10 Minuten Soziologie: Verantwortung 9783839451120

The term "responsibility" is on everyone's lips: the consumers' responsibility for sustainability, t

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10 Minuten Soziologie: Verantwortung
 9783839451120

Table of contents :
Inhalt
10 Minuten Soziologie: Verantwortung
Moral
Sozialethik
Historische Perspektive
Systemtheorie
Macht
Strukturationstheorie: Die Rekrutierung von Geflüchteten
Sozialkonstruktivistische Außenpolitikforschung
Systemtheorie
Materialität
Körpersoziologie
Wirtschaftsethik
Postkolonialismus
Digitalisierung
Sozialkonstruktivismus
Science and Technology Studies: Die Datafizierung von Alltagspraktiken
Autorinnen und Autoren

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Anna Henkel (Hg.) 10 Minuten Soziologie: Verantwortung

10 Minuten Soziologie  | Band 5

Editorial Das Programm der Soziologie ist: das Soziale zu verstehen und zu erklären. Dabei zeichnet sie sich durch eine Vielfalt theoretischer Ansätze, empirischer Gegenstände und konzeptioneller Zielsetzungen aus. Die Reihe »10 Minuten Soziologie« sieht diese Heterogenität als Stärke. So wie es für die Betrachtung der modernen Gesellschaft keinen »Archimedischen Punkt« (Luhmann) gibt – also keine Beobachtungsperspektive, von der aus das Soziale ›von außen‹ oder ›objektiv‹ beobachtbar wäre –, trägt auch die Disziplin diesem Umstand der modernen Gesellschaft als einer Welt ohne letzte Wahrheit Rechnung. Sie kehrt sich weder von der Welt ab, noch proklamiert sie in einem kontrafaktischen Duktus absolute Wahrheiten. Stattdessen bietet die Soziologie Beobachtungsmöglichkeiten an, die es erlauben: zu erklären und zu verstehen. Der soziologische Blick sensibilisiert dabei für ein Auch-anders-möglich-Sein sozialer Tatsachen. Die Beiträge eines Bandes der Reihe »10 Minuten Soziologie« nähern sich dem jeweiligen Gegenstand begrifflich aus unterschiedlichen Perspektiven und wenden das gewonnene Verständnis jeweils auf einen spezifischen Fall an. Im Mittelpunkt steht dabei die analytische Denkbewegung, also: ein theoretisches Konzept auf einen empirischen Gegenstand zu beziehen und diesen damit neu zu verstehen und zu erklären. Die Reihe wird herausgegeben von Anna Henkel.

Anna Henkel (Dr. phil.), geb. 1977, ist Inhaberin des Lehrstuhls für Soziologie mit Schwerpunkt Techniksoziologie und nachhaltige Entwicklung an der Universität Passau. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der soziologischen Theorie sowie der Wissens-, Materialitäts- und Nachhaltigkeitsforschung.

Anna Henkel (Hg.)

10 Minuten Soziologie: Verantwortung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat: Luisa Bott, Bielefeld Satz: Francisco Bragança, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5112-6 PDF-ISBN 978-3-8394-5112-0 https://doi.org/10.14361/9783839451120 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt 10 Minuten Soziologie: Verantwortung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Anna Henkel

Moral Sozialethik Transformationen des Verantwortungsbegriffs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Peter Fonk

Historische Perspektive Verantwortung zwischen Wissenschaft und Politik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Malte Rehbein

Systemtheorie Moral als Verantwortungsdiebstahl.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Thorsten Benkel

Macht Strukturationstheorie: Die Rekrutierung von Geflüchteten Ausdruck von unternehmerischer Verantwortung oder ein Zeichen von gesellschaftlichen Machtverschiebungen?. . . . . . . . . 61 Martina Maletzky

Sozialkonstruktivistische Außenpolitikforschung Welche Verantwortung? Die deutsche Außenpolitik und die Waffenlieferungen an die Peschmerga. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Bernhard Stahl

Systemtheorie Selbstmedikation – die Verantwortung des mündigen Patienten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Anna Henkel

Materialität Körpersoziologie Wem gehört mein Körper? Der Leib zwischen Selbst- und Fremdbestimmung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Matthias Meitzler

Wirtschaftsethik Globale Mitverantwortung für ungerechte Folgen des Marktsystems am Beispiel der Umweltverschmutzung der Lagune Mar Menor (Spanien).. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Annekatrin Meißner

Postkolonialismus Klimawandel und Verantwortung – Anthropozän, Kapitalozän oder Baconozän?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Diego Compagna

Digitalisierung Sozialkonstruktivismus Verantwortung in der Konstruktion von sozialen Robotern. . . . . . . . 167 Johannes Frederik Burow

Science and Technology Studies: Die Datafizierung von Alltagspraktiken Datenaktivismus als neue Verantwortung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Tanja Schneider, Klaus Fuchs und Simon Mayer

Autorinnen und Autoren.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197

10 Minuten Soziologie: Verantwortung Einleitung Anna Henkel Verantwortung ist ein heroischer Begriff – mit Aufklärung, Humanismus, Demokratie und Europa verbunden. »Sapere aude – habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen« (Kant 1994: S. 5), dieser von Kant formulierte Wahlspruch der Aufklärung, bezeichnet bis heute den Kern dessen, was mit dem Verantwortungsbegriff einverlangt wird: Der aufgeklärte, mündige Bürger handelt aufgrund wohl überlegter, rationaler Gründe, anstatt sich durch überkommene Gebräuche, sozialen Druck, auch eigene Faulheit oder Vorteilnahme gängeln zu lassen. Durch diese vorausschauende, kenntnisreiche und eigenständige Haltung ist es ihm oder ihr möglich, für sich und das Gemeinwesen vernünftig zu handeln und damit eben Verantwortung zu übernehmen. Kant selbst verwendet den Begriff der Verantwortung nicht oder jedenfalls nicht an theoriebedeutsamer Stelle. Erst im 20.  Jahrhundert wird der Begriff alltagsgebräuchlich (Bayertz 1995); weit rezipiert wird schließlich die Schrift »Das Prinzip Verantwortung« von Hans Jonas – eine Schrift, die angesichts offensichtlicher ökologischer Gefährdung den Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation unternimmt (Jonas 1984). Der Begriff der Verantwortung wird so in einem historischen Kontext prominent, in dem die Möglichkeit, durch individuellen Gebrauch des eigenen Verstandes für sich und das Gemeinwesen vernünftig zu handeln, massiv auf Grenzen stößt. Die Umstellung eigentlich aller gesellschaftlichen Bereiche von einem personenzentrierten Handwerk bzw. von ebenso per9

Anna Henkel

sonenzentrierten Professionen auf formale Organisationen, globale Lieferketten sowie eine starke Fundierung in wissenschaftlichem Wissen stellen die Voraussetzungen infrage, unter denen ein Akteur Verantwortung für das kausale Verursachen einer Tatsache plausibel übernehmen kann. Bis auf vergleichsweise wenige Entscheidungen im absoluten Nahbereich sind die Verhältnisse so komplex geworden, dass die Zurechnung von Verantwortung im Falle eines Schadens immer offensichtlicher eine kontingente Zurechnung ist und nicht die Implikation einer Verursachung (Henkel 2013/2014; Henkel 2020). Armin Grunwald spricht in diesem Zusammenhang von funktionaler und attributiver Überforderung: funktional, da die vielfältigen Implikationen einer Entscheidung oft nicht vollständig bekannt sind (teils nicht einmal den Expert*innen), attributiv, da Akteure in soziale und kulturelle Zusammenhänge eingebettet sind, die ihnen oftmals eine Wahl kaum lassen (Grunwald 2018). Ist es angesichts dessen an der Zeit, den Verantwortungsbegriff und die Forderung nach individueller Verantwortung ad acta zu legen? Weniger denn je. Es mag überfordern, doch besteht keine bessere Alternative zum Einfordern und strukturellen Ermöglichen individueller Verantwortung im Sinne eines Handelns aufgrund wohl überlegter Gründe. Andere bekannte gesellschaftliche Organisationsformen würden das Problem funktionaler und attributiver Überforderung nicht beheben, ist diese Überforderung doch Implikation komplexer und dynamischer Wirkungszusammenhänge. Die zentralen Institutionen der modernen Gesellschaft aber setzen individuelle Verantwortung normativ voraus – und sei es im Sinne einer Realfiktion. Marktwirtschaft ist nur möglich, wenn angenommen wird, dass Individuen rationale Entscheidungen treffen; Demokratie ist nur möglich, wenn angenommen wird, dass Individuen aufgrund wohl überlegter, rationaler Gründe handeln und daher wahlfähig und wählbar sind; Wissenschaft kann nur frei sein, 10

Einleitung

wenn Individuen den Mut haben, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen und dabei einem wissenschaftlichen Ethos zu folgen; und auch Bildung setzt voraus, dass Individuen bildungsfähig sind und diese Bildung einsetzen können. An individueller Verantwortung im Sinne eines Handelns aufgrund wohl überlegter Gründe kommt die moderne Gesellschaft also nicht vorbei. Woraus aber doch nicht folgt, dass es ausreichen würde, auch nicht aus Sicht der Politik betrachtet, Verantwortung schlicht einzufordern und vom mündigen Bürger zu verlangen, durch entsprechend verantwortungsvolles Handeln den Sozialstaat zu entlasten und das Klima zu retten – es müssen strukturelle Bedingungen gegeben sein, unter denen Handeln aufgrund wohl überlegter Gründe möglich und wirkungsvoll ist. Wenn über einen Ruf nach Konsumentenverantwortung die Verantwortung für die Gestaltung rechtlicher Rahmenbedingungen oder die Verantwortung von Unternehmen in Vergessenheit gerät, wandelt sich Verantwortung von einem heroischen zu einem zynischen Begriff. Auch dies untergräbt die Errungenschaften der modernen Gesellschaft. Die Herausforderung besteht darin, zu Verantwortung zu ermächtigen sowie individuelles Handeln im Zusammenspiel institutioneller und struktureller Aspekte zu sehen. Der vorliegende Band lädt zum Nachdenken über Verantwortung ein. Die Beiträge diskutieren aus verschiedenen Perspektiven Entstehung, Herausforderungen und Transformationen von Verantwortung anhand konkreter Fälle. Der soziologische Blick zeigt so die Vielfalt auf die wiederkehrenden Herausforderungen um Verantwortung im Kontext von Moral, Macht, Materialität und Digitalisierung: Die ersten drei Beiträge unternehmen jeweils eine Perspektivierung von Verantwortung. Peter Fonk zeichnet in seinem Beitrag »Transformationen des Verantwortungsbegriffs« aus Perspektive der Sozialethik die Entwicklung vom klassischen 11

Anna Henkel

zum modernen Verantwortungsbegriff nach und bringt zugleich die ethischen Herausforderungen von Verantwortung auf den Punkt. Einerseits bringen Systemverflechtungen und Institutionalisierung mit sich, dass Entscheidungen zunehmend von Institutionen, Korporationen und Unternehmen getroffen werden und individuelle Entscheidungsmöglichkeiten zurücktreten. Andererseits birgt der Verweis auf strukturell bedingte Unrechtszustände die Möglichkeit, als Entschuldigung für ein vorschnelles Ablehnen persönlicher Verantwortung zu dienen. Am Fall des Untergangs der Kanalfähre Herald of Free Enterprise macht Fonk die Unterschiede verschiedener Verantwortungsbegriffe sowie die aktuelle Relevanz ethischer Nachfragen deutlich, wobei er Bezüge zur Religion herstellt. Religion und Wissenschaft werden mitunter als alternative Zugriffe auf Verantwortung gegenübergestellt, verweisen sie doch auf verschiedene Wissensformen und begründen individuelle Verantwortung unterschiedlich. Der Beitrag »Verantwortung zwischen Wissenschaft und Politik« von Malte Rehbein ist daher ebenfalls geeignet, Verantwortung zu kontextualisieren. Aus einer historischen Perspektive geht Rehbein der Frage nach, welche Verantwortung Wissenschaft in der modernen Gesellschaft für die Verwendung des von ihr hervorgebrachten Wissens hat. Die individuelle Verantwortung von Wissenschaftler*innen aufgrund ihrer spezifischen Rolle und deren Möglichkeiten, auf Basis eigener moralischer Perspektiven individuell und kollektiv Einfluss zu nehmen, werden vor dem Hintergrund historischer Fälle erörtert. Die hier vorgestellte wissenschaftsethische Perspektive wird auf aktuelle Konstellationen bezogen und die Erforderlichkeit einer komplexen integralen Betrachtung begründet. Mit dem Beitrag »Moral als Verantwortungsdiebstahl« bietet Thorsten Benkel schließlich aus Perspektive der Systemtheorie eine soziologische Problematisierung des Verhältnisses von Moral 12

Einleitung

und Verantwortung an. Angesichts der Pluralität von Lebensweisen und Einstellungen können moralische Ansprüche in der modernen Gesellschaft nicht mehr als verbindliche Klammern des gesellschaftlichen Zusammenlebens fungieren. Wenn Moral dennoch als gesellschaftliche Sichtweise in Anschlag gebracht wird, so bringt dies einen subtilen Verantwortungsdiebstahl mit sich. Am Beispiel des Drogenkonsums wird verdeutlicht, wie mit moralischen Vorwürfen Verantwortung dem Subjekt erst entzogen und dann gegen es verwendet wird. Das Verhältnis von Verantwortung und Moral wird damit für den Kontext der modernen Gesellschaft reflektiert und problematisiert. Die folgenden drei Beiträge nehmen im weitesten Sinne politisch-gesellschaftliche Dimensionen von Verantwortung in den Blick. In ihrem Beitrag »Die Rekrutierung von Geflüchteten. Ausdruck von unternehmerischer Verantwortung oder ein Zeichen von gesellschaftlichen Machtverschiebungen?« untersucht Martina Maletzky den gesellschaftspolitischen Hintergrund der unternehmerischen Verantwortung, die in der Rekrutierung von Geflüchteten für Erwerbskontexte gesehen werden kann. Aus der Perspektive der Strukturationstheorie zeigt Maletzky auf Basis einer qualitativen Studie, dass gesellschaftliche Machtverschiebungen eine wesentliche Rolle bei der Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten spielen. Akteursverhalten und gesellschaftliche Strukturen stehen in einem rekursiven Verhältnis, das zum Verständnis der Rolle und des Gebrauchs von Verantwortung berücksichtigt werden sollte. Der ›Gebrauch der Verantwortung‹ in der politisch-gesellschaftlichen Praxis ist auch Gegenstand des Beitrags »Welche Verantwortung? Die deutsche Außenpolitik und die Waffenlieferungen an die Peschmerga« von Bernhard Stahl. Am Fall einer empirischen Untersuchung der Debatte um Waffenlieferungen an die kurdischen Peschmerga aus Perspektive der Sozialkonstruktivistischen Außenpolitikforschung zeigt Stahl, dass ein Grund 13

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für die breite Verwendung und Anschlussfähigkeit des Begriffs Verantwortung in dessen Vielschichtigkeit liegt. Diese unterschiedlichen Aufladungen bringen jedoch mit sich, dass der Begriff argumentativ sowohl für als auch gegen das Ergreifen bestimmter Handlungen – wie hier: Waffenlieferungen – verwendet werden kann. Inhaltliche Beliebigkeit und legitimatorische Inkonsistenz sind mögliche Implikationen, wenn Verantwortung diskursiv gebraucht wird. Ebenfalls auf Unschärfen in der Begriffsverwendung im gesellschaftlich politischen Kontext weist Anna Henkel hin, wenn sie in ihrem Beitrag »Selbstmedikation. Die Verantwortung des mündigen Patienten« aus Perspektive der Systemtheorie fragt, wofür eigentlich genau Verantwortung übernommen wird, wenn, wie im Fall der Selbstmedikation, an die Verantwortung des mündigen Patienten appelliert wird – und was die Voraussetzungen einer solchen Verantwortungsübernahme sind. Angesichts der Heterogenität des empirischen Feldes erfolgt zunächst eine soziologische Bestimmung von Pharmaka. Dies erlaubt, vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung die Besonderheiten des originalverpackten wirkstoffbasierten Fertigarzneimittels hinsichtlich der Möglichkeit von Eigenverantwortung in der Selbstmedikation herauszustellen. Es wird deutlich, wie voraussetzungsvoll und verwoben mit gesellschaftlichen Institutionen persönliche Verantwortung in diesem Bereich ist. Verantwortung erscheint zunächst als genuin sozial, beinhaltet doch bereits der Begriff das ›Antworten‹ und damit das Dialogische mit einem sozialen Gegenüber. Dennoch ist Verantwortung vielfach auf materiale Gegenstände bezogen, wie insbesondere im eingangs zitierten Nachhaltigkeitsdiskurs deutlich wird. Die folgenden drei Beiträge nehmen solche Bezüge auf.

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Einleitung

Im Beitrag »Wem gehört mein Körper? Der Leib zwischen Selbst- und Fremdbestimmung« untersucht Matthias Meitzler aus Perspektive der Körpersoziologie, wie im gesellschaftlichen Wandel gleichzeitig eine Zunahme von Körperautonomie und eine Abnahme von institutionell auferlegten Körperzwängen beobachtbar ist. Mit Fokus insbesondere auf das Lebensende zeigt Meitzler, in welchem Maße Verantwortung für den eigenen Körper sowie dieser Körper selbst gesellschaftlich geprägt sind und Körperautonomie auch in der modernen Gesellschaft ambivalent bleibt. Nach diesem Fokus auf Verantwortung mit Bezug auf die Materialität des Körpers steht der Bezug auf die Materialität der Umwelt im Zentrum des Beitrags »Globale Mitverantwortung für ungerechte Folgen des Marktsystems am Beispiel der Umweltverschmutzung der Lagune Mar Menor (Spanien)« von Annekatrin Meißner. Aus Perspektive der Wirtschaftethik wird deutlich, dass ein reines Verursacherverständnis und darauf basierendes Haftbarkeitsmodell angesichts globaler Wirtschaftsprozesse eine Weiterverschiebung von Verantwortung für Umweltschäden mit sich bringt. Dem gegenüber ist das Konzept globaler Mitverantwortung geeignet, Verantwortungsfragen umfassend zu analysieren und solchen Defiziten zu begegnen. Am Fall der Lagune Mar Menor wird gezeigt, wie globale Mitverantwortung im Kontext globaler Machtstrukturen Handlungsoptionen eröffnet. Ebenfalls auf die Materialität der Umwelt bezogen ist der Beitrag »Klimawandel und Verantwortung – Anthropozän, Kapitalozän oder Baconozän?« von Diego Compagna. Aus der Perspektive des Postkolonialismus wird die These aufgegriffen, dass Verantwortung für globalen Klimawandel danach differenziert werden sollte, wie stark unterschiedliche Gruppen für diesen Klimawandel verantwortlich sind. An zwei kurzen Fallbeispielen wird gezeigt, dass die undifferenzierte Rede von ›Verantwor15

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tung für Nachhaltigkeit‹ eine manipulative und damit unzulässige Verantwortungsdiffusion mit sich bringt. Hierarchische Ungleichgewichte auf der sozialen Ebene erschweren es, das herrschaftsförmige Verhältnis zwischen Mensch und Natur als Wurzel von Umweltzerstörung zu überwinden. Die abschließenden Beiträge nehmen Fragen im Zusammenhang von Verantwortung und Digitalisierung in den Blick. Johannes Frederik Burow untersucht in seinem Beitrag »Verantwortung in der Konstruktion von sozialen Robotern« aus Perspektive des Sozialkonstruktivismus, welche Verantwortung die Konstruktion sozialer Roboter und für wen sie diese hervorbringt. Als soziale Roboter werden solche Roboter verstanden, die zur Interaktion mit Menschen konzipiert sind, wobei Burow sog. Smart Toys, also interaktive Kinderspielzeuge als Fall untersucht. Die Analyse zeigt die Verantwortungsprobleme auf, die sich ergeben, wenn Kinder interaktive Spielzeugroboter als soziale Andere wahrnehmen. Da Programmierende, Unternehmen, Wissenschaft, Eltern und Institutionen an der Konstruktion der so von Robotern vermittelten Wirklichkeitskonzeptionen beteiligt sind, ergibt sich ein komplexes Verantwortungsgeflecht, das gerade nicht ›digital‹ ist, sondern sehr von menschlichen Akteuren bestimmt wird. Während Burow die Potentiale digital vermittelter Fremdbestimmung aufzeigt, untersuchen Tanja Schneider, Klaus Fuchs und Simon Mayer aus der Perspektive der Science and Technology Studies, inwieweit bestimmte Formen der Einrichtung der Digitalen Konsument*innen zu neuer Verantwortung ermächtigen können. In ihrem Beitrag »Die Datafizierung von Alltagspraktiken. Datenaktivismus als neue Verantwortung?« fokussieren die Autor*innen auf das Phänomen der Datafizierung, also der Erhebung von Daten mittels Kundenkarten, beim Onlineshopping oder dem kassenlosen Einkaufen per App. Während mögliche negative Implikationen solcher Sammlung und Analyse von 16

Einleitung

Kunden- und Verhaltensdaten bereits breit diskutiert wurden, untersucht der Beitrag die aktive Verschiebung von Verantwortlichkeiten. Das hier als Fall näher vorgestellte Projekt FoodCoach zeigt auf, inwieweit Datenaktivismus geeignet ist, zu den bekannten Negativszenarien alternative Imaginationen davon zu entwickeln, was mit Daten gemacht werden kann – etwa Handlungsmöglichkeiten von Konsument*innen zu erweitern statt einzuschränken. Der Band eröffnet mit dem vorgelegten Spektrum an Gegenständen und Perspektiven ein Verständnis für die Voraussetzungen von Verantwortung in der modernen Gesellschaft mit ihren Systemverflechtungen, differenzierten Wissensformen und pluralen Lebensweisen.

Literatur Bayertz, Kurt (1995): »Eine kurze Geschichte der Herkunft der Verantwortung«. In: Ders. (Hg.).Verantwortung. Prinzip oder Problem? Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 3-71. Grunwald, Armin (2018): »Warum Konsumentenverantwortung allein die Umwelt nicht rettet. Ein Beispiel fehllaufender Responsibilisierung«. In: Anna Henkel/Nico Luedtke/Nikolaus Buschmann/Lars Hochmann (Hg.). Reflexive Responsibilisierung. Bielefeld: transcript, S. 423-438. Henkel, Anna (2013/2014): »Gesellschaftstheorie der Verantwortung. Funktion und Folgen eines Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität«. In: Soziale Systeme, Sonderheft »Precarious Responsibility« 19, 2, S. 471-501. Henkel, Anna (2020): »Genealogie – Verantwortung für Nachhaltigkeit«. In: Thomas Barth/Anna Henkel (Hg.). 10 Minuten Soziologie: Nachhaltigkeit. Bielefeld: transcript, S. 19-32.

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Anna Henkel Jonas, Hans (1984): Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Kant, Immanuel ([1783] 1994): Was ist Aufklärung? Aufsätze zur Geschichte und Philosophie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

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Sozialethik Transformationen des Verantwortungsbegriffs Peter Fonk Die Konsequenzen der jüngeren technischen und wissenschaftlichen Entwicklung haben deutlich gemacht, dass die moderne Sozialethik unabweisbar auf einen neuen normativ-ethischen Reglungsbedarf angewiesen ist. Die klassischen Kategorien von individuell zurechenbarer Verantwortung stoßen an ihre Grenzen. Eine aprioristisch orientierte traditionelle Ethik, die zwar nach wie vor ihr Daseinsrecht hat, erweist sich für die Anwendung auf Problemstellungen innerhalb einer komplexen, hochtechnisierten und globalisierten Wirtschaft als erfahrungswissenschaftlich nur unzureichend informiert. Zwischen den abstrakten und personal orientierten Normen traditioneller ethischer Theorien und den neuen, konkreten Fragestellungen, die in ein komplexes Geflecht empirischer Rahmenbedingungen eingebettet sind, klafft nicht selten ein Abgrund. Die Einsicht in diese Zusammenhänge hat sich nicht nur in den Gesellschaftswissenschaften durchgesetzt, sondern seit Langem Einzug in die theologischen Diskurse genommen. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel dafür geben die Enzyklika »Sollicitudo rei socialis« und das schon vor mehr als 30 Jahren zu Recht viel beachtete Synodenpapier »Unsere Hoffnung« (Bertsch et al. 1976). Die Enzyklika »Sollicitudo rei socialis« spricht in Hinblick auf solche persönlich nicht mehr zurechenbaren Verantwortlichkeiten erstmals von »Strukturen der Sünde« (Johannes Paul II. 1987: Nr. 36/S. 43f.), die zu überwinden Aufgabe des sozialen Handelns der Kirche ist. Tatsächlich zeichnet sich in der Zwischenzeit, die seit Erscheinen der Enzyklika vergangen 19

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ist, immer deutlicher ab, wie umfassende Systemverflechtung und Institutionalisierung immer mehr Gewicht gewinnen und dazu führen, dass Entscheidungen zunehmend von Institutionen, Korporationen und Unternehmen gefällt werden und der Einzelne mit seinen Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten stark zurückzutreten scheint. Im Gegenzug macht allerdings das Synodenpapier »Unsere Hoffnung« auf die Gefahr des moralischen Eskapismus aufmerksam; denn der Verweis auf strukturell bedingte Unrechtszustände birgt die Gefahr, dass insbesondere diejenigen, die Führungs- und Leitungsverantwortung haben und damit die Möglichkeit, auf die Veränderung von Unrechtsverhältnissen hinzuwirken, sich allzu rasch aus ihrer persönlichen Verantwortung davonstehlen. Der Hiatus zwischen klassischem und modernem Verantwortungsbergriff, der hier bereits anklingt, durchzieht wie ein roter Faden die aktuelle ethische Diskussion innerhalb der Theologie. Dass es sich bei diesen Überlegungen keineswegs um eine christliche Sondermoral handelt, machen jene Wirtschaftsethiker*innen deutlich, die inzwischen schon längst keine Einzelkämpfer mehr sind. Sie weigern sich, die Berufung auf Sachzwänge, d.h. den zunehmend härter werdenden Unterbietungswettbewerb um Niedrigpreise und einen gnadenlosen Verdrängungswettbewerb, als Alibi für ethisch unverantwortliches Gewinnstreben zu akzeptieren, in denen die Würde des Menschen mit Füßen getreten oder als deren Folge das Vertrauen in den Rechtsstaat fortschreitend ausgehöhlt wird (Ulrich [1997] 2001: S.  148-163). Beispiele für solche Geschäftspraktiken, die man durch die Berufung auf die durch den Wettbewerb erzeugten ›Sachzwänge‹ zu erklären und damit gegen ethische Nachfragen zu immunisieren versucht, gibt es leider zur Genüge. Empirischer Anknüpfungspunkt dieses Beitrags ist der Untergang der Kanalfähre Herald of Free Enterprise. Dieses Ereignis 20

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wird im Folgenden als Fallbeispiel dargestellt; anschließend erfolgt die Erläuterung der theoretischen Perspektive in Form der Gegenüberstellung von klassischem und modernem Verantwortungsbegriff im Blick auf deren Genese und aktuelle Relevanz. Ein abschließendes Fazit bündelt die Ergebnisse und fasst sie in vier Punkten zusammen.

1. Falldarstellung: Herald of Free Enterprise Am 06.03.1987 sank vor dem Hafen von Zeebrügge die Kanalfähre Herald of Free Enterprise. Bei dem Unglück verloren 188 Menschen ihr Leben. Die späteren Nachforschungen nach der Ursache des Kenterns ergaben, dass Wasser durch die nicht geschlossenen Autoverladeluken eingedrungen war, als die Fähre ihre Fahrt beschleunigte. Zunächst schien es, dass die Fahrlässigkeit von drei Seeleuten die Katastrophe verursacht habe. Genauere Untersuchungen führten allerdings zu dem Ergebnis, dass diese personale Schuldzuweisung deutlich zu kurz greift. Die Ursachen reichten weit über die Fahrlässigkeit der drei Angestellten hinaus. Zu ihnen zählten verschiedene Faktoren, die dem Management und den Direktor*innen der Firma, die den Fährenverkehr betrieb, schon vorher bekannt waren. Doch diesbezügliche Anfragen zur Behebung der Mängel wurden regelmäßig ignoriert und zurückgewiesen. Kurz: Schlamperei, Fahrund Nachlässigkeiten einzelner Mitarbeiter*innen hätten allein nicht zur Katastrophe geführt. Hinzu kamen Zeitdruck als Folge von Wettbewerbsdruck, Fehlkonstruktionen, Gewinninteressen sowie ein unzureichendes Kontrollsystem.

2. Verantwortungsethik als theoretische Perspektive Bei der Sichtung der komplexen Ursachen und der Klärung der Frage, welche Personen oder Institutionen mittelbar oder unmittelbar zum Unglück beitrugen, entschlossen sich die Karls21

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ruher Philosophen Hans Lenk und Matthias Maring zur Veröffentlichung einer wissenschaftlichen Untersuchung, die sie im Blick auf das Schicksal der Herald of Free Enterprise und der Menschen, die bei der Katastrophe ihr Leben verloren, unter das Thema stellten: »Wer soll Verantwortung tragen?« (Lenk und Maring 1995: S. 241) Damit begaben sie sich auf einen Weg, den der Soziologe und Nationalökonom Max Weber eingeschlagen hatte, als er in seinem Vortrag »Politik als Beruf«, den er im Jahr 1919 – also kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs – hielt, den Begriff der Verantwortungsethik einführte und ihn einer Gesinnungsethik gegenüberstellte. So begann die ethische Karriere des Verantwortungsbegriffs, der im 20. Jahrhundert zu einer ethischen Schlüsselkategorie geworden ist (Jähnichen 2015: S.  243). Weber hatte zunächst die Folgenverantwortung im Blick. Anders gesagt: Während der Gesinnungsethiker eine Handlung oder Unterlassung ohne Folgenabwägung, allein wegen der ihnen zugrunde liegenden Absicht für geboten oder verboten hält, besagt die verantwortungsethische Maxime, dass man für die Folgen seiner Handlungen aufzukommen habe und somit die Bewertung der Handlung dem Maßstab unterliegt, ob man dazu auch bereit sei. Formal bezeichnet Verantwortung einen mehrstelligen Relationsbegriff, mit dem sich unterschiedliche Ebenen von Verantwortung ausdifferenzieren lassen. Der Technikphilosoph Günter Ropohl hat herausgearbeitet, dass er sich mithilfe der Frage »Wer verantwortet was, wofür, weswegen, wovor, wann und wie?« (Ropohl 1985: S. 74) entfalten bzw. konkretisieren lässt. Die Anwendung der siebenfachen W-Frage auf den konkreten Fall zeigt allerdings, dass Max Weber in seinen Überlegungen noch vom klassischen Verständnis von Verantwortung ausgeht (Korff und Wilhelm 2001: S. 597-600). Der klassische Verantwortungsbegriff bezieht sich auf Kontexte, die sozial übersichtlich und von eindeutigen Zurechenbarkeiten und Aufgabenstellun22

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gen geprägt sind. Aus dieser Sachverhaltslage gewinnen alle weiteren sich dem Phänomen Verantwortung zuordnenden Begriffe wie Pflicht oder Schuld ihre spezifische, doch – wohlgemerkt – personenbezogene Anwendung. Anders gesagt: Die klassische Rede von Verantwortung und Schuld setzt immer schon Handlungssubjekte voraus, die Personenstatus besitzen, namentlich identifizierbar sind und sich entschieden haben, so und nicht anders zu handeln. Davon zu unterscheiden ist jedoch der moderne Verantwortungsbegriff, der insbesondere auf den tief greifenden Wandel der gesellschaftlichen Bedingungen im Zuge der politischen, technologischen und industriellen Evolution reagiert. Der moderne Verantwortungsbegriff setzt einen weitaus anspruchsvolleren gesellschaftlichen Komplexitätsgrad als Kontext voraus (Jonas 1984: S. 54-60). Als wichtigstes Unterscheidungsmerkmal im Vergleich zum klassischen Verständnis gilt hier, dass er eine veränderte Form von Verantwortung reflektiert, die durch einen Verlust zwischenmenschlicher Unmittelbarkeit in wichtigen Handlungs- und Entscheidungsbereichen der Wirtschaft, Technik und Politik bedingt ist. Das lässt nicht den Schluss auf eine Verabschiedung der Ethik aus den sich verselbständigenden Kontexten zu, zumal die neuen Kommunikationstechnologien auch neue, bis dahin unbekannte Möglichkeiten menschlicher Interaktion schaffen. Allerdings sieht sich menschliches Handeln in komplexen Systemen auch mit einer Vieldimensionalität der Handlungs- und Entscheidungsprozesse konfrontiert, die nicht nur neue Möglichkeiten, sondern auch neue Risiken und Unsicherheiten schafft (Römelt 1996: S. 126). Die notwendige Transformation vom klassischen zum modernen Verantwortungsbegriff stellt sich heute, im Zeitalter der Globalisierung, in ganz neuen Dimensionen dar – nicht mehr allein als Fragen nach individueller Zurechenbarkeit, sondern zunehmend als Frage nach gerechten oder ungerechten Struk23

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turen. Massenarbeitslosigkeit, ein wachsendes Gefälle zwischen reichen und armen Bevölkerungsschichten oder Ländern, weltweite Klimaveränderung und Migration haben wesentliche strukturelle Ursachen. Sie sind ursächlich nicht durch fehlendes individuelles Verantwortungsbewusstsein bedingt, sondern sind in ein dichtes und wenig transparentes Netz sozio-ökonomischer Bedingungen, gesellschaftlicher Wertepräferenzen und rechtlich-politischer Ordnungsvorgaben verflochten (Korff, Wilhelms 2001: S. 597-600).

3. Herald of Free Enterprise – eine verantwortungsethische Analyse Die tiefgreifende Transformation vom klassischen zum modernen Verantwortungsbegriff war offenbar der Kommission, die mit der Suche nach den Ursachen für den Untergang der Herald of Free Enterprise einsetzte, nicht oder zumindest nicht hinreichend bekannt. Sie kam nämlich zu dem Ergebnis, dass vor allem eine Diffusion der Verantwortung – insbesondere fehlende Rollenbeschreibungen und Nicht-Benennung von Verantwortlichen – zu der Katastrophe geführt habe. Am Ende konnte niemand innerhalb der Betreiberfirma verantwortlich gemacht werden – abgesehen von den drei Seeleuten, die beim unmittelbaren Vorgang des Übersetzens der Fähre selbst Hand angelegt hatten. Vor dem Hintergrund dieses Beitrags, der Genese und aktuelle Geltung des Wandels vom traditionellen zum modernen Verantwortungsbegriffs nachzuzeichnen sucht, klingt dieses Ergebnis, zu dem die Untersuchungskommission am Ende kam, gelinde gesagt enttäuschend. Ihm haftet der Hautgout eines Bauernopfers an, das gebracht wurde, um den Blick zu verschließen für die tiefer liegenden Ursachen der Katastrophe. Diese liegen nicht primär in individuellem Fehlverhalten – das sicher auch eine Rolle gespielt 24

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hat –, sondern weitaus tiefer: Zeitdruck als Folge von Wettbewerbsdruck und ausuferndes Gewinnstreben, das durch die immer maßloser werdenden Forderungen der Aktionär*innen nachhaltig gefördert wurde. Man würde es sich aber zu einfach machen, das marktwirtschaftliche System zum Hauptschuldigen zu machen. Die Sachlage ist komplexer und erfordert ein differenziertes Urteil. Eine vorläufige und mit gebotener Vorsicht formulierte Bilanz legt folgendes Ergebnis vor: Erstens: Ein Unternehmen, und als solches gilt auch die Betreibergesellschaft der Kanalfähre Herald of Free Enterprise, hat die Aufgabe, Gewinne zu erzielen. Ohne dieses Ziel wäre es ein Verschwender gesellschaftlicher Ressourcen und würde auch seiner Verantwortung für die Mitarbeiter*innen nicht gerecht, deren Arbeitsplatz und möglicherweise gesamte Existenz vom wirtschaftlichen Erfolg abhängen. Ohne Zweifel ist Wirtschaftlichkeit der primäre Sachzwang, dem sich jede Betriebs- und Unternehmensführung stellen muss. Ohne ein positives Ergebnis, ohne Gewinn, Rendite, Profit oder wie immer man den geschäftlichen Erfolg bezeichnen mag, ist nicht nur der Kredit bei Banken und Geschäftspartner*innen bald verspielt, sondern auf Dauer auch das gesamte Vermögen. Der Weg zum Konkursgericht oder die Selbstauflösung sind dann absehbar. Aber das Sachzwangargument kann auch missbraucht und überdehnt werden, wenn es dazu benutzt wird, rücksichtslose Ausbeutung, massive Menschenrechtsverletzungen und das Umgehen von Sicherheitsmaßnahmen und Gesundheitsschutzbestimmungen zu legitimieren. Das Beispiel der Herald of Free Enterprise ist leider kein Einzelfall und befindet sich in Gesellschaft zahlreicher Negativbeispiele aus anderen Bereichen des Wirtschaftslebens – etwa der Textilproduzent*innen, die ihre Produktionsstätten ins Ausland (Billiglohnländer) verlagern, ihre

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Mitarbeiter*innen rücksichtslos ausbeuten und nicht einmal angemessen entlohnen. Zweitens: Daneben steht deutlich und eindeutig die gesellschaftliche und soziale Verantwortung für die Mitarbeiter*innen und für die Gesellschaft. Es geht nach einem Wort des St. Galler Wirtschaftsethikers Peter Ulrich also darum, das republikanische Konzept des einzelnen Wirtschaftsbürgers auch auf Unternehmen zu übertragen und sie als Corporate Citizens in die Pflicht zu nehmen (Ulrich 2002: S. 138). Hinter diesem Begriff, der sich überraschend schnell ausgebreitet hat, steht die Einsicht, dass das Handeln und Wirken der Unternehmen maßgebliche Folgen für die Gestaltung der Gesellschaft hat. Dem Selbstverständnis des Unternehmens als Good Corporate Citizen zufolge gehören Geschäftserfolg und gesellschaftliches Handeln daher zusammen und sind im Zeitalter der Globalisierung eng miteinander verwoben. Überall dort, wo es unternehmerisch aktiv ist, ist das Unternehmen zugleich Mitglied der jeweiligen Gesellschaft und trifft in der Interaktion mit den jeweiligen relevanten Umwelten auf höchst unterschiedliche Erwartungen. Deshalb verpflichtet es sich, seine unternehmerischen Handlungsspielräume zu nutzen, gesellschaftliche Aktivitäten zu entfalten, sich für eine humane Welt zu engagieren und Mitverantwortung zu übernehmen für die Gestaltung einer Gesellschaft, von deren Fortschritt und Integrationskraft alle profitieren (ebd.: S. 134). Drittens: Aber können Institutionen überhaupt handeln? Sind es nicht vielmehr deren Repräsentant*innen und Akteure, die in einer bestimmten Rolle handeln? Oder kann man nur sekundär, lediglich metaphorisch-symbolisch von einem institutionellen Handeln sprechen? Aber – wie Hans Lenk bzw. Matthias Maring feststellen – »die sekundäre Handlung ist nicht gleichzusetzen mit der primären Handlung, obwohl erstere nicht ohne die primäre Handlung stattfinden kann.« (Lenk und Maring 1995: S. 244) Bei Wirtschaftsfragen wird fatalerweise oft 26

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der Eindruck erweckt, dass angesichts von Sachzwängen kein Raum für ethische Entscheidungen bleibt. Eine solche Position wäre aber wohl erst dann akzeptabel, wenn es tatsächlich keine Alternativen gäbe. Das ist aber äußerst selten der Fall, denn tatsächlich gibt es fast immer eine Alternative. Sie mag vielleicht kostspieliger sein als die Billiglösung; aber das ist kein Grund, sie deshalb prinzipiell zu verwerfen. Der bereits erwähnte St. Galler Wirtschaftsethiker Peter Ulrich hat überzeugend nachgewiesen, dass so behauptete Sachzwänge innerhalb der Marktwirtschaft in fast allen Fällen Denkzwänge sind. Der Markt allein zwingt uns zu gar nichts. Er ist nicht jene metaphysische Größe, auf die sich die Akteure des Wirtschaftsgeschehens zur Rechtfertigung ihrer fragwürdigen Praktiken gern berufen. Doch der Grund dafür, dass wir uns unter Erfolgszwang fühlen, ist nicht der Markt, es sind bei genauerem Hinsehen unsere je eigenen Einkommens- und Gewinninteressen. Ulrich schreibt dazu: »Es herrscht also am Markt weniger ein Zwang zur Gewinnmaximierung als vielmehr der wechselseitige Zwang der Wirtschaftssubjekte durch ihr je privates Einkommens- oder Gewinnstreben. Erst unter der ideologischen Voraussetzung der strikten Einkommens- bzw. Gewinnmaximierung wird es für die Subjekte gänzlich ›unmöglich‹, auf andere normative Gesichtspunkte, etwa solche der Human-, Sozial- und Umweltverträglichkeit ihres Handelns Rücksicht zu nehmen. Aus wirtschaftsethischer Sicht gilt es jedoch gerade diese Einkommens- und Gewinninteressen ethisch-kritisch dahingehend zu reflektieren, wie weit sie im Lichte der Rechte anderer legitim sind und wo diese den Vorrang verdienen. Man geht ja auch im Wirtschaftsleben nicht einfach über Leichen – außer in den Mafia Economics.« (Ulrich 2002: S. 37)

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Viertens: Daran anschließend stellen Hans Lenk und Matthias Maring allerdings im Gegenzug die Frage, »ob es so etwas gibt wie eine institutionelle oder korporative Handlung – eine Verantwortung von Unternehmen beispielsweise, die nicht auf die Verantwortung von einzelnen Managern, Ingenieuren usw. zu reduzieren ist.« (Lenk und Maring 1995: S. 244) Das Dilemma, sich für eine Seite zu entscheiden – individuelle versus kollektive Verantwortung – lässt sich wohl nicht auflösen. Die individuelle moralische Verantwortung hat somit weiterhin eine Zukunft – und das ungeachtet der Tatsache, dass Unternehmen, Verbände, Institutionen und Korporationen zunehmend an Gewicht gewinnen und Entscheidungen immer mehr von ihnen getroffen werden. Doch kollektive Verantwortung darf nicht als Schutzschild oder Ablenkungsmanöver für individuelle Verantwortung dienen. Um abschließend noch einmal Hans Lenk und Matthias Maring zu zitieren: »Die moralische Verantwortung – und zwar die moralische persönliche Verantwortung – ist und bleibt das prototypische Beispiel und Vorbild der Verantwortung generell. Doch sie ist nicht der einzige relevante Verantwortungstyp. Es gibt auch eine sekundäre moralische oder moralanaloge Verantwortung von Unternehmen, Korporationen, Institutionen usw. Diese institutionelle und korporative Verantwortung ist mit der individuellen moralischen Verantwortung stets in Verbindung zu sehen und zu setzen.« (Lenk und Maring 1995: S. 282).

