohne sich ständig als Mitläufer oder Täter verteidigen zu müssen."86 Wer bestreitet denn „das Recht", und wer zwingt, sich zu „verteidigen"? Alltagsgeschichte soll nach dem Willen der PDS-Autoren „nicht gleich in dem ersten Beitrag mit einer Welt der vorgefertigten, dem Sozialismus auf den Leib verordneten theoretischen Klischees konfrontiert werden, die nicht mit Begriffen wie totalitärer Staat, Unrechtssystem, menschenfeindlicher Diktatur und dergleichen von vornherein der leichtfüßigen Interpretation aller soziologischen Daten den Weg ebnen."87 Es ist schwer nachvollziehbar, gegen welche Windmühlenflügel hier angekämpft wird. Oder soll nur vermieden werden, nach dem Alltag in einer Diktatur zu fragen? In der Tat haben die PDS-nahen Autoren zum Bereich Alltag eine Fülle von Publikationen vorgelegt. Einefrühe Rückschau auf die Erarbeitung der Alltagsgeschichte in der DDR verweist auf die schwierigen Anfänge: Partei- und Staatsführung nahmen in der Ära Honecker mehr und mehr „das Wissen um die 82

Bollinger, (Anm. 79), S. 1 lf. Vgl. die Beiträge von Thomas Lindenberg, Die DDR als Gegenstand von „Gesellschaftsgeschichte" sowie von Annette Kaminsky, Alltagskultur und Konsumpolitik, jeweils in: Eppelmann/Faulenbach/Mählert, (Anm. 21), S. 239-245, 246-253. 84 Vgl. insbesondere Enquete-Kommission (Anm. 16), Bd. V: Alltagsleben. 85 Evemarie Badstübner: Editorial, in: Dies. (Hrsg.), Befremdlich anders. Leben in der DDR. Mit Nachbetrachtungen von Dietrich Mühlberg, 2. Aufl., Berlin 2000, S. 7. 86 Ebd. 87 So „Im Namen der Herausgeber" Reinhard Mocek, Einleitung, in: Ansichten zur Geschichte der DDR (Anm. 10), Bd. VII, S. 12. Die Bände V I I und V I I I dieser Reihe sind dem Thema „Alltag" gewidmet. 83

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,Befindlichkeiten 4 der Bevölkerung [...] nur noch als Belästigung wahr". 88 Ansonsten wird ein breites Feld an Themen abgedeckt, das selbstverständlich manche DDR-Besonderheit erschließt. Das betrifft auch den politischen Rahmen, etwa den Alltag in der FDJ oder die Brigade als Kulminationspunkt der „Arbeitsgesellschaft" DDR, über das Leben in Plattenbausiedlungen bis hin zu Ehe, Familie und Sexualität. Die vielfach informativen und datenreichen Beiträge kommen jedoch mitunter ohne eine ideologisch-politische Dogmensetzung nicht aus: „In der DDR herrschten grundlegend andere ökonomische Verhältnisse als in allen Gesellschaften vorher. Partnersuche und Partnerfindung, Familiengründung, Sexualität waren nicht mehr oder nur in beschränktem Maße an Eigentum, insbesondere an Eigentum von Produktionsmitteln, gebunden",89 wird dem Leser mitgeteilt. Dieser erfährt später, dass sich die Realität hier von den „Bruderländern" wie Polen oder der Sowjetunion deutlich unterschied. Allerdings werden auch die Schattenseiten der DDR berührt. Dauermangel und Alltagsverhalten prüft der Wirtschaftswissenschaftler Harry Nick. Die Ursache des Ersteren sieht er in der „Interessenlage der Betriebe", die sich auch auf die Umsetzung technischer Neuerungen und Entwicklungen in die Produktion hemmend auswirkte.90 In einer weiteren Publikation hat er ihn als „das kräftigste Gift für technologische Erneuerung und wirtschaftliche Rationalität" bezeichnet.91 Schließlich gibt er eine Antwort auf die Frage, warum das „in den untergegangenen Planwirtschaften" noch untersuchenswert sei. Nachzuvollziehen ist seine Ansicht, dass diejenigen, die Mühe, Fleiß, Interesse und Wissen dafür eingesetzt haben „und die dann so furchtbar enttäuscht wurden", einen Anspruch auf Kenntnis der Wahrheit hätten. Darüber hinaus wird die Vision des „dritten Weges" bemüht.92 Der Soziologe Günter Manz widmet sich dem Thema Armut, ein in der DDR tabuisiertes Feld. Schwer vorstellbar wäre vor 1989 eine nüchterne Untersuchung jenseits des offiziellen Freundschafts-Pathos über das Verhältnis der Ostdeutschen zu „den Russen" gewesen. Es folgt hier nicht nur eine plausible Bilanz, sondern auch der erfreuliche Verzicht auf die Polemik gegen den „Westen": Der „schwierige Umgang mit dieser schwierigen Fremdheit" evozierte

88 Jörn Schütrumpf, Alltag in der DDR. Beobachtungen, in: Ansichten zur Geschichte der DDR (Anm. 10), Bd. III, S. 258. 89 Kurt Starke, Die ungewöhnliche Sexualität in der DDR, in: Ansichten zur Geschichte (Anm. 10), Bd. VIII, S. 161. 90 Harry Nick, Dauermangel und Alltagsverhalten, in: Ansichten zur Geschichte (Anm. 10), Bd. VII, S. 145 und 147. 91 Ders., Mangelwirtschaft in der DDR. Ursachen und Wirkungen, Berlin 2001, S. 26.

Ebd., S. 49.

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„Orientierungs- und Verhaltensunsicherheiten im Umgang mit anderen Lebensweisen und Kulturen". 93 Ebenfalls weiterführend erscheint Wilfriede Ottos Beitrag über Normen und Riten im DDR-Alltag. Sie verknüpft im historischen Längsschnitt die Maßstäbe und Erwartungshaltungen der DDR-Führung mit den Mechanismen von Disziplinierung, Unterdrückung sowie „repressivefr] Begrenzung der Handlungsfähigkeit des Einzelnen" - eine Sicht auf den Alltag, die vielfältige Zwänge und Abhängigkeiten deutlich macht. Als eine der wenigen Ausnahmen findet sich bei ihr die Erwähnung der Staatssicherheit und der Parteisäuberungen.94 An anderer Stelle werden Konflikte im Zuge der Remilitarisierung der%DDR thematisiert.95 In der Tat bietet die Alltagsgeschichte aus der Sicht PDS-naher Forscher eine recht breite und facettenreiche Palette von Bildern der DDR-Wirklichkeit, die naturgemäß struktur- und herrschaftsgeschichtliche Fragestellungen nicht ersetzen kann. Aber das Feld ist weder neu96 noch kann es ein „Monopol" einer bestimmten Forschergruppe sein. Der Vorwurf der PDS: „Die politischen und Lebenserfahrungen der Mehrheit der ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger wurden weiterhin verdrängt oder missachtet",97 ist auch aus dem Blickwinkel der Alltagsgeschichte unseriös. Hans Steußloff versuchte darüber hinaus empirisch eine „Ostidentität" nachzuweisen. Sie sei „die spezifische Art und Weise, wie Ostdeutsche sich zu ihrem Leben in der DDR sowie zum Übergang in die Bundesrepublik verhalten und ihr Leben im vereinten Deutschland einrichten. Dabei gibt es im Vergleich zu Westdeutschen sowohl Unterschiede wie Gemeinsamkeiten."98

93

Evamarie Badstübner-Peters, Über uns und über die „Russen". Zur Alltagsgeschichte (ost)deutsch-sowjetischer Beziehungen, in: Ansichten zur Geschichte (Anm. 10), Bd. VII, S. 272. 94 Wilfriede Otto, Normen und Rituale im SED-Alltag, in: Ansichten zur Geschichte (Anm. 10), Bd. VII, S. 319-352, Zitat S. 341. 95 Günther Glaser, „Niemand von uns wollte wieder eine Uniform anziehen..." Konflikte in der kasernierten Volkspolizei 1948-1952, in: Badstübner (Anm. 85), S. 312348. 96 Vgl. etwa aus dem „Mainstream" der von der PDS abgelehnten Geschichtsschreibung Lutz Niethammer, Die volkseigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR, Berlin 1991. Oder: Hartmut Kaelble, Jürgen Kocka, Hartmut Zwahr (Hrsg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994. 97 Gemeinsame Erklärung des Parteivorstandes und der Bundestagsgruppe der PDS zum Schlussbericht der Enquete-Kommission des 13. Bundestages, 17. Juni 1998, in: Ansichten zur Geschichte (Anm. 10), Bd. XI, S. 10. 98 Hans Steußloff, Zur Identität der Ostdeutschen. Merkmale und Tendenzen eines Phänomens, Berlin 2000, S. 5.

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7. Parallelgeschichte und „Dritter Weg" Wissenschaftliche Fragestellungen sind naturgemäß nicht eo ipso obsolet oder plausibel. Das Konzept einer Parallelgeschichte muss letztlich „nur" den Prüfstand seiner Leistungs- und Erklärungsfähigkeit absolvieren. Vorschnelle und unreflektierte Anwürfe einer „holzhammerartigen ideologischen und politischen ,Delegitimierung' der DDR, wie sie auch heute noch vorherrscht, systematisch, auch Parlaments- und regierungsamtlich betrieben",99 stellen ihre Verfasser nicht ins Abseits, mindern aber beträchtlich Resonanz- und Dialogchancen. Schlimmer noch: Sie bringen sich in den Geruch, die leidige „Hauptverwaltung Ewige Wahrheiten" wieder aufleben zu lassen. Wissenschaft bedeutet Methoden- und Fragestellungspluralismus. Das schließt selbstverständlich (und mit nicht geringer Priorität) die Untersuchung politischer Systeme ein. Totalitarismustheoretische und diktaturgeschichtliche Fragstellungen von vornherein auszugrenzen oder gar für illegal zu erklären, ist schlichtweg unwissenschaftlich. Ferner verengen die PDS-Wissenschaftler permanent die pluralistische Forscherlandschaft der alten und neuen Bundesrepublik auf eine einzige „herrschende Lehre" oder die „Geschichtsschreibung der Sieger". Es fällt auf, dass in diesem Zusammenhang Pluralismus immer die gleichberechtigte Einbeziehung der PDS-Positionen in die Debatten meint. Das Konzept der Parallelgeschichte, wie es die PDS-Historiker verwenden, birgt zweifelsfrei die Gefahr von Methodenmonismus, damit des Abgleitens in Einseitigkeit. Eine Reihe von PDS-nahen Autoren kehrt darüber hinaus sozusagen noch den Spieß um und entwickelte daraus Aspekte einer Fundamentalkritik der Bundesrepublik.100 Nicht nur dort sind vielfältige Ansätze eines Gleichsetzens von West- und Ostdeutschland zu sehen, ein Verfahren, das „zu Lasten" der DDR ja immer abgelehnt wird. So forderte die PDS mehr als einmal, „nunmehr endlich auch die Opfer politischer Verfolgung in der Bundesrepublik zu rehabilitieren und notwendige Wiedergutmachung zu leisten."101 Das Konzept des „dritten Weges" jenseits von Kapitalismus und Stalinismus wird von vielen Autoren als Perspektive beschworen. Wie nun dieser angestrebte „demokratische Sozialismus" auszusehen hat, ist eine Frage politischer Einstellungen und kann somit kaum Maxime für wissenschaftliche Urteilsbildung sein. Dieses bei vielen Autoren schon fast mit Bekennerdrang vorgebrachte politische Ziel gemahnt in seiner Ritualhaftigkeit an die Grundzüge der penetranten „Parteilichkeit" der früheren DDR-Historiographie. Zweifelsohne ist Ge99

So für viele Nick (Anm. 91), S. 49. Vgl. dazu die meisten Beiträge in dem Band: Gegen den Zeitgeist (Anm. 31). 101 Gemeinsame Erklärung des Parteivorstandes und der Bundestagsgruppe der PDS (Anm. 97), S. 10. 100

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schichtsschreibung nicht interessen- und wertfrei. Ihre Erträge vorwiegend an politischen Maximen zu messen, kann nicht sinnvoll sein. Sicherlich repräsentieren die beiden genannten Momente den größten Teil des PDS-Wissenschaftsspektrums. Aber es gibt auch Anknüpfungen an die „reine Lehre" aus den Jahren vor 1989. Kurt Gossweiler resümierte kurz und bündig: „Es ist unsere Aufgabe, diesen Prozeß zu beschleunigen, damit die kommunistische Bewegung wieder eine geschichtsmächtige Bewegung wird, noch bevor der Imperialismus die Menschheit in den Untergang getrieben hat." 102 Der Prozess, auf den er sich bezog, meinte, „den Revisionismus im Keime" zu ersticken - die Wissenschaft im Umkreis der PDS zeigt ein Janusgesicht.

102

Kurt Gossweiler, Wider den Revisionismus. Aufsätze, Vorträge, Briefe aus sechs Jahrzehnten, München 1997, S. 385.

Alltag und Herrschaft in der DDR Unterschiedliche Alltagsstrategien

Von Ehrhart Neubert

1. Einleitende Überlegungen Die Alltagsforschung im Kontext des sozialen Wandels und die diese begleitende Theoriebildung nahm von den sechziger Jahren an in der Bundesrepublik einen kräftigen Aufschwung. Sie beeinflusste die verschiedensten Zweige der Soziologie und wirkte sich auch auf die Kulturwissenschaften sowie die historischen und politischen Wissenschaften aus. Die Gesellschaftsentwicklung Westdeutschlands, verbunden mit den wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, verlangte nach der Analyse von Orientierungsmöglichkeiten in der sich verändernden Lebenswelt, vor allem den Folgen von Individualisierungsund Enttraditionalisierungsprozessen. Aspekte der politischen Herrschaft, soweit diese nicht aus den Zwängen sozialer oder ökonomischer Strukturen hergeleitet waren, spielten zumeist eine untergeordnete Rolle. Allerdings sind auch sie nicht ausgeblendet, da „Alltag" kein „abgegrenzter gesellschaftlicher Teilbereich" ist, sondern „erst einmal ein analytisches Konstrukt" darstellt, das den Forscher „anweist, von den sozialen Problemstellungen, Deutungen und Handlungsweisen der einzelnen Gesellschaftsmitglieder auszugehen."1 Die aufkommenden Forschungen zum Alltag im Nationalsozialismus und im Krieg mussten den politischen Aspekt ohnehin berücksichtigen. Noch deutlicher war, dass eine Alltags- und Sozialgeschichte der SBZ/DDR wegen der schweren Eingriffe in das traditionale Gefüge der (ost-)deutschen Gesellschaft seitens der kommunistischen Machthaber von 1945 an den Herrschaftsaspekt unbedingt ins Visier nehmen musste. Hier bestand wegen der dramatischen Veränderung der Lebenssituation ganzer sozialer Schichten die Gefahr, dass die Alltagsgeschichte völlig von der Repressionsgeschichte absorbiert werden konnte. Um diesen 1 Karl H. Hörning , Technik im Alltag und die Widersprüche des Alltäglichen, in: Bernward Joerges (Hrsg.), Technik im Alltag, Frankfurt a.M. 1988, S. 53.

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Schwierigkeiten zu entgehen, wurde und wird aus verschiedensten Gründen der Herrschaftsaspekt teilweise bewusst ausgeblendet. Das Ineinander von Alltag und Herrschaft haben aber jene, die Tag für Tag ihre Erfahrungen in der DDR gemacht haben, wohl am besten gekannt. Sie mussten sich in eiiiem Staat orientieren, der sie bis in die Privatensphäre hinein kontrollieren wollte. Dieses gilt es beim Gebrauch des Alltagsbegriffes zu berücksichtigen. Dessen strikte Konkretisierung und Kontextualisierung hat Norbert Elias gefordert, da ansonsten die Gefahr bestünde, dass „Alltag" zu einer „aus der Kirchturmperspektive der Gegenwart ins Universelle aufgeblähte Spekulation"2 werden könne. Für die Bewohner der DDR galt es alltäglich Strategien, Verfahren oder kulturelle und soziale Techniken auszuloten und zu entwickeln, um den Alltag zu bewältigen, „Techniken, mit deren Hilfe man sich im Alltagsleben in seiner realen sozialen Situation behauptet"3 Das erforderte bei aller Routine eine individuelle Anstrengung, da mögliche politische Risiken immer mitbedacht wurden. Die alltäglichen Beschwernisse wurden stets mit der Politik in Verbindung gebracht. Als in einer SED-Zeitung am 22. August 1989 in Plauen im Vogtland ein Leserbrief einer westdeutschen Besucherin aus Stuttgart mit viel Lob für die DDR erschienen war, ging alsbald in der Stadt ein anonym verfasstes sowie vielfach abgeschriebenes und heimlich weitergegebenes Gedicht um: „Die gute Frau, die würde lauschen, müsst sie mit uns die Wohnung tauschen, mit leerem Korb durch Läden hetzen und nicht von weitem ,saudumm4 schwätzen. Das Ost-Geld in der Hand rumdrehen, den Intershop von außen sehen. Dann könnt' sie hintern Mond mal bellen Und könnt ihr Auto hier bestellen. Sie braucht es auch nicht gleich zu kaufen und könnt noch 17 Jahr ,frei' laufen. Vom Schweizerkäs' gibt's nur die Löcher, nur Wodka gibt es noch und nöcher, die Butter schmeckt wie Sahnequark, s' Pfund Kaffee kost' bald 40 Mark... Hier gibt es keinen Euroscheck, Bahn und Busse stehn vor Dreck. Ob Autobahn, ob Eurostraße, das Auto hoppelt wie ein Hase. Gar vieles ist hier nur Attrappe,

2 Norbert Elias, Zum Begriff des Alltags, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderheft 20/1978: Materialien zur Soziologie des Alltags, S. 29 3 Erwin Goffmann, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München 1991, S. 233.

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wie unser,Trabi' - alles Pappe. Ist werktags auch die Arbeit knapp, am Samstag ist der Bart dann ab. Ob du dafür bist oder nicht ,Subbotnik4 oder ,Friedensschicht4. So kannst du's haben bis zur Rente, stets ein ,freies 4 Wochenende. Was unser Staat zu bieten hat? Die ,Nestbeschmutzer4 ham's halt satt.444

Der folgende Beitrag gibt anhand der repräsentativen Literatur eine Übersicht zur Alltags-Forschung: bis 1990 in der DDR, bis 1990 in der Bundesrepublik, seit 1990 im vereinigten Deutschland. So werden unterschiedliche Ansätze deutlich. Ein weiterer Teil arbeitet drei Idealtypen von Alltagsstrategien im Leben der DDR-Bürger heraus: „Utopisten", „Händler", „Moralisten". Es handelt sich jeweils um Formen des Eigensinns. Abschließend wird zu zeigen versucht, dass das Unbehagen und die Fremdheit Ostdeutscher gegenüber den neuen Verhältnissen wesentlich auf nachhaltige mentale Unterschiede zurückgehen.

2. Forschungsstände 2.1 Forschungen in der DDR bis 1990 Eine Alltagsforschung, die sich kritisch mit den Folgen der politisch induzierten kommunistischen Transformation der ostdeutschen Gesellschaft auseinandersetzte, gab es in der DDR nicht. Die schweren Eingriffe in die Sozialstruktur und die kulturelle Tradition der Gesellschaft mit ihren weit in den Alltag hineinreichenden Wirkungen, wie sie in den ersten Jahrzehnten stattfanden, wurden in den Gesellschaftswissenschaften pathetisch als revolutionäre Akte gefeiert. Das stalinistische Theorem vom „verschärften Klassenkampf legitimierte die radikalen Methoden dieser „antifaschistisch-demokratischen Umwälzung". Das durch die terroristischen Maßnahmen erzeugte Leid wurde tabuisiert. Die politische Entrechtung beim Durchsetzen des Herrschaftsanspruches, die Deportationen aus den grenznahen Gebieten, die Enteignungen oder der Entzug von Lebensmittelkarten für Gewerbetreibende, die Verfolgung vorwiegend junger Christen, die Zerstörung der gewerkschaftlichen Traditionen in der Arbeiterschaft und die Zwangskollektivierung betrafen Millionen Menschen. Sie lösten das Aufbegehren des 17. Juni 1953 aus und führten zur Flucht von fast drei Millionen Menschen bis 1961. Eine Erörterung der durch Herrschaft induzierten Alltagsprobleme durfte es nicht geben. 4 Anonym. Reim auf einen Leserbrief (Auszug) abgedruckt in: Thomas Küttler/Jean Curt Röder (Hrsg.), Die Wende in Plauen. Eine Dokumentation, Plauen 1993, S. 29f.

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Auch die Alltagsprobleme der Honecker-Ära durften nicht öffentlich erörtert werden. Die Folgen der ökologischen Dauerkatastrophe, die verbreitete Altersarmut, die ständigen Versorgungsmängel, die Knappheit von Wohnraum, der Städteverfall, der demütigende Alltag der Ausreiseantragsteller, die zahlreichen Jugendprobleme, die Lasten der Militarisierung der Gesellschaft und anderes wurden im öffentlichen Raum ignoriert. Desgleichen war die Privilegierung der staatsnahen, bürokratischen und fachlichen Eliten kein Thema für die marxistische Wissenschaft. Die offiziellen Gesellschaftswissenschaften, zu denen auch die politischen Anforderungen unterworfene Soziologie zählte, verfügten nicht über hinreichende Instrumente, um kritische Bestandsaufnahmen vorzunehmen oder soziale Prozesse abzubilden. Sie unterlagen dem Dogma, dass die politische und soziale Transformation zur Ausbildung einer sozialistischen Gesellschaft führen würde, in der die traditionellen Klassenstrukturen aufgehoben wären und in der lediglich in einem Übergangszeitraum vorübergehend nichtantagonistische Widersprüche wirkten. Zentrales Thema war daher die Erforschimg der Sozialstruktur. Deren angestrebte Vereinheitlichung sollte die gesellschaftlichen und humanen Potenzenfreisetzen und damit die Überlegenheit des Sozialismus gegenüber dem kapitalistischen Gesellschaftsmodell erweisen. Die Vereinheitlichung der Gesellschaft wurde postuliert, weil tatsächlich die Eigentumsverhältnisse an Produktionsmitteln keine Differenzierungskriterien zuließen. Leitbild für den neuen Menschen in der neuen Gesellschaft war der Arbeiter. In den fünfziger und sechziger Jahren wurde geradezu ein Arbeiterkult in den propagandistischen Wissenschaften und der sozialistischen Auftragskunst inszeniert. Für diese Stilisierung, am bekanntesten ist der sogenannte „Bitterfelder Weg", interessierten sich die realen Arbeiter am wenigsten. Aus ideologischen Gründen wurde bis 1989 am Begriff der Arbeiterklasse festgehalten, zu der 1980 75 Prozent der Berufstätigen gezählt wurden. Dazu kamen 6,5 Prozent Genossenschaftsbauern, 15,5 Prozent Intelligenz und 3,5 Prozent genossenschaftliche und private Handwerker5. Zu keiner Zeit deckte sich aber der ideologiebefrachtete Begriff „Arbeiterklasse" mit der sozialen Gruppe der Arbeiterschaft. Hier handelte es sich um politische Zuordnungen. So wurde kurzerhand der in die Millionen gehende Personalbestand der bürokratischen und militärischen Apparate der Arbeiterklasse zugeschlagen, und ein Großvater aus der Arbeiterklasse verlieh seinem Enkel die Legitimation, als Teil der herrschenden Klasse auftreten zu können.

5 Vgl. Gunnar Winkler, Sozialpolitik in der DDR, in: Heiner Timmermann (Hrsg.) Sozialstruktur und sozialer Wandel in der DDR, Saarbrücken-Scheidt 1988, S. 136.

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Seit den siebziger Jahren konnten die Gesellschaftswissenschaften soziale Unterschiede unter den Gesichtspunkten der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und funktionalen Differenzen erörtern. Die zunehmende Ungleichheit, die zu offensichtlichen Verarmungstendenzen in bestimmten Bevölkerungsgruppen führte, konnte nur bedingt öffentlich thematisiert werden. So hieß es in einer vertraulichen Studie: „Soziale Unterschiede heben sich nicht gegenseitig auf, sondern sie haben die Tendenz, sich zu addieren! Insgesamt konzentrieren sich die günstigen Bedingungen (Einkommen, Wohnung, Besitz an langlebigen Konsumgütern) auf die Gruppen der Intelligenz, die weniger günstigen auf die Arbeiter." 6 Ganz und gar den sozialistischen Ansprüchen entgegenlaufende Tendenzen, wie die Selbstreproduktion der Intelligenz, verlangten nach Erklärungen. So wurde auch die Elitenbildung im Sozialismus ein Thema der Sozialforschung, die in solchen Fällen ihre Ergebnisse fast schon mit schlechtem Gewissen veröffentlichte. 7 Die unübersehbar gewordenen sozialen Unterschiede wurden als notwendige soziale Besonderheiten ausgegeben und bedurften wegen des globalen Anspruches auf soziale Gerechtigkeit auch einer Legitimation. Ende der achtziger Jahre verbreitete die offizielle gesellschaftswissenschaftliche Literatur über die Feder der führenden SED-Ideologen eine Fülle von Beiträgen, die die soziale Differenzierung geradezu zur Bedingung der Leistungssteigerung im Sozialismus erklärten.8 Vieles las sich in dieser Endphase so, als hätten die DDR-Gesellschaftswissenschaftler schon das kleine Einmaleins des Kapitalismus studiert, um dem Sozialismus noch einmal Schwung zu verleihen. Aber auch in dieser letzten Phase wurden weder die wirklichen, das System blockierenden Gründe für die Stagnation und Ineffizienz der ökonomischen Reproduktion noch die sich aus der politischen und wirtschaftlichen Fehlkonstruktion ergebenden Alltagsprobleme angesprochen. Die politisch induzierte soziale Differenzierung, wie einerseits die soziale Privilegierung aus politischen Gründen, die Auswahl und Belohnung der Kader nach dem Maß ihrer loyalistischen Haltung und nicht nach ihrem fachlichen Können, wie andererseits die enormen Alltagsprobleme der nichtprivilegierten Bevölkerung bei der Beschaffung primitivster Versorgungsgüter, blieb unberücksichtigt.

6 Manfred Lötsch u.a., Über die soziale Struktur der Arbeiterklasse. Teil 1. Humboldt-Universität-Berlin, von 1977, Typoskript/vertrauliches Material. 7 Vgl. ders ., Sozialstruktur der DDR - Kontinuität und Wandel, in: Heiner Timmermann (Hrsg.), Sozialstruktur und sozialer Wandel in der DDR, Saarbrücken-Scheidt 1988, S. 13-26. 8 Vgl. Harry Nick , Leistung, Fortschritt und Gerechtigkeit, in: Einheit. Heft 8/1989, S. 711ff.

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Die SED-Spitze wusste darum und wusste auch, dass die Bürger im Mangel politische Ursachen sahen. Die SED fand keine Mittel, jene Alltagsprobleme zu lösen, die das MfS auftragsgemäß registrierte: „In der KH der HO SB Mitte... ist zur Zeit ein ausreichendes und qualitativ annehmbares Angebot an Fleischund Wurstwaren vorhanden... Im Gegensatz dazu steht die Obst- und Gemüseversorgung. Es ist nur ein geringer Warenumfang vorhanden, der sich vor allem aus Weiß- und Rotkohl, Radieschen und Möhren zusammensetzt. Die Qualität ist sehr schlecht. Das Weißkraut fault von innen heraus, die Möhren und Radieschen sind dreckig, bereits weich und ausgetrocknet... Vor allem Parteilose schimpfen über die Informationspolitik, womit sie meist auf Erfolgsmeldungen von Betrieben hinweisen, die falsch und teilweise erlogen seien. Konkrete Fragen können dabei von ihnen nicht beantwortet werden. Es wird darauf hingewiesen, dass bei so vielen Erfolgen und Planerfüllungen die gesamte materielle Sicherstellung und Versorgung wesentlich besser sein müsste. Da es nicht an dem ist, ist also die entsprechende Zeitungsinformation unwahr. Bei politisch organisierten Personen sind solche Diskussionen kaum festgestellt worden. Der GMS schätzt ein, dass Genossen sich hier heraushalten, da sie auch keine Antworten darauf hätten."9 Da die Bevölkerung gegen Ende der DDR immer offener die Alltagsprobleme ansprach, suchte die SED diese Kritik zu kompensieren. Verhaltene Kritik, zumeist in der verharmlosenden Form von Verbesserungsvorschlägen, war auch in den Zeitungen zu lesen. Auch das Kabarett und andere Kunstformen nutzten die engen Grenzen kritischer Artikulation. In einigen mikrosoziologischen Studien, die sich mit den Folgen der Wohnungspolitik auseinander setzten, konnten bisweilen alltagsrelevante Mängel der Infrastruktur der neuen sozialistischen Wohngebiete angesprochen werden.10 Insgesamt wurden aber die Unzulänglichkeiten in Versprechen für die Zukunft umgemünzt. Und stereotyp verheißt eine stadtsoziologische Untersuchung über Ostberlin, in Zukunft „wird sich auch für die in Berlin Arbeitenden und Wohnenden das Leben angenehmer, reicher und schöner gestalten, wird Berlin als sozialistische Metropole sein Antlitz weiter ausprägen, wird eine der entwickelten sozialistischen Gesellschaft gemäße Lebensweise ausgeprägt".11 Die offensichtliche Fehlanzeige einer sozialkritischen Alltagsforschung ließ zwei Nebenschauplätze für die Debatte um einen sozialistischen Alltag entste9

MfS Leipzig. Abt.VI/3, Information 422, 24. August 1989. Quelle: GMS „Roland Hempel". 10 Vgl. Gerold Kind (Hrsg.), Stadtentwicklung und Wohnmilieu. Magdeburg/NeuOlvenstedt. Soziologische Studie/Teil III, Weimar 1987. 11 Georg Aßmann/Gunnar Winkler, Zwischen Alex und Marzahn. Studie zur Lebensweise in Berlin, Berlin 1987, S. 197.

