10 Minuten Soziologie: Bewegung 9783839446225

The moving body, mobile capital, innovative ideas, a mutable future: movement is omnipresent. In modern society, movemen

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10 Minuten Soziologie: Bewegung
 9783839446225

Table of contents :
Editorial
Inhalt
Einleitung
Gesellschaftstheorie der Moderne
Filmsoziologie: »Head out on the highway«
Systemtheorie
Historische Makrosoziologie
Differenzierungstheorie
Poststukturalimus: Dekonstruktion und/als Bewegung
Theorie der Utopie: ›Utopie in Bewegung‹
Theorie der Strukturierung
Innovationsforschung: Soziale Innovationen für nachhaltige Bewegung
Kontakttheorie
Phänomenologie/Systemtheorie
Autorinnen und Autoren

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Ute Samland, Anna Henkel (Hg.) 10 Minuten Soziologie: Bewegung

10 Minuten Soziologie  | Band 3



Editorial Das Programm der Soziologie ist: das Soziale zu verstehen und zu erklären. Dabei zeichnet sie sich durch eine Vielfalt theoretischer Ansätze, empirischer Gegenstände und konzeptioneller Zielsetzungen aus. Die Reihe »10 Minuten Soziologie« sieht diese Heterogenität als Stärke. So wie es für die Betrachtung der modernen Gesellschaft keinen »Archimedischen Punkt« (Luhmann) gibt – also keine Beobachtungsperspektive, von der aus das Soziale ›von außen‹ oder ›objektiv‹ beobachtbar wäre –, trägt auch die Disziplin diesem Umstand der modernen Gesellschaft als einer Welt ohne letzte Wahrheit Rechnung: Sie kehrt sich weder von der Welt ab, noch proklamiert sie in einem kontrafaktischen Duktus absolute Wahrheiten. Stattdessen bietet die Soziologie Beobachtungsmöglichkeiten an, die es erlauben: zu verstehen und zu erklären. Der soziologische Blick sensibilisiert dabei für ein Auch-anders-möglich-Sein sozialer Tatsachen. Die Beiträge eines Bandes der Reihe »10 Minuten Soziologie« nähern sich dem jeweiligen Gegenstand begrifflich aus unterschiedlichen Perspektiven und wenden das gewonnene Verständnis jeweils auf einen spezifischen Fall an. Im Mittelpunkt steht dabei die analytische Denkbewegung, also: ein theoretisches Konzept auf einen empirischen Gegenstand zu beziehen und diesen damit neu zu verstehen und zu erklären. Die Reihe wird herausgeben von Anna Henkel.

Ute Samland, Anna Henkel (Hg.)

10 Minuten Soziologie: Bewegung



© 2019 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat: Simon Scharf, Erfurt Satz: Justine Buri, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4622-1 PDF-ISBN 978-3-8394-4622-5 https://doi.org/10.14361/9783839446225 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Einleitung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Ute Samland und Anna Henkel

Gesellschaftstheorie der Moderne Bewegte Gesellschaft. Die Soziologie als Beobachterin sozialer Dynamik. . . . . . . . . . . . . 1 7 Günter Burkart

Filmsoziologie: Head out on the highway Auf den Straßen von Captain America. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Manuela Klaut

Systemtheorie Soziale Bewegungen als Erscheinungsform der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Melanie Werner

Historische Makrosoziologie Steuerzahler*innen in Bewegung – US-amerikanische und italienische Steuerrevolten. . . . . . . . . . . . 61 Lars Döpking

Differenzierungstheorie Climate change fiction – spekulative (Sozial-)Wissenschaft und literarische Fiktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Sina Farzin

Poststrukturalismus: Dekonstruktion und/als Bewegung Derrida über die akademische Lehre. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Steffi Hobuß

Theorie der Utopie: ›Utopie in Bewegung‹ Plädoyer für einen dynamischen und mehrdimensionalen Utopiebegriff................................ 103 Björn Wendt

Theorie der Strukturierung Das Automobil und die moderne Gesellschaft...................... 115 Weert Canzler

Innovationsforschung: Soziale Innovationen für nachhaltige Bewegung Alternative Mobilitätskonzepte für den ländlichen Raum.......................................................129 Ute Samland

Kontakttheorie Kasuistisches Auswerten und kontakttheoretische Überlegungen im Kontext von Bewegung, Spiel und Sport in heterogenen Settings. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Steffen Greve

Phänomenologie/Systemtheorie Unentwegt sinnhaftes Bewegen...........................................157 Nikolai Drews

Autorinnen und Autoren......................................................... 167

10 Minuten Soziologie: Bewegung Einleitung Ute Samland und Anna Henkel Wer mit Blick auf Gesellschaft einen Gedanken um das Phänomen der Bewegung kreisen lässt und dabei die Alltagserfahrung des Jetzt-hier-später-dort mit einer vermutlich erinnerlichen Definition der Physik verbindet, nach der Bewegung die Ortsveränderung eines Gegenstandes bezogen auf einen anderen Gegenstand ist, wird meinen: Moderne Zeiten, das sind in besonderem Maße bewegte Zeiten. Man denkt an die Bewegungen von Gütern im globalen Warenverkehr, die Bewegungen des beruflichen Pendelns, die sonstigen alltäglich gegenwärtigen Bewegungen im Zusammenhang mit Einkauf, Sport, Freizeit, Urlaub. Doch ist damit der Bewegung noch längst nicht genug. Ganz abgesehen von Finanzbewegungen, Migrationsbewegungen oder sozialer Mobilität zwischen gesellschaftlichen Schichten wird Bewegung heute, ein halbes Jahrhundert nach 1968, gerade auch verstanden als ›soziale Bewegung‹. Dass gesellschaftliche Verhältnisse gemacht sind, sozialer Wandel also beschleunigbar, verhinderbar, umkehrbar etc. sein kann und mit dieser Gestaltbarkeit zugleich Verantwortung verbunden ist, gehört unterdessen zum jedenfalls westlichen gesellschaftlichen Selbstverständnis. Die Zusammenschau der physischen und der sozialen Dimension zeigt Bewegung als ein grundlegendes Charakteristikum der modernen Gesellschaft – und als eines ihrer Probleme. Denn als Fortschritt, Innovation oder Gestaltbarkeit positiv besetzt, einverlangt und befördert, ist Bewegung normative Zielvorgabe moderner Gesellschaft. Zugleich sind Risiken als 7

10 Minuten Soziologie: Bewegung

Kehrseite technischer und sozialer Innovationen spätestens seit Ende der 1960er Jahre bekannt und mit zu erwarten. Diese Spannung zwischen Bewegungsdrang und damit einhergehenden (Neben-)Folgen spiegelt sich in diversen gesellschaftlichen Gegenwartsdiagnosen – etwa der des flexiblen Menschen (Sennett 1998), der Beschleunigung (Rosa 2005) oder, als Gegenbewegung, der Degrowth- und Postwachstumsbewegung (bspw. Paech 2012). Bewegung hat also ihren Platz im Nachdenken über Gesellschaft. Und sie hat ihn genauso im Nachdenken über das Denken selbst. Für die Bewegung des Denkens hat Hegel das Konzept der Dialektik auf spezifische Weise bestimmt. In ausführlicher Auseinandersetzung in seiner Geschichte der Philosophie zeigt er den Zusammenhang zwischen Bewegung und Dialektik auf: »Daß die Dialektik zuerst auf die Bewegung gefallen, ist eben dieß der Grund, daß die Dialektik selbst diese Bewegung, oder die Bewegung selbst die Dialektik alles Seyenden ist. Das Ding hat, als sich bewegend, seine Dialektik selbst an ihm, und die Bewegung ist: sich anders werden, sich aufheben.« (Hegel, [1833] 1940, S. 313). Der darin liegende Gedanke eines Oszillierens zwischen sinnlich-empirischer und logisch-begrifflicher Position prägte direkt oder vermittelt – insbesondere über Karl Marx – moderne Gesellschaftstheorie. In der Figur einer Dialektik von »Basis und Überbau«, von Produktionsfaktoren und legitimatorischer Selbstbeschreibung, findet sich dieser Gedanke wieder in der marxistischen Gesellschaftstheorie (Marx 1859, 1951), in der Dialektik der Aufklärung (Adorno und Horkheimer [1944] 2004) oder im Konzept einer Korrespondenz zwischen Gesellschaftsstruktur und Semantik (Luhmann 1999). Weniger offensichtlich als auf dieser Ebene der Gesellschaftstheorie, doch in der Art des Beobachtens ebenso wirkmächtig, ist Bewegung in soziologischen Sozialtheorien. Die von Thomas Hobbes durch Talcott Parsons übernommene Gründungsszene 8

Einleitung

der Soziologie, in der sich Alter und Ego mit jeweils unberechenbaren Handlungsmöglichkeiten gegenüberstehen, birgt das Kernproblem der Möglichkeit sozialer Ordnung. Angesichts der mit einer Konstellation doppelter Kontingenz einhergehenden Unsicherheit (der Kontingenz des Handelns von Alter, auf das Ego sein ebenso kontingentes Handeln richtet und umgekehrt) ist Bewegung dem Sozialen immanent und Stabilität das eigentlich erklärungsbedürftige Phänomen. Folglich richten sich alle soziologischen Beobachtungsperspektiven auf Bewegungen – und zwar sowohl Handlungstheorien, die den Aufbau und die Reduktion dieser Unsicherheit im Subjekt verorten, als auch Strukturtheorien, die im Gegenteil beides auf die Ebene sozialer Strukturen verlegen, und auch jene im weitesten Sinne Praxistheorien, die im Akteur sowie in der Struktur jeweils Unsicherheit erzeugende und reduzierende Momente sehen. Überdies hat die Soziologie eine Vielfalt von Theorien mittlerer Reichweite um Bewegung hervorgebracht, die z.T. ganze Forschungsfelder bilden. Etwa untersucht die Soziologie sozialer Bewegungen unter Einbindung ganz unterschiedlicher theoretischer Perspektiven, wie soziale Bewegungen entstehen, wie sie sich wandeln, in welchem Bezug sie zur Gesellschaft stehen, wie sie, möglicherweise und möglicherweise unterschiedlich, Gesellschaft transformieren oder welche Typen sozialer Bewegungen sich unterscheiden lassen (z.B. Kern 2007). Vergleichsweise später entstanden, jedoch unterdessen zu einem Schnittstellenthema avanciert, ist die soziologische Einbeziehung von physischer Bewegung ins Soziale. Als mobility studies untersucht die Soziologie, wie Mobilität und Immobilität, wie soziale und materielle Aspekte, wie Bewegung im physischen und sozialen Sinne sich aufeinander beziehen (Sheller/Urry 2006; Urry 2007; Adey et al. 2014). Auch in der Soziologie des Raums (Löw 2001), der soziologischen Inbezugnahme von Raum und Zeit (Henkel et al. 2017) oder der Soziologie des Körpers und des Sports (Gu9

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gutzer et al. 2017) befasst sich die Soziologie mit Bewegung im weiten Sinne des Begriffes. Hält man sich diese Vielfalt von Bewegung vor Augen, so mag es lohnen, Bewegung soziologisch vertiefter in den Blick zu nehmen und dabei aus dem Reichtum soziologischer Perspektiven auf Bewegung zu schöpfen. Dem Prinzip der »10  Minuten Soziologie« folgend verbinden alle Beiträge eine theoretische Perspektive mit einem empirischen Gegenstand. Weder die Theorieseite noch die Fallseite wirkt dabei strukturierend in dem Sinne, hier etwa eine vollständige Übersicht über alle theoretischen Perspektiven zu einem Gegenstandsbereich oder alle Bewegungsgegenstände aus einer theoretischen Perspektive erstellen zu wollen – dies müsste im vorliegenden Format scheitern. Die damit akzeptierte Unabgeschlossenheit des soziologischen Beobachtens von Bewegung lädt daher dazu ein, die Gedanken in Bewegung zu halten und die Beiträge zum Thema Bewegung um eigene Beobachtungen zu ergänzen. Im ersten Beitrag »Bewegte Gesellschaft – Die Soziologie als Beobachterin sozialer Dynamik« erörtert Günter Burkart Bewegung von Gesellschaft und Soziologie in ihrem Wechselspiel. Dies hat zugleich einen einführenden Charakter. Anhand modernisierungstheoretischer Strömungen (Koselleck, Simmel, Luhmann, Rosa) spürt Burkart der Frage nach, wie die Gesellschaft in der Moderne mobilisiert, flexibilisiert und dynamisiert wird. Ausgehend von physikalischen und biologischen Bewegungsbegrifflichkeiten findet Burkart einen soziologischen Begriff der Bewegung, der aus diesen gewissermaßen materialen Bewegungen emergiert. Fortbewegung, Kommunikation und Arbeit dienen exemplarisch als empirische Anwendungsfelder einer derart bewegten Gesellschaft. Nachdem Bewegung in der Soziologie für das Feld der sozialen Bewegung und damit einer Verbindung von Freiheit, poli10

Einleitung

tischem Wandel und Bewegung zentral ist, fokussieren die drei Beiträge von Manuela Klaut, Melanie Werner und Lars Döpking dieses Verständnis. In ihrem Beitrag »Head out on the highway – Auf den Straßen von Captain America« untersucht Manuela Klaut aus einer filmsoziologischen Perspektive das spezifische Freiheitsverständnis einer freien Gesellschaft. Die Bewegung des Unterwegsseins auf dem highway, gesellschaftliche Bewegung sowie schließlich auch die Bewegung der Filmanalyse selbst verschränken sich dabei. Geht es bei Klaut mehr um Ausdrucksformen der sozialen Bewegung, untersucht Melanie Werner deren gesellschaftliche Funktion. In ihrem Beitrag »Soziale Bewegungen als Erscheinungsform der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft« adressiert sie soziale Bewegungen aus der systemtheoretischen Perspektive Luhmanns. Diese im Forschungsfeld der sozialen Bewegungen eher ungewöhnliche Theoriewahl erlaubt, die Funktion sozialer Bewegungen in der Sichtbarmachung gesellschaftlicher Missstände zu bestimmen. In diesem Sinne fragt Werner, inwiefern soziale Bewegungen in der Lage sind, die Funktionssysteme der ausdifferenzierten Gesellschaft zu irritieren. Mit hingegen explizit politischem und zudem aktuellem Fokus untersucht schließlich Lars Döpking Steuerrevolten aus historisch-makrosoziologischer Perspektive. In seinem Beitrag »Steuerzahler in Bewegung – US-amerikanische und italienische Steuerrevolten« zeigt er an der beispielhaften Betrachtung der permanenten Steuerrevolte in den USA und der italienischen Steuerrevolte der Jahre 2011-2012, wie Steuerzahler, einmal in Bewegung versetzt, erheblichen politischen Veränderungsdruck erzeugen können. Dazu extrapoliert Döpking zentrale soziale Mechanismen, die einen Vergleich auf struktureller Ebene ermöglichen: Durch technische Modernisierung kommt es zur Demontage von Steuerprivilegien, da Reformen der immobilen Steuerbasis, insbesondere bei Grundbesitz, Steuerzahlern die Möglichkeit nehmen, sich diesen zumindest 11

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kurzfristig informell zu entziehen. Genau die Abwesenheit eines solchen zeitlichen Puffers führt dann – so Döpking – zu Bewegungen, die als Revolte fiskalische Strukturen in ihren Grundfesten erschüttern. Der sozialen Bewegung, vielleicht auch der Bewegung an sich, wohnt neben allem Materiellen, Physischen oder Politischen stets auch ein phantastisches Element inne. Die Utopie, der Nicht-Ort, wirkt als positive oder negative Fiktion bewegungsmotivierend – sei es, um einen wünschenswerten ›Ort‹ zu erreichen, sei es, um eine vielleicht erschreckende Zukunft durch aktives Gegenbewegen zu vermeiden. Die phantastische Bewegung zwischen Utopie und Fiktion nehmen die drei folgenden Beiträge von Sina Farzin, Steffi Hobuß und Björn Wendt in den Blick. In ihrem Beitrag »climate change fiction: spekulative (Sozial-)Wissenschaft und literarische Fiktion« fragt Sina Farzin nach der Wechselwirkung zwischen wissenschaftlich-fundierten gesellschaftlichen Zukunftsaussagen und dem dadurch für den Bereich der Kunst geschaffenen Fiktionspotential. Die Perspektive der Differenzierungstheorie nach Luhmann trifft auf den Phänomenbereich der Science-Fiction-Literatur. Insbesondere die im Zuge der Forschung zum Klimawandel wissenschaftlich prognostizierten, z.T. katastrophalen Veränderungen gaben viel Anlass zu spekulativen Literaturverarbeitungen. Jedoch, so stellt Farzin heraus, ist diese Bewegung nicht einseitig. Es lässt sich vielmehr eine wechselseitige Inspiration von Wissenschaft und Literatur beobachten. Während Farzin derart Bewegungen zwischen Wissenschaft und Kunst untersucht, geht es Steffi Hobuß in ihrem Beitrag »Dekonstruktion und/als Bewegung: Derrida über die akademische Lehre« um Bewegung, deren Form und Notwendigkeit als Kern wissenschaftlicher Bildung. Die theoretische Perspektive der Dekonstruktion von Jacques Derrida verwendet sie zur Erklärung des akademischen Anspruchs der Lehre an die Studierenden und dann zur Dekonstruktion 12

Einleitung

der Lehre selbst. So zeigt Hobuß auf, dass die akademische Lehre zwar durch Selbstverständlichkeiten, Sachzwänge sowie Machtverhältnisse naturalisiert und neutralisiert wird, deren Sichtbarmachung jedoch wieder Möglichkeitsräume und Bewegung generiert. Die Bewegung der Utopie selbst schließlich ist Gegenstand des Beitrags von Björn Wendt »›Utopie in Bewegung‹ – Plädoyer für einen dynamischen und mehrdimensionalen Utopiebegriff«. Gegen die These vom Ende der Utopie und einen eindimensionalen und starren Utopiebegriff der Totalitarismustheorie argumentierend, konzeptualisiert Wendt Utopien als eine bewegliche, reflexive und sozialkritische Denkform, die soziogenetisch mit sozialen Bewegungen verbunden ist und sich in ihren Intentionen, Formen, Inhalten, Funktionen und Selbstverständnissen im Laufe des Modernisierungsprozesses stetig transformiert, indem sie immer wieder aufs Neue die bestehenden Missstände der Gegenwartsgesellschaft problematisiert, die sich aufspannenden positiven wie negativen Möglichkeitsfenster erkundet und zum Besseren hin zu vermitteln versucht. Obwohl sich die Soziologie als Wissenschaft des Sozialen versteht, ist die physische Bewegung im Raum notwendig Gegenstand soziologischer Forschung, sind soziale und physische Bewegungen doch eng miteinander verbunden. Die Beiträge von Weert Canzler, Ute Samland und Steffen Greve beleuchten exemplarisch Besonderheiten, die sich aus dieser Verwobenheit ergeben. In seinem Beitrag »Das Automobil und die moderne Gesellschaft« fragt Weert Canzler aus der Perspektive der Theorie der Strukturierung, wie sich das Fahren mit dem Automobil als dominante Form der räumlichen Mobilität im 20. Jahrhundert entwickeln konnte und wie Alternativen der Bewegung aussehen könnten. Im Anschluss an Anthony Giddens fokussiert Canzler dabei auf strukturelle Bedingungen und Verhaltensroutinen. Verhaltensroutinen haben eine Entlastungsfunktion und werden nur langsam verändert. Vor allem in Städten kön13