Zum Weiterlesen Fonk, Peter (2007): »Das ganz normale Böse. Schuldbewusstsein und Verantwortung in einer Welt der Sachzwänge«. In: Theologisch-praktische Quartalschrift 155, 4, S. 346-358. Jonas, Hans (1984): Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Sozialethik Ulrich, Peter (2009): Die gesellschaftliche Einbettung der Marktwirtschaft als Kernproblem des 21. Jahrhunderts. Eine wirtschaftsethische Fortschrittsperspektive. Abschiedsvorlesung vom 5. Mai 2009. Berichte des Instituts für Wirtschaftsethik Nr. 115: St. Gallen.

Literatur Bertsch, Ludwig et al. (1976): Unsere Hoffnung. Beschlusstext der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland. Freiburg/Basel/Wien: Herder. Jähnichen, Traugott (2015): »Wirtschaftsethik«. In: Wolfgang Huber/Torsten Mereis/Hans-Richard Reuter (Hg.). Handbuch der Evangelischen Ethik. München: C. H. Beck, S. 331– 400. Johannes Paul II (1987): Enzyklika Sollicitudo Rei Socialis. Zwanzig Jahre nach der Enzyklika Populorum Progressio. (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Bd. 82). Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.). Bonn. Jonas, Hans (1984): Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Korff, Wilhelm/Wilhelms, Günther (2001): »Verantwortung«. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 10. Freiburg/Basel/Rom/ Wien: Herder, S. 597-600. Lenk, Hans/Maring, Matthias (1995): »Wer soll Verantwortung tragen? Probleme der Verantwortungsverteilung in komplexen (soziotechnischen-sozioökonomischen) Systemen«. In: Kurt Bayertz (Hg.). Verantwortung. Prinzip oder Problem? Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 241-286. Römelt, Josef (1996): Vom Sinn moralischer Verantwortung. Zu den Grundlagen christlicher Ethik in komplexer Gesellschaft. Regensburg: Pustet. Ropohl, Günter (1985): Die Unvollkommene Technik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Peter Fonk Ulrich, Peter ([1997] 2001): Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie. Aufl. 3. Bern/Stuttgart/Wien: Haupt, S. 148-163. Ulrich, Peter (2002): Der entzauberte Markt. Eine wirtschaftsethische Orientierung, Freiburg/Basel/Wien: Herder.

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Historische Perspektive Verantwortung zwischen Wissenschaft und Politik Malte Rehbein Gesamtgesellschaftliche Fragen und Herausforderungen der gesamten Menschheit rücken neben und mit der Politik auch die Wissenschaften stark in die öffentliche Wahrnehmung. Globale Erwärmung und Klimakrise, Verlust von Biodiversität, Bedrohung von Demokratie, Menschenrechten und freiheitlicher Ordnung und zuletzt auch die Coronavirus-Pandemie sind Beispiele, bei denen von Wissenschaft in hohem Maße erwartet wird, Probleme zu erkennen, diese verständlich zu kommunizieren, zudem Handlungsempfehlungen auszusprechen und Lösungen zu entwickeln. Herausforderungen wie die genannten sind dabei häufig selbst Folgen vorhergehenden menschlichen Tuns und damit mittelbar Folgen von Wissenschaft, die in der modernen Gesellschaft durch deren Ergebnisse dieses Tun maßgeblich ermöglicht. Zugleich basiert das allgemeine Wissen um die Existenz dieser Herausforderungen, um deren Ursache im menschlichen Tun und um daraus resultierende (mögliche) Folgen ebenfalls auf wissenschaftlicher Erkenntnis. Dieser Essay diskutiert die Frage der Verantwortung von Wissenschaft in der Gesellschaft sowie, damit verbunden, der Verantwortung von wissenschaftlich Agierenden aufgrund ihrer Profession, ihres grundgesetzlich geschützten besonderen Status und ihrer spezifischen intellektuellen Fähigkeiten. Ausgehend von einer im Folgenden dargestellten wissenschaftsethischen Perspektive wird anschließend anhand von historischen Fällen, die einzelne Personen in den Mittelpunkt krisenhafter Entwicklungen rücken, diskutiert, wie Wissenschaftler*innen 31

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mittels eigener moralischer Perspektiven individuelle und kollektive Einflussnahme ausüben können. Aus der Erörterung aktueller Konstellationen folgt das Fazit der Notwendigkeit einer komplexen, integralen Betrachtung.

Wissenschaftsethik als Perspektive In besonderem Maße rückte so die Fridays for Future-Bewegung 2018/19 die Wissenschaft ins öffentliche Licht, indem sie als Kernbotschaft und Appell an Gesellschaft und Politik formulierte, wissenschaftliche Erkenntnis zum Leitmaßstab der Klimapolitik zu machen und diesem entsprechend zu handeln, um der prognostizierten ökologischen Katastrophe entgegenzuwirken. Zu diesen Forderungen bekannten sich über 26.000 Wissenschaftler*innen im deutschsprachigen Raum als Scientists for Future. In ihrer Gründungsresolution betonen sie ihre Verantwortlichkeit: »Als Menschen, die mit wissenschaftlichem Arbeiten vertraut sind und denen die derzeitigen Entwicklungen große Sorgen bereiten, sehen wir es als unsere gesellschaftliche Verantwortung an, auf die Folgen unzureichenden Handelns hinzuweisen.« (Hagedorn et al. 2019) In Bezug auf ein anderes Bedrohungsszenario verabschiedete etwa auch der Verband der Historikerinnen und Historiker Deutschlands (VHD) 2018 eine nicht unumstrittene Resolution »zu gegenwärtigen Gefährdungen der Demokratie«. Einleitend heißt es dort: »In Deutschland wie in zahlreichen anderen Ländern bedrohen derzeit maßlose Angriffe auf die demokratischen Institutionen die Grundlagen der politischen Ordnung. Als Historikerinnen und Historiker halten wir es für unsere Pflicht, vor diesen Gefährdungen zu warnen«. Hier wird aus (historischem) Wissen die Verpflichtung abgeleitet, dieses Wissen zum Wohle der Gesellschaft einzusetzen (VHD 2018). Trotz der spätestens seit den 1970er Jahren wissenschaftlich gut erforschten und veröffentlichten mittel- und langfristigen 32

Historische Perspektive

Bedrohungsszenarien durch den anthropogenen Klimawandel und der daraus abzuleitenden sozial-ethischen Zukunftsverantwortung, die als eine gemeinschaftliche, ganzheitliche und generationsübergreifende Aufgabe verstanden werden soll (Müller 2019: S. 51), scheint erst die plötzliche Bedrohung durch die Coronavirus-Pandemie 2020 die enge Verzahnung von wissenschaftlichen Erkenntnissen und politischem Handeln intensiv in den medialen Blickpunkt zu rücken. Im Frühjahr 2020 ließ sich dabei fast tagesgenau beobachten, wie Forschungsergebnisse Einfluss auf politische Entscheidungen nahmen, aus denen heraus wiederum Folgen für das individuelle, soziale, kulturelle und wirtschaftliche Leben entstanden. Diese scheinbare Unmittelbarkeit rückt die Frage der damit verknüpften Verantwortung von Wissenschaft in ein neues Licht. Der Duden definiert den Begriff Verantwortung als »(mit einer bestimmten Aufgabe, einer bestimmten Stellung verbundene) Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass (innerhalb eines bestimmten Rahmens) alles einen möglichst guten Verlauf nimmt, das jeweils Notwendige und Richtige getan wird und möglichst kein Schaden entsteht« sowie als »Verpflichtung, für etwas Geschehenes einzustehen (und sich zu verantworten)«. Verantwortung wird in dieser Definition aus einer Aufgabe bzw. Stellung der beteiligten Akteure heraus verstanden. Von Bedeutung für die Wissenschaft ist dabei ihre Aufgabe bzw. Funktion in der Gesellschaft sowie die besondere Stellung, die wissenschaftlich Agierende aufgrund ihrer Profession, ihres Status und ihrer spezifischen intellektuellen Fähigkeiten heraus einnehmen. Noam Chomsky formulierte diesen Status 1967 in Hinblick auf die besondere und besonders geschützte (in der Bundesrepublik durch Art. 5 GG), privilegierte Position, die Wissenschaftler*innen, zumindest in der westlichen Welt, zugestanden wird und leitete daraus eine ausdrückliche Verantwortung von Intellek-

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tuellen ab (Chomsky 1967). Verantwortung ist damit die Kehrseite der Freiheit (Jonas 1992: S. 131). In der modernen Wissenschaft sind Ergebnis und Erkenntnis auf professionelles wissenschaftliches Arbeiten, auf anerkannte Methodik des Forschens und Erkennens, begründet. Das Offenlegen von Methodik einschließlich der zugrunde gelegten Rahmenbedingungen und Daten macht die Erkenntnisse dabei intersubjektiv nachprüfbar sowie universell (Merton 1973). Durch die Methodik bekommt das erzeugte Wissen einen Anspruch auf Gültigkeit, erfordert zugleich aber einen Konsens mittels der (oft nach Konflikt und Dissens herausgebildeten) allgemeinen Akzeptanz dieser Gültigkeit. So ist etwa Astronomie eine Wissenschaft im modernen Sinne, Astrologie jedoch nicht. Solche Verlässlichkeit ist fundamental für die Wissenschaft und macht sie fundamental für die Gesellschaft. Zugleich, und auch dies wurde in der Diskussion um die Coronavirus-Pandemie besonders deutlich, ist die Gültigkeit von Wissen aber nur temporärer Natur, denn wissenschaftliche Erkenntnis ist kein Produkt, sondern ein Prozess, in dessen Verlauf sich Erkenntnis verändert. Die Wissenschaft stellt dabei auch die professionalisierte Ausprägung der besonderen Fähigkeit des Menschen dar, sein Wissen unaufhaltsam zu vergrößern. Dies ist nicht nur eine Eigenschaft, die den Mensch wohl von den anderen Lebewesen unterscheidet. Sie ist auch konstituierend für die Entwicklung der menschlichen Zivilisation, zumindest in ihrer durch die griechische Philosophie (»Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen.« [Aristoteles: Metaphysik I 1, 980 a 21]) und die europäische Aufklärung geprägten Lesart (Toynbee 1996: S. 16). Ebenso wie der Drang zur Wissensvermehrung, der aus unterschiedlichen Motiven gespeist werden kann, scheint die Befähigung zur Verantwortung eine typisch menschliche Eigenschaft zu sein (Jonas 1992: S. 131). 34

Historische Perspektive

Der Begriff der Verantwortung als ein »Wer ist gegenüber wem und was wofür verantwortlich?« ist stark mit dem Begriff der Konsequenz behaftet: Sollte etwas keine Konsequenzen haben können, würde auch keine Verantwortung erwachsen. Wissenschaftliches Handeln, so ist anzunehmen, hat stets Konsequenzen; die konsequentialistische Betrachtung von Verantwortung ist daher in der Wissenschaft unerlässlich. Um über Konsequenzen urteilen zu können, kommt dabei neben der Vernunftbegabung eine weitere genuin menschlich scheinende Eigenschaft zum Tragen, nämlich das Bewusstsein von Kausalzusammenhängen und die Befähigung, bewusst zwischen Recht und Unrecht, Gut und Böse unterscheiden zu können. Erst hieraus erwächst eine ethische Urteilskraft. Ausgehend von diesen Prämissen wurden und werden Konkretisierungen vorgeschlagen, wie Wissenschaft ihrer Verantwortung in der Praxis gerecht werden kann. Beispielhaft zu nennen sind etwa die 1942 von Robert Merton formulierten Prinzipien wissenschaftlichen Ethos’ (Merton 1973) oder die Richtlinien der Deutschen Forschungsgemeinschaft »Gute wissenschaftliche Praxis« (DFG 2019). Ein Minimalkonsens scheint in jedem Falle in einer Selbstverpflichtung der Wissenschaft zum fachgerechten Arbeiten lege artis zu bestehen. Wenn Verantwortung als eine Verpflichtung angesehen wird, auf mögliche Folgen einer Handlung oder eben auch einer Nicht-Handlung aufmerksam zu machen, ggf. dafür auch einzustehen, so wird deutlich, dass sich Verantwortung nicht nur an der Gegenwart, sondern vor allem an der Zukunft zu bemessen hat, weswegen die verschiedenen oben genannten Bewegungen zurecht den Namenszusatz for future tragen. Am vielleicht eindrücklichsten kommt dies im von Hans Jonas 1979 formulierten Imperativ »Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden« (Jonas 1979: S. 35) zur Geltung. Jonas’ 35

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»Prinzip Verantwortung« beschreibt eine Ethik, die vor allem an die Politik gerichtet ist, gerade aber auch für die Wissenschaft maßgeblich sein könnte.

Konstellationen einer Verantwortung der Wissenschaft Je zweckgebundener Forschung motiviert ist, desto enger rückt die Wissenschaft an die Folgen ihrer eigenen Forschung heran. Deutliches Beispiel hierfür ist die unmittelbare Auftragsforschung für das Militär (als Machthaber oder Geldgeber); hier ist die individuelle Verantwortung der Wissenschaftler*innen für mögliche Konsequenzen genauso klar abgezeichnet wie die individuelle Entscheidungsmöglichkeit, sich an dieser Art von Forschung (nicht) zu beteiligen. Aber auch zunächst nichtzweckgebundene Forschung führt mittelbar zu einer Nutzung im möglicherweise nicht intendierten Sinne. Das klassische Beispiel der Erörterung moralischer Dilemmata der Wissenschaft ist die Kernforschung auf Grundlage der Entdeckung der Kernspaltung durch Otto Hahn und Fritz Straßmann 1938. Das gleichzeitige zivile (z.B. Medizintechnik oder Energiegewinnung) und militärische (atomare Waffen) Nutzungspotential und die damit verbundenen normativen Fragestellungen werden gemeinhin als ›dual-use-Problematik‹ im engeren Sinne bezeichnet und sind Gegenstand ethischer wie rechtlicher Betrachtung und Regulierung. Dual-use kann über die zivil-militärische Kategorisierung hinausgehend und verallgemeinernd als ein multiple-use aufgefasst werden, nämlich als die Unterscheidung zwischen beabsichtigten und unbeabsichtigten Konsequenzen wissenschaftlicher Tätigkeit. Darin ist zu betrachten, dass Forschung, die, so eine Unterstellung, zum Wohle der Menschheit betrieben wird, einerseits Nebenwirkungen haben, andererseits zu von den Forscher*innen nicht intendierten oder gewünschten Zwe36

Historische Perspektive

cken genutzt werden kann. Beides kann durchaus katastrophale Konsequenzen haben. Im Falle der Atomkraft zeigen ersteres die als ›Super-GAU‹ bezeichneten Havarien bspw. von Tschernobyl 1986 und Fukushima 2011 sowie atomare Abfälle, die in ihrer Konsequenz vermutlich noch viele Generationen in der Zukunft belasten werden und letzteres die Nutzung als Massenvernichtungswaffen. Wie dies aussehen kann und wie es zu massiver Zerstörung, Leid und Tod führt, zeigt der Einsatz in Hiroshima und Nagasaki im August 1945. Letztlich hat sich die Menschheit durch die wissenschaftliche Entdeckung der Kernspaltung (und nicht nur durch diese) die Möglichkeit geschaffen, die Lebensmöglichkeiten auf dem Planeten für sich selbst und viele weitere Lebensformen auf Dauer zu vernichten. Das Risiko der Nicht-Permanenz menschlichen Lebens ist damit gegeben. Welche Handlungsmöglichkeiten bleiben der Wissenschaft also noch, wenn, sobald deren Erkenntnisse einmal bekannt geworden sind, der Einsatz atomarer Massenvernichtungswaffen in den Händen von Militärs und Politiker*innen und damit außerhalb der Kontrollmöglichkeiten der Wissenschaft liegt? Sind Wissenschaftler*innen überhaupt moralisch verantwortlich für die unbeabsichtigten Folgen ihrer Entdeckungen? Bejaht hat diese Frage etwa die Gruppe der »Göttinger Achtzehn«, hochangesehene Atomforscher der frühen Bundesrepublik, die sich 1957 für die friedliche Verwendung der Atomenergie einsetzten und in einer öffentlichen, viel politische Aufmerksamkeit erlangenden Erklärung ausdrücklich gegen die Ausstattung der Bundeswehr mit atomaren Trägersystemen wandten (Lorenz 2011). Einer von ihnen war Max Born (Nobelpreis für Physik 1954). In seiner Essaysammlung »Die Verantwortung des Naturwissenschaftlers« (Born 1965) äußert sich Born nachdenklich, auch auf Otto Hahn Bezug nehmend, zu seiner indirekten Rolle im Rahmen des Atomprogramms und insbesondere zum 37

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Einsatz von atomaren Waffen in Japan 1945. Auch wenn er selbst an den konkreten Entscheidungen nicht beteiligt war, sieht er sich durch seine Forschungsarbeiten als »mitschuldig« (ebd. S.  32) und damit, ex post, mitverantwortlich an. Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung gelangt der US-amerikanische Mathematiker, Philosoph und Vordenker der Kybernetik Norbert Wiener 1947: »The experience of the scientists who have worked on the atomic bomb has indicated that in any investigation of this kind the scientist ends by putting unlimited powers in the hands of the people whom he is least inclined to trust with their use.« (Wiener 1947: S. 31) Die Rolle von Wissenschaftler*innen sieht er dabei gar drastisch als die von Schiedsrichtern zwischen Leben und Tod. Einen singulären Kipppunkt, an dem einzelne Wissenschaftler aus moralischen Erwägungen heraus ihre Forschung hätten stoppen können, weil sie auf die Entwicklung der Atombombe hinausläuft, gab es jedoch nicht. Born macht deutlich, dass die wissenschaftlich-technische Entwicklung nicht zu verhindern gewesen wäre, sondern dass die Entwicklung der Zivilisation »vom Wilden mit Pfeil und Bogen bis zum Flieger mit Atombombe« (Born 1965: S.  33) zwangsläufig sei. Zu sehr baut die Wissenschaft in einem komplexen System auf die Erkenntnisse der jeweiligen Vordenker auf (Mertons Prinzip des Kommunalismus; das Newton zugeschriebene »Zwerge auf Schultern von Riesen«), in einer langen Kette, die letztlich bis auf die Neolithische Revolution und die Sesshaftwerdung des Menschen zurückgeführt werden könnte (vgl. Toynbee 1996). Die Zwangsläufigkeit wissenschaftlicher Entwicklungen als Ganzes ist aber keine Entschuldigung für moralische Verfehlungen und das Nicht-Nutzen von individuellen Handlungsmöglichkeiten. Die »Göttinger Achtzehn« wandten sich an die Öffentlichkeit und forderten somit die Politik heraus. Für Wiener führten die potentiellen Konsequenzen seiner For38

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schung durch Nutzung in falschen Händen zu einer SelbstZensur: »I do not expect to publish any future work of mine which may do damage in the hands of irresponsible militarists« (Wiener 1947: S. 31). Noch stärkere Resistenz offenbarte in seiner Autobiographie der deutsche Computer-Pionier Konrad Zuse. Er entwickelte seine Systeme nur für konkrete Anwendungen, deren Einsatz er selbst kontrollieren konnte. Zum universalen, frei programmierbaren Einsatz von Computer-Systemen, der ihm zufolge in seiner Technologie nur das Legen eines einzelnen Drahtes erfordere, äußert er sich: »Solange dieser Draht nicht gelegt ist, sind die Computer in ihren Möglichkeiten und Auswirkungen gut zu übersehen und zu beherrschen. Ist aber der freie Programmablauf erst einmal möglich, ist es schwer, die Grenze zu erkennen, an der man sagen könnte: bis hierher und nicht weiter.« (Zuse 1984: S. 77) Dieser »freie Programmlauf« ist heute längst üblich. Geehrt und verehrt für die Erfindung solcher Universalcomputer, die wiederum in enger Verbindung mit der Entwicklung von Waffensystemen steht, werden freilich andere. Der Informatiker, Wissenschafts- und Gesellschaftskritiker Joseph Weizenbaum sieht die Verantwortung des Wissenschaftlers vor allem in der Frage, an Stelle des technisch und wissenschaftlich Möglichen die des humanum in den Mittelpunkt zu rücken. Weizenbaum gilt als einer der Vordenker von automatischer Spracherkennung, wie sie heute breite Anwendung gefunden hat, und damit auch der sog. Künstlichen Intelligenz. Er stellte seine eigene Forschung in diesem Bereich aber ein, nachdem er dessen Missbrauchsmöglichkeiten, vor allem aber die menschlichen und gesellschaftlichen Grenzen der Technologie erkannt hatte. Er übernahm Verantwortung im Bereich des Wissenschaftsfelds der Informatik, indem er sich gesellschaftskritisch positionierte und die Öffentlichkeit sensibilisierte. Seine Schriften »Albtraum Computer« und »Computer power and 39

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human reason« wurden v.a. in Deutschland in den 1970er Jahren viel beachtet, womit Weizenbaum ein Korrektiv, auch dem Wissenschaftssystem selbst gegenüber, anbot (Weizenbaum 1972; Weizenbaum 1976).

Individuum, Institution, Integral Konsequenzen wissenschaftlicher Forschung wie der Einsatz von Nuklearwaffen sind oftmals politische Entscheidungen – und in einer demokratisch-freiheitlichen Demokratie damit im weiteren Sinne gesellschaftliche (die Gesellschaft wählt ihre Entscheidungsträger und/oder lässt sie gewähren) –, auch wenn sich eine große Zahl von Wissenschaftlern und Ingenieuren der Konsequenzen bewusst für die Mitarbeit im Manhattan-Projekt entschieden hatten. Akteure wie Max Born und die »Göttinger Achtzehn« oder Nobert Wiener exemplifizieren jedoch, wie aus einer eigenen moralischen Perspektive und dem besonderem Status der Wissenschaftler*innen heraus individuelle und kollektive Einflussnahme ausgeübt werden kann. Keiner von ihnen allein aber hätte Hiroshima und Nagasaki verhindern können. Zwar ist die Technikfolgenabschätzung heute ein wichtiger und anerkannter Aspekt der wissenschaftsexternen Verantwortung geworden. Dennoch werden Wissenschaftler*innen, die sich kritisch äußern oder verhalten, durchaus als Rebell*innen oder Dissident*innen bezeichnet – Bezeichnungen, die je nach politischem Standpunkt positive wie negative Konnotationen erlauben. Die diametral unterschiedliche Bewertung dieser Art von Handlung, nämlich der Freigabe oder Nicht-Freigabe von Information an die Öffentlichkeit, macht deutlich, wie sehr in diesen Fällen die Beurteilung entlang des eigenen moralischen Kompasses eine schwierige individuelle Angelegenheit ist. In den zuletzt diskutierten Beispielen ist dabei das Aussprechen des erworbenen Wissens ein zentraler Aspekt der Wahrnehmung von Verantwortung. Dies steht in Tradition der europäi40

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schen Aufklärung, u.a. formuliert von Julien Offray de La Mettrie (1748): »Es genügt nicht, daß ein Weiser die Natur und die Wahrheit erforscht; er muß auch den Mut haben, sie zu sagen« (de La Mettrie 1748: S. 1). Beispielhaft hierfür mag hier die tragische Geschichte des chinesischen Arztes Li Wenliang stehen, der Ende 2019 in Wuhan frühzeitig vor den Gefahren des neuartigen Coronavirus warnte, dafür aber von den Behörden der Volksrepublik China belangt wurde. Inwieweit Äußerungen von Wissenschaftler*innen aber über das rein Wissenschaftliche hinausgehen und insbesondere politisch werden sollten, ist höchst umstritten. Während manche Intellektuelle wie Chomsky gerade auch hierin die Verantwortung der Wissenschaft sehen, lehnen andere dies strikt mit dem Verweis auf eine potentielle Ideologisierung und Instrumentalisierung ab und plädieren für eine wertfreie Wissenschaft (vgl. Weber 1919). Auch der Diskurs um die eingangs genannte Resolution des Verbandes der Historikerinnen und Historiker verläuft entlang dieser Linien (Schlotheuber 2019). Vielleicht auch deshalb und um der Macht systemischen Drucks und Verlockungen (vgl. Münch 2011) widerstehen zu können, wird die Verantwortungsfrage in der Wissenschaft zunehmend kollektiviert und institutionalisiert. So entwickelte sich bspw. aus den »Göttinger Achtzehn« heraus die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler oder aus den Impulsen der Friedensbewegung der 1980er-Jahre heraus das Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung. Gleichzeitig wird die Frage von verantwortungsvollem Umgang mit Technik und anderen wissenschaftlichen Erkenntnissen zunehmend auch von staatlicher Seite begleitet. Wissenschaftsethik und Technikfolgenabschätzung werden an den Hochschulen und darüber hinaus verankert und institutionalisiert und erhalten öffentliche Unterstützung. Als Beispiel zu nennen ist das mit der Zielsetzung von »Gestaltungsoptionen für Politik, Wirt41

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schaft und Zivilgesellschaft« im Rahmen des digitalen Wandels beauftragte, nach Joseph Weizenbaum benannte Berliner Internet-Institut. Alle diese Einrichtungen rücken die gesellschaftliche Verantwortung von Wissenschaftler*innen in den Mittelpunkt ihrer Betätigung und sind Teil einer (politisch gewollten) ethischen Selbstregulierung der Wissenschaft. Die eingangs aufgezählten Bedrohungsszenarien, die von Ernst Ulrich von Weizsäcker und Anders Wijkman u.a. als ökologische, soziale und politische, kulturelle und moralische Krise charakterisiert werden (Weizsäcker und Wijkman 2018: S.  21), stellen komplexe Herausforderungen dar, für welche die Wissenschaft zurecht zur Lösungsfindung beizutragen hat. Bereits am relativ klar umrissenen aktuellen Fall der Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie zeigt sich diese Komplexität auch in der Wissenschaft. Virolog*innen und Epidemiolog*innen können erklären, wie sich das Virus unter welchen Bedingungen menschlichen Zusammenlebens ausbreitet und dabei z.B. vorhersagen, dass sich das Virus unter Einhaltung größtmöglicher Distanz und mit einem Lockdown eindämmen ließe. Mit demselben Anspruch auf wissenschaftliche Korrektheit und Redlichkeit würden aber Ökonomen bei den gleichen Bedingungen etwa einen Einbruch der Wirtschaft durch den Lockdown mit negativen sozialen Folgen oder Psychologen gesundheitliche Schäden durch die Distanzierung vorhersagen. Vermutlich haben alle, jeweils isoliert betrachtet, recht. Die mediale Berichterstattung zur Corona-Pandemie umfasst die gemachten wissenschaftlichen Fortschritte, die von Wissenschaftler*innen kommunizierten Handlungsempfehlungen sowie den dann erfolgten politischen Handlungen. Hier wurde die Unmittelbarkeit möglicher Konsequenzen wissenschaftlicher Arbeit und ihrer Kommunikation besonders deutlich und schien auf den Protagonist*innen wie Christian Drosten zu lasten, die einem öffentlichen medialen Druck 42

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standzuhalten hatten, einfache politische Antworten auf komplexe wissenschaftliche Fragen geben zu sollen. Wie groß und brisant das Spannungsfeld zwischen Erkenntnis, daraus abgeleiteten Handlungsempfehlungen und politischen Handlungen sein kann, zeigt sich, wenn man verschiedene Länder, etwa Deutschland, Schweden, USA, miteinander vergleicht. Der von Merton beschriebene Universalismus der Wissenschaft findet damit spätestens auf der Handlungsebene sein Ende. So befördert und fordert die Corona-Pandemie einen Prozess zur Neuaushandlung des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Politik, anders als dies bislang etwa zwischen Klimaforschung und Klimapolitik der Fall gewesen zu sein scheint. Die Komplexität und Verschiedenheit der Perspektiven erfordert integrale Ansätze – in der Politik, in der Wissenschaft, aber auch im gegenseitigen Wechselspiel miteinander. Schon Alexander von Humboldt suchte »in der Mannigfaltigkeit die Einheit zu erkennen« (Müller 2019: S. 11) und Fragen nach den Zusammenhängen unserer Welt in einer planetarischen Dimension zu beantworten. Selbst eine Ausnahmeerscheinung wie er sah dabei bereits im frühen 19. Jahrhundert Wissenschaft nicht als eine Veranstaltung singulärer Personen, sondern als ein globalisiertes Netzwerk an. Humboldts Forscherinteresse und Wissenschaftskonzeption waren nicht allein auf die jeweiligen Gegenstände gerichtet, sondern wurden zur »kosmopolitischen Wissenschaft«, die sich »in ihrer ethischen Fundierung und politischen Verantwortlichkeit als eine Wissenschaft begreift, die an den Interessen der gesamten Menschheit […] ausgerichtet ist« (Ette 2019: S. 18).

Zum Weiterlesen Jonas, Hans (1979): Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt a.M.: Insel-Verlag.

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Malte Rehbein Rehbein, Malte (2016): »It’s Our Department:  On Ethical Issues of Digital Humanities«. In: Kristina Richts/Joachim Veit (Hg.). »Ei, dem alten Herrn zoll’ ich Achtung gern«. Festschrift für Joachim Veit zum 60. Geburtstag, S. 631-654. Reydon, Thomas (2013): Wissenschaftsethik. Eine Einführung. Stuttgart: Ulmer.

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Systemtheorie Moral als Verantwortungsdiebstahl Thorsten Benkel »A moral man cannot be sociologist.« (Robert Park) Anders als noch vor Jahrzehnten und anders als dies sog. ›Moralunternehmer‹ nahelegen, sind moralische Einstellungen heute so pluralistisch wie die Lebensweisen der Menschen, die sie betreffen. Nachfolgend wird gezeigt, dass moralische Ansprüche gegenwärtig nicht mehr als verbindliche Klammern des gesellschaftlichen Zusammenlebens fungieren können, sondern lediglich von subjektiver Geltung sind. Dies soll am Beispiel einer vergleichsweise beliebigen moralischen Herausforderung dargestellt werden: der Frage, ob man Drogen nehmen soll oder nicht. Aus einer insbesondere an die systemtheoretische Perspektive Niklas Luhmanns angelehnten Beobachtungsweise wird außerdem gezeigt, wie sich Moral gegenwärtig in eine gesellschaftliche Sichtweise rücken lässt und welche Probleme dabei entstehen. Eines dieser Probleme ist der subtil mitschwingende ›Verantwortungsdiebstahl‹, welcher die moralischen Vorwürfe und oft ungebetenen Beratschlagungen begleitet. Weil diese häufig ein bestimmtes Handeln, z.B. einen Kurswechsel bei der Handlungsentscheidung forcieren wollen (etwa: Substanzverzicht), implizieren sie, dass das angesprochene Subjekt nicht selbständig Verantwortung für sein Leben tragen kann. Die Verantwortung wird dem Subjekt gewissermaßen ent- und sodann gegen es verwendet.

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Zunächst steht die gesellschaftlich etablierte Pluralität von Überzeugungen bzw. Überzeugungssystemen im Vordergrund. Dem schließt sich die Darstellung der soziologischen Perspektive an, welche sich angesichts dieser Pluralität als gegenwartsdiagnostischer Beobachtungsweg besonders gut eignet, bevor schließlich ein konkretes auf (Selbst-)Verantwortung bezogenes Fallbeispiel, nämlich der Drogenkonsum, im Lichte der dargestellten Theorie betrachtet wird.

Dissens und Konsens Um zu zeigen, dass moralische Ansprüche in modernen Gegenwartsgesellschaften nicht mehr als verbindende Klammer für die Bewertung sozialer Handlungsweisen verwendet werden (können), ist es zunächst wichtig, die Ambivalenz moralischer Geltungen (und Geltungsansprüche) zu betrachten. Moralische Ansprüche zu stellen bedeutet einerseits, an Mauern zu stoßen – an Gemäuer des Unverständnisses, der Irritation, der Vorwürfe, der Anklagen, an bildersprachliche Mauern also, die Anschlusskommunikation eher verhindern, als sie zu ermöglichen. Andererseits lässt sich ein moralischer Konsens in vielen Feldern erstaunlich rasch herstellen. Haltungen, die viele Menschen nicht deshalb als ›richtig‹ erachten, weil es um eine beweisbare ›Faktizität‹ geht, sondern weil sie unabhängig voneinander persönlich davon überzeugt sind, betreffen z.B. die Bewertung rechtsradikaler Parteien oder die Einstufung der Liebenswürdigkeit von Eltern, Großeltern, aktuellen Partner*innen und Freund*innen. Man kann derlei mit Erfahrungen, mit emotionalen Prägungen, mit einer bewussten Entscheidung oder mit einer anerzogenen Perspektive begründen – doch auch wenn keine Begründung geboten wird, sind Gegenargumente vermutlich zwecklos. Selbstverständlich kommt es vor, dass Menschen sich darüber Gedanken machen, ob ihre persönliche Einstellung ver48

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allgemeinerbar ist. Entscheidende Impulse gibt diesbezüglich das soziale Umfeld. Zu seinen Aufgaben gehört es aber nicht, ›objektiv‹ zu beratschlagen; im Gegenteil. Der Vorteil der freien Wahl von Freund*innen und Partner*innen besteht darin, dass man gezielt nach Gemeinsamkeit suchen bzw. allzu scharfe Divergenzen zum Ausschlusskriterium machen kann. Man muss sich nicht darüber verständigen, ob die eigenen Kriterien diesbezüglich fair, plausibel oder angemessen sind, und man muss diesen Maßstäben nicht einmal selbst genügen, um andere abzulehnen, die ihnen nicht entsprechen. Dies ist das Privileg einer im privaten Bereich ›selbstgesetzgeberischen‹, wörtlich also autonomen Lebensführung. Rechenschaft über Sym- und Antipathien oder über Vorlieben und Abneigungen braucht nicht abgelegt zu werden, umgekehrt ist dafür aber auch keine universelle Anerkennung einforderbar. Es werden allenfalls Anerkennungskämpfe ausgefochten, deren Ausgang in moralisch pluralisierten Zeiten aber nicht nur milieu- und zeit-, sondern auch personen- und situationsabhängig ist. Vielerorts wird auf die rhetorische Schlacht um den »zwanglosen Zwang[] des besseren Arguments« (Habermas 1981: S. 52f.) verzichtet, und dies oft genug im Zeichen plakativer Toleranz: Möge der andere seine Meinung behalten, so falsch sie auch ist. Die richtige Meinung überstrahlt sie – selbst dann, wenn sie nicht ausdiskutiert wird, sondern nur als innere Überzeugung im Spiel ist. Der individuell empfundene moralische Überlegenheitsgestus ist heute weniger vom Anprangern und von der Lust am rhetorischen Duell geprägt als von einem pazifistischen Stillschweigen. Illegale Drogen sind ein hervorragendes Beispiel dafür, dass es bei moralischen Divergenzen nicht um Vernunftargumente geht. Zwischen Affirmation und Ablehnung gibt es hier wenige Spielräume; belastbare Leitlinien oder unhinterfragbare Methoden der Operationalisierung sind nicht greifbar. Es lassen sich höchstens pseudo-objektive Instanzen instrumentalisieren. Als 49

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Religion im Gewand kirchlicher Institutionen gesellschaftlich noch von Bedeutung war, konnten bspw. Gott oder Götterfiguren (bzw. entsprechende Textstellenauslegungen) diese Rolle(-n) spielen. So legte sich Religion wie ein wärmender Mantel um die Schultern derer, die sich ideologisch entsprechend einzustellen wussten, und umgekehrt fanden die, die die Welt a priori im Lichte einer Religion betrachteten, in ihrem Glauben die notwendigen Werkzeuge, um richtig zu heißen, was sie als richtig zu verinnerlichen gelernt hatten. Those were the days. Dank einer beispiellosen Ausdifferenzierung ist die Konkurrenzsituation für religiöse Sinnofferten unüberschaubar geworden. Es »greift eine ›Selbstermächtigung‹ der religiösen Subjekte um sich, die sich unter dem Titel der ›Spiritualität‹ ihre Religion weitgehend unbeeinflusst von den Kirchen schaffen und eigene religiöse Formen finden« (Knoblauch 2017: S.  397). Demnach können Drogen brauchbare (und folglich legitimierte) Instrumente einer übersinnlichen Bewusstseinserfahrung sein, die nichts mit dem Klischee von der ›Rauschlust‹ zu tun hat. Man könnte in solchen Fällen von Rahmungen sprechen, die sich an das persönliche ›Bauchgefühl‹ anschmiegen. Zweifelnden bleibt die Freiheit, sich mit anderen zu beraten oder ›besseres Wissen‹ zu konsultieren – welches heute, auch dies ist Ausdifferenzierung, von Fachexpert*innen oder von Google stammen kann. Unter den Bedingungen moralischer Autonomie muss ebenfalls autonom entschieden werden, welche Fragen mit und welche ohne die Bezugnahme auf externe Sinn- und Deutungsangebote beantwortet werden. Soll ich die Beziehung beenden – oder der Sache noch eine Chance geben? Soll ich das Jobangebot annehmen? Soll ich diese Partei wählen oder doch jene? Soll ich abtreiben? Das Fallbeispiel in diesem Beitrag lautet: Soll ich es wagen, Drogen zu nehmen, oder es lieber bleiben lassen? Antworten finden sich zum Beispiel in Aufklärungspamphleten, die von staatlichen Institutionen ausgegeben werden; hier ist 50

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die bewahrpädagogische Tendenz mal mehr und mal weniger deutlich erkennbar. Umgekehrt gibt es aber auch affirmative Literatur, wie etwa von dem zum ›Drogenguru‹ gewordenen Psychologen Timothy Leary (1976). (Sein wichtigstes Buch stand in Deutschland jahrzehntelang auf dem Index.) Zwischen den Extremen bewegen sich Arbeiten, die – angesichts ihrer akademischen Einrahmung verständlich – aufklären, aber keine moralische Position einnehmen wollen (Werse 2008). Die Selbstverantwortung liegt demnach bei den Leser*innen. Im folgenden Abschnitt wird diesbezüglich eine theoretische Perspektive eingeführt.

Das Dilemma der Subjektivität In der soziologischen Reflexion werden moralische Fragestellungen nicht im Hinblick auf die ›richtig oder falsch‹-Überlegungen Einzelner und auch nicht bezogen auf Handlungskonsequenzen begutachtet (siehe aktuell Joller/Stanisavljevic 2019). Sie werden stattdessen, mit Nietzsche gesprochen, ›außermoralisch‹ betrachtet, also wertfrei, und hinsichtlich ihrer Funktion im Zusammenleben analysiert. Das war nicht immer so. In der Anfangszeit der Soziologie, vor allem bei Emile Durkheim (1988), war das Vertrauen in die gemeinschaftsstiftende Kraft der Moral noch groß. Durkheim vertrat die Ansicht, dass Moral jene Ressource ist, die die gesellschaftliche Ordnung aufrechterhält. Es sei nicht, wie man bei oberflächlicher Betrachtung meinen könnte, die Angst vor Strafe, die Menschen davon abhalte, gesetzliche Regelungen zu überschreiten. Vielmehr töten, stehlen, vergewaltigen und verletzen Menschen (zumindest die überwiegende Anzahl von ihnen) deshalb nicht, weil sie an die Notwendigkeit der moralischen Verfasstheit des Zusammenlebens glauben, so die Annahme Durkheims. Würden Beeinträchtigungen des Zusammenlebens nur deshalb unterdrückt, weil die Sanktionsandrohung einen das Fürchten lehrt, so wäre 51

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die Gemeinschaft schließlich nichts anderes als ein Rudel von Egoist*innen ohne Solidarität. Was sollte diese davon abhalten, die kodifizierten Mechanismen des Ordnungserhalts zu überschreiten, falls sich die Gelegenheit böte, unerkannt zu bleiben (dazu Duerr 1988-2005)? Moralisch agieren heißt, an Werten und Überzeugungen teilzuhaben, die man sich selbst nicht ausgesucht hat und die durchaus Nachteile mit sich bringen, die aber insgesamt selbst in den Augen ›rationaler Egoist*innen‹ die beste Option sind, weil sie den Geist der Gemeinschaft bewahren. Auf eine einfache Formel gebracht: Moralisch ist man nicht, weil man kann, sondern weil man will. Luhmann vertritt die entgegengesetzte Ansicht, dass Moral in funktional differenzierten Gesellschaften nicht mehr als ›Klebstoff‹ zu verstehen ist, der die Ordnung bewahrt. Ihr fehle es an verbindlicher Anschlussfähigkeit, insofern sei sie mittlerweile von »symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien« (Luhmann 1997: S.  316f.) wie Geld, Macht, Wahrheit und Liebe abgelöst worden. Gemeint ist sinngemäß, dass eine prall gefüllte Geldbörse eher dazu führt, dass Ziele umgesetzt werden können, als ein intaktes moralisches Bewusstsein. Das Geld spricht eine andere, heute eben effektivere Sprache als die Moral. Seine Wirkmacht gilt unbeschadet von den verschiedenartigen Haltungen derer, die es als Kommunikationsmittel benutzen. Auch die Durchsetzungskraft derer, die über Macht verfügen, wiegt schwerer als Moral, und wer wissenschaftlichen Wahrheitskriterien folgt, genießt mehr Vertrauen als Menschen, die stattdessen auf ihre moralische Integrität verweisen. Wen man liebt, der genießt ohnehin mehr Privilegien als ungeliebte, aber moralisch unverdächtige Mitmenschen usw. Luhmann stellt darauf ab, dass moderne Gesellschaften polykontextual geworden sind. Folglich gibt es mehrere nebeneinanderstehende, mitunter auch konkurrierende und sich widersprechende Haltungen. Die traditionelle Implikation von Moral 52

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ist nun aber, dass es inmitten der Möglichkeitenvielfalt des Handelns bestimmte richtige und sehr viele falsche Optionen gibt. Gemäß ihrer immanenten Argumentationsnatur ist Moral, die kommunikativ eingefordert wird, im Hinblick auf diese Richtigkeit von der Person festgelegt, die sie einfordert. Wäre es Teil des Diskurses, dass Moral nicht mehr in den fixen Schemata von richtig und falsch daherkäme, wäre sie bereits pluralisiert – und damit durch den Begriff der Meinung ersetzbar. Dann wäre die Einstellung zu Drogen eine privatmoralische, per se relativierbare Position. Ganz anders sehen dies sog. »Moralunternehmer« (vgl. schon Becker 1981), die als Propagandisten im Dienst einer persönlichen Werthaltung auftreten. Ihrer Ansicht nach gibt es weiterhin die eine richtige Haltung – neben vielen falschen. Selbst Akteure, die betonen, Toleranz, Vielfalt und liberale Werte zu vertreten, sind nicht davor gefeit, als »atypische« Moralunternehmer beobachtet zu werden (Scheerer 1986). Luhmann (2008: S. 371) spitzt die Debatte zu folgendem Befund zu: »Wer moralisiert, will verletzen.« Eine Kommunikation, die ausdrücklich im Zeichen der Moral steht, kann heute nämlich nur sehr bedingt als aufrichtige Handlungsempfehlung verstanden werden. Häufiger als um Unterstützung und Besserung (was selbstverständlich gleichsam die Autonomie des Handelns unterminiert) geht es um Vorwürfe, Angriffe und Abwertungen. Folglich liegt eine Art Dilemma der Subjektivität vor: Muss man ganz alleine entscheiden, welchen moralischen Regelwerken man folgt? Muss man sich gezielt von ›fremder Moral‹ abgrenzen? Muss man überhaupt moralisch sein – bzw. wäre die Zurückweisung moralischer Werte, z.B. im Sinne einer plakativen Gefolgschaft des außermoralischen Denkens, wie es Nietzsche thematisiert, nicht auch (und erst recht) moralisch? Womöglich ist ausdrückliches moralisches Bekennertum der Grund, weshalb in der subjektiven Betrachtung so viele Menschen ›falsche‹ Auffassungen zu vertreten scheinen. Ihnen 53

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fehlt, polemisch formuliert, offenbar die Orientierung, was im Ergebnis zu einem schädlichen Übermaß an autonomer Entscheidungskraft führt. Hätten sie doch, so der implizierte händeringende Appell, besser auf Leute gehört, die Ahnung haben, hätten sie sich doch besser informiert, mehr nachgedacht, wären sie doch gewissenhafter, menschlicher usw. Gerade Drogenkonsument*innen sind mit diesem Gegenwind häufig konfrontiert und haben folglich ein nachvollziehbares Interesse, sich dieser Kritik nicht aussetzen zu wollen. Diese Form der Moralkritik ist perspektivisch austauschbar: Das ›falsche Bewusstsein‹ der anderen, lokalisierbar auf der Bandbreite zwischen Irrtum und schmerzhafter Offensichtlichkeit, habe in Wahrheit ich selbst, wenn man meine moralischen Opponent*innen befragt. Einheitliche Moralvorstellungen mögen u.U. im sozialen Nahraum oder milieuspezifisch oder temporär in konkreten Interaktionsmomenten auffindbar sein, nicht aber auf einer stabilen gesamtgesellschaftlichen Grundlage. Ansonsten wäre die Entscheidung, Drogen zu testen bzw. regelmäßig zu konsumieren oder eben abstinent zu bleiben, von selbsterklärender Zwangsläufigkeit, und das ist offensichtlich nicht der Fall.