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hen. Zum einen wurde neben einigen ernst zu nehmenden Regionalstudien12 unter wissenschaftlicher Begleitung eine oft ans Peinliche grenzende Volkstümlichkeit inszeniert, die im Grunde lediglich einige Traditionsbestände des Brauchtums oder der unpolitischen Massenkultur sozialistisch verkleidete. Über die Versuche, in die alltäglichen Sozialbeziehungen der Jenaer Plattenbausiedlung Neulobeda Thüringer Tradition einzupflanzen, berichtete eine Tageszeitung: „Einer, der das Wachsen solcher Beziehungen, ihre Formen und Strukturen auf seine Weise registriert, ist Dr. Heinz Sperschneider, Neulobedaer und Volkskundler an der Sektion Sprachwissenschaft der Jenaer Universität, der sich mit den historischen Arbeits- und Lebensbedingungen und den kulturellen Leistungen der Produzenten materieller Güter befasst. Der aber auch an deren gegenwärtiger Lebensweise nicht einfach vorbeigehen kann. Wenn in einem Hochhaus von Neulobeda gepoltert wird oder dem Brautpaar im Elfgeschosser Fichten gesetzt werden, findet er das schon von Belang: ,Wenn wir Entwicklungslinien im Volksbrauch (er)kennen, Bewährtem und neuen Bedürfhissen nachgehen, dann können wir auch besser gesellschaftliche Prozesse lenken und leiten und unserer sozialistischen Lebensweise neue Elemente hinzufügen 4."13 Zwar hatten sich in vielen Regionen lokales Brauchtum und regionales Identitätsgefühl erhalten. Über Jahre wurde es gegen neue sozialistische Rituale von den Bürgern verteidigt. Als aber die SED schließlich versuchte, eine sozialistische DDR-Nationalkultur zu schaffen und ihr ältere Traditionsbestände einverleiben wollte, kam sie über einige banale Ansätze nicht hinaus. Der andere Versuch einen sozialistischen Alltag zu definieren, verlief über eine Debatte zur sozialistischen Lebensweise, die seit 1979 geführt wurde. Als Protagonist der marxistischen Alltagsforschung galt Jürgen Kuczynski mit seinem Werk „Geschichte des Alltags des deutschen Volkes"14, das allerdings mit dem Jahr 1945 endete. Zweifellos wäre er an einem solchen Projekt auch gescheitert, wenn er methodisch seinem Ansatz treu geblieben wäre, den Alltag als herrschaftsbestimmt darzustellen. Im letzten Jahrzehnt der DDR wollte die SED nachweisen, dass sie nicht nur neue politische und wirtschaftliche Verhältnisse geschaffen hatte, sondern auch das Projekt eines „neuen Menschen" mit ganz und gar eigenen und speziellen 12 Vgl. Hans-Jürgen Rach/Bernhard Weißel/Hainer Paul (Hrsg.), Die werktätige Dorfbevölkerung in der Magdeburger Börde. Studien zum dörflichen Alltag vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum Anfang der 60er Jahre, Berlin 1986; dies. (Hrsg.), Das Leben der Werktätigen in der Magdeburger Börde. Studien zum dörflichen Alltag vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum Anfang der 60er Jahre, Berlin 1987. 13 Bodo Baake, Draußen in Neulobeda. Polterabend im Hochhaus, in: Thüringische Landeszeitung v. 12. April 1986, Beilage Treff, S. 2. 14 Jürgen Kuczynski , Geschichte des Alltags des deutschen Volkes, Band 1-5, 3. Aufl., Köln 1993.

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Bedürfnissen und Interessen ein Stück vorangekommen war. Die Erziehung der Massen hatte nach dieser Annahme schon Früchte getragen. Die wissenschaftliche Fassade dieser Debatte konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass man sich einen PropagandaefFekt erhoffte. Der tatsächlichen Fixierung der Ostdeutschen auf westdeutsches. Alltagsdesign sollte entgegengesteuert und die verantwortlichen Kader sollten zur Erziehungsarbeit angeleitet werden. Während dem Alltag im Kapitalismus nicht nur Arbeitslosigkeit, Verelendung und alle möglichen verführenden Laster zugeschrieben wurden, stellte die - heute nur noch schwer verdauliche - wissenschaftliche Literatur die Vorzüge eines angeblich reichen und kulturvollen sozialistischen Lebens in der DDR heraus. Unter Berufung auf die marxistischen Patriarchen und den Staatslenker Honecker wurde die kommunistische Utopie von der Aufhebung aller Entfremdung und dem kommenden Bedürfiiis nach Arbeit als eigentliche Muse so vermittelt, als wäre dies schon Wirklichkeit. Immer aber, das hatte die SED auch bitter nötig, wurde in den praktischen Schlussfolgerungen darauf verwiesen, dass Arbeit jedem Vergnügen vorzugehen hat. Und selbst die Freizeit diente demnach „zur Erfüllung gesellschaftlicher Erfordernisse" 15. Der Kulturwissenschaftler Helmut Hanke, der ein unermüdlicher Publizist zum Thema Lebensweise war, schrieb: „Das A und O für eine höhere Kultur in der Freizeit ist und bleibt eben die ständige Erhöhung der Produktivität der Arbeit, denn die Freiheit ist für den Marxismus kein Reich des schönen Scheins, sondern ein wirklicher Lebensprozess."16 Im konkreten Fall wurden Banalitäten festgestellt: „Karl Marx - und ich sehe keinen Grund, mich dem nicht anzuschließen - hielt den gesunden Schlaf zur , Sammlung, zur Erfrischung und Erneuerung der Lebenskraft' für unbedingt notwendig."17 Und der Kulturwissenschaftler Lothar Bisky konstatierte: „Das im Sozialismus erreichte hohe Kulturniveau - das auch in den Kulturbedürfnissen zum Ausdruck kommt - erweist sich als ein wesentlicher Vorzug unserer Gesellschaftsformation, den es bewusst zu nutzen gilt sowohl im Interesse des volkswirtschaftlichen Leistungsanstiegs wie im Sinne seiner Ziele."18 Eine solche virtuelle Forschung musste die tatsächlichen alltäglichen Lebensbedingungen in der DDR verfehlen. Sie nahm die Spaltung der Gesellschaft zwischen den SED-Kadern und der von ihr entmündigten Bevölkerung nicht wahr. Die von ihr analog der Staatspropaganda angebotenen Leitbilder einer so15

Kleines politisches Wörterbuch, 4. Aufl., Berlin 1983, S. 272. Helmut Hanke, Freizeit in der DDR, Berlin 1979, S. 182. 17 Ders., Fließband, Bier und etwas Brecht, in: Sonntag v. 2. März 1980, S. 7. 18 Lothar Bisky, Kulturbedürfnisse und Leistungsverhalten. Ergebnisse kultursoziologischer Forschung, in: Soziale Triebkräfte ökonomischen Wachstums. 4. Kongreß der marxistisch-leninistischen Soziologie, Berlin 1986, S. 220. 16

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zialistischen Lebensweise blieben wirklichkeitsfremd und waren in die Gesellschaft nicht zu vermitteln. Große Teile der Bevölkerung orientierten sich an einem Alltagsbild, das ihnen westliche Medien und die Besucher aus dem Westen vermittelten. Die ideologischen Verzeichnungen des Alltags brachten die sich dem Alltag widmende DDR-Literatur in die Rolle eines Soziologieersatzes. Allerdings finden sich auch hier bis in das Lager der dissidentischen Schriftsteller ideologieverdächtige Beschreibungen und kryptische Umschreibungen alltäglicher Repressionserfahrungen. Aber es gab auch Ausnahmen. Schriften des späten Erwin Strittmatter oder Ulrich Plenzdorfs bildeten die Realität ab. Plenzdorfs Erzählung „Die neuen Leiden des jungen W.", die Geschichte eines jugendlichen Verweigerers sozialistischer Kollektivzwänge, löste eine heftige Debatte aus. Die Schriften von Jürgen Fuchs und Rainer Kunze zeigten ungeschminkt die alltägliche Repression gegen jungen Menschen. Sie konnten nur im Westen erscheinen, fanden aber ihren Weg in die DDR, wurden hier ganz oder teilweise abgeschrieben und vervielfältigt. Den klassischen Alltagsroman schrieb Erich Loest, „Es geht seinen Gang." Sein Romanheld, Wolfgang Wülff, macht als Jugendlicher schlechte Erfahrungen mit der Staatsmacht. Als historische Vorlage benutzt Loest die „Schlacht am Leuschnerplatz", den sogenannten „Beataufstand" in Leipzig im Jahr 1965. Die Polizei hatte einen Auflauf von Jugendlichen, die gegen ein Auftrittsverbot einer Beatgruppe protestierten, brutal auseinandergetrieben. Der Romanheld wird von einem Polizeihund gebissen. In der Schule folgen peinliche Untersuchungen. Einige Jahre später schickt ihn ein Offizier der NVA unmittelbar vor der Entlassung noch einmal zum Friseur. Wülff will hinfort kein „Chef werden, nie kommandieren, keine Macht haben. Er bewegt sich im Betrieb als „schlichtes Abteilungsschwein" und im Privatleben innerhalb der „tausendfachen" lebensweltlichen Standards, in der Wohnscheibe mit Schrankwand und Kurbeltisch, in der Freizeit mit Trabant und unpolitischen Stammtischgesprächen. Auch wehrt er sich gegen die sportliche Dressur seiner kleinen Tochter. Doch seine Frau will mehr, er soll sich „qualifizieren", da Jeder die Pflicht hatte, das Möglichste aus sich zu machen"19. Und sie will aus ihrer Tochter etwas machen. Darüber zerbricht die Ehe. Schließlich landet Wülff wieder dort, wo er ausgezogen ist, in einer Wohnscheibe mit Trabantbestellung und neuer alleinerziehender Freundin. „Es geht seinen Gang!" Wülff entkommt und entkommt nicht, immer geschieht etwas, doch in allem geschieht nichts. Wie Wüllf geht es im Grunde allen Romanfiguren, dem sich vergeblich abstrampelnden Betriebsleiter, dem gläubigen Parteimenschen, den strebsamen Freunden von Wülff, wie 19 Erich Loest, Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene. Roman, Leipzig 1978, S. 70.

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dem blinden Historiker. Über allen liegt die Tristesse eines Alltags, über dem hohe sozialistische Ansprüche wie der Braunkohlenebel über Leipzig schweben. Abweichend von den SED-Vorgaben wurde nur in der Evangelischen Kirche in der DDR eine systematische, öffentliche und kritische Diskussion zur Lebensweise und zum Alltag geführt. Die Theologische Studienabteilung beim Bund der Evangelischen Kirchen veröffentlichte Studien zu Themen wie Leistung, Umweltbewusstsein und -praxis, zu Urbanisierung und Städteverfall oder zum Leben auf dem Lande. Zu diesen Arbeiten gehörte eine 1982 erschienene Studie „Zum Sprachgebrauch und zur Funktion von Disziplin in der sozialistischen Gesellschaft", die sich äußerst kritisch mit der Verknüpfung von Ideologie und Disziplin in der DDR auseinander setzte. In der Opposition wurden vielfältig Alltagsprobleme aufgegriffen, besonders natürlich die repressiven Elemente. Es gab Initiativen gegen Städteverfall und Umweltbelastungen, um die alltäglichen Schwierigkeiten öffentlich zu machen. 1987 veröffentlichten der dissidentische Schriftsteller Lutz Rathenow und der Fotograf Harald Hauswald einen Band über Ostberlin, der die traurige Realität hinter der Feierfassade zeigte.20 Die kirchliche und oppositionelle Kritik zielte auf die sozialistische Bedürfnis- und Vergesellschaftungsideologie und suchte nach Alternativen, die der ideologischen Steuerung des Einzelnen und der Gesellschaft Spielräume einer selbstverantworteten Lebensweise entgegensetzte. Dem Primat der materiellen vor den geistigen Bedürfhissen wurde eine antizipatorische und asketische Lebensweise gegenübergestellt. Der Leiter der Studienabteilung, Götz PlanerFriedrich, sah in der „Pseudobefriedigung immaterieller Bedürfnisse durch materielle, organisatorische oder institutionelle Mittel" einen Hinderungsgrund für „eine maßvollere Gestaltung der Lebensweise"21. Oppositionelle entwickelten auf der Grundlage der sozialethischen Einsprüche theoretische und praktische Modelle für ein gewaltfreies und selbstbestimmtes Handeln, das freilich nur in den kirchlichen und oppositionellen Gruppen gelebt werden konnte. Mit dem Anspruch der Oppositionsgruppen, ihre Arbeitsprogramme mit Formen gemeinsamen und solidarischen Lebens zu verbinden, suchten sie eine soziale Verankerung. Unter Berufung auf Karl Marx meinte der oppositionelle Theologe Edelbert Richter, ein solidarisches Leben könne „als Grundhaltung bei der Lösung von Konflikten verstanden werden, etwa als die grundsätzliche Bereitschaft, sie durch Diskussion zu lösen, nicht

Lutz Rathenow/Harald Hauswald, Ostberlin. Die andere Seite einer Stadt in Texten und Bildern, München 1987. 21 Götz Planer-Friedrich, Lebensweise und Bedürfnisse, in: Briefe zur Orientierung im Konflikt Mensch-Natur, BrietfJanuar 1981, S. 6.

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durch Repression". Solidarität sei „nur unter der Bedingungfreier Individualität überhaupt denkbar".22 Der Versuch, ein authentisches, in die Öffentlichkeit hineinwirkendes Leben in kleinen Gemeinschaften zu führen, bezog sich auch auf den Anspruch auf ein Leben in Wahrheit, das sich von der alltäglichen Nötigung zur Lüge absetzte. So erklärte Rainer Eppelmann: „Sagt klar ,nein\ wenn ihr ,nein' meint! - Lügt nicht - und hört auch keine Lügen an, von denen ihr wisst, dass es Lügen sind! ... Sage auch über die anderen immer nur die Wahrheit."23 Die Debatte um Alltag und Lebensweise wurde von Oppositionellen als Beitrag zur „existentiellen Revolution" verstanden, von der auch Väclav Havel sprach. In einem System, das sich auf „Demoralisierung" stützt, würde das „Leben in Wahrheit" als „moralischer Akt" „zum Hauptnährboden jeglicher unabhängigen und alternativen Politik".24

2.2 Forschungen in der Bundesrepublik bis 1990 Während bis in die sechziger Jahre der Alltag der DDR-Bürger in Wissenschaft und Publizistik weithin zutreffend - nicht zuletzt unter dem Eindruck der Berichte von Millionen Flüchtlingen - in seinen politisch induzierten Mühsalen wahrgenommen wurde, bahnte sich in den Jahren nach dem Mauerbau allmählich ein verändertes Bild der inneren Verhältnisse auf. So führte ein beschönigender Bericht einer Reise in die DDR dreier bekannter Journalisten, Marion Gräfin Dönhoff, Rudolf Walter Leonhardt und Theo Sommer, zu einer heftigen Debatte.25 Doch der Trend setzte sich durch. Die westdeutsche DDR-Forschung hatte sich seit Anfang der siebziger Jahre in großen Teilen einer „systemimmanenten" Sichtweise auf die DDR zugewendet und wollte die Selbsterklärung der DDR für deren soziale und politische Prozesse ernst nehmen. Das Interesse an der DDR galt vorrangig deren institutionellem Gefüge, der Sozialstruktur und dem sozialen Wandel. Unter modernisierungstheoretischen Prämissen wurde die DDR als Industriestaat untersucht und nach eigenständigen, tragfähigen 22 Edelbert Richter, Steigende Bedürfnisse - Verminderte Ressourcen - Veränderte Lebensweise. Zur Aktualität der Marxschen Theorie. Referat auf der Tagung der Evangelischen Akademie 11. bis 13. April 1980 in Buckow; vervielfältigtes Material. 23 Rainer Eppelmann, Predigt über Eph. 4, 11-25, Reihe IV Pfingsten 1982. Handschriftlich, vier Seiten. Archiv Eppelmann. 24 Väclav Havel, Versuch, in der Wahrheit zu leben. Essay, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 34. 25 Marion Gräfin Dönhoff/Rudolf Walter Leonhardt/ Theo Sommer, Reise in ein fernes Land. Bericht über Kultur, Wirtschaft und Politik in der DDR, Hamburg 1964, S. 142.

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Problemlösungen gefahndet. Vielfach wurde den DDR-Bürgern eine Identifikation mit ihrem Staat zugeschrieben, die in Wirklichkeit lediglich auf deren Schlauheit zurückging, sich nicht bei jeder Gelegenheit mit dem Unabänderlichen anzulegen. Zusätzlich verfestigte sich das Bild von den inzwischen milden Herrschaftsformen in der DDR. Dass es sich hier um einen qualitativen Wandel vom Terror zu subtilen Herrschafts- und Kontrollformen handelte, wurde nicht angemessen berücksichtigt. Die DDR als Diktatur und der Alltag der Ostdeutschen unter repressiven Bedingungen fanden wenig Beachtung, schon weil die systemimmanente Methode diesen Aspekt ausblenden musste. So stellten Darstellungen des repressiven Rechtssystems und der umfassenden sozialen und politischen Kontrolle der Gesellschaft eher Ausnahmen dar. 26 Immerhin wurden einzelne Themenbereiche, wie die Freizeit-, Bildungs-, Jugend» oder Frauenpolitik beforscht, aber ihre instrumentellen und repressiven Anteile weithin ausgelassen. Zu den Erträgen dieser Forschung gehörte aber die Einsicht, dass der SED-Staat seine anspruchsvollen ideologischen Ziele nicht erreichte. Weder konnte ein am Kollektiv orientiertes Freizeitverhalten 27 noch eine substantielle Gleichberechtigung der Frau im sozialistischen Alltag festgestellt werden. Dass es eine Diktatur war, die die politischen Rahmenbedingungen des Alltags bestimmte, wurde auch auf den DDR-Forschertagungen thematisiert, die sich mit den politisch bedingten Konflikten im Alltag auseinander setzten.28 Als Ende der achtziger Jahre die Tristesse des „grauen Alltags" und der Unmut der DDR-Bürger unübersehbar wurden, spiegelte sich dies in Veröffentlichungen, die bisweilen die tiefen Unterschiede zwischen Ostund Westalltag, wie auch das Durchhaltevermögen der Ostdeutschen thematisierten.29 Forschungen zur DDR-Literatur haben auch Einblicke in den Alltag von Bevölkerungsgruppen gewährt, die wegen ihrer Kritik oder ihrem unangepassten Verhalten benachteiligt oder anderweitig repressiert worden waren. Eine Reihe von herrschafts- und alltagsrelevanten Studien zur politischen Kultur gaben zudem Einblick, in das Bemühen der SED, Konflikten mit der Bevölkerung auszuweichen und die Integration über unpolitische Bindungen zu betreiben. So hat 26

Vgl. Karl Wilhem Fricke, Die DDR-Staatssicherheit. Entwicklung. Strukturen. Aktionsfelder, Köln 1989; ders., Zur Menschen- und Grundrechtssituation politisch Gefangener in der DDR, Köln 1988. 27 Vgl. Bettina und Volker Gransow, Disponible Zeit und Lebensweise. Freizeitforschung und Freizeitverhalten in der DDR, in: Deutschland Archiv 17 (1983), S. 729749. 28 Vgl. Johannes Kuppe, Annäherungen an den Alltag. Die X V I I . DDRForschertagung. Tagungsbericht, in: Deutschland Archiv 17 (1984), S. 869-873. 29 Vgl. Themenheft Alltag in der DDR der Zeitschrift „deutsche Studien" 25 (1987), Heft 97.

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Ralf Rytlewski eine interessante Arbeit zum Fest- und Feierkalender der SED vorgelegt. Er zeigte, wie das lineare marxistische Fortschrittsdenken durch zyklische und vom politischen Anspruch entlastende Identitätsangebote ergänzt wurde. Neben den politischen Feiertagen kommunistischer Prägung bildeten sich Feste und Ehrentage, Heimat- und Naturfeste im Jahreszyklus aus, die auf Personen und Gruppen bezogen waren. Damit wurde die kommunistische Utopie auf soziale Mythologien beschränkt, die letztlich zwar im Alltag genutzt wurden, aber die ideologischen Bindungen lockerten: „Die kommunistische Führung scheint sich mit dieser Variante kultureller Gesellschaftspolitik das Verblassen realer und datierbarer kommunistischer Zukunftsperspektiven und -ereignisse... einzugestehen."30 Auch in der westdeutschen Publizistik spiegelte sich der Wandel des DDRBildes. Alltagsgeschichten aus Ostdeutschland hatten lange in der Öffentlichkeit, nicht zuletzt über die Millionen Flüchtlinge, ein düsteres Bild von der DDR gezeichnet. Mit der Entspannungspolitik sollte sich dies ändern. Zahlreiche westdeutsche Autoren malten nun den DDR-Alltag infreundlicheren Farben. Die unschönen Phänomene wurden auf wenige Gruppen, Absteiger, Dissidenten und unruhige Kirchenleute beschränkt. So beschrieb eine Reihe von jüngeren westdeutschen Journalisten den Alltag in der DDR in diesen Teilbereichen. Sie haben die jugendlichen Subkulturen und die Protestmilieus beobachtet und sowohl den Überdruss am DDR-Alltag mit seinen vielfältigen Repressionen wie auch die Sehnsucht nach Freiheit dokumentiert.31 Die Schönschreiber entdeckten in der DDR manches, was die Modernisierung im Westen abgeräumt hatte, bewunderten gar einige Errungenschaften des Sozialismus, voran die Gleichberechtigung der Frauen, oder die neuen Besitzverhältnisse. Als Prototyp dieser Literatur soll hier das 1983 erschienene und Aufsehen erregende Buch „Wo Deutschland liegt" von Günter Gaus stehen. Gaus will den mit Vorurteilen behafteten Westdeutschen erklären, was die DDR und die Ostdeutschen nicht sind, jedenfalls nicht nach westdeutscher Vorstellung. Er popularisierte den Begriff „Nischengesellschaft", der den verbreiteten Rückzug der Ostdeutschen in private Nischen kennzeichnet. In diesen Nischen sieht Gaus jedoch nicht nur die Distanz zum SED-Staat ausgelebt, sondern 30 Ralf Rytlewski/Birgit Sauer, Die Ritualisierung des Jahres. Zur Phänomenologie der Feste und Feiern in der DDR, in: Wolfgang Luthardt/Arno Waschkuhn (Hrsg.), Politik und Repräsentation. Beiträge zur Theorie und zum Wandel politischer und sozialer Institutionen, Marburg 1988, S. 283. 31 Norbert Haase/Lothar Reese/Peter Wensierski, VEB Nachwuchs. Jugend in der DDR. Reinbek bei Hamburg 1983; Wolfgang Büscher/Peter Wensierski, Null Bock auf DDR. Aussteigerjugend im anderen Deutschland, Reinbek bei Hamburg 1984; Peter Wensierski/Wolfgang Büscher, Beton ist Beton. Ökologische Probleme und Kritik an der Industriegesellschaft in der DDR heute, Köln 1988.

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zugleich auch eine Aneignung von dessen Grundwerten vollzogen. Die kleinen Leute in der DDR, sähe man von Ausnahmen ab, hätten sich arrangiert. Trotz vieler Alltagsbeschwerden gäbe es eine Identifikation, kein DDR-Nationalbewusstsein, aber ein „Staatsbewusstsein".32 Indem Gaus für die Normalität der DDR und ihren Alltag warb, konnte er auch sagen: „Es gibt den Druck einer ständigen Aufpasserei nicht."33 Und er prognostiziert einen kommenden Freiheitsgewinn: „Auf der Basis der Anerkennung des Staates und seiner Grundbedingungen kann das neue Faktum vor allem in größerem Freimut, in weniger Unsicherheit beim Widersprechen auf Antworten zutage treten, die nicht den Kern des Systems berühren, an die man sich aber als Bürger der DDR dennoch in der Vergangenheit nur sehr zögernd oder auch gar nicht mit Zusatzfragen herangewagt hat."34 Entgegen den Annahmen des ehemaligen ständigen Vertreters der Bundesrepublik in der DDR war sehr wohl der Kern des Systems berührt, als sich die DDR-Bürger 1989 erstmals mehr Freiheiten nahmen. Wenn Gaus auch die Bindung der DDR-Bürger an das politische System falsch einschätzte, kam ihm dennoch das Verdienst zu, jenen merkwürdigen für den Außenbetrachter schwer verständlichen Zwischenraum zwischen diktatorischen Institutionen und ideologischem Anspruch einerseits und einem davon irgendwie wenig berührten praktischen Verhalten der Beherrschten im Alltag andererseits in Details beschrieben zu haben. Die Konturen dieses Zwischenraumes bekamen mehr Klarheit durch die Untersuchungen zum Alltag in der DDR an Hand ostdeutscher Lebensläufe in dem „Oral History-Projekt", das unter Leitung des westdeutschen Wissenschaftlers Lutz Niethammer seit 1987 in der DDR durchgeführt werden konnte. Durch die Sammlung von Erinnerungsgeschichten sollte das „biographische Selbstverständnis" in seiner gesellschaftlichen und politischen Verankerung, in seiner „Geschichtsverstrickung" 35, durch Interviews ermittelt werden. Die ersten veröffentlichten Ergebnisse in dem Buch „Die volkseigene Erfahrung" veranschaulichen plastisch die Sinnkonstruktionen in den erinnerten Lebensgeschichten. Das Buch ist sowohl eine Fundgrube einzelner „typischer" Lebenssituationen des DDR-Alltags, wie es auch unübertroffen die Grundsituation des Einzelnen in der DDR-Gesellschaft, vom Pfarrer bis zum Parteiarbeiter, vom Professor bis zum Arbeiterveteran erfasst. Fast durchgängig zeigt sich die doppelte, die offi32

Günter Gaus, Wo Deutschland liegt. Eine Ortsbestimmung, München 1987, S. 125. 33 Ebd., S. 124. 34 Ebd., S. 169. 35 Lutz Niethammer/Alexander von Plato/Dorothee Wierling, Die volkseigene Erfahrung, Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR, Berlin 1991, S. 29.

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zielle und die inoffizielle, die inszenierte und die reale, die politische und die unpolitische Existenz. Doch beide Seiten sind auch verbunden. Die reale Existenz hat sich in der inszenierten eingerichtet, und die inszenierte rechnete mit der realen. Die Theorie von der bloßen Flucht der DDR-Bürger in die privaten Nischen erwies sich in Niethammers Ergebnissen als zu einfach. Viele Bindungen an das System, darunter auch und vorwiegend die durch die soziale Sicherheit erzeugten, werden in die Nische mitgenommen. Und das Private durchflicht das Politische. Hier kommt der Tausch zwischen Herrschern und Beherrschten als soziale Technik in den Blick, der es ermöglichte, dass der persönlich errungene Aufstieg im System dieses auch mit einem Stück Intimität ausstattete. Und zugleich zeigt sich diese „menschelnde" Seite des Systems auch als bisweilen harte Herrschaftspraxis, weil sie jede intime Distanz durchbrach.

