10 Minuten Soziologie: Fakten 9783839443620

What qualifies social facts as facts? And to what extent are they deciding factors for political movements? The contribu

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10 Minuten Soziologie: Fakten
 9783839443620

Table of contents :
Inhalt
Fakten: Alternativ oder alternativlos? Einleitung
Differenzierungstheorie. Ein soziologischer Faktencheck der Diagnose eines ›postfaktischen Zeitalters‹
Sozialkonstruktivismus I. Faktenbezüge evidenzbasierter Programme und Praktiken
Sozialkonstruktivismus II. Herz- oder Hirntod? Zur Kontingenz medizinischer Fakten
Medienökologie I. Daten von Fakten? Überlegungen zu geologischen Simulationen und dem vernetzten Vesuv
Systemtheorie. Griechische Statistiken — Zur Beobachtung von Fakten in der Finanzkrise
Kritische Theorie. Postfaktizität und Geltung — Stößt die kommunikative Vernunft beim Rechtspopulismus an ihre Grenzen?
Medienökologie II. Wozu Fakten, wenn es auch Affekte tun? Zur Medienökologie des Rechtspopulismus und seinen Strategien der Affizierung
Handlungstheorie. Das hat er/sie gemacht, weil ...: Tatmotive und die Erklärung sozialer Tatsachen in der Handlungstheorie
Analytik der Macht. Kinematographische Bedrohungsszenarien in »Planet der Affen«. Von der Bombe zum Code
Geistesgeschichte der Technik. »Phantastisches von morgen« und die Höhenflüge des Tech-Kapitalismus — ein Erklärungsversuch
Denkbewegungen. Philosophische Reflexion einer soziologischen Kritik
Autorinnen und Autoren

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Gianna Behrendt und Anna Henkel (Hg.) 10 Minuten Soziologie: Fakten

10 Minuten Soziologie  | Band 2



Editorial Das Programm der Soziologie ist: das Soziale zu verstehen und zu erklären. Dabei zeichnet sie sich durch eine Vielfalt theoretischer Ansätze, empirischer Gegenstände und konzeptioneller Zielsetzungen aus. Die Reihe »10 Minuten Soziologie« sieht diese Heterogenität als Stärke. So wie es für die Betrachtung der modernen Gesellschaft keinen »Archimedischen Punkt« (Luhmann) gibt – also keine Beobachtungsperspektive, von der aus das Soziale ›von außen‹ oder ›objektiv‹ beobachtbar wäre –, trägt auch die Disziplin diesem Umstand der modernen Gesellschaft als einer Welt ohne letzte Wahrheit Rechnung: Sie kehrt sich weder von der Welt ab, noch proklamiert sie in einem kontrafaktischen Duktus absolute Wahrheiten. Stattdessen bietet die Soziologie Beobachtungsmöglichkeiten an, die es erlauben: zu verstehen und zu erklären. Der soziologische Blick sensibilisiert dabei für ein Auch-anders-möglich-Sein sozialer Tatsachen. Die Beiträge eines Bandes der Reihe »10 Minuten Soziologie« nähern sich dem jeweiligen Gegenstand begrifflich aus unterschiedlichen Perspektiven und wenden das gewonnene Verständnis jeweils auf einen spezifischen Fall an. Im Mittelpunkt steht dabei die analytische Denkbewegung, also: ein theoretisches Konzept auf einen empirischen Gegenstand zu beziehen und diesen damit neu zu verstehen und zu erklären. Die Reihe wird herausgeben von Anna Henkel.

Gianna Behrendt und Anna Henkel (Hg.)

10 Minuten Soziologie: Fakten



Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat: Anne Sauerland, Bielefeld Satz: Justine Buri, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4362-6 PDF-ISBN 978-3-8394-4362-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Fakten: Alternativ oder alternativlos? Einleitung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Gianna Behrendt und Anna Henkel

Differenzierungstheorie Ein soziologischer Faktencheck der Diagnose eines ›postfaktischen Zeitalters‹. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Simone Rödder

Sozialkonstruktivismus I Faktenbezüge evidenzbasierter Programme und Praktiken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Philipp Sandermann

Sozialkonstruktivismus II Herz- oder Hirntod? Zur Kontingenz medizinischer Fakten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Julia Böcker

Medienökologie I Daten vor Fakten? Überlegungen zu geologischen Simulationen und dem vernetzten Vesuv. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Saskia Menges

Systemtheorie Griechische Statistiken – Zur Beobachtung von Fakten in der Finanzkrise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Isabel Kusche

Kritische Theorie Postfaktizität und Geltung – Stößt die kommunikative Vernunft beim Rechtspopulismus an ihre Grenzen?. . . . . . . . . . . 83 Heiko Beyer

Medienökologie II Wozu Fakten, wenn es auch Affekte tun? Zur Medienökologie des Rechtspopulismus und seinen Strategien der Affizierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Christian Helge Peters

Handlungstheorie Das hat er/sie gemacht, weil …: Tatmotive und die Erklärung sozialer Tatsachen in der Handlungstheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Wolfgang Knöbl

Analytik der Macht Kinematographische Bedrohungsszenarien in »Planet der Affen«. Von der Bombe zum Code. . . . . . . . . . . . . . 121 Philipp Zeltner

Geistesgeschichte der Technik »Phantastisches von morgen« und die Höhenflüge des Tech-Kapitalismus – ein Erklärungsversuch.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Christoph Görlich

Denkbewegungen Philosophische Reflexion einer soziologischen Kritik. . . . . . . . 147 Sebastian Weiner

Autorinnen und Autoren.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

Fakten: Alternativ oder alternativlos? Einleitung Gianna Behrendt und Anna Henkel Nach der Amtseinführung des amerikanischen Präsidenten im Januar 2017 verkündete dessen Sprecher, dass niemals zuvor so viele Zuschauer bei einer Amtseinführung zugegen gewesen seien. Rasch wurde diese Tatsachenaussage in den Medien als unzutreffend kritisiert. In Reaktion darauf prägte die Präsidenten-Beraterin Kellyanne Conway in einem Fernsehinterview eine seitdem vielfach aufgegriffene Redewendung: alternative facts. Aus diesem vergleichsweise geringfügigen sachlichen Anlass heraus entstanden, wurde das Diktum von den ›alternativen Fakten‹, oft halb zynisch, für eine Vielzahl anderer Gegenstände bemüht – und auch selbst zu einem diskutierten ›Faktum‹. Nicht nur die Debatte um so genannte ›alternative Fakten‹, sondern auch die weltweite Konjunktur des (Rechts-)Populismus sowie die eskalierende Dramaturgie der Brexit-Abstimmung gaben Anlass, sich mit der Rolle von Fakten aus soziologischer Perspektive zu befassen. Populistische Gruppen und Meinungskampagnen streiten »offizielle«, von einem »politisch korrekten« mainstream als »alternativlos« vertretene Auffassungen ab und bieten sich und ihre Positionen als »erlösende« Alternative zur Alternativlosigkeit an. Eine solche Frontstellung zwischen alternativlosen Fakten einerseits und alternative facts andererseits ist nicht zuletzt deshalb problematisch, weil sie die Frage nach ›Alternativen‹ selbst in Verruf bringt. Besonders aus diesem Grund lohnt ein Perspektivwechsel. Statt Fakten als alternativ oder alternativlos zu postulieren, ist zu fragen, wie Fakten überhaupt zustande kommen, welche soziale und politische 7

Gianna Behrendt und Anna Henkel

Rolle sie spielen und welche Schlüsse aus der Betrachtung von (vermeintlichen?) Fakten gezogen werden können. Wenn der vorliegende Band der »10 Minuten Soziologie« das Thema ›Fakten‹ aus verschiedenen Perspektiven und hinsichtlich verschiedener Gegenstände in den Blick nimmt, behandelt er nicht nur das ›Postfaktische‹ als Zeitgeistphänomen, sondern grundsätzlicher die Frage nach der Sozialität des Faktischen. Das Anliegen der »10 Minuten Soziologie« ist, die Vielfalt theoretischer Ansätze, empirischer Gegenstände und konzeptioneller Zielsetzungen zu nutzen, um für das Auch-andersmöglich-Sein sozialer Tatsachen zu sensibilisieren. Gerade hinsichtlich des Themas ›Fakten‹ entfaltet die Soziologie ihr Erklärungspotential, indem sie aus der Vielfalt der Gegenstände und theoretischen Perspektiven heraus einen differenzierteren Blick gewährt auf das, was wie zum Faktum wird. Diese Öffnung mag helfen, ›im Wald‹ der Fakten, des Postfaktischen, der alternativen Fakten usw. eine Art Überblick zu gewinnen. Einen Perspektivwechsel gegenüber einem in Alternativlosigkeit und alternativen Fakten sich verlierenden Diskurs ermöglicht die Soziologie jedenfalls auch durch eine gesellschaftstheoretische Verortung ebendieses Diskurses selbst: Dass die Rede von ›alternativen Fakten‹ z.T. als absurd parodiert wird, ist beobachtbar als Ausdruck einer sich selbst als ›postfaktisches Zeitalter‹ bezeichnenden gesellschaftlichen Situation. Sie zeichnet sich dadurch aus, implizit eine nicht zu leugnende Verbindlichkeit von ›Fakten‹ anzunehmen – und, da ihre Verbindlichkeit doch geleugnet wird, in einem zynisch-überheblichen Gestus mittels der Selbstbeschreibung als »postfaktisch« diese Nicht-Leugbarkeit der faktischen Fakten einzufordern. In einer solchen Denkfigur fungiert die Faktizität der Fakten als hegemoniale Struktur, die Fakten als nicht alternativ interpretierbar voraussetzt und ›faktisch‹ annimmt, dass sämtliche gesellschaftlichen Prozesse der jüngeren Vergangenheit rational 8

Fakten: Alternativ oder alternativlos?

und faktenbasiert gewesen seien. Diese Definition der zeithistorischen Situation lässt sich ihrerseits soziologisch als gemacht hinterfragen: Wie hegemoniale Strukturen wirken und auf welche Entwicklungen Hegemonie als politische Logik zurückgeht, untersuchen Chantal Mouffe und Ernesto Laclau in ihrem Werk »Hegemonie und radikale Demokratie« ([1985] 2015). Außerdem befasst sich Mouffe ([2005] 2007) mit dem Wesen des Politischen und zeigt, inwiefern der Glaube an einen rationalen Konsens politische Gefahren birgt. Jede Ordnung artikuliere kontingente Verfahrensweisen, in denen sich die jeweiligen Machtverhältnisse manifestieren – Gesellschaft sei also immer durch spezifische hegemoniale Strukturen konstruiert (Mouffe [2005] 2007, S.  25f.). Nach Mouffe handelt es sich entsprechend bei jedem Konsens einer liberaldemokratischen Gesellschaft um einen Ausdruck ihrer hegemonialen Verhältnisse. Die Grenze dessen, was als legitim, als ›rational gerechtfertigt‹ gilt, ist Mouffe zufolge also eine politische und somit anfechtbare ›Markierung‹ und kein rational oder moralisch reduzibler ›Fakt‹ (Mouffe [2005] 2009, S.  49). Verkennt man dies, so werde gerade dadurch die bestehende Hegemonie akzeptiert und perpetuiert (Mouffe [2005] 2007, S. 83). Politische Identifikation fußt demnach nicht (oder nicht nur) auf rationalen Begründungen, sondern zumindest auch auf leidenschaftlicher Emphase (vergleiche dazu den Beitrag von Christian Helge Peters in diesem Band) und einer konstitutiven Wir-Sie-Unterscheidung. Für die Gegenwart ist als hegemoniales Modell das Leugnen von Alternativen charakteristisch – etwa in Gestalt so genannter TINA-Argumente (›There Is No Alternative‹): Obwohl der Kapitalismus Leiden schafft, ist keine plausible Alternative denkbar, wobei trotzdem unternommene Denkversuche als Ideologien abgetan werden. Deshalb wird die Idee eines humanen Kapitalismus in Anschlag gebracht, d.h. sozialer 9

Gianna Behrendt und Anna Henkel

Wandel soll unternehmerisch umgesetzt werden, Konsum und Nachfrage sollen vertretbare Produktionsbedingungen regeln (so etwa Žižek 2007). Auf diese Weise kann eine so inhärent widersprüchliche Zielsetzung wie ›Klimaschutz im Kapitalismus‹ gleichwohl als ›alternativlos‹ behandelt werden. Dieser Alternativlosigkeitsnarration könnte es zuzuschreiben sein, dass jene politischen Lager Zustrom erfahren, die dennoch ›Alternativen‹ (zumindest: vermeintliche Alternativen) anbieten. Wie diese gesellschaftstheoretische Verortung der Rede vom ›Postfaktischen Zeitalter‹ zeigt, ist die Alternative zwischen ›alternativlosen Fakten‹ und ›alternative facts‹ keineswegs alternativlos. ›Fakten‹, deren Entstehen und deren Geltungsanspruch aus verschiedenen Perspektiven zu hinterfragen, kann dazu beitragen, eine reflektierte und eigenständige Perspektive darauf zu gewinnen, was es mit diesen Fakten jeweils auf sich hat. Indem so das Gemachte, Kontingente, Historische usw. des Faktischen untersucht wird, werden Fakten nicht weniger faktisch – aber es gerät in den Blick, wie die Verbindlichkeit, die Fakten als solche qualifiziert, zustande kommt. Die folgenden elf Beiträge widmen sich unterschiedlichen Phänomenen aus verschiedenen Beobachtungsperspektiven; obwohl sie damit jeweils für sich stehen und auch für sich gelesen werden können, stehen sie doch in Beziehung zueinander: Die ersten vier Beiträge von Simone Rödder, Philipp Sandermann, Julia Böcker und Saskia Menges behandeln in einem weit verstandenen Sinn ›wissenschaftliche‹ Fakten. Isabel Kusche, Heiko Beyer und Christian Helge Peters befassen sich in den nächsten drei Beiträgen mit im weitesten Sinne politischen Fakten. Sozialkulturelle Fakten sind es dann, die Wolfgang Knöbl, Philipp Zeltner und Christoph Görlich in den folgenden drei Beiträgen näher aufschlüsseln. Die Soziologie selbst wird zum Gegenstand des abschließenden Beitrags von Sebastian Weiner.

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Fakten: Alternativ oder alternativlos?

In ihrem Beitrag »Differenzierungstheorie: Ein soziologischer Faktencheck der Diagnose eines ›postfaktischen Zeitalters‹« analysiert Simone Rödder die Gegenwartsdiagnose der Postfaktizität aus einer differenzierungstheoretischen Perspektive. Rödder geht es vor allem um die Rolle wissenschaftlichen Wissens. Deutlich wird, dass trotz aller Unverständlichkeit und Unsicherheit von Wissen es in einer funktional differenzierten Gesellschaft keine Alternative zum Vertrauen in den Sachverstand von Experten gibt – womit die Frage bleibt, welchen Experten man traut. Den Wandel in der Wissensbasis einer spezifischen Gruppe von ExpertInnen, den Professionellen in helfenden Berufen, untersucht Philipp Sandermann in seinem Beitrag »Sozialkonstruktivismus I: Faktenbezüge evidenzbasierter Programme und Praktiken«. Nachdem sich etwa seit den 1990er Jahren die Vorstellung Evidenzbasierter Praxis (EBP) als Maßstab professionellen Handelns etabliert hat, fragt Sandermann aus einer sozialkonstruktivistisch angelegten Fremdbeobachtung heraus, welche Rolle Fakten und Bezugnahmen auf Fakten für das Evidenzverständnis in EBP-Programmen und -Praktiken spielen. Mit der Entstehung wissenschaftlich-medizinischer Fakten setzt sich Julia Böcker in ihrem Beitrag »Sozialkonstruktivismus II: Herz- oder Hirntod? Zur Kontingenz medizinischer Fakten« auseinander. Ebenfalls aus sozialkonstruktivistischer Perspektive zeigt Böcker am Beispiel der so genannten ›Hirntod-Diagnose‹, dass vermeintliche Tatsachen wie die Funktion eines Organs auf historisch und kulturell spezifischen Deutungen beruhen und somit kontingent sind. Was als medizinischer Fakt und gesichertes Wissen über den Körper gilt (etwa auch das biologische Geschlecht), ist aus dieser Perspektive sowohl verhandelbar als auch legitimationsbedürftig. Ähnlich wie medizinische Fakten gelten auch geologische Annahmen als gesichert. In ihrem Beitrag »Medienökologie I: Daten vor Fakten? Überlegungen zu geologischen Simulationen 11

Gianna Behrendt und Anna Henkel

und dem vernetzen Vesuv« rekonstruiert Saskia Menges, wie mit Hilfe von Simulationstechniken solche Fakten aus simulierten Daten entstehen. Menges zeigt, wie natürliche Prozesse nachgebildet und ihre Verhaltensweisen auf Basis eines geologischen Modells unter Berücksichtigung mathematisch-physikalischer Gesetzmäßigkeiten untersucht werden. Nachdem es bei Rödder, Sandermann, Böcker und Menges um den gesellschaftlichen Stellenwert von wissenschaftlichem Wissen für gesellschaftliche Fakten und professionelle Praktiken sowie umgekehrt um dessen kulturelle Kontingenz und Gemachtheit ging, folgen drei Beiträge zu im weitesten Sinne politischen Fakten: Die Verlässlichkeit von Fakten geriet mit der Finanzmarktkrise Anfang des 21. Jahrhunderts selbst in die Krise. Isabel Kusche analysiert in ihrem Beitrag »Systemtheorie: Griechische Statistiken – Zur Beobachtung von Fakten in der Finanzkrise« die Fakten der Wirtschaftsstatistik. Aus der Perspektive der Systemtheorie Niklas Luhmanns untersucht Kusche unterschiedliche Interpretationen der Situation des griechischen Staatshaushalts vor und in der Krise und verdeutlicht damit die Beobachterabhängigkeit von Kommunikation. Um den Rechtspopulismus geht es Heiko Beyer in seinem Beitrag »Kritische Theorie: Postfaktizität und Geltung – Stößt die kommunikative Vernunft beim Rechtspopulismus an ihre Grenzen?« Aus der Perspektive der Kritischen Theorie schärft Beyer zunächst alltagssprachlich verwendete Begriffe wie ›Tatsache‹, ›Wahrheit‹ oder ›Lüge‹. Damit gelingt es, das Problem ›postfaktischer Politik‹ soziologisch aufschlussreich zu entschlüsseln und aufzuzeigen, wie der Rechtspopulismus das demokratische Diskursprinzip mit dessen eigenen Mitteln zu unterminieren versucht. Ebenfalls mit dem Rechtspopulismus befasst sich Christian Helge Peters in seinem Beitrag »Medienökologie II: Wozu Fak12

Fakten: Alternativ oder alternativlos?

ten, wenn es auch Affekte tun? Zur Medienökologie des Rechtspopulismus und seinen Strategien der Affizierung«. Zum Verhältnis von Fakten und Affekten im Zuge einer neuen, medialen Qualität des Populismus argumentiert Peters, dass sich Affekte und Affizierungen als Modus der Organisation von populistischen Kollektiven unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen medialen Bedingungen gegenüber einer kommunikativen (rationalen) Verständigung dominant durchsetzen. Die folgenden drei Beiträge reflektieren sozialkulturelle Fakten: In seinem Beitrag »Handlungstheorie: Das hat er/sie gemacht, weil …: Tatmotive und die Erklärung sozialer Tatsachen in der Handlungstheorie« fragt Wolfgang Knöbl am Gegenstand des Rassismus nach der kausalen Erklärungsleistung sozialer Tatsachen als Handlungsmotive. Dabei sensibilisiert Knöbl für die Untiefen, die sich bei dem Versuch ergeben, Handlungen aus Motiven zu erklären. Mit der Verwobenheit faktischer und spekulativer Momente in kinematographischen Bedrohungsszenarien beschäftigt sich Philipp Zeltner in seinem Beitrag »Analytik der Macht: Kinematographische Bedrohungsszenarien in ›Planet der Affen‹. Von der Bombe zum Code.« Anhand der Verschiebung des Bedrohungsszenarios weg von der Atomtechnologie hin zur Gentechnologie in der Filmtrilogie »Planet der Affen« beobachtet Zeltner im Rückgriff auf das Machtverständnis Foucaults die Bewegung von einem Katastrophenszenario der Souveränitätsmacht hin zu einem Katastrophenszenario der Biomacht. Um ein Phänomen des Kapitalismus geht es auch Christoph Görlich. In seinem Beitrag »Geistesgeschichte der Technik: Phantastisches von morgen. Höhenflüge des Tech-Kapitalismus aus geistesgeschichtlich vergleichender Perspektive betrachtet« fragt Görlich, welche Rolle die Faszination an der Technik bei aktuellen Appellformeln etwa eines Elon Musk spielen. Im Ver13

Gianna Behrendt und Anna Henkel

gleich mit einer Szene aus der Geschichte der Kybernetik und interpretiert aus der Perspektive der Geistesphänomenologie Blumenbergs werden Kontinuitäten sowie Herausforderungen deutlich. Den »10 Minuten Soziologie« geht es um eine Denkbewegung – diejenige nämlich, die eine theoretische Perspektive und einen wie auch immer gearteten empirischen Gegenstand aufeinander bezieht. Es handelt sich also nicht um ein disziplinäres oder gar disziplinbildendes Programm, sondern um das Einnehmen eines ›soziologischen Blicks‹. Dass gerade Philosophen dazu nicht nur in der Lage sind, sondern einen solchen Blick auch einnehmen sollten, ist Anliegen des Schlussbeitrags »Denkbewegungen: Philosophische Reflexion einer soziologischen Kritik« von Sebastian Weiner, dem es darum geht, die berechtigte, soziologische Kritik an der philosophischen Methode wiederum philosophisch zu reflektieren. Den Gewinn, den Weiner für die Philosophie darin sieht, mit der Soziologie sich selbst über die Bedingtheit des Abstandnehmens von sozialer Bedingtheiten aufzuklären, kann – spiegelverkehrt – die Soziologie auch aus dem Gespräch mit der Philosophie ziehen.

Zum Weiterlesen Anderson, Kevin/Nevins, Joseph (2016): »Planting Seeds So Something Bigger Might Emerge: The Paris Agreement and the Fight Against Climate Change«. In: Socialism and Democracy 30, 2. S. 209-218. DOI: https://doi.org/10.1080/08854300.2016.1183992

Literatur Mouffe, Chantal ([2005] 2007): Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Mouffe, Chantal ([2000] 2009): The Democratic Paradox. London/ New York: Verso Books.

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Fakten: Alternativ oder alternativlos? Mouffe, Chantal/Laclau, Ernesto ([1985] 2015): Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus. Wien: Passagen Verlag. Žižek, Slavoj (2007): »Censorship Today. Violence, or Ecology as a New Opium for the Masses«. Verfügbar unter: http://www. lacan.com/zizecology1.htm (zuletzt abgerufen am 18.06.2018).

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Differenzierungstheorie Ein soziologischer Faktencheck der Diagnose eines ›postfaktischen Zeitalters‹ Simone Rödder »Die Wissenschaft hat festgestellt, festgestellt, festgestellt« – so haben wir es schon als Kinder im Lied gelernt. Die Wissenschaft ist der Faktenlieferant unserer Zeit. Sie hat in Fragen der Risikobewertung, Politikberatung, Qualitätsprüfung aber auch der persönlichen Lebensführung in der modernen Gesellschaft anderen Institutionen den Rang abgelaufen. Aber wie lange gilt das noch? Glaubt man einer aktuellen Gegenwartsdiagnose, steht die Rolle wissenschaftlicher Fakten und ExpertInnen mehr als in Frage. Dem angloamerikanischen Sprachraum entstammend, findet sich diese Diagnose etwa seit der Brexit-Entscheidung in Großbritannien und der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten in den Vereinigten Staaten auch in der deutschen Debatte. In den USA firmiert sie unter dem Label »post-truth«, trägt also den Wahrheitsbegriff im Namen, im Deutschen ist die Rede vom »postfaktischen Zeitalter«. 2016 wurden beide Schlagworte in den jeweiligen Ländern von Oxford Dictionaries bzw. der Gesellschaft für deutsche Sprache e.V. zum ›Wort des Jahres‹ gewählt. Im Folgenden wird zunächst die mit den beiden Begriffen verbundene Gegenwartsdiagnose erläutert und ausgeführt, was Postfaktizität speziell für die Rolle wissenschaftlichen Wissens in der Gesellschaft bedeutet. Anschließend wird die Brille der Differenzierungstheorie aufgesetzt und so ein soziologischer Blick auf die Diagnose eines Verfalles des Vertrauens in die Wissenschaft und die Relevanz von Fakten geworfen. Dieser Blick 17

Simone Rödder

zeigt, dass die aktuelle Debatte gekennzeichnet ist durch modische Zeitdiagnostik, statt sich des begrifflichen Instrumentariums einer Gesellschaftstheorie zu bedienen, die ein Verständnis von Politik, Medien und Wissenschaft liefert. Dann wird die Luhmann’sche Theoriefigur des Vertrauens auf den Fall bezogen, um zu verstehen, warum die Gesellschaft einstweilen nicht viel Freude am Postfaktischen hat: Trotz Unverständnis und Unsicherheit gibt es in einer funktional differenzierten Gesellschaft schlicht keine Alternative zum Vertrauen in den Sachverstand von ExpertInnen. Die Frage ist nicht, ob man vertrauen will, sondern lediglich, wem, und es lässt sich die These formulieren, dass der Anspruch der Öffentlichkeit auf Feststellungen aus der Wissenschaft auch in Zukunft bestehen bleiben wird.

Das ›postfaktische Zeitalter‹ – eine Epochenschwelle? Die Diagnose eines postfaktischen Zeitalters ist eng mit politischer Öffentlichkeit verknüpft und sie besagt, dass sich in dieser Öffentlichkeit derzeit ein tiefgreifender Wandel vollzieht: Es gebe keine Kraft des Faktischen mehr, dafür einen generalisierten Widerwillen gegen Eliten und ExpertInnen; die öffentliche Kommunikation drifte mindestens ins Emotionale und ins in Echokammern Fragmentierte, mit »alternative facts« und »fake news« gar ins Lügenhafte (Jasanoff und Simmet 2017; McIntyre 2018). Dieser aktuelle postfaktische Zustand zeichne sich also durch ein außerordentlich relaxtes Verhältnis zur Wahrheit aus und neben der »Lügenpresse« gerät insbesondere die Wissenschaft in Misskredit (zur »Lügenpresse« Pörksen 2015; Lilienthal und Neverla 2017; für eine datenbasierte Kritik Reinemann und Fawzi 2016; zur Wissenschaft Weingart 2017; Sismondo 2017). Die postfaktische Ignoranz bezieht sich dabei sowohl auf Fakten, die man als real- oder alltagsweltliche Fakten bezeichnen kann, weil sie medienöffentlich unstrittig sind bzw. direkt er18

Differenzierungstheorie

fahrbar, als auch auf das Wissen der Wissenschaft, das einen Anspruch auf methodisch gesicherte und sozial kontrollierte Robustheit erhebt (zur hier anschließenden Frage, was »wahres Wissen« ist und wie die Gesellschaft zu diesem Wissen kommt siehe Weingart 2017 für eine kurze Geschichte und soziologische Positionierung). Nur um letzteres Phänomen, die Relevanz wissenschaftlicher Fakten, geht es diesem Text. WissenschaftlerInnen sehen die postfaktischen Tendenzen als bedrohlich an. Beschrieben und beklagt werden neue Dimensionen des Leugnens von Fakten (McIntyre 2018) sowie der Ablehnung von Rationalität und Feindseligkeit gegenüber ExpertInnen (Nichols 2017). Die Wahrnehmung als bedrohlich lässt sich auch daran ablesen, dass WissenschaftlerInnen Protest organisieren: Im April 2017, nach der Wahl und Amtseinführung von Donald Trump, gab es in mehreren hundert Städten weltweit Protestmärsche im Rahmen eines internationalen #MarchForScience. Solche demonstrativen Hinweise auf den Wert von Wissenschaft, die von PolitikerInnen breit unterstützt wurden, belegen zunächst, dass in unserer Gesellschaft Fakten und ExpertInnen eigentlich eine hohe institutionelle Autorität besitzen. Wissenschaftlich-technisches Wissen hat in den vergangenen Jahrhunderten die Stellung einer zentralen kulturellen Autorität erlangt, und es ist gerade diese Stellung, die die Wissenschaft zunehmend in polarisierte öffentliche Debatten und politische Entscheidungsprozesse involviert (Jasanoff 2004, 1990).

Das ›postfaktische Zeitalter‹ als Gegenstand der Soziologie Bei der Rede vom ›postfaktischen Zeitalter‹ haben wir es mit einer Diagnose zu tun, die das Verhältnis von Politik, Medien und Wissenschaft betrifft und die bezüglich dieses Verhältnisses eine qualitative Veränderung postuliert. Worin genau diese Ver19

Simone Rödder

änderung besteht, wird unterschiedlich akzentuiert, in jedem Fall gehe sie aber mit Vertrauensverlusten in Wissenschaft und Medien einher. Fragen, die sich der Soziologie angesichts einer solchen These sofort stellen, sind etwa welche empirischen Indikatoren sich finden lassen zur Frage, ob das politisch-öffentliche Standing der Wissenschaft gelitten hat, und welches Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit denn bisher gegolten haben muss, wenn das ›postfaktische‹ jetzt das neue Verhältnis ist? War es denn so, dass sich bis zum amerikanischen Wahlkampf in 2016 Politik und Medien und Kaufentscheidungen und Liebesbeziehungen primär an Fakten orientiert haben? Hat im öffentlichen Diskurs das Rationalitätsprinzip geherrscht, ist mit Wahrheit Politik gemacht worden, hatten Spinning und Lügen in politischen Debatten keine Aussicht auf Erfolg? Es ist offensichtlich, dass kein solch radikaler Wechsel von ›Rationalität‹ zu ›Postfaktizität‹ erfolgt ist (z.B. für den Fall von »Wahrheit und Politik« klassisch Arendt 1972); und die Soziologie kann das sowohl mit empirischer Forschung belegen als auch zu erklären suchen. Empirisch zeigen etwa Fallstudien öffentlicher Debatten, dass auch in der traditionellen Medienöffentlichkeit Echokammern existierten: In einer Untersuchung von Meinungsartikeln der Qualitätspresse aus dem Jahr 2001 konnten Bernhard Peters und Kollegen zeigen, dass diskursive Auseinandersetzungen mit anderen Meinungen in den Leitartikeln und Kommentaren klar die Ausnahme und nicht die Regel sind; nur etwas weniger als ein Sechstel der untersuchten Beiträge setzte sich argumentativ mit einer anderen Meinung zum Thema auseinander. Dabei lagen die Anteile für die Wochenmedien »Spiegel« und »Zeit« mit je 18 Prozent höher als die der Tageszeitungen »FAZ« (8 Prozent) und »SZ« (13 Prozent) (Peters, Schulz und Winnel 2007, S. 228 und Tabelle 5.2). Ein weiteres Beispiel ist die Klimadebatte. Seit vielen Jahren gibt es die Institution Weltklimarat (IPCC), eine Grenz20

Differenzierungstheorie

organisation (Luhmann 1964; Tacke 1997) zwischen Politik und Wissenschaft, deren Hauptprodukt von WissenschaftlerInnen verfasste und von PolitikerInnen konsensuell verabschiedete Sachstandsberichte zum Zustand des Weltklimas sind. Seit 1990 sind fünf Berichte erschienen, in denen immer wieder und mit zunehmender Dringlichkeit darauf hingewiesen wird, dass es einen Klimawandel gebe und dass dieser menschengemacht sei (zuletzt IPCC AR5 2013/2014). Gleichwohl gibt es bis heute keine nennenswerten Kohlendioxid-Einsparungen, ganz im Gegenteil: In den vergangenen 25 Jahren hat der globale CO2-Ausstoß noch zugenommen (Ripple et al. 2017, Fig. 1). Gleichzeitig geht es in der internationalen Klimapolitik hin und her. Zwar werden ständig neue Ziele in den Blick genommen und auch beschlossen, diese sind aber typischerweise – und so auch im Pariser Klimaabkommen von 2015, das sogar ein 1,5-Grad-Temperaturlimit anvisiert – nicht durch entsprechende politische Mittel, also Instrumente und Maßnahmen zur Dekarbonisierung gedeckt (Geden 2018, 2016; Aykut, Foyer und Morena 2017). Schließlich sind Befunde einer »Vertrauenskrise« der Öffentlichkeit in die Wissenschaft keineswegs neu. Im Brexit-Land Großbritannien wurde in Reaktion auf eine wahrgenommene Vertrauenskrise (House of Lords Select Committee on Science and Technology 2000) bereits im Jahr 2002 ein »Science Media Center« eingerichtet, das in wissenschaftlich-technischen Kontroversen dafür sorgen soll, dass die öffentliche Debatte auf der Grundlage von wissenschaftlichen Fakten geführt wird (Rödder 2015).

Das ›postfaktische Zeitalter‹ im Spiegel der soziologischen Differenzierungstheorie Neben empirischen Studien hat die Soziologie theoretische Konzepte im Angebot, die die gesamtgesellschaftliche Bedeutung von Fakten relativieren. Darunter ist das gesellschaftstheoretische Modell einer ›funktional differenzierten Gesellschaft‹. 21

Simone Rödder

Dieses Modell geht davon aus, dass sich die Gesellschaft, in der wir aktuell leben – im Unterschied zu früheren Gesellschaften – dadurch auszeichnet, dass die gesamtgesellschaftliche Ordnung eine funktional differenzierte Ordnung ist, dass es also zentrale gesellschaftliche Bereiche gibt – »Felder« (Bourdieu 1998), »Wertsphären« (Weber 1917) oder »Systeme« (Luhmann 1997) –, die bestimmte Funktionen für die Gesellschaft erfüllen und sich um diese Funktionen herum konstituieren, darunter Politik, Medien, Wissenschaft, Wirtschaft und Recht. Charakteristisch sind sowohl die hochgradige Spezialisierung der jeweiligen Systemfunktion als auch die daran geknüpfte Abhängigkeit von den Leistungen anderer gesellschaftlicher Teilsysteme, welche eine Vielzahl von Zwischensystembeziehungen zur Folge hat. Die erwähnte Politikberatung durch ExpertInnen und Fakten in den Gremien und Schriften des Weltklimarates ist ein Beispiel dafür. Man kann diese Differenzierungsform, wie es Durkheim getan hat, als Prinzip der Arbeitsteilung veranschaulichen ([1893] 2016) – das eine System produziert wissenschaftliche Fakten, die Wissenschaft; ein anderes produziert kollektiv bindende Entscheidungen, die Politik; ein drittes System, die Massenmedien, sorgt qua medialer Öffentlichkeit für eine gemeinsam geteilte Hintergrundrealität angesichts dieses differenzierten Gesellschaftszustands, und so weiter. Soziologen sehen »Arbeitsteilung« heute jedoch als eine Metapher, die ein zu glattes und harmonisches Bild der Beziehungen zwischen den gesellschaftlichen Bereichen suggeriert. Zwar erhöht funktionale Differenzierung – wie Arbeitsteilung generell – die Leistung des Gesamtsystems, also in diesem Fall die mögliche Komplexität der Gesellschaft, aber sie erhöht auch das Potential für Missverständnisse und Konflikte, denn die Felder oder Funktionssysteme verfolgen rücksichtslos die eigenen Interessen und sie haben keine Stopp-Regeln. Auch dies lässt sich am Klimabeispiel veranschaulichen: Das Wirtschaftswachstum der vergangenen 22

Differenzierungstheorie

150 Jahre hat einen »gefährlichen anthropogenen Klimawandel« (UNFCCC 1992, Art. 2) in Gang gesetzt, d.h. das ökonomische System schickt sich an, die Grundlage allen Lebens auf dem Planeten Erde zu ruinieren. Aus der Perspektive der soziologischen Differenzierungstheorie kann man an der Diagnose vom ›postfaktischen Zeitalter‹ folglich kritisieren, dass sie geschichtsblind argumentiert, also ein mindestens unterkomplexes wenn nicht irreführendes Bild der Vergangenheit zeichnet (allgemein für Zeitdiagnosen findet sich dieser Befund bei Kieserling 2004; Osrecki 2011). Wissenschaftliche Fakten müssen – und mussten immer – eine politische Relevanz haben, damit PolitikerInnen sich für sie interessieren. Sie müssen und mussten einen gewissen Nachrichtenwert haben, damit die Medien darüber berichten, etwa dass man darüber staunen kann, was die Wissenschaft einmal wieder festgestellt hat. Mit der unhintergehbaren Multiperspektivität der funktional differenzierten Gesellschaft geht einher, dass wissenschaftliche Fakten keine kontextfreie Relevanz in der Welt haben, erst ihre systemspezifische Rezeption und Kontextualisierung in und zwischen den Systemen versieht sie mit Bedeutungen. Mein Zwischenfazit ist also, dass die aktuelle Debatte um den Verfall des Vertrauens in die Wissenschaft und die Relevanz von Fakten durch modische Zeitdiagnostik statt durch strukturelle Begriffe aus einer Gesellschaftstheorie, die ein Verständnis von Politik, Medien und Wissenschaft liefert, gekennzeichnet ist.