Soll man Drogen nehmen? Die beschriebene Perspektive sei nun an einem konkreten Gegenstand angewendet. Soll man nun also Drogen nehmen – oder nicht? Diese Entscheidung wird offenkundig subjektiv gefällt. Es handelt sich vermutlich in vielen Fällen nicht um eine Herausforderung, um die lange gerungen wird, sondern um eine spontane, von situativen Komponenten abhängige Entscheidung. Man kann dem »gesellschaftlichen Jedermann« (Berger/Luckmann 1992: S.  16) heutzutage unterstellen, die Verantwortung für das eigene Tun und damit für die Konsequenzen dieses Tuns selbstbewusst zu tragen. Damit ist gemeint, dass eigene Entscheidungen als Beleg der persönlichen 54

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Autonomie verstanden werden. Das Gegenteil wäre expressive Unmündigkeit, die zwar bspw. Kindern und Personen mit eingeschränkter Handlungsfähigkeit zugewiesen wird, die sich der durchschnittliche Alltagsakteur aber nicht selbst attestiert. Insofern darf weiterhin unterstellt werden, dass die möglichen Folgen von Drogenkonsum bekannt sind. (An dieser Stelle soll außer Acht bleiben, dass Drogen im Rahmen juristischer, medizinischer u.a. Konstruktionen vielschichtig definiert sind.) Eine kleine Auswahl möglicher Konsequenzen: Man könnte Gesundheitsschäden davontragen. Es könnte Ärger mit der Polizei geben. Man könnte in kriminelle Kreise geraten. Man könnte die Selbstkontrolle verlieren und Dinge tun, für die man sich im Nachhinein schämt – vor den Freund*innen, den Eltern, und/ oder vor sich selbst. Nun gibt es aber auch noch die andere Sichtweise. Sie stellt dem Abwehrimpetus der aufgelisteten Gegenargumente Facetten gegenüber, die auf andere Weise sinnhaft sind und somit ebenfalls Funktionen erfüllen. Man kann dank des Drogenkonsums ›mitreden‹. Man kann erfahren, wie es sich anfühlt, die Welt ganz anders wahrzunehmen. Man kann Grenzen überschreiten, etwas wagen, neue Möglichkeiten erleben und sich dabei im Einklang mit anderen wissen, die von ähnlichen Ideen angetrieben sind. Man kann sich damit beruhigen, dass die Dosis das Gift bestimmt, nicht der Stoff an sich. Man kann sich auf der Ebene der Psyche einer ›Subsinnwelt‹ hingeben, die Kreativität und Außeralltäglichkeit verheißt, wenn man denn (inter-) subjektiv die Entscheidung trifft, dass das ambivalente Kulturphänomen des Rausches (Benkel 2016) hier und jetzt zu einem selbst passt. Verantwortung ist eine Angelegenheit, der das soziale Umfeld Form gibt. Die Eltern und andere Agent*innen des »Erziehungssystems der Gesellschaft« (Luhmann 2002) sind üblicherweise daran interessiert, das Verantwortungsbewusstsein ihrer 55

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(minderjährigen) Kinder zu konturieren. Im Zusammenhang mit Drogenkonsum lassen sich vermutlich durchaus Eltern finden, die im Sinne einer offensiven Post-68er-Pädagogik ihren Kindern raten, Räusche auszutesten, etwa mit dem Argument, dass nur individuelle Erfahrungen einen dazu befähigen, Selbstverantwortung zu generieren. In dieser erzieherischen Haltung steckt nicht weniger Normativität als im Gegenkonzept, der bewahrpädagogischen Beschwörung, wonach man auf keinen Fall den Fehler machen solle, Drogen auszuprobieren. Den damit angeratenen Schutz vor Fehlern, Unglück, Schmerz und Sünde können Eltern entweder von eigenen Erfahrungen ableiten, sie können diesen Rat aber auch ausdrücklich unabhängig davon geben. Mithin kann Verantwortungserziehung also in einem sozialen Vakuum entworfen werden, weil sie auf Sachverhalte bezogen wird, die einem selbst fremd sind. Von Interesse sind solche gut gemeinten Tipps allenfalls dann, wenn der Ratschlag bei seinen Adressat*innen auf ein gegenteilig justiertes Interesse stößt. Dann nämlich ist die Empfehlung, Verantwortung durch vorsichtige Neugier bzw. durch Abstinenz performativ umzusetzen, nicht anschlussfähig. Die Abstinenzempfehlung gilt als besonders unbeliebt, schließlich liegt ihr der Gedanke zugrunde, dass die Ratschlag gebende Instanz besser Bescheid weiß, was für einen anderen Menschen richtig, gut und angemessen ist, als dieser Mensch selbst einschätzen kann. Die fremde moralische Haltung beinhaltet folglich den Diebstahl der individuellen Verantwortung. Ob dieser Verantwortungsdiebstahl auf der Handlungsebene faktisch relevant ist, tangiert den moralischen Anspruch letzten Endes kaum, schließlich kann jede Empfehlung – wie Luhmann betont – subjektiv bejaht oder verneint werden. Der Präsenz entsprechender Vorschläge tut dies, aller Polykontexturalität zum Trotz, keinen Abbruch.

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Den aufrichtigen Vorschlag, man möge die Finger (bzw. die Nasen oder Armbeugen) von den Drogen lassen, macht streng genommen bereits der Umstand hinfällig, dass über seine Relevanz bzw. Irrelevanz nicht objektiv entschieden werden kann. Um Luhmann zu paraphrasieren: Es bleibt unklar, ob die Unterscheidung zwischen richtig und falsch selbst zu Recht oder Unrecht getroffen wird. Der Vor- bzw. Ratschlag bringt noch eine weitere Konnotation ins Spiel: In der bewahrpädagogischen Empfehlung steckt offenkundig der Subtext angedrohter Enttäuschung. Wer nicht tut, was fraglos ›das Beste‹ ist, verletzt somit einen solidarischen, gemeinsam errichteten Pakt (hier: zwischen Eltern und Kindern). Schon deshalb sind Drogengeständnisse gegenüber familiären Abstinenzprediger*innen unangenehm. Zur (so konnotierten) Unmoral des Gesetzesbruchs (der noch dazu rechtliche Nebenfolgen haben kann) und zur Dummheit der Gesundheitsschädigung kommt noch die Unmoral der Ignoranz gegen die Handlungsempfehlung hinzu. Auf die Präventivmoral folgt nachträglich mitunter die symbolische Bestrafung in Form einer Moralpredigt. Eltern kann man sich nicht aussuchen, Freund*innen schon. Vielleicht ist der wahre Freund, die eigentlich unterstützende Kraft in Sachen Drogenkonsum ja jene Person, die einen ins sprichwörtliche ›offene Messer‹ laufen lässt, weil sie dadurch Autonomie ernst nimmt? Man könnte zumindest darüber streiten, ob hierin nicht eine ernsthafte Anerkennung von Selbstverantwortung steckt. Doch dieser Gedanke hebelt zugleich die Idee der Gemeinschaft aus, weil er Verantwortung auf radikale Weise individualisiert. Damit wird ein Problem tangiert, an dem die Soziologie seit jeher herumbastelt: am Verhältnis von Individualität und Kollektivität in einer Gesellschaft, die zwar Autonomie wertschätzt, nicht aber den Egoismus, und die Selbstverantwortung als erstrebenswert versteht, jedoch nicht von der Idee des harmonischen Miteinanders lassen will. 57

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Welche Faktoren die eigentlich entscheidenden sind, wenn es darum geht, sich für oder gegen Handlungen zu entscheiden, die sich ethisch nicht (mehr) nach einfachen Schwarz-WeißSchemata beschreiben lassen, lässt sich pauschal nicht (mehr) sagen. Das Falsche ist nicht immer falsch und das Richtige offenbar nicht immer richtig, sonst würden Verantwortungsentscheidungen nicht situativ neu ausgehandelt bzw. anders reflektiert werden. Entsprechende Debatten haben etwas Paradoxes; Paradoxien wiederum sind für Luhmann (1993) gewissermaßen Modernitätsmerkmale. Die involvierten Variablen sind so vielschichtig, dass auch Drogenkonsum nicht als Statement zur moralischen Akzeptanz von Drogen gelesen werden kann, sondern – so unbefriedigend dies als Ergebnis erscheinen mag – eher als Beweis für die Flexibilität moralischen Entscheidens in Abhängigkeit von zahlreichen, auch biografischen und psychologischen, Variablen. Mit Michel Foucault gesprochen plädiert die Wandelbarkeit der Identität, die man sich selbst zuschreibt, heute ohnehin gegen jegliche stabile (und damit auch repressive) »Moral des Personenstandes« (Foucault 1981: S. 30). Der Mensch ist durchaus in der Lage, etwas zu tun und zugleich von der Richtigkeit des Gegenteils überzeugt zu sein. Man darf in dieser Fähigkeit getrost einen Vorteil sehen.

Fazit Trägt das Individuum die Wucht der Verantwortung, die sich bei moralischen Konstellationen aufstauen kann, mittlerweile ganz alleine – umringt von einer Perspektivenvielfalt, die zwar Vorstellungen vermitteln, einem aber eben nicht die Verantwortung abnehmen kann, soll und will? Auf diese Frage gibt es eine eindeutige Antwort, nämlich die, dass eine eindeutige Antwort fehlt. Die Individualisierung und in ihrem Gefolge die Effekte für das Autonomie- und Verantwortungsgefühl des Subjekts bringen es mit sich, dass Einstellungen, die manche als Bürde 58

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oder Zwang verstehen, von anderen als Ausdruck von Freiheit gedeutet werden. Somit kann die Losgelöstheit von kollektiv getragener Handlungsmoralität als ein Mehr an Freiheit interpretiert werden oder eben, wenn man zu dieser Sichtweise neigt, als moralische Entwurzelung des Menschen auf dem Weg zur ethischen Heimatlosigkeit. Ganz im Sinne Luhmanns steht einem die Entscheidung, Moral so oder so zu beobachten, frei.

Zum Weiterlesen Benkel, Thorsten (Hg.) (2010): Das Frankfurter Bahnhofsviertel. Devianz im öffentlichen Raum. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Luhmann, Niklas (1996): Paradigm lost. Über die ethische Reflexion der Moral. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Lüschen, Günther (Hg.) (1998): Das Moralische in der Soziologie. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Literatur Becker, Howard (1981): Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens. Frankfurt a.M.: Fischer. Benkel, Thorsten (2016): »Die rationale Organisation von Entgrenzung.« In: Michael Schetsche/Renate-Berenike Schmidt (Hg.). Rausch – Trance – Ekstase. Zur Kultur psychischer Ausnahmezustände. Bielefeld: transcript, S. 109-130. Berger, Peter L./Luckmann, Thomas (1992): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt a.M.: Fischer. Duerr, Hans Peter (1988-2005): Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. 5 Bde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Durkheim, Emile (1988): Über soziale Arbeitsteilung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (1981): Archäologie des Wissens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Thorsten Benkel Habermas, Jürgen (1981): Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Joller, Stefan/Stanisavljevic, Marija (Hg.) (2019): Moralische Kollektive. Theoretische Grundlagen und empirische Einsichten. Wiesbaden: Springer VS. Knoblauch, Hubert (2017): Die kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit. Wiesbaden: Springer VS. Leary, Timothy (1976): Politik der Ekstase. Amsterdam: God’s Press. Luhmann, Niklas (1993): »Die Paradoxie des Entscheidens.« In: Verwaltungsarchiv 84, 3, S. 287-310. Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas (2002): Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas (2008): Die Moral der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Scheerer, Sebastian (1986): »Atypische Moralunternehmer.« In: Kriminologisches Journal, Beiheft 1, S. 133-156. Werse, Bernd (Hg.) (2008): Drogenmärkte. Strukturen und Szenen des Kleinhandels. Frankfurt a.M./New York: Campus.

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Strukturationstheorie: Die Rekrutierung von Geflüchteten Ausdruck von unternehmerischer Verantwortung oder ein Zeichen von gesellschaftlichen Machtverschiebungen? Martina Maletzky In den Jahren um 2015 war Deutschland das Ziel einer großen Zahl von Asylsuchenden. Im ersten Quartal 2016 wurden 61 Prozent aller Asyl-Erstbewerber*innen auf dem Boden der EU-Mitgliedstaaten in Deutschland registriert (Juran und Broer 2017) und führten dort zu Rekordzahlen (s. Statista 2020). Integration und v.a. Arbeitsmarktzugang werden dabei als eine wichtige Voraussetzung für die Reduktion fiskalischer Kosten und den sozialen Frieden gesehen (Bonin 2016). Hier liegt jedoch eine doppelte Benachteiligung vor, sowohl im Vergleich zu anderen Migrant*innen als auch zur einheimischen Bevölkerung (Cangiano 2012), ausgedrückt durch einen späteren Arbeitsmarkteintritt und durch schlechtere Arbeitsbedingungen als bei anderen Gruppen sowie durch das Arbeiten auf einem niedrigeren bzw. abgewerteten Qualifikations- und Lohnniveau (Salikutluk, Giesecke und Kroh 2016; Brücker, Hauptmann und Sirries 2017; Rump und Eilers 2017). Gleichzeitig leidet auch Deutschland wie viele andere Industrieländer unter den Folgen des anhaltenden demographischen Wandels, der teilweise mit einem massiven Fachkräftemangel einhergeht (Prognos 2015; Hülskamp 2008). Damit ist die Verfügbarkeit von Arbeitskräften begrenzt. Zuwanderung wird als eine Lösung des Problems propagiert. Dementsprechend, und vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Erwartungen, dass Unternehmen nicht zuletzt aus sozia61

Martina Maletzky

ler Verantwortung einen Beitrag zu Integration leisten sollten, entscheiden sich auch zunehmend mehr Unternehmen dazu, Geflüchtete einzustellen, vor allem im Kontext des Handwerks (Flake et al. 2017). Der vorliegende Beitrag stellt die These auf, dass die Einstellung von Geflüchteten weniger Ausdruck unternehmerischer Verantwortung ist, sondern eher von gesellschaftlichen Machtverschiebungen zeugt. Diese Frage soll hier basierend auf einer qualitativen Studie in Kooperation mit der Handwerkskammer Niederbayern/Oberpfalz, bei der u.a. regionale Handwerksbetriebe, Geflüchtete, Sozialarbeiter*innen und Berufschullehrer*innen zu Herausforderungen bzw. Maßnahmen der Integration von Geflüchteten in Handwerksberufe interviewt wurden, nachgegangen werden. Um der Frage nachzugehen, ob die Rekrutierung von Geflüchteten als Ausdruck unternehmerischer Verantwortung angesehen werden kann oder gegebenenfalls ein Zeichen von gesellschaftlichen Machtverschiebungen ist, wird auf die Strukturationstheorie von Anthony Giddens (1984) Bezug genommen. Die Strukturationstheorie bietet dabei den Vorteil, dass sie als Mikro-Makro-Link-Theorie eine Mehrebenenbetrachtung ermöglicht, die sowohl Akteursverhalten als auch gesellschaftliche Strukturen in den Blick nimmt, in ein rekursives Verhältnis setzt und somit auch komplexere Sachverhalte nachvollziehbar macht. Im Folgenden wird zunächst auf die Rekrutierung von Geflüchteten durch bayerische Handwerksbetriebe eingegangen. In einem weiteren Teil wird die Theorie dargestellt, um dann den vorliegenden Fall theoriegeleitet interpretieren zu können. Abschließend werden die Erkenntnisse im Rahmen eines Fazits reflektiert und kontextübergreifende Gedanken präsentiert.

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Strukturationstheorie: Die Rekrutierung von Geflüchteten

Rekrutierung von Geflüchteten durch bayerische Handwerksbetriebe Im Folgenden wird auf die Ergebnisse der oben genannten Studie eingegangen. Grundlage des vorliegenden Beitrags sind 39 Expert*inneninterviews mit Handwerksbetrieben in der Region Niederbayern/Oberpfalz sowie Homepageanalysen der 132 Industrie- und Handelskammern sowie Handwerkskammern in Deutschland. Im Kontext wirtschaftswissenschaftlicher Forschung werden nach Ortlieb und Sieben (2013: S. 490) vier Hauptgründe für die Einstellung ethnischer Minderheiten diskutiert. Zu nennen sind allgemeine Fachkompetenzen, die unabhängig von der Herkunft sind, Kompetenzen, die mit dem ethnischen Hintergrund in Zusammenhang stehen (Sprachkenntnisse, Wissen um eine bestimmte Kundengruppe etc.), die reine Arbeitskraft (z.B. Willen, wenig beliebte Arbeit zu schlechten Arbeitsbedingungen durchzuführen) sowie der reine ethnische Hintergrund, der als Symbol für Internationalität und Aufgeschlossenheit des Unternehmens gilt und damit für die Außendarstellung des Unternehmens förderlich sein kann. Vielfalt wird gerade im Bereich des Diversity Managements und der interkulturellen Öffnung als Ressource propagiert, die einen Wettbewerbsvorteil mit sich bringen kann (siehe z.B. die Website »Charta der Vielfalt«). Dieser Diskurs steht jedoch vor allem im Zusammenhang mit gesteuerter Zuwanderung. Diskurse um Geflüchtete sind stärker defizitorientiert, es wird auf mangelnde Ressourcen verwiesen. Die Anerkennung von Abschlüssen und Qualifikationen gestaltet sich vielfach als schwierig bzw. langwierig und führt bei der Einstellung von Geflüchteten zu einer Zurückhaltung auf Seiten der Unternehmen. Im politischen Diskurs sowie auf der Ebene von Verbänden wird jedoch zunehmend an unternehmerische Verantwortung appelliert. So schreibt die bayerische IHK beispielhaft: »Ganz im Sin63

Martina Maletzky

ne des Ehrbaren Kaufmanns stellen sich die bayerischen Unternehmen dieser verantwortungsvollen Herausforderung, indem sie Praktika, Ausbildungs- und Arbeitsplätze anbieten. Um diesen Prozess zu untermauern, haben die Bayerische Staatsregierung und die bayerische Wirtschaft im Herbst 2015 gemeinsam die Initiative ›Integration durch Ausbildung und Arbeit‹ (IHKIntegrationspakt Bayern) ins Leben gerufen.« (IHK – Industrieund Handelskammern in Bayern, 2020) Fragt man niederbayerische Handwerksbetriebe, warum sie Geflüchtete einstellen, zeigt sich in den zugrunde liegenden Interviews in Analogie zum Schema von Ortlieb und Sieben (2013) folgendes, gegensätzliches Bild: Als Hauptgrund für die interkulturelle Öffnung wird die Suche nach reiner Arbeitskraft aufgrund von Fachkräftemangel angegeben (28 von 30 Betrieben, keine Angabe: neun Betriebe). Zwei Betriebe geben altruistische Motive als alleinigen Grund an und zwei weitere als zusätzlichen Grund zu Fachkräftemangel. Dies steht nicht zuletzt auch mit der geringen Größe der betrachteten Handwerksbetriebe in Zusammenhang, bei der einerseits Corporate Social Responsibility als Mechanismus der Außendarstellung von geringer Wichtigkeit, aber auch die Problematik des Fachkräftemangels umso akuter ist. Fachliche oder kulturelle Kompetenzen spielen nach eigenen Angaben in keinem Fall eine Rolle. Dazu lässt sich das folgende Zitat eines Fliesenlegers exemplarisch heranziehen: »Ich habe jetzt seit den letzten Jahren – drei, vier Jahren – gesucht. Einen Auszubildenden – bekomme niemanden, bekomme keine«. Auch ein Bäckermeister erzählt von ähnlichen Problemen: »Mitarbeitermangel! Es gibt eigentlich keine deutschen Lehrlinge mehr. Im Bäckerhandwerk sowieso. Ist ganz schwierig.« Altruistische Motive sind in dem hier vorliegenden Sample eher von untergeordneter Wichtigkeit für den Erstkontakt oder den Grund der Rekrutierung. Vier Interviewpartner geben neben Fachkräftemangel auch andere Motive für die Ein64

Strukturationstheorie: Die Rekrutierung von Geflüchteten

stellung von Geflüchteten an. Dabei war jedoch meist der Fachkräftemangel der ausschlaggebende Grund, einem Geflüchteten eine Praktikantenstelle anzubieten. In der darauffolgenden Zeit ergaben sich jedoch Probleme, die zur Aktivierung zusätzlicher, altruistischer Verhaltensweisen beitrugen. So führten drohende Abschiebungen in einigen Fällen zu einem Ausbildungsvertrag, der die »Drei-plus-Zwei«-Regelung in Gang setzen sollte oder zu Extrarollenverhalten der Arbeitgeber, also zu Verhaltensweisen, die stark über das hinausgehen, was die Rolle eines Vorgesetzten normalerweise vorsieht. Die »Drei-plus-Zwei«-Regelung beinhaltet einen Abschiebeschutz für Geflüchtete, die in der Ausbildung sind. So wird i.d.R. ein Aufenthalt für die drei Jahre Ausbildungszeit plus zwei Folgejahre gestattet (BMAS – Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2016) . Alle Interviewpartner*innen berichten von einem engen Verhältnis zu den geflüchteten Mitarbeiter*innen. Einige Betriebe stellen Fahrdienste zur Verfügung, um die Unwegsamkeiten der Residenzpflicht von Geflüchteten zu minimieren, bieten Begleitung bei Behördengängen, Finanzierung des Führerscheins, Unterstützung bei rechtlichen Problemen an, sind Ansprechpartner für private Sorgen sowie Ersatz für elterliche Fürsorge. So betont einer der Interviewpartner: »Er sitzt bei uns auch am Mittagstisch, ja, weil ich habe das Haus eigentlich daneben. Das war natürlich auch ein Grund. […] Die Familie unterstützt ihn in den Sachen genauso, also meine zwei Töchter und Frau, die helfen natürlich auch mit.« Ein anderer beschreibt seine Rolle als Ansprechpartner für alle Fälle: »Aber wenn der was hat, egal beruflich oder privat, da kann er immer zu mir kommen und ich helfe ihm. Haben wir schon gehabt die Situationen, ne, wo wir gesagt haben: ›Mensch, zu Hause läuft es nicht‹, oder was, haben wir uns halt mal kurz zusammengesetzt.«

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Strukturationstheorie Die Strukturationstheorie wurde von Anthony Giddens als allgemeine Gesellschaftstheorie entwickelt. Sie befasst sich mit der übergreifenden Frage, was soziale Systeme stabil hält oder zu einer Veränderung ihrer sozialen Strukturen führt. Diese (Re-) Produktion sozialer Systeme nennt Giddens Strukturierung, die er als »conditions governing the continuity or transformation of structures, and therefore the reproduction of systems« (Giddens 1979: S. 66) beschreibt. Die Mechanismen der Reproduktion oder Transformation sozialer Systeme sind die sog. »Modalitäten der Strukturierung« (Gidden 1979: S. 82f.). Strukturierung findet dabei während der Interaktion statt: Die Akteure beziehen sich in der Interaktion auf soziale Strukturen und reproduzieren oder verändern diese, indem sie sie dauerhaft nicht reproduzieren. Soziale Strukturen und Interaktion sind dabei nach Giddens zwei Seiten einer Medaille: »The modalities of interaction are drawn upon by actors in the production of interaction, but at the same time are the media of the reproduction of structural components of systems of interaction.« (Giddens 1979: S. 81) Soziale Systeme werden über Institutionen, die Sinnstrukturen (Signifikation), Machtverhältnisse und Legitimationsstrukturen beinhalten, konstant gehalten. Diese drücken sich in der Interaktion über Kommunikation, Machtausübung und normative Sanktionierung aus. In der Interaktion beziehen sich die Akteure auf die sog. Modalitäten, die dem Handeln Sinn und durch Normen eine Orientierung geben sowie Gelegenheitsstrukturen eröffnen. Soziale Strukturen werden von mächtigen Akteuren durch normative Sanktionierung konstant gehalten. Veränderungen in den Sinnstrukturen sowie Zugang zu relevanten Machtressourcen können die normative Sanktionierung jedoch unterlaufen und zu einer Transformation von sozialen Strukturen führen. Wird also eine theoretisch existente Regel im Alltag kon66

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stant ignoriert und dieses Verhalten nicht sanktioniert, können sich neue institutionalisierte Verhaltensweisen herausbilden. Machtressourcen ermöglichen unter bestimmten Bedingungen Resistenz gegen Sanktionen oder die direkte Transformation von Regeln durch Zwang. Soziale Strukturen und Interaktion stehen also in einem rekursiven Verhältnis zueinander. Akteure können somit Strukturen reproduzieren oder transformieren. Hier wendet sich Giddens gegen Annahmen des Strukturalismus, der Akteure als von Strukturen determiniert beschreibt. Er grenzt sich aber auch von mikrosoziologischen Theorien ab, die dem Akteur seines Erachtens zu viel Raum einräumen. Regeln und soziale Strukturen ermöglichen und beschränken das Handeln der Akteure, determinieren es aber nicht vollends. Somit können Dynamiken von Sozialsystemen nachvollziehbar gemacht werden, aber auch erklärt werden, was diese konstant hält.

Strukturationstheoretische Betrachtung der Rekrutierung von Geflüchteten durch niederbayerische Handwerksbetriebe Betrachtet man die Ergebnisse der Interviews aus der gesellschaftlichen Perspektive der Strukturationstheorie, wird deutlich, dass die Rekrutierung eher auf Fachkräftemangel zurückzuführen ist, die zu einer Machtverschiebung zugunsten der Geflüchteten führt, als auf unternehmerische Verantwortung. Die Machtverschiebungen stehen in einem engen Zusammenhang mit einer positiven Rekodierung der Sinn- und Legitimationsstrukturen bezüglich der Gruppe der Geflüchteten als Arbeitnehmer*innen. 79 Prozent der 2018 in der Bundesagentur für Arbeit ausgeschriebenen Stellen waren in sog. Engpassberufen ausgeschrieben. Vor allem das Handwerk leidet unter einer zunehmend angespannten Lage (Bundesagentur für Arbeit 2018). Das führt 67

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zur Notwendigkeit der Öffnung für neue Mitarbeitergruppen, die ansonsten in Kontexten hoher Konkurrenz eher benachteiligt sind. Fehlende Arbeitskräfte scheinen zu einer Legitimation von Geflüchteten als Mitarbeiter*innen zu führen: Geflüchtete und deren Potentiale werden im politischen Diskurs zunehmend betont. So schreibt das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie: »Es ist demnach entscheidend, aktiv gegenzusteuern, um mit einer starken Fachkräftebasis auch die zukünftigen Anforderungen stemmen zu können. […] Zum einen will die Bundesregierung die Erwerbsbeteiligung steigern und Frauen sowie ältere Personen noch stärker in das Erwerbsleben einbinden. Zum anderen will sie die Zuwanderung von Fachkräften aus dem Ausland fördern und auch das Potenzial der Geflüchteten nutzen, indem diese gezielt in den Arbeitsmarkt integriert werden.« (BMWi – Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, 2020) In vielen Bereichen werden Best Practices präsentiert, die eine Sensibilisierung für das Potential von Geflüchteten in Gang setzen und zu einer Rekodierung existenter Sinnstrukturen (z.B. Geflüchtete als Bürde des Sozialsystems) führen sollen. So hat das Handwerk den Leitspruch: »Im Handwerk zählt nicht, wo man herkommt, sondern nur, wo man hin will!« etabliert. Gezielt wird für die Einstellung von Geflüchteten geworben und Willkommenslotsen, Kümmerer oder sonstige Mitarbeiter*innen sind für die erfolgreiche Vermittlung zuständig. Kammern betreiben aktiv Aufklärungsarbeit und verbreiten Erfolgsgeschichten, die als cognitive institutional work (Lawrence und Suddaby 2006) angesehen werden können, also die Beeinflussung kognitiver Institutionen bzw. von Sinnstrukturen. In der Deutschen Handwerkszeitung gibt es dementsprechend regelmäßig Beiträge zu positiven Beispielen und Erfahrungsberichten. So schreibt sie am 13.03.2020: »Ex-Flüchtling ist Deutschlands bester Glaser« und beschreibt den Weg eines Syrers im Glaserhandwerk: »Alhanafi hat eine Sprachschule und 68

Strukturationstheorie: Die Rekrutierung von Geflüchteten

die Abendhauptschule besucht, bevor er über einen Bekannten an seinen Ausbildungsbetrieb, Bühlmaier Fensterbau GmbH in Leinzell, vermittelt wurde. Anfangs gab es natürlich sprachliche Hürden. Aber Abdulkeriem hat von Beginn an großen Willen und Engagement gezeigt, hatte ein gutes Verständnis und eine hohe Auffassungsgabe. ›Seine Entwicklung verlief dann steil nach oben‹, lobt sein Chef Hans-Georg Bühlmaier. Alhanafi ist kein Einzelfall. 60 Prozent der Geflüchteten bestehen die Prüfungen am Ende der dualen, handwerklichen Ausbildung. Sie sind dann Fachkräfte, die in den regionalen Handwerksbetrieben die Aufträge der Kunden abarbeiten.« (Schaible 2020) Best Practices heben dabei das Potenzial von Geflüchteten als Humanressource hervor. Diese ressourcenorientierte Sinnstruktur sowie der Mangel an Bewerber*innen in verschiedenen Bereichen des Handwerks scheinen zu einer Aufwertung der Ressourcen von Geflüchteten zu führen. Reine Arbeitskraft und vor allem Arbeitswille, die in Zeiten großer Bewerberpools eher eine Selbstverständlichkeit sind, werden nun als relevante Ressource durch alle interviewten Arbeitgeber*innen betont: »Er selbst ist da von der Einstellung her, super Kerl, arbeitswillig, lernbereit. Ist lediglich halt einfach die deutsche Sprache und speziell der Oberpfälzer Dialekt der natürlich unter Umständen Schwierigkeiten bereitet. […] Ich sage es mal so, ich habe auch die letzten Jahre einige deutsche Lehrlinge eingestellt, die weitaus unmotivierter waren als er.« Soziale Kompetenzen werden vielfach als förderlich hervorgehoben und eine starke Beziehungsorientierung syrischer und afghanischer Geflüchteter als vorteilhaft betont. Analog zur Kontakthypothese (Allport 1954) scheint auf der Mikroebene die Chance des Miteinander-inKontakt-Kommens, die durch den Fachkräftemangel gefördert wird, positive Spill-Over-Effekte anzustoßen, die letzten Endes zu altruistischem und Extrarollenverhalten sowie einer positiven gegenseitigen Wahrnehmung führen. Dies scheint auf eine 69

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Dekategorisierung zurückführbar zu sein, bei der »Mitglieder einer sozialen Kategorie als einzigartige Individuen anstelle als Repräsentanten einer (möglicherweise negativ) stereotypisierten Gruppe gesehen werden« (Otten und Matschke 2008, S. 294). Alle Interviewpartner*innen lehnen pauschale Aussagen über Kulturzugehörigkeiten ab und zeichnen ein sehr differenziertes Bild ihrer Mitarbeiter*innen.

Fazit Die Einstellung von Geflüchteten wird oftmals als Ausdruck unternehmerischer Verantwortung dargestellt. Dabei hat sich gezeigt, dass der Wille zur Einstellung von Geflüchteten im vorliegenden Sample lediglich sekundär durch altruistische Gründe bzw. den Rückbezug auf unternehmerische Verantwortung erklärbar ist. Die vorgefundenen altruistischen Verhaltensweisen, also das stark ausgeprägte Extrarollenverhalten, scheinen das Nebenprodukt der Machtverschiebung im Kontext der Handwerksberufe, nämlich des hohen Stellenwerts der knappen Ressource ›Arbeitskraft‹, zu sein. Dieser Fakt erhöht analog zur Labour-Queue-Theorie (Thurow 1975) die Einstellungschancen für die ansonsten am Arbeitsmarkt benachteiligte Gruppe der Geflüchteten innerhalb des begrenzten Kontextes bestimmter Handwerksberufe. Fachkräftemangel scheint sich positiv auf den Willen zum Erstkontakt und der Öffnung für bislang wenig präsente Arbeitnehmergruppen auszuwirken. Er stellt eine Chance dar, in aggregierter Form durch die Verbreitung von Best Practices und durch aggregierte Dekategorisierungsprozesse auch auf die Makroebene (Sinnstrukturen) zurück und im Idealfall auch in andere Bereiche hineinzuwirken. Positive Erfahrungen im Handwerk können dabei als Beispiel für andere Bereiche dienen. Wie die Labour-Queue-Theorie jedoch besagt, findet eine Öffnung für Minderheiten vorrangig in Bereichen statt, die von der Mehrheit abgewertet worden sind, sodass eine 70

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flächendeckende Veränderung der Ungleichheitsstrukturen auf dem Arbeitsmarkt nicht zu erwarten ist. Im Hinblick auf das Thema (unternehmerische) Verantwortung lässt sich ableiten, dass im ökonomischen Kontext, wo Kapitalakkumulation ein genuines Ziel ist, unternehmerische Bedürfnisse stark handlungsleitend sind. Wie sich in den Daten jedoch zeigt, scheint der quasi erzwungene Erstkontakt positive Nebeneffekte in Gang zu setzen, die dann zu einem überdurchschnittlichen Maß an unternehmerischer und persönlicher Verantwortung führen. Exogene Einflüsse können dann zu einem positiven Effekt führen. So bedarf es gegebenenfalls auch in anderen Bereichen zunächst einer mehr oder weniger erzwungenen Auseinandersetzung mit den Verantwortungsbereichen, um in einem zweiten Schritt ein hohes Maß an intrinsischer Motivation zur Verantwortungsübernahme zu generieren. Mein Dank gilt Frau Sedlmaier und Frau Schaarschmidt für ihre Unterstützung bei der Durchführung des Projektes sowie den beteiligten Betrieben und den Studierenden des Projektseminars »Studieren und Engagieren« sowie Franziska Bleher, Anas Al Hashmi und Laura Schmidt.

Zum Weiterlesen BICC Working Paper 11/2017. Verfügbar unter: https://www.bicc.de/ publications/publicationpage/publication/capitalising-on-asy​ lum-the-reconfiguration-of-refugees-access-to-local-fields-oflabour-in-ge/ (zuletzt abgerufen am 24.03.2020) Etzold, Benjamin (2017): Capitalising on Asylum. The Reconfiguration of Refugees’ Access to Local Fields of Labour in Germany. Maletzky, Martina (2013): »Die Generierung von Interkultur – eine strukturationstheoretische Betrachtung«. In: Alois Moosmüller (Hg.). Interkulturalität und kulturelle Diversität (Münchener

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Sozialkonstruktivistische Außenpolitikforschung Welche Verantwortung? Die deutsche Außenpolitik und die Waffenlieferungen an die Peschmerga Bernhard Stahl ›Verantwortung‹ ist in der Politik ein großes Wort, denn es impliziert nicht nur eine Haltung, sondern auch die Bereitschaft zu handeln. An genau diese Bereitschaft hatte Bundespräsident Joachim Gauck appelliert, als er die deutsche politische Elite in einer Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Januar 2014 an ihre Verantwortung in der Außenpolitik erinnerte: »Denn wir Deutschen sind auf dem Weg zu einer Form von Verantwortung, die wir noch wenig eingeübt haben. […] Nun vermuten manche in meinem Land im Begriff der ›internationalen Verantwortung‹ ein Codewort. Es verschleiere, worum es in Wahrheit gehe. Deutschland solle mehr zahlen, so meinen die einen, Deutschland solle mehr schießen, so sagen die anderen. Und die einen wie die anderen sind davon überzeugt, dass ›mehr Verantwortung‹ vor allem mehr Ärger bedeute. Es wird Sie nicht überraschen: Ich sehe das anders.« (Gauck, 31.01.2014) Diese Rede, die vom damaligen Außenminister Steinmeier und der damaligen Verteidigungsministerin von der Leyen sekundiert worden war, blieb nicht folgenlos: Noch im Spätsommer 2014 erklärte die Bundesregierung, Waffen an die kurdischen Peschmerga im Irak zu liefern – die ersten Waffenlieferungen außerhalb des Bündnisses an eine aktive Kriegspartei seit dem 75

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Zweiten Weltkrieg. Dies ist sehr bemerkenswert, denn einer Umfrage der Körber-Stiftung im Auftrag des Auswärtigen Amtes zufolge ist in der deutschen Bevölkerung die Bereitschaft internationaler Verantwortungsübernahme in weltpolitischen Krisen zwischen 1994 und 2014 von 62 Prozent auf 37 Prozent zurückgegangen (AA 2015: S. 26). In der gleichen Umfrage hatten die Bundesbürger*innen Waffenlieferungen selbst an verbündete Staaten mit 82 Prozent zu 13 Prozent eine klare Absage erteilt (AA 2015: S. 11). Wie konnte der Begriff ›Verantwortung‹ trotzdem handlungsleitend werden? Die These, die in diesem kurzen Beitrag entwickelt wird, ist, dass der Erfolg des Begriffs in seiner Vielschichtigkeit liegt. Unter ›Verantwortung‹ verstehen die Mitglieder der politischen Elite sehr Verschiedenes. Diese verschiedenen Aufladungen des Verantwortungsbegriffs sollen mit Bezug auf die Debatte um Waffenlieferungen an die kurdischen Peschmerga benannt werden. Dies gelingt aus der hier gewählten theoretischen Perspektive der sozialkonstruktivistischen Außenpolitikforschung, die im Folgenden einführend erläutert wird (vgl. ausführlicher: Stahl und Harnisch 2009; Stahl 2017). Im daran anschließenden empirischen Teil wird deutlich, dass drei Aufladungen des Verantwortungsbegriffs für die Begründung von Waffenlieferungen herangezogen wurden, sich aber auch eine Aufladung des Verantwortungsbegriffs herausdestillieren lässt, die in den Argumenten gegen Waffenlieferungen Verwendung fand. Nach diesen vier verschiedenen Verständnissen von Verantwortung gliedert sich auch die folgende empirische Analyse. Ein Fazit schließt die Überlegungen ab.

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Sozialkonstruktivistische Außenpolitikforschung

Sozialkonstruktivistische Außenpolitikforschung: Diskursgebundene Identitätstheorie Die Diskursgebundene Identitätstheorie gehört zu den sozietalen (d.h. gesellschaftsbezogenen) sozialkonstruktivistischen Theorien in den Internationalen Beziehungen im Allgemeinen und der Außenpolitikforschung im Besonderen: Nicht das internationale System oder die Persönlichkeit einzelner Politiker*innen, sondern die Gesellschaft prägt die Außenpolitik eines Landes. Dabei geht es der Theorie nicht darum, einzelne Entscheidungen zu erklären. Vielmehr setzt sie an der Annahme an, dass in Demokratien Entscheidungen angemessen legitimiert werden müssen, um Dauerhaftigkeit und Nachvollziehbarkeit zu gewährleisten. Die Entscheider, aber auch alle übrigen Träger einer politischen Entscheidung, müssen also gute Gründe finden, wenn sie einen Außenpolitikwandel initiieren möchten. Vormals gültige ›diskurshegemoniale‹ Argumentationsmuster sollen hinterfragt und herausgefordert werden, um neue Begründungen zu etablieren. Ziel einer solchen ›Diskursoffensive‹ ist es, neue Argumente zu finden, bekannte Legitimationen neu zu verknüpfen oder gar Referenzen zu historisch bekannten, aber untergegangenen Argumentationsmustern herzustellen. Ist eine Diskurshegemonie erreicht, wird die operative Außenpolitik wenig befragt, sie kann gar als ›alternativlos‹ dargestellt werden und sichert politische Entscheidungen, die im Rahmen der erlaubten Diskurshegemonie getroffen werden, ab. Darüber hinaus kann auf Basis einer stabilen Diskurshegemonie auch die Vergangenheit durch Erinnerungs- und Geschichtspolitik gestaltet werden. Der Schatz, aus dem Argumente geschöpft werden können, ist dabei nicht unendlich. Um mit Argumenten große Resonanz zu erzielen, erweisen sich nur solche Argumente als erfolgversprechend, die der Gesellschaft – etwa aus wichtigen vergange77

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nen Debatten – bekannt sind. Solche letztbegründenden Argumente mit Bezug zum kollektiven Selbst (in Europa häufig die Nation) sind für Deutschland etwa ›die deutsche Frage‹, ›das europäische Deutschland‹, ›Deutschland als Teil des Westens‹ oder eben ›das verantwortungsbewusste Deutschland‹. Wenn Politiker*innen in Debatten (›Diskursträger‹) an diese Letztbegründungen (›Identitätselemente‹) anknüpfen, haben ihre Argumente eine große Chance, Resonanz in der Gesellschaft zu erzielen. Analysiert man außenpolitische Debatten über Jahrzehnte hinweg, lassen sich die Identitätselemente, Argumentationsmuster und auch politische Handlungsempfehlungen clustern, sodass diskursive Lager entstehen (›Diskursformationen‹). In vielen Ländern (z.B. in Spanien) entsprechen die außenpolitischen Diskursformationen den Parteien, doch ist dies in Deutschland nicht der Fall. Beispielsweise werden Argumente der ›pazifistischen Diskursformation‹, die auf die Wiederbewaffnungsdebatte in den 1950ern zurückgeht, von der LINKEN, den Grünen, Teilen der SPD und – seit dem Libyen-Diskurs 2011 – auch von Diskursträgern der CDU/CSU und FDP benutzt. In dem erwähnten Libyen-Fall hatte sich die pazifistische Diskursformation noch durchsetzen können, deutsche Verantwortung hatte bedeutet, sich nicht an der humanitären Intervention zu beteiligen. Diese Debatte bildet den diskursiven Hintergrund für die Diskursoffensive Gaucks drei Jahre später, die im Diskurs über Waffenlieferungen an die Peschmerga mündete: Eine neue Diskurshegemonie sollte etabliert, neue außenpolitische Verhaltensweisen (i.e. Waffenlieferungen in Kriegsgebiete) somit möglich werden.