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nen Änderungen im Verkehrshandeln zugunsten der vermehrten Nutzung von Sharing-Diensten anstatt eines eigenen Autos beobachtet werden. Der Beitrag diskutiert, welche veränderten strukturellen Rahmenbedingungen dazu notwendig sind. Nach veränderten Mobilitätspraktiken fragt auch Ute Samland in ihrem Beitrag »Soziale Innovationen für nachhaltige Bewegung – alternative Mobilitätskonzepte für den ländlichen Raum«, wobei der Fokus hier auf Mobilitätshemmnissen und -praktiken im ländlichen Raum liegt. Aus der Perspektive der Innovationstheorie von Werner Rammert fragt sie nach alternativen Mobilitätspraktiken im ländlichen Raum, insbesondere, inwieweit durch mobile Web-Applikationen, die unterschiedliche Mobilitätsanbieter verbindet, alternative Mobilitätsmuster entstehen. Deutlich wird, dass eine solche Mobilitäts-App zwar innovative Elemente enthält, jedoch eine gesellschaftsweite Wirksamkeit und damit das Erzielen eines sozialen Wandels nur im Rahmen größer angelegter Innovationsschwärme entfaltet werden kann. Die Bewegung des menschlichen Körpers schließlich ist Gegenstand des Beitrags »Kasuistisches Auswerten und kontakttheoretische Überlegungen im Kontext von Bewegung, Spiel und Sport in heterogenen Settings« von Steffen Greve. Aus der Perspektive der Kontakttheorie diskutiert Greve eine Situation, die sich im Sportunterricht einer Grundschulklasse ereignet hat, sowie die Situation einer Basketballmannschaft, in der Spieler mit und ohne Behinderung teilnehmen. Praxisorientiert wird darauf fokussiert, wie spezifische normenorientierte Problemlagen durch gezielte Analyse aufgedeckt und dann gegebenenfalls verbessert werden können. Wie der erste Beitrag von Günter Burkart einen großen Bogen gesellschaftlicher Bewegung spannte, so öffnet auch der Schlussbeitrag von Nikolai Drews für die Vielfalt des soziologischen Nachdenkens über Bewegung. In seinem Beitrag »Unentwegt sinnhaftes Bewegen« fragt Drews in einer Verbindung der 14

Einleitung

Perspektiven von Phänomenologie und Systemtheorie, inwiefern es möglich ist, einen soziologischen Begriff des Bewegens abzustecken, der gerade nicht physikalisch-räumlich geprägt ist. Einer Antwort kommt er näher mit dem Sinnbegriff als Unterscheidung von Aktualität und Potentialität, angewendet auf den Begriff ›unentwegt‹. In der modernen Gesellschaft bildet Bewegung nicht nur einen Gegenpol zu Stillstand oder Immobilität, sondern entfaltet eine ganz eigene Dynamik. Die Vielfalt des hier soziologisch aufgespannten Horizonts regt an zur Beweglichkeit im Nachdenken über ›Bewegung‹.

Literatur Adey, Peter/Bissell, David/Hannam, Kevin/Merriman, Peter/Sheller, Mimi (Hg.) (2014): The Routledge Handbook of Mobilities. Oxon: Routledge. Adorno, Theodor/Horkheimer, Max ([1944] 2004): Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a.M.: Fischer. Gugutzer, Robert/Klein, Gabriele/Meuser, Michael (Hg.) (2017): Handbuch Körpersoziologie. Wiesbaden: Springer VS. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich ([1833] 1940): Vorlesung über die Geschichte der Philosophie. Hegel-Gesamtausgabe Bd. 13. Berlin: Verlag von Duncker und Humblot. Henkel, Anna/Laux, Henning/Anicker, Fabian (Hg.) (2017): Raum und Zeit. Soziologische Beobachtungen zur gesellschaftlichen Raumzeit. Weinheim: Beltz Juventa. Kern, Thomas (2007): Soziale Bewegungen. Ursachen, Wirkungen, Mechanismen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Löw, Martina (2001): Raumsoziologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas (1999): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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10 Minuten Soziologie: Bewegung Marx, Karl ([1859] 1951): »Zur Kritik der politischen Ökonomie. Vorwort«. In: Karl Marx/Friedrich Engels. Ausgewählte Schriften in zwei Bänden. Bd. I. Berlin: Dietz, S. 336-340. Paech, Niko (2012): Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie. München: Oekom. Rosa, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Sennett, Richard (1998): Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin: Berlin Verlag. Sheller, Mimi/Urry, John (2006): »The New Mobilities Paradigm«. In: Environment and Planning A 38, S. 207-226. Urry, John (2007): Mobilities. Cambridge: Polity Press.

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Gesellschaftstheorie der Moderne Bewegte Gesellschaft. Die Soziologie als Beobachterin sozialer Dynamik Günter Burkart Die Soziologie ist die Wissenschaft der modernen Gesellschaft: Sie ist in der Moderne entstanden, und sie beobachtet deren Dynamik. Gesellschaften waren schon immer in Bewegung. Es gab Völkerwanderungen und Eroberungskriege, Grenzverschiebungen, Flucht und Vertreibung. Auch im kleineren Maßstab sind Gesellschaften dynamische Gebilde: Kontinuierlich verändern demographische Ereignisse (Geburt, Heirat, Tod) und andere Vorkommnisse (Religionsgründungen, Regierungswechsel, Erfindungen) die Schwingungskurve der sozialen Welt. Das war schon immer so. Doch in der Moderne, der Epoche seit dem 18. Jahrhundert, steigerte sich die gesellschaftliche Dynamik noch einmal deutlich. Tempo und Beschleunigung wurden zum Signum der Zeit, Rastlosigkeit, Unruhe und Hektik bestimmten zunehmend das kulturelle Klima. Doch was heißt eigentlich ›Bewegung‹ und was bedeutet das in Bezug auf Gesellschaft? Menschen bewegen sich und bewegen sich fort, aber ›die Gesellschaft‹? Ausgangspunkt für die im folgenden Abschnitt vorgenommene begriffliche Klärung ist der physikalische Bewegungsbegriff, aber die Soziologie kann nicht auf ›Soziale Physik‹ reduziert werden (wie Auguste Comte noch glaubte, der diesen Ausdruck prägte). Wir fragen also im Folgenden zunächst, wie ein soziologischer Bewegungsbegriff aussehen könnte und zeigen dann, wie dieser in der Moderne wichtiger wurde. Im Anschluss daran wird die Entstehungsgeschichte der akademischen Disziplin Soziologie unter der Pers17

Günter Burkart

pektive beleuchtet, dass sie es von Anfang an mit bewegter Gesellschaft zu tun hatte. Sie entwickelte eine entsprechende Theorie der Moderne, in der Tempo und Beschleunigung eine besondere Bedeutung erhalten. Abschließend werden beispielhaft drei wichtige gesellschaftliche Felder beleuchtet, deren Elemente im Verlauf der historischen Entwicklung mobilisiert, d.h. in Bewegung gesetzt, flexibilisiert, d.h. bewegungsfähiger gemacht, und dynamisiert, d.h. beschleunigt wurden: Fortbewegung, Kommunikation und Arbeit.

Bewegung in Natur und Gesellschaft – Ein soziologischer Bewegungsbegriff Unsere alltägliche Vorstellung von Bewegung ist stark von der Physik beeinflusst: Als Bewegung gilt die Ortsveränderung eines Körpers im Zeitverlauf, ausgelöst durch einen Impuls, eine Kraft. Genauer gesagt: Bewegung ist der Prozess der Ortsveränderung. Etwas andere Vorstellungen lassen sich in der Biologie finden. Zum einen braucht es bei Lebewesen nicht unbedingt eine äußere Kraft, die eine Bewegung auslöst; sie bewegen sich häufig durch Selbsteinwirkung. Sie sind, sozusagen, auto-mobil. Und zum zweiten wird in der Biologie Bewegung oft als Wachstum, als Zustandsveränderung der Gestalt verstanden. Da es sich dabei meist um sehr langsame Veränderungen handelt, die sich unterhalb der Wahrnehmungsschwelle des Menschen vollziehen, bezeichnen wir solche Prozesse im Alltag für gewöhnlich nicht als ›Bewegung‹ (während Wissenschaftler mit bestimmten Methoden der ›Zeitraffung‹ durchaus solche Mikro-Bewegungen sichtbar machen können: als Slow Motion). Häufig ist jedoch auch dann von Bewegung die Rede, wenn es weder einen Körper zu identifizieren gibt, der eine Ortsveränderung vornimmt, noch etwas, das wächst. So gibt es z.B. in der Musik die Vorstellung, dass sich zwei Tonreihen – die eine auf-, die andere absteigend in der Tonhöhe – aufeinander zu be18

Gesellschaftstheorie der Moderne

wegen. Oder wir lassen uns von einem gefühlsbetonten Ereignis ›bewegen‹ (das Wort ›Emotion‹ lässt sich auf Bewegung – lat./ engl. motion – zurückführen). Begriffe erfahren also häufig eine Übertragung auf andere Gebiete, sie werden metaphorisch verwendet, wobei die konkrete und lebenspraktische Vorstellung meist zugunsten einer abstrakteren Beziehung verloren geht. Was bewegt sich z.B. bei ›geistiger Beweglichkeit‹? Neurologen würden dabei vielleicht Erregungsimpulse zwischen Neuronen im Gehirn beobachten, aber es ist bekanntlich äußerst fragwürdig, den menschlichen Geist auf das biologische Hirn zu reduzieren. ›Der Geist bewegt sich‹: damit ist offenbar, sehr viel abstrakter als bei körperlichen Bewegungen, eine Verschiebung von einem Stand-Punkt des Denkens hin zu einem anderen gemeint, eine Veränderung der mentalen Fokussierung. Ähnlich ist es bei ›sozialen Bewegungen‹, und damit sind wir bei der Soziologie. Was ist gemeint, wenn man sagt, das Soziale bewege sich bzw. eine Bewegung sei ›sozial‹? Man könnte zunächst an Menschen denken, die sich kollektiv bewegen, in einer permanenten Ortsveränderung, z.B. auf einer Demonstration. Das geht jedoch kaum über den physikalischen Bewegungsbegriff hinaus. Ein angemessenes Verständnis von Sozialen Bewegungen ist so nicht möglich. Soziologische Definitionen dieser Sozialform betonen vor allem den Aspekt der Mobilisierung, im Sinne einer Aufforderung an bestimmte Leute, sich zu engagieren, die Gesellschaft zu verändern, also z.B. hin zu mehr Freiheit oder mehr Gerechtigkeit. Soziale Bewegungen wollen die Gesellschaft in Bewegung versetzen – weg von starren, verkrusteten Strukturen und festen Traditionen. Nicht immer gibt es ein klares Ziel, zu dem die Bewegung führen soll. Oft geht es nur um die Suche nach Wegen, nach Bewegungsmöglichkeiten (Bewegung: einen Weg finden). Es geht beim soziologischen Bewegungsbegriff also um weit mehr als menschliche Fortbewegung. In der metaphorischen 19

Günter Burkart

Verwendung weitet sich der Begriff, und wir können von der ›bewegten Gesellschaft‹, von ›gesellschaftlichen Bewegungen‹ sprechen, wenn wir Zustandsveränderungen sozialer Strukturen meinen, dynamische Veränderungen eines flexiblen Gebildes. Bewegungen sind nicht nur räumliche, sondern auch zeitliche Phänomene. Dabei ist allerdings zu betonen, dass mit ›Gesellschaft‹ nicht in erster Linien Menschen gemeint sind, auch nicht die Bevölkerung, sondern Interaktionen und Kommunikationen, die sehr flüchtig sind, sich allerdings auch zu Ritualen, Institutionen und Systemen verfestigen können, vergleichbar einem flüssigen Lavastrom, der irgendwann erstarrt. Natürlich gehören auch menschliche Bewegungen und Fortbewegungen zur Gesellschaft, denn sie sind keine rein physikalischen Phänomene. Sie sind mit Sinn aufgeladen, eingebettet in Interaktionen und Lebensweisen, Möglichkeitshorizonte und Zukunftspläne. Außerdem kann menschliche Fortbewegung gesellschaftliche Veränderungen nach sich ziehen oder auch von solchen Veränderungen ausgelöst und beeinflusst worden sein.

Bewegung und Beschleunigung als Signum der Moderne (Koselleck) In der Moderne – hier verstanden als Epoche, die etwa in der Mitte des 18. Jahrhunderts beginnt und in der wir uns im Prinzip noch heute befinden – stellt sich die westliche Kultur grundlegend von einer statischen Ordnung auf Bewegung um. Und sie entwickelt eine dazu passende grundlegend neue Zeitvorstellung. Zeit wird nicht mehr als feste göttliche Ordnung verstanden, als ewiger Kreislauf (zirkuläre Zeit), sondern als lineare Bewegung, als Vorwärts-Schreiten des Handelns in die Zukunft: als Fort-Schritt. Die Zeit ist keine stabile kosmische Ordnung mehr, sondern eine permanente Bewegung, denn alles Soziale ereignet sich im ›Fluss der Zeit‹.

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Gesellschaftstheorie der Moderne

Das Tempo des gesellschaftlichen Wandels erhöht sich, Beschleunigungsprozesse kommen in Gang. Abgesehen von technischen Entwicklungen (Dampfmaschine, Eisenbahn) lässt sich dieser Wandel gut ablesen an neuen ›Bewegungsbegriffen‹ des 18. Jahrhunderts wie Fortschritt oder Revolution und verzeitlichten Begriffen wie Geschichte oder Zukunft (Koselleck 1977, 2006). Die alte Vorstellung von Geschichtsschreibung als Bestandsaufnahme oder Einteilungshilfe verflüchtigt sich allmählich zugunsten einer neuen Vorstellung von ›Geschichte‹ als einer aktiven, zukunftsgerichteten Angelegenheit, die nicht ein für alle Mal fixiert werden kann, sondern immer wieder neu geschrieben werden muss. Der zeitliche Vergleich wird für das Geschichtsbewusstsein zunehmend wichtiger. Es geht um: Fortschritt oder Rückschritt, Einholen/Überholen, ›zu früh/zu spät‹ und so weiter. Koselleck (1977: S. 282) spricht von der »Grunderfahrung der Bewegung«, der »Erfahrung der Beschleunigung« und davon, »dass jede neue Modernität dazu bestimmt ist, sich selbst zu überholen«. Die eigene Zeit (die Gegenwart) wird immer mehr als Übergangszeit erfahren, als schnelles Durchgangsstadium in eine offene Zukunft. Alles ist beweglich geworden, der Wandel beschleunigt sich. Fortschritt ist ständige Verbesserung, Steigerung, Perfektionierung, Tempoverschärfung – bloß kein Stillstand. Auch politische Begriffe werden verzeitlicht, d.h. als Bewegungsbegriffe gefasst. Sie werden nun so konzipiert, dass »die Veränderung der bestehenden Zustände wünschenswert, notwendig und daher auch geboten ist« (Koselleck 2006: S. 84). Aus ›Demokratie‹ zum Beispiel wird ›Demokratisierung‹. Es geht nicht mehr primär um eine stabile, statische Regierungsform, sondern um einen unabschließbaren Prozess ständiger Erneuerung.

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Günter Burkart

Die Geburt der Soziologie aus dem Geist der gesellschaftlichen Dynamik Soziologisches Denken ist, der Sache nach, ziemlich alt. Schon Aristoteles hatte sich mit der Gesellschaft der Polis befasst und dabei den Menschen als zoon politikon aufgefasst, als politisches Lebewesen bzw., wie das Mittelalter den Begriff verstand, als animal sociale. Die eigentlichen Vorläufer der Soziologie sind solche Denker, für die der Mensch sein Schicksal selbst in die Hand nimmt – eine Vorstellung, die sich seit der Frühen Neuzeit immer mehr verbreitete und im 18. Jahrhundert, mit der Aufklärung, durchsetzte. Seither lautete die soziologische Grundfrage: Was hält Gesellschaften zusammen? Was müssen die Menschen in Bewegung setzen – aber auch: was müssen sie abbremsen und anhalten –, damit die Gesellschaft funktioniert und sich nicht in einer chaotischen Zerfallsbewegung auflöst? Im engeren Sinn entsteht die Soziologie erst, als sie sich von der Philosophie abnabelt, und das geschieht nicht zuletzt dadurch, dass sie nicht nur – wie es die Philosophie oft tut – theoretische und moralische Prinzipien erörtert, sondern in einer neutralen und bescheidenen Haltung die Gesellschaft vor allem beobachtet – theoretisch und empirisch. Wie sie sich entwickelt, was gut läuft, was schlecht läuft. Die ›Moralstatistik‹ (eine frühe Form der Sozialstatistik im 18. Jahrhundert) gilt deshalb als echter Vorläufer der Soziologie. Sie entstand vor dem Hintergrund tiefgreifender sozialer Umwälzungen: schnelles Bevölkerungswachstum, Ernährungskrisen, Epidemien. Der moderne Staat erkannte, dass für gutes Regieren Informationen über Bevölkerungsbewegungen notwendig sind: Daten zu Geburten, Eheschließungen, Todesfällen, Krankheiten. Die Idee der dynamischen Kurve entstand, mit der (lange vor der Erfindung animierter Graphiken) Prozesse abgebildet werden konnten, eben Bevölkerungsbewegungen wie ›steigende‹ oder ›fallende‹ Geburtenraten. 22

Gesellschaftstheorie der Moderne

Als ›Gründerväter‹ der Soziologie gelten eine Reihe von Gelehrten aus Deutschland, Frankreich und den USA, die seit den 1890er Jahren daran arbeiteten, die neue Denkweise akademisch zu etablieren, als wissenschaftliche Disziplin: Max Weber, Georg Simmel, Emile Durkheim, George Herbert Mead und einige andere. Sie wurden wissenschaftlich tätig in einer Zeit – gegen Ende des 19. Jahrhunderts –, die von enormen sozialen Problemen geprägt war: Urbanisierung und Verelendung, Sinnverlust und Orientierungslosigkeit.