2.3 Forschungsansätze nach 1990 Als der SED-Staat 1990 zusammenbrach und sich bald darauf die Archive öffneten, mussten die DDR-Forschung und die Publizistik zunächst die versäumten oder durch die systemimmante Forschung verstellten herrschafts- und alltagsgeschichtlichen Defizite nachholend abarbeiten. Dazu gehörte die Herausgabe von Dokumenten36, die alsbald durch eine Unzahl von Autobiographien, lebensgeschichtlichen Interviews oder auch durch Filme zum Alltag in der Diktatur ergänzt wurden. Für die Forschung lag es nahe, dass die Totalitarismusthese angesichts der in den Blick geratenen diktatorischen Strukturen und Wirkungsweisen der Herrschaft neu belebt werden konnte. So entstanden in den neunziger Jahren unzählige Werke von professionellen Historikern und betroffenen Zeitzeugen zur Herrschaftsgeschichte, die den repressiven Durchgriff bis in den Alltag darstellten. Besonders die Aufarbeitung des MfS zeigte, wie ein gewaltiger Apparat im engen Zusammenwirken mit anderen Organisationen und Institutionen die totale Kontrolle und Steuerung der Gesellschaft in einem bisher unbekannten Ausmaß anstrebte. „Gerade die verdeckte, für jedermann gleichwohl fühlbare Omnipräsenz des Staatssicherheitsdienstes beschädigte nachhaltig die Grundbedingung persönlicher wie gesellschaftlicher Kreativität und Entfaltung: Eigensinn, Vertrauen, Spontaneität'."37

36

Vgl. Ilse Spittmann/Gisela Helwig (Hrsg.), DDR-Lesebuch. Köln 1991; Christoph Kleßmann/Georg Wagner (Hrsg.). Das gespaltene Land. Leben in Deutschland 1945 bis 1990, München 1993. 37 Klaus-Dietmar Henke , Menschliche Spontaneität und die Sicherheit des Staates. Zur Rolle der weltanschaulichen Exekutivorgane in beiden deutschen Diktaturen und in den Reflexionen Hannah Arendts, in: Siegfried Suckut/Walter Süß (Hrsg.), Staatspartei und Staatssicherheit. Zum Verhältnis von SED und MfS, Berlin 1997, S. 304.

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Mit solchen Feststellungen musste die Frage nach dem Funktionieren einer derart kontrollierten Gesellschaft gestellt werden. Beruhte deren Stabilität oder Scheinstabilität auf ihrer totalen Steuerung und ihrer monistischen Organisation? Die Soziologin Sigrid Meuschel identifizierte eine homogenisierte und entdifferenzierte Gesellschaft, die um ihre innere Dynamik gebracht war. „Die unpolitischen Traditionsbestände der deutschen politischen Kultur wurden in der DDR nicht nur nicht gebrochen, sie schrumpften tendenziell sogar noch um die Komponente der westlichen Zivilisation... Was blieb, war die gemeinschaftliche statt gesellschaftliche, die kulturelle statt zivilisatorische Disposition."38 Eine solche Sichtweise, ebenso wie der Begriff von der „stillgelegten Gesellschaft" 39, erlaubte es kaum, eine Sozialgeschichte zu schreiben, die sich von politischer Herrschaft oder der politisch ausgerichteten „Institutionenordnung"40 auch nur annähernd lösen kann. Eine Sozialgeschichte konnte sich auch nicht an den Differenzen zwischen sozialen Entwicklungen und Institutionen, wie sie in der alten Bundesrepublik selbstverständlich waren, orientieren, da in der DDR diese Differenzen aufgehoben waren. Dort, wo die Gesellschaft nicht ein Mindestmaß an Eigenleben aufweist, böte damit auch eine Beschreibung des Alltags in der DDR lediglich die variierten konkreten Spezialfälle der Herrschaftsgeschichte. Zweifellos gingen damit nicht nur differenzierbare Verhaltensmuster der Alltagsbewältigung verloren, sondern es würde auch ein mehr oder weniger versteckter sozialer Determinismus befordert. Um diesen Schwierigkeiten zu entgehen, gab es vielfältige Versuche, im Interesse von sozial- und alltagsgeschichtlichen Darstellungen das Totalitarismuskonzept zurückzuweisen oder wenigstens abzumildern. Selbst M. Rainer Lepsius hatte für die Gesellschaft der DDR mit ihrer „Institutionenfusion" 41 schon für die Kirchen eine Ausnahme gemacht. Auch das Angebot von Jürgen Kocka, die DDR als eine „durchherrschte Gesellschaft" zu definieren, in der im Konflikt „zwischen Lebenswelt und System" sich in der Regel die Herrschaft behauptete, schloss „faktische Grenzen der Durchherrschung im Alltag" 42 ein.43

38 Sigrid Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945-1989, Frankfurt a.M.1992, S. 307. 39 Zur Diskussion um die „stillgelegte Gesellschaft": Ralph Jessen, Die Gesellschaft im Staatssozialismus, in: Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), S. 99. 40 M. Rainer Lepsius, Die Institutionenordnung als Rahmenbedingung der Sozialgeschichte der DDR, in: Hartmut Kaeble/Jürgen Kocka/Hartmut Zwahr (Hrsg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 17-30. 41 Ebd., S. 19. 42 Jürgen Kocka, Eine durchherrschte Gesellschaft, in: Kaeble/Kocka/Zwahr (Anm. 40), S. 552. 43 Ilko Sascha Kowalczuk kritisierte, daß der Begriff „durchherrschte Gesellschaft" lediglich ein „Alternativbegriff' für die totalitäre Gesellschaft darstelle und aus „tak-

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Eine derart definitorisch begrenzte Eigenständigkeit der Gesellschaft wurde zudem der subjektiven Lebenserfahrung vieler Ostdeutscher, besonders auch von Intellektuellen, nicht gerecht. Schon Anfang der neunziger Jahre gab es starke publizistische Tendenzen in Ostdeutschland, oft von der Politik unterstützt, den Alltag und die alltäglichen Verhaltensweisen stärker aus der Diktaturbetrachtung zu lösen. Dem kam eine Reihe von Wissenschaftlern entgegen. Detlef Pollack milderte sein Konzept von der „Organisationsgesellschaft" 44 und sprach nun von der „konstitutiv widersprüchlichen Gesellschaft", die von manifesten „Spannungslinien"45 durchzogen sei. Mit dem Hinweis auf inoffizielle Diskurse und alternative Verhaltensweisen machte er auf uneinlösbare Ansprüche des Systems aufmerksam. Da er aber einräumte, dass die „funktionale Differenzierung" der Gesellschaft nicht dazu führte, dass die „einzelnen Systeme", Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur, „die ihnen innewohnende Eigendynamik"46 entfalten konnten, repräsentieren diese Bereiche auch keine vom politischen System unabhängige Gesellschaft in der sich eigenständige Alltagsstrategien hätten durchsetzen können. Auf der Suche nach Spuren oder Keimzellen eines gesellschaftlichen Lebens griffen einige Autoren auf die Debatte über die Zivilgesellschaft zurück, die trotz der Verhinderungspolitik der SED latent vorhanden war und schließlich 1989 zum Durchbruch kam. Als Geburtshelfer der Zivilgesellschaft sehen Hartmut Zwahr 47, Patrik von zur Mühlen48 und Karsten Timmer vor allem die Opposition und die durch sie im Herbst 1989 ausgelöste Mobilisierung. Timmer sieht überdies die oppositionellen Gruppen in einem „kollektiven Handlungszusammenhang" einer sozialen Bewegung, die alle Aktivitäten der Revolution zusammenbringt und von ihm global als „DDR-Bürgerbewegung" 49 bezeichnet wird. Zweifellos sind die Handlungsoptionen im Herbst 1989 auf die soziale tisch-wissenschaftlichen" Gründen gebraucht würde. Materialien der EnqueteKommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit". 13. Wahlperiode des Deutschen Bundestages. Band V Alltagsleben in der DDR und in den neuen Ländern, Frankfurt a.M. 1999, S. 41. 44 Vgl. Detlef Pollack, Kirche in der Organisationsgesellschaft. Zum Wandel der gesellschaftlichen Lage der evangelischen Kirchen in der DDR, Stuttgart 1994. 45 Ders., Die konstitutive Widersprüchlichkeit der DDR. Oder: War die DDRGesellschaft homogen? In: Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), S. 114. 46 Pollack ( Anm. 44), S. 35. 47 Vgl. Hartmut Zwahr, Ende einer Selbstzerstörung. Leipzig und die Revolution in der DDR, Göttingen 1993. 48 Patrik von zur Mühlen, Aufbruch und Umbruch in der DDR, Bonn 2000. 49 Karsten Timmer, „Für eine zivile Gemeinschaft zivilisierter Bürger" - Die ideellen Grundlagen der DDR-Bürgerbewegung 1989/90, in: Günter Heydemann/Gunter Mai/Werner Müller (Hrsg.), Revolution und Transformation in der DDR 1989/90, Berlin 1999, S. 53.

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Praxis einer alternativen Lebensweise und alternativen Öffentlichkeit des oppositionellen Milieus vor 1989 zurückzufuhren. Fragwürdig ist allerdings diese Begrenzung. Sicher hat es nur in der Opposition und in den Kirchen gegengesellschaftliche Modelle gegeben, aber das System konterkarierende Alltagspraktiken waren eben sehr viel weiter verbreitet und erleichterten 1989 das Aufbrechen der geschlossenen Gesellschaft. Für den Versuch, unabhängig von Herrschaft Gesellschaftsgeschichte zu schreiben, steht mit dem Programm „Grenzen der Diktatur" auch Ralph Jessen50, der eine Reihe von gesellschaftlichen Bereichen, u. a. das Hochschulwesen, aufzeigt, die abweichend zu den SED-staatlichen Erwartungen ein gewisses Eigenleben führten. Der Ansatz von Jessen gehört in die Reihe von anspruchsvollen theoretischen Konzepten, die von Mitte der neunziger Jahre an eine wissenschaftliche Alltagsforschung wesentlich vorangetrieben haben. Zu den wichtigsten Protagonisten dieses Forschungszweiges gehört Alf Lüdke, der die Kommunikation, die wechselseitigen Wirkungen und die gegenseitigen Blockierungen zwischen Herrschern und Beherrschten in totalitär verfassten Gemeinwesen untersuchte. „Gebrauch von Sprache erschöpft sich nicht in der Sprachmacht von Herrschaft und Herrschenden. Die Praxen des Widerstehens, aber auch die der Distanzierung und des Eigen-Sinns benutzen Sprache (und Bilder) - und werden von diesen Ausdrucksformen reguliert. Rituale bieten Manövrierchancen. Ihre unaufhebbaren Mehrdeutigkeiten lassen sich für ,hidden transscripts' nutzen, ohne damit eine zwingende Handhabe für die Herrschenden zu bieten. Es sind dies die sprachlichen (oder bildlichen) Dimensionen jener Schwejkiaden, in der sich die angeblich ,kleinen Leute' ihre eigene Zeit und ihren eigenen Raum in den Unübersichtlichkeiten der Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse ,moderner' Gesellschaften zu sichern suchen. Sprachund Bild-Rituale bleiben freilich offen für unangestrengtes Sich-Einfügen in herrschende Verhältnisse."51 Diesen Ansatz des eigensinnigen Verhaltens in und gegenüber der Herrschaft, wenn auch oft nur in kryptischer Form, hat Thomas Lindenberger weiterentwickelt. Für ihn steht außer Frage, dass die DDR wegen ihres Mangels an Recht eine Diktatur war. Aber er erklärt auch: „nicht alles in der DDR war Diktatur", da „Herrschaft als soziale Praxis" eine „wechselseitige Abhängigkeit" bedeute. Sein Machtbegriff, in Anlehnung an Michel Foucault, erfasst Macht als

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Vgl. Richard Bessel/Ralph Jessen (Hrsg.), Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR, Göttingen 1996. 51 Alf Lüdtke, Sprache und Herrschaft in der DDR, in: ders./Peter Bender (Hrsg.), Akten. Eingaben. Schaufenster. Die DDR und ihre Texte. Erkundungen zu Herrschaft und Alltag, Berlin 1997, S. 15.

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„soziales Kräftefeld" 52, in dem alle, auch die Unterworfenen, an Macht teilhaben. Wenn dieses Machtverhältnis auch asymmetrisch ist und die Gewaltmittel allein den Herrschenden zur Verfügung stehen, ermöglicht die soziale Kommunikation den Beherrschten ein gewisses Maß an eigenständigen oder eigensinnigen Wirklichkeitskonstruktionen. Es ginge dabei nicht um widerständiges Verhalten als politische Negation, sondern um die eigenwillige „Aneignung und Deutung von Herrschaftsstrukturen". „,Eigen-sinnig' motivierte Verhaltensweisen enthielten somit ein durchaus ambivalentes Potential: Sie konnten den totalitären Geltungsanspruch der SED unterlaufen und Bereiche des Aushandelns und der relativen Eigenständigkeit sichern."53 Freilich sei dies nur auf der untersten Ebene diktatorischer Herrschaft anzutreffen und sei ein Ausdruck von Defiziten der Gesellschaftssteuerung, also ein ungewollter Effekt von Herrschaft. Es handelte sich um einen „funktionsfähigen Ersatz"54 für Gesellschaft, gleichsam der Tauschhandel und der „Kitt, der die abgegrenzte DDRGemeinschaft zusammenhielt, die unterschiedlichen Interessen der Träger der Macht und der Abhängigen überspielen half'. 55 Auf der Grundlage dieses theoretischen Konzeptes erschien seit Mitte der neunziger Jahre eine Vielzahl von Studien und Untersuchungen, die plausibel die empirischen Befunde des Alltagslebens in der DDR als der Diktatur eigene soziale Phänomene einzuordnen vermochten.56 Im Windschatten des Eigensinnigkeitskonzeptes entstanden aber auch Bücher, Veröffentlichungen, Ausstellungskonzepte, die den Herrschaftsaspekt aus dem Alltag der DDR weitgehend oder ganz ausblendeten. Vieles dient der Befriedigung eines verbreiteten Bedürfnisses nach einer unpolitischen Nostalgie. Konsumgeschichten und -lexika, Designbände57 oder einschlägige Internetseiten schildern oft ein idyllisches und romantisches Bild vom Alltag in der DDR, das bisweilen die mental schwierig zu bewältigende Transformation von der Diktatur in diefreie Gesellschaft eher blockiert als befordert. Zu den ernstzunehmenden Studien gehört die Arbeit von Ina Merkel, mit dem programmatischen Titel „Utopie und Bedürfnis". Sie ist darin auf der „Su-

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Thomas Lindenberger, Die Diktatur der Grenzen, in: ders. (Hrsg.), Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR, Köln u.a. 1999, S. 21 f. 53 Ebd., S. 25. 54 Ebd., S. 36. 55 Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989, Berlin 1999, S. 22. 56 Verwiesen sei hier auf die Einzelbeiträge in den Sammelbänden von Lüdke (Anm. 51) und Lindenberger (Anm. 52). 57 Vgl. Günther Drommer (Hrsg.), 50 Jahre DDR. Der Alltag der DDR, erzählt in Fotographien aus dem Archiv des A D N mit Original-Bildunterschriften, Berlin 1999; Stefan Sommer, Lexikon des DDR-Alltags, Berlin 1999.

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che nicht nur nach Konflikt-, sondern auch nach Konsenspunkten zwischen Politik und Bevölkerung".58 Nicht der Vergleich mit der Alltagswelt des Westens, sondern die sozialistische Utopie, die der Versuch einer „Gegenmoderne" bedeutete, und das Selbstverständnis der DDR sollen zum Zuge kommen. Der alltägliche Mangel in der DDR sei nicht am Überfluss des Westens zu messen, sondern an der Kritik der westlichen Konsumkultur. Im Ergebnis glaubt Merkel aus der durchaus ambivalent gesehenen Konsumgeschichte „grundsätzliche Übereinstimmungen über Ziele und Ideale"59 zwischen Bevölkerung und SEDStaat diagnostizieren zu können. Damit werden Alltagsverhalten und -muster nicht mehr als Lebensstrategien unter widrigen Bedingungen, sondern als Eigenwert, als Bausteine einer bis heute Bestand habenden DDR-Identität aufgefasst. Zu den Arbeiten, die Sozial- und Alltagsgeschichte der DDR aus dem repressiven Kontext lösen und die „ostdeutsche Gesellschaft von innen ... rekonstruieren", gehört Wolfgang Englers Buch „Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land". Engler sucht das verlorene Land, die wahre DDR, in ihrer Gesellschaft, die jenseits der Herrschaftspraktiken der SED bestanden hätte. Diese Gesellschaft hätte auf eigenen Füßen gestanden, weil sie das, „was von oben in sie eingepflanzt wurde, aufnahm, verarbeitete, umdeutete und abwandelte" und an ihr „der politische Fremdzwang entweder am sozialen Eigensinn scheiterte oder auf verschlungenen Pfaden in Eigensinn umschlug".60 Die von den Mächtigen produzierten Krisen sind für Engler der Schoß, der die wahre DDR gebar. Selbst der 17. Juni 1953 wird als einer der Schöpfungsakte der wahren DDR gedeutet. Nun hätten die Machthaber gewusst, dass sie gegen alle, nur nicht gegen die Arbeiter regieren konnten. Herausgekommen wäre ein stillschweigendes Übereinkommen zwischen heimlich Verbündeten. So erscheint die Gesellschaft als ein Subjekt, als eine Einheit, die zwar vielfältig gebrochen, aber doch im Verborgenen gedieh. Sie erstand aus Ruinen beim Aufbau nach 1945, wohnte in der Stalinallee, der steinernen Metapher der Gleichheit, und flanierte schließlich in der Wunsch-DDR, dem Palast der Republik, den sie Honeckers Lampenladen nannte. Und es wäre eine Gesellschaft entstanden, die dem Wert Gleichheit verschworen war, auf „egalitäre Weise individualistisch" und auf „individualistische Weise egalitär", die schließlich im „Pluralis Majestatis" „Wir sind das Volk" 61 1989 ihr Dasein öffentlich machte. 58 Ina Merkel, Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR, Köln u.a. 1999, S. 12. 59 Ebd., S. 34. 60 Wolfgang Engler, Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land, Berlin 1999, S. 8.

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Dann aber kamen die Führer der Bundesdeutschen und übernahmen das „geistig und strategisch führungslos" 62 gewordene Volk, das dies erst merkte, als es schon zu spät war. Das politische Interesse Englers liegt auf der Hand. Er will eine ostdeutsche Sonderidentität definieren und muss deswegen Alltagsgewohnheiten und Prägungen, die als Folgen der Diktatur zu verstehen sind, in positive Qualitäten umformulieren. Solchen Versuchen, die auf die Beschreibung von herrschaftsfreien Alltagswelten oder gar einer von der SED-Herrschaft unberührten und autonomen Gesellschaft angelegt sind, stehen die Bemühungen gegenüber, das Ausmaß der Durchdringung oder der Steuerung des Alltags zu inventarisieren und zugleich die eigenwilligen Reaktionen und Strategien der Bürger auf die politischen Anmaßungen zu zeigen. Wie sich die Interdependenz von Herrschafts- und Alltagsgeschichte im Alltagsverhalten, wie Eigensinnigkeit, Improvisationsvermögen, Unterlaufen der SED-Normen, mehrdeutiges Reden, Aushandeln von Kompromissen, Scheinloyalität ausdrückte, war auch Gegenstand der Debatten der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit" in der 13. Wahlperiode des Deutschen Bundestages 1994 bis 1998.63 Im Abschlußbericht der Kommission wurde unter anderem auf den für den Alltag bestimmenden systembedingten Mangel an materiellen und geistigen Gütern verwiesen: „Die Erfahrung des Mangels gehörte untrennbar zur Alltagswirklichkeit in der DDR. Leben in der DDR bedeutete in vielerlei Hinsicht ein Leben in Mangel und ein Leben mit dem Mangel. Der Mangel war geradezu eine prägende und charakteristische Eigenheit des DDR-Alltags, die von jedem Menschen unabhängig von seiner politischen Einstellung ganz bewusst erlebt wurde. Diese Erfahrungen sind weder an bestimmte historische Zeitabschnitte, an spezifische Regionen noch an bestimmte soziale Räume gebunden, sondern waren jederzeit und überall präsent."64 Wie Konsum- und Mangelgeschichte miteinander verknüpft waren und zur politischen Delegitimation des SED-Staates beitrugen, hat Annette Kaminsky65 anschaulich herausgearbeitet. Zudem bedeuteten die millionenfachen privaten

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Ebd., S. 339. Auch der Landtag von Mecklenburg-Vorpommern beschäftigte sich mit zahlreichen Alltagsproblemen in der DDR und im Transformationsprozess. Vgl. Landtag Mecklenburg-Vorpommern (Hrsg.), Leben in der DDR. Leben nach 1989 - Aufarbeitung und Versöhnung. Band I-X, Schwerin 1995-1997. 64 Materialien der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit" (Anm. 43), Band I: Anträge, Debatten, Berichte, Veranstaltungen, Frankfurt a.M. 1999, S. 529f. 65 Annette Kaminsky , Wohlstand. Glück. Schönheit. Kleine Konsumgeschichte der DDR, München 2001. 63

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Geschenksendungen66 aus dem Westen nicht nur für die Ostdeutschen eine Orientierung an westlichen Standards und eine Entlastung für die Haushalte, sondern wurden zu einem Wirtschaftsfaktor für die DDR, weil sie die Lücken der staatlichen Versorgung füllten. Inzwischen liegen zahlreiche Veröffentlichungen vor, die die doppelte Seite des DDR-Alltags, Schein und Realität67, zeigen oder jenen Handlungsraum zwischen Anspruch der SED und eigenwilliger Selbstbehauptung etwa im Publikationswesen der DDR 68 oder in der Arbeitswelt69 wissenschaftlich untersuchen. Sehr verschieden beantworten die Autoren den jeweiligen Grad der in den Alltag hineinreichenden Repressionen und der durch gewitztes Verhalten bewirkten Entmächtigung der Herrschenden. Einen deutlichen Bezug zur repressiven Durchdringung des Alltags und der „manipulativen Sozialsteuerung" bietet ein Sammelband von Clemens Vollnhals und Jürgen Weber.70 Schließlich sei auf das Werk „Die heile Welt der Diktatur" von Stefan Wolle verwiesen, ein meisterlich geschriebenes Buch, das schon mit seinem Stil jenes unverwechselbare Jonglieren zwischen „notwendiger Anpassung und gebotener Distanz", das „tägliche Katz- und Maus-Spiel"71 nacherleben lässt. Und Wolle erzählt in vielen Varianten, dass die von manchen Ostdeutschen nachträglich beschworene Idylle DDR zu den Fiktionen der Diktatur gehörte, die sich nur durch ein dichtes Netz von alltäglicher Kontrolle und Selbstkontrolle lange Zeit halten konnte. Der erfreuliche Stand der Forschungen zum DDR-Alltag unter den Bedingungen der Diktatur weist aber auch noch Lücken auf. Bislang fehlt eine umfassende empirische Studie über Alltag und Herrschaft im mikrohistorischen bzw. regionalgeschichtlichen Bereich. Die Komplexität der politischen und sozialen Kontrolle durch Hausbuch, Kaderakte, Berichtsmanie in allen Bereichen, durch das „politisch-operative Zusammenwirken" von MfS und staatlichen und parteilichen Institutionen einerseits und das komplementäre Verhalten der Betroffenen andererseits könnte weiteren Aufschluss zum Alltag in der Diktatur geben.

66 Christian Härtel/Petra Kabus (Hrsg.), Das Westpaket. Geschenksendung keine Handelsware, Berlin 2000. 67 Volker Handloik/Harald Hauswald (Hrsg.), Die DDR wird 50. Texte und Fotografien, Berlin 1998. 68 Vgl. Simone Barck/Martina Langemann/Siegfried Lokatis (Hrsg.), Zwischen „Mosaik" und „Einheit". Zeitschriften in der DDR, Berlin 1999. 69 Vgl. Peter Hübner/Klaus Tenfelde (Hrsg.), Arbeiter in der SBZ-DDR, Essen 1999. 70 Clemens Vollnhals/Jürgen Weber (Hrsg.), Der Schein der Normalität. Alltag und Herrschaft in der SED-Diktatur, München 2002. 71 Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 19711989, Berlin 1998, S. 239.

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3. Handlungstypen im Spannungsfeld von Herrschaft und Alltag 3.1 Drei Alltagsstrategien im Leben von DDR-Bürgern Die Verquickung von politischer Herrschaft und alltäglicher Lebenswelt im sozialistischen System spiegelt sich vielfältig in den systembedingten Lebensweisen wie in den gewählten Alltagsstrategien der Bürger. Es liegt nahe, das Alltagshandeln von Individuen im oder auch in Distanz zum politischen System nach Kriterien der Verbundenheit bzw. dem Grad ihrer Loyalität oder ihrer Kritik zu kategorisieren. Im Ergebnis entstände ein Wertigkeitsgefälle der Konformität der DDR-Bürger, die in Begriffen wie Anpassung, Ausweichen, Verweigerung, Opposition, Widerstand skaliert werden könnten. In diesem Fall wäre eine Vergleichbarkeit auf ausgesprochene politische Abwehrhaltungen und gegnerische Handlungen reduziert. Insofern wäre eine solche Skala für die verschiedenen Formen politischer Gegnerschaft sinnvoll, da in diesen Kategorien differenzierbare strategische Momente politischen Verhaltens erkennbar sind. Weil die Entpolitisierung der Gesellschaft zum Konzept der kommunistischen Gesellschaftskonstruktion gehörte, gemeinsames öffentliches Handeln auf Akklamation beschränkt war und ein Heraustreten aus den zugewiesenen Rollen eher selten war, werden weite Bereiche des Alltagshandelns mit einer Begrifflichkeit, die das politisch-strategische Verhalten der Bürger bevorzugt, nicht erfasst. Da sich die Verknüpfung von Herrschaft und Alltag zu einem beträchtlichen Teil aus den gesellschaftspolitischen Eingriffen und Maßnahmen der Herrschenden ergab, muss die Integrationsleistung des Systems berücksichtigt werden. Sie stellt eine der Voraussetzungen für das Alltagshandeln dar. Die kommunistische Herrschaft beruhte zwar zunächst auf der Durchsetzung ihres Machtanspruches, auf der tiefgestaffelten Kontrolle der Gesellschaft bis in die privaten Bereiche hinein. Dazu gehörten der offene Terror der Frühzeit und die durch Drohung erzeugte Atmosphäre der Angst und die raffinierte Kontrolle bis in die letzten Jahre. Zugleich aber wurde ein durch die Ideologie induziertes Gesellschafts- und Kultursystem geschaffen, in dem sich die Menschen bewegen mussten. Während die sozialen und kulturellen Traditionen und die zivilgesellschaftliche Selbstorganisation zerstört oder eingeschränkt wurden, unterbreiteten die Herrschenden eigene Angebote. Gerade die Verknappung materieller und immaterieller Güter machte die selektive Zuteilung dieser Güter zum Herrschaftsmittel und Instrument der Mobilisierung der SED-Eliten, teilweise auch größerer Bevölkerungsgruppen, und erzeugte bis 1989 das passive Teilnahmeund Umgehungsverhalten oder besser des „Eigensinns" der übergroßen Mehrheit. Die Alltagsforschung, soweit sie die politischen Implikationen berücksichtigt, hat offengelegt, dass die Schwäche der Ökonomie nicht nur die ideologi-

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sehen Grundlagen sozialistischen Wirtschaftens aushöhlte, sondern zu einer Privilegierung der Konsumtion von bestimmen Gruppen führte. Die gewaltsame kommunistische Transformation vernichtete nicht nur die Potentiale der bürgerlichen Geistes- und Wirtschaftseliten, sondern ermöglichte vielen Menschen neue Aufstiegsmöglichkeiten. Der Verknappung von Kultur, die Kontrolle der öffentlichen Willensbildung, die Unterdrückung missliebiger Diskurse sowie das Zurückdrängen der Religion führten zwar zu einer Virtualisierung des Geisteslebens, zogen aber zugleich die geistigen Eliten in den Bannkreis ideologischer Legitimationsmuster und nötigten große Teile der Bevölkerung zur Teilnahme an sozialistischen Ritualisierungen, wie in den betrieblichen Arbeitskulten oder der Jugendweihe. Die Hierarchien in den bürokratischen und militärischen Apparaten hatten zwar eine disziplinierende Wirkung, verliehen aber auch die Gewissheit von Ordnung und Sicherheit. Dies alles sind Faktoren der lange währenden Stabilität des Systems. Allerdings war diese Stabilität stets fragil. Sie konnte bis in die sechziger Jahre nur mit energischen Gewaltmaßnahmen erhalten werden und zerschliss in der Honecker-Ära bis zum Untergang des Systems. Die nachlassende Integrationsfähigkeit des sozialistischen Systems beruhte auf dem ihm innewohnenden Trugschluss, eine Interesseneinheit aller Gesellschaftsmitglieder herstellen zu können. Das kommunistische Kunstgebilde trug eben von Anfang an den Keim des Untergangs in sich, weil die angestrebte Einheit aller mit allen schon dadurch nicht erzeugt werden konnte, weil die Partei und ihre Führer der umzugestaltenden Gesellschaft und dem umzudisponierenden Individuum gegenüber traten und genau jene Spaltung stets neu hervorriefen, die sie aufzuheben trachteten. Dieses Dilemma des kommunistischen Konstruktes kann je nach dem gewählten Blickwinkel beschrieben werden, als begrenzte Reichweite von Herrschaft in der „durchherrschten Gesellschaft", als deren „konstruktive Widersprüchlichkeit". Die Historiker registrieren die Evolution vom Aufstieg zu der entscheidenden Herrschaftskrise 1989 als progressiv verlaufenden von externen und internen Faktoren bestimmten Machtverfall. Die kommunikationslose Zweiteilung der Gesellschaft zwischen dem „einfachen, der allgemeinen Norm unterworfenen Bürger" und dem „vereidigten und versorgten Bürger der herrschenden Klasse" hat 1984 den Franzosen Guy Hermet veranlasst von einer „heimtückischen Krankheit" des Kommunismus zu sprechen. Er stellte die Hypothese auf: „Nämlich der stufenweise Verfall des Systems, bei dem letzteres angesichts einer alles in allem separatistisch gewordenen Gesellschaft immer weniger Kontrolle über Menschen und Dinge ausübt."72 72 Guy Hermet, Vergangenheit und Gegenwart: Vom faschistischen und nazistischen Regime zum kommunistischen System, in: Eckhard Jesse (Hrsg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert, Bonn 1996, S. 196.