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Der Fall: Der Diskurs um Waffenlieferungen an die Peschmerga Die Entscheidung der deutschen Bundesregierung vom August 2014, Waffen an die Peschmerga zu liefern, musste vor dem Hintergrund der deutschen Syrien-Politik überraschen, hatte doch die Regierung jegliches militärische Eingreifen des Westens von Beginn an abgelehnt. Die sich andeutende deutsche diskursive Wende geschah vor dem Hintergrund der raschen Eroberung von weiten Teilen des Irak durch den Islamischen Staat (IS). Am 29.06.2014 hatte der IS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi in der eroberten Millionenstadt Mossul ein Kalifat ausgerufen (Die Zeit, 29.06.2014). In den folgenden Wochen flohen tausende Angehörige religiöser Minderheiten vor dem IS in den von Kurden kontrollierten Nordirak. Die kurdischen Einheiten (Peschmerga und vor allem die PKK) erwiesen sich als zuverlässiger im Kampf gegen den IS als die irakische Armee und ermöglichten einem Teil der fliehenden Jesiden, die die Mehrheit der Flüchtenden darstellten, in das Sindschar-Gebirge zu entkommen. Angesichts dieser Situation und nach Berichten über Massenhinrichtungen und Vergewaltigungen durch den IS wurde innerhalb der Europäischen Union über ein gemeinsames außenpolitisches Vorgehen diskutiert. Ende August beschloss die Bundesregierung die Bereitstellung von Hilfsleistungen, nicht-letaler Ausrüstung sowie die Lieferung von Waffen und Munition an die Peschmerga (AA 2014). Um die Debatte zu analysieren, wurden alle Sprecher*innen und Erklärungen der Bundestagsdebatte vom 01.09.2014 untersucht und darüber hinaus solche Statements und Reden von gesellschaftlichen Akteuren (DGB, Kirchen) einbezogen, die einen engen zeitlichen und thematischen Bezug zur Bundestagsdebatte aufweisen. In der Qualitativen Diskursanalyse werden vor allem die typischen Argumente herausgestellt, selbst wenn sie nicht von der Regierungsspitze stammen. In Klammern werden 79

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die Namen all derjenigen Politiker*innen genannt, die diesem Argument im Prinzip folgen, was bereits Rückschlüsse auf die Stärke des Arguments erlaubt. Im Folgenden erfolgt die empirische Analyse auf Basis der theoretischen Grundlagen, wobei nach den vier Verständnissen von ›Verantwortung‹ gegliedert wird.

A) Verantwortung als multilaterales Handeln mit den westlichen Partnern Ein erstes Verständnis von Verantwortung spricht ein klassisches Motiv von Debatten zu Militärinterventionen an. Die Regierungsvertreter*innen betonten sämtlich in der Begründung für die Waffenlieferungen, dass dies in enger Abstimmung mit den westlichen Partnern in EU und NATO geschehen sei (Merkel 05.09.2014; Steinmeier 20.08.2014; von der Leyen 21.08.2014; Oppermann 01.09.2014; auch: Brok 13.08.2014): »Es gibt also keinen deutschen Sonderweg«, hoben Außenminister und Verteidigungsministerin in einem gemeinsamen Statement hervor und nahmen damit auf ein traditionelles Argument der Bündnisloyalität und -solidarität Bezug (Steinmeier und von der Leyen 31.08.2014). In den Äußerungen der Verteidigungsministerin wird ein weiterer, machtpolitischer Grund offenbar: »Wenn ich sage, Gleichgültigkeit ist keine Option, meine ich: Wer sich raushält, hat keinen Einfluss. Wir wollen keine nationalen Alleingänge starten. Aber wir wollen innerhalb der Bündnisse – der EU, der Nato – mehr Verantwortung übernehmen, den deutschen Dreiklang von Diplomatie, wirtschaftlicher Zusammenarbeit und Sicherheit einbringen.« (von der Leyen 21.08.2014) Dabei ging die Verteidigungsministerin davon aus, dass dies in der Tat »innenpolitisch schmerzhafte und dilemmareiche 80

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Debatten« (von der Leyen, 21.08.2014) auslösen würde. Sie seien aber nötig, denn die »Partner erwarten, dass wir uns ohne Schere im Kopf beteiligen«. Die Vertreter*innen der Bundesregierung vollziehen mit der rhetorischen Annäherung an die westlichen Verbündeten eine Kehrtwende im Vergleich zur Libyen-Intervention, als Diskursträger der Regierung Merkel/Westerwelle wie auch der Parlamentsfraktionen nicht bedenkenlos den Verbündeten folgen mochten, die anrüchigen Motive der Verbündeten beklagt und neue Alliierte in der Sache gesucht hatten (Stahl 2012: 589-592). Die Kehrtwende zugunsten von Waffenlieferungen im Rahmen der Bündnisloyalität und europäischen Solidarität knüpft vielmehr an Argumente an, wie sie während der Jugoslawien-Kriege in den 1990ern eingeführt worden waren.

B) Verantwortung als Handeln im nationalen Interesse Ein zweites Verständnis, Verantwortung im Sinne einer Wahrnehmung des nationalen Interesses, konstruiert eine Bedrohungslage für Deutschland, weswegen Waffenlieferungen ein adäquates Mittel seien, dieser Bedrohung zu begegnen. Hatte in der Libyen-Debatte 2011 noch die Angst um eine Destabilisierung der Region die deutsche Nicht-Beteiligung an der Einrichtung der Flugverbotszone begründet, so diente das gleiche Argument nun zur Begründung der Waffenlieferungen. Der Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag, Thomas Oppermann, führte aus: »Wenn ISIS jetzt auch noch Jordanien und den Libanon, wohin sich Millionen Flüchtlinge aus dem syrischen Bürgerkrieg gerettet haben, angreift und destabilisiert, dann brennt eine ganze Region, dann droht eine humanitäre Katastrophe ungekannten Ausmaßes. Ich finde, in einer solchen Situation nur passiv zuzuschauen und anderen die Verantwortung zu überlassen, das 81

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wäre nicht angemessen. […] Schon jetzt beteiligen sich mehrere Hundert deutsche Dschihadisten an den Massakern. Wenn sie zurückkommen, dann drohen Terroranschläge auch in Deutschland« (Oppermann 01.09.2014; auch: Merkel 01.09.2014; Arnold 01.09.2014). Die Destabilisierung durch den IS – nach über drei Jahren blutigem Bürgerkrieg in Syrien – tangiert nun deutsche Sicherheitsinteressen. Auch die Rekrutierung deutscher Dschihadist*innen »liegt in unserem Verantwortungsbereich« (Merkel 01.09.2014), weswegen gehandelt werden müsse. Ein zweites Argument, das sowohl im Irak- als auch im Libyen-Diskurs verwendet wurde, um ein Nicht-Folgen zu begründen, bezieht sich auf die Reife und Größe Deutschlands nach der Vereinigung. Hatten Gerhard Schröder und Franz Müntefering 2002 zur Begründung des »doppelten Neins« zur Irak-Intervention noch auf das Selbstbewusstsein einer erwachsenen Nation abgestellt, so gebiete es nun die neue Rolle Deutschlands in Europa, durch Waffenlieferungen aktiv zu werden: »Es ist ein Missverständnis, dass Deutschland nach einem ›größeren Gewicht‹ sucht. Mein Befund ist, dass wir wegen unserer wirtschaftlichen Größe und Stärke, unserer Lage im Herzen Europas und unserer außerordentlich großen politischen Stabilität auch in Krisenzeiten vielleicht mehr politisches Gewicht haben als jemals zuvor in den letzten Jahrzehnten – ob wir das wollen oder nicht. […] Es gibt 25 Jahre nach der deutschen Einheit keine deutsche Sonderrolle mehr, hinter der wir uns verstecken könnten. […] Von uns wird erwartet, dass wir unserer Verantwortung gerecht werden.« (Steinmeier 23.08.2014) Würde Deutschland die Risiken nicht in Kauf nehmen, so ein ergänzendes Argument, würde die Glaubwürdigkeit der Politik be82

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lastet, »wenn wir unsere Verantwortung verweigern« (Heinrich 01.09.2014). Heinrichs CDU-Parteifreund Wellmann (11.08.2014) ergänzte: »Wir sind in einer Situation, die für Deutschland allmählich peinlich wird. Wir liefern ein paar Zelte und legen noch ein paar Millionen drauf. Das geht nicht, das ist zu wenig.« Dass mit Oppermanns obiger Argumentation auch gegenteilige Handlungsempfehlungen begründet werden können, zeigen die Äußerungen des Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses, Norbert Röttgen, der SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi sowie des Ministers für Entwicklungszusammenarbeit, Gert Müller (CSU), von Mitte August, als sie Waffenlieferungen mit Blick auf die unübersichtliche Situation in der Region noch eine Abfuhr erteilt hatten (Müller 14.08.2014; Woldin 11.08.2014). Die Gefahr einer Eskalation über die Türkei sahen auch Skeptiker*innen aus den Reihen der SPD, die deshalb dem Entschließungsantrag der Koalition nicht zustimmen mochten (Post und Tausend 01.09.2014). Diejenigen im linken Spektrum, die Waffenlieferungen an die Kurden grundsätzlich für möglich hielten, befürchteten Ähnliches: »Wer heute Raketen an kurdische Truppen liefert, riskiert sehenden Auges, dass diese Waffen bei den Dschihadisten oder möglicherweise bei dem IS landen. Deswegen frage ich Sie: Können Sie überhaupt diese Verantwortung übernehmen, können Sie überhaupt die Waffenströme kontrollieren? Ich glaube nicht« (Jelpke 01.09.2014; auch: Scheer 01.09.2014; Kiziltepe 01.09.2014; Göring-Eckardt 20.11.2014; Bündnis90/Die Grünen 2014). Auch der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek, befürchtete, dass die Waffen in die falschen Hände gelangen könnten. Ohnehin würde in Syrien »mit Waffen gekämpft, die von der deutschen Rüstungsindustrie stammten. […] Deshalb müssten solche Lieferungen restriktiv gehandhabt werden. 83

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Womöglich würden die Waffen später für ganz andere Zwecke eingesetzt als zur Verteidigung gegen die Terroristen des ›Islamischen Staats‹ (IS).« Mazyek (2014) warf der Bundesregierung und dem Westen vor, bei der Katastrophe in Syrien weggeschaut zu haben. Die Gefahr, dass die Waffen in die falschen Hände gelangen könnten, wurde auch von vielen Abgeordneten der SPD geteilt, wobei eine Gruppe von 47 Parlamentarier*innen um die Sicherheitspolitiker Gernot Erler und Rolf Mützenich in der Abwägung trotzdem für die Waffenlieferungen stimmte (Baehrens et al. 01.09.2014). In diesem zweiten Argumentationsmuster werden der Vormarsch des IS und die Vertreibung von Minderheiten mit der deutschen Sicherheitslage und der Angst vor wachsendem Terrorismus verknüpft – Verantwortung als Gefahrenabwehr.

C) Verantwortung als Verhinderung von Massenverbrechen Neben der Solidarität mit den Bündnispartnern und dem nationalen Interesse findet sich in der Debatte ein drittes, eher idealistisches Verständnis von Verantwortung. Im Anschluss an den Kosovo-Krieg war in der internationalen Gemeinschaft ein Konzept erarbeitet worden, das im Falle des Versagens eines Staates für im Staat stattfindende Massenverbrechen das Recht formulierte, Leib und Leben bedrohter Menschen zu schützen (das Prinzip der Schutzverantwortung [RtoP]). Deutschland hatte in den letzten 15 Jahren in der UN diese evolving norm des Völkerrechts maßgeblich mitgefördert. Hatte sie in den politischen Debatten der 2000er Jahre und auch im Libyen-Diskurs eine randständige Rolle gespielt, ist sie im Peschmerga-Diskurs zu einem gängigen Argument aufgestiegen (Arnold 01.09.2014; Merkel 01.09.2014; Göring-Eckart 20.11.2014). Selbst wenn keine explizite Nennung der RtoP vorliegt, so werden die argumentativen Bezüge – wie in der Rede der Vorsitzenden der CSU-Landesgruppe, Gerda Hasselfeldt – deutlich: 84

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»Wir hören aber auch von Massenvergewaltigungen. Wir hören von Zwangskonvertierung und von Menschenhandel auf Sklavenmärkten. […] Es sind nicht nur die Menschen bedroht – ihre Menschenwürde und ihr Leben. […] Der ISIS denkt totalitär. Er ist totalitär. Er handelt totalitär. […] Wenn ich eines aus unserer eigenen Geschichte und aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts gelernt habe, dann ist es dies: Bei Völkermord, bei solchen Gräueltaten, wie wir sie dort jeden Tag sehen müssen, dürfen wir nicht einfach wegschauen, sondern müssen handeln, müssen Verantwortung zeigen. Wir müssen diesem Wüten des IS Grenzen setzen und entschieden entgegentreten.« (Hasselfeldt 01.09.2014) In diesem Zitat wird der Bezug zur deutschen Vergangenheit hergestellt, der mit dem »Nie-wieder-Auschwitz«-Argument von Joschka Fischer (1995) im Bosnien-Diskurs popularisiert worden war. Bemerkenswerterweise nahmen nunmehr einige Redner*innen im Bundestag Bezug zu Völkermorden der jüngeren Geschichte – insbesondere Ruanda und Srebrenica (Hofreiter 01.09.2014; Oppermann 01.09.2014; Pfeiffer 01.09.2014). Sehr prominent vertreten ist das Argument bei den christlichen Kirchen in Deutschland: »Gemeinsam mit Papst Franziskus und den Bischöfen im Irak fordern wir: Der Terror muss aufgehalten werden, und die unzähligen Vertriebenen müssen die Chance erhalten, zügig in ihre Heimat zurückzukehren. […] Militärische Maßnahmen, zu denen auch die Lieferung von Waffen an eine im Konflikt befindliche Gruppe gehört, dürfen niemals ein selbstverständliches und unhinterfragtes Mittel der Friedens- und Sicherheitspolitik sein. Sie können aber in bestimmten Situationen auch nicht ausgeschlossen werden, sofern keine anderen – gewaltfreien oder gewaltärmeren – Handlungsoptionen vorhanden sind, um die 85

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Ausrottung ganzer Volksgruppen und massenhafte schwerste Menschenrechtsverletzungen zu verhindern.« (Ständiger Rat der deutschen Bischofskonferenz 25.08.2014) In der EKD lassen sich ähnliche Belege finden (Huber 29.08.2014; Dutzmann 23.08.2014; Schneider 29.08.2014), allerdings ist die EKD in ihrer Handlungsempfehlung gespalten und einige Vertreter*innen argumentierten gegen Waffenlieferungen (Brahms 14.08.2014; Rink 08.09.2014). Auffällig im deutschen Diskurs ist, dass viele Diskursträger nicht nur auf die Straftatbestände des Internationalen Strafgerichtshofs (ethnische Säuberungen, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschheit, Genozid) rekurrierten, sondern den IS auch konstitutiv abwerteten: »barbarische Vernichtung von Minderheiten« (Merkel 01.09.2014), »barbarische Abartigkeit«, »Orgie der Gewalt« (Annen 01.09.2014), »Armee von Selbstmordattentätern« (Mißfelder 01.09.2014), »entsetzliche Barbarei« (Hasselfeldt 01.09.2014), »Mörderbanden« (Jelpke 01.09.2014), »Horden« (Steinmeier/Gabriel 01.09.2014). Interessanterweise werden solche Bezeichnungen für das Assad-Regime, das etwa zehnmal mehr Menschen in Syrien umgebracht hat – einschließlich Frauen und Kinder durch Giftgas –, nicht verwendet. Ob dies etwa am unterschiedlichen Akteurstatus (staatlicher vs. transnationaler Akteur) liegt oder der IS-Propagandastrategie (Stichwort Enthauptungsvideos) geschuldet ist, muss hier offenbleiben. Jedenfalls haben die Verbrechen des IS dazu geführt, dass viele Diskursträger nun auch eine deutsche Verantwortung darin sehen, Massenverbrechen durch Waffenlieferungen zu verhindern.

D) Verantwortung als Friedenspolitik Im Gegensatz zu den vorigen drei Abschnitten wird nun ein Verantwortungsbegriff herausgearbeitet, mit dessen Hilfe gegen 86

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Waffenlieferungen argumentiert wurde. Dieser Verantwortungsbegriff ist für weite Teile der Bevölkerung an die Erfahrungen Deutschlands im Zweiten Weltkrieg rückgebunden: »Der von Deutschland entfesselte Krieg und die Verbrechen des Nationalsozialismus waren die Ursache für Millionen von Toten und für unermessliches Leid vieler Völker. 6 Millionen Juden und viele andere Menschen wurden in Ghettos und Vernichtungslagern oder nahe ihrer Heimatorte ermordet. Das werden wir Deutschen niemals vergessen. Das ist Deutschlands immerwährende geschichtliche Verantwortung, und zu dieser Verantwortung bekennen wir uns.« (Merkel 01.09.2014) Unisono beteuerten die Entscheidungsträger, dass die Peschmerga-Entscheidung keinesfalls eine Abkehr von der grundsätzlich zurückhaltenden Außenpolitik, keinen »Tabubruch« oder einen »Paradigmenwechsel« bedeuten würde (Steinmeier 04.09.2014; Oppermann 01.09.2014). Doch genau dies sahen traditionelle Vertreter*innen des Pazifismus aus der SPD, den Grünen oder den LINKEN am Werke (Mintrup und Schulz 01.09.2014; Post und Tausend 01.09.2014; Becker 01.09.2014; Dagdelen 01.09.2014; Groth 01.09.2014). So erneuerte etwa der DGB (01.09.2014) in der Debatte seine Forderung, dass nie wieder Krieg von deutschem Boden ausgehen dürfe, ein UN-Mandat für Waffenlieferungen zwingend sei und Frieden nur durch Verhandlungen und humanitäre Hilfe erreicht werden könne. Extreme Stimmen aus der Zivilgesellschaft sahen gar »eine protestantische Begeisterung für den (selbst-)gerechten Krieg« (Jakob Augstein) und nannten den Bundespräsidenten einen »Jihadisten« (Todenhöfer zit.n. Der Spiegel 19.06.2014). Kritische Diskursträger aus der Politik bemängelten die nicht vorhandene Prävention (Nouripour 01.09.2014) und das Verdienen am Krieg (Gysi 14.08.2014, 01.09.2014) und schlugen stattdessen huma87

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nitäre Hilfe und Flüchtlingsaufnahme vor (Gehrcke 15.08.2014; Van Aken 20.08.2014; Die Linke 31.08.2014; Bündnis90/Die Grünen 2014: S. 9). Verantwortung bedeute auch, eine Gewalteskalation zu vermeiden, in diesem Sinne sei, so Paul Schäfer von den LINKEN, »das Gerede des Bundespräsidenten fahrlässig und verantwortungslos« (Die Zeit, 20.06.2014): »Die Entscheidung, mit Waffen am Irak-Konflikt teilzunehmen, verstrickt die Bundesrepublik Deutschland in den nächsten Nahostkrieg – mit unabsehbaren Folgen.« (Buchholz 10.10.2014) Die Grünen zeigten sich inhaltlich zwar gespalten in der Frage der Waffenlieferungen (Bündnis90/Die Grünen 2014), bezogen auf ihrer Bundesdelegiertenkonferenz vom 21. bis 23.11.2014 jedoch klar Stellung in der Verantwortungsdebatte: »Ein Verantwortungsbegriff, hinter dem sich aber nur die Forderung nach der Ausweitung von deutschen Militäreinsätzen verbirgt, lehnen wir entschieden ab. […] Wir haben ein anderes Verständnis von der Verantwortung Deutschlands in der Welt. Für uns bedeutet sie insbesondere, eine vorausschauende und kohärente Politik zu betreiben sowie eine Kultur der militärischen Zurückhaltung zu pflegen.« (Bündnis90/Die Grünen 2014: S. 3) Allerdings findet sich zugleich in dem Parteitagsbeschluss ein deutliches Bekenntnis zu den Vereinten Nationen (S.  6) sowie der Verhinderung von Völkermord (S.  2), was den Einsatz von Militär in Extremsituationen legitim erschienen ließe (vgl. die Verantwortungsinterpretation oben). Dementsprechend positionierte sich eine Gruppe von zehn Abgeordneten der Grünen um Cem Özdemir als Befürworter von Waffenlieferungen, schließlich könne man den IS nicht mit einer Yogamatte bekämpfen (Neuerer 12.08.2014). In der Tradition außenpolitischer Zurückhaltung und einer Friedenspolitik als Ergebnis des Zweiten Weltkriegs positionierten sich viele Diskursträger der 88

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pazifistischen Diskursformation gegen Waffenlieferungen und erinnerten an Deutschlands diesbezügliche Verantwortung.

Fazit: Neue Politikoptionen mit viel Verantwortung Die Diskursoffensive wichtiger Diskursträger der politischen Elite wurde hier als Versuch interpretiert, einen nachhaltigen Außenpolitikwandel Deutschlands zu ermöglichen. Auf der Verhaltensebene bedeutet das etwa, Waffen auch in Spannungsgebiete liefern zu können. Auf der Legitimitätsebene heißt das, dass solche neuen außenpolitischen Möglichkeiten weithin unbestritten bleiben können, weil sie mit der ›deutschen Verantwortung‹ – einem zentralen Identitätselement der westdeutschen außenpolitischen Identität – gerechtfertigt werden. In analytischer Perspektive war die Frage, welche Bedeutungen der floating signifier ›Verantwortung‹ nun im Diskurs annimmt. In der Debatte um Waffenlieferungen ließen sich drei Aufladungen des Verantwortungsbegriffs zugunsten von Waffenlieferungen finden. Schlagwortartig kann ›Verantwortung‹ für »nie wieder Auschwitz« (Gauck), für die neue zugeschriebene Größe Deutschlands (Steinmeier) und für Einflusssicherung (von der Leyen) stehen. Inhaltlich sind die Aufladungen des Begriffs alles andere als neu: Gaucks Verantwortung ähnelt Fischers in der Bosniendebatte, Steinmeier bedient sich inhaltlich bei Karl Lamers im Golfkriegs-Diskurs Anfang der 1990er Jahre und von der Leyens Verantwortung als Einflusssicherung lässt sich mindestens bis zu Schröders und Scharpings Begründungen für den Kosovo-Einsatz zurückverfolgen. Eine vierte Bedeutung unterstreicht die Verantwortung für den Frieden und lehnt Waffenlieferungen deshalb ab – eine klassische Interpretation, die bis zur Wiederbewaffnungsdebatte in den 1950ern zurückreicht. ›Verantwortung‹ stellt sich somit als umkämpfter politischer Begriff dar, dessen Bedeutung im außenpolitischen Dis89

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kurs changiert. Den Praxistest in der Peschmerga-Debatte hat der von Gauck wiedererweckte Begriff jedenfalls bestanden, denn ›Verantwortung‹ wurde von wichtigen deutschen Diskursträgern eifrig verwendet, sowohl in der Bundestagsdebatte am 01.09.2014 wie auch in Interviews oder öffentlichen Erklärungen. Der Verantwortungsdiskurs war insofern erfolgreich, allerdings um den Preis der inhaltlichen Beliebigkeit: Die Erweiterung des außenpolitischen Verhaltensspektrums wurde insofern mit legitimatorischer Inkonsistenz erkauft.

Zum Weiterlesen Brössler, Daniel/Probst, Robert (08.01.2020): »Die Lehren der Vergangenheit. Das Auswärtige Amt wird 150 Jahre alt – und feiert gedämpft im Wissen um Schuld und Verantwortung«. In: Süddeutsche Zeitung. Verfügbar unter: https://www.sueddeutsche. de/politik/deutsche-aussenpolitik-die-lehren-der-vergangenheit-1.4748957 (zuletzt abgerufen am 24.05.2020). Stahl, Bernhard (2012): »Taumeln im Mehr der Möglichkeiten – die deutsche Außenpolitik und Libyen«. In: Zeitschrift für Außenund Sicherheitspolitik 5, S. 575-602. Stahl, Bernhard (2017): »Verantwortung – welche Verantwortung? Der deutsche Verantwortungsdiskurs und die Waffenlieferungen an die Peschmerga«. In: Zeitschrift für Politikwissenschaft 27, 4, S. 437-471.

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Systemtheorie Selbstmedikation – die Verantwortung des mündigen Patienten Anna Henkel Autonomie, Freiheit und Verantwortung sind erstrebenswert. Menschen, die Verantwortung übernehmen und zu autonomem Handeln unter freiheitlichen Bedingungen in der Lage sind, werden nicht nur als Führungspersönlichkeiten gesucht, sondern sind als mündige Bürger*innen Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit einer aufgeklärten Gesellschaft. Obwohl oder vielleicht gerade weil Verantwortung so durchweg positiv besetzt ist, bleibt z.T. diffus, wofür da genau Verantwortung übernommen wird, was die Voraussetzungen einer Verantwortungszuschreibung oder Verantwortungsübernahme sind und damit auch, ob und in welchem Maße eine solche Verantwortungserwartung überhaupt realistisch ist. Am Beispiel der Verantwortung des mündigen Patienten in der Selbstmedikation wird diesen Fragen im Folgenden näher nachgegangen. Etwa seit den 1980er Jahren ist Selbstmedikation im Zuge einer Erweiterung von Patientenautonomie insgesamt eine stehende Begrifflichkeit (Rosenbrock und Gerlinger 2006: S.  203; Henkel 2011: insbesondere S. 240ff.). Das Feld der Medikamente – dem lateinischen Wortstamm nach: den Mitteln des Arztes – reicht von Lebensmitteln mit gesundheitlichem Zusatznutzen über alltäglich verwendete Arzneimittel wie Schmerztabletten bis zu verschreibungspflichtigen Mitteln, etwa Antibiotika. Wofür übernimmt der mündige Patient in der Selbstmedikation bei dieser Vielfalt eigentlich Verantwortung, womit zugleich nach den Voraussetzungen einer solchen Verantwortungsübernahme gefragt ist? 101

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Für diese Untersuchung wird im nächsten Abschnitt die Perspektive der Systemtheorie gewählt und im darauf folgenden Abschnitt auf die Pharmaziegeschichte angewendet. So wird deutlich, dass Selbstmedikation eine sehr spezifische Form von Pharmaka voraussetzt, nämlich das originalverpackte, wirkstoffbasierte Fertigarzneimittel. Vor diesem Hintergrund lässt sich im letzten Abschnitt die Ursprungsfrage beantworten, wofür der mündige Patient Verantwortung in der Selbstmedikation übernimmt. Ein Fazit zu persönlicher Verantwortung in der modernen Gesellschaft schließt die Überlegungen ab.

Systemtheorie als Perspektive Die zentrale Prämisse der Systemtheorie besteht in der Annahme sinnhafter Kommunikation als Grundelement des Sozialen. Kommunikation ist dabei als selbstreferentieller und entsprechend genuin zeitlicher Prozess konzipiert (Luhmann 1984: S.  192ff.). Damit geht einher, dass Kommunikation und auch Handlung als operative Elemente des Sozialen keine Zeitfestigkeit haben, sie verschwinden, wenn sie beendet sind (ebd.: S.  28, 77, 389). Zeitfest etabliert sind jedoch Strukturen: Wenn nicht mehr alles mit allem verbunden werden kann, entstehen Regeln, welche Elemente üblicherweise auf bestimmte Elemente folgen. Aus solchen zufälligen Verknüpfungen werden Strukturen als Muster erwartbarer Selektionen (ebd.: S.  236, 383ff.). Eine wesentliche Fragestellung ist deshalb, »zu erklären, wie Zusammenhänge, die an sich unwahrscheinlich sind, dennoch möglich, ja hochgradig sicher erwartbar werden« (Luhmann 2005: 29). Drei Typen von Strukturen lassen sich unterscheiden: Es gibt erstens semantische Strukturen als jene Unterscheidungen, die für die Selektion von Sinninhalten verfügbar gehalten werden; Semantik ist gleichsam der Begriffsvorrat der Gesellschaft (Luhmann 1981: S. 17ff.). Zweitens gibt es Strukturen über Ver102

Systemtheorie

haltenserwartungen, die eine zeitfeste Verbindung bestimmter Handlungstypen herstellen und so als soziale Strukturen fungieren (Luhmann 1984: S. 139). Als dritter Typus von Sinnstrukturen lassen sich schließlich Strukturidentitäten fassen, die mehrere unterschiedliche Erwartungen zusammenfassen und so ein spezifisches Erwartungsbündel bilden. Strukturidentitäten sind insofern ein Sonderfall, als dass sie nicht selbst direkt erwartbar sind. Aber indem eine bestimmte Verbindung von Erwartungen an einer Identität festgemacht wird, werden Erwartungen geordnet und gewinnen Zeitfestigkeit. Strukturidentitäten in diesem Sinne sind Dinge, Personen, Rollen, Programme und Werte (ebd.: S. 426-433). Strukturen sind dabei in doppelter Weise unwahrscheinlich: Die erste Unwahrscheinlichkeit liegt darin, dass sich überhaupt diese bestimmte und nicht eine andere Struktur bildet. Die zweite Unwahrscheinlichkeit ist, dass einmal gebildete Strukturen auch erhalten bleiben – semantische Strukturen und Strukturidentitäten müssen wieder benutzt werden (Luhmann 1984: S. 475), eine Erwartungsstruktur kann mit jeder Anschlusskommunikation enttäuscht werden (ebd.: S. 385, 400). Eine zentrale Frage ist daher, wie eine an sich unwahrscheinliche Strukturbildung und Strukturstabilisierung erfolgt, wie sich also semantische Strukturen, Erwartungsstrukturen und Strukturidentitäten wechselseitig ermöglichen oder auch behindern (Luhmann 1981). Diese konzeptionellen Annahmen der Systemtheorie lassen sich fruchtbar machen für eine analytische Bestimmung von Arzneimitteln bzw. – mit dem historisch älteren Begriff – von Pharmaka. Entlang der oben skizzierten Begrifflichkeiten lassen sie sich als spezifische Strukturidentität fassen, also als Bündel bestimmter Erwartungen. Nimmt man die Heterogenität der historisch und aktuell als Pharmaka in Betracht kommenden Mittel in den Blick, so unterscheiden insbesondere zwei Er103

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wartungen die Pharmaka von anderen Dingen: erstens die Erwartung einer außeralltäglichen Wirksamkeit und zweitens die Erwartung von über die evidenten Eigenschaften hinaus nicht ohne Weiteres wahrnehmbaren (›obskuren‹) Eigenschaften (Henkel 2011: S. 40ff.). Damit sind Pharmaka definiert als »solche Dinge, die sich in ihrem Erwartungsbündel vor allem über die Erwartungen der Obskurität (statt Evidenz) und der außeralltäglichen (statt alltäglichen) Wirksamkeit auszeichnen« (ebd.: S. 44). Bei diesen spezifischen Erwartungen an Pharmaka ist für deren Verwendung vor allem eines offensichtlich: Sie ist unwahrscheinlich. Warum sollte man ein obskures Ding verwenden – sei es nun ein grüner Trank oder eine kleine weiße Tablette? Umso weniger ist dies erwartbar, wenn einem solchen obskuren Ding zusätzlich eine außeralltägliche Wirksamkeit erwartbar zugerechnet wird. Nur in Extremsituationen tödlicher Krankheit oder körperlicher Abhängigkeit würde man sich wohl in der Regel solchen Risiken aussetzen. Wenn Pharmakon-Kommunikation trotz dieser Unwahrscheinlichkeit wie selbstverständlich stattfindet, so müssen drei Schwierigkeiten bearbeitet sein: erstens die Herstellung der Erwartung, dass ein Ding außeralltägliche Wirkungen tatsächlich hat; zweitens die Trivialisierung dieser Wirkungen in dem Sinne, dass ihr Bewirken allgemein anerkannt ist, es also sozusagen ›normal‹ ist, bestimmte Zustände mit außeralltäglichen Mitteln zu erreichen; sowie schließlich drittens die Erwartung, dass ein Risiko mangelnder Identität und Qualität trotz der Obskurität des Pharmakons nicht besteht (Henkel 2011, vgl. auch Henkel 2012; Henkel 2013). Daraus ergeben sich zwei Leitfragen für die Analyse: Die erste Leitfrage ist, welche außeralltäglichen Wirkungen trivialisiert sind. Dies richtet sich auf eine Analyse der semantischen Strukturen von Pharmakon-Kommunikation und fragt nach den 104

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Richtigkeitskriterien für die Wirksamkeitszurechnungen als alltäglich oder als außeralltäglich (Henkel 2011: S. 51). Die zweite Leitfrage ist, wie die Identität und Qualität obskurer Mittel so garantiert wird, dass das Risiko der Nicht- oder Anderswirksamkeit invisibilisiert ist. Dies richtet sich auf die Ebene der sozialen Erwartungsstrukturen. Zusammenfassend ist zu fragen, unter welchen sozialen Bedingungen in die Verlässlichkeit der Zurechnung außeralltäglicher Wirksamkeit und damit der Identität und Qualität plausibel vertraut wird (ebd.: S. 51f.) – und welche Verantwortung ein mündig-autonomer Patient dabei haben kann.

Der Fall: Pharmaka im Wandel Die oben skizzierte systemtheoretische Perspektive lässt sich verwenden, um diese Pharmaka näher zu bestimmen, für die ein mündiger Patient im Zuge der Selbstmedikation Verantwortung übernimmt. Denn obwohl Selbstmedikation heute als Selbstverständlichkeit und gar positiv als Autonomiegewinn gilt, ist dies im historischen Vergleich ein ebenso junges wie unwahrscheinliches Phänomen: Seit Jahrtausenden war das Wissen um Pharmaka streng gehütet. Zwar konnten Kranke immer schon selbst zu Mitteln greifen, um ihre Leiden zu lindern – doch waren dies die ihnen verfügbaren Hausmittel, die Mittel des Hauses also (wie Zwiebelsaft oder heiße Kartoffeln gegen Zahnschmerzen), nicht die Mittel des Arztes. Was zeichnet, so betrachtet, Pharmaka aus, mit denen Patient*innen sich selbst medikamentieren können und sollen? Zieht man die beiden oben entwickelten Leitfragen nach den Richtigkeitskriterien für die Zurechnung außeralltäglicher Wirksamkeit und nach den Bedingungen eines überlegenen Vertrauens in die Identität und Qualität obskurer Mittel heran, so lässt sich mit ihrer Hilfe pharmaziehistorische Literatur aus soziologischer Perspektive reflektieren. Datengrundlage sind für 105

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die Zeit bis etwa 1980 pharmaziehistorische Sekundärliteratur (insbesondere Adlung und Urdang 1935; Schmitz 1998; Schmitz 2005), für die aktuellere Entwicklung wurden die pharmazeutische Zeitung sowie Expert*inneninterviews als Primärquellen herangezogen. Die ausführliche Untersuchung, die den folgenden Überlegungen zugrunde liegt, findet sich in Henkel 2011. Entlang einer solchen Analyse ergeben sich drei Phasen pharmazeutischer Kommunikation: die ›Zauberhafte Pharmazie‹, die ›Medizinische Pharmazie‹ und die ›Wirkstoff-Pharmazie‹.

Zauberhafte Pharmazie Mit dem Begriff der ›Zauberhaften Pharmazie‹ lässt sich jene Epoche in der Antike vor der Entstehung der hippokratischen Medizin bezeichnen, wie sie sich aus den Epen Homers oder archäologischen Zeugnissen erschließen lässt. Diese Epoche ist vor allem zur Abgrenzung interessant, sind Pharmaka hier doch gerade nicht auf das Medizinische festgelegt und bestehen gerade keine Strukturen, die eine Identität und Qualität tatsächlich garantieren: Wirksamkeitskriterien entstammen in der Zauberhaften Pharmazie der Theurgie. Pharmaka gelten als außeralltäglich wirksam, wenn und indem sie Einfluss auf göttliche Kräfte nehmen können. Beschwörungen oder Amulette gehören entsprechend ebenso zu den Pharmaka wie Säfte oder Salben. Auf der Ebene der sozialen Strukturen sind es Priester und Zauberinnen, die eine Identität und Qualität von Pharmaka erwarten lassen. Mystische Figuren wie die Zauberinnen Kirke und Medea personifizieren die Befürchtungen, die mit einer solchen sozialstrukturellen Einbettung verbunden sind (Henkel 2011: S. 58-63). Pharmaka sind in dieser Epoche gerade keine Mittel des Arztes. Einmal sind Ärzte in erster Linie Chirurgen, die, wenn überhaupt, Pharmaka ausschließlich äußerlich zur Wundbehandlung anwenden. Außerdem dienen Pharmaka als inne106

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re Anwendungen mit vielfältigen Verwendungszwecken, von denen neben Verwandlung, Unbesiegbarkeit oder Unverletzlichkeit das Heilen von Krankheiten nur einer ist. Schon eine ›Medikation‹ ist in dieser Epoche also nicht vorgesehen – an eine ›Selbstmedikation‹ ist entsprechend nicht zu denken.

Medizinische Pharmazie Etwa um 400 v. Chr. entsteht mit der hippokratischen Medizin eine neue Epoche pharmazeutischer Kommunikation, die ›Medizinische Pharmazie‹, die in der medizinischen Praxis bis ins ausgehende 19. Jahrhundert fortbesteht (Henkel 2011: S. 63-101). Sowohl Richtigkeitskriterien als auch Erwartungsstrukturen pharmazeutischer Kommunikation unterscheiden sich gegenüber denen der Zauberhaften Pharmazie grundsätzlich – und mit ihnen das, was Pharmaka nun ›sind‹. Hinsichtlich der Wirksamkeitskriterien für die Zurechnung außeralltäglicher Wirksamkeit wird die Theurgie durch die Humoralpathologie abgelöst. Die Humoralpathologie ist die medizinische Anwendung der die Antike insgesamt prägenden Vier-Elemente-Lehre. Die Grundidee ist, dass Feuer, Wasser, Erde und Luft als vier Elemente den Kosmos insgesamt bilden und letztlich alles als Mischungsverhältnis dieser vier Elemente vorliegt. Im menschlichen Körper korrespondieren vier Körpersäfte mit den vier Elementen – im Falle von Gesundheit sind sie im Gleichgewicht, im Falle von Krankheit im Ungleichgewicht. Ein solches Ungleichgewicht kann medizinisch therapiert werden, indem dem Körper etwas zugefügt oder entzogen wird, was eben jenes Gleichgewicht wiederherstellt, denn auch Pflanzen, Mineralien oder tierische Produkte haben je ein spezifisches Mischungsverhältnis, welches an deren äußerer Signatur abgelesen werden kann. So fehlt bspw. im Falle einer Erkältung Wärme; da ein Aufguss der Lindenblüte mit der Zeit eine rötliche Farbe annimmt und dies auf Wärme hindeutet, ist Linden107

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blütentee geeignet, im Falle einer Erkältung das körperliche Ungleichgewicht wieder auszugleichen. Diese Grundidee der Humoralpathologie ist Kern der medizinisch-pharmazeutischen Therapie von der Antike über das Mittelalter und bis in die moderne Gesellschaft hinein. Sowohl die Anzahl der einbezogenen Pharmaka als auch die z.T. hochmathematische Komplexität der Rezepturen erweitern sich dabei sukzessive. Allerdings ist mit dieser Umstellung der Wirksamkeitskriterien von der Theurgie auf die Humoralpathologie eine Einschränkung verbunden, nämlich auf Mittel, die in diesem Sinne medizinisch wirken. Pharmaka werden damit von der zauberhaften Wirksamkeit enggeführt auf die medizinischen Mittel des Arztes. In der Epoche der Medizinischen Pharmazie verändern sich zugleich die sozialen Strukturen, die eine Identität und Qualität der Pharmaka erwarten lassen. Zentral ist nun die Rollenstruktur des Arztes. Anders als in der Vorantike umfasst das Tätigkeitsfeld des Arztes nun nicht mehr allein die Chirurgie, sondern außerdem Diätetik und Pharmazie. Wie zuvor die Priester und Zauberinnen, so sind auch die Ärzte eine soziale Struktur, die das pharmazeutische Wissen restriktiv handhabt. Medizinisches und mit ihm pharmazeutisches Wissen wird nur innerhalb der Profession und in der Regel innerhalb von Familien weitergegeben. Eine Institutionalisierung darüber hinaus bildet erst der hippokratische Eid. Dieser Eid ist insgesamt eine Selbstverpflichtung, medizinisch-pharmazeutisches Wissen ausschließlich zum Zwecke der Heilung zu verwenden – und also weder zur persönlichen Bereicherung des Arztes selbst noch zu gesellschaftlich illegitimen Zwecken wie bspw. Abtreibung. Mit der Komplexitätssteigerung der pharmazeutischen Kommunikation kommt es etwa im 7.  Jahrhundert n.  Chr. zu einer Rollendifferenzierung. Während die Rolle des Arztes auf die Diagnose und Therapieentscheidung festgelegt wird, ob108

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liegt es der neu entstandenen Rolle des Apothekers, die Identität und Qualität von Pharmaka zu garantieren. Dies impliziert, pharmazeutische Grundstoffe zu erkennen und richtig gemäß der ärztlichen Rezeptur weiter zu verarbeiten sowie jene Grundstoffe in erforderlicher Qualität vorrätig zu halten. Personen in der Rolle des Apothekers werden vereidigt, Pharmaka nur auf ärztliches Rezept abzugeben. Medizinalordnungen, Apothekerordnungen und Arzneibücher stabilisieren diese professionelle Rollenstruktur. Diese Stabilisierung ist so erfolgreich, dass, bei aller Ambivalenz den »Pillendrehern« gegenüber (Urdang 1921), die Apotheke weithin bis heute geradezu als Synonym von Gesundheit und Qualität gilt. In dieser Epoche der Medizinischen Pharmazie sind Pharmaka nun Arzneimittel im Wortsinne – also Mittel des Arztes. Anders als in der Epoche der Zauberhaften Pharmazie gibt es jetzt also immerhin eine pharmazeutische Medikation – die Verwendung von Pharmaka für medizinische Zwecke durch den Arzt ist positiv assoziiert und gesellschaftlich legitimiert. Eine Selbstmedikation jedoch bleibt ein Ding der Unmöglichkeit. Nur von einem Arzt ist unter den semantischen und sozialstrukturellen Bedingungen der Medizinischen Pharmazie verlässlich erwartbar, dass er das spezifische Säfteungleichgewicht erkennen und eine je individuell richtige Therapie empfehlen kann. Nur von einem Apotheker ist verlässlich erwartbar, dass die von ihm bevorrateten Grundstoffe die erforderliche Identität und Qualität gemäß dem Arzneibuch erfüllen und er diese entsprechend der Rezeptur zu einem je persönlich wirksamen Arzneimittel verarbeitet. Arzt und Apotheker sind auf eben jene Funktionsrollenerfüllung vereidigt, sie haften dem Staat gegenüber als Person für die Erfüllung dieser Pflichten. Darüber hinaus sind die Dienste von Badern und Kräuterweiblein sowie die bewährten Hausmittel alternative Zugriffe auf obskur-außeralltäglich wirksame Mittel – doch entweder bleiben sie obskur und 109

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ist ihre Identität und Qualität nicht ganz gesichert; oder sie sind eben doch nur alltäglich wirksam. Eine ›echte‹ Medikation ist notwendig Sache des Arztes.