Theorie der Moderne Die soziologischen Arbeiten zu einer ›Theorie der Moderne‹ oder ›Modernisierungstheorie‹ (auch ein Bewegungsbegriff) sind breit gefächert. Wie schon erwähnt, lassen sich die Theorien der soziologischen Gründerväter auf den gemeinsamen Nenner bringen, dass wir es mit dem Übergang in die Moderne mit einer Reihe von gravierenden Veränderungen zu tun haben, nicht zuletzt mit größerer Dynamik (Verzeitlichung), zunehmender Bewegung und Beschleunigung. Allerdings ist man sich in der Bewertung der Dynamik nicht einig, zwei Richtungen stehen sich gegenüber: die einen, die Skeptiker und Modernisierungskritiker (im Anschluss an Nietzsche und Heidegger), konzentrieren sich eher auf die unerwünschten Folgen des Fortschritts, wie Entfremdung und Überforderung. Oder es wird die der Modernisierungstheorie immanente Vorstellung von der Überlegenheit des Westens kritisiert. Für die anderen, die Optimisten, allen voran Talcott Parsons, ist die westliche Moderne die beste aller Welten, die es bisher gab. Doch gibt es auch eher neutrale oder vermittelnde Positionen bzw. solche, denen es nicht um die Bewertung als positiv oder negativ geht, weil sie oft beides zugleich sehen. Besonders Georg Simmel (1856-1918) war ein seismographischer Beobachter der modernen Gesellschaft, der ihre Am23

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bivalenzen thematisierte. Mit dem Begriff der Wechselwirkung brachte er seine Grundidee zum Ausdruck, dass sich die Gesellschaft durch ständige Bewegungen auf der Mikro-Ebene entfaltet. ›Wechselwirkung‹ bedeutet, dass soziale Beziehungen immer gegenseitig aufeinander reagieren, nie ganz fest sind oder stillstehen. Sie sind immer als Prozess gedacht. Das gilt selbst für die Liebe, die auch ohne konkretes Liebesobjekt weiterläuft: Liebe bewegt sich ›in sich selbst‹, im »Leergang« (Simmel 1985, S.  233). Simmels Theorie der Moderne betont die Optionsvielfalt einer offenen Zukunft. Dabei spielt das Geld eine wichtige Rolle (eine Besonderheit von Simmels Theorie). Geld führt zu einer geradezu unendlichen Bedürfnisvielfalt. Da man mit Geld fast alles kaufen kann, wird jede Bedürfnisbefriedigung sofort wieder überlagert von neuen Bedürfnissen. Der Konsument ist in permanenter Spannung. Das Geld wurde zu einem »ständigen Stachel zur Tätigkeit. Daher die Unruhe, Fieberhaftigkeit, Pausenlosigkeit des modernen Lebens, dem im Gelde das unabstellbare Rad gegeben ist, das die Maschine des Lebens zum Perpetuum mobile macht« (Simmel 1983, S. 89). Simmel spricht vom »absoluten Bewegungscharakter der Welt«, von der Moderne als »fließender Bewegung« (Makropoulus 2018, S. 375). Modernisierung ist ein Prozess abnehmender Stabilität, und das Tempo des Lebens beschleunigt sich. Niklas Luhmann (1927-1997) gehört zu den wichtigsten Theoretikern der deutschen Soziologie im 20. Jahrhundert. Oberflächlich gesehen machen seine Systemtheorie und seine Theorie der Differenzierung von Funktionssystemen nicht den Eindruck einer adäquaten Theorie für die bewegte und beschleunigte Gesellschaft. Aber bei genauerer Betrachtung steht Luhmann Simmel gerade diesbezüglich durchaus nahe. Wenn Luhmann von ›Systemen‹ spricht, dann meint er zunächst nicht fest-strukturierte Gebilde, sondern sehr fluide und flüchtige Phänomene (Luhmann 1984, S. 76ff.). ›Soziale Systeme‹ bestehen aus Kom24

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munikationen, und einfache Systeme dieser Art entstehen und vergehen ständig. Soziale Systeme sind ›unruhig‹, sie tendieren nicht zu einem stabilen Gleichgewicht, sondern stehen sozusagen immer auf der Kippe. Sobald die Kommunikation endet, verflüchtigt sich ein solches System, wie man sich am Beispiel eines kurzen Gesprächs zwischen Nachbarn klar machen kann. In Bezug auf den Modernisierungsprozess und die Verzeitlichung folgt Luhmann weitgehend Koselleck und sieht darüber hinaus eine Bewegung der Ausdifferenzierung: Gab es im Feudalsystem noch ein festes Zentrum mit der herrschenden Elite, so bewegen sich beim Übergang zur Moderne die verschiedenen Funktionsbereiche auseinander (›Ausdifferenzierung‹). Zwar sieht Luhmann in Übereinstimmung mit der Modernisierungstheorie von Parsons deutliche Vorteile der neuen Zeit, doch auch er sieht Ambivalenzen: Es kann keine nur positive Entwicklung geben, die ›gute Gesellschaft‹ oder der Fortschritt ist nicht planbar, man muss immer mit nicht-intendierten Handlungsfolgen rechnen (Luhmann 1997, S. 430, S. 777f.). Luhmann hat außerdem die Position der analysierenden Wissenschaft zu einem Bewegungsbegriff gemacht. Die sich bewegende Gesellschaft kann nicht von einem ruhigen, festen Standpunkt aus analysiert (›beobachtet‹) werden, denn diesen festen Standort gibt es nicht mehr, wenn alles in Bewegung ist. Jede Erkenntnis ist relativ, ihre ›Wahrheit‹ ändert sich ständig, so wie ein Berg immer anders aussieht, wenn man ihn umrundet. Mit der Moderne sind, wie gesagt, die gesellschaftlichen Bewegungen beschleunigt worden. In der gegenwärtigen Soziologie hat sich besonders Hartmut Rosa (geb. 1960) dieses Themas angenommen. Er unterscheidet drei Formen der Beschleunigung: neben der technischen noch die Beschleunigung des sozialen Wandels sowie jene des Lebenstempos. Als ›Motoren‹ der Beschleunigung identifiziert Rosa den Wettbewerb, der alle Beteiligten ständig zu Überholmanövern treibt, sowie einen »Be25

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schleunigungszirkel«. Für Rosa (2013) ist die Beschleunigung der Gesellschaft ein Problem, weil sie zu Überforderung und Entfremdung führt. Empirisch zeigen sich Dynamisierung und Beschleunigung auf vielen Ebenen, sei es bei bewegten Bildern (schnellerer Schnitt in Filmen und Videos), im Sport (Rekorde), in der globalen Migration (mehr politische Flüchtlinge und mehr Arbeitsmigration im Pflegebereich) oder bei demokratischen Wahlen (immer mehr ›Wechselwähler‹). Im Folgenden seien drei wichtige gesellschaftliche Bereiche hervorgehoben.

Beschleunigung der menschlichen Fortbewegung Vordergründig ist menschliche Fortbewegung nichts anderes als die Ortsveränderung physikalischer Körper. Doch im Unterschied zu diesen haben menschliche Ortsveränderungen immer auch einen subjektiven und sozio-kulturellen Sinn. Soziale Fortbewegungen entstehen nicht einfach durch eine einwirkende Kraft, sondern durch Motive (Beweggründe) und Zielsetzungen. Diese wiederum entstehen vor dem Hintergrund von Kultur (Ideen, Wertvorstellungen), z.B. der Idee von individueller Mobilität oder von Tempo als Lebensausdruck oder von Selbstverwirklichung durch körperliche Aktivitäten. Für Jahrmillionen musste sich der Mensch damit begnügen, sich aus eigener Kraft (zu Fuß) fortzubewegen, bevor er Pferde domestizierte, Hundeschlitten, Radwagen oder Boote erfand. Gemessen an dieser langen Entwicklungszeit ist es eine sehr kurze Zeitspanne, seit es möglich ist, sich in ein motorbetriebenes Fahrzeug zu setzen oder sich, noch deutlich schneller, in einem Flugzeug fortzubewegen. Die kulturellen Impulse für die Bemühungen zur Erfindung und Entwicklung des Automobils und anderer Fortbewegungsmaschinen lassen sich im Wertesystem der Moderne finden: Mobilität und Individualismus. Aber 26

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auch Bequemlichkeit (Komfort) ist wichtig: Je schneller sich der Mensch mit technischer Hilfe fortbewegen kann, desto mehr bleibt sein Körper unbeweglich (Burkart 1994). Die ersten motorisierten Wettrennen am Ende des 19. Jahrhunderts, die dem Automobil zu schnellerer Durchsetzung verhalfen, verliefen noch in gemächlichem Tempo, doch bald wurden immer neue Geschwindigkeitsrekorde gemeldet. Bis die automobile Lebensweise sich endgültig durchgesetzt hatte, vergingen in Europa noch einige Jahrzehnte. Seit ihrem Höhepunkt in den 1970er Jahren wird die individuelle automobile Fortbewegung allerdings kulturell abgebremst, in erster Linie aufgrund der ökologischen Kritik an der massenhaften Mobilität, aber auch durch Übermotorisierung, die zu permanenten Stau-Situationen in bestimmten Gebieten geführt hat. Die Zukunft sehen viele in Car-Sharing-Modellen, aber auch jenseits des Automobilismus, in der individuellen Luftfahrt mit kleinen Leichtbaufliegern.

Mobilisierung und Beschleunigung der Kommunikation Menschliche Kommunikation beschränkte sich lange Zeit auf Kontakte unter Anwesenden (Face-to-Face-Kommunikation) mittels mündlicher Sprache oder auch nonverbal (Augen-, Körpersprache, Gesten). Mit zunehmender Mobilität entstand ein Bedarf nach Medien der Fernkommunikation: Rauchzeichen, Buschtrommel, Botschaft, Brief. Das geht historisch weit zurück, man denke nur an den laufenden Boten, der den Athenern vom Sieg bei Marathon berichtet haben soll. Aber erst in der beginnenden Moderne, mit der ›industriellen Revolution‹, kamen neue technische Medien der Fern-Kommunikation auf, die eine enorme Beschleunigung der Abfolge von Kommunikationszügen ermöglichten. Optische Telegraphen beschleunigten schon am Ende des 18. Jahrhunderts die 27

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Fern-Kommunikation deutlich gegenüber der Briefkommunikation (Flichy 1994). Der Durchbruch zur Kommunikation in Echtzeit, d.h. ohne Zeitverzögerung trotz großer räumlicher Entfernung, kam mit der Elektrifizierung im 19. Jahrhundert. Sie ermöglichte die Erfindung von Telegraph und Telefon, und mit diesen Medien kam es zu einer weitgehenden Auflösung der raum-zeitlichen Grenzen der Fern-Kommunikation. Dieses Prinzip der Echtzeitfernkommunikation wurde weiter entwickelt durch den Mobilfunk. Nun wurde Kommunikation möglich in Situationen, wo sich die Gesprächspartner voneinander fortbewegen, zunächst im militärischen Kontext und im Seefunk. Auf diese Weise wurde die Weltöffentlichkeit innerhalb weniger Stunden über den Untergang der Titanic im Jahr 1913 informiert, während ein Jahr vorher der Wettlauf um das Erreichen des Südpols für die eine Gruppe (Scott) tödlich endete, weil sie von jeglicher Informationsquelle abgeschnitten war und deshalb nicht wusste, dass die andere Gruppe (Amundsen) den Pol längst erreicht hatte, einen Monat vorher. Hätten sie es erfahren, hätten sie ihre Expedition vielleicht rechtzeitig abgebrochen und wären gerettet worden. (Fern-)Kommunikation hat sich also mit technischer Hilfe von festen Ort-/Zeit-Koordinaten gelöst. Sie hat sich dadurch dramatisch beschleunigt. Das letzte Hindernis für die Realisierung einer vollmobilen Fernkommunikation wurde mit der Erfindung digitalisierter Kleingeräte anfangs der 1990er Jahre beseitigt. Das Handy löste nicht nur die Fern-Kommunikation von einem festen Standort (Festnetztelefon), sondern demokratisierte diese Option radikal. Inzwischen ist für fast jede Person bei fast jeder Art der Fortbewegung Fernkommunikation in Echtzeit möglich, beim touristischen Gang durch die Wüste ebenso wie beim einfachen Einkaufsbummel. Mit dem Mobiltelefon, das als Smartphone inzwischen zur Grundausstattung eines vollwertigen Gesellschaftsmitglieds gehört, ist also ein Zu28

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stand der fast grenzenlosen, vollständig mobilisierten Kommunikation erreicht.

Flexibilisierung und Mobilisierung der Arbeit Auch die Arbeitsprozesse haben sich dynamisiert, wenn auch vielleicht nicht in so auffälliger Weise wie bei Fortbewegung und Kommunikation. Arbeit ist mobiler geworden, Mobilitätsbereitschaft und -fähigkeit gelten zunehmend als wichtige Qualifikation für immer mehr Arbeitsbereiche, als Voraussetzung für berufliches Fortkommen. Wer nicht mobil ist, also nicht bewegungsbereit, wird »abgehängt« (Boltanski/Chiapello 2003, S. 292f., S. 397-412). Die Mobilisierung der Arbeit zeigt sich auf vielen Ebenen. Weltweit gibt es ein höheres Maß an Arbeitsmigration, vor allem – zusätzlich zur klassischen, eher männlichen, Migration in Industrie und industrienahen Dienstleistungen – im Haushaltsund Pflegesektor der reichen westlichen Länder, wo immer mehr Frauen aus Asien, Afrika oder Südamerika arbeiten. Zugenommen hat auch das Berufspendeln, u.a. weil immer mehr Jobs und Projekte zeitlich befristet sind und ein Umzug an den Arbeitsort daher meist nicht sinnvoll ist. Generell ist es zu einer Flexibilisierung der Arbeit gekommen, einer Aufweichung fester Arbeitszeiten und fester Arbeitsorte und zu einer Grenzverwischung zwischen eigenem Arbeitsplatz und eigener Wohnung. Viele Arbeitnehmer arbeiten, während sie unterwegs zwischen den beiden Orten sind. Selbst im klassischen Industriebetrieb wird die Arbeit mobil; viele Arbeitsvorgänge werden über mobile Kommunikationskanäle gesteuert (Strobel 2019). Schließlich ist die Perspektive einer festen Berufslaufbahn mit Arbeitsplatzsicherheit und geregelten Aufstiegschancen immer mehr zugunsten von temporären Beschäftigungsverhältnissen in befristeten Jobs oder in Projekten verloren gegangen. Projekt-Mobilität wurde zu einem wichtigen Merkmal für be29

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ruflichen Erfolg (Boltanski/Chiapello 2003). Auch ein geregelter Ruhe-Stand (das Wort verweist gleich doppelt auf das Ende der biographischen Bewegung) ist seltener geworden.

Bewegte Gesellschaft Die gesellschaftliche Ordnung stellt sich in der modernen Welt also nicht mehr in erster Linie als strukturelle Ordnung dar, sondern als prozessuale, als mobile Ordnung. Die Menschen bewegen sich schneller und dynamischer, aber mehr noch sind es die sozialen Strukturen, die zunehmend in Bewegung geraten, begleitet von Diskursen über Schnelligkeit und Beschleunigung als manchmal anstrengende, aber letztlich den Fortschritt sichernde Prinzipien, die den unsteten Charakter der modernen Weltgesellschaft ausmachen.

Zum Weiterlesen Klein, Gabriele (2017): »Bewegung«. In: Robert Gugutzer/Gabriele Klein/Michael Meuser (Hg.). Handbuch Körpersoziologie. Bd. 1: Grundbegriffe und theoretische Perspektiven. Wiesbaden: Springer VS, S. 9-14. Koselleck, Reinhart (2006): Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Rosa, Hartmut (2013): Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit. Berlin: Suhrkamp.

Literatur Boltanski, Luc/Chiapello, Eve (2003): Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: Universitätsverlag.

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Gesellschaftstheorie der Moderne Burkart, Günter (1994): »Individuelle Mobilität und soziale Integration. Zur Soziologie des Automobilismus«. In: Soziale Welt 45, S. 216-241. Burkart, Günter (2007): Handymania. Wie das Mobiltelefon unser Leben verändert hat. Frankfurt a.M.: Campus. Flichy, Patric (1994): Tele. Geschichte der modernen Kommunikation. Frankfurt a.M.: Campus. Koselleck, Reinhart (1977): »›Neuzeit‹. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe«. In: Ders. (Hg.). Studien zum Beginn der modernen Welt. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 264-299. Koselleck, Reinhart (2006): Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Makropoulus, Michael (2018): »Moderne und Modernität«. In: HansPeter Müller/Tilman Reitz (Hg.). Simmel-Handbuch. Begriffe, Hauptwerke, Aktualität. Berlin: Suhrkamp, S. 374-382. Parsons, Talcott (1985): Das System moderner Gesellschaften. Weinheim: Juventa. Rosa, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Rosa, Hartmut (2013): Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit. Berlin: Suhrkamp. Simmel, Georg ([1896] 1983): »Das Geld in der modernen Kultur«. In: Heinz-Jürgen Dahme/Otthein Rammstedt (Hg.). Schriften zur Soziologie. Eine Auswahl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 78-94. Simmel, Georg ([1921] 1985): »Fragment über die Liebe (Aus dem Nachlass)«. In: Heinz-Jürgen Dahme/Klaus Christian Köhnke

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Günter Burkart (Hg.). Schriften zur Philosophie und Soziologie der Geschlechter. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 224-282. Strobel, Hannes (2019): Erreichbarkeit im Arbeitsleben. Aushandlungsprozesse in der Automobilindustrie. Wiesbaden: Springer VS.