Orientierung an wissenschaftlichem Wissen trotz Unverständnis und Unsicherheit: Die Rolle von Vertrauen in der Gesellschaft Gleichwohl gibt es ein Sachproblem, auf das die Debatte um den Verlust des Vertrauens in ExpertInnen und Fakten aufmerksam macht. Dieses Problem ist, dass in vielen Fällen tatsächlich nicht 23

Simone Rödder

mit Sicherheit gesagt werden kann, was die Evidenz wirklich ist (Weingart 2017, S. 11; Sarewitz 2000). Das kann der Fall sein, weil es sich um politische Anliegen handelt, die man gar nicht wissenschaftlich behandeln kann (Alvin Weinberg hat solche Fragen bereits 1972 instruktiv als Trans-Science bezeichnet). Es gibt aber auch Meinungsverschiedenheiten unter Sachverständigen, die mit den üblichen wissenschaftlichen Mitteln nicht, oder jedenfalls nicht ohne weiteres und in einer bestimmten Zeit, zu beheben sind und die im öffentlichen Raum manchmal erbittert geführte Kontroversen nach sich ziehen. Paradigmatisch dafür sind Fragen der Ernährung: »Wissenschaftler, die sich, sagen wir, mit Ernährung gut auskennen, produzieren dann Dissens über Cholesterin und während dies eigentlich bedeuten müsste, dass daraufhin auch niemand anderes mehr den Anspruch erheben kann, hier wirklich durchzublicken und etwas exklusiv Richtiges mitteilen zu können, kommt es bei vielen, die sich für das Thema interessieren und vielleicht auch auf bestimmte Meinungen darüber schon festgelegt sind, zu einer Art von Unsicherheitsabsorption durch Gegnerschaft, verbunden mit dem Rückzug in engere Bezugsgruppen.« (Kieserling 2017, S. 163) Gerade bei neuen und politiknahen Themen spricht die Wissenschaft nicht mit einer Stimme, ist der Sachstand Objekt anhaltender Debatte unter den ForscherInnen, in der auch die Fachpublikation nur eine Plausibilitäts- und keine Wahrheitsschwelle ist (Rödder 2014). Und mehr noch: Während in politischen Kontroversen die Beteiligten oft reflexartig »mehr Forschung« fordern, kann mehr und differenzierteres Wissen die Sachlage, und damit die politische Entscheidung, sogar verkomplizieren: »If scientists are doing their job, then ›more research‹ in the short term is invariably a prescription for raising 24

Differenzierungstheorie

new questions, problems, and uncertainties – for preventing, not achieving consensus.« (Sarewitz 2000, S. 85) Da jede Seite für ihre Position wissenschaftliche Expertise ins Feld führt, wird es zudem schwieriger, zwischen wissenschaftlichen Fakten und politischen Werten zu unterscheiden (Nelkin 1995, S. 453). GesellschaftstheoretikerInnen haben deshalb seit langem darauf aufmerksam gemacht, dass neben dem Verständnis der Fakten das Vertrauen in den Sachverstand der ExpertInnen ein zentraler Mechanismus der Handlungsermöglichung ist angesichts von arbeitsteilig erbrachten Leistungen, die im Ganzen oder im Detail nicht nachvollziehbar und überprüfbar sind (Luhmann 1973). »Vollen Nutzen aus der Expertise anderer kann aber nur ziehen, wer den Menschen vertraut, die Expertise besitzen.« (Wissenschaftsrat 2017) Luhmann (1973) kommt zu dem Schluss, dass angesichts der Komplexität der Welt Unsicherheitsabsorption durch Vertrauen für die funktional differenzierte Gesellschaft unerlässlich ist. Diese Theoriefigur geht also von der Annahme aus, dass es aufgrund der handlungsorientierenden Funktion von Vertrauen schlicht nicht möglich ist, dass das Vertrauen in alle gesellschaftlichen Bereiche und ihre VertreterInnen gleichzeitig verlorengeht. Entsprechend sei in Krisenzeiten kein Generalverlust von Systemvertrauen zu erwarten, sondern vielmehr, dass sowohl Vertrauen als auch Misstrauen differenzierter gewährt werden bzw. dass das Vertrauen von einer Gruppe zu einer anderen wandert. Die Frage lautet nicht, ob man vertraut, sondern lediglich, wem.

Wie steht es um das Vertrauen in die Wissenschaft? Wie es um das öffentliche Vertrauen in Wissenschaft und WissenschaftlerInnen steht, lässt sich anhand von Meinungsumfragen abschätzen. Seit vielen Jahren wird im Rahmen von Befragungen auch das Vertrauen in bestimmte Berufsgruppen 25

Simone Rödder

erhoben (einschränkend ist hier auf die Unschärfe hinzuweisen, die Fragen nach »Dem Vertrauen« in »Die Wissenschaft« oder »Die Medien« inhärent ist). Eine Studie zum US-amerikanischen Vertrauen in die Wissenschaft im Zeitraum 1970-2010 zeigte über diesen Zeitraum keine nennenswerten Vertrauensverluste, lediglich bei konservativen WählerInnen ist das Vertrauen zurückgegangen (Gauchat 2012). Regelmäßige Befragungen in den Vereinigten Staaten ergeben, dass das Vertrauen in WissenschaftlerInnen als Informationsquellen höher ist als in irgendeine andere gesellschaftliche Gruppe mit Ausnahme des Militärs, dem ein ähnlich hohes Vertrauen entgegengebracht wird (PEW Research Center 2016; 2017). Das aktuelle Edelman Trust Barometer, eine seit 18 Jahren durchgeführte Befragung in 28 Ländern, kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, dass es technische und akademische ExpertInnen sind, denen die Öffentlichkeit am meisten vertraut (63 bzw. 61 Prozent haben Vertrauen, Edelman Trust Barometer 2018, S. 28). In Deutschland sind es bei technischen ExpertInnen 60 Prozent und 57 Prozent bei AkademikerInnen. Deutlich geringer dagegen ist das Vertrauen in JournalistInnen (41  Prozent) und PolitikerInnen (35  Prozent). Gleichzeitig scheint es so zu sein, dass das Vertrauen in Fakten und ExpertInnen deutlich niedriger sein kann, wenn es um konkrete Themen geht, wie die politisch, moralisch und rechtlich umstrittenen Themen Klima und Gentechnik: Lediglich 40 Prozent der Befragten vertrauen der Wissenschaft beim Klimathema, beim Thema Grüne Gentechnik sind es nur 17 Prozent (Wissenschaftsbarometer 2016; ähnlich PEW Research Center 2016, 2017). Dabei werden GentechnikexpertInnen aus Forschungsinstituten noch signifikant positiver bewertet als ExpertInnen aus der Industrie (Peters 1999, S. 234). Diese Befunde passen zu der These, dass angesichts von »Faktenkrisen« wie der Trump’schen Twitterpolitik und der Klimadebatte kein Generalverlust von Medien- oder Wissen26

Differenzierungstheorie

schaftsvertrauen zu erwarten sei, sondern vielmehr, dass Vertrauen differenzierter gewährt wird. Tatsächlich finden sich in den schon zitierten Befragungsdaten Hinweise auf solche Differenzierungsprozesse: Während bei der Frage, wie viel Vertrauen einzelnen Quellen bei der Suche nach allgemeinen Nachrichten und Informationen zugestanden wird, seit 2012 Social-MediaPlattformen und Journalismus im globalen Trust-Ranking nahezu gleichauf lagen (in 2017 z.B. 53 bzw. 54 Prozent), ist das Vertrauen in Plattformen 2018 leicht gesunken (51 Prozent), während dasjenige in journalistische Medien auf den höchsten Wert seit 2012 gestiegen ist (59 Prozent) (Edelman Trust Barometer 2018, S. 19). In Deutschland klafft zwischen Journalismus (61 Prozent) und Plattformen (40 Prozent) sogar eine deutlich größere Vertrauenslücke als im globalen Mittel. Auch die Analysen von Reinemann und Fawzi deuten darauf hin, dass seit der Etablierung des Internets Zeitungen und Rundfunk an Vertrauen gewinnen konnten (2016, S. 2); ein Hinweis auf eine differenzierte Wahrnehmung ›der Medien‹, die langfristig eher eine Stabilisierung des Vertrauens in Qualitätsmedien erwarten lässt als eine historische Krise. Der soziologische Blick auf die Funktion von Vertrauen in der Gesellschaft hilft zu verstehen, warum die Gesellschaft nicht viel Freude am Postfaktischen zu haben scheint, wie Weingart unlängst angemerkt hat (Weingart 2017, S.  16). Jedenfalls und auffallend, gibt es die Thematisierung der Leugnung von Fakten nur im Negativen, in der Abgrenzung von etwas Wünschenswerten, durch moralische Empörung als Normverstoß markiert. Kein Teil der Gesellschaft findet sich damit ab, sonst wäre der vorherrschende Ton der öffentlichen Diskussion nicht ein Klageton: »Die Gesellschaft hat also eine Vorstellung von gesichertem Wissen, von Fakten und warum es wichtig ist, sie von Fakes zu unterscheiden.« (Weingart 2017, S.  16) Während also einerseits die Unsicherheit und Umstrittenheit wissenschaftli27

Simone Rödder

cher Fakten öffentlich wird, sind und bleiben wissenschaftliches Wissen und darauf beruhende Technologien andererseits zentral in einer Gesellschaft, in der Gütesiegel wie ›wissenschaftlich erwiesen‹ oder ›evidence-based‹ Ernährungsratschläge ebenso zieren wie politische Statements zum Klimawandel. Der Soziologe Friedhelm Neidhardt schreibt dazu: »Eine Gesellschaft, die sich als Wissensgesellschaft versteht, kann nicht gleichzeitig den Haupterzeuger von Wissen – nämlich die Wissenschaft – rundum diskreditieren wollen.« (2002, S.  22) Und wie die erwähnten Daten zeigen, sie tut es auch nicht. Während also von der Diagnose, dass wir aktuell den Beginn von postfaktischen Zeiten erleben, in denen Fakten, darunter wissenschaftliche, über kurz oder lang bedeutungslos werden, nicht viel übrigbleibt, stellen sich interessante Forschungsfragen: Warum ist – und bleibt – die Wissenschaft in der modernen Gesellschaft so wichtig? Warum wenden wir uns an ExpertInnen? Welches sind sinnvolle Indikatoren für einen Vertrauensverlust in die Wissenschaft? Was bedingt, und was ruiniert, Vertrauen in wissenschaftliche Fakten zu verschiedenen Themen? Und: Welchen Unterschied machen diese Fakten in der gesellschaftlichen Diskussion? All das sind empirische Fragen, mit denen sich die Soziologie in Zukunft auseinandersetzen kann und sollte, aber ich möchte abschließend dazu eine These formulieren. Im November 2012 veröffentlichte Trump folgenden Tweet: »The concept of global warming was created by and for the Chinese in order to make U.S. manufacturing non-competitive.« (@realDonald Trump, 06.11.2012) Im Mai 2017 hat ein Nutzer den Tweet wie folgt kommentiert: »In years to come, people will remember the 2016 US presidential election, and look back and view it as a circus, a circus of real freaks.« Meine These ist, dass der Anspruch der Öffentlichkeit auf gesichertes Wissen – trotz der Kontroversen und trotz einzelner gegenteiliger Erfahrungen – bestehen 28

Differenzierungstheorie

bleibt. Wer dagegen Fakten per se in Frage stellt, lebensweltliche wie wissenschaftliche, der verliert über kurz oder lang seine Sprecherreputation und gibt sich selbst der Lächerlichkeit der (Welt-) Öffentlichkeit preis.

Zum Weiterlesen Kieserling, André (2017): »Über die Lüge im außermoralischen Sinne. Gespräch zwischen André Kieserling und Armin Nassehi«. In: Peter Felixberger/Armin Nassehi (Hg.): Lauter Lügen, Bd. 189. Hamburg: Murmann Verlag, S. 162-176. Luhmann, Niklas (1973): Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. 2., erw. Aufl. Stuttgart: Enke. Weingart, Peter (2017): »›Wahres Wissen‹ und demokratisch verfasste Gesellschaft«. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 13. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 11-16.

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Sozialkonstruktivismus I Faktenbezüge evidenzbasierter Programme und Praktiken Philipp Sandermann Vorstellungen Evidenzbasierter Praxis (EBP) haben seit den 1990er Jahren eine deutliche Konjunktur. Diese hat, ausgehend von US-amerikanischen Professionalisierungsdiskursen insbesondere im Bereich von Medizin (Claridge und Fabian 2005) und klinischer Psychologie (Forte, Timmer und Urguiza 2014), spätestens seit der Jahrtausendwende mehr oder weniger das gesamte Spektrum sogenannter ›helfender Berufe‹ (Medizin, Psychotherapie, Sozialarbeit, Pflege, aber auch Schule) erreicht. Die Grundidee dabei lautet, dass Professionelle ›evidenzbasiert‹ auf Grundlage vorliegender Wirkungsstudien handeln sollten, d.h. die eigene Behandlungs-, Therapie-, Beratungs- und/oder Lehrstrategie konsequent an solchen Strategien orientieren, welche erwiesenermaßen ›wirken‹ bzw. ›funktionieren‹. Der Anspruch der EBP, Evidenz zum Ausgangspunkt beruflichen Handelns zu machen, reagiert programmatisch erkennbar auf Kritik zum Professionalisierungsstand der genannten Berufsfelder. Dies ist umso bemerkenswerter, als diese Kritik aus sehr verschiedenen Lagern und Motiven heraus formuliert wurde, und hierbei in unterschiedlicher, z.T. gar entgegengesetzter Stoßrichtung argumentiert wurde und wird: Zum einen finden sich innerhalb dieses Kritikpanoramas Klagen über expertokratische Allmachtsfantasien und Willkür im Sinne einer ›Überprofessionalisierung‹ helfender Berufe. Dieses Argument wird regelmäßig vor allem der modernen Medizin entgegengebracht (klassisch etwa Illich 1975; McKnight 1979). Zum ande35

Philipp Sandermann

ren finden sich wiederkehrend Einwände gegenüber einer fehlenden oder zumindest unzureichenden Professionalisierung. Diese wird z.B. Fachkräften der Sozialarbeit immer wieder vorgeworfen – zuweilen auch offensichtlich ausgehend von berufspolitisch intendierten Abwertungen durch andere Professionen (Leigh 2017, S. 201; Schneider 2014). EBP-Programme sind in diesem Sinne als eine Art Gegenoffensive zu begreifen. Sie treten dabei jedoch deutlich »auch als Inszenierung von Wissenschaftlichkeit [in Erscheinung], denn allein der Begriff suggeriert schon positives Wissen und Sicherheit« (Vogd 2002, S. 311; Herv. i. O.; Einfüg. PS). Damit lässt sich EBP – soziologisch betrachtet – erstens als ein interessanter Fall von Professionalisierungsstrategien begreifen, welcher klassische Kritiken an der Verberuflichung helfender Tätigkeiten und Professionalität bereits inkorporiert hat, und gerade hierdurch ein funktionales Äquivalent solcher Professionalisierungsstrategien repräsentiert, die zuvörderst über personale Rollen und Freiheiten argumentieren. EBP lässt sich aber auch – zweitens – soziologisch lesen als ein interessanter Fall von äußerst offensiv ausgeflaggten Faktenbezügen (›Evidence-based‹), die noch dazu mit einem direkten Handlungsimpetus (›Practice‹) unterlegt sind. Dieser zweiten soziologischen Lesart von EBP soll hier weiter nachgegangen werden. Damit rückt der folgende Fragenkomplex in den Mittelpunkt: Wie lautet die Programmlogik der EBP, welchem Evidenzverständnis folgt sie dabei, und welche Rolle spielen Fakten sowie Bezugnahmen auf Fakten für EBP-Programme sowie EBP-Praktiken? Der vorliegende Beitrag begegnet diesem Fragenkomplex im Sinne einer sozialkonstruktivistisch angelegten Fremdbeobachtung und perspektiviert dementsprechend EBP-Programme unter besonderer Berücksichtigung der darin zu findenden Rolle von Faktizität, sowie deren Zustandekommen. Dafür werden in einem ersten Schritt zunächst knapp 36

Sozialkonstruktivismus I

die Grundaussagen von EBP-Programmen dargestellt, wonach diese durch Einnahme einer an Niklas Luhmanns Sozialkonstruktivismus angelehnten Fremdbeobachtungsperspektive in ihren Bezugnahmen auf Fakten de- und rekonstruiert werden. Der Beitrag finalisiert die im zweiten Schritt generierten theoretischen Argumente zu EBP-Programmen und deren Verhältnis zu Fakten, indem eine sozialkonstruktivistische These zur Funktion von EBP formuliert wird. Hierauf aufbauend werden drei empirisch zu prüfende Hypothesen zum Faktenbezug solcher Praktiken generiert, welche sich EBP-Programmen gegenüber verpflichtet fühlen.

Was heißt ›Evidence-based Practice‹? Folgt man einer Definition von Bellamy, Bledsoe und Mullen (2009), so lässt sich EBP wie folgt umreißen: »EBP is a framework purposefully designed to help social workers [medical doctors, nurses, therapists, counselors, teachers etc.] operate efficiently and effectively using the technology recently developed within our new global information age. […] Fundamentally, EBP is a process that includes finding empirical evidence regarding the effectiveness and/or efficiency of various treatment options and then determining the relevance of those options to specific client(s).« (2009, S. 21-22; Einfüg. PS) An dieser Definition fällt unter anderem auf, dass EBP mit dem Verweis auf das »new global information age« als Informationsbeschaffung verstanden wird, welche auf der Basis global verfügbarer großer Datenmengen zum jeweiligen Thema fußt. Wer sich hierdurch an das Schlagwort ›Big Data‹ erinnert fühlt, liegt nicht ganz falsch. Zu betonen ist allerdings, dass es hinsichtlich der absoluten Datenmengen, auf die im Zuge von EBP Bezug genommen wird, sowie hinsichtlich der methodischen Stringenz 37

Philipp Sandermann

bzw. Varianz, mit der die jeweiligen Daten als solche erschlossen und ausgewertet werden, sehr auf das jeweils im Fokus der EBP stehende Berufsfeld ankommt. Während EBP bspw. in der Medizin breit und relativ einheitlich mit zumindest ähnlich generierten, relativ großen Datenmengen arbeitet, variiert die Qualität und Quantität derjenigen Daten, auf die EBP im Bereich der Psychotherapie oder Sozialarbeit zurückgreift, (noch) deutlicher. Was darüber hinaus an der obenstehenden Definition auffallen mag, ist ihr technizistisch anmutendes Vokabular (›design‹, ›operate‹, ›use‹, ›technology‹, ›treat‹, ›determine‹). Dieser Befund ist durchaus typisch für die Sprache von EBP. Auf diesen Aspekt wird abschließend noch zurückgekommen. Zunächst scheint es angemessen, den ersten Eindruck – zumindest wo er Assoziationen eines völlig naiven Determinismus heraufbeschwört – etwas zu relativieren. Dafür ist es hilfreich, nicht bei der Analyse von Definitionen zu verharren, sondern einen Blick auf den programmatisch angenommenen Prozess von EBP zu werfen, den sogenannten »Cycle of Evidence-based Practice« (Bellamy, Bledsoe und Mullen 2009). Farley et al. fassen diesen Idealprozess folgendermaßen: »Practitioners attempt to maximize the likelihood that their clients will receive the most effective interventions possible by engaging in the following five steps: Formulating an answerable question regarding practice needs; tracking down the best evidence available to answer  that question; critically appraising the scientific validity and usefulness of the evidence; integrating the appraisal with one’s clinical expertise and client values and circumstances and then applying it to practice decisions; evaluating outcome (with the use of single-case designs if feasible).« (2009, S. 247; vgl. auch Rubin und Parrish 2007, S. 407)

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Sozialkonstruktivismus I

Es wird deutlich: EBP bleibt bei allem Optimierungsidealismus hinsichtlich der Organisierbarkeit und Technisierbarkeit personenbezogener Entscheidungsprozesse durchaus personenreflexiv. Dass es in der EBP trotz aller Standardisierung von Arbeitsabläufen immer noch um Einzelfallbezug und Einzelfallangemessenheit gehen soll, ist auf Programmebene relativ unstrittig.

Sozialkonstruktivistische Beobachtung: Auf welche Fakten beziehen sich EBP-Programme? Um nun herauszuarbeiten, auf welche Fakten sich EBP-Programme aktiv beziehen und wie diese Fakten überhaupt zustande kommen, ist es hilfreich, auf eine sozialkonstruktivistische Theorieperspektive zur Inblicknahme wissenschaftlicher Wissensgenerierung zurückzugreifen, konkret auf die wissenschaftssoziologischen Erkenntnisse von Niklas Luhmann (1987, 1992a, 1992b), wobei sich diese unproblematisch durch andere sozialkonstruktivistisch reflektierte Perspektiven ergänzen lassen, etwa soziologische Praxistheorien (Schmidt 2012; Schäfer 2016; Hui, Schatzki und Shove 2017). Dabei ist zunächst wichtig zu betonen: In EBP-Programmen wird sich auf Fakten bezogen. Faktenbezug wird in der EBP weder nur ›vorgegaukelt‹, noch werden Fakten als solche bewusst manipuliert, um über eine nicht hinreichend gegebene empirische Faktenlage hinwegzutäuschen. Aber: Nimmt man sozialkonstruktivistische Perspektiven ernst, so ist unter ›Faktenberücksichtigung‹ oder ›Faktenbezug von Aussagen‹ stets ›Faktenschaffung durch Aussagen‹ zu verstehen, im Sinne von per Definition selektiver (nicht: manipulativer oder bereits im engeren Sinne normativer!) Wahrnehmung. Nimmt man eine sozialkonstruktivistische Perspektive in Anlehnung an Luhmann ernst, so ergibt sich daraus also bei der 39

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Inblicknahme von EBP keine einfache Ideologiekritik und auch kein Panideologismus im mannheimschen Sinne (Mannheim 1964), sondern es ergeben sich analytisch weiterführende Aussagen zum wissenschaftlichen Vergegenständlichungsprozess von Fakten innerhalb von EBP-Programmen. Diese Aussagen lassen sich konkret treffen, indem man die folgenden Aspekte in den Mittelpunkt der soziologischen Beobachtung rückt: EBP-Fakten kommen – erstens – als Wirkungsfakten zustande, d.h. es ist grundsätzlich (nur) von Interesse, was funktioniert (›What works‹). Fragen nach dem »Wie«, »Warum« oder auch »Wofür« von Zusammenhängen bleiben nachrangig (Biesta 2010). EBP-Fakten sind damit zusammenhängend – zweitens – als theoretische Aussagen von Wirkungsforschung zu verstehen. Die aktive Bezugnahme auf Fakten im Sinne von Wirkungsaussagen ist also hoch theoriegeladen. Ihre empirische Anbindung finden diese Aussagen in Zusammenhangswahrscheinlichkeiten, welche wiederum über eine experimentelle oder quasi-experimentelle Isolation von Kontexten produziert werden. D.h.: Korrelationen und Wahrscheinlichkeiten, die errechnet wurden, haben nicht den Status fallunabhängiger Kausalgesetze, sondern sind, wo sie als Kausalitätsaussagen zum ›real life‹ in Erscheinung treten, bereits in hohem Maße selektions- und interpretationsgebunden im Sinne eines Kernergebnisses von theoretisch komplexen Aussagefolgen. Letzteres gilt auch und gerade für den Verallgemeinerungsprozess methodisch hoch kontrollierter und damit »sauberer« empirischer Daten (Sullivan 2011). Noch interessanter ist in sozialkonstruktivistischer Perspektive allerdings – drittens –, dass die Fragestellungen derjenigen Wirkungsstudien, die EBP-PraktikerInnen im Zuge ihrer Arbeitsprozesse laut EBP-Programmatik heranziehen sollen, nicht einfach diejenigen Fragen repräsentieren, welche sich PraktikerInnen im Zuge gegebener Situationen gleichsam ›natürlich‹ stellen. Das Ausmaß an fachlich begründbaren Fragestellungen, 40

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die eine/n PraktikerIn im Moment praktischen Handelns interessieren können, tendiert gegen unendlich. Dies gilt vielleicht für Berufsfelder der Psychotherapie oder Sozialarbeit eindeutiger als für den Bereich der Medizin. Auch eine auf Gesundungsprozesse gerichtete Praxis wie die medizinische besteht aber im Wesentlichen aus dem Abwägen möglicher Fragen. Bereits der enorme diagnostische Apparat moderner Medizin ist ein Hinweis hierauf. Zugleich ist jedoch sozialkonstruktivistisch nachweisbar, dass Fakten jeweils unter Zugrundelegung ganz bestimmter Fragestellungen zustande kommen. Die Fragestellungen gerade von Wirkungsstudien sind notwendigerweise v.a. dort, wo seriöse Wirkungsaussagen generiert werden sollen, sehr spezifisch (z.B. die Frage: »For ethnic minority immigrant families who have a young child with behavioral problems, does parent group intervention – as compared to no treatment – result in better behavioral child outcomes?« Vgl. Bellamy, Bledsoe und Mullen, S. 24) Damit sind diese Fragen aber im Gegenzug mit nur äußerst geringer Wahrscheinlichkeit diejenigen Fragen, welche eine/n x-beliebige/n PraktikerIn in einer konkreten Interaktion mit einem konkreten Gegenüber beschäftigen. Somit dürften, wo EBP von PraktikerInnen ›genutzt‹ wird, kaum Antworten auf Fragen der/s PraktikerIn zustande kommen. Eher der Umkehrfall dürfte eintreten: Das jeweilige Handeln der sich an EBP orientierenden PraktikerInnen wird nicht hinsichtlich der zu gebenden Antworten oder zu vollziehenden Handlungen, sondern hinsichtlich der an den Fall gestellten Fragen beeinflusst. Viertens ist Wirkungsforschung – wie jede Forschung – Geschehnissen, die sie perspektiviert, logisch nachgeordnet. In der EBP wird aber davon ausgegangen, dass sich die erforschte Vergangenheit logisch in die Zukunft verlängern lässt. Festzuhalten bleibt dabei, dass sich EBP keineswegs an ›aktuellem Wissen‹, sondern logisch zwingend an vergangenen Fakten orientiert, wel-

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che im Sinne impliziter Kontinuitätsannahmen auf gegenwärtige und zukünftige Situationen zugleich übertragen werden. Zuletzt lässt sich sagen, dass EBP auf Fakten rekurriert, die in der Regel unter sehr unterschiedlichen Bedingungen zustande gekommen sind, aber im Zuge von EBP-Programmen abstrakt generalisiert werden. Selbst im vergleichsweise breit angelegten Pool medizinischer Wirkungsdaten ist – erstens – bei Weitem nicht jedes Datum Ergebnis eines Randomized Controlled Trials (RCT) und damit Wirkungsdatum im methodisch engeren Sinne. Zweitens gilt, dass auch noch innerhalb derjenigen Gruppe von Daten, die in ihrem Zustandekommen dem methodischen ›Golden Standard‹ der Wirkungsforschung, dem RCT, entsprechen, z.T. sehr unterschiedlich generierte Fakten miteinander gleichgesetzt werden, wenn sie als Ergebnisse von ›Parallelstudien‹ angesehen werden. Denn in der Regel werden in unterschiedlichen RCTs eben nicht einfach Studien 1:1 reproduziert, sondern (etwas bis sehr) unterschiedliche Dinge verglichen, dann aber in Surveys trotz ihrer Inkommensurabilitäten als ›Evidence‹ zusammengefasst. Inkommensurabilität wird also in der EBP tendenziell negiert, und zwar bereits im Stadium der Erstellung von Metaanalysen.

Sozialkonstruktivistische Hypothesenbildung zum Faktenbezug in Praktiken der EBP Die im vorherigen Abschnitt dargestellten Aspekte lassen erkennen, dass EBP-Programme sich aus sozialkonstruktivistischer Perspektive als eine komplexe Theoretisierungsleistung darstellen, welche vielseitige Faktenbezüge aufweisen. Diese Faktenbezüge werden als weitgehend selbstverständlich erachtet; die für den Faktenbezug notwendigen Kontingenzschließungen, welche über Selektions- und Interpretationsleistungen der Wirkungsforschung sowie über deren aussagemäßige Charakteri-

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sierung als Evidenz funktionieren, bleiben innerhalb von EBPProgrammen tendenziell abgedunkelt. Will man ausgehend von diesem sozialkonstruktivistischen Befund nun über ein Stadium von ideologiekritisch anmutender Negativdiagnose hinausgelangen, ist es sinnvoll, das im systemtheoretischen Analyseinstrumentarium Luhmanns liegende Verstehenspotential weiter auszuschöpfen. Dazu bieten sich verschiedene Möglichkeiten. Abschließend sei die Option diskutiert, die Luhmann’sche Perspektive als erkenntnisleitende These für ein empirisches Forschungsprogramm zu Praktiken der EBP zu nutzen. Dafür bedarf es, um das Phänomen von ›Praktiken‹ zu fassen zu bekommen, auf der gegenstandsbezogenen Beobachtungsebene einer Ergänzung durch praxistheoretische Perspektiven (Schäfer 2016). Mit dieser Ergänzung wird es möglich, diesseits von EBP-Programmlogiken EBP-Praktiken in den Blick zu nehmen. Diese liegen dann erkennbar auf einer anderen Ebene als der emphatische Praxisbegriff des EBP-Programms nahelegt. Während letzterer für eine ›ideale Praxis‹ steht, ist eine Beobachtung von EBP-Praktiken nämlich auf die ›praktische Vollzugsrealität von EBP‹ ausgerichtet. Die oben skizzierten Ergebnisse zur sozial konstruierten, kommunikativen Logik von EBP-Programmen können für einen solchen Ansatz entscheidende Anhaltspunkte liefern. Dies gilt für die Formulierung erstens einer erkenntnisleitenden These sowie zweitens von Hypothesen für ein empirisches Unternehmen, welches der Frage nachgeht: Was geschieht im Zuge praktischer Bezugnahmen auf EBP-Programme? Zum Ersten: Als erkenntnisleitende These lässt sich aus den oben ausgeführten erarbeiteten sozialkonstruktivistischen Argumenten folgern: ›Praktiken der EBP organisieren über den ihnen eigenen Faktenbezug Kontingenzschließung zugunsten formaler Legitimation und zulasten von personellen Auslegungsspielräumen und Reversibilität in Entscheidungsprozessen.‹ Ließe sich diese 43

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These empirisch stärken, spräche einiges dafür, dass EBP-Programme dort, wo nach ihnen gearbeitet wird, »Techniken« gleichkommen (Luhmann 1992a, S. 21). Selbst falls dies so sein sollte, hieße das jedoch nicht automatisch, dass praktische Bezugnahmen auf EBP-Programme zu denjenigen Ergebnissen führen, die ihr Technikcharakter suggeriert. Denn eben dies ist – bei aller Wirkungsforschung – bisher alles andere als empirisch geklärt. D.h., EBP-Praktiken sind bisher weder in ihrer spezifischen Wirkungsweise, noch in ihrer konkreten Funktionsweise ergründet. Ein Faktenbezug qua EBP-Programmatik garantiert nach dem jetzigen Stand theoretischen und empirischen Wissens also weder, dass die programmatisch angestrebten Outcomes reproduziert werden können, noch, dass EBP-Praktiken überhaupt der Idealvorstellung von Praxis der EBP nahekommen. Falls doch, hieße das aber – noch einmal in sozialkonstruktivistischer Perspektive formuliert – zugleich, dass nicht automatisch »alles besser« funktioniert, sondern zunächst einmal »alles gleicher« funktioniert. Zum Zweiten: All dies harrt empirischer Untersuchung. Wenn man die oben angestellten Überlegungen und die daraus generierte erkenntnisleitende These auf auswertungsleitende Hypothesen für eine solche Untersuchung von EBP-Praktiken zuspitzt, lassen sich die fünf folgenden Annahmen in den Raum stellen: ›EBP-Fachkräfte handeln mithilfe ihrer Faktenbezüge objektiv organisierter und aktiver als andere Fachkräfte‹, ›EBPFachkräfte handeln mithilfe ihrer Faktenbezüge weniger personenorientiert und reaktiv als andere Fachkräfte‹, ›EBP-Fachkräfte empfinden subjektiv mehr Sicherheit als andere Fachkräfte‹, ›EBP-Fachkräfte empfinden subjektiv weniger Handlungsfreiheit im beruflichen Handeln als andere Fachkräfte‹ und ›EBPFachkräfte revidieren seltener getroffene Entscheidungen als andere Fachkräfte‹.

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Explorative Untersuchungen zu Praktiken der Evidence-based Practice, welche die obenstehenden Hypothesen ins Zentrum der Untersuchung rücken, ließen sich facettenreich gestalten und operationalisieren. Qualitativ-rekonstruktive methodische Ansätze sind dabei ebenso vorstellbar wie quantifizierende Erhebungsmethoden. Beides ist zwecks Wissensgenerierung zum Phänomen der EBP notwendig, denn es fehlt derzeit zwar nicht an konzeptionellen Weiterentwicklungen und berufsfeldspezifischen Konkretisierungen von Wirkungsforschung und daran anknüpfenden EBP-Programmen. Die in Abschnitt 3 dieses Beitrags in den Mittelpunkt gerückte Ebene praktischer Vollzugsrealität der EBP ist bisher jedoch noch so gut wie unerforscht. Hierzu fehlt es – anders gesagt – erkennbar vor allem an einem: an Fakten.

Zum Weiterlesen O’Neil, Cathy (2017): Weapons of Math Destruction. How Big Data Increases Inequality and Threatens Democracy. London: Penguin Books. Otto, Hans-Uwe/Polutta, Andreas/Ziegler, Holger (2009): Evidence-based Practice – Modernising the Knowledge Base of Social Work? Opladen/Farmington Hills: Barbara Budrich. Sandermann, Philipp (2017): »Diesseits des sozialpädagogischen Blicks. Möglichkeiten einer sozialtheoretischen Analyse des Zusammenhangs von ›sozialpädagogischer Praxis‹ und ›Bildung‹ in Heimen für Kinder und Jugendliche«. In: Zeitschrift für Sozialpädagogik 15, 4. S. 375-395.