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Der Kommunismus fand keine Mittel, diese ihm eigene und schließlich letal wirkende Spaltung zu verhindern oder die durch diese Spaltung induzierten politischen Energien mit machtpolitischen Mitteln im Zaum zu halten. Er ging im Vollbesitz seiner Gewaltinstrumente, Militär- und Sicherheitsapparate unter. Aber nicht nur die herrschende kommunistische Partei oder ihre Repräsentanten hatten mit der Aufrechterhaltung des Phantasma zu kämpfen, indem sie propagandistisch gegen die Wirklichkeit behaupteten, die Partei sei Sinn- und Abbild der gesellschaftlichen Einheit. Zunehmend verfehlte die politische Inszenierung die wirklichen Verhältnisse und ignorierte sich anbahnende krisenhafte Entwicklungen. Doch dieses Problem hatten nicht nur die höchsten Parteikader, sondern auch die Parteimitglieder, die Gesellschaftsmitglieder insgesamt. Der politische, soziale und kulturelle Anspruch war mit der Wirklichkeit bis in den Alltag hinein nicht zu vermitteln. Alle Vermittlungsinstrumente zwischen Herrschenden und Beherrschten versagten. Alle Normen, auch das Recht oder Scheinrecht des Systems, blieben eine Farce. Zwar jonglierte das System mit Begriffen wie „sozialistische Moral" oder „sozialistische Gesetzlichkeit",'die die verpflichtende Bindung aller an die von der Partei geführten und organisierten Einheitsgesellschaft definierten. Faktisch hielt sich freilich nicht einmal die Parteiführung an solche Normen, galt doch das Primat der Politik. Aber auch in der Wirtschaft, in den Verwaltungen, im Alltag der staatstragenden Schicht wie der Bürger wurden die Normen des Systems unterlaufen, teils um ein Mindestmaß an Funktionalität zu erreichen, teils um persönlicher Vorteile oder der Bewältigung des Alltags willen. Aus dieser Problemlage, die für das Politbüromitglied bis zum Oppositionellen bestand, ergibt sich ein gemeinsamer Bezugspunkt, der die unterschiedlichen Typen des Alltagsverhaltens vergleichbar macht. Sie alle hatten sich mit dem Phantasma der angestrebten und inszenierten Gesellschaftskonstruktion auseinander zu setzen, ob sie diese nun politisch vertraten oder politisch ablehnten. Sie alle hatten mit der Unmöglichkeit zu tun, die Erwartungen des Kommunismus erfüllen zu können, ob sie nun selbst den Anspruch der Erfüllbarkeit stellten oder von dessen Irrealität ausgingen. Sie mussten nach Problemlösungen suchen, die ihr alltägliches Sozialverhalten auf das Phantasma einstellten. Dafür brachten sie unterschiedliche Prägungen und Erfahrungen sowie ein unterschiedlich ausgebildetes Reflexionsvermögen über ihre Lage und den Handlungsbedarf mit. Selbst wenn sie über optimale Wege des Alltagsverhaltens nicht zu reflektieren vermochten, konnten sie auf einen gewissen Schatz von kollektiven Erfahrungen zurückgreifen, sich an all denen orientieren, die wussten wie durchzukommen war. Um Verhalten in der Um- und Mitwelt als rationales Handeln sichtbar zu machen, haben die Sozialwissenschaften, die sich von deterministischen und geschichtsmetaphysischen Mustern gelöst haben, schon seit Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts das theoretische Konstrukt der Ideal-

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typen benutzt, das sich bewährt, wenn solche Typen unterschiedliche Mittel zur Erreichung eines Handlungszieles erkennen lassen.73 Es gilt: „Alltag ist eine pragmatische Einstellung, die wir offensichtlich mit anderen Menschen irgendwie teilen. Alltag ist jene Geisteshaltung, in der wir annehmen, dass andere normale, hellwache, erwachsene Menschen im großen und ganzen Menschen ,wie wir' sind, dass sie also, wären sie an unserer Stelle, ,die Dinge' auch ungefähr so sehen würden wie wir sie sehen."74 Hier sollen drei typische Verhaltensweisen bzw. Alltagsstrategien für das Leben in der DDR definiert werden. Auf sich verhaltende Subjekte bezogen handelt es sich erstens um den Typ des „Utopisten", der sich über das Problem hinwegtäuscht, zweitens um den Typ des „Händlers", der sich pragmatisch an Nützlichkeitserwägungen orientiert, und drittens um den Typ des „Moralisten", der seine Identität in der Auseinandersetzung mit den politischen Ansprüchen und alltäglichen Schwierigkeiten bewahren und behaupten will. 75 Diese drei Typen des Alttagsverhaltens spiegeln jeweils spezifische Varianten der von Thomas Lindenberger verallgemeinernd als „Eigen-Sinn" definierten Strategien zur alltäglichen Problemlösung in der Diktatur. Sie können zudem auch als spiegelbildliche Reaktionen auf die wichtigsten Verfahren der Herrschaftssicherung der SED verstanden werden. Die „Utopisten" reagieren auf die Ideologie und Propaganda des Systems, die „Händler" auf das Prinzip der Loyalitätsstiftung durch die Sozialpolitik oder die Gewährung von Privilegien und die „Moralisten" auf die abverlangte Disziplin und den Gehorsam gegenüber dem Staat. Diese Typisierung hat, wie alle Kategorisierungen, den Nachteil jeder idealtypischen Klassifikation. Je reiner Idealtypen definiert werden, desto schwieriger ist es, die empirischen Befunde mit diesen Typen in Übereinstimmung zu

73 Dazu u.a.: Max Weber, Die „Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. (Erstveröffentlichung 1904), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 1988. S. 146ff; Karl Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen (1919), München 1994; Alfred Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Wien 1932, S. 247-285; Werner Georg, Soziale Lage und Lebensstil. Eine Typologie, Opladen 1998. 74 Roland Hitzler, Die Attitüde der künstlichen Dummheit. Vom Verhältnis von Soziologie und Alltag, in: Sozialwisssenschaftliche Information 15 (1986), S. 55. 75 Eine solche Typisierung bietet auch Hagen Findeis an. Er hat in einer Untersuchung 17 biographischer Interviews mit Bischöfen und Kirchenführern in der DDR drei Typen der Problembehandlung des Lebens in der DDR herausgearbeitet: den Ethiker, den Pragmatiker und den Ästhetiker. „Danach erscheinen die Formen der Verhältnisbestimmung zum DDR-System nicht als von diesem erzeugte Handlungsmuster, sondern als spezielle Anwendungsfälle genereller Handlungstypen, die ich wegen ihrer allgemeinen Funktionslogik und Kulturgebundenheit anthropologisch nenne." Hagen Findies, Das Licht des Evangeliums und das Zwielicht der Politik. Kirchliche Karrieren in der DDR, Frankfurt a.M. 2002, S. 397.

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bringen. Dennoch ist eine Typenbildung auch in diesem Fall hilfreich, ja unerlässlich, weil nur so die wesentlichen Verhaltensmuster unterschieden werden können. In der Wirklichkeit gibt es stets Überschneidungen und Mischformen. Auch haben Idealtypen den Nachteil, generationsübergreifende Merkmale zu zeichnen. Tatsächlich spielen generative Unterschiede angesichts der für alle Generationen zu bewältigenden Alltagsaufgabe, die Auseinandersetzung mit dem Phantasma, eine relativ geringe Rolle. Allerdings muss im Kontext der Evolution des SED-Staates nach der Bewährung des jeweils charakteristischen Verhaltenstyps z. B. im Aufbau des Systems in denfrühen Jahren und schließlich in seinem Zerfall der Spätzeit gefragt werden. Das bedeutet auch, dass nach der Disposition des jeweiligen Typs für den Wandel in und nach der Herbstrevolution 1989 gefragt werden muss.

3.2 Die „Utopisten" Die enorme Faszination der kommunistischen Vision beruhte auf deren quasireligiösem Charakter. Wie in der Religion schien in dieser Utopie die Synthese „von die Gegenwart transzendierenden Glücksversprechen und Kompensation akuter sozialer Misere" 76 gelungen zu sein. Das gesamte virtuelle Gefüge der kommunistischen Ideologie diente der Behauptung der Utopie gegen die Realität. Nach eigenem Selbstverständnis glaubten die Kommunisten zwar, die Gesellschaft nach dieser Utopie umgestalten zu können. In der Wirklichkeit schufen sie aber ein hochproblematisches Gesellschafts- und Politikkonstrukt, das auf der Zerstörung des zivilgesellschaftlichen Eigenlebens beruhte und stets der ideologischen Umkleidung bedurfte, um als neue kommunistische oder sozialistische Qualität identifiziert werden zu können. Die Annahme, eine neue Gesellschaft aufbauen zu können, hat bei „den bürokratischen Eliten die Illusion der ,Allmächtigkeit', der unbegrenzten Steuerungsmöglichkeiten"77 gesellschaftlicher Prozesse erzeugt. Macht und Utopie flössen in einem Steuerungsglauben zusammen, der neben dem ungeschminkten physischen Einsatz von Gewaltmitteln eine Erziehungs- und Umerziehungspolitik produzierte. Das geflügelte Wort vom „richtigen Bewusstsein" markierte die Fähigkeit zur Selbstknechtung der eigenen Wahrnehmung des sozialistischen Alltags als sozialistische Erfüllung einer Glücksverheißung. Wer im Bannkreis der Utopie gefangen war, konnte die alltäglichen ideologischen Ungereimthei-

76 Wolfgang Bialas, Vom unfreien Schweben zum freien Fall, Ostdeutsche Intellektuelle im gesellschaftlichen Umbruch, Frankfurt a.M. 1996, S. 287ff. 77 Christo Stojanov, Das „Immunsystem" des „real existierenden Sozialismus", in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 19/91, S. 41.

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ten, Versorgungsschwierigkeiten, repressiven Einschränkungen und das Ausbleiben aller Versprechungen als Übergangserscheinungen, als gegenwärtige Auswirkung des Klassenkampfes und die Unmöglichkeit der Realisierung der kommunistischen Vision als Beweis für die Größe der gestellten Aufgabe deuten. So litt der Utopist an elementaren Wahrnehmungsschwierigkeiten, hatte aber zugleich als Gläubiger ein Mittel, das Grundproblem des Alltags im Sozialismus zu lösen. Er konnte das Fiktionale mit Sinnkonstruktionen kompensieren und auf die Zukunft einer beglückenden Realität hoffen. Und die Ideologen sprachen dies auch aus. Jürgen Kuczynski wählte sich als Leitspruch: „Der Zwiespalt zwischen Traum und Wirklichkeit ist nicht schädlich, wenn nur der Träumende ernstlich an seinen Traum glaubt, wenn er das Leben aufmerksam beobachtet, seine Beobachtungen mit seinen Luftschlössern vergleicht und überhaupt gewissenhaft an der Realisierung seines Traumgebildes arbeitet."78 Der Typ des Utopisten findet sich aber nicht nur in den Kreisen der mit Macht ausgestatteten Kader. Er ist bei den unterworfenen und verwalteten Individuen ebenso anzutreffen. Sie waren ihrerseits auf „externe Steuerungen angewiesen", um dem „Risiko individueller Abweichungen"79 zu entgehen. Aus diesen zunächst sicher angstbesetzten Alltagserfahrungen sind Bewusstseinsmerkmale entstanden, die denen der an der Macht befindlichen Kader glichen: „Alltägliche Erfahrungen in einer Realität, die keine berechenbare Struktur besitzt und der bürokratischen Willkür ausgesetzt ist, hat den Glauben an Wunder zu einem wesentlichen Bestandteil eines quasireligiösen Verzauberungsbewusstseins aufgewertet. Man darf keine eigene Meinung haben bzw. eigene Initiative ergreifen, weil die Entwicklung durch ,höhere', ,alles besser wissende Instanzen4 gelenkt wird, an denen zu zweifeln sündhaft und unmoralisch wäre." 80 Und vor allem wäre es gefährlich, sich der sozialistischen Wirklichkeitsordnung zu entziehen. So konnte die kommunistische Utopie auf die in der deutschen politischen Kultur durchaus wirksamen Muster wie Gehorsam, Disziplin, Ordnung, Sauberkeit zusammenschrumpfen. Sie wurden von der SED-Führung verlangt und von nicht wenigen als Verhaltensmuster zur Bewältigung des Alltags gelebt. Nicht nur die militärischen und bürokratischen Apparate konnten so zusammengehalten, sondern auch viele Menschen im Volk auf die minimalisierte Utopie von Sicherheit festgelegt werden. So mag mancher NVA-Unteroffizier, mögen sich hunderte Parteifunktionäre, tausende Lehrer und kleine Staatsfunktionäre über die faktische alltagsrelevante Ungleichheit im Sozialismus geärgert haben. In 78 Zitiert nach Ilse Ziegenhagen, Made in GDR. Jürgen Kuczynski (Reportage), in: Sonntag, Nr. 14 vom 2. April 1989. 79 Stojanov (Anm. 77), S. 41.

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der frühen Zeit gaben die überteuerten HO-Läden Anlass zum Ärger, später folgten die Delikat- und Exquisitläden oder die Intershops, in denen nur mit westlicher Währung gekauft werden konnte. Der Utopist konnte dies als Übergangserscheinung ertragen oder hielt sein Begehren für unerlaubtes Aufbegehren, das seine Lebensordnung gefährden konnte. Er konnte sich vielleicht bei den Ritualen einer Militärparade oder einem Massenaufmarsch den Trost holen, den er in der Realität nicht bekam. Utopien, wenn sie fortgesetzt an der Realität gemessen und nicht im Transzendenten gehalten werden, schleifen sich ab, verbrauchen sich. So haben die Utopisten unter den Kadern und dem mitlaufenden Fußvolk gegen Ende der DDR am Utopieverlust leiden müssen. Möglicherweise konnten sich einige, wie in manchen osteuropäischen Staaten, noch am Zynismus einer illegitimen Machtwahrnehmung ohne utopische Legitimation festhalten. In der Regel erlahmte mit dem Utopieverlust auch der Machtwillen, oft mit dem neidischen Blick nach Westen, wo es offenbar kaum Utopien, aber wunderbare Waren gab. Die kommunistischen Funktionseliten entwickelten in ihrer Orientierungslosigkeit das Syndrom des „Willens zur Ohnmacht".81 Die starre kommunistische „Wirklichkeitsordnung" verfiel und es war niemand mehr da, dem Gehorsam zu leisten war. Die Frage ist daher berechtigt, ob die Utopisten „sehenden Auges in den Untergang"82 gelaufen sind? Zweifellos haben sie die Symptome des Machtverlustes wahrgenommen. Sie haben sie aber verdrängt, weil sie gemäß ihrer Utopie hofften und hoffen mussten, dass der Partei noch etwas zur Rettung einfallen würde. Nach 1990 konnten sie ihre Utopien nur nostalgisch in die Vergangenheit verschieben: Der Sozialismus wäre an sich gut gewesen, nur schlecht gemacht worden und in der DDR hätte es auch positive „Errungenschaften" gegeben. Der Typ des Utopisten war besonders unter Intellektuellen und Schriftstellern verbreitet, auch wenn sie kritisch oder gar dissidentisch auftraten. Augenfällig wird das etwa, wenn sie sich des Themas des 17. Juni 1953 annehmen; bedeutete doch dieser Volksaufstand für einen Tag das Ende der Utopie vom Arbeiter- und Bauernstaat DDR. Hier erweisen sich die Schriftsteller als Gefangene der kommunistischen Geschichtsmythologie, die die Wirklichkeit stets neu erschaffen muss. Sie schreiben sich die Finger und das Herz wund, weil sie den 17. Juni auf ihre Art wahrnehmen, die den Stoff fast schon von allein in eine konstruierte Wahrheit umformt. Selbst kritische Dichter, wie der mit Verboten 81

Martin Sabrow, Der Wille zur Ohnmacht und die Macht des Unwillens, in: Ehrhart Neubert/Bernd Eisenfeld (Hrsg.), Macht Ohnmacht Gegenmacht. Grundfragen zur politischen Gegnerschaft in der DDR, Bremen 2001, S. 317ff. 82 Lothar Fritze, Täter mit gutem Gewissen. Über menschliches Versagen im diktatorischen Sozialismus, Köln/Weimar 1998, S. 225f.

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und Schikanen gejagte Stephan Heym, zeigen dabei ihre ideologisch eingeschränkten Wahrnehmungsmöglichkeiten. Angesichts der unerbittlich nackten Tatsachen des Aufstandes vom 17. Juni können den sozialistischen Künstlern, auch Heym, eine gewaltige Anstrengung, Qualen und Zweifel bei deren literarischer Verarbeitung unterstellt werden. Schließlich kollidiert der Aufstand der Arbeiterklasse mit dem Auftrag, diese Arbeiterklasse durch ihre Kunst so zu erziehen, dass diese Arbeiterklasse zu sich selbst und zur Herrschaft über die Kunst befähigt wird. So ist der schreibende Utopist Heym in seinem lange verbotenen Roman „Fünf Tage im Juni" auf der Suche nach der wahren geschichtsmächtigen Arbeiterklasse. Die falsche Arbeiterklasse wird im Roman geschildert, es sind Agenten aller Art, einschließlich des Ostbüros der SPD in Westberlin, alte Faschisten, Prostituierte, arbeitsscheue Ganoven und Verführte. Die Sowjets retten den Sozialismus im Putsch, aber der eigentliche Held ist der Arbeiter Witte, ein aufmüpfiger SED-Mann. Er kommt in den Betrieb zurück, nachdem die Straßen wieder befreit sind und resümiert gegenüber seiner Sekretärin, die ihm einen Kaffe serviert: „,Trotz ihrer Fehler und Mängel' sagt er, ,es gibt nur die eine Partei, nur die eine Fahne. Ich meine das nicht als Freibrief für all die Feiglinge, Dummköpfe, Schönfärber und Beamtenseelen, an denen es bei uns in der Partei nicht mangelt. Ich meine es als Verpflichtung für Genossen mit Herz, aus dieser Partei ihre Partei zu machen...'."83 Diese Utopie verwandelte das Sinnlose in höheren Sinn, machte den Alltag durch Wegdenken erträglich. Heym sah im Herbst 1989 eine kurze Zeit seine Utopie verwirklicht. Doch als die DDR-Bürger wie schon am 17. Juni das Ende der SED-Herrschaft und die Einheit Deutschlands forderten, verlegte sich Heym wieder auf die Volksschelte, wie er sie 36 Jahre vorher geübt hatte, als sich die Berliner Bevölkerung nicht als die mustergültige Arbeiterklasse bewährt hatte. Im Dezember 1989 beschimpfte er die am mangelnden Bewusstsein leidenden Ostdeutschen. Er war angewidert als sich die Ostdeutschen über die Grabbeltische in westlichen Kaufhäusern hermachten. Für ihn war es die unfrohe Wiederkehr des verführten Pöbels, der schon 1953 die HO-Läden stürmte, in denen nicht die Arbeiter, aber die Schriftsteller einkaufen konnten. Und das Streben nach der Einheit erinnerte ihn an „ein Volk, ein Reich, ein...".84 Diesen falschen Eindruck hatte er auch schon am 17. Juni 1953 gehabt, als die Realität allzu kräftig an der Utopie zerrte.

83

Stefan Heym, 5 Tage im Juni, München 1974, S. 377. Zitiert nach Jutta Roltsch, „Wir brauchen Boden unter den Füßen", in: Frankfurter Rundschau v. 13. Dezember 1989. 84

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Utopisten können enttäuscht werden, aber ihre Wahrnehmungs- und Lernfähigkeit bleibt eingeschränkt. Auch die Utopisten unter den protestantischen Oppositionellen, die wahrlich unter alltäglichen Repressionen zu leiden hatten, konnten vor 1989 ihre asketischen Utopien gegen die Realität des Staatssozialismus wenden. Als dieser aber gefallen war, suchten nicht wenige nach einer neuen Realität, an der sie ihre utopischen Neigungen abarbeiten konnten. Und so richten sie den Stachel ihrer sozialethischen und zivilisationskritischen Utopien, die sie nur noch selten „verbesserlichen Sozialismus" nennen, gegen jene Freiheit, die sie aufzurichten halfen. Sie waren einst trotzig in der DDR geblieben, weil sie die Utopie des erlösten Volkes mit ihren Bedrückern teilten und zugleich deren Aufgabe auf den Kopf stellten. Sie wollten die Herrschenden umerziehen, um den Alltag zu verändern. Jetzt aber ist die Welt für sie nicht besser geworden, weil es wieder Probleme im Alltag gibt. Einer der protestantischen Utopisten nennt die Ursachen: „War das Kennzeichen des Sozialismus die Lüge, so ist das Prinzip des Kapitalismus der Betrug."85 Da ist viel Utopie vonnöten, um das sozialistische Alltagstreiben nachträglich mit Sinn auszustatten. Wie das aussieht, dichtete Otto Wiesner in seinem „Ruf an mein Land", die DDR. „Doch wenn der Vorhang der Geschichte gerafft wird durch der Enkel Hand, entstehst du mit erneuertem Gesichte, geläutert, wie aus Stein gebrannt. Und sprechen werden die Berichte von einem frohen Friedensland."86

3.3 Die Händler Der wohl verbreiteste Typus des Alltagsverhaltens ist der des „Händlers", der sich pragmatisch an Nützlichkeitserwägungen orientiert. Gerade weil der Alltag mit politischen und ideologischen Herrschaftsansprüchen durchsetzt war, konnte er erträglich gestaltet werden, wenn es gelang möglichen Konflikten vorzubeugen, auszuweichen und, wo solche auftraten, sie zu minimieren. Diese soziale Verhaltenstechnik wurde geradezu zur gängigen Überlebensstrategie für große Teile der Bevölkerung, die nach dem 17. Juni 1953 erkannte, dass offener Widerstand zwecklos war. Aber der Typ des Händlers folgt trotz der ihn schaffenden politischen Bedingungen keinen genuin politischen Verhaltensweisen, im Gegenteil. Der Pragmatismus des Händlers zielt auf einen von politischen 85

Friedrich Schorlemmer , Was ich denke, München 1996, S. 122. Otto Wiesner , Ruf an mein Land, in: Unabhängige Autorengemeinschaft „Als Zeitzeugen erlebt", Spuren der Wahrheit. Vereinnahmung der DDR, Schkeuditz 2003, S. 43. 86

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Ansprüchen möglichst bereinigten Alltag. Zugespitzt heißt das auch, dass politische Ansprüche angenommen und zugleich entpolitisiert wurden. Der Typ des Händlers lässt sich definieren, weil nicht nur die Handelspartner, Beherrschte und Herrschende, gut abgrenzbar sind, sondern weil auch die „Ware", um die gehandelt wird, sowohl im Angebot der einen, wie in der Nachfrage der anderen eindeutig bestimmbar ist. Setzte die SED noch in den vierziger undfrühen fünfziger Jahren auf die politische bzw. parteipolitische Interessiertheit und Integration der Bürger, gab sie sich späterhin zunehmend mit einem Stillhalten, mit der Entpolitisierung der Bevölkerung zufrieden. So bekämpfte sie bis in die sechziger Jahre mit großer Energie das Hören und Sehen westlicher Sender. In Schauprozessen wurden RIAS-Hörer verurteilt und in großen Kampagnen wurden ,nach Westen' gerichtete Fernsehantennen gewaltsam entfernt. In den siebziger Jahren wurde nur noch an die politischen Pflichten appelliert und in den achtziger Jahren gar die Empfangsmöglichkeit westlicher Fernsehstationen stillschweigend gefordert, etwa beim Antennenbau. Allerdings rührte dies nicht aus einer Art Liberalisierung, sondern aus der Erfahrung der SED, dass die Zufriedenheit der Bürger durch den Empfang westlicher Unterhaltungsprogramme zunahm. Diese Entpolitisierung bedeutete einen Verzicht der Bürger auf öffentliche Konfrontation mit dem SED-Staat, wie dieser dafür seine Ansprüche um diesen Preis stillschweigend zurücknahm. Dieser Handel konnte erstaunliche Formen annehmen, wenn DDR-Bürger den Preis für öffentliche Loyalität selbst bestimmten, freilich besonders ausgeprägt in den letzten beiden Jahrzehnten der DDR. Immer wieder haben sie etwa mit der Nichtteilnahme an den „Wahlen" gedroht, um begrenzte Ziele zu erreichen, etwa die Zuteilung von Baumaterialien, eine Reiseerlaubnis, gar eine Wohnung. Umgekehrt rechnete auch die SED mit solchen Tauschgeschäften und verknüpfte ihre Leistungen für die Bürger mit der Erwartung an besondere Loyalitätsbeweise. Mit verbesserten Aufstiegsmöglichkeiten beim Eintritt in die Partei, der Verpflichtung für militärische Berufe oder für Kontroll- und Spitzeldienste konnte jeder rechnen, der sich auf diesen Handel einließ. Der Typ des Händlers nahm die Schizophrenie seines Verhaltens nicht oder nur unter pragmatischen Gesichtspunkten wahr. Die strikte Trennung zwischen seinem privaten Verhalten, das ganz und gar distanziert zu Politik und Ideologie der SED sein konnte, und seinem öffentlichen Auftreten, in dem er Teil des Systems war, erschien ihm nur als Ausweis seiner Fähigkeit, sich optimal auf die Verhältnisse einzustellen. Als die SED nichts mehr zu bieten hatte, verließen in den Jahren 1989/1990 zwei Millionen solcher Händler die Partei, das waren 90 Prozent der Mitglieder. Gabriele Zimmer, die spätere PDS-

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Vorsitzende, berichtete über die Absetzbewegung aus der SED: „Mancher und manche wechselten ihre Farbe wie ein Chamäleon."87 So sehr die Entpolitisierung auch Herrschaftsmethode der SED war und zur Stilllegung der Gesellschaft führte, war sie doch für die Bürger das ideale Instrument zur Korifliktminimierung. Die dem SED-Staat gegenüber zur Schau gestellte Konformität als bloße pragmatisch eingesetzte Scheinkonformität oder „als-ob-Strategie" zu verstehen, würde allerdings dem Typ des Händlers nicht gerecht. Dies wäre ein moralisches Urteil, das er selbst überhaupt nicht verstehen könnte. Die von ihm betriebene alltägliche Konfliktminimierung war tief verinnerlicht und hatte als Problemlösungsstrategie einen Eigenwert. So waren etwa die Teilnahme an der Wahl, an Massendemonstrationen oder an der Jugendweihe zwar Pflichtübungen, doch war dieses Teilnahmeverhalten auch mit privaten Aneignungsprozessen verbunden. Die Beteiligung an den Ritualen des 8. März, des 1. Mai oder des 7. Oktober erfüllte auch kommunikative Funktionen und die schlichten Vergnügungen an diesen Tagen sorgten für ein unproblematisches Verhältnis zu den ideologischen Inhalten der Feste und Feiern. Die staatlich geforderte Jugendweihe wurde nicht wegen ihrer sozialistischen Sinngebung, sondern wegen ihrer aus der Konfirmationstradition stammenden Bedeutung als Familienfeier angenommen. In der Schrankwand im Wohnzimmer koexistierte die stolz vorgezeigte Aktivistenurkunde mit der Bierdose aus dem Westen. Hier handelt es sich um das von Niethammer unter dem Stichwort „Geschichtsverstrickung" gezeigte Ineinander politischen und unpolitischen Verhaltens und Erlebens. In der DDR gab es Leitbilder für den sozialistischen Menschen: die sozialistischen Helden. „Sozialistische Helden vollbringen... im richtigen Moment eine richtige Tat für eine richtige Sache."88 Einer der frühen Helden war der erste Aktivist Adolf Hennecke, der im Auftrag der Partei 1948 im Kältewinter tief unter die Erde einfuhr, um ihr normbrechend Kohle zu entreißen. Und einer der letzten war der erste deutsche Kosmonaut Sigmund Jähn, der 1978 mitsamt sowjetischer Genossen hinauf in den Kosmos stürmte und die Überlegenheit des Kommunismus bewies, just als die DDR von westlichen Krediten hoffnungslos abhängig geworden war. Der Bevölkerung war stets bewusst, dass es sich bei den meisten dieser kommunistischen Persönlichkeiten um inszenierte Phantomhelden handelte. Diese Propaganda wurde rundherum durchschaut und belächelt. Aber selbst noch die großen Propagandahelden reproduzierten ein Stück 87

Gabriele Zimmer, Von der SED zur PDS, in: Andreas Dornheim/Stephan Schnitzler (Hrsg.), Thüringen 1989/90. Akteure des Umbruchs berichten, Erfurt 1995, S. 262. 88 Rainer Gries/Silke Satjukow, Von Menschen und Übermenschen. Der „Alltag" und das „Außeralltägliche" der „sozialistischen Helden", in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 17/2002, S. 46.