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Filmsoziologie: »Head out on the highway« Auf den Straßen von Captain America Manuela Klaut Der Film »Easy Rider« wird in diesem Jahr 50 Jahre alt. Die ersten zehn Minuten des Films aus dem Jahr 1969, der als Sinnbild der 68er Bewegung verstanden werden muss, zeigen bereits die selbstreflexive Bewegung des Films in sich: »Easy Rider« ist ein Roadmovie. Die beiden Protagonisten Billy (Dennis Hopper) und Wyatt (Peter Fonda) werden in diesen ersten zehn Minuten gezeigt, wie sie Ihre Reise vorbereiten und sich schließlich auf den Weg machen – dabei eröffnet sich nach dem Drogendeal und dem Ausstaffieren der Motorräder mit dem Nötigsten der Aufbruch in die staubige Weite des Landes. Die Reise beginnt, als Wyatt sich seiner Armbanduhr entledigt hat und mit den ersten Takten des Songs »Born to be wild« (Steppenwolf 1968). An dieser Stelle fängt der Vorspann des Films an, wenn man ihn mit der Stelle definiert, die den Titel des Films einblendet, anschließend die Schauspieler und die filmtechnischen MitarbeiterInnen aufzählt, die Produzenten nennt, die Set-Fotographen und Licht-Menschen, Cutter, Sound-Gestalter und viele mehr. Genau mit Beginn der zehnten Filmminute, als die beiden Protagonisten zum ersten Mal an ein Motel kommen und abgewiesen werden, obgleich dort steht, dass es freie Zimmer gibt, der Song »Born to be wild« und der Vorspann enden, steht im Filmbild: »Directed by Dennis Hopper«. Ein filmsoziologisches Befragen des Films »Easy Rider« ist nicht nur deshalb interessant, weil 1968 der Kristallisationspunkt politischer und gesellschaftlicher Bewegungen ist, sondern auch, weil die Filmsoziologie es dynamisch im Hinblick auf den 33

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Fall »Easy Rider« ermöglicht, eine Klärung des sich historisch verändernden Zusammenhangs von Film, Kultur und Gesellschaft zu thematisieren. Der Film von Dennis Hopper zeigt zum einen die Bewegung des ›Unterwegs-Seins‹ ohne die notwendige und sinnlogische Voraussetzung einer Heimat und eines für die Gesellschaft anerkannten und relevanten Ziels, zum anderen die Bewegungen der Gesellschaft – von einer freien, hin zu einer widerständigen Bewegung und folglich zu einer reaktionären Bewegung derer, die diese neue Bewegung ablehnen. Eine weitere und dritte Folge ist die Bewegung in den ästhetischen Arbeitsweisen des Kinos selbst, die mit dem Zeitpunkt 1968 neue Rezeptionsweisen und Wahrnehmungsperspektiven eröffnen, um mit dieser Bewegung auch einen filmgeschichtlichen Wandel zu initiieren, der es fortan möglich machte, Filme zu produzieren, die ihre experimentellen Techniken variieren und inhaltlich die Konzeption einer möglichen gesellschaftlichen Veränderung in den Blick nehmen: »Dieser ›soziologische Blick‹ liegt folglich darin, für das Auch-anders-möglich-Sein sozialer ›Tatsachen‹ zu sensibilisieren.« (Henkel 2018) Im Folgenden wird zunächst der Fall beschrieben, dann die Perspektive der Filmsoziologie Siegfried Kracauers dargelegt und schließlich »Easy Rider« filmsoziologisch interpretiert, indem die drei Bewegungen des Unterwegs-Seins, der Gesellschaft und der Filmanalyse aufeinander bezogen werden. Ein Fazit zur Utopie der freien Gesellschaft schließt die Überlegungen.

Der Fall: Das Roadmovie »Easy Rider« Das Label ›Roadmovie‹ wird mit »Easy Rider« und »Bonnie und Clyde« (1967) erfunden. Damit soll nicht behauptet werden, dass es vorher das Motiv des tagelangen Unterwegsseins in Filmen nicht gibt, doch der Film »Easy Rider« hat keinen Ort, ausgehend von einer Heimat oder einer verwalteten Einheit, die man als Dorf, Stadt oder Bundesstaat kennt. Er beginnt und endet im 34

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Irgendwo, auf der Straße. Die Handlung, die dem Vorspann vorausgeht, ist sehr kurz – als filmisches Intro, das mit dem letzten Riff von »Born to be wild« verklingt, um danach das Motorengeräusch dem Filmrattern gleichzusetzen. Der Film ist die Reise. Das Roadmovie, so beschreibt es Oliver Fahle, »erzählt davon, unterwegs zu sein, ohne anzukommen« (Fahle 2002). Der Weg wird zum Ziel und die Straße zur Heimat, die Stopps werden zum Halt in verschiedenen Lebensentwürfen der amerikanischen Gesellschaft zum Ende der 60er Jahre. Bevor die beiden Protagonisten die erste Station hinter sich lassen (die Farm) und eine weitere erreichen (die Hippie-Community), wird im Film der Song »I wasn’t born to follow« eingespielt. Die Lyrics legen fest, was das zentrale Motiv des Films ist – dass Billy und Wyatt unterwegs sind, ohne anzukommen oder stehen zu bleiben: »I will want to dive beneath the white cascading waters/She may beg, she may plead, she may argue with her logic/And mention all the things I’ll lose/That really have no value in the end she will surely know/I wasn’t born to follow.« (Goffin 1967)

Die Perspektive der Filmsoziologie Siegfried Kracauers Siegfried Kracauer widmete sich seit dem Ende der 1920er Jahre intensiv dem Film, schrieb regelmäßig Filmkritiken und verfasste mit »Von Caligari zu Hitler« und »Theorie des Films« zwei Klassiker der Filmsoziologie. Über die Aufgabe des Filmkritikers schreibt Kracauer: »Kurzum der Filmkritiker von Rang ist nur als Gesellschaftskritiker denkbar. Seine Mission ist: Die in den Durchschnittsfilmen versteckten sozialen Vorstellungen und Ideologien zu enthüllen und durch diese Enthüllungen den Einfluss der Filme selber überall dort, wo es nottut zu brechen.« (Kracauer [1932] 2004)

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Man kann also festhalten, dass die Aufgabe des Filmkritikers darin besteht, die Absicht der Durchschnittsfilme offenzulegen – um die Öffentlichkeit der Zuschauer herausfinden zu lassen, welches Gesellschaftsbild diese Filme mittragen. Das ist methodisch nur möglich, indem es in einer Konfrontation aufgeht: Der Filmkritiker muss imstande sein, die Fiktion des Films im Zusammendenken mit gesellschaftlicher Wirklichkeit aufzuklären. Dabei sollten auch die Mechanismen des Films thematisiert werden, die politische und ideologische Absichten kaschieren, um das augenscheinlich als Common Sense und als filmisches Abbild der Gesellschaft Inszenierte, herauszuschauen – das dabei oft nichts anderes tut, als standardisierte Rollenklischees vorzubereiten. Den Film versteht Kracauer als Darstellungsweise gesellschaftlicher Konstellationen – sein filmkritischer Anspruch ist es, ästhetische Filmanalysen sozial zu durchdringen und dabei Diskrepanzen zu berichten und offenzulegen. In seiner Auseinandersetzung mit Ernst Bloch thematisiert Kracauer die Flüchtigkeit der Heimat, die sich mit dem verlorengegangenen Heimat-Begriff des Road Movies zusammen denken lässt: »Zum anderen schätzt Kracauer den Aspekt des utopischen Noch-Nicht als Weg und große geistige Reise; nur das vermeintliche Ziel, die Vorstellung einer allumfassenden Heimat dürfte ihm fremd geblieben sein, denn seine Aufmerksamkeit richtet er auf die »provisorische Heimat« (ebd. 633) der Dinge, in der es gilt, die »flüchtigen Phänomene der Außenwelt in uns aufzunehmen« (W 4, 210), wie er in Geschichte. Vor den letzten Dingen, seinem letzten posthum erschienenen Werk, zusammenfassend darlegt.« (Grünwald 2017) Für Kracauer ist das gesellschaftlich Utopische als konstruktiver geistiger Aufbruch zu lesen, als »das Land Nirgendwo und Überall, in dem die Menschen noch die letzte mythologische Hülle 36

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abgeworfen haben und nun endlich sich selber antreffen wie sonst nur in den Märchen« (Kracauer [1965] 2011).

»Easy Rider« — filmsoziologisch Als Siegfried Kracauer bereits 1966 in New York stirbt, bleibt ihm nicht die Möglichkeit, zu dem Film »Easy Rider« einen zu Text verfassen. Aber er hat indirekt über den Film geschrieben, bevor er entstand – in seinem methodischen Ansatz der Filmsoziologie, die davon ausgeht, dass der Film nicht nur imstande sein muss, die gesellschaftlichen Verhältnisse thematisch ins Zentrum zu rücken, sondern als Methode dem Filmkritiker ermöglicht, die Verhältnisse der Wahrnehmung im Blick zu behalten, deren Wirklichkeit der Film als fiktiver Stoff imstande ist, zu reflektieren. In den Filmkritiken zum Film »Easy Rider« ist oft die Rede davon, dass es der definitive counterculture-Blockbuster ist. Die von ihm ausgehende Gegenkultur erzählt der Film während einer Reise der drei Protagonisten Wyatt als Captain America, Billy und dem später zugestiegenen Anwalt George auf Motorrädern der Marke Harley Davidson durch Amerika – sie führt entlang der amerikanischen Mother-Road. Während es in den Western-Filmen immer ›Go West!‹ hieß, fahren die Helden in »Easy Rider« gegen den Straßenverlauf der Besiedlungszüge – also von West nach Ost, von Los Angeles nach New Orleans: »Easy Rider« ist ein Film, der die »Suche nach Identität und der Standortbestimmung einer ganzen Generation ins Zentrum rückt« (Thomas 2006). Wyatt, der im Film auch den nicht ganz unironischen Namen der amerikanisch-patriotischen Comic-Figur Captain America erhält, ist auf dem Filmplakat für »Easy Rider« zu sehen. Über ihm ist der Titel zu lesen: »A man went looking for America, and couldnʼt find it anywhere.« In dieser Suche des eigenen Landes liegt aber auch »ein ernst gemeintes positives Verhältnis zu Amerika, ohne das der Film undenkbar wäre: So 37

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wie der Film mit der Hippie-Generation sympathisiert, so sorgenvoll zeigt er auch die Entwicklung der USA, bezugnehmend auf deren historische Errungenschaften und Verfehlungen.« (Thomas 2006) Die Frage nach dem filmischen Motiv der Bewegung in »Easy Rider« ist nicht nur die Frage nach dem Abbild gesellschaftlicher Bewegungen im Film oder die nach der Bewegung der Chopper von Captain America und Billy auf der Straße – die Frage nach der Bewegung ist angesichts des Films »Easy Rider« eine der Transformation und der Transition: Der Film stellt in der Montage einen Umbruch der realen und vergehenden Zeiten her – von gemessener Zeit hin zu gefühlter Zeit. Als Wyatt zu Beginn des Films seine Uhr in den Sand wirft, bleibt nur mehr die Orientierung an der Filmzeit: An Tag und Nacht, an der Länge von Songs oder den Tankstopps, die ein Mutmaßen darüber zulassen, wie lang sie auf ihren Motorrädern schon unterwegs sind und welche Entfernungen hinter ihnen liegen. Ein weiteres Argument der Transition in »Easy Rider« ist das der Lebensentwürfe: Auf der Reise bezeichnen die unterschiedlichen Stationen verschiedene Grade an Freiheit. Der Farmer, der durch den Anbau seiner Lebensmittel finanziell frei ist, begegnet Wyatt und Billy zuerst. Danach folgt das Hippie-Dorf und kurz darauf landen beide, nachdem sie bei einer Straßenparade mitfahren, im Gefängnis. Doch gibt es ein drittes transformatives Argument, das hier das wichtigste ist, um »Easy Rider« filmsoziologisch in eine Reihe analytischer Bewegungen auflösen zu können: In der Filmgeschichtsschreibung findet vor allem in der Zeit zwischen 1960 und 1970 ein großer Bruch statt, der auch als Theoriebruch verstanden werden kann: Die Filme des New Hollywood schaffen in den USA neue Formen des Erzählens, um die gesellschaftliche Starre visuell auf den Prüfstand zu bringen und die Frage an das Kino auszuweiten: Es entsteht die Kritik an der Filmgeschichte als konstruierte, die eine Abkehr von der Filmtheorie als kanoni38

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scher Filmgeschichtsschreibung vollzieht. Aus einer politischen Dringlichkeit heraus differenziert sich der Blick aufs Kino hin zur psychoanalytischen Filmtheorie und auf weitere sich autonomisierende Ansätze der Filmtheorie aus. Was den Film so besonders macht – und darum ist er auch in seinem 50. Jahr noch spannend: Er zeigt neben den amerikanischen Entwürfen des Zusammenlebens, z.B. in der Farmer-Familie oder als Hippie-Community, auch die Utopien der gesellschaftlichen Freiheitssysteme. Als Billy und Wyatt nach einer gesetzlich unerlaubten Teilnahme an einer Straßenparade in New Mexico ins Gefängnis müssen, treffen sie auf den Anwalt George Hansen, der dort seinen Rausch ausschläft. Er beschließt spontan, die beiden nach New Orleans zum Mardi Gras zu begleiten. Durch die Begleitung des Gesetzes, das durch die Figur George von nun an die Reise mit antritt, erfährt der Film auf halber Wegstrecke eine weitere Wendung. George ist Anwalt bei der ACLU – der American Civil Liberties Union (die aktuell gegen das Dekret von Donald Trump Anklage erhoben hat, mit dem Trump ermöglichen wollte, dass Menschen, die zur Einreise von Mexiko in die USA keine offiziellen Grenzübergänge nutzen, ihr Recht auf Asyl pauschal verwirkt hätten). Mit der Anwesenheit von George geschieht eine Auslassung, die den Bundesstaat Texas in die filmische Transitzone versetzt – sie ist auf der Landkarte die einzig mögliche Strecke, doch der Film lässt sie geographisch aus. Zwischen New Mexiko und Louisiana setzt der Film keinen Stopp, als hätte hier eine Tradition des Roadmovies ihren Anfang. Auch Thelma und Louise (Ridley Scott 1991) fahren nicht durch Texas: Es ist der Bundesstaat mit der höchsten Quote von Todesstrafen. Nach dem Aufenthalt der drei easy rider in einem Diner in Louisiana, in dem sie von den Dorfbewohnern unfreundlich verhöhnt und beschimpft werden, verlassen sie die Stadt Morganza 39

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weiter in Richtung New Orleans. In der Nacht werden Wyatt, Billy und George im Schlaf von den Bewohnern der Kleinstadt überfallen und mit Schlägen attackiert. Dabei wird George tödlich verletzt. Es gibt im Film zwei Abende, die Wyatt und Billy mit George am Lagerfeuer verbringen. George (gespielt von Jack Nicholson) ist für eine Analyse der Lebensentwürfe in »Easy Rider« die interessanteste Figur, weil sie den größten Gegensatz in sich verbindet: Als Anwalt auf der Seite des Gesetzes wird George – unterwegs auf der Straße – zum Beifahrer von Captain America und damit zur Figur des guten Outlaw. Diese Figur, die auf der Seite des Gesetzes gegen die Ungerechtigkeit des Gesetzes ankämpft, begibt sich selbst in Gefahr, obgleich sie diese Gefahr kennt und beurteilen kann.

Fazit: Utopie der freien Gesellschaft An dieser Stelle eine Einschätzung der Figur des George als Fatalist oder als Zyniker zu geben, wäre schlicht unzulänglich: George ist für die Zeit 1969 der Kommentar zur politischen Lage der amerikanischen Gesellschaft. In Ihrer großartigen Untersuchung Der gute Outlaw – Studien zu einem literarischen Typus im 13. und 14. Jahrhundert, untersucht Ingrid Benecke u.a. die Figur des Robin Hood, und hier findet sich eine Beschreibung, die George gerecht werden kann, denn er wird unter den easy ridern zum Outlaw, zu jemandem, der ihnen gleicht und mit ihnen auf der Flucht ist vor der Begrenzung und Zurichtung von Freiheit. Man kann George nicht als Verbrecher definieren, aber im übertragenen Sinn als Bruch in den Konventionen der Darstellung – er ist filmisch gesehen nicht die Inszenierung des gesetzestreuen Anwalts, aber auch kein Hippie, er ist die Figur im Dazwischen, die der Vernunft und gleichzeitig des Aufbruchs: »Der Outlaw, in der zeitgenössischen Wirklichkeit der flüchtige und gejagte

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Verbrecher, wird zum königlichen Herrscher im Walde.« (Benecke 1973) Am Lagerfeuer im Wald ergibt sich zwischen Billy und George folgendes Gespräch: Billy: »Oh, yeah. I’m stoned, man. But, like, I saw a satellite. And it was going across the sky, and it flashed three times at me… and zigzagged and whizzed off. And I saw it.« George: »That was a U.F.O beaming back at you. Me and Eric Heisman was down in Mexico two weeks ago. We seen of them flying in formation. They’ve got bases all over the world now. They’ve been coming here ever since… when scientists started bouncing radar beams off the moon. And they’ve been living and working among us ever since. The government knows all about them.« Billy: »What are you talking, man? You just seen one of them, didn’t you?« George: »I saw something, but l didn’t see it working here. Well, they are people, just like us… from within our own solar system. Except that their society is more highly evolved. They don’t have no wars. They got no monetary system. They don’t have any leaders, because each man is a leader. Because of their technology… they’re able to feed, clothe, house and transport themselves… equally and with no effort. (Easy Rider. (R: Dennis Hopper, 1969), Min. 57:50 - 59:20).« Die gesellschaftliche Utopie, von der George spricht, beruht auf einer freien technologischen Infrastruktur, die es den Reisenden in den Ufos ermöglicht, als Gesellschaft zu funktionieren, in der alle die gleichen Rechte haben. In dieser Gesellschaft gibt es kei41

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nen Krieg und kein Geld. Interessant ist also an »Easy Rider«, wie der Film die gesellschaftlichen Entwürfe und ihre Gegenbewegung im Amerika der 60er Jahre darstellt. Daraus ließe sich eine generelle Untersuchungsmethode ableiten: Betrachtet man Filme in vergleichender Perspektive über einen bestimmten Zeitraum hinweg, so ist ihnen der soziale Wandel, der sich in dieser Zeit vollzogen hat, deutlich eingeschrieben. Filme thematisieren den Wandel in den sozialen Beziehungen, vermitteln Welt- und Lebensanschauungen und enthalten komplette Gesellschaftsbilder von ihren Bewegungen. Natürlich bleibt an dieser Stelle die als Kritik an »Easy Rider« zu würdigende Frage, ob nicht auch die Freiheitsgedanken in einem populären amerikanischen Kinofilm – einem Kassenschlager sozusagen – immer schon ideologisch sind. Das sind sie. Die Figur George als guter Outlaw dieses Systems lässt dennoch viel als idealistische Leistung von diesem Film übrig, wenn es ihm gelingt, zwischen Joints und Lagerfeuer, die Freiheit anderer als aggressives System der gesellschaftlichen Individualisierungszwänge zu durchschauen: George: »This used to be a hell of a good country. I can’t understand what’s gone wrong with it.« Billy: »Everybody got chicken, that’s what. We can’t even get into a second-rate hotel. mean, a second-rate motel, you dig? They think we’d cut their throat. They’re scared.« George: »They’re not scared of you. They’re scared of what you represent to them.« Billy: »All we represent to them is somebody who needs a haircut.«

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Filmsoziologie: »Head out on the highway«

George: »Oh, no. What you represent to them… is freedom. Freedom’s what it’s all about. Oh yeah, that’s right. That’s what it’s all about. But talking about it and being it… that’s two different things. It’s real hard to be free… when you are bought and sold in the marketplace. Don’t tell anybody that they’re not free, because they’ll get busy… killing and maiming to prove to you that they are. They’re going to talk to you and talk to you… about individual freedom. But they see a free individual, it’s going to scare them. Billy: »Well, it don’t make them running scared.« George: »No. It makes them dangerous.« (Easy Rider. [R: Dennis Hopper, 1969], Min. 01:09:50 – 01:11:22) Der Monolog, den George mit dem Satz beginnt »This used to be a hell of a good country«, lässt bereits 1969 in die Vergangenheit eines Landes blicken, das sich in der Zeit, in der »Easy Rider« spielt, permanent verändert und nur mehr in Bewegung ist und sich aufteilt in politische Einstellungen: in die Frauenbewegung, die Black-Power-Bewegung, die Anti-Kriegs-Bewegung. Die gesamte US-Gesellschaft ist 1969 in höchstem Maße politisiert. Walter Benjamin beschreibt als Dialektik im Stillstand: »Zum Denken gehört ebenso die Bewegung wie das Stillstellen der Gedanken. Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation zum Stillstand kommt, da erscheint das dialektische Bild. Es ist die Zäsur in der Denkbewegung.« (Benjamin, 1991) Den Stillstand des Bildes erreicht die Schlussszene des Films »Easy Rider«, die nur noch als Ballade zurückblicken lässt und nicht mehr als Bewegung.