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Philipp Sandermann

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Philipp Sandermann system- und interaktionstheoretischer Perspektive«. In: Zeitschrift für Soziologie 31. S. 294-315.

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Sozialkonstruktivismus II Herz- oder Hirntod? Zur Kontingenz medizinischer Fakten Julia Böcker Dieser Beitrag plausibilisiert die Annahme, dass medizinische Fakten – wie Krankheitsbilder, Wahrscheinlichkeiten und Diagnosen – immer auch sozial hergestellt werden bzw. sind. Vermeintliche Tatsachen wie die Funktion eines Organs, das biologische Geschlecht oder der Tod eines Organismus müssen von AkteurInnen als solche erkannt, benannt und behandelt werden, um in der sozialen Welt zu existieren. So galt im 19. Jahrhundert eine im Körper ›umherwandernde Gebärmutter‹ als verantwortlich für die ›Hysterie‹; und so verweigern in der Gegenwart Impfgegner in den USA, im Misstrauen gegenüber Institutionen und mit Verweis auf ›Natürlichkeit‹, die Impfung ihrer Kinder gegen potentiell tödliche Krankheiten (vgl. Reich 2016). Jede medizinische Tatsache steht in einem spezifischen historischen und kulturellen Kontext. Sie ist, soziologisch gesprochen, »kontingent« (Luhmann 1987, S.  152), d.h., ihre Bezeichnungen, dazugehörige Vorstellungen und Materialitäten könnten auch anders sein. Was als medizinischer Fakt, als anerkanntes Wissen über den Körper, seinen Zustand und sein Befinden gilt, unterliegt somit historischer Veränderung, ist verhandelbar und legitimationsbedürftig. Da der menschliche Tod im Alltag meist als eindeutige Angelegenheit wahrgenommen wird, soll er hier als Beispiel dienen, anhand dessen die gesellschaftliche und kulturelle Verankerung und Rahmung medizinischer ›Fakten‹ verdeutlicht wird. Die Todesfeststellung obliegt in der Gegenwart medizinischen 49

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ExpertInnen; und tot ist, wem der Tod bescheinigt wird. In Deutschland ist jeder Arzt/jede Ärztin dazu verpflichtet, den menschlichen Tod festzustellen, d.h. eine so genannte Leichenschau durchzuführen und einen Totenschein auszustellen (vgl. Gabriel und Huckenbeck 2009). Bei der Todesfeststellung orientieren sich MedizinerInnen an festgelegten Todeszeichen wie der Totenstarre oder den Totenflecken; (Kultur-)SoziologInnen hingegen richten ihren Blick auf den sozialen Prozess, wann und wie jemand als sterbend oder tot definiert wird. Dieser Blick sei hier exemplarisch für die Analyse der so genannten ›Hirntod‹Diagnose eingenommen.

Die Diagnose ›hirntot‹ Der menschliche ›Hirntod‹ wurde in den 1960er Jahren im Kontext neuer medizintechnischer Möglichkeiten – wie dem Einsatz von Beatmungsmaschinen und Organtransplantationen – diskutiert und schließlich 1968 medizinisch definiert (vgl. Erbguth 2010). Unter anderem aufgrund zunehmender Erfolge der Wiederbelebungspraxis, bei denen sich zwar Herzschlag und Kreislauffunktion reanimieren ließen, das Gehirn jedoch schwer geschädigt blieb, »entstand der Bedarf nach einer Definition dieses Zustandes des ›Hirntodes‹ als eines vom Herztod dissoziierten Todesmerkmals« (Erbguth 2010, S. 43). Es kam zu einer »Neudefinition des Gehirns als Bestimmungsorgan von Leben und Tod« (Kahl und Knoblauch 2017, S. 17), nachdem dies über Jahrhunderte das Herz gewesen war. Das heute im Transplantationsgesetz verankerte Hirntodkonzept bezeichnet das unumkehrbare Ende aller Hirnfunktionen bei vorhandener Kreislaufaktivität und künstlich aufrechterhaltener Atmung; ein Zustand, der mit dem Tod des betroffenen Menschen gleichgesetzt wird, da dessen Kreislauf ohne künstlichen Erhalt zusammenbrechen würde (vgl. Bundesärztekammer 2015). Dieses Konzept entspricht dem Ganz50

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hirntod. »Im Gegensatz zu diesem Konzept des ›Ganzhirntodes‹ begann v.a. in Großbritannien und den USA eine Debatte über die mögliche Definition des Todes des Menschen als Person nach einem Konzept des ›Teilhirntodes‹. Danach solle der Tod nicht erst nach Ausfall der gesamten Hirnfunktion attestiert werden, sondern bereits bei einem Ausfall des Großhirns mit seinen höheren Hirnfunktionen, da diese für die Personalität eines Menschen konstituierend und unabdingbar seien.« (Erbguth 2010, S. 44) Der unumkehrbare Hirnfunktionsausfall muss gemäß der Richtlinie der Bundesärztekammer »von (mindestens) zwei dafür qualifizierten Ärzten […] unabhängig voneinander und übereinstimmend festgestellt« (Bundesärztekammer 2015, S. 3) werden; in einem dreistufigen Verfahren, zu je zwei Zeitpunkten nach festgelegter Wartezeit. Wie Gesa Lindemann (2001) in ihrer ethnographischen Untersuchung zeigt, hängen die konkreten Zeitpunkte der Diagnosestellung auch von Arbeitszeiten, technischen Verfügbarkeiten und etwa dem Bedürfnis Angehöriger nach Klarheit ab. Nach abgeschlossener Hirntoddiagnostik werden die Behandlungsmaßnahmen nur im Falle einer etwaigen Organentnahme fortgeführt.

Die sozialkonstruktivistische Perspektive Die hier gesetzte theoretische Annahme einer stets kulturbedingten Wirklichkeit – der Sozialkonstruktivismus – geht auf die phänomenologische Wissenssoziologie von Schütz ([1932] 1974), Schütz und Luckmann ([2003] 2017) und auf den 1966 erstmals erschienenen Klassiker »Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit« von Berger und Luckmann ([1969] 2004) zurück. Eine sozialkonstruktivistische Perspektive einzunehmen, heißt, gegenüber unhinterfragt geltendem Wissen, einem »taken-for-granted knowledge«, kritisch zu sein (vgl. Jutel 2014, S. 40). Der Perspektive liegen drei verknüpfte Annah51

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men zugrunde: Erstens, wie wir die Welt deuten und verstehen ist abhängig von historischen, kulturellen und biographischen Umständen. Zweitens, jede Deutung, jedes Wissen ist das Ergebnis sozialer Interaktionen und Aushandlungen. Drittens, Deutungen bedingen entsprechende Handlungen: Woran wir unser Handeln ausrichten und worauf wir dabei Bezug nehmen, hängt von unserer Sicht auf die Welt ab und davon, welchen Sinn wir den Dingen darin verleihen. Im Anschluss an Berger und Luckmann entstand eine »konstruktivistische Medizinsoziologie« (Stollberg 2001, S. 26), in der sich das Anliegen, geltendes Wissen zu hinterfragen, mit der Medizinkritik der 1970er und 1980er Jahre verband. Kritisiert wurden unter anderem Definitionen von krank und gesund und »die ökonomisch und professionspolitisch motivierte Medikalisierung […] von Geburt, Pubertät und Tod« (Stollberg 2001, S. 28). Der Sozialkonstruktivismus wiederum wurde, vor allem in Bezug auf Frauen-, Körper- und Geschlechterfragen, dafür kritisiert, physische und materielle Realitäten zu ignorieren. Etwas wie Geburt, Krankheit und Tod ließe sich nicht (weg-)konstruieren. Annemarie Jutel spricht deshalb in ihrer Soziologie der Diagnose nicht vom sozialen Konstrukt, sondern alternativ vom ›social frame‹: »Each diagnosis is, on one hand, indisputably documentable but on the other is strongly framed by, or in turn frames, social as well as biological reality.« (Jutel 2014, S. 41) Die medizinische Diagnose ›hirntot‹ ist keine Erfindung ohne physische Grundlage und es ist nicht davon auszugehen, dass heutzutage jemand (in Deutschland) fälschlicherweise für hirntot erklärt wird. Dennoch ist die Diagnose ›Hirntod‹ – nicht nur wegen ihrer medizintechnologischen Voraussetzungen – ein soziales Phänomen. Sie kennzeichnet eine spezifische situative Gestalt, mit der soziale Funktionen und gesellschaftliche Deutungskonflikte 52

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verbunden sind. Anhand dieser drei analytischen Zugänge wird im Folgenden der Kontingenz des ›Hirntodes‹ nachgegangen.

Die Kontingenz des ›Hirntodes‹ Schaut man sich die Situation der Todesfeststellung soziologisch genauer an, wird ein alltagsweltliches Todesverständnis irritiert. Als Laie/LaiIn muss man sich klar machen: Zum Zeitpunkt der Hirntod-Feststellung gibt es kaum sinnlich wahrnehmbare Todeszeichen: keine Leichenstarre, der Körper ist warm und atmet, das Herz schlägt. Da Bewegungen vom Rückenmark gesteuert werden, bewegen sich die Patienten/PatientInnen z.T. stark. Dieses Fortbestehen beobachtbarer Lebenszeichen heißt, benannt nach der biblischen Figur, die durch Jesus von den Toten erweckt wurde: »Lazarus-Phänomen« (Bleuel 2014). Um die Befremdung und den Zweifel der Angehörigen und Professionellen zu minimieren, werden mitunter muskelentspannende Mittel gespritzt (vgl. ebd.). Die Bewegungen lassen nach und der Körper sieht aus, wie er aussehen soll: leblos. Die Praxis – die Gabe eines Pharmakons – trägt so zur Herstellung einer ›typischen‹ Sterbesituation bei. Die Bewegungsarmut ist mit dem typischen Alltagsverständnis eines sterbenden Körpers kohärent und ermöglicht den Anwesenden eine entsprechende sinnliche Wahrnehmung. Eindrücklich zeigt Gesa Lindemann (2001) die Variabilität von Interpretationen des Todeszeitpunktes durch Professionelle im Rahmen der Hirntoddiagnostik, die sich angesichts der wahrnehmbaren Lebenszeichen ergibt. Umgekehrt ist auch ein fehlender Herzschlag – nicht nur aufgrund von Reanimationsmöglichkeiten nach einem Herzstillstand – kein sicheres Todeszeichen mehr. Im Texas Heart Institute in Houston beispielsweise wird daran geforscht, das erkrankte menschliche Herz durch einen alternativen Apparat zu ersetzen. Eine Art Turbine soll fortlaufend frisches Blut durch den Körper spülen. Das Pumpprinzip des Herzmuskels, der mit53

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tels Kontraktion Blut durch den Körper pumpt, wäre damit ersetzt. Der Apparat wurde bereits in über 50 Kühe und in einen Menschen implantiert. Sollte sich die Neuerung durchsetzen, hätten Lebewesen, die statt eines Herzens einen solchen Apparat trügen, weder Herzschlag noch Puls (vgl. Yaches und Zagar 2012). Welche sozialen Funktionen birgt eine ›Hirntod‹-Diagnose? Für das ›medizinische System‹ – das gesellschaftliche Teilsystem, in das die professionelle Krankenbehandlung verlagert ist – bedeutet die Entdeckung des unumkehrbaren Hirnfunktionsausfalls eine lebensverlängernde Therapiemöglichkeit für andere schwerstkranke PatientInnen. Möglich wird dies durch die Objektifizierung – einer der Profession geschuldeten Entmenschlichung – des Patienten/der Patientin durch die (klassische Schul-) Medizin: Nicht Menschen werden behandelt, sondern kranke Körper. Diese wiederum unterliegen einer Partikularisierung, beispielsweise in Organe oder Areale. So können einige Teile des Körpers sterben und andere noch funktionstüchtig sein. Im Zuge neurologischer Erkenntnisse, die den ›Sitz der Persönlichkeit‹ im Gehirn bestimmen, stirbt die soziale Person – sozusagen pars pro toto – sobald das Gehirn nicht mehr funktioniert. Die verbleibenden, funktionierenden Organe können so – als körperliche Überreste ethisch legitimiert – das Leben einer anderen Person retten. Für beteiligte AkteurInnen wie PatientInnen oder Angehörige können – zunächst allgemein – Diagnosen entlastende Klarheit und eine Grundlage für nächste Entscheidungen schaffen. Sie können Anerkennung, Zuwendung, Mitleid – und/oder Stigmatisierung und Exklusion nach sich ziehen. Diagnosen eröffnen schließlich therapeutische Möglichkeiten und sind meist notwendige Voraussetzung dafür, dass die Krankenkassen die Behandlungskosten tragen. Im Falle des unumkehrbaren Hirnfunktionsausfalls bedeutet die Diagnose eventuell, dass eine ›sinnlos‹ gewordene Therapie 54

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beendet werden kann. Vermutlich stirbt in diesem Moment eine Hoffnung, vielleicht endet eine Phase der Ungewissheit und des Wartens, die der Klarheit weicht, dass der/die Sterbende nicht wieder ›zurückkommen‹ wird. Und zugleich steht in der Folge eine möglicherweise schwierige Entscheidung an – etwa ob Organe gespendet werden sollen oder nicht; und wenn ja, welche? Die persönlichen, religiösen und politischen Standpunkte zum Hirntodkriterium und zur damit verbundenen Möglichkeit zur Organ- und Gewebespende sind bis heute konflikthaft und ambivalent. Der damalige Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer nannte 1997 in einer Pressemitteilung des Gesundheitsministeriums das neu eingeführte deutsche Transplantationsgesetz, in dem der ›Hirntod‹ als Voraussetzung zur Organentnahme geregelt ist, einen »Beitrag zur Stärkung von Solidarität und Nächstenliebe in unserer Gesellschaft« (zitiert nach Schneider 2001, S.  280). Dieser Argumentation liegt ein Gesellschaftsbild zugrunde, dem zufolge das ›Soziale‹ nach dem individuellen Tod durch Organspende an eine Andere gestärkt würde (vgl. Schneider 2001, S. 281). Eine solche Rhetorik etabliert einen moralisch richtigen, einen ›guten Tod‹, der anderen hilft, (weiter) zu leben. Und sie setzt diejenigen unter Druck, die ›um jeden Preis‹ am Leben erhalten werden wollen oder die nicht bereit sind, ihre Organe oder Organe von Angehörigen zu spenden, die – in dieser Argumentationslogik – ›unsolidarisch‹ sind. In der moralischen Erhöhung der Organspende bis hin zu einer »Solidaritätsverpflichtung« (Motakef 2017) liegen eben genannte Stigmatisierungspotentiale. In der emotional geführten Bundestagsdebatte zur Einführung des Transplantationsgesetzes gab es über Parteiengrenzen hinweg zwei Lager (vgl. Schneider 2001, S. 291-302). Für die VertreterInnen des einen Lagers war der »Tod […] ein von der Natur bestimmtes biologisches Ereignis« (ebd., S. 296), ein positivistisches, d.h. eindeutig überprüfbares, Konzept. Der Hirntod gel55

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te als sicheres Zeichen für den Tod; und den Todeszeitpunkt zu bestimmen, obliege der medizinischen Wissenschaft – einer exakten, wertneutralen Naturwissenschaft. Für das andere Lager galten die Grenzen des wissenschaftlich Beschreibbaren nicht als Grenzen der Wirklichkeit. Aus ganzheitlicher Sicht wurde das Nicht-Wissen über den Tod betont und der Hirntod nur als Zeitpunkt der Unumkehrbarkeit des Sterbeprozesses beschrieben. Der potentielle Organspender sei damit noch als Lebender zu betrachten. Stimmen dieses Lagers kritisierten die »›Umdefinition‹« (Schneider 2001, S.  299) im Interesse der Transplantationsmedizin und die »›Monopolkompetenz der Medizin‹« (ebd.). Jede »Position unterstellt[e …] der Gegenseite, die Grenzen von Leben und Tod unzulässigerweise zu verschieben« (Schneider 2001, S. 300). Während die einen von einem medizinischen Faktum ausgingen und den menschlichen Tod dadurch verdinglichten, also zur objektiven Sache machten, stellten die anderen die Faktizität des Todes im Falle einer ›Hirntod‹-Diagnose in Frage. Werner Schneider ging es in seiner Diskursanalyse (2001, insbes. S.  291-302), auf der die vorangehende Darstellung von Positionen basiert, um gesellschaftliche Grenzziehungen zwischen Lebenden und Toten. Schneider fragte unter anderem, inwieweit in der modernen Gesellschaft die kulturelle Bedingtheit (die Kontingenz) dieser Grenzziehungen selbst reflexiv zum Thema würde. Entgegen seiner Vorannahme diskursiver Selbstreflexivität, stellt er im Hinblick auf die Bundestagsdebatte fest: »Die ›natürlich‹ gegebenen Grenzen von Leben und Tod – kommunikativ konstruiert als ›ontologische Apriori‹, welche die ›Fiktion des Faktischen‹ aufrechterhalten sollen – galt es der dominanten Deutung in der politischen Diskussion gemäß nach [sic!] festzuschreiben und die Verfügbarkeit des (sterbenden bzw. toten) Körpers zu regeln, um durch (Rechts-)Sicher56

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heit Vertrauen (in die Transplantationsmedizin) herzustellen.« (Schneider 2001, S. 309) Die geringe diskursive Selbstreflexivität bedeutet nicht, dass (einzelnen) Diskursteilnehmenden die Konstruiertheit der Lebensgrenze nicht bewusst gewesen ist: »So bemerkt einer der frühen Vertreter der Hirntoddefinition, der Rechtsmediziner Wolfgang Spann, in einer Anhörung der CSU-Fraktion zum Hirntod: ›Wichtig ist, dass es keine naturwissenschaftlich exakt festlegbare Grenze zwischen Leben und Tod gibt. Es ist immer eine Konvention der Gesellschaft, worauf man sich geeinigt hat‹.« (Siegmund-Schultze 1999, S. 258f., zitiert nach Kahl und Knoblauch 2017, S. 17).

Am Ende Was lässt sich aus dieser kleinen Analyse des ›Hirntodes‹ lernen? Es lohnt sich, Prozesse der Wissensbildung in unserer Gesellschaft zu betrachten. Was als faktische und eindeutige Gegebenheit anerkannt wird, hängt von Prozessen des Labeling und der Legitimierung ab und kann sich, etwa durch neue Erkenntnisse oder Positionen, jederzeit ändern – zumal existentielle Grenzphänomene wie der Tod vermutlich immer (wieder) Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzung sein werden. Die Entstehung des Hirntodes, dessen diskursive Etablierung und ständige Aktualisierung im klinischen Alltag sind im Sinnzusammenhang zu verstehen: Die Hirntod-Diagnose ergibt im Kontext einer Gesellschaft Sinn, in der jede lebende Person qua Grundgesetz vor körperlicher Gewalt (wie ungewollter medizinischer Eingriffe) zu schützen ist, das Erlöschen sämtlicher Hirnfunktionen mit dem Tod einer sozialen Person gleichgesetzt wird und in der die postmortale Organspende zum »›Leben-machenden‹ Tod« (Bergmann 2004, S.  277f.) erklärt wird, der dem individuellen Tod einen positiven Sinn verleiht.

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Julia Böcker

In der Analyse solcher Prozesse der Wissensherstellung liegt eine wesentliche Aufgabe einer in den Kulturwissenschaften verorteten Soziologie. Darüber hinaus besteht für diejenigen, die Soziologie betreiben, die Herausforderung darin, eine »kontingenzsensible Haltung« (Böcker, Dreier und Jakob 2018) einzunehmen, d.h. die eigenen, wissenschaftlichen Erkenntnisse als ebenso kulturbedingt zu begreifen. Denn wie eine medizinische Diagnose ist jede soziologische Aussage das – weder objektive noch zufällige – Ergebnis von Interpretationen.

Zum Weiterlesen Lupton, Deborah ([1994] 2012): Medicine as Culture. Illness, Disease and the Body. London: SAGE Publications. Manzei, Alexandra (2012): »Der Tod als Konvention. Die (neue) Kontroverse um Hirntod und Organspende«. In: Michael v. Anderheiden/Wolfgang U. Eckart (Hg.): Handbuch Sterben und Menschenwürde. Berlin: de Gruyter, S. 137-173.

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Medienökologie I Daten von Fakten? Überlegungen zu geologischen Simulationen und dem vernetzten Vesuv Saskia Menges

Computerbasierte Simulationen schaffen Fakten Die Relevanz computerbasierter Simulationen im wissenschaftlichen Forschungsprozess wird gegenwärtig immer größer. HansJörg Rheinberger stellt mit Heidegger fest, dass sich von einer »grundsätzlichen technologischen Verfasstheit der modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnisproduktion sprechen« lässt (Rheinberger 2007, S. 117). Komplexe geologische Phänomene wie Erderwärmung oder die Veränderung des Klimas, Objekte wie die Ozonschicht oder das Erkennen herannahender Naturkatastrophen, etwa die Ankunft eines Tsunamis oder der baldige Ausbruch eines Vulkans, lassen sich nur mit Computersimulationen vorherbestimmen. Fragestellungen, denen man sich analytisch oder experimentell nur schwer oder auch überhaupt nicht nähern konnte, sind mit Hilfe von Simulationstechnologie nun bearbeitbar, wodurch eine neue Ebene der Wissenschaft entsteht (vgl. Pias 2011, S. 30). Simulationen sind computerbasiert; von Computern eigenständig erhobene Daten sind der Ausgangspunkt für Annahmen geworden, die selbstverständlich als sichere und tatsächliche Fakten gelten. Diese ›neuen Fakten‹ werden Gegenstand und Grundlage für Entscheidungsprozesse und politische Kontrollmechanismen. Auch im alltäglichen Sprachgebrauch werden Aussagen häufig auf ›Fakten‹ gestützt oder es wird dazu aufgefordert: »Bleiben 61

Saskia Menges

Sie bei den Fakten!« Diese Redewendungen implizieren bereits das, was sich in den gängigen Lexika von Duden bis Wikipedia als Definition des Begriffs ›Fakt‹ nachlesen lässt. Demnach steht der Begriff für einen »gegebenen Umstand«, für »Realität«, einen »Tatbestand«, eine »Wirklichkeit« (Duden Online 2018). Ihm haftet also die Referenz an, etwas Tatsächliches, etwas Vorhandenes zu sein, womit es seiner Wortherkunft, dem lateinischen facere, widerspricht. Dieser Bedeutung zufolge würden Fakten nämlich ›etwas Gemachtes‹ sein, entgegen dem eben dargelegten geläufigen Verständnis. In diesem Beitrag wird aus einer medienkulturwissenschaftlichen Perspektive untersucht, wie nunmehr aus Daten Fakten werden. Wie verändern sich das Wissen und die Generierung von Wissen, welches auf Daten basiert, aus Daten hergestellt und über Daten verfügbar gemacht wird? Zu diesem Zweck wird im Folgenden kurz skizziert, was Daten sind, wie aus ihnen Fakten generiert werden und was Fakten überhaupt im technologisch determinierten Zeitalter bedeuten können. Denn aus diesen Fakten wiederum ergeben sich erst Problemfelder, die ohne diese Technologie nicht formuliert werden könnten. Daran angeschlossen geht es auch um Problemwahrnehmungen an die dann zumeist ein »spezifisches Risikomanagement« angepasst wird (vgl. Pias 2012). Ein Beispiel für eine solche Problemwahrnehmung mit eigenem Risikomanagement ist der Vesuv bei Neapel in Italien. Der Vesuv und die Simulationen von herannahenden Ausbrüchen sollen uns als Beispiel dienen, um die Veränderung des Fakt-Begriffs durch Simulationstechnologie zu illustrieren. Dieses Themengebiet aus einer medienkulturwissenschaftlichen Perspektive zu betrachten, bedeutet anzuerkennen, dass die Weltanschauung, die menschliche Erfahrung der Welt über und mit dem Gebrauch technologischer Medien eine paradigmatische Veränderung erfährt. Dieses Denken lässt schließlich auch die Annahme zu, dass es sich um das Ausbreiten einer allgemeinen Ökologisie62

Medienökologie I

rung auf Grundlage »einer maschinengeschichtlichen Linie, die heute als Kontrollgeschichte entziffert werden kann« (Hörl 2016) handelt. Die Erde wird, mit McLuhan gesprochen, über Technologie zu einem medialen Artefakt und die Erde zu einer medialisierten Umgebung (vgl. Löffler und Sprenger 2016, S. 11). Das ist die Folge der Auswanderung der Computer in die Umwelt und von distribuierten, algorithmischen Umgebungen sowie sensorischen Umwelten, wofür die Überwachung des Vesuvs ein paradigmatisches Beispiel darzustellen scheint.

Simulationen als Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung am Beispiel des Vesuvs Simulationen auf Grundlage von Daten, die mitunter von den jeweiligen Programmen selbst generiert sind, liefern Fakten, die Gegenstand machtpolitischer Auseinandersetzungen werden. Im Vorgang wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung erhalten Simulationen so eine zentrale Rolle (vgl. Rheinberger 2015). Mit dem Werden von Simulationen als epistemisches Ding wird so ein neues, informationstechnologisch bedingtes Zeitalter der Wissensproduktion eingeleitet (vgl. Rheinberger 2007). Die Genese und Geltung von wissenschaftlichem Wissen hat sich mit technologischen und medientechnischen Infrastrukturen gewandelt und muss neu befragt und verortet werden, da sich mit ihnen nicht nur eine virtuelle Umgebung, sondern ein gänzlich neuer Zugang zu jenem Wissen etabliert, das zwischen den tradierten Ebenen liegt, was schließlich auch einen epistemologischen Umbruch bedeutet (vgl. Pias 2011, S. 46). Wie verändert sich damit die Bedeutung von Fakten, wenn sie von Simulationstechnologie bedingt sind? Grundlage für diese Entwicklung ist auch das gesellschaftliche Interesse daran, Vorgänge aller Art planbar zu machen oder anders formuliert ›zu managen‹. Der Vesuv bspw. wird durchgehend in verschiedenen geologischen Forschungszentren überwacht. Die dahinter liegende Motiva63

Saskia Menges

tion ist, dass etwa 600.000 im Raum Neapel lebende Menschen von einem erneuten Vesuvausbruch betroffen wären. Diese Menschen wiederum gilt es von der Regierung zu schützen. Es ist das Anliegen des italienischen Staates, Wissen über den Vesuv zu generieren, um so die Bevölkerung vor den Folgen eines Ausbruchs mittels entsprechend früher Evakuierung zu bewahren. Sensornetzwerke zur Erhebung geologischer Daten sind zu einer Infrastruktur ausgebaut worden, um permanent Daten zu erheben, die mittels eines sogenannten ›Supercomputers‹ ausgewertet werden. Auf Grundlage dieser Daten werden Simulationen eines möglichen Ausbruchs erstellt. Diese Simulationen des Vesuvausbruchs, die letztlich auch Simulationen der Natur sind, werden zur Grundlage für Evakuierungspläne der betroffenen Region und so auch für politische Entscheidungen. Über die Simulationen der Natur entsteht so etwas wie eine medienökologische Naturvorstellung. Ferner wird ein Metawissen generiert, aus dem sich neue Arten des Regierens, eine neue environmentale Kontrollkultur entwickelt. Der medialisierte Vesuv wird so zu einem Problemgegenstand, den es ohne die Rechenleistung, die die Simulation ermöglicht, nicht gäbe. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts hatte man sich nur mit den Auswirkungen eines Ausbruchs befasst, nicht jedoch mit der Idee, einen Ausbruch vorherzusagen, um durch entsprechend frühzeitige Evakuierung den Folgen des Ausbruchs zu entgehen. Der Umgang mit einem Naturphänomen als Risiko ändert sich mit der Simulationstechnologie grundlegend. Den Startpunkt dieses Umbruchs markiert der Bau des ersten Vesuvobservatoriums im Jahr 1841, mit dem Pionierversuche unternommen wurden, Wissen zur Vorhersage eines Ausbruchs zu generieren. Um geologische Simulation am Beispiel des Vesuvs bearbeitbar zu machen, hilft eine rudimentäre Definition: Mit geologischen Simulationen werden natürliche Prozesse nachgebildet und ihre Verhaltensweisen auf Basis eines geologischen Modells 64

Medienökologie I

unter Berücksichtigung mathematisch-physikalischer Gesetzmäßigkeiten untersucht (Lackes et al. 2018). Am Vesuv bedeutet dies, dass über Sensoren geologische Daten gemessen werden, die Hinweise darauf geben können, dass ein Vulkanausbruch bevorsteht. Ein zentralisiertes Sensornetzwerk wurde zu diesem Zweck gemeinsam mit einem Messsystem in den 1970er Jahren am Vesuv installiert. Mittels dieses Systems wird bspw. die Temperatur der Erdkrusten gemessen, die seismischen Aktivitäten oder auch Gasausströmungen, die als Indikatoren eines bevorstehenden Ausbruchs gelten. In einer Unterwassermessstation in der Bucht von Neapel werden geologische Daten erhoben, die möglichst frei von menschengemachten Einflüssen sein sollen, wie etwa die Schwingungen des Bodens durch fahrende Autos und ähnliche Einwirkungen. Erdbeben, die auf einen Ausbruch hinweisen können, lösen im Überwachungssystem, was rund um die Uhr im Schichtbetrieb begleitet wird, einen Alarm aus. Dem Sensornetzwerk wurden GPS Seismographen, Bodenhebungssensoren und geochemischen Sensoren bis zum Jahr 2000 hinzugefügt. Die Sensoren sind miteinander verbunden, geologische Daten werden digital und analog an verschiedene Forschungsstationen, die gleichzeitig Überwachungsstationen sind, übermittelt. Es ergibt sich so eine Netzwerkstruktur aus Sensoren zur Überwachung der geologischen Aktivität des Vulkans und seiner Umgebung. Das Forschungsprojekt »Explosive Eruption Risk and Decision Support for EU Populations Threatened by Volcanoes«, kurz EXPLORIS, entwickelte während der Projektphase von 2002-2005 Computerprogramme, mit welchen sich die vulkanischen Aktivitäten und die Bewegung der pyroklastischen Ströme und Aschewolken als Simulation visualisieren lassen. Obwohl die Programmierung der Simulation eines Vesuvausbruchs erfolgreich war, gestehen die WissenschaftlerInnen ein, dass definitive, abschließende Aussagen

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über den Zeitpunkt, das Ausmaß und Dauer einer nächsten Vesuveruption noch nicht gemacht werden können.

Von Daten zu Fakten Deutet der Begriff Fakten an, dass es sich um etwas Tatsächliches handelt, steht im Gegensatz dazu der Begriff der Daten. Der im Kollektivplural verwendete Datenbegriff stammt vom lateinischen datum und meint das Gegebene – obwohl Daten im allgemeinen Verständnis paradoxerweise als konstruiert, erhoben, hergestellt, eben gemacht gelten und nicht wie Fakten als gesicherte Tatsachen betrachtet werden. Daniel Rosenberg hat sich in seinem Text »Daten vor Fakten« (2014), dem dieser Beitragstitel entlehnt ist, aus historischer Perspektive dem Datenbegriff genähert, um so die Bedeutung und Relevanz dieses heutzutage als Zauberwort geltenden Begriffs bei der Entwicklung neuer Wissenspraktiken aufzuzeigen. Mittels verschiedener Datenbanken untersuchte er das Auftreten des Begriffs in unterschiedlichen historischen Kontexten empirisch und kam auf mehrere Ergebnisse, was dieser Begriff wann meinte. Seine Ergebnisse werden hier nicht wiederholt; das, was er jedoch allgemein für den Datenbegriff feststellen konnte ist, dass er stets ein rhetorischer Begriff war, der nur das bezeichnet, was vor einer eigentlichen wissenschaftlichen Argumentation liegt (vgl. Rosenberg 2010, S. 136). Daten wandeln sich somit stets im Kontext einer Strategie und mit dem Kontext einer Argumentation (ebd., S. 154). Dies hat zur Folge, dass die Bedeutung des Begriffs ›Data‹ zwar gleich bleibt, jedoch immer anders konnotiert ist. Daten haben also keine eigene Wahrheit, die sich offenlegen ließe, sie sind jedoch Grundlage für Fakten in einem jeweilig spezifischen Kontext. Rheinberger weist darauf hin, dass gegenwärtig Daten unabhängig von einem spezifischen Kontext erstellt werden und nur Sinn ergeben, wenn man strukturiert auf sie zugreifen kann – eben in Form von ›Big Data‹ Datenbanken – 66

Medienökologie I

und sie nicht mehr als Ergebnis eines Experiments erhoben werden. Es deutet sich damit ein Primat der Daten an, was von einer hypothesengeleiteten Forschung weg zu einer datengeleiteten Forschung führe (vgl. Rosenberg 2010, S. 154-155).

Resümee: Fakten erobern eine neue Bedeutung Die Entwicklung der Überwachungstechnik zu einer digitalen, vernetzten Technologie bedeutet eine Veränderung des Verhältnisses nicht nur von Menschen und Natur, sondern auch von Technik und Natur. Der Umgang mit dem Vesuv ist mittels der Medien gewordenen Sensoren von und durch Computer prozessiert. Ein derartiger Umgang mit dem Vesuv ist ein systematischer Versuch, das Risiko von Eruptionen zu quantifizieren, berechenbar und kalkulierbar zu machen. Ausgangspunkt dafür sind die geologischen Daten, die in diesem Kontext bewertet und zu Fakten gewandelt werden. Diese Praxis der Simulationen hat zur Folge, dass es zunehmend unmöglich wird, Medienumgebungen von vermeintlich natürlichen Umgebungen zu unterscheiden. Es vollzieht sich eine Vermischung von Natur und Technik, die ein neues Naturverhältnis aufmacht, indem nunmehr Umwelt als ›Medienumgebungen‹ oder ›media environments‹ gilt. Die Technik verliert seinen äußeren, instrumentellen Werkzeugcharakter und wird zu einer konstitutiven Technologie. Die Natur wird so zu einer hybridisierten Natur, zu einer Natur nach der Natur, zu einer Natur zweiter Ordnung (Engell und Siegert 2016). Die Medienwissenschaftlerin Jennifer Gabrys (2016, S. 15) fasst es so zusammen: »Read through devices such as sensors and satellites, and assembled into networks and code, ecology is now a shifting entity that typically becomes visible – and manageable – as information. In this way, such ecologies inform our lived material,

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political, and ethical engagements, and they contribute to the scope of our environmental practices.« Die Computersimulationen bedingen also die Entwicklung neuer Formen von Kontrolle, des Regierens und Steuerns, »sie greifen besonders auf das materielle Gefüge der Welt zu und bedingen die philosophische Forderung nach neuen Ontologien«, so der Medienwissenschaftler Claus Pias (2012, S. 42). Diese Entwicklungen und Tendenzen zeigen an, dass sich Begriffe wie Daten und Fakten scheinbar ihre ursprüngliche etymologische Bedeutung zurückerobert haben. Fakten scheinen im technologisch bedingten Zeitalter nunmehr wieder gemacht und nicht mehr eine Form der Realität zu sein, die es aufzudecken gilt, wenn technologisch generierte Daten ihre Grundlage werden.

Zum Weiterlesen Chung, Wendy/Kyong, Hui (2016): Updating to Remain the Same. Habitual New Media. Cambridge/Massachusetts: The MIT Press. Hansen, Mark B. N. (2011): »Medien des 21. Jahrhunderts, technisches Empfinden und unsere originäre Umweltbedingung«. In: Erich Hörl (Hg.): Die technologische Bedingung. Berlin: Suhrkamp, S. 365-409. Hörl, Erich (2017): »Introduction to General Ecology: The Ecologization of Thinking«. In: Ders. (Hg.): General Ecology. London/New York: Bloomsbury, S. 1-74.