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Normalität vom Typ des Händlers. Sie waren in ihrer Erscheinung nicht extravagant und schienen sich im Alltag in die üblichen Schlangen einzureihen, in denen der DDR-Bürger geduldig wartete. Viele der mentalen Schwierigkeiten von Ostdeutschen nach 1990 rühren aus dem Außerkraftsetzen des gewohnten und gekonnten Alltagshandels. Die in der Diktatur verinnerlichte Strategie zur Problemlösung kann in der freien Gesellschaft nicht greifen, da es keine Instanz mehr gibt, die für inszeniertes politisches Wohlverhalten im Alltag Belohnungen bereithält. Die Diskrepanzen zwischen dem Verhaltensrepertoire Ostdeutscher und den heutigen Verhaltensanforderungen können daher paradoxer Weise dann überbrückt werden, wenn der Typ des Händlers sich in die fiktive Situation versetzt, als gäbe es die DDR noch, wenigstens in seinem Bewusstsein. Doch wenn er die DDR durch den Kauf der neuaufgelegten Ostprodukte oder durch die Wahl einer DDRbezogenen Partei imitiert, kann er sich dafür nichts mehr einhandeln. Der Typ des Händlers mit politischer Münze für unpolitische Waren hebt sich in der Freiheit unweigerlich auf. An wen und mit welchem Inhalt sollten nun die Händler ihre gewitzten und schlauen Eingaben schreiben, um der Staatsmacht unter Ausschluss des Rechtsweges etwas abzuhandeln? Das Unbehagen vieler Ostdeutscher an der sich neu formierenden Lebenswelt rührt aus dem Versagen gewohnter alltäglicher Lebensstrategien.

3.4 Die Moralisten Den Utopisten und Händlern stehen als dritter Typ der Alltagsbewältigung die „Moralisten" gegenüber. Für sie galt der Utopist als Leugner und Ignorant der tatsächlichen Verhältnisse und der Händler als gespalten und unaufrichtig. Auch der Moralist muss sich in irgendeiner Weise mit den Gegebenheiten arrangieren und sucht nach Verhaltensstrategien, die ihn diese Zustände bewältigen lassen. Die Wahrscheinlichkeit, dass er in eine politische Widerstands- oder Oppositionsrolle kommt, ist hoch, jedoch nicht zwingend. Für das Alltagsverhalten bieten sich ihm auch andere Möglichkeiten. Sein Handlungsziel ist die alltägliche Selbstbewahrung. Er muss die erfahrene Differenz zwischen dem politischen Anspruch des Systems und seiner eigenen Identität, seinem Herkommen, seinen ethischen Urteilen und seinem geistig-kulturellen Habitus überbrücken können. Er ist ganz anders als der Utopist und der Händler auf die Diagnose des Systems einschließlich des Alltags angewiesen, die ihn in eine dauernde Spannung versetzt. Er sieht sich sowohl durch die politischen Ansprüche bis in den Alltag hinein gefährdet, wie er ein mögliches Versagen, nämlich wie ein Utopist oder ein Händler zu werden, auf seine eigene Korrumpierbarkeit zurückführt. Er sucht nach Handlungsmöglichkeiten und einem sozialen Umfeld, in denen er seine Identität wahren kann und die ein

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Mindestmaß sozialer Vermittlung mit dem Gesamtsystem ermöglicht. Das kann die Familie, eine Kirchgemeinde, ein Freundeskreis oder eine informelle Gruppe sein. Sie sollen einen erträglichen Status quo mit dem DDR-System ermöglichen. Der Versuch, im System zu leben, ihm nicht gleich zu werden und zugleich die mögliche Verführung bei sich selbst zu suchen, entspricht wenigstens in Restbeständen einer kulturgeschichtlichen protestantischen Mentalität, die selbst noch in säkularer Form wirksam ist. In ihr entsteht „ein weit entwickeltes Vermögen zur Verinnerlichung gesellschaftlicher Widersprüche" 89 und in dieser Mentalität besitzt die „moralische Selbst-Regulation"90 einen hohen Stellenwert. Diese mentalen Prägungen brachten den Typ des Moralisten hervor, der zwar in Distanz zum System lebte, aber seine Verhaltensstrategien auf die Möglichkeit einer Veränderung zum Besseren einstellte und sei es nur in einer stillen Wartestellung. Im Unterschied zum Utopisten setzt er sich nicht über die Verhältnisse hinweg, sondern leidet an diesen und sucht auch noch nach Spurenelementen einer vernünftigen Ordnung, damit er guten Gewissens mit dieser koexistieren kann. Er erfüllt seine Pflicht und leistet oft entsagend, etwa durch den Verzicht auf Karriere und öffentliche Aufmerksamkeit, seine Arbeit an dem Platz, auf dem er steht, beteiligt sich nicht an den kleinen alltäglichen Korruptionen der Händler und sucht die Besserung schon in seinem sozialen Umfeld, in seinen Gemeinschaften, exemplarisch zu leben. Die Moralisten teilten zwar die alltäglichen Schwierigkeiten mit allen anderen Gesellschaftsmitgliedern. Aber sie litten mehr an der Lüge über die Realitäten, als an den Versorgungsmängeln. Und wenn das Leiden überhand nahm, konnte der Moralist immer noch schweigend, manchmal auch verzweifelt, „aussteigen". So zu leben, als lebte man nicht in der DDR, versuchten Romantiker, subkulturelle Alternative, manche Familie des disqualifizierten Bürgertums und auch „Asoziale" aller Art. Die Aussteiger aller Niveaus, so unauffällig sie auch lebten und so still sie sich lange Zeit verhielten, konnten aber ihrer tiefen Abneigung gegenüber dem System der SED urplötzlich Ausdruck verleihen, etwa einen Ausreiseantrag stellen oder offenen Protest anmelden. Hans-Peter Krüger meint, dass aus einer „wechselseitigen Anpassung von Regime und Mentalität" eine Art „protestantischer Sozialismus"91 in der DDR entstanden sei. Demzufolge hätte die SED auch in ihrer Herrschaftsweise durchaus rationale Elemente der Konfliktverarbeitung integriert. Sicher ist, dass die SED wohl eher die protestantische Mentalität nutzen und instrumentalisie89 90 91

Hans-Peter Krüger , Demission der Helden, Berlin 1992, S. 32f. Ebd., S. 50. Ebd., S. 32f.

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ren wollte und auf das überkommene Arbeitsethos und die Leidensfahigkeit der Bürger setzte. Zunächst kam der SED auch entgegen, dass der Typ des Moralisten durchaus zu integrieren war. Die evangelischen Pfarrer predigten bis zur Selbstverleugnung „Suchet der Stadt Bestes!", konnten auf Grund ihrer pastoralen Prägung sich auch ein Stück weit mit der vormundschaftlichen Staatsführung arrangieren und wurden durch ihr protestantisches Schuldbewusstsein veranlasst, die für die SED lebenswichtige Deutschlandfrage aus moralischen Gründen zu beschweigen. Um den Rahmen eines die Widersprüche überspannenden Moralismus und die asketische Geduld über die von den Kommunisten verursachten Leiden zu verlassen, musste es zu einer Politisierung kommen, die der Moralist eigentlich nicht suchte. Auch in der protestantisch geprägten säkularen Bevölkerung war trotz und in aller Unzufriedenheit die Schwelle hoch, die gegebene Ordnung völlig in Frage zu stellen. Das beschränkte sich darauf „still gegen das System anzuleben", wie dies ein Kirchenjurist zur Erklärung seiner politischen Passivität äußerte.92 Allerdings war der Typ des Moralisten wohl in politischer Hinsicht für die SED auf Dauer unverträglich. Der Moralist blieb ein Individualist, blieb in der Spannung zum System. Als die Disfiinktionalität des SED-Staates und die Spaltung zwischen Politbürokratie und Gesellschaft unübersehbar wurden und sich die von ihm garantierte Ordnung als brüchig erwies, liefen nicht wenige der Moralisten zur Opposition über. Die enttäuschte Hoflhung auf Reformen machte dem Wunsch nach Revolution Platz. Bis es soweit war, hatten die Moralisten mit ihren Strategien die Widersprüche von Alltag und Herrschaft zu überbrücken durchaus ein Konzept, das dieses Problem der Koexistenz lösen konnte. Sie zahlten allerdings einen Preis, sie mussten die Last auf sich nehmen das Unverträgliche zu ertragen. Nach 1990 haben es die Moralisten wiederum nicht leicht. Sie müssen sich mit einer bunten Pluralität und unübersichtlichen Heterogenität im Alltag abfinden, die nachträglich das alte ungeliebte Ordnungsgefüge der DDR als Bollwerk der Sicherheit gegen das Chaos erscheinen lässt.

4. Alltag Ost und Alltag West im Vergleich Jede Beschreibung westdeutscher Autoren von Alltäglichem in der DDR war schon ein Vergleich zwischen ostdeutscher und westdeutscher Lebenswelt. Die Westdeutschen maßen an ihren bundesdeutschen Erfahrungen das Leben in der

92 Ordnung gegen Chaos, das war seit dem 19. Jahrhundert ein schöpfungstheologisches Dauerthema der neulutherischen Orthodoxie. Und es war ein theologisches Motiv der Kirchenleitenden in der DDR, auch im kirchenfeindlichen Atheismus der SED immer noch eine positive Ordnungsfünktion zu erkennen.

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DDR, und das Urteil war fast immer kritisch, bisweilen vernichtend. Schon der Grenzübertritt in die DDR mit den peniblen Kontrollen konnte zum Schockerlebnis werden. Nur wenige ideologisch Erblindete übersahen den schleichenden Verfall, das Vergrauen von Ortschaften und Landschaften, die tristen Gaststätten, die leeren Läden und die Schlangen davor, die schlechten Straßen, die schweflige Luft, die allgegenwärtigen Propagandalosungen und die vielen Erschwernisse des Lebens in der DDR und vor allem die über dem Alltag schwebende Drohung oder gar ausgeübte Gewalt der herrschenden Partei. Auch Westdeutsche mussten Schlange stehen, in den Polizeistellen beim An- und Abmelden oder auf der Suche nach Gelegenheiten, die zwangsumgetauschte Ostmark auszugeben. Das leichte Erschauern des Westlers im Osten war mit allerlei merkwürdigen Assoziationen verbunden, mit Erinnerungen an die Kindheit und die Erstarrung der Soziokultur auf diesem Niveau. Die DDR war in ihrer Zurückgebliebenheit auch ein Freilandmuseum für westdeutsche Nostalgiker. Die Ostdeutschen sahen den Westen, wenn die Urlaubsgrüße der Verwandten aus fernen Ländern kamen, wenn sie Westpakete auspackten, am Intershop vorbeiliefen oder beim täglichen Westfernsehen. Rentner und Reisende in besonderen Familienangelegenheiten berichteten, und der Westbesuch war lebendige Anschauung. Die DDR-Propaganda versuchte gegenzusteuern und berichtete von den westlichen Alltagssorgen, von Arbeitslosigkeit, von Wohnungsmangel, von Militarisierung, Ausbeutung und allen Übeln des Kapitalismus. Doch all dies konnte nicht das zumeist positive Bild des Westens bei den DDR-Bürgern ernstlich eintrüben, selbst nicht in den kritischen jugendlichen Subkulturen, die alle Moden und Trends aus dem Westen übernahmen. Wenn ein Ostdeutscher einmal Glück hatte, sagte er: „Wie im Westen!" Hannelore Kleinschmidt veröffentlichte 1989, noch vor der Revolution, in der Bundesrepublik einen Reiseführer durch die DDR, der nicht nur liebevoll die historisch-kulturgeschichtlich interessanten Reiseziele beschrieb, sondern auch ein Plädoyer für menschliche Kontakte sein wollte. Da sie die „verschiedenen Alltagsprobleme in der real-sozialistischen Gesellschaft" 93 nicht ausklammern wollte, versuchte sie auf Fundamentalkritik aus westlicher Sicht zu verzichten und zitierte stattdessen die in der DDR laut gewordene Kritik am Alltagsleben. Ihr Resümee offenbart die Bilanz: „Das Vertrackte an diesen Reisen ist, dass der Besucher - egal, welcher politischer Couleur er angehört - mit größter Wahrscheinlichkeit gern in seine bunte, wohlhabende, über weite Flä-

93 Hannelore Kleinschmidt, Stralsund, Köln 1989, S. 69.

Die DDR entdecken. Reiseziele zwischen Eisenach und

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chenfrisch gestrichene Bundesrepublik zurückkehren wird." 94 Doch dieser Text stammt aus der Spätzeit der DDR. Über viele Jahre hin wurde ein anderes DDR-Bild gezeichnet und der Bundesrepublik als Alternative entgegengestellt. Ein Beispiel im Geiste der Euphorie der Entspannungspolitik bot Rüdiger Thomas Anfang der siebziger Jahre. Wenn er in seinem Buch über die DDR auch feststellte, dass in der DDR „die Berufung auf sozialistische Demokratie einen Anspruch beinhaltet, der erst noch im vollen Umfang einzulösen ist" 95 , so sah er doch in einer Reihe von lebensweltlichen Gegebenheiten die alltägliche Lebensqualität in der DDR der der Bundesrepublik ebenbürtig. Nach einem verbreiteten Argumentationsschema, das die Methoden und Folgen der kommunistischen Transformation nivellierte und die sozialökonomischen Leistungen im Westen diskreditierte, wurden zwei gleichwertige, jeweils mit Schwächen behaftete, deutsche Konstruktionen des sozialen Lebens gezeigt: „Während in der DDR um den Preis einer beträchtlichen Einschränkung der individuellen Freiheit ein relativ hohes Maß an sozialer Gleichheit erreicht worden ist, hat sich in der BRD das Prinzip der Freiheit in der gesellschaftlichen Realität zwar weithin etablieren können, doch besteht zugleich ein unübersehbares Defizit an gesellschaftlicher Gleichheit und Solidarität."96 Es bedurfte der unübersehbaren Krise der DDR, die nicht zuletzt politische Gestalt gewann, weil die Bürger ihrem Alltag entrinnen wollten, um auch in den Wissenschaften den Vergleich zwischen Alltag Ost und Alltag West an Erfahrungen und nicht an Ideologien vornehmen zu können. Verdienstvoll sind allein schon Dokumentationen, die diese Erfahrungen nebeneinander stellen.97 Der wichtigste Aspekt jeden Vergleichs zwischen dem Alltag in der alten und neuen Bundesrepublik mit dem Alltag in der DDR war und ist der politische. Die ehemaligen DDR-Bürger sind vom politischen und ideologischen Druck auf ihr Alltagsleben befreit. Doch das Glücksgefühl dieser Selbstbefreiung von 1989 erscheint in größeren ostdeutschen Bevölkerungsgruppen heute als ein schnell verlöschtes Strohfeuer. Publizistik und Wissenschaft sowie zahlreiche sozialwissenschaftliche Studien haben sich deswegen der nachhaltigen mentalen Unterschiede von Ost und West angenommen. Nahezu übereinstimmend wird festgestellt, dass vor allem die in der DDR erlernten und praktizierten, aber heute untauglichen Lebensstile und Alltagsstrategien die wichtigsten

94 95

Ebd., S. 338. Rüdiger Thomas, Modell DDR. Die kalkulierte Emanzipation, München 1973,

S. 65. 96

Ebd., S. 119. Vgl. Christoph Kleßmann/Georg Wagner (Hrsg.), Leben in Deutschland 1945 bis 1990. Texte und Dokumente zur Sozialgeschichte, München 1993. 97

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Quellen von Unbehagen und Fremdheit gegenüber den neuen Verhältnissen sind.98 Gewiss, die soziale Situation im Osten ist noch nicht auf dem Niveau des Westens. Aber es mutet schon merkwürdig an, dass ostdeutsche Urlauber am sonnigen Strand auf La Palma oder am gasbeheizten Kamin ihrer sanierten Wohnung über die soziale „Kälte" des „Kapitalismus" klagen und jammern. Gegen die Wahrnehmung der für die Westdeutschen selbstverständlichen Annehmlichkeiten und die Erleichterungen des Alltags sträubt sich eine nachhaltige Prägung der Verhaltensweisen. Eigene Aktivitäten, die Übernahme von Risiken und eine nicht von „oben" geplante Zukunft werden als Zumutungen der „Wessis" erlebt. Um die eigene Opferrolle zu erklären werden von Ostdeutschen auch häufig die ideologischen Stereotypen der Vergangenheit ausgegraben. Das „Kapital", die Banken, schlechthin das Geld ist an allem Schuld. In diesem Fall aber erweist sich der von allen DDR-Bürgern erlernte Satz, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt als falsch. Es ist das (Alltags-)Bewusstsein, das den Blick für den seit 1989/90 entspannten Alltag eintrübt. Inzwischen wächst eine neue Generation im Osten heran, die sich trotz des sozialen Drucks ihrer Umgebung in den neuen Alltag einrichtet und diesen durchaus nicht unkritisch auch genießen kann. In dieser Generation ist auch eine schöngeistige Literatur entstanden, die sowohl die fatale DDR-Nostalgie wie eine ideologische Verzeichnung der Wirklichkeit hinter sich lässt. So ist es erfrischend, das Buch von Claudia Rusch „Meine freie deutsche Jugend"99 zu lesen, das den Alltag eines jungen Menschen in der späten DDR samt den Blick nach Westen und der Ankunft im Alltag des vereinten Deutschlands schildert, ein fröhliches Entweichen aus der stickigen Atmosphäre der DDR und eine Einwanderung in ein Land, dessen Alltag keinen Vergleich scheuen muss.

98

Vgl. z.B. Rudolf Richter, Stile in der Begegnung zwischen Ost und West. Ein kultursoziologischer Beitrag aus der Lebensstilforschung; Winfried Gebhardt/Georg Kamphausen, „Der lange Arm der gestrengen Mutter". Uber traditionelle Mentalitäten und kollektive Lebensstile in Ostdeutschland, beide jeweils in: Otto G. Schwenk (Hrsg.), Lebensstil zwischen Sozialstrukturanalyse und Kulturanalyse, Opladen 1996, S. 261298. 99 Claudia Rusch, Meine freie deutsche Jugend, Frankfurt a.M. 2004.

M e d i u m der DDR-Forschung Zur Geschichte des „Deutschland-Archiv"

Von Karl Wilhelm Fricke

1. Wechselvolle Geschichte der Zeitschrift Nicht nur Bücher haben ihr Schicksal, auch Zeitschriften. So könnte jene Sentenz variiert werden, die seit Jahrhunderten zum geflügelten Wort geworden ist. Das Schicksal des Deutschland Archiv spiegelt sich in seinem Untertitel wider, der in seiner nun schon mehr als 36-jährigen Existenz dreimal neu definiert wurde. Als das DA, wie die Zeitschrift häufig zitiert wird, im April 1968 erstmals erschien, lautete der Untertitel „Zeitschrift für Fragen der DDR und der Deutschlandpolitik". Der Untertitel hatte Bestand bis Juni 1990. Die Endzeit der DDR ließ sich absehen, der Untertitel war politisch obsolet geworden, so dass als Alternative eine andere Formulierung nahe lag: „Zeitschrift für deutsche Einheit". Das war ein gleichsam programmatischer Untertitel, der freilich mit dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes historisch auch schon wieder überholt war. Folglich erhielt das Journal im Januar 1991 den Untertitel, den es bis heute führt: „Zeitschrift für das vereinigte Deutschland". Als das Deutschland Archiv in die Publizistik eintrat, war die deutsche Einheit ein fernes Ziel. Ob es in historisch absehbarer Zeit erreichbar schien, war für niemanden absehbar. Manche Politiker und Publizisten hatten das Ziel schon abgeschrieben und wähnten den Status quo als Dauerzustand. Um so nachdrücklicher war daher die Herausgabe einer Zeitschrift speziell für Fragen der DDR und der Deutschlandpolitik zu begrüßen, die sich fortan auch der sich herausbildenden wissenschaftlichen DDR-Forschung widmen wollte. Nicht zufällig war die Edition des Deutschland Archiv im Kontext der ersten, ihrer Kontroversen wegen legendären DDR-Forschertagung zu sehen, die vom 19. bis 23. September 1967 an der Akademie für Politische Bildung in Tutzing am Starnberger See zum Generalthema „Situation, Aufgaben und Probleme der DDRForschung" stattgefunden hatte. Grundlegend war ein kluges Referat, das Dieter Haack, damals Oberregierungsrat im Bundesministerium für Gesamtdeutsche

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Fragen, in Tutzing hielt. Sein Postulat lautete: „Gesamtdeutsche Politik braucht die DDR-Forschung". Aus Gründen, die auch zur Geschichte des Deutschland Archiv gehören, lohnt es sich, seine Kernsätze hier zu zitieren: „Die gesamtdeutsche Politik ist auf lange Sicht angelegt - nicht dogmatisch starr und frei von Illusionen. Und gerade deshalb ist sie auch auf die objektive Information und die wissenschaftliche Erforschung der Verhältnisse im anderen Teil Deutschlands angewiesen. Die DDR-Forschung ist daher für diese Politik nicht nur aus dem Grund wichtig, weil ganz allgemein jedes gesamtdeutsche Interesse, auf welchen Gebieten auch immer, also auch dem wissenschaftlichen, für den Zusammenhalt der Deutschen notwendig ist. Noch aus einem anderen Grund braucht die Politik die DDR-Forschung: Wenn die Bundesregierung den politisch-moralischen Anspruch erhebt, für die Deutschen drüben in den Fragen mitzusprechen, in denen diese nicht an einer gemeinsamen politischen Willenbildung teilnehmen können, dann ist die genaue Kenntnis der inneren Entwicklung Mitteldeutschlands wesensnotwendig."1 Unter diesen Voraussetzungen wurde das neue Periodikum von seinen Zielgruppen sofort angenommen. Eine Überraschung war das nicht, denn mit Information, Dokumentation und Analyse zur Entwicklung „im anderen Teil Deutschlands", wie die DDR damals zu bezeichnen pflegte, wer sie nicht mehr als SBZ sehen wollte, aber die ominösen drei Buchstaben zu gebrauchen sich noch scheute, kam das Deutschland Archiv insoweit einer politisch herangereiften Nachfrage entgegen. Es war die Zeit des Nachdenkens über deutschlandpolitische Alternativen. In dieser Situation wollte das Deutschland Archiv über die sachliche Information, über die politische Dokumentation und die wissenschaftliche Analyse zur DDR hinaus ein Forum für Meinungen und Diskussionen zu Problemen der Deutschlandpolitik sein sowie ein Podium zum wissenschaftlichen Disput zu Fragen der DDR-Forschung und der gesamtdeutschen Politik. Nicht zufällig entbrannte denn auch auf seinen Seiten alsbald eine vehemente Kontroverse zwischen den Verfechtern eines totalitarismustheoretischen Ansatzes in der DDR-Forschung einerseits und den Protagonisten einer systemimmanenten Herrschafts- und Gesellschaftsanalyse andererseits, allen voran Peter Christian Ludz, der bis zu seinemfrühen Tode in München wirkende Politologe. Charakteristischerweise vertrat er den Standpunkt - und zwar in einem Schreiben an die Autoren des von ihm herausgegebenen DDRHandbuches - , „dass so weit wie möglich Wertungen der Vorrang gegeben werden sollte, die sich am Selbstverständnis der SED/DDR orientieren, das

1 Dieter Haack, Gesamtdeutsche Politik braucht die DDR-Forschung, in: SBZArchiv, Nr. 20/1967, S.319.

Medium der DDR-Forschung

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heißt, die die DDR-Realitäten an den theoretischen Postulaten des von der SED propagierten Marxismus-Leninismus messen."2 Die seinerzeit gestellte Aufgabe war sinnvoll und ist in vollem Umfang erfüllt worden. Es wäre allerdings unzureichend, dies einfach einen Glücksfall zu nennen. Dahinter stand eine publizistische Leistung, das Verdienst von Herausgeber und Redaktion. Herausgeber waren anfangs für kurze Zeit Reinhold Neven DuMont, Leiter des Verlages Kiepenheuer & Witsch, und Ilse Spittmann, die beide zuvor schon das SBZ-Archiv herausgegeben hatten, letztgenannte zugleich als verantwortliche Redakteurin. Ihr stand als zweite Redakteurin Gisela Helwig zur Seite. Drei Monate später wechselte die Herausgeberschaft auf den Verlag Kiepenheuer & Witsch in Köln, bis im Oktober 1969 erneut ein Wechsel eintrat. Fortan und für lange Zeit erschien im Impressum als Herausgeber des DA nun der Kölner Verlag Wissenschaft und Politik, Berend von Nottbeck, wo es bis zum Februar 1996 verblieb. Seit 1981 leitete Claus-Peter von Nottbeck den Verlag. Die Insolvenz des Verlages bedingte abermals einen Wechsel in der Herausgeberschaft. Das Deutschland Archiv, seit dem Jahrgang 1996 eine Zweimonatsschrift, ging im März 1996 auf den Verlag Leske + Budrich in Opladen über. Der Wechsel wahrte Kontinuität und Konzeption, weil sich die Zeitschrift gut in das Profil des von Edmund Budrich geleiteten Verlages einpassen ließ. Vorläufiger Schlusspunkt aller Wandlungen: Seit Juli 2003 erscheint das Deutschland Archiv im W. Bertelsmann Verlag Bielefeld, einem Fachverlag für Bildung und Beruf, der die Herausgeberschaft im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung wahrnimmt. Der Hinweis deutet auf die Finanzierung der Zeitschrift hin, die im Jahre 2003 mit einer durchschnittlichen Auflage von 6.500 bis 7.000 Exemplaren erschien. Während sie für lange Zeit aus Haushaltsmitteln des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen beziehungsweise des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen bestritten wurde, denn das finanzielle Eigenaufkommen aus Abonnements und Anzeigen trug seit eh und je nur einen geringen Teil der Kosten, wird die Zeitschrift seit der Auflösung des Innerdeutschen Ministeriums vom Bundesministerium des Innern über die ihm nachgeordnete Bundeszentrale für politische Bildung alimentiert. In der personellen Zusammensetzung der Redaktion trat jahrzehntelang kein Wechsel ein - und das war gut so, denn dass das Deutschland Archiv an seiner Aufgabe, „über die Entwicklung in der DDR sachlich zu informieren und die Probleme der Deutschlandpolitik deutlich zu machen", von seiner Gründung an

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Zit. bei Jens Hacker , Deutsche Irrtümer 1949-1989, Berlin 1992, S. 425. - In dem Kapitel „Verdienste und Defizite der SBZ/DDR- und vergleichenden DeutschlandForschung" (S. 409-449) ist die Kontroverse gut nachgezeichnet.

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kontinuierlich festhielt, war die Voraussetzung dafür, dass die Zeitschrift in der Auseinandersetzung mit der Entwicklung in der DDR während der Zeit der deutschen Teilung seine wichtige publizistische und damit auch politische Funktion erfolgreich ausüben konnte. Von einem Glücksfall ließ sich allenfalls in dem Sinne sprechen, als eine über Jahrzehnte dauernde kollegiale Verbindung undfreundschaftliche Zusammenarbeit wie die zwischen Ilse Spittmann und Gisela Helwig im publizistischen Milieu in der Tat einen seltenen Glücksfall darstellt. Eine weitere Voraussetzung dieses Erfolges war eine klare redaktionelle Konzeption, die in übersichtlicher Struktur von der neuen Monatsschrift umgesetzt wurde. Von Anfang an gliederte sich das Deutschland Archiv in die Rubriken „Analysen", „Forum", „Rezensionen" und „Bibliographie", „Dokumentation", „Chronik" und „Aktuelle Berichte" - Rubriken, die mit einigen Modifikationen jahrzehntelang beibehalten wurden. Die Leserschaft konnte das Deutschland Archiv so als aktuellen Informationsträger und darüber hinaus als zeitgeschichtliches Archiv nutzen - unverzichtbar für Politik, Medien und die DDRForschung. Keine andere Zeitschrift hat wie das Deutschland Archiv in der Vergangenheit so nachhaltig und zielstrebig auf die deutschlandpolitische Meinungsbildung im Lande eingewirkt. Wer heute oder in Zukunft als Historiker oder Politologe über die DDR oder die Deutschlandpolitik in der Zeit der deutschen Teilung arbeiten will, der tut gut daran, die Jahrgänge des Deutschland Archiv als Quellen heranzuziehen, ungeachtet der Akten und Archivalien aus derfrüheren DDR, die mittlerweile zugänglich sind.