Wirkstoff-Pharmazie Erst in der Epoche der ›Wirkstoff-Pharmazie‹ verändern sich die Art der Richtigkeitskriterien für die Wirksamkeitszurechnungen von Pharmaka und die sozialstrukturellen Bedingungen der Garantie von Identität und Qualität der Pharmaka in einer Weise, dass Selbstmedikation eine Erwartung mit realistischem Plausibilitätsanspruch wird. Etwa zu Beginn des 19. Jahrhunderts löst die Wirkstoffchemie die Vier-Elemente-Lehre als Richtigkeitskriterium für die Zurechnung außeralltäglicher Wirksamkeit ab. Bereits seit dem 17. Jahrhundert standen in einer Phase der sog. Polypragmasie konkurrierende Richtigkeitskriterien nebeneinander. Neben der Vier-Elemente-Lehre entstand insbesondere die Iatrochemie bzw. Chemiatrie. Diese geht davon aus, dass es gerade nicht die vier Elemente sind, aus denen sich die Wirkung eines Stoffes ergibt, und dass diese Wirkungsweise auch gerade nicht an der äußeren Signatur erkennbar ist. Vielmehr ist es ein fünftes Element, eine Quinta essentia, ein Archäus, als ursprünglich wirkender Stoff, der das eigentliche Wesen und damit auch die eigentliche Wirkung bestimmt. Da der Wirkstoff nicht an äußeren Merkmalen erkennbar ist, gilt es, ihn durch Verbrennung, Destillation und ähnliche Verfahren zu identifizieren. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts haben sich daraus die Grundzüge der modernen Chemie entwickelt und bilden die Grundlage für eine vollständige Neubestimmung pharmazeutischer Wirksamkeit. Die Alkaloidchemie geht den Wirkstoffen von Arzneipflanzen nach, Vitamine, menschliche Hormone und Impfstoffe kommen später als pharmazeutische Wirkstoffe hinzu.

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Mit diesem Wechsel der Richtigkeitskriterien von Vier-Elemente-Lehre und Signaturen hin zu chemischen Wirkstoffen ist eine ganz zentrale Veränderung verbunden: Pharmaka sind nicht mehr gleichbedeutend mit Arzneimitteln. In der Medizinischen Pharmazie sind Arzneimittel die Mittel des Arztes und ausschließlich die Mittel des Arztes, denn die Wirksamkeit der Arzneimittel ergibt sich aus einer medizinischen Theorie und ausschließlich bezogen auf ein medizinisch bestimmtes, individuelles Säfteungleichgewicht. In der Wirkstoff-Pharmazie hingegen besteht ein solcher notwendiger Bezug zur Medizin nicht. Die Medizin ist nur ein Anwendungsbereich chemischer Wirkstoffe neben vielen anderen, etwa solche in Landwirtschaft, Militär oder Kosmetik. Der medizinische Bezug ergibt sich aus seiner Bestimmung für medizinische Zwecke, nicht aus deren Wirksamkeit heraus. Die enge definitorische Verbindung zwischen dem Arzneimittel und dem dieses Mittel verwendenden Arzt ist damit aufgehoben – die medizinische Verwendungsbestimmung genügt und muss nicht mehr durch einen Arzt persönlich vorgenommen werden. Im Übergang von der Medizinischen Pharmazie zur Wirkstoff-Pharmazie verändern sich die Sozialstrukturen, die die Identität und Qualität der Pharmaka als garantiert erwarten lassen. Dieser sozialstrukturelle Wandel folgt der Entstehung der Wirkstoff-Pharmazie mit einem gewissen zeitlichen Abstand – und umgekehrt verhindert das Fehlen passender Sozialstrukturen über längere Zeit die Etablierung wirkstoffbasierter Pharmaka. Das Problem ist folgendes: Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts werden wirkstoffbasierte Arzneimittel hergestellt. Da hier der Wirkstoff selbst im Mittelpunkt steht und nicht individualisierte Arzneimittel für konkrete Säfteungleichgewichte, können Wirkstoff-Arzneimittel standardisiert und in größeren Mengen industriell hergestellt werden. Eine industrielle Massenherstellung standar111

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disierter Wirkstoff-Arzneimittel liegt außerdem nahe, da nun nicht mehr relativ seltene Naturprodukte in Gänze verarbeitet werden müssen, sondern ein bereits in geringen Mengen hochwirksamer Wirkstoff lediglich mit geeigneten Trägerstoffen in eine komprimierte Form gebracht werden muss. Eine solche industrielle Herstellung von Wirkstoff-Arzneimitteln erfolgt auch. Allerdings garantiert ausschließlich die Abgabe durch einen Apotheker die Identität und Qualität von Arzneimitteln. Zwar werden die industriellen Wirkstoff-Arzneimittel als sog. Geheimmittel dennoch vertrieben – angesichts einer fehlenden Struktur zur Kontrolle der Qualität ist dieses Feld jedoch sehr heterogen und keineswegs verlässlich, weder in puncto Wirksamkeit noch in puncto Identität und Qualität. Gerade die seriösen pharmazeutischen Hersteller legen unter diesen Umständen Wert auf den traditionellen Vertriebsweg Apotheke (dazu näher Ernst 1975). Eine Qualitätsgarantie durch den Apotheker setzt jedoch voraus, dass der Apotheker die Identität und Qualität der Fertigarzneimittel tatsächlich prüft, so wie er dies traditionell bereits beim Einkauf von Grundstoffen getan hatte. Nun jedoch erfordert die Prüfung eine aufwendige chemische Prozedur, die streng genommen für jede einzelne Tablette durchgeführt werden müsste. Der Apotheker als einzig bestehende Garantiestruktur bleibt mithin für Jahrzehnte der Flaschenhals, der pharmazeutische Innovation hemmt. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts gelingt die sozialstrukturelle Innovation, die zu einem Durchbruch der Wirkstoff-Pharmazie auch in der medizinischen Anwendungspraxis führt: die Originalverpackung. Die Gesetzgebung zum Schutz der Waren- und Markenbezeichnungen erlaubt, über Herstellername und Produktangaben ein Präparat eindeutig auf den Hersteller zurückzuführen. Indem ein Hersteller verpflichtet wird, ein Produkt vor dem Vertrieb staatlich zu melden, lassen sich etwaige Defizite hinsichtlich Identität und Qualität 112

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auf den Hersteller direkt zurückführen. Das originalverpackte, wirkstoffbasierte Fertigarzneimittel wird so von der persönlichen Garantieleistung eines Apothekers unabhängig. Über die Umverpackung vermittelt, garantiert nun ein Netzwerk aus Herstellern und Melde-, Zulassungs- und Kontrollinstanzen die Identität und Qualität der Pharmaka. Der Beipackzettel mit mehreren Produktinformationen ergänzt dieses Prinzip der Umverpackung. Erst damit sind die Bedingungen gegeben, unter denen eine Selbstmedikation überhaupt möglich ist. Pharmaka müssen nicht länger zwingend durch eine Person in der Rolle des Apothekers abgegeben werden, denn ihre Identität und Qualität wird über die Umverpackung vermittelt durch den Hersteller garantiert. Für die Gesundheitsversorgung insgesamt bleiben Apotheker zwar wichtig: Sie halten den gesamten Arzneischatz für den stets unerwartet eintreffenden Bedarfsfall lokal vorrätig, sie sind auf den Bedarfsfall durch ein umfangreiches Lager und die Verpflichtung zu Notdiensten eingerichtet, und sie erfüllen neben der korrekten Abgabe Beratungsdienstleistungen. Die Identitäts- und Qualitätsgarantie aber trägt das originalverpackte Fertigarzneimittel ohne Apotheker mit sich. Auch vom Arzt ist das originalverpackte, wirkstoffbasierte Fertigarzneimittel vergleichsweise unabhängig – ist es doch nicht mehr das individuelle Präparat für die Behandlung eines spezifischen Krankheitszustandes, sondern ein standardisiertes Produkt, das zudem seine Anwendungsgebiete, Risiken und Nebenwirkungen im Beipackzettel mit sich führt. Selbstmedikation wird somit gerade in einer Epoche möglich, in der die Verbindung von Pharmakon und Medizin gegenüber der Medizinischen Pharmazie lose geworden ist.

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Verantwortung des mündigen Bürgers in der Selbstmedikation Der systemtheoretisch angeleitete Blick auf die Veränderung der Richtigkeitskriterien für die Zuschreibung außeralltäglicher Wirksamkeit und der Sozialstrukturen zur Garantie der Identität und Qualität von Pharmaka hat gezeigt, dass eine Selbstmedikation des mündigen Bürgers eine sehr spezifische Form von Pharmaka impliziert: Voraussetzung für Selbstmedikation ist erstens, dass Pharmaka als standardisierte und in der Regel wirkstoffbasierte Präparate vorliegen und damit aus der von einem Arzt durchzuführenden individuellen Therapie grundsätzlich herausgelöst sind. Voraussetzung ist zweitens, dass Pharmaka vermittelt über die Originalverpackung die Garantie ihrer Identität und Qualität selbst mitführen und damit von einer persönlichen Garantie des Apothekers unabhängig werden. Wofür übernimmt nun der mündige Bürger in dieser Konstellation Verantwortung im Zuge einer Selbstmedikation? Verantwortung für die korrekte Verbindung von medizinischer Indikation und Pharmakon sowie für die Identität und Qualität der Pharmaka besteht nicht – im Gegenteil ist das verlässliche Vorliegen von beidem Bedingung der Möglichkeit von Selbstmedikation. Verantwortung übernimmt der mündige Bürger für den richtigen therapeutischen Einsatz von bestimmten Pharmaka und damit partiell die Rolle des Arztes. Nun könnte man sagen, dass genau dies ja erwartbar war, liegt es doch bereits im Begriff der Selbstmedikation. Dies müsste aber erfordern, dass sich Arzt und mündiger Patient die Therapieverantwortung gewissermaßen aufteilen und der mündige Patient bspw. die Verantwortung für die Medikation besonders einfach erkennbarer Krankheiten übernimmt. Jedoch ist dies nicht der Fall. Was einerseits Selbstmedikation überhaupt erst ermöglicht – das Vorliegen von Pharmaka als von Arzt und Apotheker unabhän114

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gig in ihrer Identität und Qualität garantierte Materialitäten – ist andererseits Ausgangspunkt einer Verantwortungsdiffusion: Diese Verantwortungsdiffusion besser zu verstehen, erfordert zunächst, die Differenzierung des Arzneimittelspektrums insgesamt nachzuvollziehen. Das deutsche Arzneimittelgesetz unterscheidet wesentlich drei Typen von Arzneimitteln: rezeptpflichtige, apothekenpflichtige und freiverkäufliche Arzneimittel. Wohlgemerkt – eine solche Differenzierung erfolgt erst und ist auch erst möglich, wenn Arzneimittel per se unabhängig von Arzt und Apotheker sind. Jetzt, da diese Unabhängigkeit besteht, ist das Kriterium dieser Differenzierung die Gefährlichkeit der jeweiligen Arzneimittel. Den Normalfall bilden die apothekenpflichtigen Arzneimittel. Sie sind bei bestimmungsgemäßem Gebrauch ungefährlich, bergen aber bei gewohnheitsmäßigem Gebrauch Risiken. Rezeptpflichtige Arzneimittel hingegen bergen auch bei bestimmungsgemäßem Gebrauch gesundheitliche Risiken, während freiverkäufliche Arzneimittel auch bei gewohnheitsmäßigem Gebrauch ungefährlich sind. Sowohl in Richtung Gefährlichkeit als auch in Richtung Ungefährlichkeit lassen sich weitere Kategorien unterscheiden: auf der Seite der Gefährlichkeit die im Betäubungsmittelgesetz geregelten ›zu gefährlichen‹ und gar nicht verkehrsfähigen Mittel, auf der Seite der Ungefährlichkeit die an verschiedenen Stellen geregelten Gesundheitsmittel und Lebensmittel (Henkel 2011: S. 150ff.). Ursprünglich wurde die Kategorisierung nach Gefährlichkeit eingeführt, um Zulassungsanforderungen und Abgabeorte zu differenzieren. Ärzte konnten jedoch in der Zeit der Entstehung des Arzneimittelgesetzes, also in den 1960er Jahren, für die Therapie auf das gesamte Arzneispektrum zurückgreifen, wie dies auch traditionell der Fall war. Neu ist, dass ärztlich Verordnetes nun von den Krankenkassen erstattet wird, also grundsätzlich jedermann zur Verfügung steht. Parallel dazu greifen Bürger und Patienten auf Lebens- und Gesundheitsmittel zu 115

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selbsttherapeutischen Zwecken zurück, jedoch ohne dass dies als Selbstmedikation bezeichnet wird. Dieser Begriff kommt erst im Kontext einer eigentlich ganz anderen Debatte auf. Diese Debatte betrifft die Frage, für welche Arzneimittel die gesetzliche Krankenversicherung die Kosten erstatten bzw. nicht mehr erstatten soll. Gerahmt durch Hinweise auf Kostenexplosion und Anspruchsinflation im Gesundheitswesen werden hinsichtlich dieser Frage unterschiedliche Kriterien diskutiert, von der therapeutischen Notwendigkeit bis hin zum Ausschluss bestimmter Arzneiformen. Unter letztendlich stattdessen Rückgriff auf die bereits etablierte Differenzierung des Arzneimittelgesetzes werden zunächst in den 70er Jahren die freiverkäuflichen Arzneimittel und mit der Gesundheitsreform von 2004 die apothekenpflichtigen Arzneimittel aus der Erstattungspflicht herausgenommen. Durch diese Synchronisierung wird faktisch das Kriterium der Gefährlichkeit zum Kriterium der Erstattungspflicht. Gleichzeitig mit dieser Einschränkung der Erstattungspflicht entsteht die Forderung einer Selbstmedikation des mündigen Bürgers – und zwar einer Selbstmedikation mit all jenen Arzneimitteln, die nicht mehr erstattungsfähig sind, also zunächst den freiverkäuflichen, später auch den apothekenpflichtigen Arzneimitteln. Mit der Loslösung des Pharmakons von den medizinischen Professionsrollen im Kontext der Wirkstoff-Pharmazie wird dieses zum Bezugspunkt unterschiedlicher Bestimmungsinteressen. Kostenverantwortung ist eine dieser Interessen. Der Begriff der Selbstmedikation legt nahe, dass sich der Patient mit dem Arzt die Verantwortung für die Gesundheit und die dazu erforderlichen therapeutischen Maßnahmen teilt. Induziert durch die vielfältigen Bestimmungsinteressen am Pharmakon ist die Situation in der Regel faktisch, dass der Arzt die Verantwortung für die Therapie mit rezeptpflichtigen Arzneimitteln und verschreibungsfähigen Betäubungsmitteln hat  – 116

Systemtheorie

und der mündige Bürger die Verantwortung für die Therapie mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, freiverkäuflichen Arzneimitteln und, wie schon früher, den Gesundheitsmitteln und Lebensmitteln (er kann den Arzt hier allenfalls um Rat bitten). Die Differenzierung zwischen rezeptpflichtigen Arzneimitteln einerseits, apothekenpflichtigen und freiverkäuflichen Arzneimitteln andererseits folgt aber nicht einer therapeutischen Logik, sondern unterscheidet Pharmaka nach ihrer Gefährlichkeit. Der mündige Bürger trägt mit der Selbstmedikation also erstens die Verantwortung für die Therapie mit Pharmaka, die bei gewohnheitsmäßigem Gebrauch gesundheitlich risikoreich sind. Er trägt zweitens die Verantwortung für die Differenzierung zwischen apothekenpflichtigen Arzneimitteln, freiverkäuflichen Arzneimitteln und Gesundheitsmitteln – die alle in der Apotheke erhältlich und ohne Kenntnis der Differenzierung allein aufgrund der Umverpackung schwer unterscheidbar sind. Und er übernimmt schließlich drittens die Kosten für seine Therapie mit allen diesen Mitteln – auch dann, wenn sie medizinisch notwendig sind.

Fazit Am Beispiel der Selbstmedikation wurde deutlich, dass mitunter das ›Wofür‹ der Verantwortung auch dann diffus bleibt, wenn diese Verantwortung besonders voraussetzungsvoll ist. Eine Eigenverantwortung des Patienten mit zauberhaft-obskuren Mitteln erfordert, dass deren zauberhafte Wirksamkeit als so normal erscheint und das Netz von Herstellern, Zulassungsbehörden und Handel so reibungslos ineinandergreift, dass Pharmaka als alltägliche Gebrauchsgegenstände wahrgenommen werden – ob es sich dabei nun um Vitaminpräparate, Schmerztabletten oder Hustensaft handelt. Ein hoher Grad an Standardisierung und eine große Verlässlichkeit komplexer Strukturen schaffen die Bedingungen dafür, dass dem mündigen Bürger 117

Anna Henkel

eine Verantwortung für Risiken und Kosten zuschreibbar wird, die lange entweder als professionelles Hoheitsrecht oder als wohlfahrtsstaatliche Versorgungspflicht angesehen wurden. En passant werden Pharmaka dabei zu Konsumgegenständen, die zu konsumieren der mündige Bürger die Freiheit hat.

Zum Weiterlesen Henkel, Anna (2011): Soziologie des Pharmazeutischen. Baden-Baden: Nomos. Luhmann, Niklas (1983): »Anspruchsinflation im Krankheitssystem. Eine Stellungnahme aus gesellschaftstheoretischer Sicht«. In: Philipp Herder-Dorneich/Alexander Schuller (Hg.). Die Anspruchsspirale. Schicksal oder Systemdefekt? Stuttgart/Berlin/ Köln/Mainz: Kohlhammer, S. 28-49. Schmitz, Rudolf (1998): Geschichte der Pharmazie. Bd. 1. Eschborn: Govi-Verlag.

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Körpersoziologie Wem gehört mein Körper? Der Leib zwischen Selbst- und Fremdbestimmung Matthias Meitzler »Mein Körper gehört mir!« Diese Parole scheint heute so selbstverständlich zu sein, dass sie kaum mehr artikuliert werden muss. Schließlich könnte man den sozialen Wandel der vergangenen Jahrzehnte bzw. Jahrhunderte im Sinne einer Zunahme von Körperautonomie und Abnahme von institutionell auferlegten Körperzwängen lesen. Im Recht auf körperliche Unversehrtheit findet der Gedanke der Freiheit über den eigenen Körper eine juristische Festschreibung, die Selbstbestimmung des Subjekts äußert sich nicht zuletzt auch körperlich. Doch bin ich tatsächlich alleiniger Herrscher über meinen Körper? Geht meine Autonomie so weit, dass ich mit ihm überall und jederzeit machen kann, was ich möchte? An welcher Stelle trifft diese Vorstellung etwa auf moralische Einwände oder staatliche Regulierung? Wo ist es legitim, wenn nicht gar geboten, die persönliche Souveränität über den Individualkörper einzuschränken – zum Wohle des ›Gesellschaftskörpers‹, von dem man Ende des 19. Jahrhunderts noch sprach? Was bedeutet Körperautonomie im Kontext individueller Persönlichkeitsentfaltung und sozialer Verantwortung? Solche Fragestellungen sollen im Folgenden aus einer körpersoziologischen Perspektive betrachtet werden. Mit der Einschränkung von Körperautonomie, die sich in vielen verschiedenen Lebenssituationen manifestiert, wird zunächst der für diesen Beitrag gewählte Fall vorgestellt und mit dem Fokus auf das Lebensende konkretisiert. Anschließend wird die theoretische Perspektive der Körpersoziologie in al121

Matthias Meitzler

ler Kürze expliziert und sodann auf den empirischen Fall angewandt. Auf diese Weise soll am Schluss nicht nur aufgezeigt werden, inwiefern Körper gesellschaftlich geprägt sind, sondern auch, dass die für die moderne Gesellschaft postulierte Autonomie über den Körper alles andere als selbstverständlich, sondern im Gegenteil eine höchst ambivalente Angelegenheit ist.

Der Fall: Grenzen der Körperautonomie Der Begriff der Autonomie leitet sich ab vom altgriechischen autonomía (αὐτονομία) und bedeutet so viel wie ›Eigen-Gesetzlichkeit‹ bzw. ›Selbst-Gesetzgebung‹. Nimmt man diese Übersetzung beim Wort, dann zeichnet sich ein autonom geführtes Leben durch eigenverantwortlich getroffene Entscheidungen jenseits überindividueller Orientierungslinien und kollektivistischer Verbindlichkeiten aus. Im Hinblick auf das körperliche Korrelat von Autonomie ließe sich nun diskutieren, in welchen sozialen Kontexten die Verfügungshoheit über den eigenen Körper eingeschränkt oder zumindest fragwürdig ist. Hier ist vor allem an solche Handlungsfelder zu denken, in denen ein hohes Maß an Überwachung und Repression vorliegt, etwa im Internat, im Gefängnis, im Krankenhaus, in der Psychiatrie oder in anderen sog. totalen Institutionen. Deren »allumfassender oder totaler Charakter« werde Erving Goffman zufolge »durch Beschränkungen des sozialen Verkehrs mit der Außenwelt sowie der Freizügigkeit« (1977: S. 15f.) symbolisiert. Auffallend viele Beispiele bietet das Medizinsystem – insbesondere dann, wenn es mit anderen Systemen (wie z.B. Recht oder Erziehung) gekoppelt ist: Besteht etwa der Verdacht auf das Vorliegen einer hochkontagiösen Erkrankung bzw. wird diese diagnostiziert, so kann der Betroffene nach §30 des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz – IfSG) gegen seinen Willen in einer hierfür geeigneten Quarantäneeinrichtung fest122

Körpersoziologie

gehalten und somit das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit eingeschränkt werden. Ein besonders relevanter und aktueller Fall ist die 2020 einsetzende Coronavirus-Pandemie, in deren Verlauf weltweit erhebliche staatliche Maßnahmen von historischer Tragweite ergriffen wurden (u.a. Ausgangssperren bzw. -beschränkungen und Kontaktverbote, temporäre Schließungen von Geschäften und anderen öffentlichen Einrichtungen, Absage von Großveranstaltungen). Der – institutionell so postulierte  – verantwortungsvolle Umgang mit dem eigenen Körper (regelmäßiges Händewaschen, Husten und Niesen in die Armbeuge, das Meiden größerer Menschenansammlungen, das Einhalten eines ›Sicherheitsabstandes‹ zu anderen Personen oder das Tragen von Mund-Nasen-Bedeckungen) erfolgt hier nicht lediglich aus Sorge um sich, sondern im Geiste einer ›kollektiven‹ Verantwortung. Ferner kann eine Voraussetzung für die Ausübung mancher Berufe darin bestehen, dass man sich vor Dienstantritt medizinischen Untersuchungen unterziehen muss. In der Folge von Verkehrsdelikten können Blutproben zur Ermittlung der Fahrtüchtigkeit des Beschuldigten angeordnet werden. Und wie steht es um die Körperautonomie bei der medizinischen Behandlung bewusstloser Personen, denen ein ›Rettungsinterventionskonsens‹ bloß unterstellt werden kann? Weitere Facetten der (Reduktion von) Körperautonomie finden sich im Bereich der Sexualität. Trotz der Enttabuisierung vieler sexueller Themen und bei aller gewonnenen Toleranz, Affirmation und Akzeptanz ist spätestens dort eine Grenze erreicht, wo Einvernehmlichkeit fehlt, wo also das Ausleben der eigenen Körperautonomie die eines anderen Menschen einschränkt bzw. aushebelt. Demgegenüber gibt es legitime sexuelle Spielarten, für die das (autonom gewählte) Ausschalten von Körperautonomie ein konstitutives Element bedeutet. Die Rede

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Matthias Meitzler

ist von Praktiken, die in das weite Feld des Sadomasochismus hineinfallen (Wagner 2014). Wieder ein anderes Beispiel bieten Tätowierungen (Därmann und Macho 2017), die mittlerweile wohl zu den eindringlichsten, weil sichtbarsten Belegen für den zeitgenössischen Siegeszug der Individualisierung und Selbstbemächtigung des eigenen Körpers gezählt werden können. Dass dieser indes nicht nur zum autonom-kreativen, sondern durchaus auch zum kontroversen Kunstwerk werden kann, zeigen Bodymodifications – etwa in Form von Brandings, Ziernarben auf und Metallimplantaten unter der Haut, Spaltungen der Zunge oder anderer Körperteile (Borkenhagen, Stirn und Brähler 2014). Die soziale Akzeptanz ist hier offenbar schwächer ausgeprägt als beim Tattoo, doch vielleicht eignet sich die freiwillig vollzogene Körpermodifikation gerade deshalb als Autonomieindikator? Schon bis hierher wird die Mannigfaltigkeit all jener sozialer Bezüge deutlich, bei denen die Selbstbestimmung über den eigenen Körper bzw. die Infragestellung und Rücknahme ebendieser relevant sind. Dass dies nicht allein für Bereiche des Lebens, sondern auch und vor allem des Lebensendes gilt, wird im Folgenden anhand einer Fokussierung auf Kontexte des Sterbens, des Todes und der Postmortalität veranschaulicht. Der Körperautonomie sind bereits insofern Grenzen gesetzt, als Körper vergehen. Es handelt sich um einen unumkehrbaren Prozess, der sich nur bedingt beeinflussen, allenfalls hinauszögern lässt. Obschon Körper heutzutage in einem noch nie dagewesenen Ausmaß dank medizinischer Techniken repariert und körperliche Einschränkungen mittels Prothesen ausgeglichen werden können, ist spätestens die Lebensphase der Hochaltrigkeit von Vulnerabilität und einem bald schleichenden, bald schlagartigen Verlust von Körperautonomie geprägt. Ein ums andere Mal stellt der Körper auf meist buchstäblich schmerzliche Weise seine Eigensinnigkeit unter Beweis, klinkt sich ein, 124

Körpersoziologie

drängt sich auf und schiebt sich störend zwischen Handlungsabsicht und Handlungsvollzug (vgl. Meitzler 2017: S. 54ff.). Der körperliche Alterungsprozess findet im Tod seinen irreversiblen Endpunkt. Der Suizid gilt als wohl dramatischste Form der Selbstverletzung – vielleicht ist er aber auch die deutlichste Form der Selbstbestimmung (Durkheim [1897] 1999; Lindner-Braun 1990; Williams 2017). Wer sich das Leben nimmt, der entscheidet autonom über Zeitpunkt und Umstände seines Todes und raubt dem Lebensende damit die Ungewissheit. An der negativen Konnotation ändert das nichts; umso mehr stehen Maßnahmen der Suizidprävention im Vordergrund. Sollten Menschen selbst über den Zeitpunkt und die Umstände ihres Todes entscheiden dürfen? Wer trägt die Verantwortung für das Urteil, ob ein Leben noch lebens- und damit gewissermaßen ›bewahrenswert‹ ist? Fragen wie diese werden auch in den Debatten um das Thema ›Sterbehilfe‹ behandelt, insbesondere in Zeiten der ausgefeilten Apparatemedizin, in denen Lebensverlängerung auch Sterbensverlängerung bedeuten kann. Obwohl mein Körper mir gehört, entscheiden in dieser Phase andere, wie lange ich mit ihm leben muss – so ungefähr lautet die Kritik all derer, die sich diesbezüglich eine Liberalisierung wünschen (Bormann 2017; Flaßpöhler 2013). Die Frage nach dem Eigentum am Körper impliziert prinzipiell auch das Eigentum an den Organen. Zu Lebzeiten kann man bestimmen, ob und welche Organe man im Todesfall spenden möchte (Kahl, Knoblauch und Weber 2017). In Deutschland gilt die Zustimmungslösung, d.h. man muss einer Organentnahme vorab ausdrücklich zugestimmt haben. Weil in Deutschland die Zahl der Organspenden relativ gering ist, wurde zuletzt über die sog. Widerspruchslösung diskutiert, die in einigen anderen europäischen Staaten bereits Anwendung findet. Damit sind nun aber einige Probleme verbunden: Ist Schweigen als Zustim125

Matthias Meitzler

mung zu werten? Und kann ohne das Vorliegen einer aktiven Entscheidung überhaupt von einer Spende gesprochen werden? Im Januar 2020 hat sich die Mehrheit im Deutschen Bundestag gegen eine Widerspruchslösung entschieden. Beendet ist die Diskussion damit nicht. Nach deutschem Recht ist eine Leiche nicht eigentumsfähig und gehört damit weder dem Verstorbenen noch seinen Angehörigen noch irgendjemand anderem. Der Tod mag zwar das Ende des Lebens sein, aber er stellt keineswegs das Ende sämtlicher Autonomieansprüche dar. Durch mündliche oder schriftliche Artikulation der persönlichen Wünsche lässt sich das künftige Körperschicksal auch dann noch beeinflussen, wenn aus dem lebendigen, handlungs- und entscheidungsfähigen Leib längst ein toter Körper geworden ist. Neben der schon erwähnten Organspende betrifft dies bspw. die Frage, ob man seinen Leichnam einem anatomischen Institut zum Zwecke der medizinischen Forschung und Lehre vermachen oder auf welche Weise man bestattet werden möchte. Dass auch die postmortale Körperautonomie nicht grenzenlos ist, lässt sich an den hiesigen Bestattungsgesetzen veranschaulichen. Denn was mit einem Körper nach dem Lebensende passiert, obliegt nicht lediglich den persönlichen Einstellungen und Absichten, sondern ist auch Gegenstand juristischer Bestimmungen. Im Dienste des gesellschaftlichen Ordnungserhalts regeln sie die Art und den Ort der ›letzten Ruhestätte‹  – und nicht alles, was sich Menschen diesbezüglich wünschen, lässt sich ohne Weiteres durchsetzen (Benkel, Meitzler und Preuß 2019). Anders als in den meisten Nachbarländern muss ein toter Körper bzw. dessen Asche nach deutschem Recht auf einem Friedhof beigesetzt werden, abgesehen von nur wenigen legalen Ausnahmen (z.B. der Seebestattung). Die Verbringung von Totenasche in der Wohnung oder deren Weiterverarbeitung ist 126

Körpersoziologie

jedenfalls offiziell verboten, gleichwohl über Umwege prinzipiell möglich. Auch in Deutschland gibt es Personen, die einen alternativen Umgang mit der Asche ihrer Verstorbenen bevorzugen und sie sich illegalerweise aushändigen lassen, um damit autonom zu verfahren. Dazu gehört u.a. auch die Möglichkeit, daraus Schmuckstücke (etwa in Form von Diamanten) herstellen zu lassen (Benkel, Klie und Meitzler 2019). Angehörige werden auf diese Weise zu Eigentümern der zu kristallinen Artefakten verwandelten Toten. Wie anhand der empirischen Beispiele zu zeigen versucht wurde, sind weder der Körper noch die autonome Verfügung darüber so eindeutige Faktizitäten, wie auf den ersten Blick angenommen werden könnte. Die dahinterstehende Komplexität und Ambivalenz offenzulegen, zu reflektieren und zu erklären, ist Gegenstand der Körpersoziologie, aus deren Blickwinkel der dargelegte Fall im Weiteren betrachtet werden soll.

Körpersoziologie als theoretische Perspektive Die Soziologie des Körpers ist ein vergleichsweise junges Forschungsfeld, welches nach der Art und Weise der körperlichen Einbettung in gesellschaftliche und kulturelle Zusammenhänge fragt (Shilling 1993). Wenngleich es sich nicht um ein Theoriegebäude im eigentlichen Sinne handelt, wurde und wird die Körpersoziologie von diversen theoretischen Strömungen (insbesondere jenen des Sozialkonstruktivismus, der Phänomenologie und der Philosophischen Anthropologie) beeinflusst. Indem sie Körperlichkeit als sozialwissenschaftliche Basiskategorie zu fassen versucht (Lindemann 1995; Gugutzer, Klein und Meuser 2017), ist die Soziologie des Körpers mehr als eine spezielle Soziologie. »Zwei (oder mehr) Handelnde, die sich in ihrem Handeln wechselseitig aneinander orientieren, tun dies im Medium von Leib und Körper […] Die Konstitution von Sozialität ist im leib127

Matthias Meitzler

lichen Zur-Welt-Sein und der wechselseitigen leiblich-sinnlichen Wahrnehmung sozialer Akteure fundiert.« (Gugutzer 2015: S. 146f.) Körper sind darum nicht lediglich biologische Grundausstattung, die man schlichtweg »als eine natürliche Selbstverständlichkeit des Daseins« abtun könnte; stattdessen werden sie »auf vielfältige Weise hergestellt, modifiziert oder manipuliert« (Klein 2010: S.  457). Ob Gewalt, Schmerz, Behinderung, Geschlecht, Sexualität, Alterung, Emotion, Fitness oder Mode – Körperphänomene sind auch und vor allem soziale Phänomene. Selbst solche vermeintlich natürlichen, jedenfalls trivialen Abläufe wie Gehen, Sitzen, Strecken, Bücken, Liegen, Essen, Trinken, Greifen, Hüpfen etc. sind letztlich kulturell vermittelte »Techniken des Körpers« (Mauss [1936] 1975). Soziologisch kann man den Körper sowohl als Produzenten wie auch als Produkt von Gesellschaft in den Blick nehmen (vgl. Gugutzer 2015: S.  8f.). Beide Perspektiven bedingen einander. Erst durch Körper und das ihnen inhärente Handlungspotenzial wird Gesellschaft hervorgebracht: Ohne Körper gibt es kein soziales Handeln – und ohne soziales Handeln gibt es keine Gesellschaft. Gleichzeitig sind Körper gesellschaftliche Produkte, weil sie immerzu an (Macht-)Strukturen, Werten und Normalitätserwartungen ausgerichtet sind, durch die sie geformt, reguliert und manipuliert werden. Soziale Phänomene finden in Körperlichkeit ihren Ausdruck; nicht zuletzt deshalb hat sich »die Erkenntnis durchgesetzt, dass dem Körper ein zentraler Ort in soziologischen Analysen und Theorien zuzuweisen sei« (Klein 2010: S. 457). Was man mit seinem Körper in welchem Kontext auch immer tut – etwa die Art und Weise, wie man ihn bewegt, ihn ästhetisch einrichtet, aber auch: wie man ihn selbst empfindet und bewertet –, ist ein Effekt gesellschaftlicher Prägung. Das Vorhandensein von Körpern ist somit genauso Voraussetzung für die soziale Welt, wie Körper von der sozialen Welt konstruiert werden. Vor diesem Hintergrund hilft die Perspek128

Körpersoziologie

tive der Körpersoziologie, die sozialen Bedingtheiten und Wirkungen von Körperlichkeit in ihrer Mehrdimensionalität und jenseits von Naturalisierungsdiskursen besser zu erklären und zu verstehen. Überdies lässt sich mit ihr die Position des Körpers als aufschlussreiches Scharnier zwischen Individuum und Gesellschaft veranschaulichen (Villa 2008).

Selbst- und fremdbestimmte Verantwortung nach dem Lebensende Dieser körpersoziologische Bezugsrahmen soll nun auf den empirischen Fall angewandt werden, um die soziale Kontextualität toter Körper offenzulegen. Zunächst kann festgehalten werden, dass bei allem Freiraum, den die moderne Gesellschaft dem Körper gegeben hat, seine Autonomie nie absolut, sondern immer nur im Sinne eines ›Mehr‹ oder ›Weniger‹ zu verstehen ist. Auch und gerade was die körperlichen Aspekte des Lebens anbelangt (sei es in Bezug auf Ernährung, Gesundheit oder wechselseitiger Zuwendung), sind Menschen nicht unabhängig, sondern brauchen einander. Dazu gehört u.a., dass Körperpraktiken wie z.B. der kontrollierte Umgang mit Affekten (Elias 1976) nicht auf einer individuellen Entscheidung beruhen, sondern hochgradig normiert sind und im Zuge der Sozialisation erst eingeübt werden müssen. So autonom sich ein Leben in der modernen Gesellschaft anfühlen mag und so viel Freiheit der körperlichen Praxis auf den ersten Blick innewohnt, bewegt sie sich doch immerzu in einem gesellschaftlichen Rahmen, der das Ausführen wie das Unterlassen von Handlungen nahelegt – und Autonomie damit nolens volens limitiert. Fragt man, wie viel Autonomie die gesellschaftliche Ordnung letztlich aushält, so lautet die derzeitige Antwort: offenbar nicht zu viel. Wo aber genau die Grenze verläuft, ist nicht universell festgelegt, sondern hängt von den zeitlichen und situativen Faktoren einer Gesellschaft ab. Es darf vermutet 129

Matthias Meitzler

werden, dass künftige Generationen ein verändertes Verständnis von Autonomie und Verantwortung in Bezug auf Körperlichkeit haben werden – und ihre Körper auf eine Weise behandeln, die wir heute noch als unvernünftig, gefährlich oder krank empfinden. Doch dann wird unsere Sichtweise es sein, die als antiquiert und unpassend gilt – derweil wir selbst vielleicht schon längst nicht mehr am Leben sind. Ausgehend von der Körpersoziologie, und insbesondere unter Einbeziehung verwandter Felder wie der Wissenssoziologie, kann aufgezeigt werden, dass ein toter Körper keineswegs ›objektiv feststeht‹, sondern immerzu Ergebnis einer gesellschaftlichen Zuweisung ist. Dass überhaupt von einer medizinisch attestierten und am Körper abgelesenen ›Wahrheit‹ von Sterben und Tod gesprochen werden kann (Benkel und Meitzler 2018), verdankt sich einem Jahrhunderte überdauernden Prozess der Ausdifferenzierung spezifischer Körperwissensformationen (Foucault 1973). Damit sind unterdessen Verantwortungsverschiebungen zementiert worden: War die ärztliche Profession im Mittelalter bspw. noch primär für die Versorgung akuter Wunden zuständig, übernahm sie in der Folgezeit allmählich die Definitionshoheit über Leben und Nicht-Leben. Zugespitzt formuliert: Man ist dann tot, wenn eine ärztliche Diagnose dies postuliert. Die körpersoziologische Betrachtung ermöglicht es, solchen Wissensregimen kritisch zu begegnen und zu unterstreichen, dass auch in einem auf den ersten Blick naturwissenschaftlichen Feld wie der Medizin gesellschaftliche Einflüsse mitwirken. Die Kriterien zur Feststellung des Todes haben sich im Laufe der Kulturgeschichte gewandelt und angesichts immer weiter verfeinerter Technologien spricht wenig dafür, dass diese Entwicklung ausgerechnet mit dem aktuell (zumindest in der westlichen Welt) gültigen Hirntodkriterium an ihr Ende gekommen ist (Schlich und Wiesemann 2001). Hieran wird evident, dass 130

Körpersoziologie

Zustände und Definitionen des Körpers stets von vorläufiger Gültigkeit sind und sich ändern, sobald gesellschaftliche Impulse eine Revision nahelegen (Schroer 2005). Am Beispiel der Verantwortungsherausforderung der (assistierten) Selbsttötung, der Organspende sowie der Bestattung eines Leichnams lässt sich geradezu paradigmatisch verdeutlichen, dass das Geflecht von Körper und Selbstbestimmung nicht unabhängig von Machtzusammenhängen und kontroversen Debatten gedacht werden kann. Bei der Sterbehilfe geht es nicht darum, zu bestimmen, wann ein zuvor als lebend definierter Leib fortan als toter Körper gilt, sondern darum, wann ein nach wie vor lebendiger Leib tot sein, d.h. freiwillig ›stillgelegt‹ werden darf. Handelt es sich in diesem Fall um eine gezielte Herbeiführung des Sterbemoments, so soll wiederum die Transplantation von Organen diesen möglichst weit hinauszögern. Bei der Organspende wird die sozial erzeugte Ambivalenz von Leben und Nicht-Leben besonders augenfällig: Wie tot darf und wie lebendig muss ein Organ sein, das einem als hirntot deklarierten menschlichen Körper entnommen wird – um bei geglücktem Eingriff wenige Zeit später in einem anderen Körper weiterzuleben und diesen zu revitalisieren? Aus körpersoziologischer Perspektive ist die Organspende insofern ein weiteres Beispiel für die Relativierung der vermeintlichen Eindeutigkeit des toten Körpers, als hieran erkennbar wird, dass sich Lebendigkeit gewissermaßen partikularisieren lässt (Benkel 2016). Dessen unbeschadet steht die Sorge um die postmortale Autonomie der noch hinreichend lebendigen Organe in einem bemerkenswerten Spannungsverhältnis zur institutionellen Einschränkung postmortaler Autonomie, wenn es um die Bestattung toter Körper geht. Eine Variante, die sich dieser Einschränkung auf eigenwillige Weise widersetzt, ist der Aschediamant. Er wirft seinerseits die Frage nach den Grenzen von Körperlichkeit auf: Zwar steht er in rein morphologischer Hinsicht einem mensch131

Matthias Meitzler

lichen Körper nur allzu fern – dass er aber dennoch mit dem Verstorbenen in Verbindung gebracht werden kann, bisweilen sogar mit ihm gleichgesetzt wird, ist nicht das Resultat unumstößlichen Wissens, sondern abermals sozialer Zuschreibung. Letztlich ist diese Form der postmortalen Totaltransformation von Körpermaterie sogar notwendige Voraussetzung dafür, dass mit dem sich seines Leichencharakters entledigten Toten autonom umgegangen werden kann.

Fazit Gegenwärtig ist Autonomie das zentrale Paradigma, wenn es um Körper in modernen Gesellschaften geht. Autonomie bedeutet in diesem Zusammenhang, dass Menschen nicht nur die Freiheit, sondern auch die Verantwortung zukommt, selbst zu entscheiden, was richtig ist und was nicht. Diese Verantwortung ist jedoch insofern eine riskante Verantwortung, als sie sich im Falle eines Scheiterns gewählter Lebenskonzepte nicht mehr wie in früheren Zeiten ohne Weiteres an übergeordnete Institutionen wie z.B. Staat und Kirche delegieren lässt (Beck 1986). Im Unterschied dazu war der Aktionsbereich des Todes lange Zeit von einem hohen Maß an Fremdbestimmung geprägt – etwa in Form kollektiv verbindlicher Rituale, welche einerseits die persönliche Entscheidungsfreiheit des Einzelnen einschränkten, andererseits Handlungsentlastung garantierten. Auch wenn in der heutigen individualisierten Gesellschaft solche Direktiven brüchig geworden sind, zeigt nicht zuletzt der Umgang mit sterbenden und toten Körpern, dass die Idee der Selbstverantwortung bisweilen an ihre Grenzen stößt. Vor diesem Hintergrund muss Körperlichkeit zwischen Autonomieansprüchen auf der einen Seite und sozialen Ordnungsanliegen auf der anderen stets neu verhandelt werden. Das Lebensende, scheinbar die natürlichste Sache der Welt, ist in einer (körper-) soziologischen Betrachtung alles andere als das. 132

Körpersoziologie

Zum Weiterlesen Benkel, Thorsten/Meitzler, Matthias/Preuß, Dirk (2019): Autonomie der Trauer. Zur Ambivalenz des sozialen Wandels. Baden-Baden: Nomos. Bourdieu, Pierre (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Gugutzer, Robert (Hg.) (2006): Body Turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports. Bielefeld: transcript.