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Saskia Menges Rosenberg, Daniel (2014): »Daten vor Fakten«. In: Ramón Reichert (Hg.): Big Data. Bielefeld: transcript Verlag, S. 133-156. https://doi. org/10.14361/transcript.9783839425923.133

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Systemtheorie Griechische Statistiken — Zur Beobachtung von Fakten in der Finanzkrise Isabel Kusche

Griechenland in der Finanzkrise Die Finanzkrise 2008 hat viele europäische Länder getroffen und einige gezwungen, in den Folgejahren Finanzhilfen der Europäischen Union (EU) und des Internationalen Währungsfonds (IWF) in Anspruch zu nehmen, um die öffentlichen Haushalte zu stabilisieren. Im Gegenzug mussten sie harte Sparmaßnahmen umsetzen. Nirgends jedoch war die Krise so tief und langanhaltend wie in Griechenland, das 2010, 2012 und 2015 drei aufeinanderfolgende Hilfsprogramme aushandeln musste. Eine weitere Besonderheit der griechischen Krise liegt darin, dass nur dort am Beginn der Finanzkrise auch ein massiver internationaler Vertrauensverlust stand, was die offiziell gemeldeten Zahlen zum griechischen Staatshaushalt anging. Die Zweifel, ob diese Zahlen die tatsächliche Lage widerspiegelten oder erheblich schönten, und die griechischen Reaktionen darauf können daher als Anlass dienen, über die Beobachtung von Fakten zu reflektieren. Noch heute finden sich unterschiedliche Auffassungen zur Lage des griechischen Staatshaushaltes vor und in der Krise, obwohl die Instrumente der Wirtschaftsstatistik klare Fakten schaffen sollten. Im Folgenden geht es darum, dieses Phänomen zu erklären, wobei Überlegungen Niklas Luhmanns zur Beobachterabhängigkeit von Kommunikation die Analyse leiten.

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Isabel Kusche

(Alternative) Fakten zur griechischen Finanz- und Staatsschuldenkrise Zweifel und Misstrauen hinsichtlich der Statistiken zum griechischen Staatshaushalt lassen sich bis in die Zeit vor der Finanzkrise zurückverfolgen. Spätestens mit dem Vertrag von Maastricht 1992, der ein Haushaltsdefizit von unter 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) als Bedingung für den Beitritt zur künftigen gemeinsamen europäischen Währung festgeschrieben hatte, waren zuverlässige Zahlen über die öffentlichen Haushalte der Mitgliedsländer der EU zur unerlässlichen Entscheidungsgrundlage für wichtige Fragen der europäischen Politik geworden. Auf der Grundlage des Defizitkriteriums wurde auch Griechenland ab 2001 als Mitglied der Eurozone akzeptiert. 2004 revidierte die europäische Statistikbehörde Eurostat allerdings die in den Vorjahren von Griechenland gemeldeten Haushaltszahlen und kam in einem Methodenbericht zu dem Schluss, dass das griechische Staatsdefizit seit 1997 jeweils erheblich über den gemeldeten Werten gelegen hatte (Europäische Kommission 2010, S.  13). Für das Jahr 1999, das für die Entscheidung über den Beitritt zur Eurozone ausschlaggebend war, benannte Eurostat ein Defizit von 3,4 statt 1,8 Prozent (Savage 2006, S. 158). Nach den Regeln des Maastrichter Vertrages hätte das Land demnach den Euro nicht einführen dürfen. Aus Sicht des sozialistischen Premierministers, der Griechenland zwischen 1996 und 2004 regiert hatte, waren die nach oben korrigierten Defizitzahlen allerdings einer neuen Klassifizierungsmethode geschuldet, die Eurostat auf Betreiben der 2004 ins Amt gewählten konservativen Regierung rückwirkend auf die zurückliegenden Jahre angewendet hatte (Simitis 2004). Mit Beginn der Finanzkrise und angesichts stark steigender Haushaltsdefizite wurde die Verlässlichkeit der griechischen Statistiken erneut zum Thema. Massive nachträgliche Korrekturen des Haushaltsdefizits 2008, die die griechische Regierung 72

Systemtheorie

im Laufe des Jahres 2009 vornahm (Europäische Kommission 2010, S. 18-19), waren der Anlass für einen »Bericht zu den Statistiken Griechenlands über das öffentliche Defizit und den öffentlichen Schuldenstand«, den die EU-Kommission im Januar 2010 vorlegte. Der Bericht bezweifelte grundlegend die Zuverlässigkeit der von Griechenland gemeldeten Finanzdaten und führte nicht nur methodische Mängel, sondern auch politische Einflussnahme als Gründe an. In Reaktion darauf initiierte die griechische Regierung die Gründung einer neuen, unabhängigen Statistikbehörde. Unter dem Namen Elstat begann sie, geleitet von dem international anerkannten Statistikexperten Andreas Georgiou, im August 2010 ihre Arbeit. Im November 2010 korrigierte Elstat das Haushaltsdefizit für 2009 von 13,6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes auf 15,4 Prozent. Während Eurostat diese Korrektur vorbehaltlos akzeptierte, ebenso wie alle Defizitmeldungen der Folgejahre, hielten verschiedene griechische PolitikerInnen sowie erhebliche Teile der griechischen Öffentlichkeit daran fest, dass die Zahl von 15,4 Prozent falsch und das tatsächliche Defizit niedriger war (ISI 2017). Auch VertreterInnen der griechischen Justiz hielten diese Einschätzung immerhin für so plausibel, dass sie verschiedene Gerichtsverfahren gegen den Präsidenten der griechischen Statistikbehörde Elstat anstrengten.

Unterscheidungsbasiertes Beobachten Die divergierenden Sichtweisen auf die Höhe des griechischen Haushaltsdefizits zu bestimmten Zeitpunkten zeigen, wie umstritten vermeintliche Fakten sein können und welche Tragweite ein derartiger Streit haben kann. Eine Möglichkeit, sich dieser Auseinandersetzung soziologisch zu nähern, besteht darin, danach zu fragen, mit welchen Unterscheidungen BeobachterInnen arbeiten, wenn sie Aussagen zum griechischen Haushaltsdefizit und dessen korrekter Bestimmung machen. Die Ab73

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hängigkeit der beobachteten Wirklichkeit von der Perspektive des jeweiligen Beobachters ist eine grundlegende Einsicht der Systemtheorie im Anschluss an Niklas Luhmann. Alle Beobachtungen von Daten, Ereignissen, Aussagen, Objekten oder Personen arbeiten demnach mit Unterscheidungen. Je nachdem, welche Unterscheidung gewählt wird, werden bestimmte Aspekte in den Blick genommen, während alles andere ausgeblendet bleibt, weil es im Kontext der gewählten Unterscheidung keine Rolle spielt (Luhmann 1986). Man kann eine Unterscheidung durch eine andere ersetzen und bekommt dann etwas Anderes zu sehen. Eine beobachterunabhängige, »objektive« Realität aber bleibt unerreichbar. Auch wenn im Prinzip alle möglichen Unterscheidungen als Grundlage für Beobachtungen in Frage kommen, gibt es in der modernen Gesellschaft Luhmann zufolge bestimmte Leitunterscheidungen, die komplexen, weitreichenden Kommunikationszusammenhängen als Orientierung dienen (Luhmann [1987] 2005b, S.  13-32). Eine dieser Unterscheidungen ist jene zwischen wahr und unwahr. Sie ist die Grundlage für wissenschaftliche Kommunikation, in der neues Wissen erzeugt wird (Luhmann 1990). Manche Ergebnisse wissenschaftlicher Kommunikation werden in anderen Kommunikationskontexten nachgefragt, so z.B. in der Politik, deren Leitunterscheidung in Demokratien jene zwischen Regierung und Opposition ist (Luhmann 1989). Politische Entscheidungen können sich auf wissenschaftlich erzeugtes Wissen stützen und berufen, um Entscheidungsunsicherheit zu reduzieren oder aus politischen Gründen bevorzugte Entscheidungen zu legitimieren (Kusche 2008). Im Fall der griechischen Defizitzahlen spielten sowohl die wissenschaftliche als auch die politische Leitunterscheidung eine wichtige Rolle. Anders als in üblichen Kontexten der politischen Verwendung wissenschaftlich basierten statistischen Wissens beriefen sich aber politische Beobachtungen hier nicht 74

Systemtheorie

einfach auf ausgewählte wissenschaftliche Beobachtungen, sondern stellten deren Wissenschaftlichkeit grundlegend in Frage. In welcher Weise und durch welche Beobachter das geschah, wird im Folgenden näher gezeigt.

Wissenschaftliche und politische Beobachtungen griechischer Statistiken Die Frage, ob das griechische Haushaltsdefizit im Jahr 1999 1,8 oder 3,4 Prozent und im Jahr 2009 13,4 oder 15,8 Prozent des BIP betrug, scheint zunächst eine Frage von wahr oder unwahr zu sein. Entweder die jeweils erste Zahl stimmt oder sie stimmt nicht. Das Gleiche gilt für die jeweils zweite Zahl. Sofern man mit der Unterscheidung wahr/unwahr beobachtet, unterstellt man, dass es eine Zahl gibt, die das wahre Haushaltsdefizit angibt. Auf den ersten Blick scheint auch klar zu sein, welche Art von Beobachter in der Lage ist, die wahre Zahl zu bestimmen – es handelt sich dabei um eine Aufgabe, auf die die Wirtschafts- und Finanzstatistik als Teil der Wirtschaftswissenschaft spezialisiert ist. Sie verfügt über wissenschaftlich abgesicherte Methoden, mit denen sie bestimmen kann, wie hoch das Haushaltsdefizit jeweils ist. Tatsächlich sind die Dinge nicht so einfach, gerade wenn es um anwendungsnahes, gleichzeitig aber wissenschaftlich fundiertes Wissen geht. Statistik benötigt Kategorien, die sowohl definiert als auch bezüglich konkreter Fälle interpretiert werden müssen, bevor mathematische Methoden zum Einsatz kommen können. Grundlage für die Kategorisierung der Haushaltsdaten ist das European System of Integrated Accounts (ESA). Die EUMitgliedsstaaten melden auf der Basis der darin festgelegten Definitionen Haushaltsdefizit, Schuldenstand und BIP an Eurostat (Savage 2006, S. 150-153). Dabei müssen die ESA-Vorgaben fortwährend interpretiert werden, um zu entscheiden, ob bestimmte Positionen als Staatsausgaben im Sinne des Vertra75

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ges von Maastricht zu klassifizieren sind. Für derartige Fragen greift Eurostat auf ein Beratungsgremium zurück, in dem Vertreter der Mitgliedsstaaten, der nationalen Statistikbehörden, der nationalen Zentralbanken, der EU-Kommission und der Europäischen Zentralbank bei strittigen Fragen nach Kompromissen suchen (Savage 2006, S. 155). Das bedeutet, dass die Wahrheit über die Höhe des Haushaltsdefizits eines EU-Mitgliedsstaates nicht schematisch mittels Anwendung einer bestimmten Methode festgestellt werden kann. Auf dem Weg zu dieser Wahrheit müssen vielmehr Entscheidungen getroffen werden. Ein Charakteristikum von Entscheidungen ist es, dass sie zwar einerseits Festlegungen treffen, andererseits aber im gleichen Zuge markieren, dass diese Festlegungen auch anders hätten getroffen werden können (Luhmann [1981] 2005a, S. 391-393). Wenn es um die Höhe staatlicher Defizite geht, haben diese Entscheidungen potentiell enorme politische Konsequenzen. So war es bei der Entscheidung über die Mitgliedschaft in der Eurozone auf der Grundlage des Vertrags von Maastricht. In der Finanzkrise gab es zwar keinen festgeschriebenen Zusammenhang zwischen einem Schwellenwert und bestimmten politischen Konsequenzen. Aber wenn die Höhe des Haushaltsdefizits Erwartungen von Kreditgebern enttäuscht und den Glauben an eine baldige Verbesserung der Lage untergräbt, dann steht für die jeweilige Regierung politisch viel auf dem Spiel. Angesichts der gravierenden politischen Folgen, die statistische Daten über Defizit und Schuldenstand haben können, liegt es nahe, dass bestimmte Beobachter diese Daten von vornherein auf der Grundlage politischer Unterscheidungen beobachten oder irgendwann von der wissenschaftlichen zur politischen Beobachtung wechseln. Einen solchen Wechsel haben Eurostat und die EU-Kommission 2010 vollzogen, als sie die Unzuverlässigkeit der griechischen Statistiken zum Staatshaushalt erst76

Systemtheorie

mals als Ergebnis politischer Einflussnahme auf die gemeldeten Daten interpretierten (Europäische Kommission 2010). Die 2004 von Eurostat identifizierten Probleme, die sich auch in den Folgejahren fortsetzten, waren bis dahin als Resultat mangelhafter Methodik behandelt worden. Eurostat hatte mit Reisen nach Athen und Treffen mit griechischen Experten reagiert, um methodische Probleme zu klären und den Zugang zu bestimmten Datenquellen zu verbessern, ohne die sich die vereinbarten statistischen Kategorien nicht sinnvoll bestimmen lassen. Mit anderen Worten hatte Eurostat weiterhin unterstellt, dass auch auf der griechischen Seite die Orientierung an der Unterscheidung wahr/unwahr die Bestimmung des Haushaltsdefizits leitete. Mit dem Bericht 2010 änderte sich das. Der Bericht legte dar, dass im Zusammenhang mit der mehrfachen Korrektur der Defizithöhe für 2008 eindeutige Indizien für direkte politische Einflussnahme auf die Zahlen vorlagen (Europäische Kommission 2010, S. 19). Darüber hinaus wurden auch die Geschehnisse 2004 im Rückblick neu gedeutet. Die EU-Kommission (2010, S. 21) wies darauf hin, dass die Korrekturen 2004 und 2009 jeweils im Anschluss an Wahlen erfolgten und sah durch weitere Indizien den Verdacht erhärtet, dass die Unzuverlässigkeit der Statistiken politische Ursachen hatte. Mit anderen Worten wurden die Diskrepanzen darauf zurückgeführt, dass die jeweilige Regierung vor den Wahlen geschönte Zahlen gemeldet hatte und nach den Wahlen, die 2004 und 2009 Regierungswechsel brachten, die ehemalige Opposition als neue Regierung die Zahlen korrigierte.

Politik versus Wahrheit Die Gründung der unabhängigen Statistikbehörde Elstat im Jahr 2010 war eine Reaktion der neu gewählten Regierung auf den von der EU-Kommission öffentlich kommunizierten Vorwurf, dass bei der Erstellung von Meldungen an Eurostat in 77

Isabel Kusche

der Vergangenheit die Leitunterscheidung von Regierung und Opposition im Spiel gewesen war. Dem Präsidenten der neuen Behörde, Andreas Georgiou, gelang es nach Einschätzung von Eurostat und Statistikexperten aus aller Welt, die Datenqualität entscheidend zu verbessern. Die unter seiner Federführung in den Folgejahren von Elstat erstellten Statistiken zum griechischen Staatshaushalt galten als zuverlässig (ESGAB 2015, Europäische Kommission 2016), orientierten sich also aus Sicht dieser Beobachter eindeutig an der Unterscheidung wahr/unwahr. Der politische und juristische Umgang mit Georgiou während und nach seiner Amtszeit 2010 bis 2015 zeigt allerdings, dass sich in Griechenland die wissenschaftliche Leitunterscheidung von wahr und unwahr mit Blick auf Statistiken zur Haushaltslage nach wie vor nicht vollständig durchgesetzt hat. Nachdem das von Elstat nach oben korrigierte Haushaltsdefizit für 2009 zum Anlass für verschärfte Sparmaßnahmen in Griechenland wurde, kamen schnell Vorwürfe auf, Georgiou habe in Absprache mit Eurostat und IWF die Defizitzahlen manipuliert, um eine Rechtfertigung für die von außen auferlegte Sparpolitik zu schaffen. Die öffentlichen Beschuldigungen nahmen zu, als in der zweiten Hälfte des Jahres 2011 klar wurde, dass Griechenland ein zweites Sparprogramm benötigen und dieses mit wesentlich härteren Bedingungen verknüpft sein würde als das erste (ISI 2017, S. 2). Ende 2011 begann die Staatsanwaltschaft für Finanzkriminalität mit einer Untersuchung; im Januar 2013 kam sie zu dem Schluss, dass die Verdachtsmomente die Eröffnung eines Verfahrens gegen Georgiou und zwei andere Elstat-Mitarbeiter rechtfertigten. Im Fokus standen wiederum die für die Bestimmung des Defizits ausschlaggebenden statistischen Kategorien und die Frage, ob bestimmte Positionen zurecht in die Berechnungen einbezogen worden waren (Christides 2016). Zwar entschied der Untersuchungsrichter im Juli 2013, die Vorwürfe 78

Systemtheorie

fallen zu lassen und das Verfahren einzustellen. Aber auf Druck verschiedener politischer Interessen und unter dem Eindruck öffentlicher Empörung wurde die Untersuchung des Falles an verschiedenen Berufungsgerichten bis 2017 mehrfach wiederaufgenommen (ISI 2017, S. 2-3). Parallel zu den Verfahren, in denen es um die Manipulation der Defizitzahlen ging, wurde ab 2015 eine Untersuchung gegen Georgiou wegen möglicher Pflichtverletzungen angestrengt, die er als Elstat-Präsident begangen haben sollte. Auch hier kam das Gericht in erster Instanz zu dem Schluss, dass die Vorwürfe unbegründet seien. Ein Berufungsgericht aber verurteilte Georgiou schließlich im August 2017 zu zwei Jahren Gefängnis, die für drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurden. Das Vergehen, für das er bestraft wurde, bestand darin, die Defizitzahl für 2009 ohne vorherige Zustimmung des Elstat-Verwaltungsrates an Eurostat gemeldet zu haben (ISI 2017, S. 3-4).

Schlussfolgerungen Das juristische Vorgehen gegen den Präsidenten von Elstat setzte doppelt an. Zum einen bestritten aufeinanderfolgende Anklagen, dass das von ihm an Eurostat gemeldete Defizit korrekt im Sinne der statistischen Standards war. Hier wurde demnach in Zweifel gezogen, dass Georgiou sich bei seiner Arbeit in angemessener Weise an der wissenschaftlichen Leitunterscheidung von wahr und unwahr orientiert hatte. Zum anderen war Georgiou angeklagt, das von ihm festgestellte Defizit an Eurostat ohne Absprache weitergegeben zu haben. Hier wurde nicht bestritten, dass die Defizitzahl korrekt war, aber die Meldung an Eurostat angesichts der weitreichenden Folgen implizit unter politischen Vorbehalt gestellt. In beiden Varianten laufen die Vorwürfe darauf hinaus, dass es die Defizitzahl war, die ein Sparprogramm herbeigeführt hat, dessen wirtschaftliche und soziale Folgen das Land bis heute 79

Isabel Kusche

prägen. Eine solche Sichtweise auf die Ursachen der anhaltenden Krise ist für griechische PolitikerInnen verschiedener Parteien attraktiv (Konstandaras 2017). Ein Statistikexperte als Sündenbock lenkt sowohl von der politischen Verantwortung für das in jedem Fall sehr hohe Haushaltsdefizit ab, das am Beginn der Krise stand, als auch von der Verantwortung wechselnder Regierungsparteien für die Sparpolitik der Krisenjahre. Die Sorge darum, wie frustrierte WählerInnen an die Wahlurne gebracht werden können, macht es in Griechenland attraktiv, die Höhe des Haushaltsdefizits im Jahr 2009 weiterhin mit politischen Unterscheidungen zu beobachten. Dies gefährdet wiederum die dauerhafte Orientierung der griechischen Statistikbehörde an wissenschaftlichen Unterscheidungen, insbesondere angesichts der potentiellen persönlichen Konsequenzen für verantwortliche Mitarbeiter, die der Fall Georgiou aufzeigt. Ob das Stichwort »griechische Statistiken« in einigen Jahren für die politisch motivierte Manipulation von Haushaltsdaten oder für zuverlässige, wissenschaftlich fundierte Expertise stehen wird, ist insofern noch nicht ausgemacht.

Zum Weiterlesen Klemm, Ulf-Dieter/Schultheiß, Wolfgang (Hg.) (2015): Die Krise in Griechenland. Ursprünge, Verlauf, Folgen. Frankfurt a.M.: Campus. Luhmann, Niklas (1992): Beobachtungen der Moderne. Opladen: Westdeutscher Verlag. DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-32293617-2 Schneider, Wolfgang Ludwig/Kusche, Isabel (2011): »Parasitäre Netzwerke in Wissenschaft und Politik«. In: Michael Bommes/ Veronika Tacke (Hg.): Netzwerke in der funktional differenzierten Gesellschaft. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaf-

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Systemtheorie ten, S. 173-210. DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-531-925974_8

Literatur Christides, Giorgos (2016): »Die verlorene Ehre des griechischen Chefstatistikers«. Spiegel Online 01.09.2016. Verfügbar unter: http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/griechenland-dieverlorene-ehre-des-griechischen-chefstatistikers-a-1110343.html (zuletzt abgerufen am 27.02.2018). ESGAB (European Statistical Governance Advisory Board) (2015): »Opinion of the European Statistical Governance Advisory Board (ESGAB), Urging Full Implementation of the Hellenic Statistical Law (3832/2010) and Greece’s Commitment on Confidence in Statistics«. Verfügbar unter: http://ec.europa.eu/eurostat/ do​cuments/34693/344453/2015_271_opinion+on+Greek+develop​ ments_15+03+24_final/c8cab733-3351-41c1-b990-0171e07cc4c0 (zuletzt abgerufen am 27.02.2018). Europäische Kommission (2010): »Bericht zu den Statistiken Griechenlands über das öffentliche Defizit und den öffentlichen Schuldenstand«. Verfügbar unter: http://ec.europa.eu/euro​stat/ de/web/products-eurostat-news/-/COM_2010_REPORT_GREEK (zuletzt abgerufen am 27.02.2018). Europäische Kommission (2016): »Commission Voices Concern Regarding Statements Calling into Question the Quality of Official Statistics in Greece«. European Commission Daily News 24.08.2016. Verfügbar unter: http://europa.eu/rapid/middayexpress-24-08-2016.htm (zuletzt abgerufen am 27.02.2018). ISI (International Statistical Institute) (2017): »Court Proceedings against Andreas Georgiou, Former Preseident of ELSTAT (the Hellenic Statistical Authority)«. Verfügbar unter: https://isi-web. org/images/news/Court%20proceedings%20against%20And​ reas%20%20Georgiou.pdf (zuletzt abgerufen am 27.02.2018).

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Isabel Kusche Konstandaras, Nikos (2017): »The Georgiou Affair: A Witch Hunt, Not a Thirst for Justice«. Kathimerini Online Edition 07.08.2017. Verfügbar unter: http://www.ekathimerini.com/220646/opinion/ ekathimerini/comment/the-georgiou-affair-a-witch-hunt-nota-thirst-for-justice (zuletzt abgerufen am 27.02.2018). Kusche, Isabel (2008): Politikberatung und die Herstellung von Entscheidungssicherheit im politischen System. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Luhmann, Niklas (1986): Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? Opladen: Westdeutscher Verlag. Luhmann, Niklas (1989): »Theorie der politischen Opposition«. In: Zeitschrift für Politik 36. S. 13-26. Luhmann, Niklas (1990): Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas ([1981] 2005a): Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation, 4. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag. Luhmann, Niklas ([1987] 2005b): Soziologische Aufklärung 4. Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, 3. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag. Savage, James D. (2006): »Member-State Budgetary Transparency in the Economic and Monetary Union«. In: Christopher Hood/ David Heald Transparency (Hg.): The Key to Better Governance? Oxford: Oxford University Press, S. 145-163. DOI: https://doi. org/10.5871/bacad/9780197263839.003.0009 Simitis, Costas (2004): »Greece’s Deficit Revision Damaged EU«. Financial Times 21.12.2004. Verfügbar unter: https://www.ft.com/ content/81534240-5389-11d9-b6e4-00000e2511c8 (zuletzt abgerufen am 27.02.2018).

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Kritische Theorie Postfaktizität und Geltung — Stößt die kommunikative Vernunft beim Rechtspopulismus an ihre Grenzen? Heiko Beyer In ihrer Begründung zur Entscheidung, das Wort ›postfaktisch‹ zum Wort des Jahres 2016 zu küren, erklärte die Jury der Gesellschaft für deutsche Sprache (2016), sie »richt[e] damit das Augenmerk auf einen tiefgreifenden politischen Wandel«, nämlich den, »[…] dass es in politischen und gesellschaftlichen Diskussionen heute zunehmend um Emotionen anstelle von Fakten geh[e]« und »[i]mmer größere Bevölkerungsschichten [bereit seien] in ihrem Widerwillen gegen ›die da oben‹ […], Tatsachen zu ignorieren und sogar offensichtliche Lügen bereitwillig zu akzeptieren.« Gemeinsam mit dem Zweifel, ob diese Verfallsthese denn selbst der empirischen Prüfung standhielte, ob es also wirklich einmal so viel besser um die Wahrheitsliebe des Volkes bestellt war, drängen sich vor allem zwei Fragen hier unmittelbar auf: Was genau soll mit dem Begriff des ›Postfaktischen‹ bezeichnet werden und inwiefern ist das Phänomen, das er benennen will, ein gesellschaftliches (und damit auch soziologisches) Problem? Wenn der Begriff einen Gegenwartszustand beschreiben soll, in dem zunehmend ›Fakten‹ und ›Tatsachen‹ dem emotionalen Effekt der Lüge zum Zweck un- oder sogar antidemokratischer Machterlangung und -erhaltung geopfert werden, wären zunächst die Begriffe des ›Faktums‹ und der ›Tatsache‹, sodann jene der ›Demokratie‹ und der ›Macht‹ zu präzisieren, bevor Urteile über Struktur und Verbreitung sogenannter »post-truth politics« (Suiter 2016) gefällt werden können. 83

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Wenige Theorien scheinen besser für diese Aufgabe geeignet als die von Jürgen Habermas vorgelegte Soziologie kommunikativen Handelns und deren demokratietheoretische und rechtssoziologische Erweiterungen. Gleichzeitig lässt sich in diesem Zusammenhang die habermassche Theorie auf ihre Aktualität hin befragen: Widerlegen die neueren Entwicklungen den Optimismus der kommunikativen Vernunft oder verlangen sie zumindest nach einer konzeptuellen Justierung der sie in Anschlag bringenden Theorie? Zunächst soll der vom Phänomen des ›Postfaktischen‹ herausgeforderte Gedanke kommunikativer Rationalität anhand der Hauptwerke Habermas’ – »Strukturwandel der Öffentlichkeit«, »Theorie des kommunikativen Handelns« und »Faktizität und Geltung« – rekonstruiert werden. Ausgerüstet mit dem entsprechenden theoretischen Arsenal lassen sich dann die in der öffentlichen Diskussion recht willkürlich verwendeten Begriffe der ›Tatsache‹, der ›Wahrheit‹ und der ›Lüge‹ hinreichend schärfen, um das Problem ›postfaktischer Politik‹ soziologisch kompetent zu bearbeiten. Der Beitrag endet mit einer abschließenden Würdigung und Kritik des habermasschen Theorieansatzes.

Strukturwandel der Öffentlichkeit Das Werk von Jürgen Habermas lässt sich als Versuch rekonstruieren, das Programm der »Dialektik der Aufklärung«, die Idee der praktischen Vernunft gegen deren instrumentelle Wirklichkeit zu wenden, unter veränderten gesellschaftlichen Vorzeichen zu aktualisieren und weiter zu denken (Wellmer 1985). Auch Habermas ([1962] 1990a, S. 152) ging es wie seinen Lehrern zunächst im Wesentlichen um die Bedingungen der »Einlösung der vergangenen Hoffnungen« (Horkheimer und Adorno [1944/47] 1997, S. 15), d.h., um die Realisierung des mit der Aufklärung freigesetzten Potentials menschlicher Vernunft. Noch bevor Habermas den zugrundeliegenden Begriff der Vernunft 84

Kritische Theorie

explizit als ›kommunikative‹ attribuierte und sich die Theorieelemente der Sprachpragmatik und Sozialphänomenologie angeeignet hatte, revidierte er jedoch bereits die materialistischen (marxschen und freudschen) Vorzeichen, unter denen Horkheimer und Adorno noch ihre Ideologiekritik in der »Dialektik der Aufklärung« formuliert hatten. Ideologiekritisch ist zwar auch Habermas’ 1962 veröffentlichte Habilitationsschrift »Strukturwandel der Öffentlichkeit« noch konzipiert, indem sie aufzeigt, inwiefern die emphatische Vorstellung einer liberalen ›politischen Öffentlichkeit‹ an die verzerrte Selbstwahrnehmung der bürgerlichen Gesellschaft als »Eden der angebornen Menschenrechte« (Marx [1867] 1986, S. 189) – d.h., an die falsche Vorstellung eines gerechten Äquivalententauschs – geknüpft ist. Aber die Bemerkungen zur ökonomischen Struktur der bürgerlichen Gesellschaft sind bei Habermas weitestgehend nur noch kursorischer Natur. Das Kapitel zu Marx und Hegel (§14) war sogar nicht einmal Teil der offiziell eingereichten Habilitationsschrift (Habermas 1990b, S.  53). Im Mittelpunkt von »Strukturwandel der Öffentlichkeit« steht denn auch nicht die ökonomische Analyse der bürgerlichen Gesellschaft, sondern die des öffentlichen Diskurses, dem bereits zu diesem Zeitpunkt des Schaffens aufgrund seiner demokratisierenden Wirkung zugetraut wird, die Bürde der praktischen Vernunft zu tragen. »Strukturwandel der Öffentlichkeit« ist dennoch pessimistischer als das reife Werk Habermas’. Nicht nur gesteht es ein, dass es sich bei der Idee einer allgemeinen politischen Öffentlichkeit, im Sinne einer »vierten Gewalt«, die korrektiv auf den Staat und dessen Rechtssystem Einfluss nimmt, schon immer auch um Ideologie gehandelt habe (Habermas [1962] 1990a, S. 195ff.). Nur kurz und punktuell habe jene Sphäre real existiert. Und keineswegs konnten alle im Staat am öffentlichen Diskurs partizipieren: Frauen, Nichteigentümern und Ausländern waren 85

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in der Regel der Zugang zu den Diskusarenen politischer Öffentlichkeit untersagt (ebd., S.  188). Auch zeichnet Habermas hier ein sehr viel unheilvolleres Bild der Gegenwart als 30 Jahre später: In der Massendemokratie des modernen Sozialstaats dehne sich die Sphäre der Öffentlichkeit zwar einerseits aus, verlöre aber ihre politische Funktion (ebd., S.  225ff.). Kennzeichnete der Bereich der politischen Öffentlichkeit im liberalen Rechtsstaat noch jenen nicht-staatlichen Teilbereich des Privaten, der vor dem Eindringen der »öffentlichen Gewalt« des Staates per Verfassung zu schützen war (ebd., S. 326ff.), so interveniere der seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert sich in Deutschland durchsetzende Typus des verwaltenden Sozialstaats immer nachhaltiger in die Privatsphäre der Individuen und damit auch in jenen Bereich privater Öffentlichkeit, aus dem einst die »öffentliche Meinung« als Resultat rationaler Rede und Gegenrede emergierte (ebd., S. 89ff.). Nicht nur werde im modernen Sozialstaat »Gesellschaft verstaatlicht«, sondern der Staat werde auch gleichzeitig »vergesellschaftet«: Der Zusammenschluss großer Firmen zu einflussreichen Oligopolen bringe eine Konzentration wirtschaftlicher Macht hervor, die es mit der staatlichen aufnehmen könne. Das Idyll eines »kulturräsonierenden Publikums« privater Kleinproduzenten nehme nun die Form eines »kulturkonsumierenden Publikums« von Angestellten an, das dem Dauerfeuer der Werbung durch Warenproduzenten und politischen Kampagnen ausgesetzt sei (ebd., S. 225ff.). Dieses kulturpessimistische Verdikt wird Habermas später relativieren und »die in der liberalen Öffentlichkeit aufbrechenden Spannungen […] als Potentiale der Selbsttransformation« (Habermas 1990b, S.  21; Herv. HB) würdigen. Diese Erkenntnis basiert auf einer ausformulierten Theorie kommunikativer Vernunft, deren Differenzierungen es erlauben, die bereits in »Strukturwandel der Öffentlichkeit« angelegte, dort aber nur in melancholisch kulturpessimistischer Form vorgetragene 86

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Grundannahme diskursiver Rationalität gegen kritische Einwände zu immunisieren.

Theorie des kommunikativen Handelns Habermas ([1981] 1997a, S. 8) selbst skizziert den thematischen Rahmen seines Hauptwerks »Theorie des kommunikativen Handelns« folgendermaßen: Erstens geht es ihm um die Explizierung des Begriffs »kommunikativer Rationalität«, der bereits, wie gezeigt, in »Strukturwandel der Öffentlichkeit« kursorisch und implizit eingeführt wird. Zweitens entwirft er ein zweigliedriges Modell der Gesellschaft, das aus den komplementären Sphären »System« und »Lebenswelt« zusammengesetzt ist und aus den entsprechenden ideengeschichtlichen Traditionen destilliert wird. Drittens beschreibt Habermas eine (kritische) Theorie der Moderne, die »pathologische« Erscheinungen der Gegenwart aus der »Kolonialisierung der Lebenswelt« durch das System ableitet. Die Präzisierung des Begriffs des »kommunikativen Handelns« erfolgt zunächst durch die analytische Zerlegung in seine drei idealtypischen Kernelemente (Habermas [1981] 1997a, S. 384ff.): Aussagen über Sachverhalte (»Konversation«), Normen (»normregulierendes Handeln«) und das Selbst (»dramaturgisches Handeln«). »Kommunikatives Handeln« unterscheide sich vom »strategischen Handeln« darin, dass es statt auf Erfolg auf Verständigung ziele. Es unterstelle dabei implizit immer drei, in den Idealtypen aufscheinende, Geltungsansprüche: auf Wahrheit des geäußerten Sachverhaltes, auf Richtigkeit einer zugrundeliegenden Norm und auf Wahrhaftigkeit der Selbstpräsentation des Sprechenden (Habermas [1981] 1997a, S. 439). Werden jene drei zugrundeliegenden Geltungsansprüche expliziert, wechselt die Interaktion in den reflexiven Modus des »Diskurses«. Das gesellschaftstheoretische Pendant zum Begriff des kommunikativen Handelns findet Habermas im phänomenolo87

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gischen Konzept der »Lebenswelt« (vgl. Habermas [1981] 1997b, S. 173ff.). Die Lebenswelt stellt den in der Regel unhinterfragten kulturellen, gesellschaftlichen und persönlichen Hintergrund der AkteurInnen dar. In dieser Sphäre treten Individuen miteinander in Interaktion und d.h. vor allem, sie sprechen mit- und interpretieren einander. Das unterscheidet die Lebenswelt von der Sphäre des »Systems«, dessen Kommunikation »medienbasiert« zirkuliert. Habermas hat hier vor allem den Staat und die Ökonomie im Auge, die über die allgemeinen Medien der Macht und des Geldes vermittelt werden und damit weitestgehend »entsprachlicht« funktionieren. Die Tendenz der »Entsprachlichung« mache nun jedoch nicht auf der Ebene des Systems halt. Vielmehr würden die Systemimperative in die verständigungsorientierten Gesellschaftsbereiche eingreifen und deren kommunikative Rationalität unterminieren: »[D]as Eindringen von Formen ökonomischer und administrativer Rationalität in Handlungsbereiche, die sich der Umstellung auf die Medien Geld und Macht widersetzen, weil sie auf kulturelle Überlieferungen, soziale Integration und Erziehung spezialisiert sind und auf Verständigung als Mechanismus der Handlungskoordinierung angewiesen bleiben« bringe eine »Verdinglichung der kommunikativen Alltagspraxis« (Habermas [1981] 1997b, S. 488) hervor. Wie schon in »Strukturwandel der Öffentlichkeit« nennt Habermas (ebd., S. 530ff.) die Verrechtlichung des privaten Bereichs, die insbesondere seit der Entwicklung des Sozialrechts zu beobachten sei, als wichtigsten Beleg dieser Tendenz. Es ist daher kein Zufall, dass der finale Schritt seiner intellektuellen Entwicklung ihn in das Gebiet der Rechtssoziologie führen sollte.