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Manuela Klaut

Zum Weiterlesen Böttcher, Marius/Göttel, Dennis/Horstmann, Friederike/Müller, Jan Philipp/Pantenburg, Volker/Waack, Linda/Wuzella, Regina (2014): Wörterbuch kinematografischer Objekte. Berlin: August Verlag. Holl, Ute (2017): »Dream, Clouds, Off, Exile«. Verfügbar unter: https://www.diaphanes.net/titel/dream-clouds-off-exile-4544 (zuletzt abgerufen am 07.01.2019). Orgeron, Devin (2008): Road Movies. From Muybridge and Méliès to Lynch and Kiarostami. New York: Palgrave Macmillan.

Literatur Benecke, Ingrid (1973): Der gute Outlaw. Studien zu einem literarischen Typus im 13. und 14. Jahrhundert. Tübingen: Max Niemeyer Verlag. Benjamin, Walter (1991): »Gesammelte Schriften, Band 5.1.«. Hg. von: Rolf Tiedemann/ Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Easy Rider Script – Dialogue Transcript. Verfügbar unter: https:// www.script-o-rama.com/movie_scripts/e/easy-rider-scripttranscript-hopper.html (zuletzt abgerufen am 07.01.2019). Fahle, Oliver (2002): »Vorlesungsverzeichnis der Bauhaus-Universität Weimar. Wintersemester 2002/03. Seminar: Das Road Movie«. Verfügbar unter: https://www.uni-weimar.de/medien/ bildmedien/lehre/ws0203.htm (zuletzt abgerufen am 07.01. 2019). Grünwald, Heidi (2017): »Phänomene des undeutlichen Lebens. Utopische Entwürfe in Siegfried Kracauers exterritorialem Denken«. In: Linda Maeding/Marisa Siguan (Hg.). Utopie im Exil. Literarische Figurationen des Imaginären. Bielefeld: transcript, S. 45-65. Havis, Richard James (2016): »Flashback: Easy Rider – Dennis Hopper’s counterculture blockbuster«. Verfügbar unter: https://

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Filmsoziologie: »Head out on the highway« www.scmp.com/magazines/post-magazine/arts-music/article/ 1995937/flashback-easy-rider-dennis-hoppers-counter (zuletzt abgerufen am 07.01.2019). Henkel, Anna (2018): »Plakat zur Ankündigung der Reihe ›10 Minuten Soziologie‹ im Sommersemester 2018 zum Thema ›Bewegung‹«. Verfügbar unter: https://www.leuphana.de/fileadmin/ user_upload/PERSONALPAGES/_efgh/henkel_anna/files/Som mer_2018/10_Min_Soz_SoSe2018final__003_-2.pdf (zuletzt abgerufen am 07.01.2019). Kracauer, Siegfried ([1932] 2004): »Über die Aufgabe des Filmkritikers«. In: Inka Mülder-Bach (Hg.). Siegfried Kracauer Werke. Kleine Schriften zum Film 1932-1961, Bd. 6.3. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 63. Kracauer, Siegfried ([1965] 2011): »Werke. Essays, Feuilletons, Rezensionen, Bd. 5.3«. Hg. von: Inka Mülder-Bach. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 527. Thomas, Andreas (2006): »Easy Rider«. Verfügbar unter: www. filmzentrale.com/rezis/easyriderat.htm (zuletzt abgerufen am 07.01.2019).

Filme Easy Rider (1969, OT: Easy Rider; Regie: Dennis Hopper). Thelma & Louise (1991, OT: Thelma & Louise, Regie: Ridley Scott)

Musik Bonfire, Mars (1968): Born to be wild. In: Steppenwolf. Born to wild / Everybody’s Next One. New York: Dunhill Records Goffin, Gerry (1968): I wasn’t born to follow. In: The Byrds. The Notorious Byrd Brothers. New York: Columbia Records.

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Systemtheorie Soziale Bewegungen als Erscheinungsform der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft Melanie Werner Soziale Bewegungen treten an, die Gesellschaft zu verändern. In ihnen spiegeln sich grundlegende gesellschaftliche Konflikte wider. Deshalb lässt sich die Geschichte der modernen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaft auch als Geschichte ihrer Bewegungen erzählen: Diese Geschichte beginnt mit der frühdemokratischen Bewegung des 19. Jahrhunderts, aus der die Protagonist*innen der Arbeiter*innen und Frauenbewegung hervorgehen. Sie setzt sich fort in den kulturkritischen Bewegungen der Jahrhundertwende und der nationalsozialistischen Bewegung der Weimarer Republik. Die Studierendenproteste der 68er, die zweite Frauenbewegung, die Friedens- und Umweltbewegung sind Beispiele für die jüngere Bewegungsgeschichte. Aktuell lässt sich das Erstarken rechtspopulistischer Bewegungen beobachten, die gegen Geflüchtete und als anders Markierte hetzen. Dies provoziert eine Gegenbewegung, die unter dem Motto »Wir sind mehr« und »Zusammenstehen« Tausende auf die Straße bringt. Unter dem Hashtag »#MeToo« formiert sich eine digitale Bewegung, in der Frauen von sexueller Gewalt berichten, wenig später macht die Kampagne »#MeTwo« Rassismuserfahrungen zum Thema. Jüngst konnte man beobachten, wie sich die Räumung einer Waldbesetzung zu einer Bewegung ausweitete, die schließlich 50.000 Menschen für den Erhalt des Hambacher Forsts und den Ausstieg aus der Kohleverstromung auf die Straße brachte und zu massenhaftem zivilen Ungehorsam führte. 47

Melanie Werner

All diese historischen und gegenwärtigen sozialen Bewegungen wollen »die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen bringen« (Gronemeyer 2002, S. 227) – und sind doch selbst Teil dieser Gesellschaft. Diese Gesellschaft ist aus verschiedenen Perspektiven beschrieben worden, etwa als aufgeklärte Gesellschaft, als Klassengesellschaft, als Disziplinargesellschaft oder als Risikogesellschaft (vgl. hierzu Schimank/Volkmann 2007). Jede dieser Sichtweisen eröffnet eine andere Sichtweise auf soziale Bewegungen. Eine systemtheoretische Perspektive auf soziale Bewegungen erscheint zunächst ungewöhnlich, weil diese nicht auf die Veränderung, sondern die Beschreibung von Gesellschaft zielt. Niklas Luhmann fragt nach der Funktion, die sozialen Bewegungen für den Erhalt (und nicht die Überwindung) der Gesamtgesellschaft zukommt. Dies hat ihm innerhalb der Bewegungsforschung den Ruf eines konservativen Theoretikers eingebracht, der »Entscheidendes weg lasse, weil es ihm theoretisch-politisch nicht in den Kram passe« (Rucht/Roth 1992, S. 31f.). Im Folgenden möchte ich weder Luhmann gegen diese Kritik der Bewegungsforschung verteidigen, noch ihn als konservativen Theoretiker entlarven. Ich möchte einen anderen Zugang wählen und nicht ›mit Luhmann‹ argumentieren und seine verstreuten Aussagen zu einer ›Luhmannʼschen Bewegungstheorie‹ zusammenpuzzeln, sondern einen systemtheoretischen Beobachtungsstandpunkt einnehmen. Von hier aus werfe ich einen Blick auf soziale Bewegungen, der Luhmanns eigene Schriften zu Protest-Kultur und sozialen Bewegungen wenig berücksichtigt. Ich skizziere zunächst die Moderne als eine funktional-ausdifferenzierte Gesellschaft, beschreibe dann soziale Bewegungen als typische Erscheinung dieser Gesellschaftsform, um anschließend beides miteinander in Verbindung zu bringen. Abschließend reflektiere ich, inwieweit es sich bei einer system-

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Systemtheorie

theoretischen Lesart sozialer Bewegungen tatsächlich um eine konservative, systemstabilisierende Sichtweise handelt.

Systemtheorie als Beobachtungsperspektive der Gesellschaft Schaut man systemtheoretisch, so sieht man eine Gesellschaft, die ihr Fortbestehen in Funktionssystemen sichert. Erzogen wird im Erziehungssystem, schöpferisch ist man im Kultursystem und Recht gesprochen wird im Rechtssystem. Teilhabe verläuft über den Zugang zu diesen Funktionssystemen und diese funktionieren prinzipiell für alle gleich: Das moderne Bildungssystem kennt nur noch die Lernenden und Lehrenden und wird blind für religiöse Unterschiede, im Wirtschaftssystem bringt ein Adelstitel keinen Vorteil mehr und Politik funktioniert auch, wenn eine Frau ein Land regiert. Menschen müssen nun an unterschiedlichen Teilsystemen mit je eigenen Verhaltenslogiken teilnehmen. Sie sind mal Student*in, Kläger*in, Konsument*in, Theaterbesucher*in, Sohn oder Tochter – werden aber nirgendwo mehr als ganze Person adressiert. Dies hat zur Konsequenz, »daß man nicht mehr behaupten kann, die Gesellschaft bestehe aus Menschen; denn die Menschen lassen sich offensichtlich in keinem Teilsystem der Gesellschaft, also nirgendwo in der Gesellschaft mehr unterbringen« (Luhmann 1997, S. 744). Systemtheoretisch betrachtet sind Funktionssysteme immer Kommunikationssysteme, zu denen Menschen zwar beitragen, die jedoch losgelöst von einzelnen Personen ihrer eigenen Logik folgen: Die Kommunikation im Wirtschaftssystem verläuft bspw. immer im Modus von haben oder nicht haben, das Wissenschaftssystem im Modus von wahr oder unwahr und das Politiksystem im Modus von Macht oder Opposition. Jedes System nimmt sich selbst für absolut und beobachtet seine Umwelt aus der eigenen Logik heraus. Was es dabei als beobachtungs-

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Melanie Werner

werte Information selektiert und wie es die Information in seine eigene Kommunikation integriert, ist eine systemeigene Operation und kann nicht direkt von anderen Systemen beeinflusst werden (ebd.). Weder Politik noch Religion sind in der Lage, andere Systeme zu steuern, denn in der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft gibt es keine Spitze mehr. Die Möglichkeit zu kommunizieren nimmt zu, es ist jetzt mehr sagbar. Die Welt wird komplexer, kontingenter – und damit auch gestaltbarer.

Soziale Bewegungen Erst vor dem Hintergrund dieser Gestaltbarkeit der Welt können soziale Bewegungen entstehen. Unter sozialen Bewegungen versteht die Bewegungsforschung »einen mobilisierenden Akteur, der mit einer gewissen Kontinuität […] mittels variabler Organisations- und Aktionsformen das Ziel verfolgt, grundlegenden sozialen Wandel herbeizuführen, zu verhindern oder rückgängig zu machen« (Raschke 1985, S. 77). Je nachdem mit welchen Mitteln soziale Bewegungen die Gesellschaft verändern möchten, werden sie als Macht- oder Kulturbewegung bezeichnet (ebd, S. 109ff.). Machtbewegungen, wie etwa die historische Arbeiter*innenbewegung, die erste und zweite Frauenbewegung, versuchen gesellschaftliche Strukturen zu verändern. Mit Demonstrationen adressieren sie häufig das politische System, Streiks und Boykotts zielen auf das Wirtschaftssystem und in jüngster Zeit sind mit der feministischen Bewegung »Femen« auch wieder Aktionen zu beobachten, die Religion adressieren (Beucker 2013). Kulturbewegungen richten sich nicht an ein System, sondern versuchen, durch die Entwicklung eines neuen Lebensstils, die Gesellschaft zu verändern. Als klassische Kulturbewegungen gelten die bürgerliche Jugendbewegung und die Lebensreformbewegung des Kaiserreichs, aktuelle Kulturbewegungen sind bspw. Landkommunen, in denen nachhaltige

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Systemtheorie

Lebensstile erprobt werden. Insgesamt rückt die Bewegungsforschung die Akteursperspektive ins Zentrum ihrer Forschungen. Mit dieser Akteursperspektive bricht eine systemtheoretische Beobachtung sozialer Bewegungen. In den Blick geraten dann nicht mehr Menschen, sondern ausschließlich Kommunikation. Dies scheint zum einem sinnvoll, weil nicht der Protest an sich sozialen Wandel beeinflusst, sondern erst die Kommunikation über den Protest (Großbölting 2004). Zum anderen zeigt sich, dass die Kommunikationen in Bewegungen aneinander anknüpfen und die »Form eines Gesprächs annehmen« (Weniger 1980), sodass sich eine Bewegungskommunikation beobachten lässt, die sich von ihrer Umwelt abgrenzt und als ›System‹ bezeichnet werden kann. Wann aber beginnt ein solches System? Es beginnt, wenn eine Kommunikation beobachtet werden kann – soziale Bewegungen sind damit immer die Konstruktion einer Beobachter*in und sagen manchmal mehr über die Position der Beobachter*in aus als über die Bewegung selbst. Für das 19.  Jahrhundert haben Historiker*innen eine gewisse inflationäre Beliebigkeit im Umgang mit dem Bewegungsbegriff konstatiert (Mittag/Stadtland 2014, S.  14) und auch im aktuellen Diskurs macht es den Anschein, dass es für jede Position auch eine Bewegung gibt, zu der man sich in Beziehung setzen kann. Ob es sich dabei um Bewegungen handelt, die tatsächlich auf einen Wandel der Gesellschaft zielen, wird spätestens dann fraglich, wenn bspw. von der »Tafelbewegung« gesprochen wird (Selke/Maar 2011).

Bewegungskommunikation gesellschaftlichen Wandels Bewegungskommunikation, die auf gesellschaftlichen Wandel zielt, kann erst beginnen, wenn die Welt als gestaltbar erlebt wird. Der Beginn sozialer Bewegungen symbolisiert sich deshalb in der Französischen Revolution, da sie der ganzen Welt 51

Melanie Werner

zeigt, dass eine Marktfrau den König verjagen kann. Das würde man auch systemtheoretisch nicht bestreiten; den Anteil, den die Marktfrau, das ›einfache Volk‹ oder noch abstrakter ›das Subjekt‹, an diesen Umwälzungen hatte, würde man jedoch bescheidener einschätzen. Letztendlich – so die systemtheoretische Lesart – waren Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit eine gesellschaftliche Notwendigkeit (Luhmann 1997, S.  734). Denn bereits hundert Jahre vor dem Sturm auf die Bastille zeichnet sich ab, dass die Gesellschaft die Stände nicht mehr braucht, um ihren Erhalt zu sichern: Die moderne, funktional ausdifferenzierte Gesellschaft befriedigt ihre Bedürfnisse nicht mehr in Schichten, sondern in Funktionssystemen: »Die Französische Revolution war dann vor allem wichtig, weil die Durchsetzung der Rechtsgleichheit auch den gleichberechtigten Zugang zu allen Funktionssystemen sicherte« (Becker 2004, S. 18; Hervorhebung im Original), sie hat »dieses Faktum nicht mehr zu bewirken, sie hat es nur noch zu registrieren und in der Selbstbeschreibung der Gesellschaft zur Anerkennung zu bringen« (Luhmann 1997, S.  734). Aus einer systemtheoretischen Sichtweise ist die Entstehung sozialer Bewegungen als typische Erscheinungsform der Moderne Folge des Zerfalls der Gesellschaft in verschiedene Funktionssysteme. Wie im Folgenden zu zeigen ist, entzünden sich soziale Bewegungen erstens am ungleichen Zugang zu Funktionssystemen und machen zweitens auf Modernisierungsfolgen aufmerksam, für das sich kein System mehr zuständig fühlt. Soziale Bewegungen stiften drittens Identität in einer Gesellschaft, die sich von einer Integrationsgesellschaft zu einer Inklusionsgesellschaft wandelt (Kleve 2000, S. 10). Erstens: Die Moderne birgt das Versprechen, dass jede*r gleichermaßen an Politik, Wirtschaft, Erziehung, Kultur und Bildung teilhaben kann. Jedoch verwehren oder erschweren alte verkrustete Ordnungen einzelnen Gruppen diesen Zugang, grundlegende Bürgerrechte werden ihnen nicht zugestanden 52