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Wirtschaftsethik Globale Mitverantwortung für ungerechte Folgen des Marktsystems am Beispiel der Umweltverschmutzung der Lagune Mar Menor (Spanien) Annekatrin Meißner Im Rahmen von Verantwortungsdiskursen steht immer wieder die Frage nach der globalen Mitverantwortung von Konsument*innen für ungerechte Folgen des Marktsystems wie Umweltverschmutzung oder ausbeuterische Arbeitsbedingungen an den Produktionsstandorten im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Konsumierende argumentieren, dass es für sie unmöglich ist, für jedes Produkt die Wertschöpfungskette nachzuverfolgen, da große Intransparenz hinsichtlich der Herkunftsregion und der Produktionsbedingungen herrscht. Doch auch für Produkte mit Siegeln und Zertifizierungen benötigen Konsument*innen ein entsprechendes Vorwissen, um die unterschiedlichen Prioritäten und Werte, die dahinter liegen, für sich bewerten zu können. Mit Bezug auf diese Intransparenz können Konsumierende darauf verweisen, dass die moralische Verantwortung nicht bei Ihnen, sondern vielmehr beim Handel liegt, so können bspw. große Supermarktketten direkten Einfluss auf den Produktionsstandort und die dort vertretenen Umweltstandards nehmen. Diese Form der ›Weiterverschiebung‹ von Verantwortung findet jedoch nicht nur von Konsument*innen auf Supermarktketten statt, eine ähnliche Entlastungsargumentation wird auch von anderen Akteuren der Wertschöpfungskette für sich in Anspruch genommen. Die Beschäftigten in der Landwirtschaft schieben bspw. ihre Verantwortung mit 137

Annekatrin Meißner

Verweis auf Systemzwänge und Abhängigkeiten auf die großen Agrarkonzerne und Supermarktketten, welche wiederum ihre Verantwortung z.T. an die Konsument*innen weitergeben, die jederzeit ein bezahlbares und vielfältiges Warensortiment nachfragen sowie auf die Politik, mit Verweis auf Arbeitsplätze und internationale Standortvorteile. Diese Art der Weiterverschiebung von Verantwortung beruht auf dem Verursacherverständnis von Verantwortung, das seine Wurzeln in der juristischen Denkweise hat und davon ausgeht, dass es für jeden verursachten Schaden, der als Folge oder Nebenfolge einer Handlung entsteht, einen Urheber gibt. Das Verursacherverständnis von Verantwortung greift als alleiniges Verantwortungsverständnis jedoch zu kurz. Neben dem Problem der Weiterverschiebung von Verantwortung durch die isolierte Betrachtung und den Fokus auf individuelle Handlungen zählt zu den Defiziten, dass es reaktiv allein auf die Vergangenheit gerichtet ist und andauernde Prozesse nicht erfassen kann. Außerdem geht es von einem Normalzustand aus, der – wenn er gestört wurde – nach der Behebung des Schadens wiederhergestellt werden kann. Ein Defizit zeigt sich dann, wenn der Verursacher den Schaden nicht wieder gut machen kann. Deutlich wird an den aufgeführten Defiziten, dass das bisherige Verursacherverständnis von Verantwortung und das darauf basierende Haftbarkeitsmodell in globalen Wirtschaftsprozessen an seine Grenzen gerät. Der vorliegende Beitrag setzt an diesem Defizit an und beabsichtigt, ausgehend von Iris Marion Youngs Konzept von globaler Mitverantwortung, einen Weg aufzuzeigen, wie Verantwortungsfragen in globalen Wirtschaftsprozessen analysiert werden können und damit dem Weiterverschieben von Verantwortung begegnet werden kann. In einem ersten Schritt wird das Fallbeispiel der Umweltverschmutzung der Lagune Mar Menor unter Beteiligung der globalen Marktstrukturen erläutert, 138

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anschließend erfolgt in einem zweiten Schritt die Darlegung des Konzepts aus der Wirtschaftsethik zu globaler Mitverantwortung, welches in einem dritten Schritt auf das Fallbeispiel angewendet wird. In einem abschließenden Fazit wird ein Bezug zur Einleitung hergestellt und die Relevanz des Konzepts Globaler Mitverantwortung für den Verantwortungsdiskurs herausgestellt.

Fallbeispiel: Die Umweltverschmutzung der Lagune Mar Menor In Spaniens Region Murcia befindet sich die größte Salzwasserlagune Europas – die Lagune Mar Menor – das ›kleine Meer‹. Das Ökosystem der Lagune ist insbesondere bekannt für die große Population an Seepferdchen. Im Oktober 2019 bot sich ein anderes Bild in den internationalen Medien – dasjenige toter Fische und eines sterbenden Ökosystems (vgl. Nova Ciencia 2019). Fragen nach den Gründen und der Verantwortung für das sterbende Ökosystem stellen sich dringend. Seit mehreren Jahren beschäftigen sich Umweltverbände und Ortsansässige mit der schwindenden Wasserqualität der Lagune. Als einer der zentralen Gründe wird die bewässerungsintensive Landwirtschaft angeführt: Spanien und insbesondere die Region Murcia gilt als Gemüsegarten Europas. Das dort angebaute Gemüse wird nach ganz Europa und insbesondere auch an die großen deutschen Supermarktketten geliefert. Gleichzeitig ist die Region Murcia eine der trockensten in Spanien und intensive Landwirtschaft ist nur mit ausgiebiger Bewässerung über Schläuche im Boden möglich. Diese Art der Bewässerungslandwirtschaft bleibt nicht ohne Folgen für die größte Salzwasserlagune Europas – das Mar Menor – welches z.T. direkt an die Agraranbauflächen grenzt. Seit Jahren gelangt mit Nitrat und anderen Schadstoffen belastetes Wasser in die Lagune und die Gefahr, dass das Ökosystem vollständig kippt, ist seit Langem 139

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bekannt (vgl. Dursun et al. 2018). Im Oktober 2019 wurden nach einem Sturm, der zum einen Erde und Schlamm von den Feldern in die Lagune spülte sowie zum anderen dort abgelagerte Schadstoffe vom Boden der Lagune aufwirbelte, tausende toter Fische und Krustentiere an die Strände des Mar Menor gespült. Sie starben, weil der Sauerstoffgehalt im Wasser nicht mehr zum Überleben ausreichte (vgl. Nova Ciencia 2019). Davon ausgehend stellt sich in Hinblick auf die Verantwortungsfrage nicht nur die nach der rechtlichen Verantwortung, sondern ebenfalls die Frage nach der moralischen Verantwortung für die Umweltverschmutzung der Lagune Mar Menor.

Das Konzept Globaler Mitverantwortung nach Iris Marion Young Das Verursacherverständnis von Verantwortung und das darauf basierende Haftbarkeitsmodell gelangen für solche komplexen Fragen nach der moralischen Verantwortung an ihre Grenzen, da aufgrund der isolierten und separaten Betrachtung von Verantwortung diese immer auf andere Akteure geschoben werden kann. Darüber hinaus finden andauernde Prozesse und Strukturen keine Berücksichtigung und ein Normalzustand kann nicht einfach wiederhergestellt werden. An den aufgeführten Defiziten des Verursacherverständnisses von Verantwortung und dem Haftbarkeitsmodell von Verantwortung setzt die Philosophin Iris Marion Young an und beabsichtigt, dieses mit Ihrem Verständnis von globaler Mitverantwortung und dem Modell der sozialen Verbundenheit zu erweitern. Grundlage bildet in Anschluss an Onora O’Neill die Annahme, dass alle Menschen auf einer vorstaatlichen Ebene miteinander verbunden sind. Diese Verbundenheit beruht darauf, dass wir andere in unseren eigenen Handlungen als Bedingungen voraussetzen. Soziale Beziehungen sind nicht auf Nationalgrenzen beschränkt, ebenso wenig wie globale Wirtschaftsbeziehungen und Institutionen, 140

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die unsere Handlungen, aber auch die von weit entfernt lebenden Personen, beeinflussen. Unsere Handlungen gründen zu einem Teil auf denen von anderen, insofern wir z.B. bei der Ausübung auf sie angewiesen sind, aber auch insofern wir über ein generelles Wissen darüber verfügen, was andere Menschen tun, welches uns in die Lage versetzt, Ereignisse und institutionelle Auswirkungen zu formulieren und unser Handeln danach auszurichten (Young 2013: S. 334f.). Auch wenn wir uns dieser moralischen Beziehung nicht bewusst sind oder sie sogar ablehnen, haben wir Verpflichtungen denen gegenüber, die unsere eigenen Handlungen zugleich bestimmen und ermöglichen (Young 2013: 335). Ausgehend von diesen Betrachtungen entwickelt Young ihre Definition von struktureller Ungerechtigkeit. »Strukturelle Ungerechtigkeit existiert, wenn soziale Prozesse eine große Personenzahl systematisch damit bedrohen, beherrscht oder der Mittel beraubt zu werden, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und auszuüben, während diese Prozesse zugleich andere in die Lage versetzen, zu herrschen oder gute Chancen darin zu haben, ihre Fähigkeiten zu entwickeln oder auszuüben.« (Young 2013: 346; Hervorhebung im Original) Für Young stellt strukturelle Ungerechtigkeit »eine Form moralischen Unrechts [dar], das von der unrechten Handlung eines Individuums oder von bewusst unterdrückerischen politischen Entscheidungen im Staat zu unterscheiden ist. Strukturelle Ungerechtigkeit ereignet sich als Resultat von Handlungen vieler Individuen und Institutionen, die ihre eigenen Ziele und Interessen innerhalb vorhandener institutioneller Regeln und akzeptierter Normen verfolgen.« (Young 2013: S. 346) Nach Young kommt allen Personen, die am fortlaufenden System voneinander abhängiger Kooperationsund Wettbewerbsprozesse teilnehmen und damit die globalen Wirtschaftsstrukturen konstituieren, eine Mitverantwortung für die ungerechten Folgen dieses Systems wie Ausbeutung oder 141

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Umweltverschmutzung zu (Hahn 2008: S. 6). Diese Mitverantwortung begründet sich auf ihrer Beteiligung an den Prozessen und nicht auf einer beabsichtigten Verursachung. Mitverantwortung wird von Young daher als eine politische Mitverantwortung betrachtet, die auf zukünftiges Handeln mit dem Ziel der Veränderung globaler Strukturen gerichtet ist. Das Verantwortungsmodell der sozialen Verbundenheit zeichnet sich durch fünf Merkmale aus: Die nicht-isolierende Betrachtung (1) stellt heraus, dass, auch wenn einige an einer Handlung schuld sind, diejenigen, die zu den Umständen beigetragen haben, ebenfalls Verantwortung tragen (Young 2013: S. 354f.). »Jeder ist zu einem Teil persönlich für diese Folgen verantwortlich, weil keiner sie allein verursacht hat« (Young 2013: S. 358). Dieser Umstand wird von Young über das Kriterium geteilte Verantwortung (2) erfasst. Die Beurteilung der Hintergrundbedingungen (3) bezieht sich darauf, dass gerade normkonformes Verhalten Teil der Produktion und Reproduktion struktureller Ungerechtigkeit ist (ebd.: S. 355f.). Aufgrund der Tatsache, dass Prozesse andauern, richtet sich die Verantwortung auf die Veränderung der Strukturen mit Orientierung auf die Zukunft (4) (ebd.: S.  356f.). Der Fokus auf kollektive Handlungen (5) bezieht sich darauf, dass die vorausschauende Verantwortung allein dadurch umgesetzt werden kann, dass sich Akteure mit anderen zu einer kollektiven Handlung zusammenschließen. Um ungerechte soziale Strukturen ändern zu können, müssen verschiedene Akteure in unterschiedlichen sozialen Positionen zusammen handeln (ebd.: S. 359). Young betont: »Ergänzend zum Haftbarkeitsmodell lässt das Modell sozialer Verbundenheit zu, dass wir zusammen die Verantwortung […] tragen, ohne dass wir jemanden persönlich für die Strukturen anklagen […] Das bedeutet nicht notwendig, dass alle, die Verantwortung teilen, die gleiche Verantwortung tragen« (Young 2013: S. 362).

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Nach Young hängen Art und Grad der Mitverantwortung mit der Position zusammen, die ein Akteur in strukturellen Prozessen einnimmt. Die besondere Relevanz von Youngs Ansatz für die Diskussion um globale Verantwortung in der Wirtschaftsethik zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie dafür die folgenden vier Beurteilungsparameter entwickelt hat: Macht, Privilegierte Stellung, Interesse, Kollektive Fähigkeit: Unter Macht versteht Young unterschiedliche Grade potentieller und wirklicher Möglichkeiten bspw. über Ressourcen zu verfügen sowie Prozesse und deren Folgen zu beeinflussen (Young 2013: S. 365). Der Beurteilungsparameter Privilegierte Stellung hat den Hintergrund, dass Personen in privilegierter Stellung in der Lage dazu sind, sich an die veränderten Umstände anzupassen, »ohne dass sie dadurch gravierende Einbußen erdulden müssen« (Young 2013: S. 366). Über das Kriterium Interesse wird berücksichtigt, dass Akteure ein unterschiedliches Interesse haben, an der Veränderung der Strukturen mitzuwirken, und sich dieses oftmals gerade nicht mit den vorhandenen Machtstrukturen deckt. Das Kriterium Kollektive Fähigkeit bezieht sich auf die Möglichkeit zur Veränderung von Prozessen, welches dann zustande kommt, wenn Interesse, Macht und bestehende Organisationen zusammentreffen (ebd.: S. 368f.). Mit ihrem Modell der sozialen Verbundenheit und insbesondere den vier Beurteilungsparametern hat Iris Marion Young die theoretische Grundlage geschaffen, Verantwortung in globalen strukturellen Wirtschaftsprozessen differenziert zu betrachten.

Globale Mitverantwortung: Die Lagune Mar Menor Youngs Modell der sozialen Verbundenheit stellt eine Ergänzung und Erweiterung zum Verursachermodell von Verantwortung dar, um strukturellen Ungerechtigkeiten, wie Umweltverschmutzung und Ausbeutung in andauernden globalen 143

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Kooperations- und Wettbewerbsprozessen, Verantwortung zuschreiben zu können. Ausgehend von Youngs Verantwortungsmodell aus sozialer Verbundenheit kommt allen Personen und Akteuren, die am fortlaufenden System voneinander abhängiger Kooperations- und Wettbewerbsprozesse teilnehmen und damit die Strukturen konstituieren, eine Mitverantwortung für die ungerechten Folgen dieses Systems zu. Die globale Agrar- und Lebensmittelindustrie kann als System voneinander abhängiger Kooperations- und Wettbewerbsprozesse betrachtet werden. Die Merkmale des Modells sozialer Verbundenheit lassen sich auch auf dieses übertragen, da sich eine Vielzahl von Menschen an Ungerechtigkeit erzeugenden Prozessen, Institutionen und Praktiken beteiligen: Für das Modell der sozialen Verbundenheit ist ein zentrales Kriterium das der Nicht-isolierenden Betrachtung, d.h.: »Unter struktureller Ungerechtigkeit entlässt die Tatsache, dass einige Personen an bestimmten unrechten Handlungen schuld sind, nicht diejenigen aus der Verantwortung, deren Handlungen zu den Zuständen beigetragen haben.« (Young 2013: S. 354) Für die Frage nach der Verantwortung für die Umweltverschmutzung der Lagune bedeutet dies, dass, auch wenn konkrete Beschäftigte in der Landwirtschaft mit Nitrat belastetes Wasser in die Lagune ableiten, Agrarkonzerne, Supermarktketten, Konsument*innen und die Politik ebenfalls Verantwortung tragen, weil ihre Handlungen zu den Zuständen beigetragen haben. Entscheidend ist dabei die Beurteilung der Hintergrundbedingungen. Nach dem Modell sozialer Verbundenheit wird eine Schädigung nicht danach beurteilt, inwieweit sie vom Normalen oder Akzeptablen abweicht, sondern es gilt, die als normal vorausgesetzten Hintergrundbedingungen zu hinterfragen. Zur Reproduktion struktureller Ungerechtigkeit tragen die Beteiligten eben deshalb bei, weil sie akzeptierten sozialen Regeln und Konventionen unserer Gemeinschaften und Institutionen fol144

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gen (Young 2013: S. 355f.). Die Mitverantwortung der Akteure in Hinblick auf Umweltverschmutzung begründet sich daher über ihre Beteiligung an Prozessen vor dem Hintergrund gegebener Regeln, jedoch nicht über eine beabsichtigte Verursachung. Agrarkonzerne ebenso wie große Supermarktketten versuchen entlang einer Marktrationalität die Kosten zu senken und ihren Umsatz zu steigern, Landwirt*innen versuchen ihr Obst und Gemüse zu dem bestmöglichen Preis zu verkaufen, d.h. ebenfalls Kosten zu senken und Konsument*innen kaufen i.d.R. zum günstigsten Preis. Diese Hintergrundbedingungen sind es, die nach Young mitberücksichtigt werden müssen, vor allem in Hinblick auf die Zukunft. Da durch Strukturen in Gang gesetzte Ungerechtigkeiten keinen Endpunkt erreichen, sondern andauern, zielt Youngs Verantwortungsmodell nicht darauf ab, anzuklagen oder zu bestrafen, vielmehr ist es in die Zukunft blickend darauf ausgerichtet, diejenigen, die an kollektiven Handlungsprozessen teilnehmen, in die Pflicht zu nehmen, diese Strukturen zu verändern (Young 2013: S.  357f.). Damit bezieht sich auch im Fall der Lagune Mar Menor die Mitverantwortung der Akteure auf zukünftiges Handeln mit dem Ziel, die Strukturen und Hintergrundbedingungen des globalen Wirtschaftens in der Agrar- und Lebensmittelindustrie zu verändern und die Prozesse ohne negative Folgen für die Umwelt umzugestalten. Dies kann nach Youngs Modell nur im Rahmen einer geteilten Verantwortung und als kollektive Handlung gelingen. Verantwortung aus sozialer Verbundenheit ist nach Young politische Verantwortung, bei der öffentliches kommunikatives Engagement mit anderen im Vordergrund steht (vgl. ebd.: S. 359). Ausgehend von der Einordnung in das Modell sozialer Verbundenheit kann in einem ersten Schritt festgehalten werden, dass neben den Landwirt*innen auch den Konsument*innen, den Supermarktketten, den Agrarkonzernen und der Politik eine auf zukünftiges Handeln gerichtete politische Mitverant145

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wortung mit dem Ziel der Veränderung der bestehenden Strukturen in der Agrar- und Lebensmittelindustrie zugeschrieben werden. Entscheidend ist, dass auch wenn allen eine Mitverantwortung zukommt, diese nicht gleich ist, sondern sich nach Young die Verantwortung eines Akteurs nach seiner Position in den globalen Prozessen richtet. Übertragen auf das geschilderte Problem der Umweltverschmutzung im Mar Menor stellt sich die Verantwortungsfrage damit folgendermaßen: Wem kommt Verantwortung anhand seiner Position in dem globalen Prozess zu, die Strukturen, die zur Umweltverschmutzung der Lagune Mar Menor beitragen, mit Blick auf die Zukunft zu ändern? Anhand der entwickelten Beurteilungsparamenter Macht, privilegierte Stellung, Interesse und kollektive Fähigkeit lässt sich basierend auf Young in einem zweiten Schritt Verantwortung folgendermaßen konkretisieren: Aufgrund ihrer Macht, verstanden als Möglichkeiten des Verfügens von Ressourcen und der Beeinflussung von Strukturen, kann globale Mitverantwortung insbesondere der Politik, den Agrarkonzernen und den großen Supermarktketten zugeschrieben werden. Agrarkonzerne und große Supermarktketten verfügen z.B. über Ressourcen, sich branchenübergreifend für höhere Standards einzusetzen, die damit für alle gelten, sodass sich nicht einzelne moralisch agierende Unternehmen gegenüber anderen ausbeutbar machen (Homann 2015: S.  29f.), bestehende Hintergrundbedingungen jedoch dahingehend abgeändert werden können. Durch ihre privilegierte Stellung, d.h. sich an veränderte Umstände anpassen zu können, ohne gravierende Einbußen zu erleiden, kommt Verantwortung ebenfalls Politiker*innen, Agrarkonzernen und Supermarktketten zu. Darüber hinaus können Konsument*innen, die über entsprechende Möglichkeiten verfügen (monetär, aber auch nichtmonetär in Form von Zeit und 146

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Wissen), Gastronom*innen, Tourist*innen, und Wissenschaftler*innen, insbesondere auch aus dieser Region, ausgehend von ihrer privilegierten Stellung als Mitverantwortliche betrachtet werden. Globale Mitverantwortung kann aufgrund ihres Interesses den Beschäftigten in der Fischerei, Umweltschützer*innen  – als Interessenvertretende des Mar Menor –, NGO’s, den Bewohner*innen der Region Murcia und der Lagune, Unternehmer*innen, die vom Tourismus leben, und den Landwirt*innen zugeschrieben werden. Die Kollektive Fähigkeit bezieht sich auf die Möglichkeit zur Veränderung von Prozessen, welche dann zustande kommt, wenn Interesse, Macht und bestehende Organisationen zusammentreffen. Für die Lagune Mar Menor würde eine Zusammenarbeit der Fischer*innen, Umweltschützer*innen und Bewohner*innen in Verbindung mit der Kommunalpolitik nach Young das Potential besitzen, zu einem Wandel der Landwirtschaft im Gebiet des Mar Menor beizutragen. In der Praxis werden aktuell neben einem Gesetz für Filter auch ein Grünstreifen um die Lagune, die Renaturierung sowie eine Umstrukturierung der intensiven Landwirtschaft und eine Außerbetriebnahme der Brunnen und illegalen Ableitungssysteme diskutiert (Nova Ciencia 2019). Im Sinne der hier angelegten Perspektive sind diese Maßnahmen als Form zukunftsgerichteter Verantwortung einzuordnen, die insbesondere als Ausdruck der Kriterien Interesse und kollektiver Fähigkeit betrachtet werden könne. Wünschenswert wäre vor allem bei der Umstrukturierung der intensiven Landwirtschaft die Unterstützung und Umsetzung durch Akteure, die unter dem Beurteilungsparamenter Macht als relevant eingeschätzt wurden.

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Fazit: Globale Mitverantwortung als Erweiterung der Verursacherverantwortung Diese einzelnen Parameter bedürfen nach Young noch einer detaillierten Ausarbeitung, sind aber ein erster Schritt in Richtung einer Verantwortungskonzeption, welche über die nationalen Rechtsräume hinausreicht und die versucht, die andauernden strukturellen globalen, sozialen und ökologischen Verbindungen von Individuen und Institutionen zu berücksichtigen (Young 2013: S.  368f.). Young gelingt es mit ihrem Modell der sozialen Verbundenheit und ihrem Konzept von globaler Mitverantwortung, die Verantwortungsperspektive über die retrospektive Verursacherdimension hinaus zu erweitern und damit Perspektiven für eine Weiterentwicklung des Verantwortungsdiskurses in globalen Wertschöpfungsprozessen aufzuzeigen. Damit kann der eingangs erwähnte Kreislauf der Weiterverschiebung von Verantwortung auf andere Akteure durchbrochen und der Blick auf die kollektiven Fähigkeiten der gestaltenden Verantwortung gerichtet werden. Anregungen und Ideen, wie eine Strukturveränderung unter den gegebenen klimatischen Bedingungen der Trockenheit gelingen kann, gibt es bereits. Als ein erfolgreiches Beispiel kann die 1977 von Dr. Ibrahim Abouleish gegründete SEKEM-Initiative betrachtet werden, die mit biologisch-dynamischer Landwirtschaft den Wüstenboden in der ägyptischen Wüste fruchtbar machte und vor Ort Unternehmen gründete, in denen die Felderzeugnisse verarbeitet werden. SEKEM ist heute eines der weltweit führenden Sozialunternehmen mit dem Ziel ganzheitliche nachhaltige Entwicklung zu fördern (Sekem 2020).

Zum Weiterlesen Hahn, Henning (2009): Globale Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung. Frankfurt a.M.: Campus.

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Wirtschaftsethik Heidbrink, Ludger (2003): Kritik der Verantwortung. Zu den Grenzen verantwortlichen Handelns in komplexen Kontexten. Weilerswist: Velbrück. Meißner, Annekatrin (2017): Kooperative Bildungsverantwortung als Weg aus der Armut. Wiesbaden: Springer VS.

Literatur Dursun, Manuela/Görz y Moratalla, Marilina/Kolvenbach, Marcel (22.05.2018): »Gemüse auf Kosten der Umwelt. Setzen deutsche Einkäufer spanische Bauern unter Druck?« In: Report Mainz. Verfügbar unter: https://www.swr.de/report/gemuese-auf-kostender-umwelt-setzen-deutsche-einkaeufer-spanische-bauernunter-druck/-/id=233454/did=21739842/nid=233454/1nt4f32/ index.html (zuletzt abgerufen am 31.03.2020). Hahn, Henning (2008): Strukturelle Verantwortung im politischen Kosmopolitismus. Sektionsbeitrag, Tagung DGPhil 2008. Verfügbar unter: www.dgphil2008.de/fileadmin/down​ load/Sektionsbeitraege/14-2_Hahn.pdf (zuletzt abgerufen am 31.03.2020). Homann, Karl (2015): »Wirtschaftsethik. Ethik rekonstruiert mit ökonomischer Methode«. In: Dominik van Aaken/Philipp Schreck (Hg.). Theorien der Wirtschafts- und Unternehmensethik. Berlin: Suhrkamp, S. 23-46. Nova Ciencia (2019): Luto en el Mar Menor: ¿por qué murieron los peces? Verfügbar unter: http://novaciencia.es/mar-menor-pe​ ces-muertos/(zuletzt abgerufen am 31.03.2020). Sekem (2020): Ganzheitliche nachhaltige Entwicklung fördern. Verfügbar unter: https://www.sekem.com/de/uber-uns/(zuletzt abgerufen am 31.03.2020). Young, Iris Marion ([2010] 2013): »Verantwortung und globale Gerechtigkeit. Ein Modell sozialer Verbundenheit«. In: Christoph Broszies/Henning Hahn (Hg.). Globale Gerechtigkeit. Schlüs-

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Annekatrin Meißner seltexte zur Debatte zwischen Partikularismus und Kosmopolitismus. Berlin: Suhrkamp, S. 329-372.

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Postkolonialismus Klimawandel und Verantwortung – Anthropozän, Kapitalozän oder Baconozän? Diego Compagna Jason Moore hat 2019 erneut daran erinnert, dass der von Paul Crutzen 2002 geprägte Begriff des ›Anthropozän‹ irreführend ist, insofern er den Eindruck erweckt, alle Menschen wären (gleichermaßen) für den Klimawandel verantwortlich. Er schlägt deshalb alternativ den Begriff ›Kapitalozän‹ vor, um die Einflussnahme auf das Erdklima an die gesellschaftlichen Verhältnisse und entsprechende Verantwortlichkeiten zu koppeln. Neben dieser ersten wichtigen Korrektur hinsichtlich der Forderung einer gesamtgesellschaftlichen Orientierung an Nachhaltigkeit, die eine Frage nach der Verantwortung für die Dringlichkeit dieser Forderung differenzierter zu stellen sucht, möchte ich eine weitere Unterscheidung hinzufügen, nämlich die zwischen modernem Kapitalismus und Baconismus. Vom modernen Kapitalismus aus argumentierend lassen sich, worauf Moore hinweist, bereits deutliche Unschärfen identifizieren, die sich als unzulässige Verantwortungsdiffusion bewerten lassen. Der Baconismus meint eine mitunter allgemeinere Dimension des Umgangs mit der sozialen und ›natürlichen‹ Umwelt, die auf eine sehr grundsätzliche Schieflage hinweist und die bei Betrachtung von Nachhaltigkeitsprojekten und -zielen in den Vordergrund tritt, vor allem wenn diese auf globale Maßstäbe hochskaliert werden. Die Relevanz dieser Unterscheidung lässt sich mit der gewählten theoretischen Perspektive des Postkolonialismus plausibel nachzeichnen, vor allem wenn es gilt, die Dimension der Verantwortung im Rahmen einer globalen Nachhaltigkeitsprogrammatik zu untersuchen. 151

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Im Folgenden werden zunächst zwei Beispiele für die westliche Dominanz im Rahmen von Nachhaltigkeitsprojekten vorgestellt, dann die Theorieperspektive des Postkolonialismus und schließlich werden jene mit dieser analysiert. Hierbei soll gezeigt werden, dass der auf globaler Ebene sich abspielende Umweltschutz mit Stuart Halls (2012) dichotomer Gegenüberstellung »vom Westen und dem Rest« gewinnbringend untersucht werden kann: Einerseits wird deutlich, dass das von Hall thematisierte hierarchische Ungleichgewicht reproduziert wird, andererseits eine Nachhaltigkeitstransformation, die es vermag, die Wurzeln der Umweltzerstörung (das herrschaftsförmige Verhältnis zwischen Mensch und Natur) zu überwinden, erschwert.

Die Deutungshoheit des ›Westens‹ Nachhaltigkeit ist ein umkämpfter Begriff, um das sich miteinander konkurrierende Deutungsmuster ranken und in (häufig asymmetrischen) Aushandlungsprozesse in Wettstreit miteinander treten. Je relevanter eine Orientierung an Nachhaltigkeit gesellschaftlich wird, umso umkämpfter wird das Konzept und die damit verbundenen Relevanzstrukturen und darauf aufbauenden Interpretationen dessen, was und von wem zu tun oder zu unterlassen ist (Compagna 2020). Zwei Beispiele machen dies besonders deutlich:

A) Vanessa Nakate: »Like I wasn’t there« Die in Uganda lebende Klimaaktivistin Vanessa Nakate hat sich kürzlich vehement darüber beklagt, dass sie aus einem Foto entfernt bzw. herausgeschnitten worden sei, auf dem einige junge Klimaaktivistinnen (u.a. Greta Thunberg) zu sehen sind und mit dem in den Medien über ein internationales Treffen von Klimaaktivist*innen berichtet wurde, das im Januar 2020 in Davos stattgefunden hat. Da sie die einzige Schwarze Frau auf dem Foto ist, liegt der Verdacht nahe, dass es sich um eine rassistisch 152

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motivierte Entscheidung handele. Einige Medien haben sich entschuldigt und darauf hingewiesen, dass es lediglich darum ging, dass hinter ihr ein Gebäude zu sehen war, wohingegen hinter den anderen vier (weißen) Aktivistinnen ein wenig Natur und schneebedeckte Gipfel den Bildhintergrund schmücken und somit den Tenor des Treffens besser rahmen würden. Einerseits kann danach gefragt werden, wie das Foto genutzt worden wäre, wenn Greta Thunberg dort gestanden hätte. Andererseits hat es wohl auch mindestens eine Variante gegeben, in der Vanessa Nakate in der Mitte stand, zudem sind wohl ihre Stellungnahmen von der Presse nicht erwähnt worden (vgl. diesbezüglich auch Spivaks idiosynkratischer Aufsatz 2008: »Can the subaltern speak?«) und ebenso wenig ist sie als Teilnehmerin aufgezählt worden: »When I saw the photo, I only saw part of my jacket. I was not on the list of participants. None of my comments from the press conference were included. […] It was like I wasn’t even there. […] They changed the photo to where I was in the middle. That means they had other photos and chose to use that one. […] So no, I don’t believe their statement or their apology.« (Evelyn 2020)

B) Ecuadorianische Verfassung: »Nature shall be the subject of those rights that the Constitution recognizes for it« Es gibt wenige Nationen, die fortschrittlicher oder auch nur ähnlich fortschrittlich sind, wie viele der lateinamerikanischen Länder (Gudynas 2019). Ecuador hat hier eine besondere Vorreiterrolle eingenommen, indem es die Natur als Rechtssubjekt in der Verfassung des Landes festgeschrieben hat. Es hat die Welt daran erinnert, dass Kultur nicht identisch ist mit westlicher Kultur, die bereits in ihren Gründungsmythen des antiken Griechenlands einen ihrer Helden, nämlich Odysseus, als Subjekt stilisiert, der sich mit seiner List von der Natur (die zum Objekt wird) emanzipieren 153

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konnte (Horkheimer und Adorno 1997). Ecuador ist das erste Land, das die Natur als Rechtssubjekt in seiner Verfassung verankert: »Die Verfassung des Anthropozän sollte die Natur als ein Rechtssubjekt begreifen, das seine Rechte selbstständig einfordern, einklagen und durchsetzen kann. So hat bereits Ecuador die Natur als Rechtssubjekt verfassungsrechtlich anerkannt und ihr auf dieser Grundlage auch Rechte zugesprochen: ›Nature shall be the subject of those rights that the Constitution recognizes for it‹, heißt es in Artikel 10 Absatz 2 der Ecuadorianischen Verfassung. ›Nature, or Pacha Mama, where life is reproduced and occurs, has the right to integral respect for its existence and for the maintenance and regeneration of its life cycles, structure, functions and evolutionary processes. All persons, communities, people and nations can call upon public authorities to enforce the rights of nature. To enforce and interpret these rights, the principles set forth in the Constitution shall be observed, as appropriate. The State shall give incentives to natural persons and legal entities and to communities to protect nature and to promote respect for all the elements comprising an ecosystem‹, heißt es weiter in Artikel 71.« (Kersten 2020: S. 5) Die ecuadorianischen Maßnahmen, die für eine globale Transformation in Richtung Nachhaltigkeit richtungsweisend sein könnten (vgl. auch Acosta 2019), ebenso wie viele andere regionale Projekte und Maßnahmen, die in lateinamerikanischen Ländern lanciert oder umgesetzt werden (Munck und Delgado Wise 2019), sehen sich aufgrund unmittelbar wirkender Abhängigkeitsbeziehungen mit ›westlichen‹ Ländern (Verschuldung) oder aufgrund globaler (mittelbar wirkender) Wirtschaftsbeziehungen mit unüberwindbaren Hürden konfrontiert, die eine Verwirklichung beeinträchtigen oder teilweise gänzlich verunmöglichen (Munck 2019). 154

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Diese Beispiele zeigen, dass der Nachhaltigkeitsdiskurs von westlichen Deutungsmustern dominiert wird, die mit einer postkolonialen Perspektive hinsichtlich ihrer Genealogie und globalen Effekte gewinnbringend beschrieben werden können.

Postkolonialismus oder »The West and the Rest« Stuart Halls Aufsatz »The West and the Rest: Discourse and Power« (2012) gilt als ein Klassiker postkolonialer Theoriebildung. Hall möchte hier u.a. aufzeigen, wie sich eine historisch-kontingente dichotome Weltordnung (von dem ›Westen‹ auf der einen Seite und allen anderen Kulturen – als Rest – auf der anderen Seite) entwickelt und etabliert hat. Dabei ist es ihm wichtig, immer wieder darauf hinzuweisen, dass seine Rekonstruktion eine (in vielerlei Hinsicht) vereinfachte Darstellung der empirischen Realität ist, die in Ihrer Mannigfaltigkeit und potentiellen Vieldeutigkeit sich deutlich komplexer darstellt. Allerdings ist dies eine Feststellung, die grundsätzlich auf alle Theorien zutrifft, die die empirische Wirklichkeit vereinfachen, um sie hinsichtlich der getroffenen Verallgemeinerungen ausreichend treffend bezüglich ihrer relevanten Eigenschaften charakterisieren zu können. Zugleich ist eine solche Vereinfachung auch ein Wesensmerkmal (und definitorisches Merkmal) dessen, was hier als ›Diskurs‹ bezeichnet wird, denn »wir können diese Vereinfachung tatsächlich dazu nutzen, etwas über den Diskurs auszusagen, denn Vereinfachung ist genau das, was ein Diskurs selbst tut. Er stellt als homogen dar (der Westen), was tatsächlich sehr differenziert ist (die verschiedenen europäischen Kulturen). Und er behauptet, dass diese verschiedenen Kulturen durch eine Tatsache vereinigt sind: Dadurch, dass sie sich alle vom Rest unterscheiden. Genauso stellen die Kulturen des Rests, obwohl untereinander sehr verschieden, 155

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in dem Sinn dasselbe dar, dass sie alle vom Westen verschieden sind. Kurz, der Diskurs stellt, als ein ›Repräsentationssystem‹, die Welt entsprechend einer einfachen Dichotomie geteilt dar – in den Westen und den Rest. Das ist es, was den Diskurs von ›der Westen und der Rest‹ so zerstörerisch macht – er trifft grobe und vereinfachte Unterscheidungen und konstruiert eine absolut vereinfachte Konzeption von ›Differenz‹.« (Hall 2012: S. 142, Hervorhebungen im Original) Hall lässt die historische Rekonstruktion dieser, wie er schreibt (der Text ist erstmals 1992 erschienen) bis in die Gegenwart maßgeblich wirkenden, dichotom-hierarchische Aufteilung im ausgehenden Mittelalter beginnen. Die »Erschließung« der Welt, die zugleich immer auch als wissenschaftliche (Entdeckungs-) Reise gerahmt war (Harari 2015: S. 336), ist gleichzusetzen mit der europäischen Kolonialisierung des Globus, die in Halls Aufsatz nacherzählt wird, indem er einerseits die Entstehung und Etablierung eines bestimmten (global wirkenden) Repräsentationssystems daran koppelt und andererseits mit einigen ausgewählten, prägnanten historischen Ereignissen und Prozessen verwebt. Hall gelingt es in diesem und in vielen anderen seiner Texte eindrücklich, die identitätsstiftenden Effekte solcher Diskurse darzustellen. Aufgrund der sich daran orientierenden Mustern des Handelns und (dementsprechend auch) der Wahrnehmung von (sozialer) Wirklichkeit, haben diese einen unmittelbaren Einfluss auf die Sozialstruktur eines Landes. Darüber hinaus gestalten diese mittelbar eben auch die Machtkonstellation zwischen den Ländern – bzw. allgemeiner den Regionen – der Welt. Der über die Jahrhunderte seit der Renaissance immer deutlicher etablierte Diskurs des »Westen und der Rest« teilt die Welt in zwei, hierarchisch zueinander geordnete Lager, die »als ein ›Repräsentationssystem‹ [und] als ein ›Wahrheitsregime‹ […] ebenso gestaltend für den Westen und für die ›modernen Gesell156

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schaften‹ [war] wie der weltliche Staat, kapitalistische Ökonomien, die modernen Klassen-, Rassen- und Geschlechtssysteme (gender) und die moderne, individualistische, weltliche Kultur« (Hall 2012: S. 179). Der Kolonialismus und einige der von Hall genannten Eigenschaften ›westlicher Kultur‹ stehen zudem in einem direkten Zusammenhang mit dem, was häufig als ›Baconismus‹ bezeichnet wird. Mit Baconismus ist eine für die Neuzeit seit der europäischen Renaissance typische Haltung des Menschen (der Kultur) gegenüber der Natur gemeint, die (negativ ausgedrückt) jede Erkenntnis (der Natur) einer (technischen) Verwertbarkeit subsumiert: »Der Baconismus – die sachliche Orientierung der Naturwissenschaften am technischen Fortschritt und ihre moralische Orientierung am Wohl der Menschheit – ist in der weiteren Geschichte ein wenn auch nie ausschließlicher, so doch immer einflußreicher [sic!] Orientierungsrahmen geblieben und hat als ein Korrektiv gegen vermeintlich zweckfreie oder manifest unmoralische Forschung seine Bedeutung nicht verloren […].« (Riecker 2000: S. 35) Der in dieser Skizzierung des Begriffes erwähnte moralische Imperativ, der sich an dem ›Wohl der Menschen‹ orientiert, ist insofern irreführend, als die europäischen Kolonialmächte die Angehörigen aller anderen Kulturen (›der Rest‹) zunächst einmal als nicht vollwertige (oder gar keine) Menschen ansahen, was wiederum die Legitimationsgrundlage für Sklaverei darstellte: »Die Frage, wie mit den Ureinwohnern und den ethnischen Gruppen der Neuen Welt im sich entwickelnden Kolonialsystem umzugehen sei, hing direkt mit der Frage zusammen, welche Art von Menschen und Gesellschaften sie waren – was wiederum vom westlichen Wissen über sie abhing, davon, wie sie in diesem Wissen repräsentiert wurden. Wo standen die Indianer innerhalb der Schöpfungsordnung? […] Waren sie ›wirkliche Menschen‹? Waren sie nach Gottes Ebenbild geschaffen?« (Hall 157

Diego Compagna

2012: S. 168) Die Berichte von Bartolomé de las Casas über »die Brutalität mit der die die Spanier die Indianer zur Zwangsarbeit trieben« (Hall 2012: 169; vgl. Casas 2006) zeugen von der Tatsache, dass die Europäer (bzw. der Westen) sich schwer damit getan haben, nicht-Europäer (den Rest) einen ihnen entsprechenden Status zuzuschreiben. Zahllose andere historische Beispiele ließen sich aufführen und bis in die Gegenwart viele weitere finden (vgl. Castro Varela und Mecheril 2016). Der Expansion des naturwissenschaftlichen Wissens, das als solches nur dann galt, wenn es sich technisch verwerten lässt und in der Praxis die Naturbeherrschung erweitert oder intensiviert, ist die (territoriale) Expansion des Wirkraumes im Sinne einer Besitzergreifung der Welt (inklusive aller Lebewesen, also auch der Menschen, denen dieser Status allerdings abgestritten wurde bzw. werden musste) inhärent: »Bacon konzipiert somit seine Ausfahrt in die technoszientifische Moderne nach dem Vorbild der Westfahrt in eine Neue Welt. Damit wird bereits jene Bedeutungsverschiebung des Begriffs der westlichen Welt vorweggenommen, durch welche schließlich die Begriffe Modernisierung, Verwestlichung und Fortschritt zu Synonymen werden.« (Jochum 2017: S. 341; vgl. Horkheimer und Adorno 1997: S. 19).