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Faktizität und Geltung In »Faktizität und Geltung« nimmt Habermas die Fäden, die er mit »Strukturwandel der Öffentlichkeit« und der »Theorie des kommunikativen Handelns« ausgelegt hat, wieder auf und verknüpft sie zu einer Theorie des demokratischen Rechtsstaats. Das moderne System der Rechte soll dabei nicht weniger als eine »Scharnierfunktion zwischen System und Lebenswelt« (Habermas [1992] 2017, S.  77) einnehmen: Es übersetzt die verständigungsorientierte, mit normativen Botschaften angereicherte Sprache letzterer in die mediengesteuerte, über Codes zirkulierende Kommunikation ersterer und vice versa. Dem System der Rechte kommt mithin keine geringere Aufgabe zu, als die gesamtgesellschaftliche Integration von Wirtschaft, Staat und lebensweltlicher Solidarität zu leisten. Diese Aufgabe kann das Recht nur übernehmen, weil es selbst widersprüchliche Momente in sich vereint. Einerseits geriert es sich als Faktum, das dem Subjekt als ›kasernierte Staatsmacht‹ gegenübertritt und im Zweifelsfall vom staatlichen Gewaltmonopol Gebrauch macht. Andererseits beansprucht es Legitimität. D.h., seine Geltung soll prinzipiell diskursiv einholbar sein, kann hinterfragt und rational erörtert werden. Dabei sind es weder allein die Diskurse um moralische, noch jene um ethisch-politische oder pragmatische Gründe, die das Rationalitätspotential des Rechts garantieren. Vielmehr legitimiere sich bereits in der demokratischen Verfahrensmäßigkeit der Rechtssetzung als solcher »administrative Macht« durch »kommunikative Macht« (Habermas [1992] 2017, S. 183). Das in »Theorie des kommunikativen Handelns« entworfene allgemeine Diskursprinzip kommunikativer Rationalität wird durch das System der Rechte in ein konkretes Demokratieprinzip überführt (ebd., S. 154); »das Verfahren deliberativer Politik [ist hierbei] das Kernstück des demokratischen Prozesses« (ebd., S. 359). Im Gegensatz zum republikanischen Modell 89

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deliberativer Demokratie will die Diskurstheorie des Rechts die anspruchsvolle Annahme einer politisch aktiven Bürgerschaft, die den Staat in Schach hält, jedoch etwas lockern. Die Institution des Rechts sei an sich schon Garant eines demokratischen Verfahrens: Es sichert faktisch durch Institutionalisierung die in den positiven Freiheiten politischer Teilhaberechte zum Ausdruck kommenden »Kommunikationsvoraussetzungen« (ebd., S. 361f.). Ganz kommt aber auch Habermas nicht ohne die aus kompetenten BürgerInnen bestehende »räsonierende Öffentlichkeit« aus, die er 30 Jahre zuvor schon fast abgeschrieben hatte. »Denn die institutionalisierte Meinungs- und Willensbildung ist auf Zufuhren aus den informellen Kommunikationszusammenhängen der Öffentlichkeit, des Assoziationswesens und der Privatsphäre angewiesen.« (Ebd., S. 427) Das politische System stehe mit den zivilgesellschaftlichen Organisationen der Lebenswelt, anders als die Systemtheorie behauptet, in beständigem kommunikativen Austausch. Nur so lässt sich überhaupt das Legitimationsproblem hochkomplexer Gesellschaften lösen. Vor allem die sogenannten »Neuen Sozialen Bewegungen« (z.B. Umwelt-, Friedens- und Dissidentenbewegungen; vgl. Habermas 1981) werden als Belege für den Einfluss der zivilgesellschaftlichen Peripherie auf das Zentrum des politischen Systems ins Feld geführt (vgl. Cohen und Arato 1994). Gleichzeitig weist Habermas ([1992] 2017, S.  449) jedoch auf die Grenzen jener öffentlichen Mobilisierung hin: Zum einen bedarf es einer »vitalen Bürgerschaft«, die ihrerseits erst in einer freiheitlichen Kultur und unter emanzipatorischen Sozialisationsbedingungen gedeiht. Zum anderen kann und soll die öffentliche Meinung lediglich Einfluss nehmen, nie jedoch selbst die politische Macht an sich reißen. Im demokratischen Rechtsstaat müssen die zivilgesellschaftlichen Initiativen erst die Filter rechtlicher Verfahren durchlaufen, bevor sie zu administrativer Macht gerinnen. 90

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Fazit: Postfaktizität und kommunikative Vernunft Was können wir nun aus diesen Überlegungen für das Phänomen populistischer, ›postfaktischer‹ Politik gewinnen? Zunächst lassen sich zwei Ebenen der ›post-truth politics‹ unterscheiden: rechtspopulistische Bewegungen und rechtspopulistische Regierungen. Erstere gehören zum Bereich zivilgesellschaftlich organisierter Öffentlichkeit und letztere zum Bereich des politischen Systems. Es ist kein Zufall, dass das Phänomen erst in die soziologische Wahrnehmung gerückt ist, nachdem ein rechtspopulistischer Kandidat in einer der traditionsreichsten Demokratien die Präsidentenwahl für sich entscheiden konnte, während rechtspopulistische und -extreme Bewegungen im Rest der Welt alles andere als ein Novum darstellen. In gewissem Sinne lassen sich die Wahlerfolge des Rechtspopulismus als Resultat erfolgreicher zivilgesellschaftlicher Mobilisierung vor allem gegen Migration und Globalisierung verstehen. In dem Moment, in dem rechtspopulistische Regierungen an die Macht kommen, verwandelt sich jedoch ›kommunikative Macht‹ in ›administrative Macht‹, z.B. in die Faktizität rigider Asylgesetze oder in das Verbot gleichgeschlechtlicher Ehen. Solange solche Gesetze der ›öffentlichen Meinung‹ nicht widersprechen, können sie, folgt man der habermasschen Theorie, durchaus Legitimität und mithin kommunikative Vernunft beanspruchen. Kaum zufällig führt der Rechtspopulismus denn auch plebiszitäre Argumente ins Feld, etwa wenn er die ›Elitenherrschaft‹ kritisiert und mehr Demokratie fordert. Im Grunde kann das skurrile Phänomen der ›Postfaktizität‹ als Begleiterscheinung einer die fundamentale Gesellschaftskritik der Neuen Linken mimenden Elitenkritik verstanden werden: Dass die Beraterin Trumps, Kellyanne Conway, sich vor laufender Kamera dazu hinreißen ließ, klar als Falschaussagen erkennbare Sachverhalte als »alternative facts« zu bezeichnen, 91

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ist die konsequente Folge einer Politik, deren Selbstverständnis gemäß alle drei Geltungsansprüche des ›politischen Establishments‹ – Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit – der schonungslosen Kritik zu unterziehen sind. Während jedoch der Vorwurf mangelnder Authentizität der Selbstrepräsentation der PolitikerInnen und eine auf partikulare (nämlich nationalistische) Solidarität rekurrierende Gerechtigkeitsdebatte leicht als begründet erscheinen kann, wird die Absurdität der ›Kritik‹ am Fall konstatierender Aussagen schnell offensichtlich. Dies liegt daran, dass diese Aussagen sehr viel voraussetzungsloser zu prüfen sind als dramaturgische und normative. Ob ein/e PolitikerIn wirklich meint, was sie sagt, ihr Mitgefühl echt, ihre Solidarität authentisch ist, lässt sich nur schwer herausfinden. Noch anspruchsvoller ist der Diskurs um Gerechtigkeit, also um die moralischen Normen, die für alle und überall gelten sollten. Ein solcher Diskurs setzt eine politisch gebildete und kompetente Öffentlichkeit sowie ein an sein demokratisches Berufsethos gebundenes Pressewesen voraus. Letzteres wird nicht nur durch systematisch lancierte Falschaussagen in sozialen Netzwerken, sondern auch durch Angriffe aus Regierungskreisen, die etablierte Medien als fake news media denunzieren, unterminiert. Habermas selbst hat dieses Problem durchaus gesehen: »[E]ine vitale Bürgerschaft [kann sich] nur im Kontext einer freiheitlichen politischen Kultur und entsprechender Sozialisationsmuster sowie auf der Basis einer unversehrten Privatsphäre herausbilden – sie kann sich nur in einer schon rationalisierten Lebenswelt entfalten. Sonst entstehen populistische Bewegungen, die die verhärteten Traditionsbestände einer von kapitalistischer Modernisierung gefährdeten Lebenswelt blind verteidigen.« (Habermas [1992] 2017, S. 449)

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Allein über die Entstehungsbedingungen jener ›freiheitlichen politischen Kultur‹ sowie die gesellschaftlichen Ursachen autoritärer Sozialisationsmuster verrät das Spätwerk Habermas’ nur noch wenig; nicht zuletzt, weil es möglicherweise die Totalität ›kapitalistischer Modernisierung‹, die einer politischen Kultur und emanzipierenden Sozialisationsstrukturen enge Grenzen setzen, unterschätzt. Ein zweiter blinder Fleck ergibt sich aus dem Formalismus der Theorie kommunikativen Handelns. Die Potentiale praktischer Vernunft werden aus der Verfahrensmäßigkeit des Rechts und letztlich der integrierenden Funktion der Sprache als Verständigungsmedium hergeleitet. Was aber, wenn sich die AkteurInnen wie im Fall des Rechtspopulismus auf eine rassistische Politik verständigen und diese in gesatztes Recht überführen? Die kommunikative Vernunft kann scheinbar aus sich selbst heraus kein Argument gegen die Unmenschlichkeit hervorbringen, wie man unter Anverwandlung eines Verdikts der »Dialektik der Aufklärung« (Horkheimer und Adorno [1944/47] 1997, S. 140) formulieren könnte. Sie steht noch in der ambivalenten Tradition moderner Rationalität, die anstatt ihr Versprechen einzulösen, den Menschen aus seiner ›selbst verschuldeten Unmündigkeit‹ zu führen, ihrerseits zur sozialen Faktizität gerinnt.

Zum Weiterlesen Benhabib, Seyla (1991): »Modelle des öffentlichen Raums: Hannah Arendt, die liberale Tradition und Jürgen Habermas«. In: Soziale Welt 42, 2. S. 147-65. Honneth, Axel/Joas, Hans (Hg.) (1986): Kommunikatives Handeln: Beiträge zu Jürgen Habermas’ »Theorie des kommunikativen Handelns«. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Heiko Beyer Zwarg, Robert (2009): »Jürgen Habermas und die Kritik des ›Produktionsparadigmas‹«. In: Kulturwissenschaftliche Studien 10. S. 32-47.

Literatur Cohen, Jean L./Arato, Andrew (1994): Civil Society and Political Theory. Cambridge: MIT Press. Gesellschaft für deutsche Sprache (2016): »GfdS wählt ›postfaktisch‹ zum Wort des Jahres 2016«. Pressemitteilung vom 09.12.2016. Verfügbar unter: https://gfds.de/wort-des-jahres-2016/ (zuletzt abgerufen am 05.04.2018). Habermas, Jürgen (1981): »New Social Movements«. In: Telos 49. S. 33-37. DOI: https://doi.org/10.3817/0981049033 Habermas, Jürgen ([1962] 1990a): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermas, Jürgen (1990b): »Vorwort«. In: Ders. (Hg.): Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuauflage. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 11-50. Habermas, Jürgen ([1981] 1997a): Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermas, Jürgen ([1981] 1997b): Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2: Zur Kritik des funktionalistischen Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermas, Jürgen ([1992] 2017): Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. ([1944/47] 1997): »Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente«. In: Theodor W. Adorno (Hg.): Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 3. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Marx, Karl ([1867] 1986): »Das Kapital, Bd. 1«. In: MEW 23. Berlin: Dietz.

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Kritische Theorie Suiter, Jane (2016): »Post-Truth Politics«. In: Political Insight 7. S. 2527. DOI: https://doi.org/10.1177/2041905816680417 Wellmer, Albrecht (1985): Reason Utopia, and the Dialectic of Enlightenment. In: Richard J. Bernstein (Hg.): Habermas and Modernity. Cambrige: MIT Press, S. 35-66.

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Medienökologie II Wozu Fakten, wenn es auch Affekte tun? Zur Medienökologie des Rechtspopulismus und seinen Strategien der Affizierung Christian Helge Peters

Die Aktualität des (Rechts-)Populismus Alle sind überrascht. Alles scheint anders, alles scheint neu, alles scheint gefährdet… alternative Fakten und Affekte bestimmten nun die gegenwärtige Politik der Welt – so ließe sich der öffentliche Diskurs über die veränderte politische Lage spätestens seit letztem Jahr zuspitzen. Die Erfolge der AfD, Donald Trumps, des Front National, der FPÖ, Rodrigo Dutertes oder der BrexitKampagne werden oftmals als paradigmatische Beispiele für einen fundamentalen Wandel in der gegenwärtigen Politik herangezogen. Als Sammelbezeichnung für diese Phänomene dient dabei häufig der überaus schwammige Begriff des ›Populismus‹. Dieser Begriff wird dazu verwendet, den Angriff vor allem rechter Bewegungen auf die Wahrheit und Rationalität politischer Prozesse auszudrücken – in den Fokus der Analysen gerät deshalb die Frage nach den Fakten und Affekten. Zur gleichen Zeit gibt es neben diesen politisch rechten Bewegungen auch dezidiert linke politische Bewegungen, die sich im Anschluss an Ernesto Laclau ([2005] 2007) und Chantal Mouffe (2008) positiv auf das Konzept des Populismus beziehen. Zu nennen wären hier Podemos in Spanien oder linke Bewegungen gerade in Latein- und Südamerika. Dieser Strang soll aber nun nicht weiter diskutiert werden. Am Phänomen des Rechtspopulismus interessiert mich im Folgenden vor allem das Verhältnis von Fakten und Affekten. 97

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Meine Argumentation lässt sich dabei folgendermaßen vorweg skizzieren: Unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen medialen Bedingungen werden Affekte und Affizierungen gegenüber kommunikativer Verständigung als Modus der Organisation von populistischen Kollektiven dominant. Die technisch-medialen Infrastrukturen ermöglichen es, verschiedene Körper zu affizieren und dabei unmittelbarer sowie direkter zu versammeln, als es inhaltliche Verständigungen könnten. Dies ist die besondere neue (mediale) Qualität des Rechtspopulismus. Mit dem dominanten Einfluss von Affekten im Rechtspopulismus bildet sie wiederum eine Form von politischer Kollektivität, die als Masse bestimmt werden kann. Massen funktionieren über körperliche Anziehungs- und Abstoßungsprozesse. Fakten, Argumente und Inhalte treten in Massen hinter Affizierungsprozessen zurück. Zwei zentrale Modi der Affizierung sind besonders wirkmächtig und mobilisierend in gegenwärtigen rechtspopulistischen Kollektiven: Zum einen drückt die Hoffnung neue Potentiale aus, etwas grundlegend in der Gesellschaft verändern zu können. Die Angst triggert zum anderen ein Bild allgegenwärtiger Gefahren und des Verfalls der eigenen Gesellschaft. Imaginierter Fluchtpunkt der rechtspopulistischen Politik ist eine ›reine‹ Gemeinschaft.

Die Besonderheit des gegenwärtigen Rechtspopulismus Mit einem ersten Blick auf die gemeinsamen Themen, Feindbilder und Strategien bspw. von Trump und der AfD fällt auf, dass Vieles gar nicht neu ist: Größtes Thema sind die Flüchtlingsbewegungen, die instrumentalisiert, skandalisiert und übertrieben werden. Trump und die AfD schüren die Angst vor ›Fremden‹. Flüchtlinge scheinen grundsätzlich nicht den Gesetzen und Gewohnheiten des jeweiligen Landes entsprechen zu können, mehr noch, sie sind potentiell ›TerroristInnen‹. Der 98

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rhetorische Style dieser rechtspopulistischen Politik ist gekennzeichnet von Skandierungen, Wutausbrüchen und medialen Shitstorms. Auf diese Weise werden Affekte der Bevölkerungen getriggert und neue UnterstützerInnen affiziert, die sich dann diesen Positionen anschließen. Als besonders bedrohlich werden in den meisten Analysen dieser Bewegungen die Gefahren für das politische System diskutiert: Mit ihrer Verbreitung von ›alternativen Fakten‹ und ihrem Fokus auf Affekte gefährde der Rechtspopulismus die Ideen von Wahrheit und Rationalität, die immer weniger wirkmächtig zu sein scheinen. Zugespitzt formuliert: Neu sind die politischen Strategien des Rechtspopulismus nicht. Bevor die Bedrohung und Auflösung der Idee der Wahrheit als ›fake news‹ oder ›alternative Fakten‹ bezeichnet wurde, hieß es einfach, dass eine politische Position auf einer Lüge begründet sei. Über das Verhältnis von Wahrheit und Politik hat Hannah Arendt ([1967] 2016) einen zentralen Essay verfasst. Auch zur Rolle von Affekten im Politischen haben bereits Leo Löwenthal, Theodor W. Adorno, Wilhelm Reich oder Jean-Paul Sartre geschrieben. Ihre zentralen Gegenstände waren der Faschismus und Nationalsozialismus. Die neue Qualität des Rechtspopulismus muss – so meine These – an anderer Stelle liegen. Ernst genommen verweist der Begriff des Populismus noch in eine andere Richtung: Der Begriff des Populismus ist vor allem eine Formbezeichnung für eine bestimmte Politik, keine primär inhaltliche Bestimmung, denn rechte und linke Politiken können populistisch sein. Es sind nicht primär die Inhalte dieser rechten politischen Bewegung, die dieser Begriff fassen kann. Ihre Inhalte lassen sich tatsächlich besser mit Begriffen wie ›Rassismus‹, ›Faschismus‹, ›Antifeminismus‹, ›Antisemitismus‹ oder ›Verschwörungstheorien‹ beschreiben. In dieser vermeintlichen Schwäche könnte jedoch zugleich die Stärke des Begriffs liegen.

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Die Medienökologie von Affekten und die Entstehung von Massen Doch was genau ist das Neue an den gegenwärtigen populistischen Kollektiven um Trump und AfD? Neu ist meines Erachtens nach die besondere »Medienökologie« der Affekte, wie ich im Anschluss an Marie-Luise Angerer (2017) festhalten würde. Unter der »technologischen Bedingung«, wie sie auch Erich Hörl (2011) beschreibt, kann eine umfassende Mediatisierung der gegenwärtigen Gesellschaft verstanden werden. Hörl beschreibt eine gesellschaftliche Situation, die durch eine umfassende technische Vernetzung von Subjekten vor allem durch ihre internetfähigen Smartphones, durch soziale Netzwerke wie Facebook, Twitter oder Instagram sowie durch Messengerdienste wie WhatsApp geprägt ist. Bilder, Nachrichten und alle Arten von Informationen erreichen hier äußerst schnell sehr viele Subjekte, die wiederum quasi zu jeder Zeit und an jedem Ort diese Informationen teilen, ergänzen oder kommentieren können. Informationen verbreiten sich auf diese Weise innerhalb kürzester Zeit potentiell weltweit. Unter diesen gesellschaftlichen Bedingungen bedeutet ein Wiedererstarken rechtspopulistischer Kollektive und die damit einhergehende Wiederkehr der Affekte eine Wiederkehr der Masse. Denn es aktualisiert sich gegenwärtig verstärkt eine Form von Kollektivität, die zu Beginn der Moderne von Autoren wie Gustave Le Bon ([1911] 1982) oder Gabriel Tarde ([1901] 2015) als »Masse« gefasst wurde. Aufgrund ihrer Einbettung in technische »Infrastrukturen« (Larkin 2013) können Affekte und Affizierungen gegenwärtig eine solche Kraft entfalten, die affektive Kollektive als Massen konstituieren. Gerade am Fall von rechtspopulistischen Kollektiven wie der AfD, Pegida oder den AnhängerInnen von Trump lässt sich diese Wiederkehr kollektiver Affekte in Massen exemplarisch verdeutlichen.

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Politiken der Affizierung Rechtspopulistischen Massen ist gemeinsam, dass sie nicht – wie politische Kollektive wie Parteien oder Interessenvertretungen – ausschließlich mit Logiken der Repräsentation, Identität oder Rationalität beschrieben und verstanden werden können. D.h., dass Massen nicht primär gemeinsame Ziele, Argumente, gleiche Interessen, politische Selbstbeschreibungen oder Weltanschauungen, einheitliche und formale Organisationsformen zusammenbringen und auf dieser Grundlage als politisches Kollektiv funktionieren. Massen lassen sich vielmehr durch ihre vielfältigen Affizierungsprozesse verstehen, die primär auf einer anderen Ebene verlaufen als der einer sinnhaften, inhaltlichen und argumentativen Verständigung und Repräsentation (vgl. Lash 2007). Sie funktionieren also anders als die anderen politischen Kollektive, weil die Momente universeller Wahrheit, rationaler Beweggründe und Argumentationen tendenziell hinter Affektionen zurücktreten – Affekte ersetzen insofern Fakten als primären Modus der Organisation von populistischen Kollektiven. Im Anschluss an Baruch de Spinoza ([1677] 1994), Gilles Deleuze und Félix Guattari ([1972] 1977) wie auch Brian Massumi (2002, [2005] 2010) lässt sich unter einem Affekt, wie er hier verwendet werden soll, »die Affektion des Körpers, durch die die Wirkkraft des Körpers vermehrt oder vermindert, gefördert oder gehemmt wird, und zugleich die Ideen dieser Affektionen« (Spinoza [1677] 1994, S. 110) verstehen. Affekte sind eine Qualität der Verbindung zwischen unterschiedlichen Körpern und nicht persönlich an ein Subjekt gebunden. Affekte initiieren Anziehungs- und Abstoßungsprozesse zwischen Körpern im Kollektiv mit daraus resultierender Vermehrung oder Verminderung der vitalen Vermögen der involvierten Körper. Da sich Affekte Intentionen und Interessen eines Subjekts weitestgehend entziehen, sind die körperlichen Veränderungen durch Affekte quasi-automatisch. Affekte entfalten eine eigenständige materielle 101

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Wirksamkeit im Sozialen. In dieser Hinsicht sind sie »autonom« (Massumi 2002, S. 23-45). Affekte und Affizierungen in diesem Sinne sind primär produktiv und aktivierend. Als ein Kollektivierungsprozess verbinden Affekte vielfältige Körper überhaupt erst zu einem Kollektiv und entfalten dabei in den Körpern neue Potentiale. Sie steigern bspw. die Aktivität, Stärke und Selbstwirksamkeit der einzelnen Körper im Kollektiv. Die neuen sozialen Medien und die Möglichkeiten eines umfassenden Informationsaustauschs sowie von (affektiven) Nachahmungsprozessen auch über weite Räume hinweg erhöhen eine kommunikativ-affektive Anschlussmöglichkeit, um sich überhaupt erst als Kollektiv zu verbinden (vgl. Bennett und Segerberg 2012). Für die affizierende Wirkung von Informationen in einer Masse ist es nicht entscheidend, ob sie wirklich wahr sind – gerade Gerüchte, deren Wahrheitsgehalt ›gefühlt‹ wird, entfalten eine sehr viel stärkere Anziehungskraft. Solche Affizierungen verbinden die Subjekte schneller, direkter und unmittelbarer als eine argumentative Verständigung über die inhaltliche Ausrichtung eines Kollektivs. Mehr noch, politische Differenzen, unterschiedliche Interessen und Lebenswirklichkeiten treten tendenziell in den Hintergrund. Affekte ermöglichen eine argumentativ inkonsistente und widersprüchliche Politik. Diese Politik kann auch schnell ihren inhaltlichen Fokus verändern, wenn andere Themen oder Probleme im öffentlichen Diskurs relevant geworden sind. Dies hat aber keinen sonderlichen Einfluss auf die UnterstützerInnen des Rechtspopulismus, denn Widersprüche in einer Masse können durch Affektionen überdeckt werden. Wegen ihrer ansteckenden Wirkung verbreiten sich affizierende Informationen im Internet und über mobile Devices sehr schnell und erleichtern es darüber hinaus affizierten Subjekten sich auch spontan im Internet oder auf den Straßen zu versam102

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meln und aktiv zu werden. So verweisen Massen wie Pegida, Bürgerwehren oder die spontanen Wutausbrüche und Demonstrationen der Trump- bzw. AfD-AnhängerInnenschaft auf die Hybridität von urbanen und digitalen Räumen. Es sind meist besondere Ereignisse, die letztlich die Initialzündung für affektive Kollektivierungen bereiten. Diese Kollektivierungen sind Vereinheitlichungen; sie bilden zumeist mehr oder weniger temporäre Massen, in denen unterschiedliche Körper wie eine geschlossene Einheit mit gleichen ›Reaktionsmustern‹ funktionieren, weshalb sie auf die gleichen Ereignisse gleich oder zumindest sehr ähnlich reagieren. Affekte können dabei unterschiedliche Formen annehmen und besetzen vielfältige Objekte und Ideen. Im eigenen Kollektiv zirkulieren meist Affekte des Zusammenhalts, der Liebe und Zuneigung (vgl. Ahmed 2004a). Im Gegensatz zum ›Innen‹ ist der Bezug auf das ›Außen‹ von anderen Affekten geprägt. Im Fall des Rechtspopulismus sind es die Angst vor vermeintlichen Bedrohungen wie ›dem Fremden‹, ›dem Flüchtling‹, ›dem Terroristen‹, ›der Elite‹, ›der Genderideologie‹, ›der Political Correctness‹ sowie der gleichzeitige Hass auf diese. Die politischen Reaktionen von affektiven Kollektiven sind gekennzeichnet von einer übersteigerten Intensität, Expressivität und Exzessivität. Sie entfalten potentiell eine unkontrollierbare Eigendynamik in ihrer Erregtheit, Mitgerissenheit und ihrem Enthusiasmus. In exzessiven Kollektiven sind Nachahmungen und Affizierungen besonders spontan, schnell und nahezu widerstandsfrei. Exzessive Kollektive werden in ihrer höchsten Intensität zu einer »Hetzmasse« im Sinne Elias Canettis ([1960] 2014, S. 54ff.), wenn sie ohne Zögern wie im Rausch von ihnen als gefährlich eingestufte Subjekte bedrohen und angreifen.

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Modi der Affizierung: Hoffnung und Angst Natürlich hat diese spezifische Form der Politik auch inhaltliche Konsequenzen. Die Ideen, die rechtspopulistische Kollektive konstituieren und sie anschlussfähig für andere Subjekte machen, müssen aufgrund ihrer spezifischen Medialität einfach und direkt sein. Kurze, schmissige und gefühlsgeladene Parolen oder Botschaften verbreiten sich medial am besten und wirken am ehesten affizierend. Die dabei affektiv-konstruierte Welt ist meist ziemlich simpel, eingängig und unterkomplex. Der Rechtspopulismus arbeitet mit starken Bildern und Narrativen. Ein Grund, warum Twitter so eine passende technologische Infrastruktur ist: Es ist preiswert und damit gut erreichbar, die Texte sind kurz, emotional und lassen sich leicht verbreiten. In meinen letzten Ausführungen möchte ich kurz zwei der zentralen Strategien des Rechtspopulismus aufgreifen: Es sind die Politiken der ›Hoffnung‹ und der ›Angst‹, wie ich nun vor allem in Rückgriff auf die Arbeiten von Arlie R. Hochschild (2016) und Ben Anderson ([2016] 2017) darlegen möchte: 1. Hoffnung: Der Rechtspopulismus ist für seine UnterstützerInnen eine Antwort auf ihre vielfältigen Probleme. Affekte, wie sie hier verstanden werden, entfalten neue Potentiale in den Kollektiven und Subjekten. Die affizierten Subjekte haben das Gefühl, endlich etwas ändern und nun ihre individuelle Zukunft und die der Gesellschaft selbst gestalten zu können. So eröffnet sich für sie die vorher starre und hoffnungslose Gegenwart einer besseren Zukunft, einer Alternative. Affektive Kollektive entfalten mit ihrem Zusammengehörigkeitsgefühl eine Hoffnung auf eine bessere Welt, in der die Bedürfnisse, Werte, Ideen und Interessen der UnterstützerInnen endlich hegemonial werden (können). So verkörpern Trump und die AfD eine hoffnungsvolle Zukunft, in der die emotionalen und ökonomischen Interessen ihrer UnterstützerInnen befriedigt werden.

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2. Angst: Der Rechtspopulismus zeichnet das Bild einer fundamentalen Krise in ihren jeweiligen Gesellschaften. Diese seien besonders bedroht durch ›terroristische Flüchtlinge‹ und ›Liberale‹ in den USA bzw. ›Links-Rot-Grüne‹ in Deutschland, die die wirklichen und ursprünglichen Werte, Bräuche und Ideale des eigenen Landes angreifen würden. Die Krise sehen sie auch in dem vermeintlich nahenden sozialen Abstieg durch Arbeitslosigkeit oder der Dominanz von ›Genderideologie‹, ›Political Correctness‹ und ›FeministInnen‹ in allen Bereichen der Gesellschaft, die das, was wirklich ›deutsch‹ bzw. ›amerikanisch‹ sei, unterdrückten. Ob es wirkliche empirische Belege für die skizzierte Krise gibt, ist dabei für die UnterstützerInnen des Rechtspopulismus nachrangig, die UnterstützerInnen wissen bzw. fühlen diese veränderte Lage einfach. Affekte der Angst ermöglichen gleichermaßen eine tiefergehende vorbewusste Beeinflussung, die sich hier darin zeigt, dass die Gefahren gar nicht mehr genau argumentativ begründet sein müssen, um zu funktionieren. Es reicht vielmehr aus, dass die Akteure einfach Bescheid wissen. Welche Autonomie die Affekte der Angst in populistischen Kollektiven entfalten, hat Ulrich Bröckling (2016) pointiert herausgearbeitet. Zirkulierende Ängste sind der zentrale Verbindungsmodus der verschiedenen Körper zu einer Bewegung. Sie sind in ihren Diskursen und öffentlichen Auftritten omnipräsent; ohne eine permanente Zirkulation der Angst könnte ein solches affektives Kollektiv gar nicht als Einheit über längere Zeit bestehen. Affektive Dynamiken sind oftmals eher temporär und verhindern Stabilitäten. Jeder Diskurs über die verschiedenen Objekte der Angst ist ein neuer Antriebsmotor rechtspopulistischer Kollektive. Besonders aus diesen zwei Strategien gestalten rechtspopulistische Kollektive gegenwärtig die Idee einer wiedererstarkten Nation, eines wahlweise ›neuen-alten Deutschlands‹ oder eines ›neuen-alten Amerikas‹, die in der Zukunft ganz anders sein 105

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wird, aber gleichzeitig auch ›wirklich‹ deutsch oder amerikanisch, deshalb die begriffliche Konstruktion von ›neuem-alten‹. Es ist die Imagination einer Nation, in der alle Probleme gelöst sind, indem alle diejenigen Subjekte, die als Gefahren oder Feinde der Nation ausgemacht wurden, entweder nicht mehr Teil der Gesellschaft sind oder aber keinerlei Einfluss mehr auf die Gestaltung der jeweiligen Gesellschaft haben (vgl. Ahmed 2004b). Eine solche Gesellschaft – oder besser Gemeinschaft – ist wortwörtlich von aller Differenz und Vielfalt ›gereinigt‹. Zur Verwirklichung ihrer Ziele wenden die affizierten AnhängerInnen des Rechtspopulismus Gewalt an.

Die Zukunft der Massen Ob die rechtspopulistischen Kollektive über längere Zeit bestehen werden, ist offen. Die medialen Infrastrukturen werden sich zukünftig weiter entwickeln und noch stärker verbreiten. Diese materiellen Bedingungen des Rechtspopulismus bleiben damit bestehen. Es ist aber unwahrscheinlich, dass Trump und die AfD wirklich die Hoffnungen ihrer UnterstützerInnen erfüllen, was Hochschild (2016, S. 8ff.) das »great paradox« nennt. Sie werden wohl enttäuscht werden, weshalb Lauren Berlant (2011) auch von einem »cruel optimism« in affektiven Kollektiven spricht. Darin liegt die Möglichkeit ihrer Auflösung begründet. Der gegenwärtig wachsende Einfluss rechtspopulistischer Kollektive ist bereits sehr gefährlich für die Vielfalt und Offenheit in den jeweiligen Ländern. Meine Analyse beschränkt sich darauf, die Funktionsweise affektiver Kollektive wie dem Rechtspopulismus skizziert zu haben.

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Zum Weiterlesen Frank, Thomas ([2004] 2005): Was ist mit Kansas los? Wie die Konservativen das Herz von Amerika erobern. Berlin: Berlin Verlag. Löwenthal, Leo ([1948] 1990): Falsche Propheten. Studien zum Autoritarismus (Schriften Bd. 3). Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Seeßlen, Georg (2017): Trump! POPulismus als Politik. Berlin: Bertz + Fischer.

Literatur Ahmed, Sara (2004a): »Affective Economies«. In: Social Text 22, 2. S. 117-139. Ahmed, Sara (2004b): »Collective Feelings: Or, the Impressions Left by Others«. In: Theory, Culture & Society 21, 2. S. 25-42. Anderson, Ben ([2016] 2017): »›We Will Win Again. We Will Win a Lot‹: The Affective Styles of Donald Trump«. In: Society and Space. Verfügbar unter: http://societyandspace.org/2017/02/28/ we-will-win-again-we-will-win-a-lot-the-affective-styles-ofdonald-trump/ (zuletzt abgerufen am 06.01.2018). Angerer, Marie-Luise (2017): Affektökologie. Lüneburg: meson press. Arendt, Hannah ([1967] 2016): Wahrheit und Lüge in der Politik, 3. Aufl. München/Berlin/Zürich: Piper. Bennett, W. Lance/Segerberg, Alexandra (2012): »The Logic of Connective Action. Digital Media and the Personalization of Contentious Politics«. In: Information, Communication & Society 15, 5. S. 739-768. DOI: https://doi.org/10.1080/1369118X.2012.670661 Berlant, Lauren (2011): Cruel Optimism. Durham/London: Duke University Press. DOI: https://doi.org/10.1215/9780822394716 Bröckling, Ulrich (2016): »Man will Angst haben. Mittelweg 36«. In: Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung 25, 6. S. 3-7. Canetti, Elias ([1960] 2014): Masse und Macht, 33. Aufl. Frankfurt a.M.: Fischer.