Systemtheorie

oder aberkannt, von »Entbürgerlichung« spricht Thomas Wagner (2013). An dieser Entbürgerlichung entzünden sich die ersten Machtbewegungen: Die frühdemokratische Bewegung, die Arbeiter*innenbewegung und die bürgerliche Frauenbewegung. Die Exklusion aus einem Funktionssystem hat häufig die Exklusion aus einem anderen Funktionssystem zur Folge. Dies lässt sich aktuell bei illegalisierten Menschen beobachten: Ohne Aufenthaltstitel besteht kein Anspruch auf einen Sprachkurs, ohne Sprachkenntnisse ist der Zugang zum Arbeitsmarkt erheblich erschwert, eine Arbeitsstelle ermöglicht häufig erst einen sicheren Aufenthaltsstatus. Menschen, die von mehreren Funktionssystemen ausgeschlossen sind, werden nur selten Träger sozialer Bewegungen, weil soziale Bewegungen Ressourcen der Funktionssysteme voraussetzen, bspw. Artikulationsfähigkeit und Wissen über politische und rechtliche Prozesse. Der Protest der Betroffenen äußert sich nicht in einer angemeldeten Demonstration, sondern historisch in der Zerstörung von Werksuhren und aktuell in spontanen Jugendprotesten in europäischen Vorstädten (Gille 2018, S. 391). Um soziale Bewegungen zu formieren, sind die Betroffenen auf die Solidarität der Menschen angewiesen, die bereits über Zugang zu Funktionssystemen verfügen oder zumindest nicht von mehreren Ausschließungen betroffen sind. Beteiligung wird so zum Privileg ohnehin privilegierter Bevölkerungsschichten (Keim 2014). Zweitens: Weil sich jedes System selbst für absolut setzt, zeichnet sich niemand mehr verantwortlich für die Folgen von Modernisierung, für Umweltverschmutzung, Armut und Menschenrechtsverletzungen: Das Wissenschaftssystem interessiert Umweltverschmutzung nur aus der Perspektive ihrer Erforschung, das Wirtschaftssystem beschäftigt sich nur dann mit Armut, wenn sie den Profit minimiert und Menschenrechtsverletzungen werden im Rechtssystem erst dann virulent, wenn es eine Kläger*in und eine entsprechende Rechtsgrundlage gibt. 53

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Soziale Bewegungen machen auf diese blinden Flecken aufmerksam und definieren damit gesellschaftliche Probleme. Aber soziale Bewegungen übernehmen nur eine Problemdefinition, die nicht wahrer oder besser sein muss als die von Politik, Wissenschaft oder Religion. Bewegungskommunikation lässt sich zwar von ihrer Umwelt abgrenzen, sie bleibt jedoch an Gesellschaft rückgebunden, mithin also an das, was gemeinhin als ›Zeitgeist‹ bezeichnet wird. Es ist deshalb nicht überraschend, dass sich bspw. völkische und auch eugenische Positionen sowohl in der bürgerlichen Frauen- als auch in der Jugendbewegung des frühen 20. Jahrhunderts wiederfinden. Auch der radikale sozialistische Studentenbund reproduzierte Geschlechterklischees, in dem er Aktivistinnen als ›Bräute der Revolte‹ adressierte. Es ist natürlich ein leichtes, diese Zeitgebundenheit sozialer Bewegungen im Nachhinein zu entlarven, deutlich soll aber werden, dass jede Beobachtung, auch die sozialer Bewegungen, zwangsläufig blinde Flecken aufweist und die Einteilung in gute und schlechte, in emanzipative und konservative Bewegungen, weniger eindeutig ist, als sie zunächst erscheint. Drittens: Menschen werden in der Moderne nicht nur räumlich, sondern auch sozial mobil, sie werden aus ihren lebensweltlichen Zusammenhängen gelöst und zu Wanderern zwischen den Funktionssystemen. Sie müssen ihr Leben selbst in die Hand nehmen, aber die Orientierungspunkte, wie dieses Leben zu gestalten ist, schwinden: Religion ist nur noch ein Funktionssystem unter vielen und damit unverbindlich. Das Leben wird komplexer und die neue Freiheit muss gestaltet oder zumindest doch ausgehalten zu werden. Wer bin ich, wenn ich immer auch jemand anderes sein könnte? Die Kulturbewegungen geben darauf eine Antwort: Sie bieten Orientierung, versuchen Identität im Kleinen wieder herzustellen und beantworten die Frage, wie man leben soll: Schaut man sich bspw. die »gelben Blätter«, die Verbandszeitschrift des Wandervogels an, so wird hier doch ein 54

Systemtheorie

sehr klares Bild gezeichnet, was genau unter einem ›Wandervogel‹ zu verstehen ist (Götze 1923), wie und warum er wandern geht (Wolfrom 1906), was er dabei singt (Baerwolf 1913) und wie er seinesgleichen und andere zu grüßen hat (Förster 1906). Die Frage ›Wie wollen wir leben?‹ wird zunächst für die Jugend als Generation beantwortet, dann auf die deutsche Jugend verengt (Niemeyer 2015). Die Entwicklung des Wandervogels kann damit auch als ein Beispiel dafür gelten, dass Nationalismus in der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft die Funktion von Religion übernehmen kann (Luhmann 1984, S. 743). Und auch heute noch versprechen nationalistische und religiöse Bewegungen Antworten auf eine Welt, die zu komplex, zu kontingent geworden scheint.

Fazit: Die Funktion der Bewegung Macht- und Kulturbewegungen tragen damit zum Erhalt der Gesamtgesellschaft bei. Als ›Immunsystem der Gesellschaft‹ hat Luhmann soziale Bewegungen bezeichnet: Sie signalisieren soziale Probleme, auf die Gesellschaft und ihre Teilsysteme dann reagieren können, ohne sich als Ganzes in Frage zu stellen. Man kann dies als konservative Interpretation sozialer Bewegungen verstehen. Aber offensichtlich werden soziale Bewegungen häufig nicht als Bedrohung wahrgenommen, sondern als integraler Bestandteil der Zivilgesellschaft begrüßt und gefördert. Als zivilgesellschaftliche Akteure legitimieren soziale Bewegungen politische Entscheidungen und helfen, unbequemen Protest in anerkannte Beteiligungsverfahren zu transformieren. Das bedeutet nicht, dass jeglicher Protest in den gegebenen Strukturen aufgeht, aber unbequemer Protest wird nicht als soziale Bewegung begrüßt, sondern als »Szene« verharmlost (Leggewie 2017), als »Hetze« herabgewürdigt (Deutsche Presse Agentur 2018) oder kriminalisiert (Pauli 2018). Auch soziale Bewegun-

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Melanie Werner

gen, so Axel Honneth (2003, S. 142), durchlaufen einen Akt der Anerkennung. Soziale Bewegungen können die Anerkennung durch andere Funktionssysteme nicht beeinflussen. Denn die Funktionssysteme selegieren in ihrer systemeigenen Logik selbst, welche Information für sie relevant ist. Die Jugendbewegung war mehr als Deutschtümelei, aber es ist nicht zufällig, dass das ›Ideal der deutschen Jugend‹ im Vorfeld des ersten Weltkriegs für Politik extrem anschlussfähig war. Der Christopher-Street-Day ist eine der wichtigsten Protestformen der Homosexuellenbewegung – und wird doch zunehmend als regionaler Wirtschaftsfaktor diskutiert (Behre 2017). Soziale Bewegungen können weder Politik, noch Wirtschaft, noch Bildung direkt beeinflussen. Damit, so könnte man kritisch einwenden, entmutigt Systemtheorie Menschen, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« (Marx 1972, S. 385). Umgekehrt lässt sich jedoch formulieren, dass ein systemtheoretischer Blick auf soziale Bewegungen darauf verweist, dass eine akteurszentriert-marxistische Interpretation sozialer Bewegungen aus zwei Gründen zu kurz greift: Sie trifft erstens nur dann zu, wenn man soziale Bewegungen als statische, homogene Gebilde betrachtet und ihnen ›gute Absichten‹ unterstellt, die jeweiligen Gegenbewegungen jedoch ausblendet. Angesichts des Erstarkens rechtspopulistischer Bewegungen in ganz Europa scheint es dann doch wieder eine eher zuversichtliche Analyse, wenn soziale Bewegungen Politik zwar irritieren können, aber Politik immer noch Politik bleibt, die nach eigenen Regeln funktioniert. Wenn man zweitens davon ausgeht, dass soziale Bewegungen nichts anderes entfalten können als ein Rauschen, so mag dies nach wenig klingen. Dies trifft aber auf alle Systeme zu: Kein System ist in der Lage, ein anderes System direkt zu beeinflussen, es kann immer nur ein Rauschen verursachen, das im günstigsten Fall 56

Systemtheorie

Resonanzen in anderen Systemen erzeugt. Soziale Bewegungen verursachen also nicht ›nur‹, sondern ›sogar‹ ein Rauschen, das genauso laut und irritierend sein kann, wie das von Wirtschaft, Wissenschaft oder Recht.

Zum Weiterlesen Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Mittag, Jürgen/Stadtland, Helke (2014): Theoretische Ansätze und Konzepte der Forschung über soziale Bewegungen in der Geschichtswissenschaft. Essen: Klartext. Raschke, Joachim (1985): Soziale Bewegungen. Ein historisch-systematischer Grundriss. Frankfurt a.M./New York: Campus.

Literatur Baerwolf, W. (1913): »Vom Singen«. In: Alt-Wandervogel. Monatsschrift für Jugendwandern 7/8, S. 170f. Behre, Martina (2017): »Köln schillert in Regenbogenfarben«. In: Allgemeine Hotel- und Gastronomie-Zeitung 29, S. 10. Beucker, Pascal (2013): »Die auf den Altar sprang. Femen-Protest im Kölner Dom«. Verfügbar unter: https://www.taz.de/!5052024/ (zuletzt abgerufen am 22.07.2018). Deutsche Presse Agentur (2018): »CSU-Generalsekretär Blume wirft Demonstranten ›Hetze‹ vor«. Verfügbar unter: https://www.sued deutsche.de/news/politik/demonstrationen---muenchen-csugeneralsekretaer-blume-wirft-demonstranten-hetze-vor-dpa. urn-newsml-dpa-com-20090101-180722-99-253764 (zuletzt abgerufen am 22.07.2018). Förster, Paul (1906): »Der deutsche Gruß ›Heil‹«. In: Wandervogel. Illustrierte Monatsschrift 3, S. 35f.

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Melanie Werner Gille, Christoph (2019): Junge Erwerbslose in Spanien und Deutschland. Alltag und Handlungsfähigkeit in wohlfahrtskapitalistischen Systemen. Wiesbaden: Springer VS. Götze, Walter (1923): »Von der Haltung«. In: Wandervogel. Illustrierte Monatsschrift 18 (1-2-3), S. 9f. Großbölting, Thomas (2004): »Soziale Frage und soziale Bewegung im 19. Jahrhundert – systemtheoretische Anregungen zu einer Ideengeschichte der Industriegesellschaft«. In: Frank Becker (Hg.). Geschichte und Systemtheorie. Exemplarische Fallstudien. Frankfurt a.M./New York: Campus, S. 303-329. Gronemeyer, Marianne (2002): »Soziale Bewegungen und soziale Arbeit«. In: Franz Hamburger/Eggert, Annelinde/Heinen, Angelika/Luckas, Helga/May, Michael/Müller, Heinz (Hg.). Gestaltung des Sozialen. Eine Herausforderung für Europa. Bundeskongress Soziale Arbeit 2002. Opladen: Leske + Budrich, S. 226242. Honneth, Axel (2003): »Umverteilung als Anerkennung. Eine Erwiderung auf Nancy Fraser«. In: Nancy Fraser/Axel Honneth (Hg.). Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 129-224. Keim, Rolf (2014): »Das Paradigma der Beteiligung: Chance oder Verinbarung sozialer Bewegungen«. In: Norbert Gestring/Renate Ruhne/Jan Wehrheim (Hg.). Stadt und soziale Bewegungen. Wiesbaden: Springer VS, S. 179-198. Kleve, Heiko ([1999] 2007): Postmoderne Sozialarbeit. Ein systemtheoretisch-konstruktivistischer Beitrag zur Sozialarbeitswissenschaft. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Leggewie, Claus (2017): »Immer noch. Rechte soziale Bewegungen – revisited«. In: Soziale Passagen 8, 2, S. 389-394. Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas ([1988] 2016): »Frauen, Männer und George Spencer Brown«. In: Kai-Uwe Hellmann (Hg.). Niklas Luhmann Pro-

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Systemtheorie test. Systemtheorie und soziale Bewegungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 107-155. Luhmann, Niklas ([1997] 2018): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Mittag, Jürgen/Stadtland, Helke (2014): »Soziale Bewegungsforschung im Spannungsfeld von Theorie und Empirie. Einleitende Anmerkungen zu Potenzialen disziplinärer Brückenschläge zwischen Geschichts- und Sozialwissenschaft«. In: Dies. (Hg.). Theoretische Ansätze und Konzepte der Forschung über soziale Bewegungen in der Geschichtswissenschaft. Essen: Klartext, S. 13-65. Marx, Karl ([1844] 1972): »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung«. In: Karl Marx/Friedrich Engels Werke 1. Berlin: Dietz, S. 378-391. Selke, Stefan., & Maar, Katja (2011): Transformation der Tafeln in Deutschland: Aktuelle Diskussionsbeiträge aus Theorie und Praxis der Tafelbewegung. Wiesbaden: VS, Verlag für Sozialwissenschaften.

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Historische Makrosoziologie Steuerzahler*innen in Bewegung – US-amerikanische und italienische Steuerrevolten Lars Döpking »Modernizing tax assessments may not be the only way to provoke a tax rebellion, but it is certainly a reliable way to do so. And it is so regardless of whether the tax payers are suburban homeowners in the United States, rural peasants in China, or central-city shopkeepers in Denmark.« (Martin 2008, S. 147) Nicht nur physikalische Körper oder vereinzelte Personen geraten in Bewegung. Auch Steuerzahler*innen bewegen sich, allerdings selten in Form politischer Bewegungen – die Tea Party bildet die wohl bekannteste Ausnahme –, häufiger revoltieren sie. Steuerrevolten sind schillernde Ereignisse mit weitläufiger Historie (Burg 2004). Nach Albert Camus weisen sie generell als Revolte ein »unerträglich empfunden[es] Eindringen« kategorisch zurück und folgen »der dunklen Gewissheit eines guten Rechts« (Camus 2013, S.  27). Camus argumentiert, dass die Sklavenrevolte mit ihrem Widerstand gegen den Herrn die Kategorie des Sklaven selbst zur Disposition stellt und so Weltdeutungsmuster radikal transformiert (Camus 2013, S. 34). Hieran anschließend kann gemutmaßt werden, dass Steuerrevolten die Extraktion von Steuern, verstanden als Zahlung, die ohne konkrete Gegenleistung an einen Herrschaftsverband zu entrichten ist, an sich problematisiert und die zugrundliegende Herrschaftsbeziehung potentiell transformiert. Ich möchte dem nachgehen, indem ich 61

Lars Döpking

zunächst den Zusammenhang zwischen Steuerrevolten und der Politisierung des Steuerzahlens erkunde. Aus der dazu angefertigten Skizze zweier Revoltenverläufe in Nordamerika und Italien folgt das Interesse an ihren zugrundeliegenden Ursachen. Um diesen auf die Schliche zu kommen, lege ich zunächst einige Vorannahmen meiner theoretischen Position offen, um mich dann der Mutter aller Steuerrevolten zu widmen: der kalifornischen »Proposition 13«. Mir geht es dabei um die Extrapolation eines generellen sozialen Mechanismus, dessen Validität ich darauffolgend am italienischen Fall prüfe. Ich schließe meine Ausführungen mit einigen kurzen Bemerkungen zur Reichweite der angestellten Beobachtungen ab.

Der Fall: Steuerrevolten als Scheidepunkte der Steuerpolitik Die politische Dimension von Steuerrevolten wird leicht unterschätzt. Dass ihnen sozio-politische Relevanz zukommt, zeigt das Beispiel der USA: Steuerrevolten diffundieren dort seit dem Ende der Trente Glorieuses in derart kurzen Abständen, dass der kalifornische Soziologie Isaac W. Martin vorschlägt, sie in ihrer Summe als »Permanent Tax Revolt« zu begreifen (Martin 2008). Die kalifornische »Proposition 13«, welche 1978 per Verfassungsreferendum die Grundsteuern im Bundesstaat auf ein Prozent des Immobilienwerts limitierte, sieht er als ihren Anfangspunkt. Von da an konstatiert Martin eine grundsätzliche Veränderung der Beziehung zwischen Steuerzahler*innen und Fiskus. Während Steuerpolitik bislang als Angelegenheit von Ministerialbürokratien und anderen Technokraten gegolten habe, stand sie seit den späten 1970er Jahren im Zentrum des Parteienwettbewerbs. Diskurse um Verteilungs- und Generationengerechtigkeit oder Wirtschaftspolitik wurden von da an als steuerpolitische Fragestellungen gerahmt (Martin 2008, S. 15; Steuerle 1991). Das bis heute zu beobachtende Insistieren der republikanischen 62

Historische Makrosoziologie

Partei auf Tax Cuts als zentrale Programmatik, welche die Partei trotz aller sonstigen Konflikte zusammenhält, bleibt ohne die Rolle der revoltierenden Steuerzahler*innen und der Mehrheiten, die sie zu verschaffen mögen (Martin 2017), ebenso unverständlich wie die Rahmung vieler politischer Konflikte in fiskalischem Vokabular von Finanzierungsvorbehalt und schwarzer Null, also schuldenfreiem Staatshaushalt (Haffert 2016; Döpking 2018). Jedoch beschränkt sich die tiefgreifende ›Politisierung der Steuerpolitik‹ nicht auf die USA (Buggeln/Daunton/Nützenadel 2017). Auch in Europa steigt, wenn auch leicht zeitverzögert, die Popularität von Steuerwahlkämpfen, etwa bei den britischen Tories, der deutschen FDP, der italienischen Forza Italia oder der LEGA. Steuerrevolten, in denen es zu organisierten Widerstandshandlungen gegen Repräsentanten des Fiskus kam, traten etwa in Folge von steigenden Kraftstoffsteuern in Frankreich, Spanien oder Deutschland auf (Burg 2004, S.  425-428). Eine der jüngsten und zugleich massivsten Revolten ereignete sich in Italien: Die Amtsübernahme Mario Montis im November 2011 ging mit einer Reihe ökonomischer Reformen einher, die als Rettungsprogramm »Manovra Salva Italia« darauf abzielten, den italienischen Staatshaushalt zu sanieren. Über Ausgabenkürzungen, Entlassungswellen im öffentlichen Dienst und Privatisierungsprogramme hinaus sollte dies durch ein erhöhtes Steueraufkommen bewerkstelligt werden. Neben der Einführung verschiedener Luxussteuern setzte die Regierung dazu auf die Erhöhung der Kraftstoffsteuern, der Mehrwertsteuern und eine Ausweitung der Grundsteuern (Culpepper 2014, S.  1272). Ein halbes Jahr später, im Mai 2012, sah sich das Innenministerium dazu veranlasst, nach massiven gewalttätigen Protesten und Sprengstoffanschlägen auf die staatliche Agenzia delle Entrate in Livorno und auf die (halb-)privatisierten Finanzämter der Equitalia in Neapel (Hien 2018), den Schutz dieser Einrichtungen 63

Lars Döpking

durch die italienischen Streitkräfte in Aussicht zu stellen (Pisa 2012). Die Regierung Monti sah sich einer Steuerrevolte gegenüber, deren Intensität sie offensichtlich völlig unterschätzt hatte und die schlussendlich ihr politisches Ende vorzeichnete. Obgleich eine einfache Erklärung dieser Revolten nahezuliegen scheint, möchte ich im Unterschied dazu demonstrieren, dass die US-amerikanische und die italienische Steuerrevolte ein gemeinsames und jedenfalls nicht auf den ersten Blick sichtbares Moment verbindet und dass eine soziologische Analyse der permanenten US-amerikanischen Steuerrevolte dazu beitragen kann, in angemessener Weise auch die italienische Steuerrevolte von 2012 zu verstehen. Die These lautet, dass es der italienischen Revolte mitnichten allgemein um das Rettungsprogramm ging. Zu erklären ist sie auch nicht aus bestimmten kulturellen Merkmalen der italienischen Politik oder Gesellschaft. Ihre eigentliche Ursache stellt vielmehr eine technische Reform der Steuerbasis dar. Um diese These zu plausibilisieren, inspiziert der Vergleich weder die Mittel, denen sich die Revoltierenden bedienten, noch ihre normativen Begründungsmuster, sondern identifiziert auf makrosoziologischer Ebene die sozialen Mechanismen, die die Genese von Steuerrevolten befördern. Der amerikanische Kontext dient der Rekonstruktion des Mechanismus, der dann in einem zweiten Schritt auf das Italien der Eurokrise übertragen wird.