Der ›Rest der Welt‹ im Nachhaltigkeitsdiskurs Wenn wir das erste Beispiel mit Stuart Halls Aufsatz lesen, so haben wir es hier mit einem paradigmatischen Beispiel zu tun, wie Medien sich, um Resonanz zu erzeugen, stets am jeweils dominanten Repräsentationssystem orientieren und dieses dadurch reproduzieren (Hall 2006; Hall et al. 2013). Dieses exemplarische mediale Ereignis zeigt, wie gleichzeitig eine bestimmte Version der Wirklichkeit reproduziert wird, die einhergeht mit Herrschaftsverhältnissen und einer machtförmigen Allokation von (Wissens-)Ressourcen. Deutlich tritt dabei die Verortung 158

Postkolonialismus

der Position hervor, die etwas zu sagen hat – weiße, westliche, privilegierte junge Frauen – gegenüber dem Rest der Welt, der sich andererseits erneut dem Diktum bzw. der Wahrheit des Westens fügen muss. Dieses Beispiel zeigt, dass der Nachhaltigkeitsdiskurs verwoben ist mit dem von Hall thematisierten Diskurs, der auf der dichotom-hierarchischen Differenz vom Westen und dem Rest (der Welt) beruht. Eine Nachhaltigkeitstransformation, die einerseits dem ›Rest‹ der Welt die Kompetenz abspricht, eine qualifizierte Meinung zu haben oder auch nur ein legitimes Bedürfnis zu artikulieren sowie andererseits erwartet, dass es den Erwartungen des ›Westens‹ folgt, ist ein Projekt, das eine postkoloniale Weltordnung reproduziert und sie insofern zementiert, als es zu einer stärkeren Orientierung an Nachhaltigkeit vermutlich kaum eine Alternative geben wird. Das zweite Beispiel zeigt, wie eine, wenn nicht gar die, tragende Säule der Differenz vom Westen und dem Rest, nämlich der Baconismus, den Nachhaltigkeitsdiskurs durchdringt. In zweifacher Hinsicht ist diese Beobachtung, sofern sie zutrifft, katastrophal: Einmal, weil sie eine Nachhaltigkeitstransformation verhindert, die über das hinausgeht, was das Autor*innenkollektiv Tiqqun mit scharfer Zunge vor Jahren proklamiert hat: »Man muss weniger konsumieren, um noch konsumieren zu können. Bio produzieren, um noch produzieren zu können. […] Man wird nunmehr im Namen der Ökologie den Gürtel enger schnallen müssen – wie gestern im Namen der Ökonomie. […] Das gegenwärtige Paradox der Ökologie besteht darin, dass sie unter dem Vorwand, die Erde zu retten, nur das Fundament dessen rettet, was sie zu diesem trostlosen Gestirn gemacht hat.« (Tiqqun 2007: S. 56f.) Zweitens, weil deutlich wird, dass auf diese Weise, von einem globalen Maßstab aus betrachtet, die Nachhaltigkeitstransfor159

Diego Compagna

mation eine Reparaturtransformation darstellt, die sich ganz in den Dienst einer neokolonialen Weltordnung stellt, indem Sie die Rettung der Welt vom Westen aus betreibt und den Rest der Welt missioniert. So wie einst das Christentum die Heiden bekehren wollte, wird der Westen den Rest nun in Sachen ›Nachhaltigkeit‹ unterweisen. Der Satz, mit dem das zweite Beispiel eingeführt wird, es gebe wenige Nationen, die fortschrittlicher als viele lateinamerikanische sind, mutet eigenartig an, weil das »baconistische« (Jochum 2017: S. 327ff.), typisch westliche Verständnis von Fortschritt, auf dem hierarchisch-herrschaftsförmigen Selbstverständnis der Europäer als Subjekte der Geschichte fußt, denen gegenüber die ›Natur‹ (als Objekt) untergeordnet ist (Tsing 2015). Weiter oben wurde im Zusammenhang mit der Expansion des Westens daran erinnert, dass allen Menschen, die keine Europäer waren, die ausgezeichnete Eigenschaft des Menschseins in Abrede gestellt worden ist. Stuart Halls Charakterisierung der Neuzeit bzw. der westlichen Moderne als eine, die auf der Dichotomie des Westens vs. der Rest beruht, kann weiter auf die Differenz von den westlichen Menschen und dem Rest der Welt zugespitzt werden. Das ist aber nur die eine Seite einer kritischen Würdigung und ernüchternden Bestandaufnahme, wie es um die kulturelle Diversität beim Umgang mit Nachhaltigkeit steht. Die andere Seite besteht in der verpassten Chance eines Lernprozesses, die allerdings bedeuten würde, dass der Westen sich ›dem Rest‹ unterordnet und den Pfad Bacons verlässt. Beiden Beispielen kann entnommen werden, dass eine Nachhaltigkeitstransformation die verschlungenen Bande vom Westen und dem Rest berücksichtigen sollte. Die kulturelle Rahmung der Verhältnisse einer Zuordnung von Subjekt (der europäische) Mensch und Objekt (der Rest der) Welt und damit die (vermeintliche) Herauslösung nicht des Menschen, sondern nur einer 160

Postkolonialismus

bestimmten Gruppe von Menschen, wird im Zuge der Domestizierung als eine der tragenden Säulen der Moderne als ›Emanzipation‹ bezeichnet (Loo und Reijen 1992). Der Nachhaltigkeitsdiskurs müsste nüchtern betrachtet eine solche Darstellung als Euphemismus bewerten. Dass dies kaum passiert und in den Programmen und Projekten selten eine Rolle spielt, zeigt, wie tief diese kulturell überformte Überzeugung mit dem Aufbau sozialer Wirklichkeit verwoben ist: Es ist das ›Rückgrat‹ sozialer Akteure moderner Gesellschaften. Ein einfacher Lackmustest für diese Behauptung, den ich Studierenden empfehle, könnte so aussehen: Sagen Sie Kindergartenkindern, dass Menschen Tiere sind. Sie werden (fast) immer ausgelacht. In dem Lachen mischt sich Mitleid für Ihre Dummheit, Unbehagen, falls da was dran sein könnte, und Wohlwollen, damit (kommunikationstheoretisch erfüllt gerade das Lachen diese Funktion; vgl. Räwel 2005) die Interaktion – nach einer solchen Absurdität – fortgesetzt werden kann.

Kapitalismus, Baconismus und der Rest Stephan Lessenichs Diagnose einer »Externalisierungsgesellschaft« (2016, vgl. auch Brand und Wissen 2017), wonach die Risiken und unerwünschten Folgen der reichen Industrieländer externalisiert, also in die armen Länder ausgelagert werden, trifft selbstredend zu, andererseits möchte mein Beitrag darauf hinweisen, dass die Fokussierung auf die globalen Folgen einer imperialen Lebensweise zu kurz greift, denn über die Neujustierung des (modernen) Kapitalismus legt sich der deutlich tiefgreifendere Baconismus als eine bestimmte Formation der Dominanz des Westens gegenüber der Natur, der Welt und – vor allem – dem Rest. Das Verhältnis von reichen zu armen Ländern wiederholt sich im Nachhaltigkeitsdiskurs auch auf der Ebene des Baconismus, neben einer wichtigen Kartierung eines globalen (reichen und Naturzerstörung verursachenden) Nordens 161

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und eines globalen (armen und der Naturzerstörung existenziell ausgesetzten) Südens, sollte eine weitere Ebene stärker in den Blick geraten. Diese Ebene lässt sich mit den Mitteln des Postkolonialismus beschreiben und (damit zugleich auch) kritisieren. Hierbei geht es vorrangig um das herrschaftsförmige Verhältnis, das sich aus der Domestizierung der Natur westlicher Kulturen in eine machtförmige Subjekt-Objekt-Beziehung niederschlägt. Dieses lässt sich bei der Thematisierung von Nachhaltigkeit mit Stuart Halls dichotomer Gegenüberstellung vom Westen und dem Rest verknüpfen. Die Dynamik, mit der sich Nachhaltigkeit im Rahmen eines global-kulturellen Koordinatensystems entfaltet, knüpft an das Herrschaftsverhältnis des Baconismus an und reproduziert das politische Ungleichgewicht auf globaler Ebene. Die Alternativen und vielleicht notwendigen Anpassungen einer westlichen Nachhaltigkeitsprogrammatik, die angesichts kulturell divergierender Mensch-Natur-Verhältnisse zum Vorschein kommen, werden kaum ernsthaft in Erwägung gezogen. Die hier angestellten Überlegungen könnten helfen diesen Aspekt, im Rahmen von beabsichtigten Nachhaltigkeitstransformationen, stärker in den Blick zu nehmen.

Zum Weiterlesen Compagna, Diego (2020): »Das ›Atlas-Subjekt‹ und neue Formen von Subjektivierung im Zeitalter der Nachhaltigkeit«. In: Hans-Werner Franz/Gerald Beck/Diego Compagna/Peter Dürr/ Wolfgang Gehra/Martina Wegner (Hg.). Nachhaltig Leben und Wirtschaften. Management Sozialer Innovationen als Gestaltung gesellschaftlicher Transformation, S.  33-52. Wiesbaden: Springer VS. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. ([1944] 1997): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M.: Suhr-

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Postkolonialismus kamp. (Insbesondere die Abschnitte: Begriff der Aufklärung, S. 19-60 sowie Exkurs I: Odysseus oder Mythos und Aufklärung, S. 61-99.) Moore, Jason W. (2019): »The Capitalocene and Planetary Justice«. In: Maize 6, S.  49-54. Verfügbar unter: https://jasonwmoore. com/wp-content/uploads/2019/07/Moore-The-Capitaloceneand-Planetary-Justice-2019-Maize.pdf (zuletzt abgerufen am 15.08.2020).

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Diego Compagna Evelyn, Kenya (29.01.2020): »›Like I wasn’t there‹: climate activist Vanessa Nakate on being erased from a movement«. In: The Guardian. Verfügbar unter: https://www.theguardian.com/wo​ rld/2020/jan/29/vanessa-nakate-interview-climate-activism-cr​ opped-photo-davos (zuletzt abgerufen am 15.08.2020). Gudynas, Eduartdo ([2018] 2019): »Extractivism: tendencies and consequences«. In: Ronaldo Munck/Raúl Delgado Wise (Hg.): Reframing Latin American Development. New York: Routledge, S. 61-76. Hall, Stuart (Hg.) (2006): Culture, Media, Language. Working Papers in Cultural Studies. 1972-79. London: Routledge. Hall, Stuart/Evans, Jessica/Nixon, Sean (Hg.) (2013): Representation. Los Angeles: Milton Keynes, Sage. Hall, Stuart ([1992] 2012): Der Westen und der Rest. Diskurs und Macht. In: Ders. (Hg.). Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Hamburg: Argument Verlag, S. 137-179. Harari, Yuval Noah (2015): Eine kurze Geschichte der Menschheit. München: Pantheon Verlag. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. ([1944] 1997): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Kersten, Jens (2020): »Natur als Rechtssubjekt. Für eine ökologische Revolution des Rechts«. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APUZ 11/2020). Verfügbar unter: https://www.bpb.de/apuz/305893/ natur-als-rechtssubjekt (zuletzt abgerufen am 15.08.2020). Lessenich, Stephan (2016): Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis. Berlin: Hanser. Moore, Jason W. (2019): »The Capitalocene and Planetary Justice«. In: Maize 6, S.  49-54. Verfügbar unter: https://jasonwmoore. com/wp-content/uploads/2019/07/Moore-The-Capitaloceneand-Planetary-Justice-2019-Maize.pdf (zuletzt abgerufen am 15.08.2020).

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Postkolonialismus Munck, Ronaldo/Delgado Wise, Raúl (Hg.) (2019): Reframing Latin American development. New York: Routledge. Munck, Ronaldo ([2018] 2019): »Challenges and prospects for change in Latin America. A foresight approach«. In: Ronaldo Munck/ Raúl Delgado Wise (Hg.). Reframing Latin American Development. New York: Routledge, S. 61-76. Räwel, Jörg (2005): Humor als Kommunikationsmedium. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft GmbH Riecker, Gerhard (2000): Wissen und Gewissen. Über die Ambivalenz und die Grenzen der modernen Medizin. Berlin/Heidelberg: Springer-Verlag. Spivak, Gayatri Chakravorty (2008): Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien: Verlag Turia + Kant. Tiqqun (2007): Kybernetik und Revolte. Zürich: Diaphanes Verlag. Tsing, Anna Lowenhaupt (2015): The Mushroom at the End of the World. On the Possibility of Life in Capitalist Ruins. Princeton, Oxford: Princeton University Press. van der Loo, Hans /van Reijen, Willem (1992): Modernisierung – Projekt und Paradox. München: Dt. Taschenbuch-Verlag.

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Sozialkonstruktivismus Verantwortung in der Konstruktion von sozialen Robotern Johannes Frederik Burow Sophia und Pepper sind die vermutlich bekanntesten ›sozialen Roboter‹. Sophia wurde im Oktober 2017 in Riyad öffentlichkeitswirksam die saudi-arabische Staatsbürgerschaft verliehen (Hatmaker 2017) – ein in vielerlei Hinsicht fragwürdiger Vorgang. Sophia ist ein humanoider Roboter und sorgt mit Gesichtserkennungs- und Sprachalgorithmen sowie einer komplexen Mimik und Gestik für effektvolle Auftritte und Gespräche auf Events oder in diversen Interviews. Pepper wird – etwas weniger spektakulär – in Einkaufszentren, Banken, Schulen oder Krankenhäusern eingesetzt, um mit Menschen ins Gespräch zu kommen, um zu informieren, oder einfach um Aufmerksamkeit zu erregen (Gardecki und Podpora 2017). Pepper ist dabei weniger menschlich aussehend gestaltet, obwohl grundsätzlich der menschlichen Physiognomie nachempfunden, und hat ein an der Brust installiertes Display. Im Schatten dieser prominenten Beispiele halten Schritt für Schritt soziale Roboter Einzug in den menschlichen Alltag und es ist bereits heute nichts Ungewöhnliches mehr, sich mit Chatbots wie Siri, Alexa oder Cortana zu unterhalten. Aus diesem Aufeinandertreffen ergibt sich die Frage, ob die Konstruktion sozialer Roboter Verantwortung mit sich bringt – und wenn ja, welche? Und für wen? Als ›soziale Roboter‹ sollen hier Roboter verstanden werden, die dazu konzipiert sind, mit Menschen zu interagieren – die darauf ausgelegt sind, sozial zu erscheinen oder so wahrgenommen zu werden. Unter Einbeziehung der sozialkonstruktivistischen 167

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Theorie von Berger und Luckmann wird im Folgenden die Vielschichtigkeit der Verantwortung aufgezeigt, die mit der Konstruktion solcher sozialer Roboter einhergeht. Dabei ist der Begriff der Konstruktion in mehrdeutiger Hinsicht gemeint. Auch in Bezug auf die Verantwortung wird eher ein komplexes Geflecht statt einzelner Verantwortlicher herausgearbeitet. Um die Ausgangsfrage zu beantworten, welche Verantwortung die Konstruktion sozialer Roboter für wen hervorbringt, wird der Blick auf einen speziellen Fall sozialer Roboter gerichtet, auf sog. Connected Toys und Smart Toys – vernetzte, interaktive Spielzeuge für Kinder. Solche robotischen Kinderspielzeuge sind für die Beantwortung der Fragestellung äußerst geeignet, da Kinder von besonderer Fürsorge und Verantwortung durch Erwachsene abhängig sind. Eltern haben, Jonas’ »Ethik für die technologische Zivilisation« folgend, ebenso wie Staatsoberhäupter eine »totale Verantwortung«, da diese nach dem »was kommt danach« fragen müssen (Jonas 1988: S. 196). Zunächst werden die Besonderheiten von interaktiven Spielzeugrobotern und dem interaktiven Spiel mit ihnen vorgestellt. Anschließend folgt als Theoriebasis eine kurze Einführung in die Wissenssoziologie von Berger und Luckmann. Um die Interaktionen zwischen Kindern und ihren künstlich-intelligenten Spielzeugrobotern sowie die Frage nach der damit einhergehenden Verantwortung zu betrachten, eignet sich diese Perspektive besonders, da mit ihr die (Re-)Produktion von Wirklichkeit durch Kommunikation und Praktiken in der Alltagswelt ebenso thematisiert wird wie die Sozialisation in der Kindheit. Unter Einbeziehung verschiedener Forschungsergebnisse zu interaktiven Spielzeugen, die zeigen, dass Kinder dazu neigen, ihre interaktiven Spielzeugroboter als soziale Akteure wahrzunehmen, wird argumentiert, dass aus sozialkonstruktivistischer Perspektive mit den Spielzeugrobotern möglicherweise neue »signifikante Andere« (Berger und Luckmann 1977: S. 141) in das Kinderzimmer einzie168

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hen. Über den Blick auf die Verantwortung wird klar, dass nicht die Roboter selbst als signifikante Andere in die Wirklichkeitsproduktion eingreifen, sondern die Wirklichkeitskonzeptionen beteiligter menschlicher Akteure durch sie vermittelt werden. Die Analyse der einzelnen Verantwortlichkeiten offenbart ein komplexes Verantwortungsgeflecht aus Programmierenden, Unternehmen, Wissenschaft, Eltern und Institutionen. Abschließend wird die Argumentation exemplarisch auf andere soziale Roboter und bereits etablierte Chatbots übertragen und somit die Relevanz der Auseinandersetzung zusätzlich unterstrichen.

Smarte Dinos und plaudernde Plüschtiere »Now, you can chat with Barbie®! Using WiFi and speech recognition technology, Hello Barbie™ doll can interact uniquely with each child by holding conversations, playing games, sharing stories and even telling jokes! It’s a whole new way to interact with Barbie®. She’s ready to discuss anything in an outfit that blends trendy and techie for a cool look.« (Mattel Inc. 2020) Sie heißen CogniToys Dino, Hello Barbie, SmartToy Monkey oder My friend Cayla und sollen als interaktive Spielgefährt*innen die Kinderzimmer bevölkern. Sie erzählen Gutenachtgeschichten, unterrichten Sprachen, beantworten Fragen und ziehen die Aufmerksamkeit der Kinder und ihrer Eltern mit Interaktivität und dynamischen Inhalten auf sich. Und all diese Funktionen werden ermöglicht, indem das Spielzeug mit künstlicher Intelligenz ausgestattet, ständig eingeschaltet und mit dem Internet verbunden ist (McReynolds et al. 2017: S.  5197). Auch wenn die meisten der genannten prominenteren Produkte aus verschiedenen Gründen (u.a. Datensicherheitsskandale und Firmenpleiten) bei Erscheinen des Texts nicht mehr am Markt sind, dienen sie als Ausgangspunkt und Repräsentation für die immer neuen 169

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Modelle, die jedes Jahr entwickelt und – speziell zum US-amerikanischen Weihnachtsgeschäft – über Crowdfunding-Plattformen und den Spielwarenhandel angeboten werden. Auch hier herrscht, wie allgemein in der Robotikentwicklung, ein schnelllebiges, von großen Versprechungen flankiertes Kommen und Gehen von Technologien und Entwicklungen, von denen sich nur wenige langfristig durchsetzen. Die technologischen Feinheiten sind allerdings für die hier angestellten Überlegungen nachrangig, da die grundlegenden Funktionen der beschriebenen Roboter durch ihre Konzeption gleichbleibend und ausschlaggebend sind. Die Spielzeuge sind in der ›Westlichen Welt‹ fast ausschließlich im englischsprachigen Raum verfügbar und lange nicht so flächendeckend verbreitet wie Smartphones oder Tablets. Aber insbesondere in den USA besaßen laut einer Umfrage im Jahr 2017 bereits zehn Prozent aller Kinder ein mit dem Internet verbundenes Spielzeug, in der Gruppe der Zweibis Vierjährigen waren es sogar 15 Prozent. Marktforschungsberichten zufolge soll die Zahl von Connected Toys im Jahr 2022 allein in den USA auf über eine Milliarde ansteigen, in China und Westeuropa jeweils zusätzlich auf etwa eine halbe Milliarde (Nash, Davies und Mishkin 2019). Die Charakterisierung der sog. »Child Robot Interaction« von Peter (2017) erleichtert die Auseinandersetzung mit Roboterspielzeug: Nach dieser können Roboter: 1.) verkörpert (z.B. Spielzeug) oder nicht verkörpert (z.B. digital agents – virtuelle Charaktere) sein; 2.) erfolgt die Interaktion nicht über klassische Interfaces (wie z.B. Tastatur, Touchscreen), sondern ›natürlich‹ durch Sprache, Gestik und Optik; 3.) sind Kind und Roboter reziprok interaktiv; 4.) personalisieren die Roboter ihre Interaktion für das jeweilige Kind. Ebendiese personalisierte, interaktive und ›natürliche‹ Interaktion ist der Hauptunterschied zum Spiel mit traditionellem Spielzeug (Peter 2017: S. 14).

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Im Folgenden liegt der Schwerpunkt auf verkörperten oder zumindest im Zugriff der Nutzenden materialisierten, interaktiv kommunikativen Spielzeugen. Connected Toys unterscheiden sich dabei von Smart Toys, die ähnliche technische Merkmale aufweisen, insofern als letztere keine Internetverbindung herstellen und keine Daten sammeln können (Chaudron 2017). Ob die Spielzeuge online sind, ist nicht ausschlaggebend für die Argumentation, weshalb im Folgenden der Begriff ›interaktive Spielzeugroboter‹ beide Teilgebiete einschließt.

Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit Um die Interaktionen zwischen Kindern und ihren künstlichintelligenten Spielzeugrobotern und die Frage nach den damit einhergehenden Verantwortungen zu analysieren, bietet Berger und Luckmanns ›Theorie der Wissenssoziologie‹ mit dem Titel »Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit« gute Anschlusspunkte. So wird in dieser sowohl die (Re-)Produktion von Wirklichkeit durch Kommunikation und Praktiken in der Alltagswelt wie auch die Sozialisation in der Kindheit behandelt. Ihre Ausgangsfrage lautet, wie es möglich ist, »dass subjektiv gemeinter Sinn zu objektiver Faktizität wird« (Berger und Luckmann 1977: S. 20), wie also aus Handlungen eine Welt von ›Sachen‹ entsteht. ›Sachen‹ meint dabei keine Dinge, sondern ist eher im Sinne von ›Sachlichkeit‹ gedacht: Wissen und Wirklichkeit erschaffen sich gegenseitig in einem dialektischen unaufhörlichen Prozess der ›Externalisierung‹, ›Objektivation‹ und ›Internalisierung‹ von Wissen und Wirklichkeit. Das Thema ist dabei »die Wirklichkeit schlechthin« (ebd.: S. IX), wie Helmuth Plessner im Vorwort der deutschen Ausgabe schreibt, womit er betont, dass nicht einzelne Wirklichkeitsausschnitte, sondern alle Wirklichkeiten sozial konstruiert werden. Die wichtigste Wirklichkeit, die »Wirklichkeit par excellence«, 171

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ist dabei die »Wirklichkeit der Alltagswelt« (ebd.: S. 24). Sie ist die Basis der unbewussten, atheoretischen Interpretation des alltäglichen Lebens. »Sie ist einfach da – als selbstverständliche zwingende Faktizität« (ebd.: S. 26, Herv. i. O.). Dadurch unterscheidet sie sich von anderen umgrenzten »Sinnprovinzen« (ebd.: S. 28), in deren begrenzte Erfahrungswirklichkeiten man eintreten und aus diesen wieder austreten kann, wie bspw. das Theaterspiel, Träume oder Humor, wohl wissend, dass es danach zurück in die wirkliche Realität geht. Die Erlebnisse in diesen Sinn-Enklaven im Vergleich zur dominanten Alltagswelt werden kindersprachlich gern differenziert als ›nur in Spiel, nicht in echt‹. Die Alltagswelt ist in dieser Beschreibung die Wirklichkeit ›in echt‹. Berger und Luckmann begründen das Entstehen gesellschaftlicher Ordnung in der Notwendigkeit der Menschen, sich zu externalisieren, sich zu entäußern, zu handeln. Sie begründen dies in der philosophischen Anthropologie Gehlens und Plessners: Der Mensch muss »sich zu dem, was er schon ist, erst machen« (Plessner [1928] 1975: S.  309). Er muss künstliche Dinge, muss seine Welt erschaffen, um seine Lebensweise zu ermöglichen. Ohne Kultur, ohne Artefakte sind Menschen nur sehr bedingt überlebensfähig. Diese ständige Externalisierung der Menschen ist Gewöhnung, ist Habitualisierung unterworfen und schafft so gesellschaftliche Strukturen. ›Menschen sind Gewohnheitstiere‹, sie finden permanente Lösungen für permanente Problemstellungen und schaffen dabei auch für ihre menschlichen Gegenüber sowie ihr eigenes Verhalten Schubladen oder Typen. »Gesellschaft ist ein menschliches Produkt.« (Berger und Luckmann 1977: S. 65)

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Diese Gewohnheiten und Typen werden in der menschlichen Intersubjektivität produziert und reproduziert und verfestigen sich über die Zeit. Eine wichtige Basis, auf welcher die gemeinsame Wirklichkeit fußt, ist die gemeinsame Sprache. Sie ermöglicht es, u.a. Erfahrungen über das Erleben in »Vis-à-vis-Situationen« (ebd.: S. 37) hinaus zu erhalten. Durch die Weitergabe an die nächste Generation wird, wie bei der Sprache, auch im Falle von habitualisierten Handlungen der Ursprung, das subjektiv Erlebte, aus den Augen verloren und die Wirklichkeit somit objektiviert. In ›unserer‹ Gesellschaft wird bspw. die Farbe des wolkenfreien Himmels als ›Blau‹ bezeichnet, ohne dass dies ausgehandelt, hergeleitet oder hinterfragt werden muss: Das ist Blau. Das sehen Sie auch so, oder? Warum? »So ist es eben.« (Ebd.: S. 101) Wirklich! Jungs mögen Blau, Mädchen mögen Rosa. Wirklich? »Gesellschaft ist eine objektive Wirklichkeit.« (Ebd.: S. 65) Nicht nur ist die Gesellschaft ein menschliches Produkt, sondern ebenso ist der Mensch ein gesellschaftliches Produkt. Wie die Externalisierung und die Objektivation, also die Entäußerungen und die Versachlichung, ist auch die Internalisierung Teil des ständigen dialektischen Prozesses. Diese Einverleibung der Wirklichkeit beschreibt Plessner im erwähnten Vorwort eingängig mit der Redensart »in Fleisch und Blut übergehen« (ebd.: S. XII). Menschen werden nicht als Mitglieder der Gesellschaft geboren, sondern müssen dazu erst werden. Diesen Prozess der Internalisierung, des »Übernehmens« einer vorhandenen Welt und des »Verständnis[ses] unserer Mitmenschen« (ebd.: S. 140), differenzieren Berger und Luckmann, angelehnt an Meads Sozialisationstheorie (Mead [1934] 1972), in zwei Phasen: »Die primäre Sozialisation ist die erste Phase, durch die der Mensch in seiner Kindheit zum Mitglied der Gesellschaft wird. Sekundäre Sozialisation ist jeder spätere Vorgang, der eine bereits soziali173

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sierte Person in neue Ausschnitte der objektiven Welt ihrer Gesellschaft einweist.« (Berger und Luckmann 1977: S. 141) In der primären Sozialisation in der Kindheit sind die »signifikanten Anderen« (ebd.) entscheidend für die Vermittlung der Wirklichkeit. Diese signifikanten Anderen sind konkrete Personen, in deren unmittelbarem Umfeld die Kinder aufwachsen – meist Erziehungsberechtigte und andere enge Angehörige. Berger und Luckmann betonen, dass Gefühlsbindungen an die signifikanten Anderen ebenso wichtiger Teil des Lernprozesses sind wie die Identifizierung mit ihnen. Darüber wird das Kind »fähig, sich als sich selbst und mit sich selbst zu identifizieren« (ebd.: S.  142). Kinder internalisieren Normen, indem aus einzelnen Handlungen eine Regel ableitbar wird und sich schließlich die Vorstellung vom »generalisierten Anderen« (ebd.: S. 143, nach Mead 1972) festigt – bis also die Einstellungen und Haltungen der Gesellschaft verinnerlicht sind. »Der Mensch ist ein gesellschaftliches Produkt.« (Ebd.: S. 65) Daraus ergibt sich, dass signifikante Andere in besonderem Maße verantwortlich sind für die Wirklichkeit, welche Kinder internalisieren. Die folgenden Überlegungen sind, aufgrund des begrenzten Rahmens, auf die Internalisierung und insbesondere die primäre Sozialisation reduziert und fokussiert, wenn sich der Blick aus dieser Perspektive nun wieder auf die interaktiven Spielzeugroboter richtet. Weitergehend könnte in einer umfangreicheren Analyse der dialektische Prozess der Wirklichkeitsproduktion für diesen Fall in seiner Gesamtheit betrachtet werden.

Konstruktionen und Verantwortungsgeflechte Verschiedene Forschungsergebnisse zu interaktiven Spielzeugen machen deutlich, wie der Einfluss auf die Wirklichkeitsproduktion der Kinder weit über das phantasievolle Spiel in

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Sinn-Enklaven hinausgeht und vielmehr in die Wirklichkeit der Alltagswelt hineinwirkt. Sherry Turkle – gewissermaßen die Psychoanalytikerin der Human Computer Interaction – weist in ihrem Buch »Alone Together« auf eine Generation von Kindern und Jugendlichen hin, die mit interaktivem, geselligem Spielzeug aufwächst, welches Emotionen und Zuwendung darstellt und im Gegenzug auch Zuwendung (care) einfordert (Turkle 2011: S. 10f.). Als entscheidenden Unterschied zum Spiel mit klassischen Puppen hebt sie hervor, dass Kinder sich ihre Spielzeugroboter als Vorbild nähmen und versuchten, sich an deren Ausdruck und Auftreten anzupassen, wobei sie ihre Stimme, Gesichtsausdrücke und Gesten imitierten (ebd.: S. 292). Außerdem neigen Kinder dazu, die Äußerungen und das Verhalten ihrer smarten Spielzeuge auch inhaltlich nachzuahmen. Der CogniToys Dino verwendet eine Reihe von sich wiederholenden Ausweichsätzen, um zu kaschieren, wenn er Verständnis- oder Antwortprobleme hat. Diese Technik eigneten sich Kinder an, die während einer Studie mit ihm spielten. Eines der teilnehmenden Kinder verwendete bspw. – nachdem es ein einziges Mal mit dem smarten Dino gespielt hatte – genau diese ausweichenden Sätze, um den eigenen Vater abzuwimmeln, als es dessen Anweisungen nicht folgen wollte (McReynolds et al. 2017: S. 5201). Das Vertrauen der Kinder (operationalisiert als die Erwartung an das Gegenüber, es werde Wort halten, und der Glaube an dessen Wissen und Intention) und die Nähe (als Intimität, die möglicherweise zu einer Freundschaft führen könnte) zu Connected Toys wurden in einer Metastudie analysiert. Diese zeigt, dass Vertrauen und Nähe zwar geringer sind als im Umgang mit menschlichen Freunden, aber in Gegenwart von Robotern stärker ausgeprägt als beim Spielen allein oder mit nicht-interaktiven Spielzeugen. Die Autor*innen kommen zu dem Schluss, 175

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dass diese smarten Spielroboter eine hybride ontologische Kategorie bilden, irgendwo zwischen dem Lebendigen und dem Unbelebten. Sie erklären, dass interaktive Spielzeugroboter als soziale Wesen wahrgenommen werden und Kinder diesen gegenüber offen seien für den Aufbau sozialer Beziehungen (van Straten, Peter und Kühne 2020). Es kann also – ohne die Frage nach der Subjektivität von Robotern an sich zu diskutieren – zusammengefasst werden, dass Kinder dazu neigen, ihre dauerhaft anwesenden, interaktiven Spielzeugroboter als soziale Akteure wahrzunehmen. Sie sprechen mit ihnen, imitieren sie und entwickeln ihnen gegenüber Emotionen. Und all das in der Phase ihrer primären Sozialisation. Aus sozialkonstruktivistischer Perspektive ziehen also möglicherweise mit den Spielzeugrobotern neue signifikante Andere in das Kinderzimmer ein. Über die Frage nach der Verantwortung lassen sich diese signifikanten Anderen genauer betrachten. Denn tragen die Roboter Verantwortung für die Konstruktion der Wirklichkeit der Alltagswelt von Kindern? Kann ein Roboter überhaupt für etwas verantwortlich sein? »Nur wer Verantwortung hat, kann unverantwortlich handeln.« (Jonas 1988: S. 176) Und ebenso wie den Kindern fehlt Robotern dazu die nötige Autonomie und Vernunft. Dies lässt sich auch mit der Philosophischen Anthropologie Plessners argumentieren, die Berger und Luckmann ihrer Gesellschaftstheorie zugrunde legen. Plessners Theorie folgend können digitale Entitäten wie soziale Roboter eine Handlungsfähigkeit lediglich imitieren. Aufgrund des fehlenden Selbst-Bewusstseins und der nicht vorhandenen Negationsfähigkeit erlangen sie nicht die Stufe des Menschen, also keinen menschlichen Akteursstatus, und sind nicht in der Lage, ethische, verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen (Burow 2019). Vielmehr stecken hinter 176

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ihrer Wirkung als soziale Akteure, hinter ihrer körperlichen Erscheinung und ihrer Fähigkeit zu ›natürlicher‹ Interaktion in der Tat nur Sensoren, Computer und Algorithmen, die entscheiden, was die Roboter tun. Und diese Algorithmen wurden von Menschen programmiert. In vielen Fällen wurden die exakten Sätze, die das Spielzeug sagt, von Menschen geschrieben, wie bspw. bei Hello Barbie (Mattel Inc. 2015). Aber selbst wenn eine selbstlernende künstliche Intelligenz beteiligt ist, wie im Fall des CogniToys Dinos die künstliche Intelligenz Watson von IBM (McReynolds et al. 2017), wird diese von Menschen konstruiert und von Menschen betrieben. Es lässt sich also folgern, dass nicht die interaktiven Spielzeuge sich selbst als signifikante Andere in die Wirklichkeitsproduktion einmischen. Es sind vielmehr die Wirklichkeitskonzeptionen der menschlichen Entwickler, die, vermittelt über die materielle und sprachliche Anwesenheit der Roboter, in die Wirklichkeitsproduktion der Kinder eingreifen. Entwickler ist hier bewusst nicht genderneutral geschrieben, denn KünstlicheIntelligenz-Forschung und -Entwicklung ist noch immer absolut männerdominiert (Stathoulopoulos und Mateos-Garcia 2019). So könnte man zugespitzt sagen: Mit smarten Roboterspielzeugen lassen wir wildfremde Männer in die Kinderzimmer. Diese Entwickler tragen also einen Teil der Verantwortung für die Wirklichkeitsproduktion in der primären Sozialisation der Kinder, die mit smartem Spielzeug interagieren. Sie sind dabei aber nur einer der Knoten in einem komplexen Verantwortungsgeflecht. Des Weiteren sind die Betreiberfirmen eingebunden, die sich mit der Konstruktion von smarten Spielrobotern im Spannungsfeld von Verantwortung und wirtschaftlichem Interesse bewegen. Aber auch die Wissenschaft, die zu künstlicher Intelligenz und Robotik forscht, muss sich ihrer Verantwortung zwischen Erkenntnisinteresse und den Konsequenzen der Anwendung stellen. 177

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Einen erheblichen Anteil der Verantwortung tragen die direkten signifikanten Anderen beim Thema Spielzeugroboter (meist die Erziehungsberechtigten), da es ihnen obliegt, ihre/n Kinder/n solche/n Roboterspielzeuge zu überlassen. Es ist allerdings fraglich, ob ihnen diese Verantwortung bewusst ist. Es ist fraglich, ob ihnen klar ist, dass sie mit der Bereitstellung von smarten Spielzeugen andere Andere in die Wirklichkeitsentwicklung ihrer Kinder eingreifen lassen könnten. Nicht zuletzt bleibt der Blick auf die gesellschaftlich und demokratisch legitimierten Institutionen der Gesetzgebung und die Frage, ob und wie diese ihrerseits die Verantwortung für das Verhältnis zwischen den verschiedenen genannten verantwortlichen Akteuren und Interessenlagen übernehmen oder regeln sollten.

Fazit Sicherlich ist die Verantwortung gegenüber Kindern aufgrund ihrer eingeschränkten Autonomie eine besondere, nicht zuletzt aufgrund ihres lebenslangen Einflusses in der Phase der primären Sozialisation. Und ebenso fällt die Betrachtung von verkörperten interaktiven Robotern leichter: Erstens weil sie somit schlicht sichtbar und greifbar werden sowie zweitens, weil diese Materialisierung im direkten Umfeld der Nutzenden einen Gegenstand bietet, an dem das Gefühl, dass die Roboter ›selbst‹ in die Wirklichkeitskonstruktion eingreifen, anschaulich widerlegt werden kann. Obwohl die Betrachtung von interaktiven Spielzeugrobotern also als zugespitzt und fast idealtypisch verstanden werden muss, lässt sich die angeführte Argumentation auch auf andere soziale Roboter und auch auf nicht-materielle, ›natürlich‹ interagierende digitale Instanzen wie Alexa & Co. und andere ›Erwachsenen-Roboter‹ übertragen. Denn auch in sekundären Sozialisationsprozessen wird ständig Wirklichkeit objektiviert und internalisiert und auch Erwachsene kommunizieren nicht ›in 178

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Spiel‹ mit interaktiven Robotern, sondern in ihrem Alltag und somit in ihrer Alltagswirklichkeit. Die Aussagen von ›intelligenten Assistent*innen‹, wie den oben genannten, werden eben nicht als Teil eines Spiels angesehen, sondern als wirklich. Wir trauen Algorithmen zu, die Wirklichkeit richtig zu sortieren (Pan et al. 2007), wenn wir etwas zwar glauben zu wissen, aber sicherheitshalber noch mal googeln oder sogar unsere smarten Assistenzsysteme danach fragen, die uns keine Liste von Suchergebnissen mehr liefern, sondern nur die eine wirkliche Antwort. Während sich Erweiterungen oder Kritiken der ursprünglichen Wissenssoziologie Bergers und Luckmanns mit der Materialität (Pfadenhauer und Grenz 2017) oder den Eigenschaften des digitalen Mediums (Couldry und Hepp 2017) als konstitutive Merkmale in der Wirklichkeitskonstruktion befassen, hat der Fokus auf die Akteure es ermöglicht, ein Bewusstsein zu entwickeln für die Verantwortung in der Konstruktion von sozialen Robotern. So haben die vorangegangenen Überlegungen gezeigt, welche verzweigte und häufig verdeckte Verantwortung mit der Wirklichkeitsproduktion durch Roboter einhergeht. Gleichzeitig wurde offenbar, welche Verantwortung die Konstruktion und Entwicklung von sozialen Robotern beinhaltet. Das oft niedliche Auftreten der verkörperten Roboter oder die freundliche, oft scherzende Stimme von interaktiven Assistent*innen gaukeln Subjektivität vor und verschleiern somit, wie die Wirklichkeitskonzeptionen der Entwickler, Programmierenden und Unternehmen, vermittelt über die ›natürliche‹ Interaktion der Sprache, in die Objektivation von Wirklichkeit eingreifen. Oder um es mit den gescripteten Worten der Hello Barbie zu sagen: »You know it’s all true, right? […] Actually, it’s super true! Is there such a thing as ›super true‹? Well there is now! (LIGHT GIGGLE)« (Mattel Inc. 2015: S. 12).

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Zum Weiterlesen Burow, Johannes Frederik (2019): »The Next Step. Können digitale Entitäten als eine neue Stufe im Sinne der Philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners verstanden werden?«. In: Johannes Frederik Burow et al. (Hg.). Mensch und Welt im Zeichen der Digitalisierung. Perspektiven der Philosophischen Anthropologie Plessners. Baden-Baden: Nomos, S. 209­-228. McReynolds, Emily et al. (2017): »Toys that Listen. A Study of Parents, Children, and Internet-Connected Toys«. In: Proceedings of the 2017 CHI Conference on Human Factors in Computing Systems CHI 17, S. 5197-5207. DOI: https://doi.org/10.1145/3025453.3025735 Turkle, Sherry (2011): Alone Together. Why We Expect More from Technology and Less from Each Other. New York: Basic Books.

Literatur Berger, Peter L./Luckmann, Thomas (1977): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie [The Social Construction of Reality. A Treatise in the Sociology of Knowledge]. Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag. Burow, Johannes Frederik (2019): »The Next Step. Können digitale Entitäten als eine neue Stufe im Sinne der Philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners verstanden werden?«. In: Johannes Frederik Burow et al. (Hg.). Mensch und Welt im Zeichen der Digitalisierung. Perspektiven der Philosophischen Anthropologie Plessners. Baden-Baden: Nomos, S. 209-228. DOI: https://doi.org/10.5771/9783845293226-209 Chaudron, Stephane (2017): »Internet of Toys. Safety and Security Considerations«. In: Joint Research Centre (Hg.). Kaleidoscope on the Internet of Toys. Safety, Security, Privacy and Societal Insights. Luxembourg: Publications Office of the European Union, S. 11-13. Couldry, Nick/Hepp, Andreas (2017): The Mediated Construction of Reality. Cambridge: Polity Press.