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Christian Helge Peters Deleuze, Gilles/Guattari, Félix ([1972] 1977): Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Hochschild, Arlie Russel (2016): Strangers in Their Own Land. Anger and Mourning on the American Right. A Journey to the Heart of Our Political Divide. New York/London: The New York Press. Hörl, Erich (2011): »Die technologische Bedingung: Zur Einführung«. In: Ders. (Hg.): Die technologische Bedingung: Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 7-53. Laclau, Ernesto ([2005] 2007): On Populist Reason. London/New York: Verso. Larkin, Brian (2013): »The Politics and Poetics of Infrastructure«. In: Annual Review of Anthropology 42. S. 327-343. DOI: https://doi. org/10.1146/annurev-anthro-092412-155522 Lash, Scott (2007): »Power after Hegemony: Cultural Studies in Mutation?« In: Theory, Culture & Society 24, 3. S. 55-78. Le Bon, Gustave ([1911] 1982): Psychologie der Massen, 15. Aufl. Stuttgart: Körner. Massumi, Brian (2002): Parables for the Virtual. Movement, Affect, Sensation, 4. Aufl. Durham/London: Duke University Press. DOI: https://doi.org/10.1215/9780822383574 Massumi, Brian ([2005] 2010): »Angst (sagte die Farbskala)«. In: Ontomacht. Kunst, Affekt und das Ereignis des Politischen. Berlin: Merve, S. 105-130. Mouffe, Chantal (2008): Das demokratische Paradox. Wien: Turia + Kant. Spinoza, Baruch de ([1677] 1994): Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt. Hamburg: Meiner. Tarde, Gabriel ([1901] 2015): Masse und Meinung. Konstanz: Konstanz University Press.

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Handlungstheorie Das hat er/sie gemacht, weil ...: Tatmotive und die Erklärung sozialer Tatsachen in der Handlungstheorie Wolfgang Knöbl

Einleitung: Von Motiven zu Taten? Im Alltagsleben, aber auch in den Sozial- und Geisteswissenschaften, ist es nicht selten, dass man Handlungen von Menschen durch Rückgriff auf deren Motive erklärt oder erklären will: »Jemand hat gemordet, weil er eifersüchtig war«; »Jemand hat ein Geschäft gegründet, weil sie unabhängig sein wollte«; »Jemand hat jemandem aus der Not geholfen, weil sie dies als ihre religiöse Pflicht ansah«; »Jemand ist ein notorischer Ehebrecher, weil er dadurch unbewusst seinen Mutter-Sohn-Konflikt auslebt«. Das Problem bei derartigen motivbezogenen Erklärungsversuchen ist freilich, dass nicht jeder, der eifersüchtig ist, auch mordet, nicht jede, die unabhängig sein will, auch ein Geschäft aufmacht usw. Somit steht die Frage im Raum, was denn eigentlich die Erklärungsleistung solcher Handlungsmotive ist. Hängt der Mord – um beim ersten Beispiel zu bleiben – mit der Stärke der Eifersucht zusammen? Also: Nur wenn diese ganz stark ist, geschehen auch Morde aus Eifersucht, sonst eben nicht! Aber ist das wirklich so? Vielleicht, vielleicht aber auch nicht, denn manche äußerst eifersüchtige Menschen werden in der Tat gewalttätig, manche werden aber auch depressiv und bringen sich um, manche geben sich dem Alkohol hin usw. Wenn dem so ist, muss man dann nach weiteren Motiven fahnden? Also nach dem Motto: Eifersucht spielte beim Mord schon eine wichtige Rolle, aber 109

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eben auch noch andere Motive! Aber welche waren und wären das? Und wie viele zusätzliche Motive sind nötig, um dann einen Mord hervorzubringen? Man kommt also beim Versuch, Handlungen aus Motiven zu erklären, relativ schnell in erhebliche Untiefen. Und all diese Schwierigkeiten türmen sich bereits auf, bevor man noch eine Lösung auf ein ganz anderes Problem gefunden hat: Wie kommt man, wenn man denn an die Möglichkeit der Motiverklärung glaubt, eigentlich an Motive heran? Können wir Menschen einfach danach fragen? Und wenn ja, geben sie uns dann auch ehrliche oder präzise Antworten mit Blick auf die zu einem gegebenen Zeitpunkt, der vermutlich unmittelbar vor der zu erklärenden Handlung anzusetzen wäre, vorherrschende Motivlage? Und was genau meint man mit ›unmittelbar vor‹? Oder rationalisieren die nach Motiven Befragten nicht automatisch immer schon das, was sie in der Vergangenheit gemacht haben, unabhängig davon, ob dies mit der Absicht (wieder ein Motiv!) der Beschönigung stattfindet oder nicht? Und was sind überhaupt – vielleicht die schwierigste Frage – ›unbewusste‹ Motive wie im Falle jenes Ehebrechers? Die von mir dargestellten Probleme mögen vielleicht nicht sofort Jeder und Jedem als theoretisch interessant oder gar politisch brisant erscheinen. Solche SkeptikerInnen will ich hier aber ›eines Besseren belehren‹, indem ich ein Beispiel von ganz offensichtlicher gesellschaftspolitischer und politischer Relevanz heranziehe, bei dem sich unmittelbar und sofort ersichtlich eben jene Frage des Zusammenhangs von ›Motiv‹ und (möglicher) Tat stellt.

Was heißt hier Rassismus? Die aktuellen Umfragedaten zur zunehmenden Fremdenfeindlichkeit und zum Rassismus in Deutschland sind bekannt. Sie geben nicht selten – und mit gutem Recht – zu großer Besorgnis 110

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Anlass. Auch die derzeitigen Wahlerfolge von Parteien in Europa und andernorts, die gerade aufgrund ihrer fremdenfeindlichen Parolen besonders viele AnhängerInnen mobilisieren konnten, sind bekannt. Angesichts dessen drängt sich die folgende Frage auf: Was bedeutet es konkret, wenn Menschen in Umfragen fremdenfeindliche oder rassistische Motive artikulieren oder wegen ihrer Fremdenfeindlichkeit einer bestimmten Partei ihre Stimme geben? Was folgt aus diesen Umfrage- und Wahldaten für das Alltagsverhalten von Menschen? Folgt überhaupt irgendetwas daraus? Folgen aus fremdenfeindlichen Einstellungen und Motiven, wie sie etwa bei einer Wahlentscheidung in der Wahlkabine durch das Machen eines Kreuzchens zum Ausdruck kommt, ebensolche fremdenfeindliche Handlungen und Äußerungen nach der Wahl und außerhalb der Wahlkabine? – Auch wer diese Frage vielleicht spontan bejahen würden: Schaut man hier aus soziologischer Perspektive, so gilt es vorsichtig zu sein. Vorschnelle Schlüsse sind zu vermeiden. Um diese notwendige Vorsicht zu plausibilisieren, seien die Thesen eines mittlerweile über 60 Jahre alten Aufsatzes zweier US-amerikanischer Soziologen aus dem Jahre 1954 vorgestellt, der den Titel trägt: »Deliberately Organized Groups and Racial Behavior«! Joseph D. Lohman und Dietrich C. Reitzes untersuchten etwa 150 US-amerikanische Arbeiter im Hinblick auf deren Einstellungen zu AfroamerikanerInnen, in der Studie hieß es damals noch: zu »negroes«. Diese ›weißen‹ Arbeiter waren alle in einer Gewerkschaft organisiert, die eine dezidierte Pro-Haltung gegenüber AfroamerikanerInnen zum Programm erhob, also für die damals so bezeichnete und vielleicht als ›progressiv‹ zu wertende ›Rassenintegration‹ eintrat. Gleichzeitig wohnten diese Arbeiter aber in ihren Eigenheimen in einem Wohnviertel (in einer »Neighborhood«), das fast ausschließlich ›weiß‹ war und in der verschiedene Organisationen und Gruppen existierten, die alle dafür kämpften, dass dieses Viertel auch rein ›weiß‹ blei111

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ben sollte, schon allein deshalb, weil man befürchtete, dass mit dem Zuzug von AfroamerikanerInnen die Häuserpreise fallen würden usw. Lohman und Reitzes präsentierten in dem genannten Aufsatz nun drei Untersuchungsergebnisse, die ersten beiden wenig überraschend, das letzte hingegen schon. Und eben jenes letzte Ergebnis wird zurückführen zur bereits gestellten Frage des Zusammenhangs von Motiven und Handlungen bzw. Taten. Es zeigte sich – erstens –, dass diejenigen Arbeiter, die am stärksten in der Gewerkschaft engagiert waren (gemessen an der Häufigkeit ihrer Beteiligung an Gewerkschaftstreffen, an der Übernahme von Funktionärsposten in der Gewerkschaft usw.), in der Umfrage am positivsten auf AfroamerikanerInnen reagierten. Bei ihnen waren am wenigsten rassistische Haltungen und Einstellungen zu finden, was insofern aus einem Alltagsverständnis heraus gut nachvollziehbar ist, weil man ja vermuten könnte, dass eine intensive Tätigkeit in einem antirassistischen (gewerkschaftlichen) Umfeld die Aktivisten nachhaltig prägt oder – dies wäre ein anderer Kausalzusammenhang – sich nur ohnehin schon tolerante Arbeiter in einer anti-rassistischen Gewerkschaft engagieren. Es zeigte sich – zweitens –, dass diejenigen Bewohner des Wohnviertels, die am stärksten in (zu Rassismus neigenden) Neighborhood-Organisationen engagiert waren und/oder schon am längsten in der Neighborhood lebten, in der Umfrage am stärksten rassistische Haltungen äußerten. Auch das ist irgendwie plausibel und erwartbar! Das dritte Ergebnis hingegen überraschte und überrascht vielleicht noch immer: Es gab nämlich – wie Lohman und Reitzes belegen – keinen wirklichen Zusammenhang zwischen den beiden Haltungen: Eine hohe gewerkschaftliche Beteiligung und damit tendenziell nicht-rassistische Haltung am Arbeitsplatz ging nämlich keineswegs einher mit einer ebenso nicht-rassisti112

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schen Haltung in der Nachbarschaft. Und auch umgekehrt galt, dass nicht automatisch vergleichsweise rassistische Haltungen am Arbeitsplatz auch mit einem hohen Rassismus in der Nachbarschaft korrelierten. Damit liegen nun folgende irritierende Fragen auf dem Tisch: Sind es jetzt Rassisten oder Nicht-Rassisten, wenn sie am Arbeitsplatz plötzlich ganz andere Meinungen vertreten als in der Neighborhood? Das Antwortverhalten scheint je nach Ort und Situation der Befragung sehr unterschiedlich zu sein! Welche Einstellung ist nun die ›wirkliche‹ oder ›dominante‹? Oder ist das vielleicht sogar die falsche Frage, weil es Lohman und Reitzes bei den Befragten im Wesentlichen mit Heuchlern oder Opportunisten zu tun hatten, die je nach Umfrageumständen mal so, mal so Auskunft gaben? Die beiden Soziologen haben zumindest letztere Vermutung verneint. Sie haben stattdessen eine andere Erklärung angeboten: Ihre Behauptung war, »that this individual behavior cannot be understood in terms of individual attitudes in either case but does become intelligible when examined in the perspective of deliberately organized groups.« (Lohman und Reitzes 1954, S. 342; Herv. i. O.) Es ist also die Organisationszugehörigkeit, welche rassistische Haltungen wesentlich stärker erklärt als alles sonst. Warum dies so ist, machen die Autoren sehr deutlich (wobei man sich an der Sprache der 1950er nicht stören sollte): »The Civic Club’s definition of the situation – rejection of Negroes as neighbors – provided the individual with well formulated statements, reasons, and justifications for specific actions in specific situations involving the individual’s interests in the neighborhood situation.« (Lohman und Reitzes 1954, S. 343; Herv. WK) Entsprechendes gilt auch für den Arbeitsplatz, wo die Gewerkschaften die Situation gewissermaßen definieren, eben im Sinne von: ›wir sind hier anti-rassistisch‹. Lohman und Reitzes nehmen also an, dass Menschen nicht von hochstabilen und gewisser113

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maßen abstrakten Motivlagen beherrscht oder geprägt werden, sondern Motiv und Situation voneinander nicht zu trennen sind und zudem soziale Institutionen und Organisationen erheblichen Einfluss darauf haben, welche Motive in je konkreten Situationen aufgerufen werden und welche nicht. Wenn dies zutrifft, dann geht es bei der Erklärung von Handlungen zuallererst nicht um Motive an sich. Abstrakte Motive oder Einstellungen mit Hilfe eines Fragebogens herauszufiltern sagt vermutlich nicht besonders viel aus über die irgendwann dann auftretenden Handlungen, nicht einmal über bloße Sprechhandlungen. Wie der Aufsatz klar macht, ist es vielmehr die Situation bzw. die durch Organisationen geprägte Situation, welche entscheidend ist, weil die Situation – wie gesehen – Motive sehr schnell transformieren kann, von rassistisch (in der Neighborhood) bis hin zu nicht-rassistisch (am Arbeitsplatz) und umgekehrt. Lohman und Reitzes, so könnte man ganz abstrakt das wichtigste theoretische Ergebnis ihrer Forschung zusammenfassen, warnen also vor der vorschnellen Zuschreibung von Motiven bei der Handlungserklärung.

Was ist eigentlich ›Handeln‹? Als Lohman und Reitzes ihre Forschungsergebnisse vorstellten und diese merkwürdig erscheinenden Inkonsistenzen im Antwortverhalten von Befragten aufzeigten, geschah dies nicht zufällig. Vielmehr gestalteten sie ihr Untersuchungsdesign auch deshalb in der eben dargestellten Weise, um zu erhärten, was ein sehr berühmt werdender Soziologe schon knapp 15 Jahre zuvor in derselben Zeitschrift artikuliert hatte, nämlich, dass viele Teile der Sozialwissenschaften einem falschen Handlungsverständnis aufsitzen. Es war C. Wright Mills, eine Ikone der späteren linken Studierendenbewegung der 1960er Jahre (vgl. Hess 1995), der dies 1940 als ganz junger Forscher schon so geäußert hatte und der mit dieser Behauptung auch an den Grundfesten 114

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der Sozial- und Kulturwissenschaften rüttelte, zumindest an der Form von Wissenschaft, wie sie damals betrieben wurde. Wie Mills in »Situated Actions and Vocabularies of Motive« (1940) ausführte, ist unser Alltagshandeln selten von klar definierten und damit leicht herauszupräparierenden Motiven gesteuert. Handeln läuft vielmehr zumeist sehr routinisiert ab, gewissermaßen ohne großes Nachdenken, wenn wir bspw. am Morgen den Kaffee kochen, die Zähne putzen, uns auf den Weg zur Arbeit oder an die Universität machen, in die Mensa gehen und uns abends in die Kneipe begeben oder Fernsehschauen. Wir tun es einfach, ohne große Reflexion! Motive – so Mills – schreiben wir in aller Regel unseren eigenen Handlungen erst dann zu, wenn die Handlungssituation unterbrochen wird, wenn ein Problem auftaucht, wenn etwas schief und aus dem Ruder läuft, wenn etwas Unerwartetes passiert oder wenn man eben gefragt wird: ›Warum hast Du das getan?‹. Dann geben wir uns und anderen Auskunft darüber, welches Motiv wir hatten, genau das zu tun, was wir dann taten. Aber erklärt dies irgendetwas? – so schon 1940 die zweifelnde Frage von C. Wright Mills. Wie später Lohman und Reitzes betont auch Mills, dass in institutionell (man könnte auch sagen: organisatorisch) je unterschiedlichen Situationen unterschiedliche Motive mobilisiert werden, was bedeutet, dass Motive von den Akteuren ständig neu interpretiert und gewissermaßen an die Situation angepasst werden (Mills 1940, S. 907), wobei die Situation selbst aufgrund ihrer institutionellen oder organisatorischen Einbettung dann auch Vokabularien von Motiven zur Verfügung stellt, die auf bestimmte gesellschaftliche Normen verweisen: »The motives actually used in justifying or criticizing an act definitely link it to situations, integrate one man’s action with another’s, and line up conduct with norms.« (Mills 1940, S.  908) C. Wright Mills nahm also durch theoretische Reflexion genau das schon vorweg, was seine Kollegen knapp 15 Jahre später auf empirischem Wege heraus115

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finden sollten, nämlich, dass es äußerst riskant ist, Handlungen über Motive erklären zu wollen, zumindest dann, wenn man so tut, als ob Motive in der Regel fest und stabil im Menschen verankert seien und quasi den Schlüssel hergäben für die Erklärung sozialen Verhaltens. Was folgt aber nun daraus? Zunächst – und auf den ersten Blick – vielleicht nicht viel, außer dass aus soziologischer Perspektive eine gewisse Skepsis gegenüber Erklärungen von Handlungen angeraten ist, die auf Motive zurückgreifen. Dies gilt für den Alltag, in dem die Zuschreibung von Motiven gang und gäbe ist; aber auch für die Wissenschaft, in der eine solche Zuschreibung zur Handlungserklärung – wie in den Einleitungssätzen schon vermerkt – ebenfalls nicht selten zu finden ist. Doch man könnte auch ehrgeiziger sein und anstreben, die eigene Skepsis theoretisch zu durchdringen, also zu fragen, wie und ob man Handlungen überhaupt erklären kann und – sollte man diese Frage grundsätzlich verneinen – darüber zu reflektieren, wie eine andere sozial- und kulturwissenschaftliche Herangehensweise an empirische Phänomene dann überhaupt aussehen könnte. Damit macht man natürlich ein ›großes Fass‹ auf. Aber bei einer möglichen Lösung dieses Problems könnte immerhin die Theoriegeschichte, nicht zuletzt diejenige der Soziologie, helfen, weil dort derartige Probleme schon verhandelt wurden (auch wenn dies nicht zu einer konsensuellen Lösung führte). Theoriegeschichtlich haben sich in Reaktion auf das von Mills sowie Lohman und Reitzes aufgeworfene Problem mindestens zwei Antwortstrategien herauskristallisiert. Eine Strategie bestand darin, am Handlungsbegriff zwar im Prinzip festzuhalten, aber ganz entschieden nicht mehr von einzelnen Handlungen auszugehen, sondern von Interaktionen und damit von der immer schon gegebenen Situiertheit einer jeden Handlung in einem sozialen Kontext, in dem andere Akteure, Gegenstände 116

Handlungstheorie

etc. bereits vorhanden sind, ob real oder auch nur gedacht, weil etwa die Handelnden in der Situation Gegebenheiten mitberücksichtigen, die sie ›lediglich‹ imaginieren etc. Die Strategie bestand also darin, in Fortführung der Einsichten von Mills sowie Lohman und Reitzes ein sehr viel realistischeres Handlungsmodell zu entwickeln, als es im Alltagsverständnis zugrunde gelegt wird, wobei es zuvorderst darum ging, das Handeln und die Interaktionen jenseits einer über Motive determinierten Gerichtetheit zu begreifen. Wie der US-amerikanische Soziologe Anselm L. Strauss es formulierte: »Actions are characterized by temporality, for they constitute courses of action of varying duration. Various actors’ interpretations of the temporal aspects of an action may dif fer, according to the actors’ respective perspectives, these interpretations may also change as the action proceeds.« (Strauss 1993, S. 32; Herv. i. O.; vgl. auch Joas 1992) Eine so formulierte Handlungstheorie, wie sie aus der Tradition der so genannten »Chicago School of Sociology« (vgl. Bulmer 1984) und der daraus hervorgehenden Theorierichtung des Symbolischen Interaktionismus stammt, ist aufgrund der dort betonten Temporalität einer jeden Handlung von vornherein skeptisch gegenüber starren Motiverklärungen, will aber am Begriff der Handlung (an »action«) weiterhin festhalten. In dieser Forschungstradition wird der Handlungsbegriff – so könnte man vielleicht salopp formulieren – weiter aufgefächert, um realistische Beschreibungen von Handlungsabläufen zu ermöglichen und um – das war ja das Problem von Mills sowie Lohman und Reitzes – die vermeintliche entscheidende Bedeutung von Motiven richtig einschätzen zu können. Die zweite Strategie verfuhr ganz anders – und sie ist in der deutschen Soziologie mit dem Namen des in Lüneburg gebore117

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nen großen Soziologen Niklas Luhmann verbunden. Luhmann hatte schon früh die soeben genannte Kritik an Motiverklärungen rezipiert (gerade auch jene, die aus den USA kam) und zog daraus aber einen sehr viel radikaleren Schluss. Weil wir an Motive ohnehin nur äußerst schwer herankommen (siehe oben) und zudem soziale Gebilde sich sehr schnell verselbständigen und auf die Handlungen und Handlungsziele einzelner Mitglieder ohnehin nicht mehr rückführbar sind, plädierte Luhmann schon relativ früh für die Abkehr von einem Handlungsbegriff als einem Zentralbegriff der Soziologie (vgl. etwa Luhmann 1964). Wie er sagen sollte, sind komplexe soziale Systeme (und sie sind das Untersuchungsobjekt der Soziologie) aus Handlungen von Individuen nicht herleitbar, und auch eine Weiterung der Handlungsidee durch die konsequente Rede von Interaktionen würde hier nicht weiterhelfen. Nicht Handeln müsse deshalb im Mittelpunkt der soziologischen Analyse stehen, sondern – wie er später ausführen wird – die Kommunikation von Sinn und die sich darüber herausbildenden sozialen Systeme, nicht zuletzt auch deshalb, weil man nur dadurch die Untiefen jeder handlungstheoretischen Herangehensweise, die ja letztlich dann doch – wie komplex auch immer – nach (versteckten oder zuerst herauszufilternden) Motiven fragt, vermeiden kann. Natürlich bleibt es einem jeden selbst überlassen, sich ein Urteil über die beiden Strategien zu bilden. Aber wie auch immer dieses Urteil ausfallen mag: Dieses theoretische Problem, dessen Lösung zunächst wie ein Glasperlenspiel aussehen mag, ist zentral auch für gesellschaftlich relevante Fragestellungen. Und damit komme ich abschließend auf den eingangs erörterten Fall zurück.

Und was folgt nun alles daraus? Wenn die hier angestellten Überlegungen es geschafft haben, Zweifel zu wecken, ob Erklärungen von Handlungen mittels Mo118

Handlungstheorie

tivanalyse wirklich so überzeugend sind, wie sie auf den ersten Blick scheinen mögen, so gilt es, das oben bereits berührte Phänomen nochmals zu durchdenken. Mindestens drei Fragen sind dabei zu beachten: 1. Was bedeutet es, was kann es bedeuten, was muss es bedeuten, wenn in Umfrageergebnissen herauskommt, dass immer mehr Menschen fremdenfeindliche Motive haben? Heißt das schon irgendetwas? Und wenn ja, was heißt es ganz konkret? 2. Welche Folgen hat es oder wird es haben, wenn sich aufgrund von Wahlerfolgen fremdenfeindlicher Parteien entsprechende Organisationsstrukturen verfestigen? 3. Wie hängen Frage eins und Frage zwei eigentlich zusammen? Tun sie das überhaupt? Vielleicht gerade mit Blick auf jüngste Umfrageergebnisse und auf die jüngste Bundestagswahl lohnt es, über diese Fragen nachzudenken. Wie auch immer die Antworten aussehen mögen – sie sollten die mehr als 60 Jahre alten Forschungsergebnisse von Lohmann und Reitzes ernst nehmen!

Zum Weiterlesen Anscombe, Gertrude/Margaret, Elizabeth ([1957] 2011): Absicht. Berlin: Suhrkamp. Katz, Jack (2001): »From How to Why. On Luminous Description And Causal Inference in Ethnography (Part I)«. In: Ethnography 2, 4. S. 443-473. DOI: https://doi.org/10.1177/146613801002004001 Reemtsma, Jan Philipp (2017): »Erklärungsbegehren«. In: Mittelweg 36 26, 3. S. 74-103.

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Wolfgang Knöbl

Literatur Bulmer, Martin (1984): The Chicago School of Sociology. Institutionalization, Diversity, and the Rise of Sociological Research. Chicago/London: University of Chicago Press. Hess, Andreas (1995): Die politische Soziologie C. Wright Mills’. Ein Beitrag zur politischen Ideengeschichte. Opladen: Leske & Budrich. DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-663-01310-5 Joas, Hans (1992): Die Kreativität des Handelns. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Lohman, Joseph D./Reitzes, Dietrich C. (1954): »Deliberately Organized Groups and Racial Behavior«. In: American Sociological Review 19, 3. S. 342-344. DOI: https://doi.org/10.2307/2087768 Luhmann, Niklas (1964): Funktion und Folgen formaler Organisation. Berlin: Duncker & Humblot. Mills, C. Wright (1940): Situated Actions and Vocabularies of Motive. American Sociological Review 5, 6. S. 904-913. DOI: https://doi. org/10.2307/2084524 Strauss, Anselm L. (1993): Continual Permutations of Action. New York: Aldine de Gruyter.

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Analytik der Macht Kinematographische Bedrohungsszenarien in »Planet der Affen«. Von der Bombe zum Code Philipp Zeltner Welche Technologien halten Gesellschaften für bedrohlich – und warum? Dieser Frage widmet sich der folgende Artikel anhand technologischer Bedrohungsszenarien im zeitgenössischen Hollywoodkino, genauer anhand der »Planet der Affen«-Filmreihe. Hier lässt sich eine Verschiebung der Bedrohungsszenarien weg von der Atomtechnologie hin zur Gentechnologie beobachten. Diese Verschiebung wird dann im Rückgriff auf das Machtkonzept von Michel Foucault interpretiert. Dabei wird sich zeigen, dass die Ablösung von Szenarien der Souveränitätsmacht aus den 1960er Jahren durch kontemporäre Inszenierungen von Biomacht nicht nur eine gesellschaftlich wahrgenommene Gefährdung durch jeweils bestimmte Technologien abbildet. Vielmehr bringen die Filme – so die zentrale These – eine gesellschaftliche Angst nicht mehr vor dem Staat, sondern vielmehr vor dem Markt zum Ausdruck. An dieser Stelle ließe sich bereits einwenden, wieso nachfolgend Filme und damit fiktionale Darstellungen als empirischer Gegenstand dienen, obschon die Artikel in diesem Band unter der Überschrift ›Fakten‹ firmieren. Läge es nicht näher, die gesellschaftlich vorangetriebene Entwicklung und Implementierung von Technologien selbst zu verfolgen, wenn es um die Analyse ›faktischer‹ Bedrohung von Gesellschaft durch Technologien geht? Die Erwiderung auf diesen Einwand lautet, dass faktisches und spekulatives Moment im Begriff der Bedrohung immer 121

Philipp Zeltner

schon miteinander verwoben sind. Der Bedrohung wohnt notwendig ein spekulatives Moment inne, da sie sich auf mögliche unerwünschte Zukünfte bezieht, ungeachtet dessen, ob es sich um professionelle Technikfolgenabschätzung oder um popkulturelle Inszenierungen bedrohlicher Technologien handelt. Filme repräsentieren diese gesellschaftliche Bedrohungswahrnehmung von Technologien in verdichteter Weise. Tatsächlich weist der Film – insbesondere das kommerzielle Hollywoodkino – sogar eine herausragende repräsentative Dimension auf. Der Hollywoodfilm muss, sicherlich auch der ökonomischen Verwertbarkeit geschuldet, in besonderem Maße anschlussfähig an gesellschaftliche Diskurse sein. Daher greift er in vielen Fällen gesellschaftlich als Bedrohung wahrgenommene Technologien filmisch auf. So kommt ihm ein besonderes zeitdiagnostisches Potential hinsichtlich der gesellschaftlichen Konjunkturen technologischer Gefährdungslagen zu. Neben dieser abbildenden Dimension weisen gerade Hollywoodfilme eine ausgesprochen performative Dimension auf. Aufgrund ihrer durch professionelles Marketing noch gesteigerten Reichweite, der üblicherweise einfachen narrativen Struktur und der emotionalen Zugänglichkeit der Handlung prägen sie das kulturelle Imaginäre kontemporärer Gesellschaften. Sie bilden gesellschaftlich wahrgenommene Bedrohungsszenarien also nicht nur ab, sie sind auch maßgeblich an deren Erzeugung beteiligt. Ihr besonderer Wert für die sozialwissenschaftliche Analyse liegt in diesen zwei Dimensionen der Repräsentation und der Performativität – Filme bilden Bedrohungsszenarien in verdichteter Weise ab und sind zugleich an ihrer Produktion beteiligt. Diese im empirischen Gegenstand auffindbaren Bedrohungsszenarien werden im Folgenden kontrastierend herausgearbeitet. Als Gegenstand dienen dabei »Planet der Affen« (1968) sowie die ersten beiden Teile der Neuauflage der Vorgeschichte

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aus den 2010er Jahren, »Planet der Affen: Prevolution« (2011) und »Planet der Affen: Revolution« (2014).

Atomkrieg und Pandemie – »Planet der Affen« gestern und heute »Planet der Affen« (1968) nach dem Roman »La Planète de signes« von Pierre Boulle aus dem Jahre 1963 beginnt damit, dass Kapitän Taylor (Charlton Heston) und seine Mannschaft in einem Raumschiff die Erde im Jahre 1972 n. Chr. mit einem 300 Lichtjahre entfernten Planeten als Ziel verlassen haben; aufgrund der Zeitdilatation landen sie dann im Jahr 3978 n. Chr. auf einem fremden Planeten – ob es sich um den Zielplaneten handelt, bleibt zunächst unklar. Wie sich herausstellt, sind verschiedene Arten von Menschenaffen – Gorillas, Schimpansen und Orang-Utans – die dominanten Spezies auf diesem Planeten, sie sind der (menschlichen) Sprache mächtig und haben eine kastenförmig organisierte Agrargesellschaft mit theokratischer Herrschaftsform aufgebaut. Die auf diesem Planeten ebenfalls vorkommenden Menschen verfügen nicht über eine Sprache und scheinen auch ansonsten archaisch-tierischen Verhaltensmustern verhaftet. Sie werden von den Affen als Nicht-Affen und damit rechtlos verfolgt und, auch religiös legitimiert, bekämpft. Hinsichtlich der Handlung ist für die hier verfolgte Fragestellung relevant, dass Kapitän Taylor gegen Ende des Films in der so genannten ›verbotenen Zone‹ auf die Spuren einer alten menschlichen Zivilisation trifft. Wie sich am Schluss des Films herausstellt, ist Taylors Raumschiff gar nicht auf einem fremden Planeten gelandet, sondern auf der Erde der Zukunft. Taylor (und mit ihm der/die ZuschauerIn) realisiert, dass die menschliche Zivilisation durch einen globalen Atomkrieg zerstört und die überlebende menschliche Bevölkerung auf einen primitiven, da sprachlosen, Zustand zurückgeworfen wurde. Die von Taylor zu Beginn des Films vorgebrachte Kritik, die Menschheit be123

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kriege sich und werde sich damit selbst vernichten, verwandelt sich so in die prophetische Ahnung der globalen nuklearen Auslöschung. Im Bedrohungsszenario der ursprünglichen Filmreihe der 1960er/1970er Jahre ist es die Atomtechnologie, die die Urkatastrophe auslöst, genauer gesagt: die Atomtechnologie in ihrer militärischen, an staatliche Institutionen geknüpften Verwendung. Es sind der Staat und die mit ihm verbundene Atomwaffe, die den Untergang der Menschheit verursachen. Die Filmreihe von 2011-2017 – »Planet der Affen: Prevolution« (2011), »Planet der Affen: Revolution« (2014) und der dritte Teil, »Planet der Affen: Survival« (2017) – erzählt jene Vorgeschichte über das Auslösen der Katastrophe, die den Aufstieg der Affen zur dominanten Spezies und die Vernichtung der menschlichen Zivilisation bedingt. Sie basiert jedoch nur lose auf der Buchvorlage und der Original-Filmreihe der 1960er/1970er Jahre und wartet diesen gegenüber mit einer Reihe interessanter Verschiebungen auf. Die wichtigste dieser Verschiebungen ist, dass die Katastrophe nun nicht mehr durch die Atomtechnologie ausgelöst wird. Vielmehr ist in der Neuauflage ein gentechnisch verändertes Retrovirus namens ›ALZ-113‹, das der Behandlung von AlzheimerDemenz dienen sollte, für den Aufstieg der Affen und zugleich die Zerstörung der menschlichen Zivilisation verantwortlich. Bei Affen sorgt es für eine deutliche Steigerung kognitiver Fähigkeiten auf ein menschliches Niveau. Bei Menschen löst es jedoch eine grippeähnliche Erkrankung, die so genannte ›simian flu‹, aus, deren Verlauf in neun von zehn Fällen letal ist. Die damit zusammenhängende, zweite zentrale Verschiebung gegenüber der Vorgeschichte der Originalreihe ist, dass die für die Katastrophe verantwortliche Instanz nicht mehr das Militär ist. Vielmehr ist es das Pharmaunternehmen GEN-SYS, das für die Entwicklung des Virus verantwortlich zeichnet. Be124

Analytik der Macht

merkenswert ist zudem, dass es auch nicht der Typus des mad scientist ist, der durch die Entwicklung des Virus die Katastrophe auslöst. Vielmehr versucht der Wissenschaftler Will Rodman (James Franco), zugleich Ziehvater des ersten intelligenten Affen Caesar (Andy Serkis), die Katastrophe noch abzuwenden, indem er darauf drängt, ›ALZ-113‹ noch einer Reihe von Sicherheitstests zu unterziehen. Sein Chef Steven Jacobs (David Oyelowo) ignoriert jedoch aus Profitinteresse Rodmans Warnungen, beginnt die Großproduktion von ›ALZ-113‹ und kündigt dem Wissenschaftler fristlos. Ein Unfall in den Laboren von GEN-SYS führt dann zur Exposition und Infektion eines Mitarbeiters, der seinerseits einen Piloten ansteckt. In der letzten Szene von »Planet der Affen: Prevolution« sieht man, wie der Pilot, erste Symptome zeigend, am Flughafen ankommt. Der Abspann zeigt, wie sich ein Netz gelber Linien über den Planeten ausbreitet. Diese ›globale Infektion‹ entlang der Flugrouten findet sich wiederaufgenommen in der Eröffnungsszene von »Planet der Affen: Revolution« – dieses Mal jedoch mit an Blutgefäße erinnernden roten Linien. Hier wird auch die Katastrophe noch einmal in verdichteter Form durch einen fiktiven Zusammenschnitt von Medienberichten rekapituliert, in denen ebenfalls GEN-SYS als Quelle des Virus auftaucht. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass in der Neuauflage der Filmreihe von 2011-2017 die Urkatastrophe durch die gentechnische Manipulation der DNA eines Retrovirus mit dem Ziel der Heilung von Alzheimer-Demenz bzw. der Stabilisierung und Verbesserung kognitiver Fähigkeiten ausgelöst wird. Für die Freisetzung des Virus verantwortlich gemacht wird das Profitinteresse des Pharmaunternehmens, das zur Ignoranz gegenüber Sicherheitsbedenken führt. Der weitere Verlauf ist geprägt von der unkontrollierten Verselbständigung des Virus, das sich weltweit ausbreitet und zum Zusammenbruch der Zivilisation führt. 125

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Die im Hinblick auf unsere Fragestellung wesentlichen Verschiebungen in der Neuauflage sind also die von der Atom- zur Gentechnologie, diejenige von der Bombe zum genetischen Code des Virus und auf der Ebene der gesellschaftlichen Verantwortungszuschreibung diejenige vom Militär zum Privatunternehmen. Nun stellt sich die Frage, ob diese Verschiebungen zunächst voneinander unabhängig sind und nur aufgrund des Aktualitätsanspruchs der Filme koinzidieren, oder aber, ob hier eine Verbindung von Technologie und gesellschaftlicher Instanz ihren intentionalen oder akzidentiellen Ausdruck findet, die auf eine gleichförmige Operationsweise, eine gewisse Form von ›Verwandtschaft‹, zwischen Atomtechnologie und Staat, zwischen Gentechnologie und Markt hindeutet? Im Rückgriff auf Michel Foucaults Unterscheidung von Souveränitätsmacht und Biomacht argumentiere ich nachfolgend für eine solche ›Verwandtschaft‹ zwischen Technologie und gesellschaftlicher Instanz und mache damit zugleich die foucaultsche Machtanalytik als Deutungsrahmen des »Planet der Affen« fruchtbar.