2. PZ-Archiv und SBZ-Archiv - die Vorläufer Genau genommen begann die Geschichte des Deutschland Archiv nicht erst mit dem Jahr 1968. Die Zeitschrift hatte ihre Vorläufer. In manchen Darstellungen ihrer Geschichte3 heißt es lakonisch, die Zeitschrift sei aus dem SBZArchiv hervorgegangen, einem zweimal im Monat publizierten Periodikum mit dem Untertitel „Dokumente/Berichte/Kommentare zu gesamtdeutschen Fragen". Das ist im Großen und Ganzen zwar zutreffend, vernachlässigt aber das Faktum, dass auch das SBZ-Archiv seinen Vorläufer hatte, nämlich in Gestalt der erstmals im September 1950 erschienenen Halbmonatsschrift PZ-Archiv. Das Kürzel „PZ" stand für „Publizistisches Zentrum für die Einheit Deutschlands". Welcher Geist das PZ-Archiv inspirieren sollte, verrät sein Motto „Be-

3 Vgl. Ilse Spittmann-Rühle, Drei Jahrzehnte Deutschland Archiv, in: Wolfgang Thierse/Ilse Spittmann-Rühle/Johannes L. Kuppe (Hrsg.), Zehn Jahre Deutsche Einheit. Eine Bilanz, Opladen 2000, S. 302.

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sinnt Euch auf Eure Kraft - der Westen ist stärker". Heute, Jahrzehnte danach, mag das belächelt werden, im historischen Rückblick erweist es sich als gar so unsinnig nicht. Herausgegeben wurde das PZ-Archiv in der ersten Zeit laut Impressum von dem Geschäftsführer Heinz Baumeister, dem Chef der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit Ernst Tillich und demfrüheren Weimarer, nun in Köln ansässigen Verleger Josef K. Witsch. Sein Erscheinen gründete in der Idee, publizistisch und propagandistisch - ja, auch dies! - für die deutsche Einheit zu wirken. Die Erinnerung daran ist unerlässlich, weil hier eine Zielsetzung zu Tage tritt, die die ursprünglich als Archivdienst konzipierte Zeitschrift von Anfang an geprägt hat. Die Gemeinsamkeit der drei Herausgeber endete offensichtlich im März 1951 - ab Nummer 6 des zweiten Jahrganges fand sich Tillichs Name nicht mehr im Impressum. Eine weitere, nicht unerhebliche Veränderung bestand in der Umstellung vom einfachen Rotaprint-Offset-Druckverfahren auf den anspruchsvolleren Buchdruck. Rund ein Jahr später, beginnend mit Nummer 7 des dritten Jahrganges, vollzogen Herausgeber und Redaktion eine Namensänderung: Aus dem PZ-Archiv wurde das SBZ-Archiv mit dem Untertitel „Dokumente, Berichte und Kommentare zu gesamtdeutschen Fragen". Inhaltlich sollte die Zeitschrift „die Situation in der Sowjetzone charakterisieren und deuten", was auch „der Inhalt des PZArchivs gewesen" sei, hieß es in einer redaktionellen Mitteilung. „Sie werden unter dem gleichen politischen Aspekt auch im SBZ-Archiv gebracht."4 Nachgerade zeichnete sich das SBZ-Archiv durch größere Seriosität aus, die politische Militanz verschwand allmählich aus seinen Spalten, eine Reihe angesehener Politologen, Soziologen, Juristen und Publizisten prägten sein inhaltliches Profil. Und auch in der Aufmachung gab es sich seriöser, moderner. Als für die Redaktion verantwortlich zeichneten Josef K. Witsch, ab September 1952 Berend von Nottbeck und ab Mitte 1960 Ilse Spittmann, bis das SBZ-Archiv mit Nummer 6 des Jahrgangs 1968 sein Erscheinen einstellte und eben vom Deutschland Archiv abgelöst wurde. Wer heute diefrühen Jahrgänge des SBZ-Archiv durchschaut, stößt zwar allenthalben auf deutliche Spuren des Kalten Krieges, aber er entdeckt ebenso einenfrühzeitigen Trend zur Versachlichung. Namen wie Berend von Nottbeck5, Jürgen Rühle6, Carola Stern7, Ilse Spittmann8 - die Redakteure der fünfziger

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„Der Name SBZ-Archiv", in: SBZ-Archiv Nr. 7/1952, Umschlagseite 2. Berend von Nottbeck (geb. 13. Dezember 1913, gest. 17. November 1990) war bis 1981 als Verleger in Köln tätig. 6 Jürgen Rühle (geb. 5. November 1924, gest. 29. Juni 1986), langjähriger Redakteur beim WDR-Fernsehen, schrieb das Standardwerk „Literatur und Revolution. Die Schriftsteller und der Kommunismus", 2. Aufl., Köln 1985. 5

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Jahre - hatten dafür eine Gewähr geboten; freilich auch zahlreiche freie Mitarbeiter des SBZ-Archiv, die dem Deutschland Archiv als Autoren erhalten blieben. Zu erinnern ist an Ernst Richert, Jens Hacker, Wolfgang Leonhard, Heinz Lippmann, Peter Christian Ludz, Siegfried Mampel, Manfred Rexin, Hans Dietrich Sander und nicht zuletzt an Hermann Weber. Unter dieser Voraussetzung bedeutete das Deutschland Archiv inhaltlich viel weniger einen Bruch mit der zuvor im SBZ-Archiv geleisteten Arbeit, als sich das in der Retrospektive darstellen mag. Dass einige Autoren in den fünfziger Jahren aus Sicherheitsgründen unter Pseudonym publizieren mussten - Ilse Spittmann zum Beispiel, die im Mai 1956 in die Redaktion eintrat und zunächst unter dem Namen „Else Hansen" schrieb - , zählt zu jenen Zeiterscheinungen, die heute schon kaum mehr nachvollziehbar sind. Gisela Helwig9, das ist hier nachzutragen, trat im Juli 1965 in die Redaktion ein. Kurzum, auch das SBZ-Archiv hat bis zur Einstellung seines Erscheinens solide Information und Meinung, Analyse und Dokumentation, Buchkritik und Chronik angeboten. Trotz ihres in den 1960er vielfach als anachronistisch empfundenen Titels hatte die Zeitschrift über siebzehn Jahre lang zu einem realistischen DDR-Bild in derfrüheren Bundesrepublik beträchtlich beigetragen.

3. Unter östlichem Störfeuer Wie ernst das SBZ-Archiv von den Herrschenden in der DDR genommen wurde, mag an zwei Archivalien aus den Jahren 1952 und 1955 illustriert sein, die zugleich ein Schlaglicht auf den Kalten Krieg im geteilten Deutschland werfen. Bei dem einen Zeitdokument handelt es sich um einen vertraulichen Umlauf des Ministeriums des Innern der DDR nicht nur für den Hausgebrauch, sondern auch für das Ministerium für Staatssicherheit, für das Ministerium für Handel und Versorgung und für das Ministerium für Volksbildung. Nachdrücklich wurde darin auf die „westdeutsche Publikation , SBZ-Archiv'" aufmerksam gemacht, speziell auf die Doppelnummer 23/24 des Jahrganges 1952, und zwar aus folgendem Anlass: „Oben genannte Ausgabe stellt eine Doppelnummer dar und enthält zum Teil Berichte und Artikel, die eindeutig zeigen, dass diese Pub7 Carola Stern (eigentlich Erika Assmus, später verh. Zöger), Journalistin und Publizistin, wurde am 14. November 1925 geboren. Nach ihrer Versetzung in den Ruhestand arbeitet sie als Schriftstellerin (u.a. Doppelleben. Eine Autobiographie, Köln 2001), lebt heute abwechselnd in Bensin und Berlin. 8 Ilse Spittmann-Rühle, Redakteurin und Publizistin, geb. am 8. Mai 1930, lebt heute im Ruhestand in Köln. 9 Gisela Helwig, Dr. phil., Redakteurin und Publizistin, geb. am 4. Dezember 1940, lebt heute ebenfalls als Ruheständlerin in Köln.

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likation über eine Berliner Redaktion verfügen muss, obwohl Informationen aus Westberlin entgegengesetzt lauten. Hinter den besonders in diesem Heft veröffentlichten Berichten und Stellungnahmen müssen Diversanten innerhalb der Ministerien stehen."10 In der Tat hatte die inkriminierte Doppelausgabe mehrere interne Dokumente auszugsweise oder im Wortlaut veröffentlicht, darunter aus dem Apparat des ZK der SED den „Grundsatzentwurf' einer Verordnung, wonach allen Ernstes „sämtliche in privatem Besitz befindlichen Rundfunkgeräte" eingezogen und durch zentral gespeiste Lautsprecher ersetzt werden sollten, „die es jedem Mieter ermöglichen, das Programm der demokratischen Sender zu jeder Tageszeit zu hören."11 - Ferner enthielt das Heft einen als Vertrauliche Verschlusssache klassifizierten Bericht aus dem Ministerium für Handel und Versorgung an das ZK der SED über Lieferdefizite der HO. 12 Solche Enthüllungen mussten in Ost-Berlin natürlich die Wachsamkeit mobilisieren. „Die veröffentlichten Angaben machen es möglich, einen begrenzten Personenkreis für diese Spionagetätigkeit verantwortlich zu machen und vorerst genauer zu beobachten." Wahrnehmungen seien weiterzuleiten. „Auch unwichtig erscheinende Angaben können von Wert „

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sein. Der warnende Umlauf ließ einerseits eine groteske Überschätzung des SBZArchiv erkennen. Es verfügte weder über ein Berliner Büro noch dürfte es Gewährsleute im Regierungsapparat oder im Zentralkomitee der SED besessen haben. Soweit interne Materialien die Redaktion erreichten, stammten sie aller Wahrscheinlichkeit nach von Flüchtlingen, die sie in den Westen mitgebracht hatten. Dagegen war die DDR-Staatssicherheit von den konspirativen Kontakten des SBZ-Archiv ebenso überzeugt wie von der Notwendigkeit, eigene „politischoperative Maßnahmen" daraus abzuleiten. Der Autor dieses Beitrages hatte seine diesbezüglichen Erfahrungen wider Willen „vor Ort" zu sammeln, und erlaubt sich deshalb, in diesen Kontext als zweite der erwähnten Archivalien eine persönliche Erinnerung einzubringen. Als Journalist in West-Berlin tätig, hatte er vom Spätsommer 1953 regelmäßig auch für das SBZ-Archiv geschrieben.14 10 „Betrifft: westdeutsche Publikation SBZ-Archiv...", in: SBZ-Archiv Nr. 2/1953, S. 20f. 11 Rundfunkempfang unter Parteikontrolle, in: SBZ-Archiv Nr. 23-24/1952, S. 360. - Die Verordnung wurde nie erlassen, aber dass sie erwogen wurde, ist auch schon interessant. 12 Ebd., S. 263f. 13 „Betrifft: westdeutsche Publikation SBZ-Archiv" (Anm. 10), S. 21. 14 Vgl. Karl Wilhelm Fricke, Otto Nuschke - ein „psychologisches Rätsel", in: SBZArchiv Nr. 18/1953, S. 281 f.

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Natürlich nicht allein deswegen, aber doch auch aus diesem Grund wurde er am 1. April 1955 von der Staatssicherheit nach Ost-Berlin entführt und in das zentrale Untersuchungsgefängnis der Staatssicherheit in Berlin-Hohenschönhausen verbracht. Die Verschleppung war drei Tage zuvor in einer Aktennotiz des für die Aktion verantwortlichen Hauptmanns Alfred Buchholz in der zuständigen Hauptabteilung V der Stasi-Zentrale mit der Unterstellung begründet worden, Fricke habe „illegal" Kontakte unterhalten: „Die feindliche Tätigkeit von Fricke besteht darin, dass er durch Personen aus der DDR Unterlagen und Material über führende Funktionäre der Partei, Wirtschaft und Verwaltung erhält. (...) Durch die Festnahme des Fricke soll erreicht werden, die Methoden unserer Feinde erkennen (sie!) zu lernen, mit denen es ihnen teilweise gelungen ist, in den Besitz der oben geschilderten Materialien zu kommen."15 Wie ein in den Stasi-Akten ebenfalls überliefertes Vernehmungsprotokoll belegt, wurde der Verfasser am 25. Juni 1955 in der Untersuchungshaft speziell zum SBZ-Archiv verhört. Aus der viereinhalb Stunden dauernden Vernehmung, die anderweitig ausführlich dokumentiert ist16, sei hier nur eine kurze Passage im Wortlaut wiedergeben: „Frage: Entsprach der Inhalt der von Ihnen verfassten Artikel über die Mitglieder der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und der anderen führenden Funktionäre der Tatsache? Antwort: Der Inhalt meiner Artikel entsprach meiner Meinung nach in allen Teilen den Tatsachen. Ich habe diese Artikel stets nach bestem Wissen und Gewissen verfasst und ihren Inhalt - soweit ich dazu in der Lage war - vor der Veröffentlichung auf ihre Sachlichkeit überprüft." 17

Der Auszug lässt ermessen, mit welchen Vorurteilen der Vernehmungsoffizier Autoren des SBZ-Archiv gesehen hat. Die Frage nach „verbrecherischen Verbindungen" in Ost-Berlin und der DDR stellte er erst gar nicht mehr - sie war in früheren Vernehmungen beantwortet worden. Negativ natürlich. Das DDR-offizielle Verdikt wider das SBZ-Archiv wurde im Übrigen auch auf das Deutschland Archiv übertragen, ungeachtet des qualitativen Wandels, den die Zeitschrift mit dem Wechsel durchlaufen hatte. Generell galt das DA den Herrschenden im Staat der SED von Anfang an als politisch suspekt. Ihr Feindbild standfrühzeitig fest. So hieß es in einer Analyse aus dem Jahre 1969 über das Deutschland Archiv: „Nach außen unabhängig scheinend, ist es das führende Organ der ,DDRologie' im Dienste der westdeutschen imperialistischen Expansionspolitik. (...) Es dient der konzeptionellen Vordiskussion mög-

15 16 17

Zit. bei Karl Wilhelm Fricke, Akten-Einsicht, 4. Aufl., Berlin 1997, S. 40. Vgl. ebd., S. 71ff. Ebd., S. 72.

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licher neuer Varianten psychologischer Kriegführung gegen die DDR und andere sozialistische Staaten. (...) Als führende Zeitschrift westdeutscher DDRForschung wirkt das ,Deutschland Archiv' als Sprachregelungsorgan für alle Bereiche der ,DDRologie' und nimmt eine Schlüsselposition im System der antikommunistischen Manipulierung des DDR-Bildes ein."18 Im Grunde genommen hielten Agitation und Propaganda der SED bis 1989 an dieser Einschätzung fest, wozu anzumerken ist, dass die Machthaber in Ost-Berlin den Titel Deutschland Archiv gleichsam als „revanchistische Provokation" empfunden haben. Verlag und Redaktion entschieden sich dafür übrigens auf Vorschlag von Hermann Kreutzer, der damals als Ministerialdirektor die Politische Abteilung im Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen leitete und Zugriff auch auf die Publikationspolitik des Hauses hatte.19

4. Die neue Qualität des Deutschland Archiv Was war neu im DA im Vergleich zum SBZ-Archiv? Abgesehen von Aufmachung und Format sowie von der Umstellung von halbmonatlicher auf monatliche Erscheinungsweise bestand das eigentlich Neue des Deutschland Archiv in seinem Anspruch, in Berichterstattung, Analyse und Dokumentation wissenschaftlichem Standard zu genügen - was die politische Meinungsäußerung im Kommentar, pointiert bis polemisch, keineswegs ausschloss. Neu war zudem seine Erweiterung zum deutschlandpolitischen Diskussionsmedium ganz im Sinne der Gedanken, die seinerzeit auf der ersten DDR-Forschertagung in Tutzing entwickelt worden waren. In der Rubrik „Forum" meldete sich zu Wort, wer in der Deutschlandpolitik etwas zu sagen wusste. Gleich in der ersten Ausgabe waren dies Karl Theodor Freiherr zu Guttenberg, Wolfgang Mischnick und Herbert Wehner sowie die Publizisten Peter Bender und Herbert Hausen. Es folgten (in chronologischer Reihenfolge) unter anderen Franz Josef Strauß, Egon Franke, Manfred Abelein, Claus Arndt, Richard von Weizsäcker, Helmut Schmidt, Johann Baptist Gradl, Helmut Kohl, Heinrich Windelen, Dieter Haack, Rupert Scholz, Hans Büchler, Ottfried Hennig, Hans-Günther Hoppe, Dorothee Wilms - um hier nur die prominenten Namen zu nennen. Schon ihre Aufzählung belegt allerdings, dass das Deutschland Archiv als Diskussionsforum in allen demokratischen Lagern anerkannt und genutzt wurde. Für die Aufgeschlossenheit der Redaktion war es zudem charakteristisch, dass von den siebziger Jahren an auch osteuropäische und 18 R. Graf H. G. Müller , Westdeutsche DDR-Forschung - Instrument psychologischer Kriegführung, in: Dokumentation der Zeit, Nr. 24/1969, S. 11.

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Vgl. Ilse Spittmann, , (Anm. 3), S. 302.

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sowjetische Autoren, meist Bonner Korrespondenten, Gelegenheit erhielten, sich im Deutschland Archiv zur Ost- und Deutschlandpolitik zu artikulieren. Autoren in der DDR waren selbstverständlich ebenso zur Mitarbeit eingeladen worden, öffentlich sogar in einer Notiz der Redaktion20, aber im DA zu publizieren blieb ihnen; wie Ilse Spittmann bekundet hat, bis 1989 versagt. „Unsere Bemühungen um Beiträge aus der DDR blieben erfolglos, bis zum Schluss gab es dort ein Verbot, für uns zu schreiben".21 Erst nach der friedlichen Revolution hatten Autorinnen und Autoren aus den neuen Ländern ihre Chancen, im DA zu publizieren; sie haben sie seither eindrucksvoll wahrgenommen, und sie nehmen sie weiterhin wahr.22 Mit der Herausgabe und Gestaltung des Deutschland Archiv hatten Verlag und Redaktion demonstriert, dass sie sich auf neue politische Erfordernisse der Zeit einzustellen wussten. Unverändert blieben dagegen das Bekenntnis zur Einheit der Nation und das politische Verantwortungsbewusstsein, durch die eigene Arbeit die Wirklichkeit der DDR so gut wie möglich widerzuspiegeln und dadurch zur Verbundenheit mit den Menschen unter der Diktatur der SED beizusteuern. Gerade diese Intention wurde von den Herrschenden in der DDR als „politisch-ideologische Diversion" verfemt. Von der Arbeit im Deutschland Archiv nicht zu trennen sind die Publikationen außerhalb seiner Druckspalten in eigenständigen Editionen, die stets von derselben Geisteshaltung getragen wurden, die auch sonst die Arbeit in der Redaktion bestimmt haben. Ein besonderes Zeugnis dessen haben sich die beiden DA-Redakteurinnen selber ausgestellt. 1967 gaben Ilse Spittmann und Gisela Helwig gemeinsam ihr Lesebuch „Reise nach drüben" heraus, eine Zusammenstellung historischer und literarischer Texte, beispielhaft illustriert, zu „Vergangenheit und Gegenwart im Land zwischen Elbe und Oder". So der Untertitel. Als der Autor dieses Beitrages unlängst noch einmal in dem Buch las, fand er eine Sentenz, die sich wie ein Kommentar zum Jahre 1990 liest: „Der Gipfel der Staatskunst besteht darin, die Gelegenheit abzuwarten, und sie nach Gunst der Umstände zu benutzen. Wer glaubt, die Ereignisse herbeiführen zu können, täuscht sich fast immer und sieht seine Pläne scheitern."23 Die Worte wurden vor rund 230 Jahren zu Papier gebracht und stammen von Friedrich dem Großen. Von ungefähr kam das alles nicht, denn nicht nur im Verlag und in der Redaktion wirkten Menschen, die nach Herkunft oder Profession eine besondere 20 21 22 23

Vgl. Lob und Tadel aus Ostberlin, in: Deutschland Archiv Nr. 7/1968, S. 702. Ilse Spittmann, (Anm. 3), S. 304. Mehr dazu ebd. Ilse Spittmann/Gisela Helwig (Hrsg.), Reise nach drüben, Köln 1967, S. 106.

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Sensibilität für das entwickelt hatten, was man damals die „deutsche Frage" nannte. Auch vielen Autoren der Zeitschrift war und ist dies zu attestieren. Nicht wenige kamen aus Mittel- und Ostdeutschland. Es waren Autoren, die ihre Erfahrungen aus der DDR einbrachten. Außer den schon Genannten wären Sabine Brandt, Thomas Ammer, Gunter Holzweißig, Manfred Jäger, Johannes Kuppe, Erich Loest, Fred Oldenburg und Rüdiger Thomas zu nennen - Autoren sie alle und andere mehr, die für das Deutschland Archiv zu schreiben begannen, nachdem sie die DDR verlassen hatten und oftmals hatten verlassen müssen, weil sie politisch geächtet wurden. Dass die im Deutschland Archiv ausgetragenen Diskussionen zur Deutschlandpolitik zuweilen ein breites Echo in den bundesdeutschen Medien fanden und in aktuellen Meldungen wiedergegeben wurden, sei nur am Rande vermerkt. Skurril war zuweilen das Echo in den DDR-Medien. Für sie war das Deutschland Archiv schon vom Titel her „revanchistisch", auch wenn in späteren Jahren die Polemik weniger aggressiv sein mochte. Bezogen auf den Wechsel vom SBZ-Archiv zum Deutschland Archiv las man 1979 zum Beispiel folgende Einschätzung: „Die fortan über die DDR erscheinenden Beiträge wurden im Ton - bei Aufrechterhaltung einer scharfen ideologischen und politischen Feindschaft - versachlicht, es kommen Autoren zu Wort, die sich der ,DDRForschung' verschrieben haben. Der frühere gesamtdeutsche' Anspruch der Zeitschrift, der seit 1968 in ihrem neuen Titel Ausdruck findet, folgt der offiziellen Politik der Bundesrepublik gegenüber der DDR und ist besonders um die Wahrung des Anspruches vom angeblichen Bestehen innerdeutscher oder besonderer Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten bemüht."24 Durch Scharfsinn konnten solche Analysen kaum bestechen. Die Staatssicherheit, die sich bekanntermaßen als „Ideologiepolizei" verstand, sah in der Redaktion des DA nichts anderes als ein „Zentrum der politisch-ideologischen Diversion".25 Wo immer möglich, waren daher Redaktion und Mitarbeiter unter operativer Kontrolle zu halten. Keine Überraschung also, wenn die Namen von Ilse Spittmann und Gisela Helwig durch MfS-Akten geistern und in zahlreichen Operativen Vorgängen zu ihren Autoren auftauchen, etwa bei Peter Jochen Winters (OV „Eber") oder bei Manfred Jäger (OV „Mikro"). Als Manfred Jäger, um das Vorgehen der Staatssicherheit an einem konkreten Beispiel zu illustrieren, in den achtziger Jahren Verwandte in Erfurt besuchte, wurde er auf Veranlassung der zuständigen MfS-Bezirksverwaltung mit 24

Hans Teller , Der Kalte Krieg gegen die DDR. Von seinen Anfängen bis 1961, [Ost-]Berlin 1979, S. 93. 25 SOUD-Erfassungsbeleg der Bezirksverwaltung Erfurt vom 23. Mai 1985, BStUKopie (ohne Signatur). Privatarchiv. - PID war das MfS-übliche Kürzel für „politischideologische Diversion".

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folgender Begründung „operativ bearbeitet": „Als langjähriger Mitarbeiter des Deutschland Archiv' (Organ der DDR-Forschung) nimmt er Anteil an den subversiven Aktivitäten auf diesem Gebiet".26 Nachweislich wurden von der Hauptabteilung III des MfS auch Ferngespräche zwischen der Redaktion in Köln und Mitarbeitern in West-Berlin abgehört, mitgeschnitten und schriftlich ausgewertet. Und die ZAIG, die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe des MfS, verfertigte Inhaltsanalysen aus dem Deutschland Archiv, die in ihrer politischen Naivität zu Real-Satire gediehen. Tatsächlich blieb die Zeitschrift bis zur Endzeit der DDR im Visier der Staatssicherheit. In einem von der Juristischen Hochschule Potsdam noch 1988 gefertigten „Lehrbuch" wurde die Zeitschrift als „eines der wesentlichsten Periodika" der PID charakterisiert. „In ihr werden ausgewählte Arbeitsergebnisse der , Öffentlichkeit' zur Diskussion gestellt. Gleichzeitig werden grundsätzliche Artikel und Reden führender Vertreter der Bundesregierung bzw. der Regierungsparteien veröffentlicht, die damit Einfluss auf die Forschungsorgane verwirklichen. Ebenfalls treten zunehmend ehemalige DDR-Bürger (Renegaten und Verräter) sowie Vertreter von Diversionssendern mit Veröffentlichungen im Deutschland Archiv' und damit als »Theoretiker' der ,DDR-Forschung' in Erscheinung."27

5. Diskussionsforum für DDR-Forscher Ein Versuch, die Geschichte des DA zu skizzieren, wäre unzulänglich ohne eine Erinnerung daran, dass die Zeitschrift regelmäßig auf wichtige Ergebnisse und Tendenzen der bundesdeutschen DDR-Forschung aufmerksam gemacht und sie zum Teil gleich publiziert hat. Darüber hinaus war (und ist) sie ein Forum für wissenschaftlichen Meinungsstreit unter konkurrierenden Denkschulen in der Gilde der DDR-Forscher. Politologen, Soziologen, Ökonomen und nicht zuletzt Historiker, die sich an Universitäten, Hochschulen und Instituten mit der DDR beschäftigten - es waren wenig genug - und bis heute beschäftigen, leistete und leistet das Deutschland Archiv Orientierungshilfe durch sachliche Unterrichtung über aktuelle Forschungsvorhaben. Das galt auch für die alljährlichen DDR-Forschertagungen, die Ilse Spittmann in den Jahren 1967 bis 1991 maßgeblich mitgestaltet und mitorganisiert hat - zunächst in Tutzing, später in Lerbach und zuletzt in Bonn-Röttgen. Tatsächlich informierten zunächst Sonder-

26 Schreiben der MfS-Bezirksverwaltung Potsdam an die BV Erfurt vom 4. Juni 1984, BStU-Kopie (ohne Signatur). Privatarchiv. 27 Juristische Hochschule Potsdam (Hrsg.), Lehrbuch. Die politisch-ideologische Diversion gegen die DDR, Potsdam 1988, S. 139f.

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hefte des Deutschland Archiv über die DDR-Forschertagungen, bis sie von 1980 an als „Edition Deutschland Archiv" besonders ausgewiesen wurden. Insgesamt erschienen acht Sonderhefte und elf Editionen zu DDR-Forschertagungen. Eine geplante Edition zur XXIV. DDR-Forschertagung vom 21. bis 23. Mai 1991 - der letzten ihres Zeichens - konnte nicht mehr erscheinen: „Dafür reichte das Geld nicht."28 Seit 1980 kamen Editionen hinzu, in denen spezielle DDR-Themen aufgearbeitet wurden. Insgesamt erreichten sie die beachtliche Zahl von 32. Der von 1994 an im DA regelmäßig erscheinende, von Ulrich Mahlert betreute Newsletter „Aktuelles aus der DDR-Forschung" ist ein Beleg dafür, dass sich die Redaktion ihren Herausforderungen auch nach der Vereinigung nicht entzog. Die bislang letzte Edition Deutschland Archiv 29, ein von Gisela Helwig, HansGeorg Golz und Christel Marten, der langjährigen Redaktionssekretärin, erarbeitetes Gesamtregister für dreißig Jahrgänge, erschien 1998. Mit ihm legte die Redaktion nicht nur ein nützliches Findhilfsmittel vor, sondern zugleich eine Bilanz aus drei Jahrzehnten. War das Deutschland Archiv ein publizistischer Erfolg? Die Antwort lautet: ja. Seine Erklärung findet dieser Erfolg in der Gediegenheit der Arbeit, die die Redaktion geleistet hat und bis heute leistet - ungeachtet personeller Veränderungen, in den letzten anderthalb Jahrzehnten. Im Mai 1995 zog sich Ilse Spittmann in den Ruhestand zurück. Gisela Helwig übernahm die Leitung der Redaktion, unterstützt von Hans-Georg Golz30, der bereits 1992 in die Redaktion eingetreten war. Nicht zuletzt gedieh die Arbeit auf der überparteilichen Haltung, der sich die Zeitschrift unabhängig von allen Wechselfällen der Politik stets verpflichtet gefühlt hat, und sie blieb auch stets frei von Ideologie, eine bestimmte Richtung politischen Denkens wurde nicht favorisiert. Es war schon so, wie Erich Loest einmal schrieb: „Das Deutschland Archiv' wollte nicht agitieren und keine Stimmen fangen, nicht einer Partei dienen und die DDR weder schlecht machen noch schönreden, es wollte etwas ganz Einfaches, was so schwer zu machen ist (...). Das Deutschland Archiv' wollte ganz einfach die Wahrheit schreiben.