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Sozialkonstruktivismus Gardecki, Arkadiusz/Podpora, Michal (2017): »Experience from the Operation of the Pepper Humanoid Robots«. In: PAEE (Hg.). 2017 Progress in Applied Electrical Engineering (PAEE). Koscielisko (Zakopane), Poland, June 25-30, 2017. Piscataway, NJ: IEEE. DOI: https://doi.org/10.1109/PAEE.2017.8008994 Hatmaker, Taylor (2017): »Saudi Arabia Bestows Citizenship on a Robot Named Sophia«. Verfügbar unter: https://​techcrunch.com​/​ 2017/​10/​26/​saudi-​arabia-​robot-​citizen-​sophia/​ (zuletzt abgerufen am 22.11.2019). Jonas, Hans (1988): Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt a.M.: Insel-Verlag. Mattel Inc. (2015): »Hello Barbie FAQ. Hello Barbie Doll’s Lines v.2«. Verfügbar unter: http://​hellobarbiefaq.mattel.com​/​wp-​content/​ uploads/​2015/​11/​hellobarbie-​lines-​v2.pdf (zuletzt abgerufen am 06.03.2020). Mattel Inc. (2020): »Barbie Online Shop. Hello Barbie Doll – Blonde Hair«. Verfügbar unter: https://​play.barbie.com​/​en-​us/​shop/​ productdetail​?​id=​10005221 (zuletzt abgerufen am 06.03.2020). McReynolds, Emily et al. (2017): »Toys that Listen. A Study of Parents, Children, and Internet-Connected Toys«. In: Proceedings of the 2017 CHI Conference on Human Factors in Computing Systems CHI 17, S.  5197-5207. DOI: https://doi. org/10.1145/3025453.3025735 Mead, George Herbert ([1934] 1972): Mind, Self, and Society. From the Standpoint of a Social Behaviorist. Chicago/London: University of Chicago Press. Nash, Victoria/Davies, Huw/Mishkin, Allison (2019): »Digital Safety in the Era of Connected Cots and Talking Teddies«. Verfügbar unter: https://​papers.ssrn.com​/​sol3/​papers.cfm​?​abstract_id=​34 07264 (zuletzt abgerufen am 10.03.2020). DOI: https://doi. org/10.2139/ssrn.3407264 Pan, Bing et al. (2007): »In Google We Trust: Users’ Decisions on Rank, Position, and Relevance«. In: Journal of Computer-Me-

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Johannes Frederik Burow diated Communication 12, 3, S.  801-823. DOI: https://doi. org/10.1111/j.1083-6101.2007.00351.x Peter, Jochen (2017): »Social Robots and the Robotification of Childhood«. In: Joint Research Centre (Hg.). Kaleidoscope on the Internet of Toys. Safety, Security, Privacy and Societal Insights. Luxembourg: Publications Office of the European Union, S. 1416. Pfadenhauer, Michaela/Grenz, Tilo (2017): »Von Objekten zu Objektivierung«. In: SozW 68, 2-3, S.  225-242. DOI: https://doi. org/10.5771/0038-6073-2017-2-3-225 Plessner, Helmuth ([1928] 1975): Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Berlin/New York: Walter de Gruyter. Stathoulopoulos, Kostas/Mateos-Garcia, Juan (2019): »Gender Diversity in AI Research«. Verfügbar unter: https://​papers.ssrn. com​/​sol3/​papers.cfm​?​abstract_id=​3428240 (zuletzt abgerufen am 15.11.2019). DOI: https://doi.org/10.2139/ssrn.3428240 Turkle, Sherry (2011): Alone Together. Why We Expect More from Technology and Less from Each Other. New York: Basic Books. van Straten, Caroline L./Peter, Jochen/Kühne, Rinaldo (2020): »Child‐Robot Relationship Formation. A Narrative Review of Empirical Research«. In: International Journal of Social Robotics 12, 325-344. DOI: https://doi.org/10.1007/s12369-019-00569-0

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Science and Technology Studies: Die Datafizierung von Alltagspraktiken Datenaktivismus als neue Verantwortung? Tanja Schneider, Klaus Fuchs und Simon Mayer Wer kennt diese Alltagssituation nicht? Einkaufen im Supermarkt. Klassischerweise werden zum Abschluss des Einkaufs die ausgewählten Waren im Einkaufswagen an die Kasse gefahren, auf das Band gelegt, von den Kassierer*innen eingescannt und anschließend von den Kund*innen bezahlt. Zwischendurch kommt in der Regel die Frage: »Haben Sie eine Kundenkarte?« Was passiert in dem Moment, in dem diese Karte eingelesen wird? Es werden die Daten des Einkaufs erhoben und unter dem jeweiligen Kundenprofil für die spätere Auswertung durch den Anbieter abgelegt – dieses Profil enthält weitere Angaben wie Name, Adresse und Geburtsdatum. Primär dient die Erhebung der Kundendaten im Zusammenhang mit den Absatzdaten der Angebotsplanung, Optimierung der Logistikprozesse und der Personalisierung von Marketingmaßnahmen. Im Gegenzug erhalten die Einkaufenden für Ihre Einkaufsdaten Punkte; wird eine gewisse Anzahl Punkte erreicht, winken Prämien, Rabatte und/oder Sonderaktionen. Das Vorzeigen von Kundenkarten ist eine bekannte Methode der Datenerhebung des Einzelhandels. Weitere Methoden im digitalen Zeitalter bieten das Online-Shopping; und Verfahren, die digitale Ansätze mit dem physischen Einkauf vereinen sind entweder in der Testphase, oder z.T. bereits im Einsatz (bspw. das kassenlose Einkaufen per App, die Zutritt, Einkauf und Bezahlung ermöglicht). Die Vorteile und Nachteile aus Sicht der Kund*innen (z.B. Rabatte versus Privatsphäre) und des Einzelhandels (z.B. Wissen über Kund*innen versus Akzeptanz) dieser 183

Tanja Schneider, Klaus Fuchs und Simon Mayer

Datenerhebung werden breit diskutiert, wie ein kurzer Blick in die Berichterstattung der deutschsprachigen Medien gut illustriert. Die Konsequenzen dieser Entwicklung auf gesellschaftlicher Ebene sind ebenso divers: Die Sammlung und Analyse von Kunden- und Verhaltensdaten führt in Richtung ›gläserner‹ Kund*innen; andererseits bilden dieselben Daten und Analyseprozesse auch die Grundlage für Systeme, die im Dienste der Konsument*innen mehr Transparenz bzgl. ihrer Kaufentscheidungen schaffen können. Dies könnte weitreichende positive Konsequenzen für das Einkaufsverhalten haben, z.B. bzgl. gesundheitlicher und ökologischer Folgen unserer Ernährungsgewohnheiten. Wie lässt sich die skizzierte Entwicklung hin zur Datafizierung des Alltags aus Sicht der Soziologie und spezifisch der Science and Technology Studies (STS) verstehen, einordnen und kritisch reflektieren? Dabei interessieren wir uns in unserem Beitrag primär dafür, wie sich Verantwortlichkeiten verschieben und welche Handlungsmöglichkeiten Konsument*innen haben. Insbesondere gehen wir der Frage nach, welche Bedeutung Datenaktivismus in diesem Kontext haben könnte und stellen als Anwendung der STS-Perspektive auf den Fall der Datafizierung unser interdisziplinäres Forschungsprojekt »FoodCoach« vor, das zum Ziel hat, mögliche ›alternative‹ Imaginationen zu entwickeln, was mit Daten gemacht werden kann. Ein Fazit schließt die Überlegungen ab.

Datafizierung des Alltags Das einleitend umrissene Beispiel des alltäglichen Einkaufs mit Kundenkarte im Lebensmitteleinzelhandel lässt sich soziologisch als Prozess der Datafizierung des Alltags beschreiben. Diese Entwicklung veranlasst die Soziologen Daniel Houben und Bianca Prietl (2018) dazu, unsere gegenwärtige Gesellschaft als eine »Datengesellschaft« zu beschreiben. Gemäß den Heraus184

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gebern ist eine Datengesellschaft »eine Gesellschaft, die fortwährend reflektiert und reflexiv Daten produziert, sich mittels dieser Daten in ihren zentralen Bereichen reproduziert, Lebenschancen datenbasiert verteilt, sich zunehmend anhand von Daten selbst beschreibt, das Thema Daten intensiv diskutiert und sich in vielerlei Hinsicht in eine (un-)bewusste Abhängigkeit gegenüber ihren eigenen Datenbeständen begibt« (Houben/ Prietl 2018: S. 7). Prietl und Houben betonen, dass die Produktion, Bearbeitung und Auswertung von Daten an sich nicht neu ist, weisen jedoch zum einen auf die schiere Menge und Zunahme der gesammelten Daten sowie zum anderen auf mehrere qualitative Verschiebungen in den Datafizierungprozessen hin: »[W]ir generieren und teilen, wenngleich mitunter unreflektiert und unkontrolliert – zunehmend auch Daten über uns selbst« (Houben/ Prietl 2018: S. 10), um nur eine der genannten Verschiebungen herauszugreifen. In einer Datengesellschaft werden weitaus mehr als nur Einkäufe datafiziert und ausgewertet. Die Soziologen Mike Michael und Deborah Lupton (2016) betonen diese zunehmende Datafizierung von Alltagspraktiken in ihrem Manifest für ein öffentliches Verständnis von und eine öffentliche Auseinandersetzung mit Big Data. Über ein öffentliches Verständnis von Big Data hinaus stellt sich zudem die Frage nach dem Umgang unterschiedlicher Akteure mit Big Data. Welche generellen Handlungsmöglichkeiten bestehen für Bürger*innen im Alltag? Und bezogen auf das eingangs skizzierte Shoppingbeispiel: Welche Handlungsmöglichkeiten existieren für die Einkaufenden? Auf individueller Ebene bestehen in der Regel zwei grundlegende Optionen: Opt-in, also die Mitgliedschaft in Bonusprogrammen und damit die Zustimmung zur Sammlung und Verwertung der Daten; oder Opt-out, also die Nichtmitgliedschaft und damit verbunden die Verweigerung der Datensammlung 185

Tanja Schneider, Klaus Fuchs und Simon Mayer

und -auswertung. Die jeweiligen Optionen kommen mit entsprechenden individuellen Konsequenzen, wie der Möglichkeit Rabatte zu erhalten und von Aktionen zu profitieren – oder eben nicht. Die Verantwortung für Opt-in oder Opt-out zur Datensammlung und -auswertung liegt beim Einzelnen. Das polarisierte Handlungsspektrum der Konsument*innen im vorliegenden Beispiel basiert auf einem Verständnis von Einkaufenden als aktiven Konsument*innen, die individuelle Entscheidungen zu Opt-in oder Opt-out gemäß ihrer Präferenzen treffen (sollen) und aller Voraussicht nach zustimmen werden, um in den Genuss von finanziellen oder anderen Vorteilen zu kommen (Vorteile, die für manche Einkommensgruppen schlicht nicht zu ignorieren sind, da sie Ersparnisse bei den Ausgaben für Lebensmittel und weitere Konsumgüter bedeuten). Einen zusätzlichen Anreiz für die Teilnahme stellt der Trend zu Partnerschaften zwischen Bonusprogrammen unterschiedlicher Anbieter oder der Zusammenschluss zu sog. Loyality-Verbänden dar, der die Nutzung von Treuepunkten über unterschiedliche Anbieter hinweg ermöglicht. Zusammenfassend zeigt sich, dass die Opt-in versus Opt-out Handlungen der Konsument*innen vor einem Hintergrund der Sichtbarkeit des finanziellen Anreizes und der Möglichkeit des vielseitigen Einsatzes der gesammelten Punkte aber bei gleichzeitiger Unsichtbarkeit der Datenkonsequenzen stattfindet.

Science and Technology Studies (STS) und Datenaktivismus Unsere sozialwissenschaftliche Perspektive auf den Fall Datafizierung ist informiert durch die sog. STS, »ein transdisziplinäres Forschungsfeld, welches die historischen, sozialen und kulturellen Bedingungen von Wissensproduktion, aber auch die Fabrikation technologischer Artefakte und medizinischer Praktiken in den Blick nimmt.« (Bauer et al., S. 7) Zudem beziehen 186

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wir uns auf soziologische und medienwissenschaftliche Studien rund um Datafizierung und Datenaktivismus sowie angrenzende Forschungsfelder wie Critical Data Studies und Critical Algorithm Studies. Über den skizzierten Fall und erste gesellschaftliche Diagnosen in Form der Datengesellschaft hinaus mehren sich sozialwissenschaftliche Studien zu Big Data, die die Datafizierung des Alltags untersuchen und kritisch reflektieren. Ziel der von den STS inspirierten, empirischen Forschungsbeiträge, die mittlerweile eigene Forschungsfelder begründet haben, wie die bereits genannten Critical Data Studies (z.B. Iliadis und Russo 2016) oder Critical Algorithm Studies (für einen Überblick s. Gillespie und Seaver 2016), ist das Öffnen der sog. Black Box Big Data (Pasquale 2015). Ziel dieser Forschung ist die Analyse der Herstellung und Verwertung von Daten und daraus resultierenden Klassifikationsprozessen und der Frage danach, welche neuen sozialen Ordnungen und Realitäten in/durch Daten, Datentechnologien, Nutzer*innen, Analyst*innen und weitere menschliche und nichtmenschliche Akteure co-konstitutiert werden. Dabei ist eine zentrale Frage aus der Perspektive der STS: Wie kommt es in solchen Datenassemblagen zu Verschiebungen von Verantwortlichkeiten zwischen den unterschiedlichen Akteuren? Datenassemblagen – ein Begriff aus den Critical Data Studies, den wir von Kitchin und Lauriault (2015) übernehmen  – »umfass[en] alle technologischen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Apparate und Elemente, die die Erfassung, Zirkulation und Verarbeitung von Daten konstituieren und gestalten« (S. 1, eigene Übersetzung aus dem Englischen). Und daran anschließend die Fragen: Wie wird dadurch die Handlungsfähigkeit (Agency) des Individuums transformiert? Und welche Rolle spielen Konsument*innen, Bürger*innen, aber auch For-

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schende, um diese Prozesse nicht nur zu verstehen, sondern auch mitzugestalten? In diesem Zusammenhang haben Sozialwissenschaftler*innen begonnen, sich aktiv mit dieser letzten Frage rund um den Begriff und die Praxis des Datenaktivismus auseinanderzusetzen. Darunter verstehen sie neue Formen des bürgerlichen und politischen Engagements, die auf Datennutzung reagieren und das Ziel verfolgen, eine verantwortungsvollere Datenzukunft zu initiieren und zu stärken (z.B. Milan/van der Velden 2016). Stefania Milan, Medienwissenschaftlerin an der Universität Amsterdam, erforscht zusammen mit ihrem Team, wie unterschiedliche »Nicht-Regierungsorganisationen, HackerInnen und AktivistInnen eine Unzahl ›alternativer‹ Interventionen, Interpretationen und Imaginationen anbieten, wofür Daten stehen und was mit ihnen gemacht werden kann« (Milan und van der Velden 2018, S. 1, eigene Übersetzung aus dem Englischen). Eine Form des Datenaktivismus konzentriert sich darauf, dass Bürger*innen mehr Kontrolle über ihre personenbezogenen Daten erlangen. Eine solche Datenaktivismus-Initiative namens »MyData« haben die Forschenden Lehtiniemi und Ruckenstein (2019) sowie Lehtiniemi und Haapoja (2020) mittels teilnehmender Beobachtung in kollaborativen Projekten mit Datenaktivist*innen in Finnland untersucht. Basierend auf ihrer kollaborativen Forschung mit der »MyData«-Gemeinschaft stellen Lehtiniemi und Ruckenstein (2019) fest: »um im professionsübergreifenden Dialog erfolgreich zu sein, müssen Sozialwissenschaftler*innen […] bereit sein, von den offensichtlichsten Formen der Kritik, die mit den ausbeuterischen Kräften der Datafikation verbunden sind, abzuweichen. Indem konstruktiv zusammengesetzte Kritik angeboten wird, kann sich die Datenaktivismusforschung auf kollektiv tragfähige sozio-technische Datenzukünfte konzentrieren.« (S. 10, eigene Übersetzung aus dem Englischen). 188

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»FoodCoach« Die sozialwissenschaftliche Forschung zu Datenaktivismus sowie jene Forschung zum öffentlichen Verständnis von und zur öffentlichen Auseinandersetzung mit Big Data bietet wichtige Impulse für das Entwickeln ›alternativer‹ Interventionen, Interpretationen und Imaginationen im dargestellten Beispiel der Teilnahme an Kundenbindungsprogrammen und der Wiederverwendung dieser Daten. Eine solche Intervention entwickeln wir kollaborativ in unserem Forschungsprojekt »FoodCoach«, das wir interdisziplinär über die Fachbereiche Techniksoziologie und Informatik an der Universität St. Gallen sowie Informationsmanagement an der ETH Zürich durchführen. Das interdisziplinäre Forschungsprojekt »FoodCoach«1 verfolgt das Ziel, einen forschungsbasierten Beitrag zur Reduktion ernährungsbedingter Krankheiten zu leisten. Zu diesem Zweck stellt das Forschungsprojekt ein umfangreiches Ernährungspanel zusammen, das auf digitalen Einkaufsdaten basiert. Die individuellen Einkaufsdaten, die auf den gesammelten Daten der Kundenbindungsprogramme der Schweizer Detailhändler Coop und Migros, die zusammen knapp 70 Prozent Markanteil haben (GfK 2019), basieren, werden von freiwilligen Teilnehmenden dem »FoodCoach« Forschungsprojekt zur Verfügung gestellt. Die rechtliche Grundlage für das neuartige und zukünftig immer selbständiger werdende Teilen der Kundendaten durch die einzelnen Kund*innen liegt hierbei in der Europäische Datenschutzgrundverordnung, die am 25. Mai 2018 eingeführt wurde. 1 |  Das vierjährige Forschungsprojekt »FoodCoach« wird seit März 2020 im Rahmen des Korean-Swiss Science and Technology Programmes durch den Schweizerischen Nationalfonds (SNF) und die National Research Foundation (NRF) in Südkorea finanziell unterstützt. Weitere Informationen zu FoodCoach sind verfügbar unter: http://p3.snf.ch/project-188402 (zuletzt abgerufen am 13.08.20).

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Durch die hier definierten Regeln zur Data Portability, die Teil der neuen Datenschutzgrundverordnung ist, erhalten europäische Konsument*innen nunmehr die Hoheit über ihre Kundendaten zurück und dürfen nun zu jeder Zeit eine elektronische, maschinenlesbare Kopie ihrer Daten beantragen. Mithilfe dieser von freiwilligen Teilnehmenden gesammelten und gespendeten Einkaufs- und Ernährungsdaten entwickelt das »FoodCoach«-Forschungsteam einen automatisierten Ansatz für die Auswertung digitaler Einkaufsdaten und macht diese via digitalen Anwendungen den jeweiligen individuellen Nutzer*innen in leicht verständlicher Form zugänglich. Anstatt mit einer Vielzahl von Labels, Ampeln und Inhaltsstoffangaben konfrontiert zu sein, sollen für jedermann nachvollziehbare Analysen und Vorschläge von einer zukünftigen »FoodCoach«Applikation dargestellt werden. Konkret ist geplant, maschinelles Lernen einzusetzen, um aus den erfassten Einkaufsdaten: a) das Ernährungsverhalten der Nutzer*innen einzuschätzen, b) diese Informationen Nutzer*innen mittels einer mobilen App aufzuzeigen (insbesondere zu den enthaltenen Nährstoffen der Einkäufe durch Anzeige von Nutri-Scores) und c) zudem alternative Vorschläge anzubieten, die eine gesündere Ernährungsweise unterstützen. Parallel zur technischen Entwicklung und Umsetzung findet eine soziologische Begleitforschung statt, die gelebte Erfahrungen von Nutzer*innen aber auch die Vorbehalte von NichtNutzer*innen gegenüber digitalem/r Ernährungsmonitoring und -intervention erhebt. Die in Form von Umfragen, Fokusgruppendiskussionen und Interviews gewonnenen Erkenntnisse fließen kontinuierlich in das Forschungsprojekt und die Entwicklung der mobilen Applikation ein und bieten somit die Möglichkeit des kontinuierlichen Einbezugs der Nutzer*innen in den Entwicklungsprozess.

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Die interdisziplinäre Forschungskollaboration zwischen Informatik, Informationsmanagement und Techniksoziologie sowie der aktive Einbezug der Nutzer*innen ermöglichen somit im Sinne des Datenaktivismus, gemeinsam ›alternative‹ Interventionen, Interpretationen und Imaginationen zu entwickeln, wofür Daten stehen und was mit ihnen gemacht werden kann. Um dies zu ermöglichen benötigen Nutzer*innen neben Einblicken in die Art und Verwendung der erhobenen Daten vertiefte Einblicke in und Verständnis für die infrastrukturellen Arrangements der Datenerhebung, -auswertung, -verwaltung und des -austauschs sowie die politischen, ökonomischen und juristischen Faktoren, die diese hervorbringen. Infrastruktur und Handlungsmöglichkeiten sind in Datenassemblagen miteinander verwoben. Datenaktivismus hat zum Ziel, dies sichtbar zu machen. Aktuell stehen wir am Anfang des FoodCoach Forschungsprojekts. Jedoch bietet das Konzept des Datenaktivismus bereits zum jetzigen Zeitpunkt eine Grundlage für die Initiation eines interdisziplinären Dialogs über unsere unterschiedlichen Wissenschaftsfelder und »Wissenskulturen« (Knorr-Cetina 2002) hinweg. Gerade die konzeptionelle Frage, ob »FoodCoach« eine Form des Datenaktivismus darstellt oder ermöglicht, schafft Raum, die jeweiligen Annahmen der im Forschungsprojekt beteiligten Forschenden zu hinterfragen. Dies ist zu einem späteren Zeitpunkt ebenfalls für die Konsument*innen, die ihre Daten zur Verfügung stellen, möglich. Diese Reflexionsprozesse und integrierten Feedbackloops vor, während und nach der Auswertung der Daten und Entwicklung der mobilen Applikation zielen darauf ab, typische Kritikpunkte wie z.B. »bias in Big Data« (Crawford 2013) zu vermeiden, wie sie in den Critical Data aber auch Critical Algorithm Studies an der Tagesordnung sind. Das Forschungsprojekt ermöglicht zudem die Analyse von Daten, die dem Individuum vormals nicht zugänglich waren, 191

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was dem Anspruch und den Maximen des Datenaktivismus folgt. Zudem wird auf Basis dieser zugänglich gemachten Daten co-konstitutiv neues Wissen generiert, womit das Projekt die Prinzipien der Citizen Science zumindest ansatzweise zu integrieren sucht. »FoodCoach« folgt damit Andrejevichs (2013) Appell, die infrastrukturellen Arrangements von Big Data sowie die Wissenspraktiken, mit denen diese verbunden sind, neu zu denken (2013: S. 165). Ein solches Vorgehen trägt dazu bei, Verantwortlichkeiten in Datenassemblagen zu verschieben und diese parallel reflexiv zu beforschen. Forschende aber auch Konsument*innen erlangen in diesem Prozess neue Verantwortlichkeiten. Während diese zumindest von forschungsethischer Perspektive von den beteiligten Forschenden reflektiert und von der ETH Zürich Ethikkommission bewilligt wurden (Ethikgesuch 2019-N-134) (sowie weiterhin reflektiert und allenfalls angepasst werden müssen), stellt sich potentiell teilnehmenden Konsument*innen die Frage: Will ich auf meine Daten zugreifen und diese erhalten, zur Verfügungen stellen, mich mit der Analyse der Daten auseinandersetzen und Feedback zu deren Auswertung und Darstellung geben? Nicht nur die Forschenden sind in einem solchen Vorhaben gefordert, ihre Annahmen zu hinterfragen, miteinander auszuhandeln und überprüfen zu lassen (z.B. durch die Dateneigentümer, die Konsument*innen). Auch die teilnehmenden Konsument*innen betreten Neuland und stehen vor der persönlichen Auseinandersetzung: Wie will ich meine Daten anders verwertet wissen und was kann ich dazu beitragen, einen neuen Wert daraus zu ziehen?

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Fazit – neue Verantwortungen in der Datengesellschaft Konsument*innen können durch das »FoodCoach« Forschungsprojekt neue Einblicke in ihre Daten und deren Wert für Unternehmen (aber auch sich selbst) und deren weitreichende Aussagekraft erhalten. Diese gewonnene Transparenz ermöglicht, dass Konsument*innen ein Bewusstsein entwickeln, welche Daten gesammelt werden, wie sie diese kontrollieren könnten und wie sie sich diese Daten selbst zunutze machen könnten. In diesem Fall gehen die Handlungsmöglichkeiten über die Optionen Opt-in und Opt-out hinaus. Mögliche Handlungsoptionen vervielfachen sich. Und wir wagen den Ausblick, dass somit Agency gewonnen werden kann. Um nur eine Option unter vielen herauszupicken: Es könnte sein, dass Konsument*innen ihre Daten bei Detailhändlern löschen lassen, weil sie sich dieser Möglichkeit bewusster werden. Über die Reflexion von Daten und deren Infrastruktur hinaus ermöglicht eine durch die STS informierte interdisziplinäre Studie unter Einbezug von Konsument*innen die Chance, »FoodCoach« mitzugestalten und somit an bisher nicht berücksichtigten Bedürfnissen und Interessen anzupassen. Aus Sicht der beteiligten Wissenschaftler*innen bietet Datenaktivismus die Chance, ›blinde Flecken‹ in der Entwicklung der »FoodCoach«-App aufzudecken und zu entschärfen. Ist Datenaktivismus also die neue Verantwortung der Konsument*innen in einer Datengesellschaft? Unser Fall, die Datafizierung von Alltagspraktiken mit Fokus auf das Einkaufen mit Kundenkarten, hier am Beispiel der zu entwickelnden »FoodCoach«-App reflektiert, legt eine andere Erkenntnis nah. Verantwortung liegt potentiell bei allen Beteiligten und Betroffenen. Somit ist Verantwortung verteilt, wenn auch nicht gleich verteilt. Darüber hinaus wird Verantwortung situativ ausgehandelt 193

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und relational konstituiert. Verantwortungsvolle Datafizierung aus Sicht der STS würde bedeuten, diese Aushandlungsprozesse zu ermöglichen. Praktikable Formate dazu haben STS Forschende mit Bezug auf frühere, neue technologische Artefakte und Prozesse bereits vorgeschlagen und reichen von Bürgerkonferenzen zu hybriden Foren (vgl. Callon et al. 2011; Stilgoe et al. 2014). Wie diese im Kontext der Datafizierungsforschung einund umgesetzt werden können, ist eine Frage, die es weiterhin zu erforschen gilt. Wir möchten uns sehr herzlich bei der Herausgeberin, Anna Henkel, für die Einladung sowie Ihr hilfreiches Feedback bedanken. Dank gebührt auch Michèle Meister und Julia Nentwich, die eine erste Version des Kapitels kommentiert und uns wertvolle Hinweise gegeben haben. Dieses Kapitel basiert auf einem durch den Schweizerischen Nationalfonds finanziertes Forschungsprojekt, »FoodCoach« (IZKSZ1_188402), und wir sind dankbar über die großzügige Unterstützung.

Zum Weiterlesen Auto-ID Labs ETH/HSG: https://www.autoidlabs.ch/projects/food​ coach/ Bowker, Geoffrey C./Star, Susan Leigh (1999):  Sorting Things Out. Classification and Its Consequences. Cambridge, MA: MIT Press. Schneider, Tanja/Eli, Karin/Dolan, Catherine/Ulijaszek, Stanley (2018): Digital Food Activism. London: Routledge.

Literatur Andrejevich, Mark (2013): Infoglut. How Too Much Information Is Changing the Way We Think and Know. New York: Routledge.

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Science and Technology Studies Bauer, Susanne/Heinemann, Torsten/Lemke, Thomas (Hg.) (2017): Science and Technology Studies. Klassische Positionen und aktuelle Perspektiven. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Callon, Michel/Lascoumes, Pierre/Barthe, Yannick (2011): Acting in an Uncertain World. An Essay on Technical Democracy. Cambridge, MA: MIT Press. Crawford, Kate (2013): »The Hidden Biases in Big Data«. In: Harvard Business Review. 01.04.2013. Verfügbar unter: https://hbr. org/2013/04/the-hidden-biases-in-big-data (zuletzt abgerufen am 10.10.2017). GfK (18. 06. 2019): Marktanteile der führenden Detailhändler in der Schweiz im Jahr 2018 [Graph]. In: Statista. Verfügbar unter: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/368538/umfrage/ marktanteile-der-fuehrenden-unternehmen-im-lebensmittel​ handel-in-der-schweiz/ (zuletzt abgerufen am 31.07.2020). Gillespie, Tarleton/Seaver, Nick (2015): Critical Algorithm Studies. A Reading List. Verfügbar unter:  https://socialmediacollective. org/reading-lists/critical-algorithm-studies/ (zuletzt abgerufen am 16.04.2020). Houben, Daniel/Prietl, Bianca (Hg.) (2018): Datengesellschaft. Einsichten in die Datafizierung des Sozialen. Bielefeld: transcript. Iliadis, Andrew/Russo, Federica (2016): »Critical Data Studies. An Introduction«. In: Big Data & Society 3, 2, S. 1-7.  Kitchin, Rob/Lauriault, Tracey P. (2014): »Towards Critical Data Studies. Charting and Unpacking Data Assemblages and Their Work«. In: The Programmable City Working Paper 2. Working Paper. Programmable City, Social Science Research Network. Verfügbar über SSRN unter: https://ssrn.com/abstract=2474112 (zuletzt abgerufen am 05.05.2020). Knorr-Cetina, Karin ([1999] 2002): Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Tanja Schneider, Klaus Fuchs und Simon Mayer Lehtiniemi, Tuukka/Ruckenstein, Minna (2019): »The Social Imaginaries of Data Activism«. In: Big Data & Society 6, 1, S. 1-10. Lehtiniemi, Tuuka/Haapoja, Jesse (2020): »Data Agency at Stake. MyData activism and Alternative Frames of Equal Participation«. In: Big Data & Society 22, 1, S. 87-104. Michael, Mike/Lupton, Deborah (2016): »Toward a Manifesto For The ›Public Understanding of Big Data«. In: Public Understanding of Science 25, 1, S. 104-116. Milan, Stefania/van der Velden, Lonneke (2016): »The Alternative Epistemologies of Data Activism«. In: Digital Culture & Society 2, 2, S. 57-74. Milan, Stefania/van der Velden, Lonneke (2018): »Reversing Data Politics: An Introduction to the Special Issue«. In: Krisis: Journal for Contemporary Philosophy 1, S. 1-3. Pasquale, Frank (2015): The Black Box Society: The Secret Algorithms that Control Money and Information. Cambridge, MA: Harvard University Press. Prietl, Bianca/Houben, Daniel (2018): »Einführung. Soziologische Perspektiven auf die Datafizierung der Gesellschaft«. In: Daniel Houben/Bianca Prietl (Hg.). Datengesellschaft. Einsichten in die Datafizierung des Sozialen. Bielefeld: transcript, S. 7-32. Stilgoe, Jack/Lock, Simon/Wilsdon, James (2014): »Why should we promote public engagement with science?« In: Public Understanding of Science 23, 1, S. 4-15.

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Autorinnen und Autoren Benkel, Thorsten studierte in Frankfurt a.M. Soziologie, Philosophie, Psychologie und Literaturwissenschaft und wurde dort mit einer Arbeit zum Wirklichkeitsverständnis in der Soziologie promoviert. Er war als wissenschaftlicher Mitarbeiter in den Bereichen Soziologische Theoriebildung und Stadtsoziologie tätig und ist gegenwärtig Akademischer Rat für Soziologie an der Universität Passau. Seine Themenschwerpunkte sind Mikrosoziologie, qualitative Sozialforschung/Ethnografie und die Soziologie des Wissens, der Medizin, des Körpers und des Rechts. Einen Schwerpunkt bilden darüber hinaus empirische Forschungen zu Sterben, Tod und Trauer. Zuletzt war er Co-Autor des Buches »Enchantment. Ashes, Diamonds and the Transformation of Funeral Culture« (2020). Burow, Johannes Frederik studierte, nach seiner Tätigkeit als Produktionsleiter für Kinospielfilme, von 2016-2020 das Studium Individuale an der Leuphana Universität Lüneburg und dies seit 2018 als Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes. Bereits während des Studiums lieferte er Beiträge zu verschiedenen Sammelbänden und gab einen Band zu »Mensch und Welt im Zeichen der Digitalisierung« mit Anna Henkel et al. heraus. Seine Forschungs- und Studienschwerpunkte liegen auf Phänomenen, welche durch Digitalisierungsprozesse hervortreten oder ausgelöst und bedingt werden. Dabei nimmt er gleichfalls die Gesellschaft und den Mensch in den Blick. Neben der Philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners ist zunehmend die Leibphänomenologie von Hermann Schmitz prägend für seine soziologischen Analysen diverser Digitalisierungsfelder wie: (Sozial-)Robotik, Cyborgs, Künstliche Intelligenz, Human-Computer-Interaction, digitale Arbeit oder Videotelefonie. 197

10 Minuten Soziologie: Verantwortung

Compagna, Diego studierte in Bonn und Berlin Soziologie, Philosophie und Psychologie. Er promovierte 2012 bei Prof. Karen Shire (Ph. D.) und Prof. Dr. Ingo Schulz-Schaeffer an der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften der Universität Duisburg-Essen. Er hat sich im Rahmen verschiedener Forschungszusammenhängen mit den anthropologischen Grundlagen soziologischer Theorie und der Formulierung alternativer Akteurmodelle (Avatare, Cyborgs, Roboter und andere hybride Entitäten) beschäftigt. Empirisch untersucht er vornehmlich Roboter, digitale Spiele und Ingenieure. Nach mehrmonatigen Forschungsaufenthalten in Kolumbien, Portugal und Japan ist er seit 2018 Professor für Theorien gesellschaftlicher Transformation an der Hochschule für angewandte Wissenschaften München. Fonk, Peter studierte  in Münster und Würzburg Katholische Theologie, Philosophie und Slawistik. Er promovierte 1983 im Fach Philosophie bei Prof. Dr. Alfred Schöpf, 1989 bei Prof. Dr. Dr. Alexandre Ganoczy im Fach Dogmatik und habilitierte sich 1994 an der Universität Würzburg bei Prof. Dr. Bernhard Fraling im Fach Moraltheologie. Seit 1994 ist er als Professor für Theologische Ethik am Department für Katholische Theologie (vormals Katholisch Theologische Fakultät) an der Universität Passau tätig. Er ist Leiter des Masterstudiengangs Caritaswissenschaft und werteorientiertes Management und des Instituts für Angewandte Ethik in Wirtschaft, Aus- und Weiterbildung. Daneben hat er eine ausgedehnte Vortragstätigkeit an verschiedenen europäischen Universitäten wie auch im Bereich der außeruniversitären Fort- und Weiterbildung entfaltet und ist Mitglied in verschiedenen Kommissionen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen interdisziplinäre Ethik, Medizinethik, Wirtschafts- und Unternehmensethik, und Ethik in Caritas und Diakonie. 198

Autorinnen und Autoren

Fuchs, Klaus ist Assoziierter Lab-Leiter des Auto-ID Labs an der ETH Zürich und Universität St. Gallen. Er studierte Wirtschaftsingenieurwesen am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und Management, Technologie und Ökonomie (MTEC) an der ETH Zürich. Von 2015 bis 2020 hat er an der ETH Zürich in seinem Doktorat zu dem Thema »Empowering Diet-related Health Behavior Change Interventions via Digital Receipts & Food Composition Databases« die Grundlagen für das in diesem Artikel erwähnte Forschungsprojekt »FoodCoach« erarbeitet. Seine aktuellen Themenschwerpunkte sind Digital Health, Digital Receipts und Computer Vision. Henkel, Anna ist Professorin und hat seit 2019 den Lehrstuhl für Soziologie mit Schwerpunkt Techniksoziologie und nachhaltige Entwicklung an der Universität Passau inne. Zuvor war sie Juniorprofessorin für Sozialtheorie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und Professorin für Kultur- und Mediensoziologie an der Leuphana Universität Lüneburg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der soziologischen Theorie sowie der Wissens-, Materialitäts- und Nachhaltigkeitsforschung. Sie verbindet gesellschaftstheoretische Perspektiven mit empirischer Forschung, etwa bei der Frage nach dem Wandel von Verantwortungsverhältnissen. Sozialtheoretisches Denken zum Verstehen und Erklären sozialer Tatsachen zu nutzen, ist ihr zentrales Anliegen. Maletzky, Martina studierte in Freiburg Soziologie, Volkskunde und Germanistik. Sie promovierte bei Prof. Hermann Schwengel und ist Habilitandin an der Universität Passau, wo sie seit 2014 als akademische Rätin im Bereich interkulturelle Kommunikation tätig ist. Ihre Lehr- und Forschungsgebiete sind Interkulturalität im Kontext von Organisationen und Migration, Personalmobilität und grenzüberschreitende Aktivitäten von 199

10 Minuten Soziologie: Verantwortung

Organisationen. Sie ist Autorin verschiedener Bücher und Aufsätze. Mayer, Simon ist Professor für Interaction- and Communication-based Systems an der Universität St.Gallen und Senior Scientist an der ETH Zürich. Er absolvierte sein Bachelor- und Masterstudium in Informatik an der ETH Zürich und war dort von 2010 bis 2014 als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsgruppe für Verteilte Systeme tätig. Nach seiner Promotion zum Thema »Interacting with the Web of Things« sowie zwei Forschungsaufenthalten am Laboratory for Manufacturing and Productivity des Massachusetts Institute of Technology und an der Universität Gent arbeitete er von 2014 bis 2017 bei Siemens Corporate Technology in Berkeley, USA, zuletzt als Senior Key Expert für »Smart and Interacting Systems«. Ende 2017 kehrte er als Leiter der Forschungsgruppe »Cognitive Products« des österreichischen COMET-Forschungszentrums Pro²Future sowie als Projektwissenschaftler am Institut für Technische Informatik der Technischen Universität Graz nach Europa zurück. Seine Forschungsinteressen umfassen Fragen der Web-basierten Interaktion von (teilautonomen) cyber-physischen Systemen miteinander und mit Menschen in Ubiquitous Computing Umgebungen und der Integration von physischen Dingen ins World Wide Web. Die Hauptanwendungen betreffen Automatisierungs- und Autonomisierungssysteme in der industriellen Produktion und im Kontext von »Industrie 4.0«. Meißner, Annekatrin studierte Sprachen, Wirtschafts- und Kulturraumstudien mit Schwerpunkt iberoromanischer Kulturraum an der Universität Passau und verfügt über internationale Arbeitserfahrung in Frankreich, Spanien und Brasilien. Im Anschluss erfolgte ein Promotionsstudium im Bereich der Sozialphilosophie und Wirtschaftsethik sowie die Promotion zum 200

Autorinnen und Autoren

Thema »Kooperative Bildungsverantwortung als Weg aus der Armut« (2015) bei Prof. Dr. Christian Thies, Professur für Philosophie, Universität Passau. Als Promotionsstipendiatin der Konrad-Adenauer-Stiftung setzte sie sich gleichzeitig für das Thema Social Business und Social Franchising ein und absolvierte einen Forschungsaufenthalt in Rio de Janeiro, Sorocaba und Porto Alegre. Seit 2017 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin und seit Mai 2018 Geschäftsführerin des Instituts für Angewandte Ethik in Wirtschaft, Aus- und Weiterbildung (Ethik WAW) der Universität Passau. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Wirtschafts- und Unternehmensethik, CSR, Nachhaltigkeitsethik, Entwicklungsethik, Bildungsgerechtigkeit sowie Intersektorale Verantwortung. Meitzler, Matthias studierte in Frankfurt a.M. Soziologie, Psychoanalyse und Geschichte. Er ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Drittmittelprojekt »Artefakt und Erinnerung« an der Universität Passau. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Wissenssoziologie, der qualitativen Methoden, der Mediatisierungsforschung sowie der Soziologie des Körpers, der Emotionen und des Alter(n)s. Seit mehreren Jahren beschäftigt er sich intensiv mit dem Spannungsfeld von Sterblichkeit und Gesellschaft. Seine Erkenntnisse hat er in zahlreichen Büchern, Fachartikeln und Vorträgen im In- und Ausland veröffentlicht. Er ist u.a. Autor der Monographie »Soziologie der Vergänglichkeit« (2011), Mitautor des Buches »Wissenssoziologische Medienwirkungsforschung« (2017) sowie Mitherausgeber des Sammelbandes »Wissenssoziologie des Todes« (2021). Rehbein, Malte ist Inhaber des Lehrstuhls für Digital Humanities an der Universität Passau. Studium der Geschichte und Mathematik, Univ. Göttingen; Stud. Hilfskraft, Historische Fachinformatik, Max-Planck-Institut für Geschichte, Göttingen; 201

10 Minuten Soziologie: Verantwortung

mehrjährige Tätigkeit als Software-Entwickler, Projektmanager und Unternehmensberater u.a. Siemens AG; Promotion in Mittlerer und Neuerer Geschichte, Universität Göttingen; MarieCurie Research Fellow, National University of Ireland, Galway; Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Computerphilologie, Universität Würzburg; Postdoctoral Research Fellow, University of Victoria, Canada; Assistant Professor of History (tenure track) und Fellow am Center for Digital Research in the Humanities, University of Nebraska-Lincoln, USA; seit 2013: Inhaber des Lehrstuhls für Digital Humanities, Universität Passau. Schneider, Tanja ist Assoziierte Professorin für Technologiestudien an der School of Humanities and Social Sciences der Universität St. Gallen sowie Research Affiliate am Institute for Science, Innovation & Society (InSIS) der Universität Oxford. Sie studierte Wirtschaftswissenschaften mit Vertiefung »Management sozialer Prozesse (MSP)« in St. Gallen und Lausanne. Nach der Promotion an der Universität Sydney zum Thema gouvernementale Selbstführung und Konsum mit Fokus auf gesunde Ernährungspraktiken war sie von 2008-2015 Research Fellow an der Universität Oxford und am Green Templeton College (20112013). Von 2015 bis 2019 war sie Ständige Dozentin für Soziologie am Seminar für Soziologie an der Universität St. Gallen und im Wintersemester 2018/2019 war sie teilbeurlaubt, um die Professur für Soziologie mit Schwerpunkt Techniksoziologie und nachhaltige Entwicklung an der Universität Passau zu vertreten. 2019 wurde sie zur Associate Professorin für Technologiestudien in St. Gallen berufen. Ihre Lehr- und Forschungsgebiete sind Science and Technology Studies, Wirtschaftssoziologie und die Soziologie des Essens und der Ernährung. Aktuelle Themenschwerpunkte sind Digitalisierung, Finanzialisierung, Innovation, Nachhaltigkeit und Digital Health.

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Autorinnen und Autoren

Stahl, Bernhard ist seit 2010 Professor für Internationale Politik an der Universität Passau. Nach Studien der Wirtschaftswissenschaften (Siegen, Münster) und der Europastudien (Aachen) wurde er mit Arbeiten zur regionalen Integration promoviert und zur französischen Außenpolitik habilitiert (Trier). Weitere Stationen waren ein mehrjähriger Aufenthalt in Serbien für die Entwicklungszusammenarbeit, eine Dozentenstelle im European Studies-Programm für israelische und palästinensische Studierende an der Uni Düsseldorf und eine Vertretung an der Uni Stuttgart. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Vergleichende Außenpolitikforschung und die gesellschaftliche Rückbindung von Außenpolitik – vor allem in Deutschland, Frankreich, dem Vereinigten Königreich, den USA, den Balkan-Staaten und Tunesien.

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Soziologie Michael Volkmer, Karin Werner (Hg.)

Die Corona-Gesellschaft Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft Juli 2020, 432 S., kart., 2 SW-Abbildungen 24,50 € (DE), 978-3-8376-5432-5 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5432-9 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5432-5

Naika Foroutan

Die postmigrantische Gesellschaft Ein Versprechen der pluralen Demokratie 2019, 280 S., kart., 18 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4263-6 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4263-0 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4263-6

Bernd Kortmann, Günther G. Schulze (Hg.)

Jenseits von Corona Unsere Welt nach der Pandemie – Perspektiven aus der Wissenschaft September 2020, 320 S., 1 SW-Abbildung 22,50 € (DE), 978-3-8376-5517-9 E-Book: PDF: 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5517-3 EPUB: 19,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5517-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Soziologie Detlef Pollack

Das unzufriedene Volk Protest und Ressentiment in Ostdeutschland von der friedlichen Revolution bis heute September 2020, 232 S., 6 SW-Abbildungen 20,00 € (DE), 978-3-8376-5238-3 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5238-7 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5238-3

Ingolfur Blühdorn, Felix Butzlaff, Michael Deflorian, Daniel Hausknost, Mirijam Mock

Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit Warum die ökologische Transformation der Gesellschaft nicht stattfindet Juni 2020, 350 S., kart. 20,00 € (DE), 978-3-8376-5442-4 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5442-8

Juliane Karakayali, Bernd Kasparek (Hg.)

movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Jg. 4, Heft 2/2018 2019, 246 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4474-6

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de