Die theoretische Perspektive: Historische Makrosoziologie Die weitere Untersuchung folgt damit einer theoretischen Perspektive, die sich als vieles, aber sicherlich nicht als einheitlich ausweisen kann. Zu mannigfaltig scheinen die zentralen Autoren, zu divers die verhandelten Fragestellungen und zu allem Überdruss herrscht Dissens über grundlegende analytische Begriffe. Worum handelt es sich bei ›historischer Makrosoziolo64

Historische Makrosoziologie

gie‹? Vergleichsweise unkontrovers scheint es, ihren Startpunkt in einer anti-parsonianischen Rezeptionslinie Max Webers zu suchen, die etwa die US-amerikanischen Soziologen Barrington Moore und Reinhard Bendix prominent vertraten (Moore 1974; Bendix 1980). Sie präferierten, in skeptischer Distanz zur These einer übergreifenden Rationalisierung aller Lebensbereiche – der »Entzauberung der Welt« (Joas 2018, S. 355-418) – eine global-vergleichende Makrosoziologie, die etwa im Falle Moores der Vorstellung eines einheitlichen Weges in die Moderne die Vielfalt möglicher Entwicklungspfade in Demokratie, faschistische und kommunistische Diktaturen gegenüberstellte (Knöbl/ Joas 2011, S. 251-283). In ihrer Folge entstand ein global-vergleichendes, historisch-soziologisches Forschungsfeld, dem Autoren wie Michael Mann, Theda Skocpol, Charles Tilly oder George Steinmetz zuzurechnen sind. Thematisch orientieren sich ihre Arbeiten zumeist an großen Begriffen wie Krieg, Revolution, Kolonialismus oder der Nationalstaatsbildung; welche übergreifenden Zugänge und Theoreme sie anleiteten, bleibt aber, wie bereits bemerkt, strittig (Lachmann 2013). Allerdings können drei Elemente herauspräpariert werden, die den Argumentationsstil der weiteren Darstellung informieren und in ihrer Zusammenstellung vermutlich nur wenig Widerspruch ernten werden. Erstens folgt die Literatur weitgehend der Entscheidung Webers, »das Einzelindividuum und sein Handeln als unterste Einheit« (Weber 1988, S. 439) der soziologischen Analyse zu behandeln, insistiert aber auf die Relevanz und Eigenlogik der daraus entstehenden Strukturen und sozialen Beziehungen; holistische oder systemtheoretische Ansätze sind dem gegenüber jedenfalls marginalisiert. Zweitens folgt aus der historischen Prämisse ein gesteigertes Interesse an prozessualen Fragestellungen (Tilly 2008). Es ist demnach nicht nur wichtig, ob und warum eine Handlung getätigt wird, sondern eben auch wann, 65

Lars Döpking

d.h. in welcher Beziehung sie zu vorherigen und zukünftigen Handlungen steht und in welchem Kontext sie erfolgt. Diese temporäre Verknüpfung von Handlungen sorgt dafür, dass sich fortlaufend ebenso die Handlungsbedingungen wie ihre Wirksamkeit wandeln, weshalb sich die Zeit selbst, in Gegenstand des Prozessbegriffes, zur zentralen soziologischen Kategorie geriert (Abbot 2001). Aus jener doppelten Hypothek folgt, dass drittens kontingente Ereignisse und Ad-Hoc-Erklärungen wichtige Funktionen in den Argumentationsstrategien historischer Makrosoziologie einnehmen. Theoretische Verallgemeinerung wird durch Modellbildung, lyrisch-narratologische Erzählverfahren oder durch Theorien mittlerer Reichweite angestrebt, denen der nicht unumstrittene Begriff des sozialen Mechanismus zuzurechnen ist (Schützeichel 2015, S. 109; Mayntz 2002, S. 24). Ausgehend von einer (kritisch-)realistischen Ontologie werden hier die Kontextbedingungen rekonstruiert, innerhalb derer bestimmte Handlungsmuster stets zu spezifischen Folgenhandlungen führen und so Ereignisse kausal verursachen. Was das konkret beinhaltet und welche Schwächen und Stärken dies impliziert, wird im Weiteren am Beispiel der Steuerrevolten demonstriert.

Vom Sand im Getriebe des nordamerikanischen Fiskus … In seiner Analyse des US-amerikanischen Steuerstaates nimmt Isaac W. Martin die konkreten Praktiken der kalifornischen Steuerverwaltung in den Blick und untersucht insbesondere deren Interaktion mit den Steuerzahler*innen vor Ort. Martin postuliert, dass die politische Motivation der »Proposition 13«-Initiative nicht als Reaktion auf eine generell zu hohe Steuerlast verklausuliert werden darf. Noch 1965 beschloss der Bundesstaat Kalifornien ein umfangreiches Gesetzespaket, welches von Einkommens- über Erbschafts- bis hin zu Zigarettensteuern so 66

Historische Makrosoziologie

ziemlich alle wichtigen Steuersätze anhob, um so die steigenden Staatsausgaben zu finanzieren (Martin 2008, S. 25). Keine dieser Maßnahmen sah sich, weder vor, noch nach ihrer Verabschiedung, mit signifikantem politischen Protest konfrontiert. Problematisch erwies sich hingegen die technische Reform »A.B.80« des Jahres 1966, welche die Festsetzung der Bemessungsgrundlage für Grundsteuern standardisierte, Qualifikationsrichtlinien für Mitarbeiter der entsprechenden Ämter festlegte und Kriterien für Interessenkonflikte bei der Ausführung der Amtsaufgaben ausformulierte. Ein solches Modernisierungsprogramm war nur deshalb politisch durchsetzbar, da zuvor die kalifornischen Strafermittlungsbehörden die Macht lokaler Steuergutachter gebrochen hatten. Im bisherigen System legten diese Gutachter den Wert von Grundeigentum eigenmächtig fest. Dass sie dabei die Bemessungsgrundlage der Grundsteuer stets unterhalb der Marktpreise veranschlagten, entsprang nicht ihrem guten Willen, sondern politischem bis kriminellem Kalkül. Die Gewährung von informellen Steuerprivilegien für Hauseigentümer sicherte den Steuergutachtern, über ihre periodische Wiederwahl hinaus, private Bereicherungsquellen. Für diese Praxis interessierten sich jedoch bald die kalifornischen Strafermittlungsbehörden. Die Vorwürfe, unter anderem Bestechung und Verschwörung – in einem Fall fand sich eine Tabelle, die detailliert Bestechungsgebühren für verschiedene Gegenleistungen auflistete –, resultierten in hohen Haftstrafen, denen die Steuergutachter teilweise durch Suizid zuvorkamen (Martin 2008, S. 27-49). Der kalifornische Gesetzgeber verabschiedete die Reform »A.B.80« im Kontext dieser Verfahren. Sie brach endgültig die politische Stellung lokaler Steuergutachter, schuf allerdings einen neuen, mächtigen Gegenspieler, die Zentralverwaltung. Obgleich die unscheinbare »A.B.80« keine Steuererhöhung im technischen Sinne darstellte, konfrontierte sie viele Grundbesit67

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zer mit unerwartet hohen Steuerbescheiden. Dies lag darin begründet, dass seit Jahrzehnten keine umfassenden Anpassungen vorgenommen worden waren, die Immobilienpreise allerdings wie im gesamten Land einen deutlichen Wertzuwachs verzeichnet hatten (Shiller 2015, S.  20). Martin berichtet exemplarisch von Fällen, bei denen sich die Bemessungsgrundlage innerhalb eines Jahres verdoppelte, was notgedrungen erhebliche Härten implizierte. Des Weiteren diente den Hausbesitzer*innen ihr jeweiliges Eigenheim der Altersvorsorge sowie dem Schutz vor den Folgen einer möglichen Arbeitslosigkeit aufgrund der konjunkturellen Schwankungen des Arbeitsmarktes. Wohneigentum bildete und bildet in den Vereinigten Staaten eine wichtige Säule des Wohlfahrtstaates. Die durch die bisherige und vielfach korrupte Bemessungsgrundlage für Grundstückssteuern ›gewährleisteten‹ Steuerprivilegien stellten deshalb das umfangreichste versteckte Sozialprogramm Kaliforniens dar (Martin 2008, S. 175-80). Es zu reformieren, musste viele Immobilienbesitzer ebenso unvorbereitet wie hart treffen. Die Betroffenen reagierten auf die sich ausbreitenden Neubegutachtungen mit Protestaktionen, die sich in ihrer Symbolik und Eskalationsstrategie an den pazifistischen Protesten gegen den Vietnamkrieg oder der Bürgerrechtsbewegung orientierten (Martin 2008, S. 51). Inhaltlich zielten sie auf eine Wiedereinsetzung des tradierten Gutachterverfahrens und verlangten eine Revision der neu ausgestellten Bescheide. Zu Beginn kritisierte die »Permanent Tax Revolt« deshalb mitnichten einen gierigen Staat, der immer mehr Steuern extrahierte, sondern richtete sich gegen die Effekte eines formal korrekt und gleich besteuernden Staates. Ihr politischer Widerstand, welcher der Zusendung von Neubegutachtungen auf dem Fuße folgte, erwies sich jedoch als vergeblich. Zum traditionellen Arrangement zwischen lokalen Gutachtern und Bürgern zurückzukehren, widersprach den Interessen der Zentralver68

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waltung. Martin folgend, radikalisierte sich die Revolte mit dem Ausbleiben politischen Erfolgs und spaltete sich in verschiedene politische Strömungen auf, die ihre Ablehnung gegen die Grundsteuer mal mit sozialreformerischen, mal mit einer prinzipiell anti-staatlichen Programmatik verbanden. Dass ihr konservativ-libertärer Flügel schlussendlich die Revolte dominierte und gar den politischen Diskurs der USA umformte, schreibt Martin kontingenten Ereignissen und politischen Dynamiken rund um das Referendum der »Proposition 13« zu (Martin 2008, S. 100). Die generelle Limitierung der Grundsteuern erschien im Lichte ihres Erfolgs als attraktive Strategie, weshalb die Revolten in anderen Bundesstaaten ebenfalls ähnliche Referenden initiierten. Ausdrücklich sieht Martin damit keine kulturellen Muster am Werk, die der amerikanischen Steuerrevolte ihren exzeptionell libertären Charakter verlieh: Ihre Ursache lag vielmehr in der Auslösung eines spezifischen sozialen Mechanismus; ihr weiterer Verlauf sollte sich dann aus der Verkettung einer Reihe kontingenter Ereignisse ergeben. Was diesen in der Realität immer wieder beobachtbaren Mechanismus betrifft, so lässt sich Martin zufolge festhalten, dass die Wahrscheinlichkeit einer Steuerrevolte signifikant steigt, wenn die Modernisierung einer Steuerbasis, d.h. der Techniken, die sie vermessen, tradierte informelle Steuerprivilegien zur Disposition stellt (Martin 2008, S. 147). Martin begreift deshalb auch die Steuerrevolten in Großbritannien gegen die »Poll Tax« und dieselben in Frankreich und Dänemark gegen jeweilige Einkommenssteuerreformen als Resultat dieses Mechanismus (Martin 2008, S.  147-163). Hinzuzufügen ist, dass der Grundund später der Einkommenssteuer deshalb eine besondere Rolle in der Analyse zufällt, weil sie, wie alle Quellsteuerverfahren, den Betroffenen jegliche Möglichkeit entziehen, mit ›Exit‹ – ergo Steuerevasion – zumindest kurzfristig auf die neu geschaffene Situation zu reagieren (Peters 1991; Bach 2016, S.  165). Steuer69

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privilegien zu demontieren, erweist sich demzufolge dann als politisch unproblematisch, wenn die Härten des Übergangs zum neuen Steuerregime über informelle Kanäle abgefangen werden können. Weder dem Arbeitnehmer noch dem Hausbesitzer steht aber eine solche Möglichkeit uneingeschränkt offen. Gerade weil ihre Steuerbasis immobil ist, können sie lediglich mit ›Voice‹, d.h. Protest, auf solche Reformen reagieren (Hirschmann 1970). Eine Soziologie von Steuerrevolten, die von Martins Studie ihren Ausgang nimmt, identifiziert Muster, die auf die Wirkung eines solchen sozialen Mechanismus verweisen. Auf Italien angewandt heißt dies für meinen Diskussionszusammenhang: Durch die Konzentration auf Martins Theorem kann ich zunächst von einer detaillierten Rekonstruktion der Revolte absehen und mich stattdessen auf ihre strukturellen Voraussetzungen konzentrieren.

… bis hin zu Sprengstoffanschlägen auf italienische Finanzämter Wie bereits geschildert, revoltierten die italienischen Steuerzahler*innen angesichts eines Bündels von Maßnahmen im Rahmen des »Manovra Salva Italia« Mario Montis. Obgleich die politischen Umstände des Protests vergleichsweise komplex sind, können mit dem Instrumentarium Martins institutionelle Zusammenhänge aufgedeckt werden, die hinter den Ausschreitungen des Frühjahrs 2012 einen ähnlichen sozialen Mechanismus vermuten lassen. Dazu muss der konkrete Inhalt der Steuererhöhungen in den Blick genommen werden. Montis Programm sah vor, die Lasten der Haushaltssanierung auf verschiedene Schultern zu verteilen. Es führte zum einen, ausgleichend zur regressiven Anhebung indirekter Steuern auf Kraftstoff und Konsum, verschiedene Luxussteuern, etwa auf Yachten, gestaffelt nach Rumpflänge, oder Fahrzeuge ab einer Leistung von 185 KW ein (Gazetta Ufficiale 2011, S. 78). Systematisch eingetrieben 70

Historische Makrosoziologie

werden konnten diese freilich nicht: Über 40.000 Yachten verließen nämlich in Reaktion auf die neue Gesetzgebung die Häfen Italiens und flaggten in anderen Gewässern um; zugleich brach der Binnenmarkt für italienische Yachthersteller ein (Focarde 2015), und Sportwagen verschwanden in der Garage, um den beständigen Kontrollen der Guardia di Finanza zu entgehen. Auch Straßenkontrollen und verdeckte Operationen an luxuriösen Badestränden und Skiressorts erwiesen sich als Fehlschlag. Die Aktionen wurden zwar publikumswirksam präsentiert, erhöhten aber gleichwohl kaum das Aufkommen der Luxussteuern. Ähnliches galt für die Mehrwertsteuererhöhung, die sogar ein rückläufiges Aufkommen verzeichnete, weil der Konsum im Zeichen der Wirtschaftskrise einbrach. Zum anderen weitete die Regierung Monti aber zusätzlich die Grundsteuer aus, was in der Tat die bei weitem effektivste Steuererhöhung darstellte. Ihr Aufkommen stieg trotz Krise zwischen 2010 und 2012 von ca. zehn auf ca. 24 Mrd. Euro jährlich (OECD 2016, S.  106). Der dadurch (und durch die Lektüre von Martin) genährten Vermutung, dass gerade die Reform der Grundsteuer ein entscheidender Beweggrund der Revolte sei, entspricht zudem die institutionelle Struktur des italienischen Wohlfahrtstaates. Denn analog zu den Vereinigten Staaten bildet auch dort Wohneigentum, neben familiären Strukturen, eine zentrale Säule der sozialen Absicherung (Claude 2015). Genau an dieser Stelle setzte die Grundsteuerreform an: Der italienische Fiskus nahm die Verabschiedung der »Imposta Municipale Unica« zum Anlass, seinen Kataster zu modernisieren. Die eingetragenen Immobilienwerte, die auf den Mietpreisen des Jahres 1988/89 basierten, steigerten sich durch die Anpassung im Schnitt um ca. 50 Prozent (Eyraud 2014, S. 9). Zusätzlich zu der Neubegutachtung reintegrierte das »Manovra Salva Italia« die Wohneigentümer in die Steuerbasis der Grundsteuer. Die Regierung Berlusconis hatte sie 2008, mit Ausnahme der 71

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Residenten luxuriöser Villen, von der Steuer befreit (Oliviero und Scognamiglio 2016, S.  6). Das formale Steuerprivileg, von dem viele Besitzer kleiner Wohnungen und Häuser profitierten, strich die »Imposta Municipale Unica« ersatzlos, womit sie das politische Arrangement zwischen Wohneigentümern und dem Steuerstaat Berlusconis abschaffte. Es zu restaurieren, stellte ein wichtiges Motiv der Revolte dar, dem das Kabinett Letta (2013-2014) unter dem Druck Berlusconis 2013 nachkam.