28 Walter Süß, Neue deutsche Gründerjahre - Gründerkrise statt Gründerboom. Letzte DDR-Forschertagung in Bonn-Röttgen, in: Deutschland Archiv Nr. 7/1991, S. 753. 29 Ilse Spittmann-Rühle/Gisela Helwig (Hrsg.), Deutschland Archiv 30 Jahre Gesamtregister, Köln 1998. 30 Hans-Georg Golz, Dr. phil., Zeithistoriker und Anglist, geb. am 11. November 1961, arbeitete von 1992 bis 2002 in der Redaktion des DA. Seit Januar 2003 Redakteur der Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament „Aus Politik und Zeitgeschichte".

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Ganz einfach. Wollte die Wahrheit suchen. Wollte sagen, was es für die Wahrheit hielt. Ganz einfach." 31 Dass Verlag und Redaktion dies auch künftig so halten mögen, denn es bleibt noch viel zu tun für das Deutschland Archiv, sei es bei der Aufarbeitung der SED-Diktatur, sei es bei der Analyse der Probleme, die die innere Einheit und der Prozess des Zusammenwachsens aufgeben, ist sozusagen conditio sine qua non. Die Redaktion des DA in Köln wurde im Zuge des erwähnten Verlagswechsels zum Jahresende 2002 aufgelöst. Die ersten drei Hefte des Jahrganges 2003 wurden noch von Leske & Budrich herausgegeben, aber verantwortlich für die Redaktion war das Verlagslektorat. Seit Juli 2003 erscheint das Deutschland Archiv unter der Redaktion von Marc-Dietrich Ohse32 mit Sitz in Hannover. In einem Editorial im ersten redaktionell von ihm verantworteten Heft bekannte er sich zu der bisherigen Konzeption des DA: „Gemeinsam mit dem Verlag sehe ich mich auch weiterhin der Vielfalt an Themen und Meinungen im Bereich der Deutschlandforschung im Allgemeinen und der DDR-Forschung im Besonderen verpflichtet, denen das Deutschland Archiv seit Jahrzehnten ein wissenschaftliches und publizistisches Forum bietet. Wir werden das Profil der Zeitschrift wahren und - wo nötig - schärfen." 33 Inwieweit die seither in neuer Regie erschienenen Ausgaben des DA dem selbstgesetzten Anspruch genügen, muss dem Urteil der Leserschaft überlassen werden. Dass die Aufgaben des verantwortlichen (Allein-)Redakteurs nicht eben einfach zu nennen sind, ist evident. Doch wie schwierig es für ihn ist, sich auf dem Grat zwischen grundgesetzlich verankerter Meinungsfreiheit und verantwortungs-bewusster Redaktionsentscheidung zu bewegen, ohne zu straucheln, erwies sich schneller als erwartet. Für problematisch hielten mancher Leser, manche Leserin bereits die Veröffentlichung einer polemisch zugespitzten, von persönlichen Invektiven nicht freien Kontroverse in Gestalt zweier Aufsätze von Chaim Noll 34 und Moshe Zimmermann35 im DA Nr. 1 über die deutschisraelischen Beziehungen, die ihre Fortsetzung im folgenden Heft erfuhr. Im-

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Erich Loest, Hier Ilse!, in: Deutschland Archiv Nr. 5/1995, S. 455. Marc-Dietrich Ohse, Dr. phil., Historiker, geb. am 20. Februar 1966, übernahm im Juli 2003 die Redaktion. 33 Marc-Dietrich Ohse, Editorial, in: Deutschland Archiv Nr. 4/2003, S. 553. 34 Vgl. Chaim Noll, Die Schrift an der Wand, in: Deutschland Archiv Nr. 1/2004, S. 42-57. 35 Vgl. Moshe Zimmermann, Wandschmiererei, ebenda, S. 58-65. 32

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merhin war die Kontroverse mit den wechselseitigen Repliken36 in Nr. 2 beigelegt. Für neue Irritationen sorgten indes ein umstrittener, im selben Heft gedruckter Aufsatz 37 von Konrad Low mit höchst eigenwilligen Thesen zum Thema nationale Identität und Verhältnis Deutsche/Juden sowie dessen unerwartete Folgen. Denn unmittelbar nach seinem Erscheinen hielten es Herausgeber und Verlag für nötig, sich in einem Schreiben38 an die „sehr geehrten Abonnentinnen und Abonnenten des Deutschland Archivs 4" ausdrücklich davon zu distanzieren, „aufs Schärfste", und zwar mit der Begründung: „Der Verfasser vertritt Ansichten zum Antisemitismus im 20. Jahrhundert in Deutschland, die weder mit dem Selbstverständnis der Bundeszentrale für politische Bildung noch mit dem des W. Bertelsmann Verlages vereinbar sind." Leider blieb es nicht bei diesem Verdikt - für das man noch Verständnis haben mochte - ; sondern es folgte der inhaltsschwere Satz: „Der Rest der Auflage von Heft 2/2004 wird makuliert." Das war ein „in der langen Geschichte beider Häuser und des Deutschland Archivs' einmaliger Vorgang", wie die Unterzeichner des Schreibens Jürgen Faulenbach und Manfred Eigemeier selber zutreffend hervorhoben. Es war zudem eine überzogene, politisch wenig überlegte Reaktion, denn sie bewirkte genau das, was kaum im Sinne von Herausgeber und Verlag gelegen haben kann: Sie löste ein vorhersehbares Presse-Echo aus, nicht immer zustimmend, und verhalf dem Aufsatz des heute in Baierbrunn lebenden Emeritus zu einer Publizität, die ihm ohne Distanzierung und ohne den Entschluss zur Makulierung kaum zuteil geworden wäre. Die konservative und rechtsextreme Publizistik griff den Eklat voller Entzücken auf und stigmatisierte ihn als „Zensur in Deutschland"39, aber auch kritische Zeitgenossen, u.a. Hermann Kreutzer 40 und Fritz Schenk41, deren demokratische Integrität über allen Zweifel erhaben ist, zeigten sich in hohem Maße beunruhigt. Wie viel Unabhängigkeit besitzt das DA in seinen redaktionellen Entscheidungen? Hätte es nicht genügt, sich mit Löws Thesen in einem der folgenden Hefte des DA auseinander zu setzen, wie es guter politischer Stil gewesen wäre?

36 Vgl. Chaim Noll , Vom Elend der Ideologen, in: Deutschland Archiv Nr. 2/2004, S. 240-243, und Moshe Zimmermann , Die abenteuerlichen Argumente des Chaim Noll, ebenda, S. 244. 37 Vgl. Konrad Low, Deutsche Identität in Verfassung und Geschichte, in: Deutschland Archiv Nr. 2/2004, S. 230-240. 38 Schreiben der Bundeszentrale für politische Bildung vom 2. April 2004. 39 Andreas Wild, Zensur in Deutschland/Von der DDR gelernt, in: Junge Freiheit vom 16. April 2004. 40 Schreiben Hermann Kreutzer vom 27. April 2004.

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Schreiben Fritz Schenk vom 20. April 2004.

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Karl Wilhelm Fricke

Zu den Neuerungen im Deutschland Archiv gehört die Begleitung der Redaktion durch einen unabhängigen, ehrenamtlich tätigen Redaktionsbeirat.42 Vielleicht vermag er dazu beizutragen, dass die Zeitschrift fortan wieder ruhigen Gewässern entgegen steuert. Ob und wie lange ihr eingangs kommentierter Untertitel von Bestand ist, hängt nicht nur von der Zukunft des Deutschland Archiv ab. Die Zeit wird kommen, in der Deutschlands Einheit als so selbstverständlich empfunden wird, dass es des Epithetons „vereinigt" nicht mehr bedarf.

42 Dem Redaktionsbeirat gehören an: Manfred Eigemeier, Jürgen Faulenbach, Dr. h.c. Karl Wilhelm Fricke, Dr. Hans-Georg Golz, Dr. Gisela Helwig, Dr. Annette Kaminsky, Wolfgang Reichardt, Rüdiger Thomas und Dr. Hermann Wentker.

25 Jahre Gesellschaft für Deutschlandforschung Das geteilte und vereinigte Deutschland im Spiegel einer wissenschaftlichen Vereinigung

Von Günther Heydemann

1. Die umstrittene Gründung Eine der immer wieder vorgebrachten Kritiken an der Gesellschaft für Deutschlandforschung, sie werde nur von politisch konservativ ausgerichteten und daher wenig innovativen Wissenschaftlern getragen, zudem sei sie eine „staatsnahe", deshalb unkritische Gesellschaft, widerlegt ihre Gründungsgeschichte selbst. Denn keineswegs traf das Ansinnen jener 17 Wissenschaftler, die am 19. April 1978 die Gesellschaft für Deutschlandforschung e.V. gründeten, auf den Zuspruch des damaligen Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen. Vielmehr zog sich ihre Gründung über ein halbes Jahr hin, obwohl sie bereits im Herbst 1977 erfolgen sollte und erst gegen den erklärten Widerstand des Ministeriums durchgesetzt werden musste. Wie kam es zu diesem politisch wie wissenschaftspolitisch umstrittenen Gründungsprozess? Zunächst war dies eine Konsequenz des Forschungsgegenstandes selbst. Bekanntlich ist die Deutschland- und DDR-Forschung seit ihrer sukzessiven Herausbildung als eigenständige Wissenschaftsdisziplin Ende der 1940er, Anfang der 1950er Jahre nicht allein von der innerwissenschaftlichen, d.h. fachlichen Auseinandersetzung geprägt worden; zugleich wurde sie auch, mehr als in anderen Wissenschaften, sowohl von ihrem politiknahen Untersuchungsgegenstand her als auch von ihrer eigenen Affinität zur Politik mitbestimmt und nicht zuletzt von politischen und parteipolitischen Positionen der einzelnen Forscher selbst. Auf diese Weise blieb sie „stets ein politisches Feld und von politischen Konstellationen abhängig"1. Diese Tatsache war den Griin1

So die treffende Feststellung von Ilse Spittmann , eine der besten Kennerinnen der DDR-Forschung, in: dies., Das zweite Leben der DDR-Forschung, in: Deutschland Archiv 29 (1994), S. 459ff., hier S. 459.

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Günther Heydemann

dem der Gesellschaft für Deutschlandforschung nur allzu bewusst. Allerdings ging es ihnen Ende der 1970er Jahre, als sich die Auseinandersetzungen um die weitere Entwicklung der DDR-Forschung zuspitzten, gerade darum, einer zu engen wissenschaftspolitischen Fixierung und wissenschaftlichen Ausrichtung der damaligen DDR-Forschung, die sich nach ihrer Überzeugung auch in forschungsmethodischer Hinsicht als einseitig erwies, ein Korrektiv entgegenzusetzen. Im Folgenden seien nur einige Namen genannt, die zu den Mitbegründern der Gesellschaft gehörten: zuerst Siegfried Mampel2, der spiritus rector, Jens Hacker3, Maria Haendcke-Hoppe, Joachim Nawrocki und Karl C. Thalheim. Dass ihre Initiative zunächst keineswegs auf Unterstützung stieß, wurde rasch an einer Pressemitteilung vom 21. Oktober 1977 des Ministeriums für innerdeutsche Beziehungen deutlich, in der abweisend auf die geplante Gründung einer solchen Gesellschaft reagiert wurde4. In ihr wurde fälschlicher-, aber auch bezeichnenderweise die noch zu gründende Vereinigung als Gesellschaft für Deutschlandpo/zY/Ä: - statt Deutschlandforschung - apostrophiert und damit unfreiwillig offenbart, worum der Konflikt im eigentlichen ging; zugleich wurde deren beabsichtigte Gründung abgelehnt. Seine negative Haltung begründete das Ministerium damit, dass der zu diesem Zeitpunkt bestehende „Arbeitskreis für vergleichende Deutschlandforschung", den es beauftragt hatte, eine Bilanz der Deutschlandforschung zu erstellen, seine Arbeit noch nicht abgeschlossen habe; dementsprechend könne die geplante Gesellschaft auch nicht mit einer ideellen oder materiellen Förderung seitens des Ministeriums rechnen5. Noch heute erstaunt diese Argumentation. Denn warum sollte eine Gesellschaft für Deutschlandforschung, die sich aus der freiwilligen Mitgliedschaft von Forschern zusammensetzen würde, dem bestehenden Arbeitskreis schaden können? Außerdem hatte die Gesellschaft, die i.Ü. zu diesem Zeitpunkt noch überhaupt nicht existierte, wie der präsumtive Vorsitzende, Siegfried Mampel, dem damaligen Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, Egon Franke, in einem Schreiben vom 10. Februar 1978 mitteilte, das Ministerium bisher „nicht um einen Pfennig Subvention gebeten"; zudem hätten die Initiatoren der Gesellschaft auch nicht „die Absicht, die Tätigkeit des Arbeitskreises für ver2 Vgl. die Nachrufe von Rainer Eppelmann und Karl Eckart auf den in diesem Jahr verstorbenen Gründer und Ehrenvorsitzenden der Gesellschaft für Deutschlandforschung, in: Deutschland Archiv 36 (2003), S. 554-556. 3 Vgl. den Nachruf auf den am 17. Januar 2000 Verstorbenen von Peter Joachim Lapp, in: Deutschland Archiv 33 (2000), S. 180. 4 Die weiteren Ausführungen in diesem Aufsatz beruhen auf der archivierten Korrespondenz der Gesellschaft für Deutschlandforschung, im Folgenden „GfD-Archiv" genannt.

5

GfD-Archiv.

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gleichende Deutschlandforschung zu beeinträchtigen". Allerdings müsse „mit Nachdruck betont werden", so Mampel weiter, „dass die Gesellschaft auf wissenschaftspluralistischer Grundlage arbeiten soll. Etwas anderes war trotz mancher Fehldeutung niemals beabsichtigt"6. Inzwischen waren die Auseinandersetzungen um die (noch immer nicht vollzogene) Gründung der Gesellschaft, die durch kritische Äußerungen Frankes während einer Sitzung des Deutschen Bundestages am 24. Januar 1978 verschärft worden waren7, ins Interesse der Medien gerückt8. Wenn Jürgen Wohlrabe in der „Berliner Rundschau" vom 12.1.1978 einen entscheidenden Grund für die Ablehnimg einer solchen Gesellschaft in der Politik des Ministeriums sah, „praktisch jeder kritischen DDR-Forschung das Etikett überzustreifen, diese störe den Prozess der Entspannung" und damit die tatsächlich dahinter stehende politische Motivation benannte, weshalb die Gesellschaft nach Auffassung des Ministeriums nicht gegründet werden sollte9, so verfiel die am 19. April 1978 schließlich in Berlin ins Leben gerufene Gesellschaft in einem Artikel des Nachrichtenmagazins Der Spiegel sogleich einem politischen Verdikt. Unter der bezeichnenden Überschrift „Der rechte Pfosten", womit die als konservativ eingeschätzten Gründungsmitglieder gemeint waren, wurde die Gründungsversammlung so kolportiert, als habe sie gleichsam verschwörerisch in einem Hinterzimmer des „Deutschlandhauses" stattgefunden, in unmittelbarer Nachbarschaft zum „Bund der Mitteldeutschen", zum „Zentralverband politischer Flüchtlinge und Ostgeschädigter e.V.", zur „Deutschen Jugend des Ostens", zum „Verband der heimatvertriebenen Wirtschaft", einschließlich der „Interessengemeinschaft der in der Zone enteigneten Betriebe". Dass das Deutschlandhaus damals ohnehin Sitz dieser Verbände und Vereine war, wurde nicht mitgeteilt, gleichwohl aber mit ironischer Abfälligkeit glossiert, dass die Gesellschaft nur Mitglieder aufnehmen wolle, die nach wie vor für die Offenheit der deutschen Frage einträten. Und dem Ridikül verfiel schließlich, dass ausgerechnet die als „Rechtgläubige" kolportierten Gründungsmitglieder in die neugeschaffene Satzung hineinschrieben: „Die Gesellschaft arbeitet unabhängig auf der Grundlage des wissenschaftlichen Pluralismus"10.

6

Ebd. Vgl. ebd. 8 Vgl. u.a. Die Welt vom 29. Oktober 1977 sowie Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. Oktober 1977. 9 Vgl. GfD-Archiv. 10 Der Spiegel Nr. 20 (1978), S. 80-84. Vgl. den demgegenüber ausgewogenen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 21. April 1978 zur Gründung der Gesellschaft mit der Überschrift „Eine Chance für die Deutschland-Forschung". In einer Entschließung der am 27. Oktober 1977 versammelten Mitglieder des Gründungskrei7

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Keine guten Startbedingungen für die Gesellschaft - und in gewisser Weise sollte ihr diese frühe, maliziöse Charakterisierung als eine Versammlung von ausschließlich politisch konservativen Mitgliedern bis heute negativ anhängen.

2. DDR-Forschung im Widerstreit zwischen Totalitarismustheorie und Immanenz-Paradigma Was waren die eigentlichen Hintergründe für diesen schwierigen Entstehungsprozess? In der Tat reichen sie tief in die damaligen Auseinandersetzungen um Theorie und Methode der praktizierten DDR-Forschung zurück und müssen daher noch einmal kurz skizziert werden, um zu verstehen, weshalb es überhaupt zur Gründung der Gesellschaft kam. Denn „nicht so sehr vom genannten Bundesministerium als von ihm nahestehenden und favorisierten Wissenschaftlern wurde geltend gemacht, eine wissenschaftliche Gesellschaft dürfe sich nicht auf das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes stützen, sondern müsse dieses zum Gegenstand der wissenschaftlichen Analyse machen und damit in Frage stellen"11.

ses, in der die Gründung der Gesellschaft aufgrund der damaligen Auseinandersetzungen noch einmal auf das Frühjahr 1978 verschoben wurde, hatten sie ausdrücklich bekräftigt, dass „in der Deutschlandforschung eine überparteiliche, dem wissenschaftlichen Pluralismus verpflichtete, von privater Initiative getragene Gesellschaft tätig sein" solle und müsse. Die an diesem Tag verabschiedete Entschließung wurde als Entgegnung auf die am 21. Oktober 1977 in der Pressemitteilung des Bundesministeriums geäußerten Bedenken formuliert. Zuvor hatte sich bereits am 15. September 1977 in Berlin ein Gremium von sieben Personen getroffen, um eine von Siegfried Mampel maßgeblich erarbeitete Satzung der Gesellschaft zu beschließen; Teilnehmer waren Dr. Doris Cornelsen, Prof. Dr. Wolfgang Förster, Dipl.- Volkswirt Maria Haendcke-Hoppe, Ministerialdirektor Hermann Kreutzer, Prof. Dr. Siegfried Mampel, Joachim Nawrocki und Prof. Dr. Karl C. Thalheim. Den erneut kritischen Bemerkungen des damaligen Bundesministers für Innerdeutsche Beziehungen, Egon Franke im Bundestag vom 24. Januar 1978 (s.o.) zur geplanten Gründung der Gesellschaft antworteten die Sprecher des Gründungskreises Siegfried Mampel, Maria Haendcke-Hoppe und Jens Hacker in einem Schreiben vom 10. Februarl978; dort stellten sie u.a. fest, dass „die Arbeit der Gesellschaft, getreu dem Auftrag des Grundgesetzes, davon auszugehen hat, dass die deutsche Frage offen ist"; vgl. GfD-Archiv. 11

In einer undatierten, aber wohl Ende 1982 erstellten „Dokumentation über die Gründung der Gesellschaft für Deutschlandforschung" wurde diese Aussage formuliert und traf damit den Kern der damaligen wissenschaftspolitischen und methodischen Auseinandersetzungen um die Deutschland- und DDR-Forschung; es heißt dort weiter: „Es handelte sich dabei um solche Experten, die es für unwissenschaftlich halten, das in der DDR bestehende politische System als totalitär 4 zu bezeichnen, und prognostizierten, dieses würde sich liberalisieren, wenn die Bundesrepublik Deutschland ihm nur genügend entgegenkomme. Von diesen wurde geradezu eine Kampagne gegen die Gründung der Gesellschaft gestartet"; vgl. GfD-Archiv.

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Diese politische und zugleich wissenschaftspolitische Position hatte sich gut zehn Jahre vor ihrer Gründung herausgebildet. Dabei wurde zunächst durchaus mit Berechtigung kritisiert, dass bisherige Forschungen zur DDR zu sehr von westlichen Wertvorstellungen und Normen ausgegangen seien. Dies reiche jedoch nicht aus, um „die Eigendynamik von Herrschaft, Wirtschaft und Gesellschaft im anderen Teil Deutschlands exakt erfassen" 12 zu können, wie der bedeutendste Vertreter der ersten Nachwuchsgeneration der DDR-Forschung, Peter Christian Ludz, konstatierte. Stattdessen sollte die zukünftige DDRForschung und deren Ergebnisse immanent an den Bedingungen des von der SED selbst geschaffenen Herrschafts-, Wirtschafts- und Gesellschaftssystems gemessen werden. Das hieß konkret: „Vergleichen der Leistungen des Systems mit der ihm vorgegebenen bzw. von ihm selbst gesetzten Programmatik" 13. Ludz untermauerte seinen Standpunkt mit dem 1968 erschienenen Werk „Parteielite im Wandel"14, das die erste empirisch-systematische Untersuchung der SED-Führung auf der methodischen Grundlage eines immanenten Ansatzes darstellte. Er kam zu der Schlussfolgerung, dass auch sozialistisch verfasste Industriegesellschaften um politische, ökonomische und gesellschaftliche Anpassungsprozesse nicht herumkämen. Dementsprechend trete neben die „strategische Clique" der Parteispitze zunehmend eine „institutionalisierte Gegenelite", um den Anforderungen einer modernen Industriegesellschaft begegnen zu können. Auf diese Weise wandle sich das von der SED geschaffene System von einem totalitären zu einem „autoritären mit konsultativen Zügen"15. Weitreichende Schlussfolgerungen, die, wie wir heute wissen, an der tatsächlichen Entwicklung in der DDR und in der SED vorbeigingen. Dennoch war dieser Ansatz nicht von vorneherein abwegig oder in seiner methodischen Vorgehensweise unberechtigt; das sollte auch jetzt, mehr als dreißig Jahre später, nicht verkannt werden. Ein rein normatives Totalitarismus-Modell, das sich überdies zur Erfassung gesellschaftlich-sozialer Entwicklungen in sozialistischen Systemen wenig eignete, stellte in der Tat auf Dauer ebenfalls kein heuristisch innovatives Erkenntnisinstrument dar.

12 Peter Christian Ludz , Situation, Möglichkeiten und Aufgaben der DDRForschung, in: SBZ-Archiv 18 (1967), S.322-24, hier S. 324. 13 Peter Christian Ludz, Die soziologische Analyse der DDR-Gesellschaft, in: ders., Wissenschaft und Gesellschaft in der DDR, München 1971, Einleitung, S. 11-23, hier S. 13. 14 Ders., Parteielite im Wandel. Funktionsaufbau, Sozialstruktur und Ideologie der SED-Führung. Eine empirisch-systematische Untersuchung, 3. erweiterte Aufl., Köln/Opladen 1970.

15

Vgl. ebd. S. 324ff. sowie passim.

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Gleichwohl war es nicht minder falsch, das Kind mit dem Bade auszuschütten und die Totalitarismustheorie gänzlich aufzugeben. Denn die totalitäre Intention des SED-Regimes und seine Praxis waren nicht weg zu leugnen; sie war immer existent und blieb virulent bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft. Nach wie vor stand die Mauer und wurde nicht abgerissen, politische Häftlinge musstenfreigekauft werden und in den 1980er Jahren überstieg die Zahl derjenigen, welche die DDR um jeden Preis verlassen wollten und auch verließen, unter Inkaufnahme größter persönlicher, familiärer und beruflicher Drangsalierungen noch einmal die Hunderttausend. Das alles hatte nichts mit Demokratie zu tun; vielmehr blieb der SED-Staat, solange er existierte, eine sozialistische Diktatur. Der eben skizzierte Paradigmenwechsel führte zu einer wissenschaftlichen Debatte, die von den 1970er Jahren an zunehmend kontrovers geführt wurde. In ihrem Mittelpunkt stand die gegensätzliche Einschätzung zweier Grundprobleme. Zum einen „die Frage, inwieweit die monopolistische Verwaltung der politischen Macht durch die Partei eine Demokratisierung des Systems zulässt, und zum anderen, inwieweit diese Zentralisierung aller Entscheidungskompetenzen mit der erforderlichen Rationalisierung und Effektivierung des ökonomischen Systems zu vereinbaren ist" 16 . Während Vertreter eines totalitarismustheoretischen Ansatzes die Bereitschaft und Fähigkeit der SED-Führung bezweifelten bzw. negierten, auf systemverändernde demokratische und ökonomische Modernisierungsprozesse eingehen zu können, vertraten Anhänger des ImmanenzParadigmas die Auffassung, dass sich die Kadereliten hierzu in absehbarer Zeit bereit finden würden. Ebenso war unverkennbar, dass „die Haltung zur Totalitarismustheorie gleichzeitig auch eine bestimmte Position zur Legitimität der beiden deutschen Staaten und letztlich zur ,deutschen Frage' nahe legte"17. DDRForscher, die dem immanenten Forschungsansatz nahe standen, akzeptierten häufiger die Teilung Deutschlands als gegeben und hielten z.T. deren Perpetuierung aus sicherheitspolitischen bis hin zu moralischen Gründen für gerechtfertigt; bisweilen wurde die Spaltung der Nation und die daraus resultierende Existenz zweier deutscher Staaten sozusagen als eine „gerechte" Strafe betrachtet für das Aufkommen des Nationalsozialismus und dessen Rassen- und Vernichtungskrieg. Dass aufgrund der weiter bestehenden Teilung Deutschlands 16,5 Millionen Deutsche weiter in einer sozialistischen Diktatur leben mussten, fand demgegenüber weniger Beachtung.

16

So zutreffend Detlef Pollack, Zum Stand der DDR-Forschung, in: Politischer Vierteljahresschrift 34 (1993), S. 119-139, hier S. 123. 17 Achim Siegel, Die Konjunkturen des Totalitarismuskonzepts in der Kommunismusforschung. Eine wissenschaftssoziologische Skizze, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 20 (1998), S. 19-31, hier S. 22.

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Vor allem bei der politik- und sozialwissenschaftlich ausgerichteten DDRForschung, allerdings wiederum keineswegs bei jedem einzelnen Wissenschaftler dieser Fachrichtungen setzte sich eine gewisse Fixierung auf die DDR als eine Industriegesellschaft mit nur anderen ordnungspolitischen Strukturen durch, während normativen demokratischen Prinzipien eher sekundäre Bedeutung zugemessen wurde. Abgesehen davon, dass dadurch die essentielle Bedeutung der fehlenden demokratischen Legitimation des SED-Regimes und dem von ihr geschaffenen Staates relativiert wurde, ließ sich auch die implizit enthaltene Forderung, das bestehende real-sozialistische System der DDR an den eigenen, immanenten Zielsetzungen und Strukturbedingungen zu messen, forschungspraktisch nur partiell umsetzen, weil gesichertes Informations- und Datenmaterial häufig nicht erhältlich oder nur unzureichend vorlag bzw. ab Ende der 1970er Jahre zunehmend gefälscht wurde. Systemimmanente Bewertungen erwiesen sich daher als schwierig.