Nationalstaatliche Souveränität und marktförmige Biomacht In »Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I« unterscheidet Foucault im Wesentlichen zwischen zwei verschiedenen Typen von Machtmechanismen: Souveränitätsmacht einerseits und Biomacht andererseits (Foucault 1983, S.  161ff.). Die souveräne Macht findet ihren paradigmatischen Ausdruck im Recht über Leben und Tod, dem letztlich asymmetrischen Recht, »sterben zu machen und leben zu lassen« (ebd., S.  162; Herv. i.O.). Foucault stellt für diesen Machttyp fest: »Die Macht war vor allem Zugriffsrecht auf die Dinge, die Zeiten, die Körper und schließlich das Leben; sie gipfelte in dem Vorrecht, sich des Lebens zu bemächtigen, um es auszulöschen.« (Ebd.) Es handelt

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sich also um einen Machtmechanismus, der letztlich über Gesetz und Verbot, über Repression und Destruktion operiert. Vor diesem Hintergrund lässt sich in der Atombombe und ihrem Einsatz wohl das paradigmatische Objekt erkennen, das diese Machtform in ihrer kontemporären Erscheinung zum Ausdruck bringt – das Objekt der totalen Destruktion (vgl. auch Foucault 2001, S. 299). Zugleich aber ist das Militär der zeitgenössisch elementare Ausdruck staatlicher Souveränität – birgt es doch in sich das Recht des Nationalstaats, zu töten. In beidem, Atombombe wie Militär, operiert derart derselbe souveräne Machtmechanismus der Destruktion, der Auslöschung. In dieser Überlagerung ist die militärische Form der Atomtechnologie zugleich Symbol wie Instrument staatlicher Souveränitätsmacht – einer Souveränität, die zu Hochzeiten des Stellvertreterkriegs in Vietnam und des nuklearen Wettrüstens zwischen der Sowjetunion und den USA sehr real zivilisationsgefährdende Dimensionen annahm. Die in der popkulturellen Kritik (re-)präsentierte Angst vor dieser übersteigerten nationalen Souveränität und ihre Darstellung als militärisch-nukleare Vernichtung in »Planet der Affen« (1968) ist vor diesem Hintergrund wenig überraschend. Viel weniger offensichtlich scheint jedoch der Zusammenhang zwischen Gentechnologie und Unternehmen, wie wir ihn in der Neuauflage der Filmreihe zu sehen bekommen. Um diesen zu deuten, müssen wir zunächst einen andersgearteten Machttypus bei Foucault einführen. Ihm zufolge etabliert sich nämlich zwischen dem 17. und dem beginnenden 19. Jahrhundert ein dem Wirken der Souveränitätsmacht komplementärer Typus, »das Recht, leben zu machen oder sterben zu lassen« (Foucault 2001, S. 284). Diese »Biomacht« mit ihren beiden Polen der Disziplinierung des individuellen Körpers und der Biopolitik der Bevölkerung operiert nun gerade nicht mehr über bloße Abschöpfung und Destruktion, sondern im Gegenteil über die 127

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(panoptische) Erfassung und Verbesserung der Eigenschaften der Individuen und die Regulierung und Optimierung ganzer Bevölkerungen. Diese Machtform zielt darauf, »Kräfte hervorzubringen, wachsen zu lassen und zu ordnen, anstatt sie zu hemmen, zu beugen und zu vernichten« (Foucault 1983, S. 163). Sie kann deshalb als wesentlich ›produktive‹ Machtform begriffen werden. Die Verbindung dieser produktiven Machtform mit der Gentechnologie wird unmittelbar ersichtlich und ist in der Literatur bereits beschrieben (vgl. u.a. Gehring 2006; Pieper et al. 2011; Sunder Rajan 2009). Schließlich handelt es sich bei der Gentechnik um ein Ensemble von Technologien, das direkt auf eine Steigerung, zumindest aber eine Regulierung des Lebendigen und eine Korrektur des Pathologischen – im Film die Alzheimererkrankung des Vaters – zielt. Diesbezüglich stellt in der Gentechnologie das Genom einschließlich des in ihm codierten ›Lebens‹ das zentrale Objekt dar, über das die Vielzahl der Verfahren operiert – allerdings ergänzt um das Instrument des Virus’, das erst den Zugriff auf eben jene Genomsequenz erlaubt (und seinerseits beladen ist mit dem gesamten popkulturellen Imaginären der unsichtbaren Bedrohung, der zirkulierenden Infektion, des Schwarzen Todes etc.). Unklar bleibt hier jedoch nach wie vor, wieso ein privates Unternehmen die für die Freisetzung des Virus in »Planet der Affen: Prevolution« verantwortliche Instanz ist – und warum diese Instanz nicht zufällig gewählt ist. Schließlich findet ein Großteil der Forschungen zu Genetik und Gentechnik nach wie vor in staatlichen Forschungslabors statt. Entscheidend ist, dass das Unternehmen und die durch es repräsentierten Märkte im Zeitalter neoliberaler Gouvernementalität und biopolitischer Lifestyle-Produktion (vgl. u.a. Deleuze 1990; Bröckling, Krassmann und Lemke 2000; Hardt und Negri 2003) die Orte darstellen, in denen und durch die Ensembles biopolitischer Machtmechanis128

Analytik der Macht

men vermittelt werden. Es sind die Ideen der immerwährenden Steigerung, des Wachstums, der Produktivität, der Zirkulation, die im rhetorischen Feld von Humankapitalstrategien und (Selbst-)Management durchscheinen, die das Unternehmen zur zentralen Arena kontemporärer Biomacht machen. Die beidem – Gentechnologie und Unternehmen – innewohnende produktive Logik der Erzeugung und Steigerung des Lebens stiftet ihren nicht zufälligen Zusammenhang in der Neuauflage der »Planet der Affen«-Filmreihe. Und folgerichtig ist es nicht mehr die überbordende Souveränität, die zur Zerstörung des menschlichen Lebens führt; vielmehr führt die unkontrollierte Zirkulation des Lebendigen zur Katastrophe. Mit Foucault lässt sich der Untergang der Menschheit in der Neuauflage des »Planet der Affen« zusammenfassen als »Schreckliche Ausdehnung der Bio-Macht, die im Gegensatz zu dem, was ich gerade über die Atommacht gesagt habe, die ganze menschliche Souveränität überschwemmen wird« (Foucault 2001, S. 300).

Fazit – »Die Angst vor dem Markt ist die Angst vor dem Code« Die Serie von Verschiebungen, die sich in der Erzählung des technologisch bedingten Untergangs der Menschheit in der »Planet der Affen«-Filmreihe finden lassen – Atomtechnologie-Gentechnologie, Bombe-Virus/Code, Militär-Unternehmen – sind nicht zufällig. Vielmehr zeigt sich im Rückgriff auf das Machtverständnis Foucaults eine den Elementen gemeinsame Bewegung von einem Katastrophenszenario der Souveränitätsmacht hin zu einem Katastrophenszenario der Biomacht. Was sich hier also im popkulturellen Medium des Hollywoodfilms artikuliert, ist nicht einfach eine Angst vor dem Einsatz neuer Hochtechnologien – auch wenn diese Filme aufgrund ihrer enormen Reichweite und ihrer affektiven Wirkung natürlich wesentlich dazu beitragen, ein bestimmtes Bild dieser Techno129

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logien und der mit ihnen assoziierten Risiken und Gefahren zu zeichnen. Darüber hinaus formuliert die Neuauflage des »Planet der Affen« jedoch auch eine auf der Ebene der Machttechniken mit diesen Technologien assoziierte ›Angst vor dem Markt‹. Diese hat – zumindest als popkulturelles Szenario – die im Kalten Krieg dominante ›Angst vor dem Staat‹ abgelöst.

Zum Weiterlesen Lim, Il-Tschung/Ziegler, Daniel (Hg.) (2017): Kino und Krise. Kultursoziologische Beiträge zur Krisenreflexion im Film. Wiesbaden: Springer VS. Meteling, Arno (2006): Monster. Zu Körperlichkeit und Medialität im modernen Horrorfilm. Bielefeld: transcript Verlag. Sarasin, Philipp (2004): Anthrax. Bioterror als Phantasma. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Literatur Bröckling, Ulrich/Krassmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.) (2000): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt a.M: Suhrkamp. Deleuze, Gilles (1990): »Postskriptum zu den Kontrollgesellschaften«. In: Ders. (Hg.): Unterhandlungen 1972-1990. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 254-262. Foucault, Michel (1983): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (2001): In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France 1975-76. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Gehring, Petra (2006): Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens. Frankfurt a.M./New York: Campus. Hardt, Michael/ Negri, Antonio (2003): Empire. Die Neue Weltordnung. Frankfurt a.M./New York: Campus.

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Analytik der Macht Pieper, Marianne/Atzert, Thomas/Karakayali, Serhat/Tsianos, Vassilis (Hg.) (2011): Biopolitik in der Debatte. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. DOI: https://doi.org/10.1007/9783-531-92807-4 Sunder Rajan, Kaushik (2009): Biokapitalismus. Werte im postgenomischen Zeitalter. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Filme Planet der Affen (1968, OT: Planet of the Apes; Regie: Franklin J. Schaffner). Planet der Affen: Prevolution (2011, OT: Rise of the Planet of the Apes; Regie: Rupert Wyatt). Planet der Affen: Revolution (2014, OT: Dawn of the Planet of the Apes; Regie: Matt Reeves). Planet der Affen: Survival (2017, OT: Survival War for the Planet of the Apes; Regie: Matt Reeves).

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Geistesgeschichte der Technik »Phantastisches von morgen« und die Höhenflüge des Tech-Kapitalismus — ein Erklärungsversuch Christoph Görlich

Multiplanetary Species Am 7. Februar 2018 wurde die Raumfahrtgeschichte um eine Kuriosität reicher: Elon Musk postete stolz das erste Bild des roten ›Tesla Roadster‹, das wenige Stunden zuvor eine ›Falcon Heavy‹ der ebenfalls zur Firmengruppe Musks gehörenden Marke SpaceX auf ihrem ersten Testflug in den Orbit geschossen hatte. Das ist zum einen kurios, weil hier ein reales Ereignis in der zum Einsatz gebrachten Symbolik ein Stück Popkultur simuliert, wobei Elon Musk, der Unternehmer als Popstar, in seiner Auswahl der Verweise nicht gerade subtil vorgeht: die ans frühere MTV-Maskottchen, den ›Starman‹, gemahnende Puppe am Lenkrad, Douglas AdamsZitat (»Don’t Panic!«) auf dem Bildschirm des Armaturenbretts, David Bowie-Song (»Starman«) im Dauerlauf, Issac Asimovs »Foundation«-Zyklus auf der Festplatte und statt dem ikonischen ›Made in Japan‹ ›Made by Humans‹ auf der Plakette. Aus soziologischer Sicht bemerkenswert an dieser Werbe-Posse ist aber vor allem der durch den popkulturellen ironischen Tand hervorgebrachte und ganz ernst gemeinte Geltungsanspruch privatwirtschaftlichen Unternehmertums, der in der ganzen Aktion steckt. An genau jener Stelle, an welcher Wissenschaft und Technik nach deren tiefem moralischen Sturz symbolisch wieder in den Dienst allgemein menschlichen Fortschritts gestellt werden sollte, der Raumfahrt, an jenem symbolisch hoch verdichteten Topos, meldet

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sich hier das freie Unternehmertum als Akteur menschlicher Entwicklung an. Im Lieblingsmedium der VisionärInnen und VerkünderInnen twittert Musk passend dazu in der von ihm erwarteten Coolnes: »It is high time that humanity went beyond Earth. Should have a moon base by now and sent astronauts to Mars. The future needs to inspire.« (Musk 2017) Auf den Einwand eines anderen Users, sich doch vielleicht erst einmal den irdischen Problemen zuzuwenden, entgegnet Musk: »Our existence cannot just be about solving one miserable problem after another. There need to be reasons to live.« (Ebd.) Visionen von Weltgeschichte und Menschheit umspannenden Großprojekten im Twitter-Gewitter der 140 Zeichen. Wo andernorts im selben Duktus die Mitarbeitermotivation, die Kaufbereitschaft des Kunden oder die Gefolgschaft der Shareholder adressiert ist, ist es hier gleich die ganze (Noch-)Erdenbevölkerung, die zum Gegenstand der Visionen gemacht wird. Auffällig ist zudem der Wechsel der thematischen Fluchtlinie: Während es zunächst danach klingt, als liege der Grund für den interstellaren Auszug ausschließlich in der irdischen Misere (»It is high time«), so verweist der zweite zitierte Eintrag Musks auf den vermeintlich dahinterliegenden Ethos: Es braucht die welträumliche Abwechslung zur Erfüllung des eigentlichen menschlichen Lebensgrundes (»there need to be«), der sich nicht allein in der nie endenden Auseinandersetzung mit der irdischen Misere erschöpfen darf. Bleibt zu fragen: Worin dann? Elon Musk ist auch hinsichtlich dieser Frage nicht um eine Antwort, oder zumindest eine erste Zielvorgabe, verlegen. »Making Humans a Multiplanetary Species« lautet der Slogan, den Musk seinem Raketen-Unternehmen gibt (Musk 2016). Da ist kein Hauch Ironie. Dem konkreten Anspruch »To make Mars seem possible« folgend, zielt der Business-Plan auf die größtmögliche Ausdehnung der »size134

Geistesgeschichte der Technik

efficiency of the vehicle« und auf die Etablierung von Public-Private-Partnerships zur Ansiedelung von Menschheit auf dem Mars und anderen Planeten. Der Ausbau der Menschheit in (möglichst wenig) Zeit und (möglichst viel) Raum wird zum im CEODuktus präsentierten Unternehmen, um der einzigen anderen welthistorischen Alternative nach Musk, nämlich der (gegenseitigen oder umweltbedingten?) Auslöschung der Menschheit bei weiterer Begrenzung auf den Erdenplatz, zu entgehen. Welches Bedürfnis liegt in solchen, hier schon fast im flehentlichen Ton ausgesprochenen Formeln und welche Rolle spielt dabei die Faszination an der Technik? Die Frage als solche kann im Folgenden bei gegebener Kürze zwar keinesfalls beantwortet werden, doch ihr soll sich durch eine geistesgeschichtliche ›Probebohrung‹ genähert werden. Die skizzierte Gegenwarts-Szene wird dabei mit einer Szene der jüngst vergangenen Geschichte der Kybernetik ins Verhältnis gesetzt, um somit Kontinuitäten zu suchen. Als Vorbild einer solchen Betrachtung gilt Blumenbergs Idee einer »Geistesgeschichte der Technik« (Blumenberg [um 1960] 2009). Die Fluchtlinie dieser Überlegung ist dabei aber nicht allein die skizzierte Szene des muskschen Raketenabenteuers. Abgesehen davon, dass es Höhenflüge, buchstäbliche, dieser Art in der Geschichte des Unternehmertums stets gegeben hat – vielleicht bei etwas mehr Bewusstsein für deren utopischen Charakter – fällt auf, dass es sich hier nicht gerade um eine Ausnahme, sondern um eines von zahlreichen Phänomenen des technokapitalistischen Zeitgeistes handelt. Um nur einige wenige dieser zumeist libertären Real-Utopien zu nennen: Seastaeding (gewissermaßen der nur aus dem Weltraum nach Innen gekehrten gleichlautenden Logik wie Musks »Multiplanetary Spiecies« folgend); Kryonik (das Enhancement des Menschen über seinen natürlichen Tod hinaus); weniger utopisch wirkende Ideen wie ein von Tech-Firmen privatwirtschaftlich initiiertes und geführ135

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tes Krankenversicherungsnetz; Firmenstädte (Facebook-Town, Apple Campus) mit gelebten Firmenphilosophien oder milliardenschwere Stiftungen, deren Ziel zumeist in der Unterstützung von Enhancements aller Art und Fantasie liegt. Was ist das alles? Handelt es sich hier einzig um Auswüchse einer CEO-Kultur, deren Kern die Verbindung von Unternehmer, Entwickler, ›Visionär‹ und Pop ist und deren Spielräume überall dort liegen, wo der Staat sich zurückgezogen hat (oder im Rückzug begriffen ist)? Auch dies mag durchaus sein, aber die Besonderheit des Phänomens liegt darin, dass sich hier der Chef anschickt, Führer und dabei zugleich Agent des menschlichen Fortschritts zu sein. Die Visionen bzw. Ideologien sind dabei gleichlautend mit den Geschäftsmodellen und Firmenphilosophien. Etwas spezifischer ließe sich im skizzierten Fall von einer Form funktionalisierter Science-Fiction im wahrsten Sinne des Wortes reden. Das eingangs erwähnte Bild konzentriert dies: Ein ›Tesla‹, Spitzentechnik und Designobjekt zugleich, zudem versehen mit dem Namen einer unter TechnikerInnen beinahe sagenumwobenen Gestalt, ist vom anderen Spitzenprodukt der gleichen Unternehmensgruppe in einer an Skurrilität und Sinnlosigkeit nicht gerade armen Aktion ins All geschossen worden, um hier die nächsten Millionen Jahre als Dauerwerbespot Denkmal dafür zu sein, dass Technik, Wissenschaft und Unternehmertum eben dies möglich gemacht haben. Gerade in der Sinnlosigkeit soll hier der Symbolcharakter liegen – und auf eine Art ist daran auch tatsächlich etwas Wahres.

Planetarische Hochkultur Welchen Geistes Kind das skizzierte Phänomen einer technikfetischistischen Projektierung der Zukunft der Menschheit wirklich ist, ließe sich vermutlich nur schwer ausmachen und es bliebe sowieso zu fragen, ob sich die Herkunft dieser Phantasmen 136

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überhaupt auf ein Thema zurückführen lässt, oder ob es sich nicht vielmehr um eine Konstellation handelt, deren Herkünfte sich im Rückgang der Geschichte mannigfaltig auffächern. Eine andere Möglichkeit ist es, aus geistesgeschichtlicher Perspektive zunächst einmal Parallelen zu suchen, um auf diesem Wege eine vergleichende Reflexion über die hier wirkenden geschichtlichen Motive und Topoi anzuregen. Hierfür eignet sich (unter anderem) eine so versteckte wie krude Szene aus der Ideengeschichte, deren Verwandtschaft mit Musks »Making Humans a Multiplanetary Species« unmittelbar einleuchtet, nämlich die sehr ernst gemeinte Zukunftsvision einer »zukünftigen« bzw. einer »universellen planetarischen Hochkultur« (Günther [um 1955] 2000, S.  144), die der Hegelianer, Spenglerianer und Kybernetiker Gotthard Günther in verschiedenen Schriften – zu denen nicht ganz zufällig auch Science-Fiction-Betrachtungen gehören – in den 1950er Jahren erdacht und geistig durchgespielt hat. Mit ähnlicher Freimütigkeit wie der Unternehmer Musk 60 Jahre später berichtet Günther vom Ende des bisherigen und dem notwendigen Übergang zum neuen Menschen: »Der alten Vorstellung gegenüber, für die der Schauplatz von Leben, Mensch und Geschichte ganz auf unseren eigenen Planeten beschränkt war und für die der gestirnte Himmel nur eine erhabene metaphysische Kulisse abgab, öffnet sich jetzt eine neue, mächtigere Realitätsperspektive, für die das ganze Universum ein leben- und geisterfülltes Medium ›irdischer‹ Geschichte wird. Es ist fast überflüssig zu sagen, daß die bisherigen fundamentalen Bewußtseinskategorien, auf deren Boden der Mensch seine bisherige Geschichte getrieben hat, diesen kosmischen Ausblicken gegenüber notwendig versagen müssen. Alles bisher Erlernte und Erfahrene, das ewige und absolute Bedeutung zu haben schien, sinkt jetzt zu einem unbedeutenden Spezial137

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fall herab, dessen zufällige Geltung sich auf einen winzigen Planeten in einer lokalen Sterngruppe beschränkt, die ihrerseits einen verschwindenden Teil eines galaktischen Systems bildet, das seinerseits nur eines unter Milliarden anderen ist.« (Günther 1952a, S. 229f.) Auch hier wird, wie bei Musk, ganz emphatisch und wie selbstverständlich der Blick aus dem galaktischen Möglichkeitsraum heraus auf eine schon Vergangenheit gewordene, weil insuffiziente Entwicklungsstufe des Menschen und auf dessen kümmerlichen Planeten gerichtet. Obwohl das in einem Nachwort zu einer Anthologie der Science Fiction in der Herausgeberschaft desselben Autors platziert wird, wähnt sich hier niemand im Utopischen. Denn die hier skizzierte und an anderer Stelle so genannte »universelle planetarische Hochkultur« (Günther [um 1955] 2000, S. 114) fußt auf einem Stufenschema der Weltgeschichte mit Wiedererkennungswert. Die erste Stufe sind die »primitiven Kulturen«, die dem Animismus und auch sonst dem Vor-Mythischen verhaftet, noch keine Metaphysik ausbilden konnten; die zweite Stufe bilden die »regionalen Hochkulturen«, deren Entstehen und Vergehen den Rhythmus eines allumfassenden Schicksalsgangs der Geschichte gleich dem Ticken der biologischen Uhr bilden (vgl. ebd., S. 11-19). Bis hierhin handelt es sich um das nur unwesentlich variierte Modell der »Morphologie der Weltgeschichte«, das Oswald Spengler in seinem bekannten Hauptwerk »Der Untergang des Abendlandes« beschreibt. Günther fügt diesem Schema nun als dritte Stufe die der »planetarischen Hochkultur« hinzu. Auch wenn deren Kommen noch fern am Horizont steht, kann Günther als wenig subtiler Hegelianer deren Gestalt schon ablesen, nämlich in der »Schimpansenvariante« der abendländischen Kultur in der »westliche[n] Hemisphäre«, d.h. in den USA (Günther 1951). Indem nämlich hier, so die These, die metaphysische Bedingtheit des Menschen – in Anlehnung an Spengler als »Seele« bezeichnet 138

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– sich auf der Grundlage geistiger Abwendung von Europa und der hier vorliegenden räumlichen Weite hin zu einer Nicht- oder PostMetaphysik entwickelt hat, d.h. indem die »abendländische Seele« hier abstirbt, sind die Grundlagen für die allmähliche Entwicklung einer neuen »Seele« gelegt, die im ersten Schritt den Planeten umund schließlich auf den Weltraum ausgreift (ebd., S. 117). In konsequenter Verlängerung ihrer Bedingungsfaktoren ist die entstehende planetarische Hochkultur in ihrer »seelischen« Verfasstheit sowohl geistig-logisch als auch räumlich charakterisiert. Sie ist demnach geprägt durch das Transzendieren der klassisch-logischen Fundamente von Zweiwertigkeit und Kausalität hin zu »trans-klassischer Logik«, rekursiver Kausalität und sich daraus ergebender radikaler Diesseitigkeit (ebd., S. 149ff.). Und sie ist geprägt eben durch eine Verbreitung aufs planetarische Niveau, was in direkt geographisch gedachter Dialektik das Interplanetarische miteinbezieht, denn schon im vermeintlich ur-amerikanischen »frontier spirit«, so Günther »[…] liegt eine viel weiter reichende Intention: die ganze Erde als eine planetarische Landschaft aufzufassen. Damit werden alle Ozeane in der Tat zu ›Binnenseen‹, denn Wasser und Land haben jetzt ein gemeinsames anderes Ufer, den kosmischen Raum.« (Ebd.) In Analogie zum Vorposten-Status Amerikas nun findet Günther in diesem Land, in dem er seit zehn Jahren im Exil lebt, auch jene Technologie, welche Ankündigung bzw. schon Anfang der ›dritten Technik‹ ist: »die« Kybernetik. Unter diesem Namen ist zwar letztlich kein einheitliches Phänomen, sondern eine historisch begrenzte und in sich heterogene, widerspruchsvolle Wissensformation zu begreifen. In Günthers Augen aber – und gerade das ist entscheidend – firmiert »die Kybernetik« als geschlossenes Phänomen, eben als ›die‹ Ankündigung ›der‹ Zukunft auf dem damit plötzlich sich wandelnden Horizont der Weltgeschichte.

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Dass ein Philosoph wie Gotthard Günther hier noch von »Denkmaschinen« und dass Kybernetik-Pioniere wie Warren MacCulloch von »mechanical brains« sprechen, ist mehr als nur Metaphorik aus Mangel an Begriffen. Für Günther – und man kann sagen, er fasst hier ein Begehren der Kybernetik(-erInnen) zusammen – trägt die Kybernetik eine »tiefere transzendentale Bedeutung« (Günther [1957] 1963, S.  42), nämlich die Möglichkeit, »das Bild« der Subjektivität aus der Innerlichkeit hinaus praktisch ins Objektive zu verlagern. Was hier wiederkehrt, ist die bisweilen reaktionäre und v.a. in Reaktion auf den Marxismus formulierte Neuauflage des hegelschen »objektiven Geistes« in der Kulturphilosophie des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Besonders die Vertreter der später so genannten »Leipziger Schule« – Hans Freyer, Arnold Gehlen und Helmut Schelsky, die auch Lehrer und enge Kollegen des ehemaligen Leipzigers Günther waren – verstanden unter ›objektivem Geist‹ die Idee einer Bemeisterung der in die Krise geratenen Moderne durch ein kollektives Bewusstsein. Mit der Idee, ›objektiven Geist‹ in kultureller Absicht faktisch einzurichten, ja zu machen, verband sich sodann auch das nur z.T. geglückte Betreiben der Leipziger, die Leitphilosophie des Nationalsozialismus auszubilden. Solche Ideen einer, hier völkischen, Totaleinrichtung der zweiten Natur mittels Technik kehren nun (wenn auch weniger völkisch) in der Kybernetik eines Gotthard Günther wieder, der damit letztlich nur kindermundartig ausspricht, was die Faszination Kybernetik besonders im deutschsprachigen Raum ausfüllte. In der Kybernetik sollten Technik und Technologie den kalten und bisweilen übermächtigen, das Subjekt bedrohenden Mechanismus verlassen und schlussendlich Daseinsvollzug und mithin Teil des Lebens und des Lebendigen werden. Nicht wie von den VertreterInnen des Untergangs prognostiziert, durch die restlose Unterordnung des Subjektiven unter das Objektive, hatte eine Vollendung der Technik und Technologie zu erfolgen, 140

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sondern durch die Transzendenz dieser Differenz hin zu einem Dritten, zu objektiver Subjektivität bzw. ›objektivem Geist‹. Die Überwindung eines mechanistischen Verständnisses von Technologie erscheint hier als notwendige Bedingung zur Bemeisterung der Welt durch den Geist.

The Singularity is Near Beide Szenen, diejenige Musks und diejenige Günthers, zeigen also Ähnlichkeiten der Motive, doch dies erlaubt freilich noch nicht, auf einen Zusammenhang zu schließen. Die zentrale Frage lautet somit, ob sich in der Ähnlichkeit ein gemeinsames Grundmotiv ausmachen lässt. Hierzu sei der Versuch mit Hans Blumenbergs Ansatz einer »Geistesgeschichte der Technik« gemacht. »Geschichte der Technik wird auch und vor allem Geschichte des Heraustretens der Technik aus der Geschichte sein müssen.« (Blumenberg [um 1960] 2009, S. 13) Dieses Motiv des Heraustretens, das Blumenberg zur Charakterisierung einer möglichen »Geistesgeschichte der Technik« einsetzt, lässt sich zum Zweck einer solchen Gegenwartsdiagnose doppelt verstehen. Einmal spricht das Hinaustreten als Hinauspräparieren der Technik aus ihrer bloßen Phänomen- und Erfindungsgeschichte die Methode einer Geistesgeschichte der Technik an. Zugleich aber lässt sich so auch das Motiv der Kybernetik-Phantasien fassen, das oben beschrieben wurde. Es ist nämlich keinesfalls Zufall, dass sich Günther Spengler als Gewährsmann seiner Theorie »planetarischer Hochkultur« wählt und dass er hiermit die Idee einer Überwindung klassischer Logik und Metaphysik verknüpft. Zumindest auf der ›theoretischen‹ Ebene scheint die Beschwörung der Technik einem spezifischen Thema zu folgen: dem vom Ende und dessen Überwindung. Beide Seiten gehören in ganz simpler Dialektik zusammen: Es wird ein Ende, ein Zusammenbruch beschworen, um zum restlosen Anfang überzugehen. Das kann 141

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als eines der wesentlichen Motive der so genannten »Konservativen Revolution« (Mohler 1989) bezeichnet werden. Im Schützengraben unter den »Stahlgewittern« ist das Ende angelegt, aus dem heraus eine neue Ordnung, eine neue Gestalt entwächst, deren Medium die Technik ist, welche zuletzt durch die neuen Techniken des Krieges am Untergang entscheidenden Anteil hatte. Spengler war für diese Idee, die auch (und ganz besonders) die ›Leipziger‹ um Hans Freyer umtrieb, gewissermaßen der Stachel. Im »Untergang des Abendlandes« beschwört er das Ende der Geschichte der Hochkulturen mit dem Untergang der von ihm so genannten »faustischen«, d.h. abendländischen Hochkultur. Dieses Ende findet in der »faustischen«, d.h. letztlich industriellen, Technik ihren Ausdruck – das letzte Kapitel des Buches ist mit »Die Maschine« betitelt – und dieses Ende ist definitiv. Zugleich aber fordert Spengler ihm gegenüber einen heroischen Gestus ein. Zu Beginn seines Hauptwerkes heißt es dementsprechend: »Wenn unter dem Eindruck dieses Buches sich Menschen der neuen Generation der Technik statt der Lyrik, der Marine statt der Malerei, der Politik statt der Erkenntniskritik zuwenden, so tun sie, was ich wünsche, und man kann ihnen nichts besseres wünschen.« (Spengler [1918/1923] 1995, S. 57) Diese noch im sicheren Vertrauen auf den nahenden Sieg aufgeschriebenen Sätze lassen nur wenig offen, was nach der Niederlage klar ausgesprochen wird: »Wir sind in diese Zeit geboren und müssen tapfer den Weg zu Ende gehen, der uns bestimmt ist. Es gibt keinen andern. Auf dem verlorenen Posten ausharren ohne Hoffnung, ohne Rettung ist Pflicht. Ausharren wie jener römische Soldat, dessen Gebeine man vor einem Tor in Pompeji gefunden hat, der starb, weil man beim Ausbruch des Vesuv vergessen hatte, ihn abzulösen. Das ist Größe, das heißt Rasse haben. Dieses ehrliche Ende

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ist das einzige, das man dem Menschen nicht nehmen kann.« (Spengler 1931, S. 88f.; Herv.i.O.) Dieser von Spengler selbst so benannte »tapfere Pessimismus« (Spengler [1921] 1951) stiftete ob seines Drängens auf die bei ihm zugleich unmögliche Überwindung ein Unbehagen, aus dessen Quelle Jüngers »heroischer Realismus« (Jünger [1930] 2001, S. 553) schöpfte und der sich – auf den Gebieten der Logik, der Metaphysik und eben der kybernetischen Technik verschoben und domestiziert – in den güntherschen Kybernetik-Visionen wiederfindet. Etwa wenn er in einem seiner Science-FictionKommentare ganz unverblümt von einer kommenden neuen »ultrafaustischen Naturwissenschaft« (Günther 1952b, S.  302) träumt, welche der »planetarischen Hochkultur« vollends entspricht. Spengler und die Kybernetik – Spengler fürs Ende, die Kybernetik für den Anfang – werden hier beschworen, um in der Verbindung von beidem die Überwindung denken zu können. Welche Überwindung gemeint ist, muss aus dem jeweiligen historischen Kontext herauspräpariert werden, doch es ist zugleich nicht vermessen, in genereller Hinsicht von einem tiefen ›Unbehagen mit der Moderne‹ zu sprechen, die hier flugs in die Faszination einer Nicht- oder gar Anti-Moderne übergeht.

Ausbruch aus der Gegenwart Solche Überwindungsfiguren nun scheinen heute wieder auf, wenn etwa ein viel rezipierter Ray Kurzweil, seines Zeichens mittlerweile Chef der Entwicklungsabteilung bei Google, in seinem Bestseller »The Singularity is Near« das Auftreten eines irreduziblen zivilisatorischen ›turning points‹ der technologischen Verfasstheit des Menschen durch big media nicht nur beschwört, sondern gar auf das genaue Datum, das Jahr 2045, zu datieren sich nicht scheut (Kurzweil 2005). Kehrt dieselbe Beschwörung des Übergangs aus Angst vor dem Ende wieder, wenn’s bei Elon 143

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Musk fast schon flehentlich twittert: »There need to be reasons to live«? »Multiplanetary Species«: Der Mensch soll Geist sein und der Geist objektiv und bei den Sternen. Nicht nur bei Elon Musk, sondern als Charakteristikum der gesamten technokapitalistischen Szene tritt somit eine Imagination und Beschwörung der Zukunft als zugleich offene und dabei handhabbare zutage. Sofern Geschichte heute auch noch vom beinharten Optimisten zumindest unbewusst als Risiko wahrgenommen wird, so lässt sich das hierbei wirkende Begehren verstehen als Wunsch, die Zukunft einzurichten, indem ihr Attribute des Faktischen, klare, auf der Hand liegende Entwicklungswege, Rettungspläne zugewiesen werden. Das bedeutet freilich nicht, wir hätten es hier mit einer Art von Neuauflage der ›konservativen Revolution‹ oder Ähnlichem zu tun. Ganz abgesehen davon, dass der von Günther diagnostizierte und mit der Kybernetik eingetretene Wandel von der ›ersten‹ (»klassischen«) bis zur ›zweiten‹ (»trans-klassischen«) Maschine zumindest mit zu bedenken ist (Günther [1957] 1963, S. 179-203), muss zunächst Zurückhaltung hinsichtlich der Analyseebene geübt werden. Zwar ist die Frage nach den reaktionären Tendenzen der Tech-Szene nicht zu vernachlässigen. Der geistesgeschichtliche Vergleich allerdings sollte zunächst bei der Ähnlichkeit der Motive beginnen. Dabei erweist es sich als plausibel, dass wir es bei den Höhenflügen, StaatsgründungsVisionen und Weltrettungsplänen der Chefetage mit Überwindungsmotiven im Sinne von Ausbruchsphantasien zu tun haben. Nicht der Umgang mit Tendenzen der Gesellschaft, nicht das Unbehagen in der Hinterfragung von deren Grundlagen wird in kritischer Absicht gesucht, sondern das Neue, der Bruch als Ausbruch – sei es ins All, ins Technik-Wunderland oder auf den staatenlosen Ozean.