3. Der rasche Aufschwung der Gesellschaft Genau diese unterschiedlichen Positionen waren aber die entscheidenden Motive, die zur Gründung der Gesellschaft für Deutschlandforschung führten: ein heuristisch verengter Forschungsansatz, der darüber hinaus vom damaligen „Mainstream" der DDR-Forschung bisweilen dogmatisiert wurde; hinzu kam die Unterschätzung des SED-Staates als Diktatur, obwohl dieser immer wieder unter Beweis stellte, dass es sich zweifelsfrei um eine solche handelte, bis zum eigenen Zusammenbruch; schließlich die Negierung der doch weiter bestehenden Offenheit der deutschen Frage, mochte sie auch damals so zementiert erscheinen wie nie. So vollzog sich die Gründung der Gesellschaft für Deutschlandforschung vor dem Hintergrund einer für die damalige Zeit charakteristischen Polarisierung der wissenschaftlichen wie politischen Standpunkte. „Im Bewusstsein der offenen deutschen Frage" sahen die Gründungsmitglieder der Gesellschaft dementsprechend ihre Aufgabe darin", wie es in ihrer Satzung hieß, „an der gegenwartsbezogenen Deutschlandforschung interessierte Personen zusammen zu führen, die Forschung zu fordern, Erkenntnisse zu verbreiten, sowie Tagungen und Vorträge zu veranstalten". Tatsächlich sollte die Vereinigung im Laufe ihrer Entwicklung innerhalb der DDR-Forschung zunehmend eine Brückenfunktion ausüben, zumal diese selbst fachspezifisch weitgehend unkoordiniert blieb. Denn ein zentraler Kritikpunkt der Ergebnisse des bereits erwähnten, unter Federführung von Peter Christian Ludz erstellten Gutachtens, das einen Monat vor der Gründung der Gesellschaft im März 1978, herauskam, bestand u.a. darin, dass die damalige DDR-Forschung Defizite im

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Hinblick auf eine übergreifende innerwissenschaftliche Kommunikation aufwies18. Um so wichtiger wurde daher, dass die GfD „auf der Grundlage des wissenschaftlichen Pluralismus" (vgl. Satzung) regelmäßig wissenschaftliche Tagungen und Konferenzen - inzwischen mehr als 100 Veranstaltungen - durchgeführt hat, auf der Forschungen ihrer eigenen Mitglieder und die anderer Wissenschaftler vorgetragen wurden. Auch wenn ihr wissenschaftlicher Pluralismus oft kaum zugetraut oder gar abgesprochen wurde, hat sie genau das praktiziert - ohne indes jene negative politische und wissenschaftspolitische Kolportierung völlig abstreifen zu können, die, wie oben dargestellt, z.T. schon vor ihrer Gründung eingesetzt hatte. Denn die Gesellschaft war und blieb nicht nur ganz selbstverständlich eine multidisziplinäre Vereinigung, sie hat sich stets auch als Forum kontroverser Meinungen verstanden. Leider wurde dieses Angebot nicht immer wahrgenommen, nicht zuletzt in den Anfangsjahren; doch wenn es angenommen wurde, war nicht selten gerade bei denjenigen, die der Gesellschaft skeptisch oder ablehnend gegenüberstanden, Erstaunen darüber anzumerken, wie offen in ihr diskutiert werden konnte und bis heute wird. Niemals besaßen ihre Mitglieder die Absicht, die Deutschland- und DDRForschung zu spalten - im Gegenteil. Zu dieser Erkenntnis rang sich schließlich auch das Ministerium durch, indem es in einer überraschenden Wendung seiner Politik die erste wissenschaftliche Arbeitstagung der GfD im Februar 1979 mit dem Thema „Die DDR - Satellit oder Partner der Sowjetunion?" nun doch finanzierte, obwohl es ein Jahr zuvor noch jede finanzielle Förderung ausgeschlossen hatte19. Sowohl aufgrund der zuvor bekannt gewordenen Dissonanzen bei der Gründung der Gesellschaft als auch aufgrund der behandelten Thematik fand die in Berlin durchgeführte Konferenz ein breites Echo in Presse und Rundfunk 20.

18 Vgl. hierzu i.E. Wilhelm Bleek, Zur Entwicklung der vergleichenden Deutschlandforschung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 38 (1984), S. 25-37; besonders 32f. Eine umfassendere, allerdings nicht immer ausgewogene Darstellung findet sich bei Hans Peter Hamacher, DDR-Forschung und Politikberatung 1949-1990. Ein Wissenschaftszweig zwischen Selbstbehauptung und Anpassungszwang, Köln 1991. 19 Vgl. GfD-Archiv. 20 Vgl. Rundbrief 3 vom 23. Juli 1979 (GfD-Archiv). In einem Kommentar der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 20. Februar 1979, in dem noch einmal ausdrücklich auf die zwischen dem Bundesministerium und den Gründungsmitgliedern kontroversen Punkte Bezug genommen wurde, hieß es: „Die erste wissenschaftliche Tagung der im April 1978 gegründeten Gesellschaft für Deutschlandforschung hat den Nachweis erbracht, dass eine solche Gesellschaft, zu deren Grundsätzen die ,Offenhaltung der deutschen Frage4 und der wissenschaftliche Pluralismus zählen, im Spektrum der Deutschland-Forschung in der Bundesrepublik durchaus ihren Platz hat."

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Dass die Gesellschaft auch bis dahin weitgehend vernachlässigte Themen wie „Die Außenbeziehungen der DDR" (2. Wissenschaftliche Jahrestagung im März 1980) oder „Die dritte Welt und die beiden Staaten in Deutschland" (4. Wissenschaftliche Jahrestagung im März 1982) behandelte, wurde von einem wachsenden Teil von Wissenschaftlern anerkannt; bereits im Juli 1982 waren aus den 17 Gründungsmitgliedern 227 Mitglieder geworden. Als fordernde Mitglieder gehörten ihr inzwischen auch das Land Berlin, die KonradAdenauer-Stiftung sowie das Gesamteuropäische Studienwerk in Vlotho an. Binnen fünf Jahren hatte sie darüber hinaus 12 Tagungen durchgeführt, fünf Bände in ihrer eigenen Reihe publiziert und zwei in einer weiteren wissenschaftliche Reihe. Auch die Einrichtung wissenschaftlicher Fachgruppen dokumentierte, dass Interdisziplinarität für die Gesellschaft keine Rhetorik, sondern ein ernst gemeintes Anliegen darstellte. Anfang 1983 hatte sich eine Fachgruppe jeweils für Rechts-, Erziehungs-, Wirtschafts-, Politik- und Sozialwissenschaft konstituiert21. Fachübergreifend für die DDR-Forschung konnte somit der Verfassungsjurist mit dem Wirtschaftswissenschaftler, der Historiker mit dem Geographen, der Erziehungswissenschaftler mit dem Soziologen zwanglos zusammenkommen. Die rasch wachsende Bedeutung der Gesellschaft ließ sie zu einer festen Größe in der Deutschland- und DDR-Forschung werden, deren Stimme Gehör fand. Auch führte der Regierungswechsel von 1982 zu einer Behebung des bis dahin nicht ganz spannungsfreien Verhältnisses zwischen dem Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen und der GfD. Im Januar 1984 legte sie ein „Memorandum zur Intensivierung der DDR- und vergleichenden Deutschlandforschung" 22 vor, das auch dem damaligen Bundesminister für Innerdeutsche Beziehungen, Heinrich Windelen, überreicht wurde. In ihm wurde u.a. vorgeschlagen, die breite Institutionalisierung dieser Forschung an den Universitäten zur Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern nach Art. 91 des Grundgesetzes zu machen. Dies löste eine Grundsatzdebatte innerhalb der DDR- und Deutschlandforschung aus. Zu diesem Zeitpunkt begannen einzelne Bundesländer auch damit, Förderungsbeiträge zu gewähren bzw. als juristische Personen der Gesellschaft beizutreten, so dass sich ihre Finanzlage konsolidierte23. Überdies wurde mit der Gewährung eines Anschubbetrags durch die Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin im Jahre 1983 der materielle Grundstock für die Einrichtung einer Geschäftsstelle gelegt, die zehn Jahre lang vom Bundesministerium für innerdeut21 Vgl. die Broschüre: Gesellschaft für Deutschlandforschung, Aufgaben und Tätigkeit (Berlin) 2. Aufl. 1983 (GfD-Archiv). 22 Abgedruckt in: Deutschland Archiv 17 (1984), S. 314-322.

23

Vgl. Rundbrief 9 vom 15. Juli 1982 (GfD-Archiv).

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sehe Beziehungenfinanziert wurde. In diesen Jahren von 1984 bis 1991 hat sich Frau Hannelore Georgi als Leiterin der Geschäftsstelle sowie als Geschäftsführerin bis Ende 1993 durch ihre Tätigkeit um die Gesellschaft verdient gemacht.24 Als nach anfänglichen Schwierigkeiten der Gesellschaft, die Forschungsergebnisse ihrer Mitglieder und Gäste bei einem geeigneten Verlag zu publizieren 25, im Jahre 1984 mit dem Duncker & Humblot Verlag in Berlin ein renommierter Wissenschaftsverlag gewonnen werden konnte, mit dem die Zusammenarbeit bis heute andauert und inzwischen zur Publikation des 83. Bandes geführt hat, vermochte die Gesellschaft auch ihrer selbstgestellten Verpflichtung zu entsprechen, Forschungsergebnisse einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Wie es bereits in ihrem Memorandum von 1982 formuliert worden war, bestand eine weitere Zielsetzung der Gesellschaft darin, nicht nur die Forschung, sondern auch Lehre und Studium im Hinblick auf die besondere Situation des geteilten Deutschland nach 1945 zu intensivieren. Der Vorstand bemühte sich daher in den Folgejahren, allerdings mit wechselndem Erfolg, Zweigstellen an einigen Universitäten zu errichten, um auf diese Weise den direkten Kontakt zum akademischen Forschungs- und Lehrbetrieb herzustellen26. Ebenso suchte die Gesellschaft die Zusammenarbeit mit ausländischen Wissenschaftlern und Forschungsinstitutionen. Stellvertretend für viele Beispiele sei die regelmäßige Mitwirkung von Mitgliedern der Gesellschaft durch Vorträge und Kommentare bei der jährlichen internationalen Konferenz der German Studies Association (GSA) in den USA seit 1987 genannt27. Ein Jahr später fand die erste Auslandstagung der Gesellschaft im Londoner Goethe-Institut statt28. Zehn Jahre nach ihrer Gründung hatte sich überdies die Zahl ihrer Mitglieder auf 485 erhöht, davon 10 Prozent aus dem Ausland.

24 Vom 1. September 1988-31. März 1991 nahm Bodo Hayn die Stelle des Geschäftsführers der GfD wahr. 25 Dieser Aufgabe erwies sich der anfangs mit der Publikation der Jahres- und Fachtagungen betraute Verlag Edition Meyn in Asperg (Baden-Württemberg) aufgrund mangelnder Werbungstätigkeit nicht gewachsen. 26 So gelang es nur, an der Universität Bochum und an der Universität Regensburg Zweigstellen der GfD zu errichten. 27 Am 4. März 1987 war die GfD als „institutional member" der German Studies Association beigetreten (s. Rundbrief 19, GfD-Archiv).

28

Vgl. Rundbrief 20 (GfD-Archiv).

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4. Der Vereinigungs- und Integrationsprozess von 1989/90 als Forschungsaufgabe Wie nahe die Gesellschaft nicht nur durch ihre inhaltliche Arbeit, sondern auch in topographischer Hinsicht an der politischen Entwicklung in Deutschland war, sollte sich schließlich am 9. November 1989 in Berlin erweisen, als die Tagung der Fachgruppe Geschichtswissenschaft zum Thema „40 Jahre Deutschlandpolitik im internationalen Kräftefeld" im Reichstagsgebäude durch die Öffnung der Mauer unterbrochen wurde und erstmals in der Geschichte der GfD die 130 Teilnehmer zur Weiterführung der Konferenz ermuntert werden mussten29. Vor ihren Augen vollzog sich das epochale Ereignis des Mauerfalls, das rasch zum Symbol für den Zusammenbruch kommunistischer Herrschaft und das Ende des Kalten Krieges werden sollte. Es war im Übrigen nur selbstverständlich, dass ab 1990 auch Mitglieder aus der ehemaligen DDR in die Gesellschaft aufgenommen wurden, soweit sie seitens des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) unbelastet waren. Ihr sofort spürbar werdendes Engagement bereicherte die Arbeit der GfD nachhaltig. In der Tat stellte die Wiedervereinigung für die DDR-Forschung insgesamt eine Art Quantensprung dar. Die Paradoxie ihrer spezifischen Situation als Wissenschaft lag darin, dass sie ihren Forschungsgegenstand gleichsam verloren und zugleich wiedergewonnen hatte. Denn der jetzt erstmals mögliche, direkte Zugriff auf authentisches Quellen- und Datenmaterial beseitigte nicht nur mit einem Schlag die jahrzehntelang bestehenden Beeinträchtigungen der bisherigen DDR-Forschung, sondern forderte auch zu einer kritischen Überprüfung der bis dahin erbrachten Forschungsleistungen auf. Auch wenn die Mitglieder der Gesellschaft vom rasanten Kollaps des SED-Staates ebenso überrascht wurden, wie die politischen Eliten und die Menschen in beiden deutschen Staaten selbst, so brauchten sie sich doch nicht dem kritischen Vorwurf zu stellen, das in der DDR errichtete Herrschafts-, Wirtschafts- und Gesellschaftssystem unrealistisch beurteilt zu haben30. Dafür lieferte das annus mirabilis 1989 den unwiderruflichen Beweis. Die deutsche Spaltung hatte sich nicht nur als das erwiesen, was sie immer gewesen war, eine Anomalie, und der Kollaps des SED-Staates, einschließlich der Sowjetunion und der übrigen sozialistischen Staaten, war nichts anderes als eine Folge fortwährend fehlender demokratischer Legitimation wie eines ebenso permanent ineffizienten Wirtschaftssystems und einer pseudoegalisierten Gesellschaft. Nicht zuletzt durch ihre eigene wissenschaftliche Arbeit 29

Vgl. Rundbrief 24 (GfD-Archiv). Vgl. dazu auch Eckhard Jesse, Die politikwissenschaftliche DDR-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Peter Eisenmann/Gerhard Hirscher (Hrsg.), Dem Zeitgeist geopfert - Die DDR in Wissenschaft, Publizistik und politischer Bildung, Mainz 1992, S. 13-58. 30

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hatten die Mitglieder der Gesellschaft diese Erkenntnisse weit vor 1989 immer wieder auf den verschiedensten Forschungsfeldern nachgewiesen. Auch wenn ihre wissenschaftlichen Bemühungen darauf ausgerichtet waren, zur Wiederherstellung der deutschen Einheit beizutragen, so hielten die Mitglieder der Gesellschaft, nachdem dieses Ziel am 3. Oktober 1990 erreicht war, ihre Arbeit doch keineswegs für beendet31. Auf der Mitgliederversammlung von 1991 (28. Februar) wurde deshalb ein Zehn-Punkte-Programm für die künftigen Aufgaben der Gesellschaft, aber auch der weiteren Deutschland- und DDRForschung formuliert. An erster Stelle stand und steht dabei die „wissenschaftliche Begleitung und Förderung des Vereinigungs- und Integrationsprozesses in Deutschland"32. Die erste Jahrestagung der Gesellschaft im wiedervereinten Deutschland im gleichen Jahr (28. Februar/1. März 1991) mit dem Thema: „Auf dem Wege zur Realisierung der Einheit Deutschlands" unterstrich dieses ungebrochene Engagement mit einer Rekordbeteiligung von 250 Teilnehmern33. Als der langjährige Vorsitzende, Mitbegründer und eigentliche Motor der Gesellschaft, Professor Siegfried Mampel, im Jahre 1992 aus Alters- und Gesundheitsgründen zurücktrat und gleichzeitig Ehrenvorsitzender wurde, umfasste die Gesellschaft fast 700 Mitglieder 34.

5. Zwischen Jubiläen und Problemen Gleichwohl gab es bereits zuvor erste Anzeichen dafür, dass die Gesellschaft einer schwierigeren Zukunft entgegengehen würde. Je deutlicher die enormen finanziellen Folgekosten des deutsch-deutschen Vereinigungsprozesses ab Mitte der 1990er Jahre hervortraten, umso mehr zeichnete sich ab, dass die Förde-

31 Entsprechend wurde im Rundbrief 26 vom 2. Januar 1991 programmatisch festgestellt. „Am 3. Oktober 1990 wurde die staatliche Einheit Deutschlands wieder hergestellt. Am 2. Dezember wurde der Deutsche Bundestag erstmals von allen wahlberechtigten Deutschen gewählt. Die Gesellschaft für Deutschlandforschung, gegründet im Jahre 1978 nach längerer mühevoller Arbeit gegen viele Widerstände wegen ihres Bekenntnisses zur Offenheit der deutschen Frage, sieht sich in ihrer Arbeit bestätigt. Sie steht vor einem neuen Abschnitt ihrer Tätigkeit. Denn die staatliche Einheit Deutschlands bedeutet noch nicht die Einheit der Lebensverhältnisse aller Deutschen, noch nicht einen gesamtdeutschen Wirtschaftsverbund, noch nicht die Herstellung der Rechtseinheit, noch nicht die Beseitigung der mentalen Unterschiede. Die über vierzigjährige Trennung hat tiefe Spuren hinterlassen. Zu deren Beseitigung ist eine wissenschaftliche Unterstützung notwendig. Begleitende Forschung ist auch erforderlich im Blick auf die vielfaltigen Aufgaben beim Aufbau in den neuen Bundesländern"; ebd. GfD-Archiv. 32 Abdruck ebd., sowie in: Deutschland Archiv 24 (1991), S. 667. 33 Vgl. Rundbrief 27, GfD-Archiv.

Vgl. Rundbrief 0 GfD-Archiv.

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rung der GfD durch den Bund auslaufen würde. Nach der Auflösung des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen sah sich auch der Innenausschuss des Deutschen Bundestages ab 1994 nicht mehr in der Lage, die Aktivitäten der Gesellschaft finanziell weiter zu unterstützen. Der Vorstand mit seinem Vorsitzenden'Jens Hacker in den Jahren 1992-1994 war daher gezwungen, die seit zehn Jahren bestehende Geschäftsstelle aufzulösen, um laufende Sachkosten zu reduzieren; zum 1. März 1994 musste zudem die Stelle des Geschäftsführers aufgegeben werden. Auch wenn die Anerkennung der GfD als forderungswürdige Einrichtung durch die Bundeszentrale für politische Bildung im Jahre 1996 die Notwendigkeit ihrer Weiterexistenz unterstrich, blieb die finanzielle Lage der Gesellschaft angespannt. Zwar gelang es, den jetzt nur noch durch Mitgliederbeiträge gespeisten Finanzetat durch die z.T. schon seit Jahren bewährte Zusammenarbeit mit anderen Institutionen zu entlasten, wie z.B. der Akademie für politische Bildung in Tutzing oder der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung, aber ohne die energischen Bemühungen des gegenwärtigen Vorsitzenden, Prof. Dr. Karl Eckart, wäre die Weiterexistenz der GfD gefährdet gewesen35. Ungeachtet dessen stellte das zwanzigjährige Bestehen der Gesellschaft für Deutschlandforschung einen Höhepunkt ihrer Entwicklung dar. Die am 19./20. März 1998 durchgeführte Jubiläumsveranstaltung stand unter dem Thema „Das wiedervereinigte Deutschland - eine erweiterte oder eine neue Bundesrepublik?" und nahm den Versuch einer Standortbestimmung des „neuen Deutschland" nach 1989/90 vor 36. Der damalige Vorsitzende der CDU/CSUBundestagsfraktion, Wolfgang Schäuble, hielt den Festvortrag zur Lage „Deutschlands vor der Jahrhundertwende", und die Stadt Berlin gab einen Empfang durch den früheren Regierenden Bürgermeister von Berlin, Eberhard Diepgen. In wissenschaftlicher Hinsicht ragte insbesondere die Publikation einer 750 Seiten starken Festschrift heraus, an der unter dem übergreifenden Thema der „Wiedervereinigung Deutschlands" insgesamt 33 Autoren mitwirkten. Im Jubiläumsband wurden Schwerpunkte der DDR- und Deutschlandforschung seit dem Epochenjahr 1989/90 unter den Aspekten „innere Entwicklung der DDR, Genese und innen- und außenpolitische Fragen der Wiedervereinigung, der Deutsche Bundestag und die Einheit sowie Transformationsprozesse"

35 Zu dieser Kooperation ist seit dem Jahr 2001 auch das Institut für Deutschlandstudien der Universität Nijmegen (Niederlande) getreten. 36 Vgl. Karl Eckart/Eckhard Jesse (Hrsg.), Das wiedervereinigte Deutschland - eine erweiterte oder eine neue Bundesrepublik? (= Schriftreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung, Bd. 71), Berlin 1999.

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behandelt37. Zu dieser Thematik gehörte auch die im Folgejahr durchgeführte wissenschaftliche Jahrestagung der GfD: „Die demokratische Revolution 1989/90", auf der erstmals der Prozess der „Wende" auch auf regionaler und kommunaler Ebene vergleichend untersucht wurde38. Unter dem weitgespannten Thema „Deutschland - Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft" beging die Gesellschaft schließlich im Jahre 2003 ihr fünfundzwanzigjähriges Bestehen im Berliner (Roten) Rathaus, wozu der Regierende Bürgermeister, Klaus Wowereit, ein Grußwort sprach. Einen Schwerpunkt dieser Jubiläumstagung bildete die Frage nach der inneren Einheit Deutschlands nach knapp 13 Jahren Wiedervereinigung, die in einer umfassenden Bestandsaufiiame u.a. von Günter Nooke, Richard Schröder und Konrad Weiß debattiert wurde. Die Leistungen und Fehlleistungen der Politik in diesem Zeitraum diskutierten Cornelia Pieper (FDP) und Wolfgang Tiefensee (SPD), während in einer abschließenden Podiumsdiskussion, u.a. von Christoph Kleßmann, Ulrich Mählert, Ehrhart Neubert, Hermann Wentker und Manfred Wilke, Perspektiven der weiteren Deutschlandforschung umrissen wurden. Den Abschlussvortrag zu „Deutschlands Rolle in der Welt" hielt Arnulf Baring. Eine Reihe von Vorträgen findet sich in gedruckter Form in diesem Band.

6. Die Zukunft der Gesellschaft Trotz aller nun schon seit einem Vierteljahrhundert erbrachten Leistungen auf dem Gebiet der Deutschlandforschung gibt die weitere Zukunft der Gesellschaft Anlass zur Sorge. Es gilt nicht nur, das Finanzproblem von Jahr zu Jahr zu bewältigen, auch die schwindende Mitgliedschaft droht den wissenschaftlichen Aktionsradius zu reduzieren, den die GfD bisher noch immer an den Tag gelegt hat. Der allmähliche Rückgang der Mitgliederzahlen (Ende 2004: 224 Mitglieder) ist indes nicht Folge mangelnder Attraktivität der von ihr durchgeführten Veranstaltungen, sondern hat seine Ursache vor allem darin, dass die Mehrzahl der Mitglieder der Gesellschaft, die bis in die Mitte der 1990er Jahre in den verschiedensten Institutionen tätig war, sich inzwischen im Pensions- und Rentenalter befindet und sich ihrem Lebensstatus entsprechend, zunehmend zurückzieht. Es kann aber auch nicht verwundern, dass die jüngere Generation einem Beitritt zur Gesellschaft eher zurückhaltend gegenübersteht, 37 Herausgegeben wurde das Werk von den früheren und dem jetzigen Vorsitzenden Karl Eckart, Jens Hacker und Siegfried Mampel (= Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung, Bd. 56), Berlin 1998. 38 Vgl. Günther Heydemann/Gunther Mai/Werner Müller (Hrsg.), Revolution und Transformation in der DDR 1989/90 (= Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung, Bd. 73), Berlin 1999.

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hängt dies doch eng mit der gegenwärtig fast aussichtslos gewordenen Stellensituation für den wissenschaftlichen Nachwuchs an den akademischen Einrichtungen unseres Landes zusammen. Wo inzwischen, wie z.B. im Fall der Zeitgeschichte, 13 habilitierte Bewerber auf eine Professorenstelle kommen, bleibt kaum Zeit und Geld mehr für die Mitgliedschaft in einer wissenschaftlichen Gesellschaft, obwohl gerade sie ein Forum bietet, das besonders jüngeren Forschern immer die Gelegenheit gab und gibt, sich der Öffentlichkeit zu präsentieren und neue Forschungsergebnisse vorzustellen39. Denn die Aufgaben, denen sich unsere Gesellschaft zu stellen hat, bleiben: Es geht um die weitere „Aufarbeitung" der Vergangenheit des geteilten Deutschland, um die Analyse der Probleme des gegenwärtigen Integrationsprozesses und um die Auseinandersetzung mit der gewachsenen internationalen Rolle Deutschlands in Europa und der Welt40. In ihrer weiteren Tätigkeit werden sich die Mitglieder der Gesellschaft indes auch weiterhin von einer grundsätzlichen Überzeugung leiten lassen: Ebenso wie es in einer funktionierenden Demokratie keine Alternative zum politischen Pluralismus gibt und keine Alternative zum Medienpluralismus, kann es auch keine Alternative zu einem Wissenschaftspluralismus geben. Es gibt keinen christdemokratischen, sozialdemokratischen, liberaldemokratischen, grünen oder gar postkommunistischen wissenschaftlichen Königsweg zur Erforschung von Herrschafts-, Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen in Geschichte und Gegenwart unserer Welt, und das gilt nicht zuletzt für die Entwicklung Deutschlands nach 1945 bis hinein in unsere Gegenwart. Nur durch den pluralistischen Meinungsstreit ist in der Forschung Fortschritt zu erzielen. Ebenso muss Wissenschaft immer Unabhängigkeit und Distanz zum untersuchten Forschungsobjekt aufbringen; das ist kein deklamatorischer Akt, sondern erfordert eine permanente intellektuelle Anstrengung, bevor man sich überhaupt mit dem zu untersuchenden Gegenstand auseinandersetzt und das gilt ganz besonders für das schwierige Feld der Deutschlandforschung. Nur auf diese Weise, durch den permanenten Versuch, größtmögliche politische und wissenschaftliche Unabhängigkeit zu wahren, vermag sich Wissenschaft dem Axiom der Objektivität zu nähern, auch wenn dies realiter immer unerreichbar bleibt.

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Inzwischen hat die GfD fast 90, zumeist themenspezifische Sammelbände herausgebracht, wozu weitere Publikationen in anderen wissenschaftlichen Reihen kommen, so dass insgesamt ca. 100 wissenschaftliche Monographien insgesamt veröffentlicht wurden. 40 Vgl. Informationsblatt Gesellschaft für Deutschlandforschung e.V., Aufgaben und Tätigkeiten, 11. Aufl. 2002, und die dort aufgrund eines Mitgliederbeschlusses vom 28. Februar 1991 festgelegten Aufgabenschwerpunkte seit der Wiedervereinigung.

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In ihrem praktischen Wirken hat die Gesellschaft für Deutschlandforschung seit nunmehr einem Vierteljahrhundert versucht, durch wissenschaftlichen Pluralismus, durch Interdisziplinärst, durch fairen Meinungsstreit und nicht zuletzt durch ihr Engagement für Deutschland dieser Zielsetzung gerecht zu werden - dieses Verdienst ist nicht gering zu schätzen.

Herausgeber und Autoren Baring, Arnulf: Dr., em. Prof. an der Freien Universität Berlin im Fach Geschichtswissenschaft. Fricke, Karl Wilhelm: Dr. h.c., leitender Redakteur des Deutschlandfunks im Ruhestand. Gallus , Alexander: Dr., Wissenschaftlicher Assistent an der Technischen Universität Chemnitz im Fach Politikwissenschaft. Gerlach , Irene: Dr., Prof. an der Universität Münster im Fach Politikwissenschaft. Göll, Jörn-Michael: Promotionsstipendiat an der Universität Leipzig im Fach Zeitgeschichte. Hartleb, Florian: Dr., Lehrbeauftragter an der Technischen Universität Chemnitz im Fach Politikwissenschaft. Heydemann, Günther: Dr., Prof. an der Universität Leipzig im Fach Neuere und Zeitgeschichte. Jesse, Eckhard: Dr., Prof. an der Technischen Universität Chemnitz im Fach Politikwissenschaft. Kotzing, Andreas: Volontär bei der Bundeszentrale für politische Bildung in Bonn, Redaktion „Aus Politik und Zeitgeschichte". März, Peter: Dr., Leiter der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit. Müller, Werner: Dr., Prof. an der Universität Rostock im Fach Geschichtswissenschaft. Neubert, Ehrhart: Dr., Fachbereichsleiter bei der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Schaarschmidt, Thomas: Dr., Privatdozent an der Universität Leipzig im Fach Neuere und Zeitgeschichte, Leiter der Koordinationsstelle des Zeithistorischen Forschungsund Gedenkstättenverbundes Berlin-Brandenburg. Urban, Johannes: Promotionsstipendiat an der Technischen Universität Chemnitz im Fach Politikwissenschaft.