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Zum Weiterlesen Kittsteiner, Heinz Dieter (2006): Wir werden gelebt. Formprobleme der Moderne. Hamburg: Philo. Schnödl, Gottfried/Voller, Christian/Wagner, Jannis (2018): Spenglers Nachleben. Studien zu einer verdeckten Wirkungsgeschichte. Springe: zu Klampen. Turner, Fred (2006): From Counterculture to Cyberculture. Steward Brand, the Whole Earth Network, and the Rise of Digital Utopianism. Chicago/London: Chicago University Press. DOI: https://doi.org/10.7208/chicago/9780226817439.001.0001

Literatur Blumenberg, Hans ([um 1960] 2009): »Einige Schwierigkeiten eine Geistesgeschichte der Technik zu schreiben«. In: Alexander Schmitz/Bernd Stiegler (Hg.): Geistesgeschichte der Technik. Aus d. Nachl. Alexander Schmitz und Bernd Stiegler. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 7-47. Günther, Gotthard (1951): Brief vom 03.12.1951 an Ernst Jünger. Günther, Gotthard (1952a): »Die Entdeckung Amerikas und die Sache mit der Weltraumliteratur«. In: Ders. (Hg.): Überwindung von Raum und Zeit. Phantastische Geschichten aus der Welt von Morgen. Rauchs Weltraum-Bücher Bd. 3. Düsseldorf/Bad Salzig: Karl Rauch Verlag, S. 222-238. Günther, Gotthard (1952b): »Kommentar zu John W. Campbell: Der unglaubliche Planet«. In: Ders. (Hg.): Rauchs Weltraum-Bücher Bd. 1. Düsseldorf/Bad Salzig: Karl Rauch Verlag, S. 294-305. Günther, Gotthard ([1957] 1963): Das Bewußtsein der Maschinen. Eine Metaphysik der Maschinen. Krefeld/Baden-Baden: Agis. Günther, Gotthard (Hg.) ([um 1955] 2000): Die Amerikanische Apokalypse. Kurt Klagenfurt. München/Wien: Profil. Jünger, Ernst ([1930] 2001): Politische Publizistik 1919-1933. Stuttgart: Klett-Cotta.

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Christoph Görlich Kurzweil, Ray (2005): The Singularity is Near. When Humans Transcend Biology. New York/u.a.: Viking. Mohler, Armin (1989): Die Konservative Revolution in Deutschland 1918-1932. Ein Handbuch, 3., erw. Ausg. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Musk, Elon (2016): Making Humans a Multiplanetary Spiecies. Vortrag auf dem 67. International Astronautical Congress in Guadalajara am 26.09.2016. Verfügbar unter: https://www.youtube. com/watch?v=H7Uyfqi_TE8 (zuletzt abgerufen am 15.04.2018). Musk, Elon (2017): Tweet vom 13.12.2017. Verfügbar unter: https:// twitter.com/elonmusk/status/941042298283966464?lang=de (zuletzt abgerufen am 15.04.2018). Spengler, Oswald (1931): Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, 12., ungek. Neuaufl. München. Spengler, Oswald ([1921] 1951): »Pessimismus?« In: Ders. (Hg.): Reden und Aufsätze, 3., verm. Ausg. München: C.H. Beck, S. 63-79. Spengler, Oswald ([1918/1923] 1995): Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, 12., ungek. Neuaufl. München: dtv.

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Denkbewegungen Philosophische Reflexion einer soziologischen Kritik Sebastian Weiner

Philosophie und Soziologie Im Nachfolgenden geht es darum, eine berechtigte soziologische Kritik an der philosophischen Methode wiederum philosophisch zu reflektieren. Dieses Vorgehen ist schon deshalb ungewöhnlich, weil die Philosophie bemerkenswert wenig Interesse an der Soziologie zeigt, während sie offen ist etwa für Diskussionen aus der Linguistik, Neurologie und Biologie. Dieser Tatbestand ist dann als Missstand zu werten, wenn der Philosophie dadurch etwas entgeht. Der nachfolgende Text wird erstens exemplarisch zeigen, dass der Tatbestand tatsächlich vorliegt, zweitens, weshalb dies einen Missstand für die Philosophie darstellt und drittens, weshalb die Soziologie mit ihrer Empfehlung, wie er zu beheben ist, an der Sache vorbeizielt. Wie ist das methodisch einzuordnen? Die Soziologie scheint sich durch etwas auszuzeichnen, was Luhmann für die modernen Wissenschaften geltend macht, nämlich das Beobachten des Beobachtens. Sie versucht hierzu, den Gegenstand der Beobachtung möglichst nah heranzuholen. Die Philosophie hingegen lebt seit jeher von der Abstraktion, die mit Blick auf das Objekt zwar ein Herausziehen des Wesentlichen in allem Unwesentlichen sein soll, zugleich aber vom Subjekt her gesehen ein Zurücktreten meint, um das Ganze in den Blick zu bekommen. Der vorliegende Beitrag wird sich daher mit einer soziologischen Theorie befassen, die der Philosophie bei ihrem Treiben über die Schulter schaut und hierzu möglichst nah herangegan147

Sebastian Weiner

gen ist an das zu beobachtende Beobachten. Die anschließende philosophische Kritik an dieser Theorie wird versuchen, das in der soziologischen Theorie Empfohlene möglichst allgemein zu reflektieren, um dessen Richtigkeit zu prüfen. Den LeserInnen wird also zugemutet, erst möglichst nah an das Treiben der Philosophie heranzutreten, um es dann wieder mit Abstand zu betrachten.

Der Tatbestand: Ignoranz der Philosophie gegenüber soziologischer Kritik Der Tatbestand, dass sich die Philosophie nicht mit soziologischen Diskussionen befasst, lässt sich exemplarisch für einen soziologischen Autor zeigen, dessen Kritik an der Philosophie für sie von Wichtigkeit wäre. Pierre Bourdieus im Jahre 2010 auf Deutsch erschienenes Buch »Meditationen – Zur Kritik der scholastischen Vernunft« (im frz. Original »Méditations pascaliennes«, 1997) ergründet die Bedingungen der Möglichkeit des philosophischen Denkens. Bourdieus von Kant entliehener Ausdruck der ›Bedingung der Möglichkeit‹ deutet bereits darauf hin, dass sich die Philosophie ihrer sozialen Bedingungen nicht bewusst ist. Wenn Bourdieu Recht hat, befindet sich die Philosophie, um sich verbal wieder an Kant anzulehnen, in einem metaphysischen Schlummer, aus dem sie dringend erweckt werden sollte. In der Soziologie ist Bourdieus Bedeutung groß. Laut einer Umfrage der International Sociological Association (www.isasociology.org) zählt Bourdieus Buch »Distinction: A Social Critique of the Judgment of Taste« (im frz. Original: »La Distinction. Critique sociale du jugement«) zu den für die Soziologie einflussreichsten Büchern des 20. Jahrhunderts (Rang 6). Doch weder diese Popularität noch seine explizite Kritik an der Philosophie hat einen Einfluss auf seine Wirkung in dieser Disziplin. Nur der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass das, was hier 148

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für Bourdieu aufgezeigt wird, sich ebenso signifikant in Bezug auf Luhmann ergibt. Auch von ihm könnte die Philosophie viel lernen, vermeidet es aber beharrlich, sich näher mit ihm zu befassen. Um den subjektiven Eindruck empirisch zu untermauern, dass Bourdieus gesamtes Werk und Denken in die Philosophie so gut wie keinen Eingang gefunden hat, lassen sich die Suchergebnisse der für philosophische Zeitschriften wichtigsten Datenbank nutzen: www.jstor.org. Hier sind mehr als Zweidrittel der international renommierten philosophischen Fachzeitschriften vertreten. Durchsucht man sämtliche Artikel aus 131 philosophischen Fachzeitschriften nach Beiträgen, in deren Titel »Bourdieu« vorkommt, erhält man 17 Treffer, davon 16 in der Zeitschrift »Sociological Theory« und einen in »Political Theory« (ein Aufsatz zu Hannah Arendt und Pierre Bourdieu). Geht man davon aus, dass beide Organe keine genuin philosophischen Zeitschriften sind, ergibt sich eine Trefferquote von Null. Kein Aufsatz in einer philosophischen Fachzeitschrift bezieht sich im Titel explizit auf Bourdieu. Eine Volltextsuche nach »Bourdieu« inklusive Fußnoten in selbigen 131 Zeitschriftentiteln ergibt zwar 279 Treffer, doch ist die Ausbeute bei genauem Hinsehen gering. 186 Treffer entfallen auf die Zeitschrift »Sociological Theory«, 51 auf das »Journal of Business Ethics«, 18 auf das »Journal of Aesthetics and Art Criticism« und 16 auf »Political Theory«. Die verbleibenden acht Treffer finden sich in Zeitschriften, die durchaus als genuin philosophisch angesehen werden können, nämlich fünf auf »Philosophy East and West« und drei auf »Ethics«. Noch einmal ist zu betonen, dass es sich hier um eine Volltextsuche handelt. Bereits schon den bloßen Namen »Bourdieu« im Text anzuführen oder in Fußnote oder Bibliographie auf eine seiner Schriften zu verweisen, ergab einen Treffer. Letztlich ver149

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bleiben nur drei signifikante Treffer. Einmal wird Bourdieu mit mehreren Sätzen zitiert (es geht in dem Aufsatz um die Rolle der Zeit in der chinesischen Logik), einmal findet sich eine zweiseitige Diskussion zu Bourdieu im Zusammenhang mit dem kulturellen Kapital und einmal gibt es eine Bezugnahme auf ihn mit Blick auf politische Konflikte in Wohlfahrtgesellschaften (immerhin von der renommierten Philosophin Nancy Fraser). Die fünf übrigen Treffer sind lose Verweise auf Bourdieu oder Literaturangaben. Um eine Vergleichsgröße zu erhalten, lässt sich bspw. »Foucault« in die Volltextsuche eingeben. Michel Foucault war dem eigenen Bekunden nach kein Philosoph, hat aber dennoch eine reiche philosophische Rezeption erfahren. Um Verzerrungen zu vermeiden, etwa durch Zeitschriften, die eine stark psychologische Ausrichtung haben (Foucaults Denken entstammt der Psychologie), wurden nur diejenigen Titel ausgewählt, die im SCImago Journal Rank unter den Top 20 gelistet und unter jstor. org abrufbar sind, unter Ausschluss der Titel »Political Psychology, European Child and Adolescent Psychiatry« und »Business Ethics Quarterly«. Damit verblieben für die Volltextsuche »Foucault« 15 Titel, die größtenteils eine sehr analytische Ausrichtung haben und daher Foucaults Denken eher fernstehen. Dennoch ergibt bereits diese eingeschränkte Suche 51 Treffer, im Vergleich zu den acht für Bourdieu, die sich in 127 Zeitschriftentiteln finden. An dieser Stelle lässt sich einwenden, dass sich durch das Ergebnis in Bezug auf Foucault etwas Grundsätzliches zeigt, dass nämlich eine Datenbank wie jstor.org nicht geeignet ist, um die Rezeption von kritischen Denkern wie Foucault oder Bourdieu auch nur entfernt abzubilden. Das mag richtig sein, doch erstens gibt es keine alternative Datenbank, die weniger stark auf die angelsächsische Analytische Philosophie ausgerichtet ist, und zweitens geht es hier weniger um absolute Größen als um 150

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relative. Dem Ergebnis nach befasst sich die Philosophie zwar durchaus mit Foucault, aber so gut wie gar nicht mit Bourdieu, und dies entspricht dem subjektiven Eindruck. Damit von der Empirie zur normativen Betrachtung.

Philosophische Blindheit und soziologische Kurzsichtigkeit Warum lohnt es sich für die Philosophie, sich mit der Soziologie zu befassen, und das meint, was entgeht ihr, wenn sie es nicht tut? Ihr entgeht eine kritische und damit reinigende Selbstreflexion, die sie selbst so nicht anstellen kann, weil ihr die Nähe zum Objekt fehlt, das in diesem Fall sie selbst ist. Bourdieu wirft der Philosophie vor, sie habe einen impliziten und illusorischen Anspruch auf Unbedingtheit (2010, S. 59): »Die Philosophie hat keine Genese und kann keine haben; selbst wenn sie erst am Ende kommt, ist sie Beginn, und zwar radikaler Beginn, da sie mit einem Schlag als Totalität in Erscheinung tritt.« Diese Beobachtung Bourdieus ist richtig. Zwar hat die Philosophie wenig Mühe, biologische, neuronale, linguistische oder vielleicht sogar soziale Bedingungen ihres Denkens anzuerkennen, jedoch nur, solange sie glauben darf, sich durch Abstraktion dieser entledigen zu können. Der Witz philosophischer Abstraktion besteht gerade darin, durch Herausarbeitung des Universalen das Kontingente und Historische loszuwerden und damit denkbare Bedingungen, die außerhalb des Denkens liegen. Daher liegt im Selbstverständnis der Philosophie ihre Genese zwar außerhalb des Denkens, aber ihre Geltung, d.h. ihr Begründungsanspruch, liegt dank der Abstraktion im reinen Denken. Bourdieu versucht nachzuweisen, dass auch der Be-

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gründungsanspruch sozial bedingt ist, und das gelingt ihm in Teilen bravourös. Aber er zieht daraus die falschen Schlüsse. Die Philosophie braucht die vollständige Abstraktion, die Bourdieu als illusorisch ausgibt. Mit Blick auf die philosophische Methode, die darauf angelegt ist, von den lebensweltlichen Bedingungen der Möglichkeit des Denkens zu abstrahieren, kann es gar nicht verwundern, wenn Bourdieu Hegel und Heidegger zu Recht bescheinigt, für ihr eigenes Denken zeitlose und anfangslose Universalität zu beanspruchen, obwohl sie selbst die Historizität des Denkens aufgezeigt haben (2010, S.  60-62). Auch hat er Recht in Bezug auf die philosophische Hermeneutik: Sie unterlasse es zu fragen, ob ein bestimmtes Problem, das fester Bestandteil der philosophischen Tradition ist (z.B. das der Wahrheitsdefinition), mitunter erst durch eine bestimmte hermeneutische Tradition seine Geltung erhält. Pointierter noch als Bourdieu schreibt dazu Luhmann (2001, S. 266): »Dennoch hielt die Hermeneutik an der Idee fest, sie habe die Oberfläche eines Objekts (eines Textes) oder eines Subjekts (eines Bewusstseins) zu durchdringen, um in einer Tiefenschicht wahrheitsfündig zu werden.« Das ist alles richtig. Aber man muss die Philosophie eher dazu bringen, weiter in die Tiefe zu graben, statt ihr zu empfehlen, den Anspruch auf Tiefe aufzugeben. Oder anders gesagt: Sie hat noch immer nicht das Ganze in dem Blick bekommen, wie sie beansprucht. Wenn sie in solche Tiefen nicht vordringen kann, dann kann es niemand, so ihr Selbstverständnis. Nietzsche schreibt in einer Notiz (Nietzsche, Montinari und Colli 1980, S. 53-54): »Ich halte die Phänomenologie auch der inneren Welt fest: alles, was uns bewusst wird, ist durch und durch erst zurechtgemacht, vereinfacht, schematisiert, ausgelegt – der wirkliche Vorgang der inneren Wahrnehmung, die Causalvereinigung zwischen Gedanken, Gefühlen, Begehrungen, wie die zwischen Subjekt 152

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und Objekt, [ist] uns absolut verborgen – und vielleicht eine reine Einbildung.« Dass etwas anderes als die Philosophie diesen »wirklichen Vorgang« zum Vorschein bringt, hält Nietzsche für ausgeschlossen. Vielmehr ist es dann »absolut verborgen«. Doch der Schluss hieraus sollte nicht bedeuten, dass die Philosophie aufhören müsste, sich in solche Suchen zu versteigen. Sie würde aufhören, Philosophie zu sein. Bourdieu wirft der Philosophie somit grundsätzlich vor, sich nicht mit den sozialen Bedingungen ihrer Möglichkeit auseinanderzusetzen, nämlich mit dem scholastischen Habitus, wie er es nennt. Stattdessen beharre sie auf ihrer Unbedingtheit und maße sich permanent an, »sich als (reine) Vernunft aus sich selbst zu begründen«, was eine »theoretische[n] Akrobatenleistung« darstelle, »die des Barons Münchhausen würdig wäre« (Bourdieu 2010, S. 57). Das, was Bourdieu als märchenhafte Akrobatenleistung darstellt, ist eine kritische Beschreibung dessen, was die Philosophie unter Abstraktion versteht. Solche Kritik hat Tradition, und ebenso der falsche Schluss, den Bourdieu zieht. Im so genannten Streit um die Wissenssoziologie aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der sich ausgelöst durch Karl Mannheims Buch »Ideologie und Utopie« zwischen Philosophie und Soziologie entfachte, zeigt besonders die vermittelnde Position von Hannah Arendt deutlich, worum es ging. Die Soziologie frage nach dem Ontischen, so Arendt, die Philosophie hingegen, allen voran Heidegger, nach dem Ontologischen. Die Soziologie beanspruche, »nach dem Seienden, das dieser [philosophischen] ›Seinsauslegung‹ zugrundeliegt, zu fragen, nach dem, was die Philosophie als das für sie Irrelevante behauptet« (1982, S. 516). Aus Sicht der Soziologie sei die philosophische Ontologie daher eine Ideologie. Um diese zu entlar153

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ven, sei es nötig, aufzuzeigen, »daß sie überhaupt qua Ontologie erst aus einer bestimmten Verdeckung, die das Seiende selbst geschaffen hat, entspringt« (1982, S. 517). Das Wort »entspringen« ist hier mehrdeutig. Natürlich geht allem ontologischen Denken das Ontische voran. Ohne Menschsein und Lebenswelt auch keine philosophische Spekulation. Diesen Ursprung stellt keine Philosophie ernsthaft in Frage. Die Frage ist vielmehr, ob sich die Ontologie für ihre Geltung mittels Abstraktion aller ontischen Bedingungen und Verfärbungen entledigen kann, und hier sind Philosophie und Soziologie gegenteiliger Meinung. Die Philosophie glaubt, durch Abstraktion zum reinen Denken gelangen zu können, das zum Ursprung für alle weiteren philosophischen Überlegungen wird. Der Soziologe Bourdieu hingegen hat gezeigt, dass nicht nur die Genese der Philosophie, sondern auch ihre Geltung sozial bedingt ist, und ging damit vermutlich einen Schritt weiter als die Vertreter im Streit um die Wissenssoziologie. Doch auch er glaubt, die einzige Therapie für die Philosophie laute Soziologie. So empfiehlt Bourdieu der Philosophie (2010, S. 65): »Wer hier weiterkommen will, muß die von dem Höhlenmythos, dieser Berufsideologie der Berufsdenker, gerühmte Bewegung um — und zur Welt der Alltagsexistenz zurückkehren, gerüstet jedoch mit einer Intellektualität, die ihrer selbst und ihrer Grenzen hinreichend bewusst ist, um fähig zu sein, die Praxis zu reflektieren, ohne sie dabei zu eskamotieren.« Bourdieu rät somit der Philosophie, von ihrem platonischen Weg hin zur Ontologie umzukehren und zur Lebenswelt zurückzukehren. Dabei hätte er sehen können: Wo dies geschehen ist, etwa bei Comte, Durkheim und Simmel, entstand daraus die So-

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ziologie. Die Philosophie kann hier nicht umkehren, ohne aufzuhören, Philosophie zu sein.

Die Philosophie: Schon zu weit weg oder noch zu nah dran? Es lohnt sich, noch einmal genauer hinzusehen, was Bourdieu richtig gesehen hat und was nicht. Er hat Recht mit der Behauptung, die Philosophie begehe immer wieder den Fehler, Prinzipien anzunehmen, die nur vermeintlich dem reinen Denken entspringen. Eines von drei Beispielen, die Bourdieu hierzu anführt, ist Kants Idee des reinen Wohlgefallens als Prinzip für seine Ästhetik (Bourdieu 2010, S. 94-99). Wie Bourdieu an verschiedenen Stellen nachgewiesen hat, hängt die Fähigkeit zu reinem Wohlgefallen von einer bestimmten Sozialisation ab. Daher ist das reine Wohlgefallen gerade nichts rein Abstraktes, sondern etwas, das lebensweltliche Prägung hat. Kant hat etwas Lebensweltliches und historisch Bedingtes zum universalen Prinzip erhoben. Sein ästhetisches Prinzip und damit die Geltung seiner Aussagen sind historisch bedingt. Aus philosophischer Sicht war er noch zu nah dran an der Lebenswelt, aus soziologischer Sicht schon zu weit weg. Dasselbe gilt vermutlich für Kants guten Willen und das Sittengesetz, auf denen er seine Ethik gründete. Dass diese womöglich einem protestantischen Habitus entspringen und damit lebensweltlich geprägt sind, konnte oder wollte er nicht sehen. Ähnlich ist zu fragen, ob Descartes cogito-Argument nicht nur denjenigen einleuchtet, die durch den Habitus der Berufsdenker gewohnt sind, der Realität des Denkens am allerwenigsten zu misstrauen. Doch in diesen Fällen hat, anders als Bourdieu es glaubt, die Philosophie nicht zu viel von der Lebenswelt abstrahiert, sondern noch zu wenig. Sie ist noch nicht bis zum reinen Denken vorgedrungen. Aristoteles hatte Platon und seinen Anhängern vorge155

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halten, ihre durch Abstraktion gewonnene reine Form offenbare nur unzureichend die Natur der Dinge, denn diese bestünden notwendigerweise auch aus Materie (Physik II 1, S. 193b31-194a7). Der heutige Vorwurf seitens der Soziologie klingt ähnlich. Platon war nie am Konkreten interessiert und ebenso wenig ist die heutige Philosophie an der Lebenswelt interessiert. Viel bedeutsamer wäre daher der Vorwurf gewesen, die Platoniker hätten noch zu wenig abstrahiert und die angebliche reine Form sei noch immer mit Konkretem kontaminiert. Bourdieu sagt ja genau dies, dass die Reinheit des reinen Wohlgefallens noch immer soziale Ursachen hat. Doch die Aufforderung, sich diesen zuzuwenden, sollte eine Aufforderung der Soziologie an die Soziologie sein und nicht eine an die Philosophie. Denn die Philosophie untersucht das Abstrakte (Begriffe, moralische Prinzipien, logische Prinzipien usw.) und nicht das Lebensweltliche. Daher darf man auch nicht glauben, dass der Philosoph Wittgenstein seine eigene Zunft zum Blick auf die Lebenswelt hinwenden wollte, als er sie aufforderte (1984, S.  66): »Denk nicht, sondern schau!« Denn das Hinsehen, das Wittgenstein meint, ist im Grunde nur eine modifizierte Abstraktion. Am Ende dieser Abstraktion stehen nicht wie üblich Begriffe, sondern allgemeine Regeln (semantische, nicht soziale). Die Empfehlungen, die Bourdieu mit Blick auf den philosophisch-scholastischen Habitus ausspricht, bleiben dementsprechend vage, da er zu ahnen scheint, dass die Hinwendung zur Lebenswelt zur Selbstaufgabe der Philosophie führen würde. Wenn er schreibt, das Erkennen des eigenen Habitus sei »ohne ein Wissen um sich selbst und seine eigene Praxis nicht zu haben«, das Voraussetzung sei, um »aufmerksamer und aufnahmebereiter für die tatsächlich praktizierte Praxis« zu werden (2010, S. 72), so stellt sich die Frage, ob die »tatsächlich praktizierte Praxis« nicht wieder die Abstraktion sein darf, die bislang noch nicht weit genug ging. 156

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Die Philosophie muss den Anspruch vertreten, dass sich Kontingenz und Historizität so reflektieren lassen, dass man sie erkennt und hinter sich lässt (selbst die Kontinentalphilosophie gesteht ja nicht zu, dass die Geltung ihrer Kritik und Dekonstruktion selbst wiederum nur sozial bedingt ist), weshalb die Philosophie einen Denker wie Foucault mit offenen Armen empfangen hat. Die Soziologie hingegen darf die Ansicht vertreten, dass dieser Anspruch bloße Illusion ist. Aber sie sollte nicht den Fehler begehen, die Philosophie zur Soziologie zu überreden, also zu einer Abwendung vom reinen Denken und Hinwendung zum Lebensweltlichen. Abschließend drängt sich die Frage auf, ob die Philosophie nicht von selbst darauf kommen konnte, dass sie ihre noch lebensweltlich bedingten Prinzipien als reine ansieht. Vermutlich kann sie das nicht, denn um zu fragen, ob das durch Abstraktion Gewonnene tatsächlich von allem Lebensweltlichen gereinigt ist, muss man das Lebensweltliche kennen. Die Philosophie kann von der sozialen Bedingtheit der Geltung ihrer Prinzipien wenig wissen, weil sie sich generell nicht mit sozialen Bedingungen befasst. Sie ist ja gerade darum bemüht, von ihnen Abstand zu nehmen. Das darf sie auch, solange sie bereit ist, sich von der Soziologie darüber aufklären zu lassen, dass ihr Denken doch nicht so rein ist, wie sie annahm. Dann bietet die Soziologie für die Philosophie einen echten Gewinn, nämlich den der Aufklärung. Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass die Idee, die Philosophie wolle die Dinge möglichst weit weg rücken, die Soziologie sie hingegen möglichst nah betrachten, von meinem soziologischen Lehrer Michael Makropoulos stammt. Diese Beobachtung der Beobachtung war für mein philosophisches Selbstverständnis recht hilfreich.

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Zum Weiterlesen Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Platon (2005): »Politeia, Buch VII«. In: Gunther Eigler (Hg.): Werke in acht Bänden. Bd. 4, Platon. Darmstadt: WBG. Weiner, Sebastian (2016): Aristoteles’ Bestimmung der Substanz als logos. Hamburg: Meiner.

Literatur Arendt, Hannah (1982): »Philosophie und Soziologie«. In: Volker Meja/Nico Stehr (Hg.): Der Streit um die Wissenssoziologie, Bd. 2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 515-531. Aristotelis Physica, Hg. W.D. Ross, Oxford: Clarendon Press ([1936] 1956). Bourdieu, Pierre (2010): Meditationen – Zur Kritik der scholastischen Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas (2001): »Dekonstruktion als Beobachtung zweiter Ordnung«. In: Oliver Jahraus (Hg.): Aufsätze und Reden. Stuttgart: Reclam, S. 262-296. Nietzsche, Friedrich/Montinari, Mazzino/Colli, Giorgio (1980): Kritische Studienausgabe, Bd. 13: Nachgelassene Fragmente 18871889. Berlin: de Gruyter. Wittgenstein, Ludwig (1984): Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe Bd. 1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Autorinnen und Autoren Behrendt, Gianna ist Promotionsstipendiatin am Forschungsschwerpunkt »Dimensionen der Sorge« des Evangelischen Studienwerks Villigst und Lehrbeauftragte am Institut für Soziologie und Kulturorganisation der Leuphana Universität Lüneburg. Ihre Arbeitsbereiche umfassen Gesellschaftstheorie und Kritische Theorie, Naturerfahrung und Weltbeziehungen, Ideengeschichte und Zeitdiagnose, immanente und Ideologiekritik. Beyer, Heiko ist seit 2015 Akademischer Oberrat an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, wo er im gleichen Jahr habilitierte. Vorher hat er in Leipzig von 2003-2009 Soziologie, Philosophie und Kulturwissenschaften studiert und im Jahr 2013 an der Georg-August-Universität Göttingen promoviert. Neben Lehrtätigkeiten an den Universitäten Leipzig, Göttingen, Bern, Wuppertal und Düsseldorf absolvierte er längere Auslandsaufenthalte an der University of Michigan und der Harvard University. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Politischen Soziologie mit Anknüpfungspunkten zur Rechts- und Religionssoziolgie. Insbesondere beschäftigt er sich dabei mit den Themen Soziale Bewegungen, Vorurteile und Diskriminierung, Menschenrechte und Religionsfreiheit. Böcker, Julia ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie und Kulturorganisation, Leuphana Universität Lüneburg. Seit dem Studium der Kulturwissenschaften, Psychologie und Indologie an der Universität Leipzig arbeitet und lehrt sie in den Bereichen Kultur- und Wissenssoziologie sowie rekonstruktive Methoden und Methodologie. Sie ist Mitgründerin des seit 2013 aktiven »Netzwerk Empirische Kultursoziologie«. Aktuelle Forschungsinteressen: Thanato-, Medizin- und Körpersozio159

10 Minuten Soziologie: Fakten

logie, Lebensanfang, Emotionen. In ihrem Promotionsprojekt erforscht sie Erfahrungen von Fehl- und Totgeburt im gesellschaftlichen Kontext. Görlich, Christoph studierte von 2006 bis 2010 Politikwissenschaften (B.A.) an der TU Dresden, danach von 2010 bis 2014 Gesellschaftstheorie (M.A.) an der Friedrich Schiller-Universität Jena. Mit einer Arbeit zu dem Philosophen Gotthard Günther promoviert er seit 2015 am Institut für Kultur und Ästhetik digitaler Medien, Leuphana Universität Lüneburg. Hier hatte er von 2015 bis 2018 ein Promotionsstipendium der Fakultät für Kulturwissenschaften. Henkel, Anna ist Professorin für Kultur- und Mediensoziologie an der Leuphana Universität Lüneburg. Zuvor war sie Juniorprofessorin für Sozialtheorie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und promovierte nach einem Studium der Ökonomie zur »Soziologie des Pharmazeutischen«. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der soziologischen Theorie sowie der Wissens-, Materialitäts- und Nachhaltigkeitsforschung. Sie verbindet gesellschaftstheoretische Perspektiven mit empirischer Forschung, etwa bei der Frage nach dem Wandel von Verantwortungsverhältnissen. Sozialtheoretisches Denken zum Verstehen und Erklären sozialer Tatsachen zu nutzen, ist ihr zentrales Anliegen. Knöbl, Wolfgang studierte in Erlangen-Nürnberg und Aberdeen Soziologie, Politikwissenschaft und Neuere Geschichte. Er promovierte 1995 bei Hans Joas an der Freien Universität Berlin und habilitierte sich ebendort im Jahr 2000. Von 2002 bis 2015 war er Professor für (international vergleichende) Sozialwissenschaft an der Universität Göttingen, seither ist er Direktor des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Seine Forschungsschwer160

Autorinnen und Autoren

punkte: Soziologische Theorie, historisch-vergleichende und politische Soziologie. Kusche, Isabel studierte Soziologie an der Technischen Universität Dresden und der New School University in New York City. Sie wurde 2008 an der Universität Bielefeld promoviert und habilitierte sich 2015 an der Universität Osnabrück im Fach Soziologie. Von 2015 bis 2018 arbeitete sie als Marie Curie COFUND Fellow am Aarhus Institute of Advanced Studies in Dänemark. Ab Oktober 2018 ist sie EURIAS Fellow am Institute for Advanced Studies in the Humanities der Universität Edinburgh. Forschungsschwerpunkte: Politische Soziologie, Soziologische Theorie, Folgen des digitalen Medienwandels. Menges, Saskia studierte von 2009-2013 Europäische Kulturgeschichte und Vergleichende Literaturwissenschaften (B.A.) an der Universität Augsburg mit einem Auslandssemester an der Università degli Studi di Firenze. Während ihres Masters of Arts Kulturwissenschaften an der Leuphana Universität Lüneburg absolvierte sie ein weiteres Auslandssemester an der Università degli Studi di Milano. Seit ihrem erfolgreichen Abschluss im Herbst 2017 ist sie wissenschaftliche Hilfskraft im Forschungsprojekt Vera: Reflexible Responsibilisierung, Verantwortung für nachhaltige Entwicklung. Peters, Christian Helge promoviert an der Universität Hamburg und war dort Promotionsstipendiat am Graduiertenkolleg »Lose Verbindungen« (2015-2017). Seine Forschungsinteressen umfassen soziologische Theorien und Kulturtheorien, insbesondere poststrukturalistische und pragmatistische Ansätze sowie die Diskussionen zu Affekten, Emotionen und Resonanz. Darüber hinaus arbeitet er zu New Materialisms, Subjektivierungstheorien als auch den Governmentality Studies. Er hat seinen Master 161

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in »Gesellschaftstheorie« an der Friedrich-Schiller-Universität Jena abgeschlossen. Er ist und war Lehrbeauftragter für soziologische Theorie an den Universitäten Jena (04/2014-03/2016), Kassel (10/2014-03/2015) und Hamburg (seit 04/2015). Rödder, Simone ist Juniorprofessorin für Soziologie, insbesondere Wissenschaftsforschung, am Institut für Soziologie der Universität Hamburg. Studium der Biologie, Mathematik, Wissenschaftskommunikation und Soziologie in Mainz, Glasgow und Bielefeld. 1999-2001 Journalistenausbildung am Institut zur Förderung publizistischen Nachwuchses in München. 2008 interdisziplinäre Promotion zum Dr. phil. nat. am Institut für Wissenschafts- und Technikforschung der Universität Bielefeld. Arbeitsschwerpunkte: Wissenschaftssoziologie, Governance von Wissenschaft im Fachkulturenvergleich, Wissenschaftskommunikation, Öffentlichkeitstheorien. Sandermann, Philipp studierte von 1998-2004 Rechtswissenschaft und Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Sozialpädagogik an der Freien Universität Berlin; 2004-2007 arbeitete er bei verschiedenen freien Trägern der Kinder- und Jugendhilfe sowie als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin; 2008 promovierte er dort in Erziehungswissenschaft. 2009-2010 war er Visiting Research Associate an der University of Chicago; 2011 erhielt er einen Ruf auf eine Professur für Pä​dagogik mit Schwerpunkt Organisation an der Universität Trier, wo er bis 2017 tätig war; seit 2017 ist er Professor für Sozialpädagogik an der Leuphana Universität Lüneburg. Seine Lehr- und Forschungsgebiete sind interdisziplinäre Wohlfahrtsstaatsforschung und Kinder- und Jugendhilfeforschung (jeweils auch im internationalen Vergleich) sowie Theorien der Sozialen Arbeit.

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Autorinnen und Autoren

Weiner, Sebastian ist Privatdozent für Philosophie an der Universität Zürich und Leiter der Universitätskommunikation der Leuphana Universität Lüneburg. Er studierte Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaft an der Universität Würzburg, promovierte in Philosophie an der Universität ErlangenNürnberg (2006) und habilitierte sich an der Universität Zürich (2012). Für zwei Jahre vertrat er die Juniorprofessur für Antike Philosophie an der Universität Hamburg. Zu seinen Veröffentlichungen zählen u.a. die Monographien »Eriugenas negative Ontologie« (2007) und »Aristoteles’ Bestimmung der Substanz als logos« (2016). Zeltner, Philipp studierte von 2006-2014 Biochemie in Jena. Zurzeit promoviert er, gefördert durch das Evangelische Studienwerk Villigst, an der Leuphana Universität Lüneburg und der FSU Jena im Fach Soziologie. Seit 2016 unterrichtet er als Lehrbeauftragter in Jena und in Lüneburg. Lehr- und Forschungsgebiete sind soziologische Theorie, Wissenschaftssoziologie/-geschichte und (post-)strukturalistische Philosophie. Thematisch konzentrieren sich seine Forschungen auf den Nexus Biowissenschaften, Biopolitik und Bioökonomie.

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Soziologie Sighard Neckel, Natalia Besedovsky, Moritz Boddenberg, Martina Hasenfratz, Sarah Miriam Pritz, Timo Wiegand

Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit Umrisse eines Forschungsprogramms Januar 2018, 150 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4194-3 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-4194-7 EPUB: ISBN 978-3-7328-4194-3

Sabine Hark, Paula-Irene Villa

Unterscheiden und herrschen Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart 2017, 176 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3653-6 E-Book PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3653-0 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3653-6

Anna Henkel (Hg.)

10 Minuten Soziologie: Materialität Juni 2018, 122 S., kart. 15,99 € (DE), 978-3-8376-4073-1 E-Book: 13,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4073-5

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Soziologie Robert Seyfert, Jonathan Roberge (Hg.)

Algorithmuskulturen Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit 2017, 242 S., kart., Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3800-4 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-3800-8 EPUB: ISBN 978-3-7328-3800-4

Andreas Reckwitz

Kreativität und soziale Praxis Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie 2016, 314 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3345-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3345-4

Ilker Ataç, Gerda Heck, Sabine Hess, Zeynep Kasli, Philipp Ratfisch, Cavidan Soykan, Bediz Yilmaz (eds.)

movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Vol. 3, Issue 2/2017: Turkey’s Changing Migration Regime and its Global and Regional Dynamics 2017, 230 p., pb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3719-9

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