Einordnung: Universale Mechanismen revoltierender Steuerzahler*innen? Es liegt deshalb der Schluss nah, dass der von Martin rekonstruierte soziale Mechanismus die italienische Steuerrevolte von 2012 plausibel erklären kann. Auch hier schaffte die technische Modernisierung der Steuerbasis Steuerprivilegien ab, ohne dass die Betroffenen mit ›Exit‹ auf die neue Situation reagieren konnten – die, die den Steuereintreibern anderweitig entgehen konnten, mussten nicht notwendigerweise revoltieren. Die strukturellen Voraussetzungen für die Auslösung des Mechanismus waren zwar somit gegeben. Dies bedeutet jedoch nicht, dass tiefere historische und politische Wurzeln der italienischen Steuerrevolte zwangsweise irrelevant sind (D’Attoma 2018; Hien 2018). Des Weiteren kann so nicht geklärt werden, weshalb die Steuerrevolte dort zu gewaltsameren Mitteln als ihr US-amerikanisches Pendant griff. Vor diesem Hintergrund ist deshalb abschließend die Reichweite des hier präsentierten Ansatzes einzuschränken: Eine soziologische Theorie, die auf Mechanismen abzielt, stellt mitnichten einen Ersatz für die historisch-soziologische Rekonstruktion des konkreten Konfliktverlaufes dar. Um die Abläufe und Ursachen der italienischen Steuerrevolte vollständig zu verstehen, müsste zumindest das politische Unvermögen der Regierung Monti, die spezifischen Konfliktdynamiken vor Ort und die symbolischen Krisendeutungsmuster 72

Historische Makrosoziologie

der Bevölkerung nachvollzogen werden. Diesen Elementen wird sich wohl die zukünftige Forschung widmen. Der Verweis auf soziale Mechanismen erlaubt es aber, den Blick auf das Phänomen der Steuerrevolten zu schärfen, allzu schnell gefällte Vorannahmen zu relativieren und ihre strukturellen Voraussetzungen herauszukristallisieren. Theoretische Soziologie kann dann überzeugen, wenn sie aus akrobatischen Abstraktionen zugleich die Bereitschaft zu einem detaillierteren Verständnis anregt. Zehn Minuten mögen für eine solch unverbindliche Anregung genügen, für ihre Ausführung gereichen sie glücklicherweise nicht.

Zum Weiterlesen Bach, Stefan (2016): Unsere Steuern. Wer zahlt? Wie viel? Wofür? Frankfurt a.M.: Westend. Döpking, Lars (2018): »Fiskalregime – eine andere Geschichte des modernen Staates«. In: Mittelweg 36 27, 1, S. 3-28. Martin, Isaac W. (2008): The Permanent Tax Revolt. How the Property Tax Transformed American Politics. Stanford: Stanford University Press.

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Differenzierungstheorie Climate change fiction: spekulative (Sozial-) Wissenschaft und literarische Fiktion Sina Farzin Wie kann man sich mit etwas beschäftigen, von dem nicht ganz sicher ist, wie es stattfindet – und das zudem nicht erlebt werden kann? In zweifacher Weise stellt die Beschäftigung mit dem Klimawandel die Gesellschaft im Allgemeinen und die Soziologie im Besonderen vor diese grundlegenden Fragen: Einerseits beschreibt die Wissenschaft unter dem Schlagwort ›Klimawandel‹ größtenteils Entwicklungen, die sich noch nicht vollzogen haben, also erst zukünftig stattfinden werden und daher immer nur mögliche, mehr oder weniger wahrscheinliche, im besten Fall sogar vermeidbare Optionen darstellen. Andererseits entzieht sich der Klimawandel wegen dieser Bezogenheit auf Zukunft und der die individuelle Existenz weit überschreitenden Zeiträume dem direkten Erleben – zumal Klima, erst recht im globalen Maßstab, keine lebensweltliche Erfahrungskategorie ist (anders als das ›Wetter‹, zu dem aufgrund der unmittelbaren und geteilten Betroffenheit jeder Person in direkter Interaktion etwas zu sagen einfällt). Damit ist das Nachdenken über Klimawandel immer mit einer doppelten Abstraktionsleistung verbunden: Es thematisiert, zumindest in großen Teilen, etwas noch nicht Geschehenes, das zudem in seinen zeitlichen und räumlichen Ausdehnungen den subjektiven Erfahrungshorizont überschreitet. Die Beschäftigung mit dem Klimawandel und seinen Folgen für das menschliche Zusammenleben fordert also zu einer mehrfachen Denkbewegung heraus, die vom jeweils konkreten 77

Sina Farzin

Beobachterstandpunkt weg verläuft: zeitlich, indem verschiedene mögliche, mehr oder weniger wahrscheinliche zukünftige Entwicklungen zur Debatte gestellt werden und als ›gegenwärtige Zukünfte‹ Orientierung für aktuelle Entscheidungen stiften sollen; räumlich, indem neue Begriffe, Bilder und Vorstellungen für die globale Dimension des Geschehens gefunden werden müssen, die in traditionellen Kategorien wie etwa dem territorial umgrenzten Nationalstaat nicht oder nur unzulänglich abgebildet werden können; und schließlich sozial, indem die Auswirkungen zunächst abstrakter naturwissenschaftlicher Informationen wie Temperaturkurven, Meeresspiegelanstiege etc. auf die Möglichkeiten des Zusammenlebens künftiger Generationen überhaupt erst einmal imaginiert werden müssen, um aus Messreihen und Projektionen so etwas wie gesellschaftliches Problembewusstsein zu generieren. Wie aber kann es gelingen, einen derart vielschichtigen Denkraum zu eröffnen und zu bespielen? Welche Formen der Wissensgenerierung werden genutzt oder neu entwickelt, um den geschilderten Herausforderungen zu begegnen? In diesem Beitrag möchte ich eine differenzierungstheoretisch angeleitete Antwort auf diese Fragekomplexe vorschlagen. Sie lautet, dass gesellschaftlich aktuell vor allem die Kunst unter den angesprochenen Vorzeichen Imaginationen formuliert, die sowohl gesamtgesellschaftlich als auch in spezialisierten Kommunikationskontexten das Ausmaß und die Komplexität der Wandlungs- und Anpassungsprozesse vorstellbar machen. Dabei basieren die künstlerischen Fiktionen einerseits auf Wissen, das durch die Wissenschaft bereitgestellt wurde, was auch durchaus strategisch ausgestellt wird (etwa durch Verweise auf Quellen und BeraterInnen in Vor- und Nachworten). Andererseits wirken diese Fiktionalisierungen nicht nur als Verbreitungsinstanzen gegenüber einer allgemeinen Öffentlichkeit, sondern auch zurück in sozialwissenschaftliche Bearbeitungen der Thema78

Differenzierungstheorie

tik, wie am Beispiel der Arbeit des Science-Fiction-Autors Kim Stanley Robinson abschließend exemplarisch aufgezeigt wird. Im Folgenden wird zunächst die Differenzierungstheorie Luhmanns als theoretische Perspektive vorgestellt um anschließend climate change fiction als eine literarische Form zu diskutieren, welche die Thematisierung des Klimawandels ermöglicht.

Differenzierungstheorie: Der Klimawandel der Gesellschaft Mit Niklas Luhmanns Neuformulierung der soziologischen Differenzierungstheorie verzichtete diese Spielart soziologischer Gesellschaftstheorie auf die Vorstellung eines einheitlichen Gegenstandes. Vielmehr, so die Annahme, differenzieren sich mit den verschiedenen Teilsystemen jeweils unterschiedliche System-/Umweltverhältnisse aus, die wiederum jeweils eigene Beobachtungen der Gesellschaft anfertigen. Die Gesellschaft der Politik, des Rechts oder der Wissenschaft fügen sich nicht wie Puzzlestücke zu einem großen Ganzen, sondern stehen sich als Umwelten gegenüber. Gesellschaft ist polykontextural, jede Beobachtung vollzieht sich von einem spezifischen Standpunkt aus und kann nicht das Ganze letztgültig repräsentieren. Der so erzeugte, typisch moderne Sinnüberschuss an Uneindeutigkeit und Kontingenz kann entsprechend nicht aufgelöst, sondern nur operativ bearbeitet werden, was wiederum die zur Verfügung stehende soziale Komplexität eher exponentiell steigert als abbaut. Dennoch, oder gerade deswegen, bilden sich Kommunikationsroutinen aus, die beanspruchen, die Gesellschaft als Ganze zu beschreiben. In der Wissenschaft ist es vor allem die Soziologie, die Beschreibungen der Gesellschaft anfertigt, in denen mitbeobachtet wird, wie andere und man selbst beobachtet. Etwas weniger filigran im Einbau der Selbstreflexion, in Bezug auf den Verbreitungsgrad aber ungleich erfolgreicher, sind die Mas79

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senmedien, die sich darauf spezialisieren, eine geteilte Version der Realität zu erzeugen und ein möglichst breites Publikum zu adressieren. So wird ein gesellschaftlich geteiltes Gedächtnis erzeugt, was dazu führt, »dass man bei jeder Kommunikation bestimmte Realitätsannahmen als bekannt voraussetzen kann, ohne sie eigens in die Kommunikation einführen und begründen zu müssen.« (Luhmann 1996, S.  120) Die so erzeugte »Hintergrundrealität« (ebd., S. 173) garantiert somit »eine gesellschaftsweit akzeptierte, auch den Individuen bekannte Gegenwart, von der sie ausgehen können […]« (ebd., S. 176). Diese Hintergrundrealität wird jedoch mit Blick auf den Klimawandel problematisch. Zwar selektieren die Medien auch die Erkenntnisse der Klimaforschung und fügen so das Wissen über die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit kommender Klimaveränderungen in den Erwartungshorizont der Gegenwart ein. Jedoch stoßen sie aufgrund der geschilderten Sperrigkeit des Themas an Grenzen: Die zukünftigen, hochgradig ungewissen, aber umfassenden Auswirkungen des Klimawandels können nicht als Bestandteil der gegenwärtigen Realität mit Nachrichtenwert versehen werden und müssen als mögliche, unsichere, stets auch anders denkbare Alternativen präsentiert werden. Zudem müssen die hochabstrakten Modelle und Befunde der Klimawissenschaft als Quelle des gesellschaftlichen Wissens über die Existenz des Klimawandels überhaupt in mögliche Szenarien ihrer Auswirkungen überführt werden (Brüggemann 2017). Da aber über die Zukunft nicht unter Bezug auf sicher stattfindende Ereignisse berichtet werden kann und Prognoseverfahren gerade in den Sozialwissenschaften im Verlauf des 20. Jahrhunderts aufgrund der hohen Unsicherheiten zunehmend skeptisch bewertet wurden, ist wiederholt auf die Unzulänglichkeit der zu Verfügung stehenden Kommunikationsformen hingewiesen worden (Jasanoff 2010). Sowohl die wissenschaftliche Leitcodierung wahr/falsch als auch die massenmediale Orientierung am 80

Differenzierungstheorie

Neuigkeitswert der selektierten Information geraten bei der Bearbeitung zukünftig zu erwartender, aber unsicherer Ereignisse an die Grenzen dessen, was legitim kommuniziert werden kann. Es ist vor dem hier skizzierten Hintergrund nicht verwunderlich, dass die mit dem Klimawandel einhergehenden Beschreibungsprobleme der gegenwärtigen Gesellschaft im Funktionssystem der Kunst auf vielfache Weise produktiv gewendet wurden: Seit den späten 1990er Jahren kommt es zu einem regelrechten Boom narrativer Bearbeitungen des Klimawandels, insbesondere in der Literatur aber auch im Film. Die Imagination einer zukünftigen, durch den Klimawandel veränderten Welt scheint gerade die Vorstellungskraft der SchriftstellerInnen zu beflügeln. Strömungen wie ecocriticism (Heise 2008), climate change fiction (Goodbody/Johns-Putra 2019) oder anthropocene fiction (Trexler 2015) versammeln seitdem vermehrt literarische Auseinandersetzungen mit der Thematik des Klimawandels, die über ›realistische‹ oder ›traditionelle‹ Romane hin zu Dystopien oder Science-Fiction-Texten reichen. Es ist nicht verwunderlich, dass die beschriebenen Herausforderungen an die gesellschaftliche Selbstbeschreibung im Bereich der Kunst begeistert bearbeitet werden. »It’s not climate change, it’s everything change« formulierte etwa die kanadische Autorin Margaret Atwood in einem programmatischen Essay (2015), in dem sie die kritische Kraft der künstlerischen Imagination angesichts der kommenden ökologischen politischen Herausforderungen beschwört. Differenzierungstheoretisch überrascht diese große Resonanz nicht. Denn mit der autonomen Kunst differenziert sich in der Moderne ein Bereich aus, der sich darauf spezialisiert, gerade den Überschuss möglicher Ordnungen gegenüber der tatsächlich realisierten Form präsent zu halten. Der ›realen Realität‹, die eher mit jenem stillen Konsens der massenmedialen Hintergrundrealität übereinstimmt, steht mit der Kunst eine 81

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fiktive Realität gegenüber: »Sie bietet […] eine Möglichkeit, die Welt in der Welt zu beobachten mit Blick für die Kontingenz aller realisierten Formen. Keine Wirklichkeit kann jetzt die Möglichkeit, anders zu sein, ausschließen.« (Luhmann 2008, S.  281 [Hervorhebungen im Original). In nicht-narrativen Spielarten künstlerischer Kommunikation wird der Umgang mit Kontingenz vor allem als Formproblem sichtbar, so dass als Qualitätsmerkmal einzelner Werke ihr gelingender Umgang mit schier endlosen Wahlmöglichkeiten gesehen wird – jede Note, jeder Pinselstrich ist hier genau am richtigen Platz. Narrative Formen verhandeln jedoch nicht allein selbstreferentiell den Umgang mit Formentscheidungen, sondern beziehen sich zudem fremdreferentiell auf Gegenstände außerhalb ihrer selbst (die postrevolutionäre Gesellschaft Frankreichs oder das Liebesleid der Hauptfigur oder eben das Leben in einer durch den Klimawandel veränderten Welt): »Es wird eine fiktionale Ordnung gefunden, damit man von da aus die normale, allen bekannte Wirklichkeit betrachten kann […]. Oder es wird eine Sehnsucht geweckt nach etwas, was fehlt […].« (Ebd., S. 281)

Climate change fiction Die Konjunktur von Romanen und – etwas weniger stark – Filmen zur Thematik des Klimawandels begann um die Jahrtausendwende (Trexler 2015, S.  8). Seitdem nimmt die Anzahl der Publikationen beständig zu, so dass unter der Abkürzung clifi inzwischen ein marketingtaugliches Label zur Verfügung steht, das nicht zuletzt durch soziale Aktivist*innen geprägt und verbreitet wurde (Goodbody/Johns-Putra 2019). Nicht nur literaturwissenschaftlich bemerkenswert ist dabei, dass sich sehr unterschiedliche Genres unter dem Schlagwort der climate change fiction zu einer Querschnittskategorie verbinden: Der Klimawandel wird als Thema sowohl in eher realistischen Romanen aufgegriffen (vgl. anstelle vieler Ian McEwan: »Solar«; Babara 82

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Kingsolver: »Flight Behaviour«) als auch in Science-Fiction-Texten (Kim Stanley Robinson: »New York 2140«) und Werken der spekulativen Literatur (Margaret Atwood: »Oryx and Crake«; Dale Pendell: »The Great Bay«; Nathaniel Rich: »Odds Against Tomorrow«). Auch wenn die Handlung einiger der Texte in der Gegenwart spielt, entwerfen die Romane in der überwiegenden Mehrzahl zukünftige Szenarien, deren Einsatzpunkte teilweise ›fünf Minuten nach Heute‹ liegen und deren Handlungsverläufe bis zu 14.000 Jahre in die Zukunft weisen. Aber nicht nur die Zeiträume, die den literarischen Imaginationen zugrunde liegen, eröffnen Möglichkeiten zur Bearbeitung der Komplexität eines so umfassenden Themas. Insbesondere die Science-Fiction-Literatur, deren Stärke stets eher das literarische worldbuilding als die tiefe Charakterstudie war, erweist sich als Form, die künstlerische Denkmittel zur Bearbeitung der Thematik zur Verfügung stellt: »Climate fiction can convey cultural narratives, create detailed speculation, incorporate diverse point of views, and hold a multitude of things, from species to machines, places to weather systems.« (Trexler 2015, S. 27) Das vielfältige und beständig wachsende Feld der clifi-Literatur kann im Rahmen von zehn Minuten Lese- und Denkzeit nicht ansatzweise angemessen vorgestellt werden. Stattdessen skizziere ich mit Blick auf einen der hier erfolgreichsten Autoren exemplarisch, wie strategisch und reflektiert die Möglichkeiten der Fiktionalisierung gesellschaftlicher Diskurse genutzt werden. Einer der meist rezipierten Autoren von Klimawandelliteratur ist der Science-Fiction-Autor Kim Stanley Robinson. In vielen seiner Werke greift er den Klimawandel sowie weitergehende Fragen des Mensch-Natur-Verhältnisses und der Rolle naturwissenschaftlichen Wissens auf und entwirft zugleich komplexe Szenarien, die Institutionen und Organisationen aus unterschiedlichen sozialen Bereichen (Wissenschaft, Politik, 83

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Medien, soziale Bewegungen etc.) umfassen. Robinson selbst beschreibt seine literarische Arbeit als fortgesetztes Gedankenexperiment, in dem wissenschaftliche Fakten, normative soziale Fragen und die Erweiterung des traditionell anthropozentrischen Weltbildes um nicht-menschliche Akteure im Zuge des planetaren Klimawandels in einen literarischen Vermittlungsprozess eintreten. »The name ›science fiction‹ is very powerful because it seems to say we can bridge the fact/value conundrum. […] science fiction does so explicitly, through thought experiments: ›If we do this we’ll get here. If we do that we’ll get there.‹ Also, whereas the nineteenth-century novel traditionally speaks to the individual’s relationship to society and history, science fiction adds the nonhuman and the planet to that list. The content of science fiction helps to make biophysical systems and problems visible.« (Robinson/Feder 2018, S. 88) Grundlage des literarischen Vorgehens Robinsons ist dabei der intensive Austausch mit natur- und sozialwissenschaftlichen Forschungen. Robinson, der selbst bei Fredric Jameson studierte, und seine Arbeit vor allem als Kapitalismuskritik versteht, nennt sowohl die Klimawissenschaft als auch Einflüsse durch die science studies von AutorInnen wie Bruno Latour oder Donna Haraway als wichtige Quellen seiner Science-Fiction-Utopien. Seine Bücher zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie den experimentellen, prinzipiell offenen Verlauf zukünftigen gesellschaftlichen Lebens unter den Vorzeichen des Klimawandels in ihre narrative Struktur integrieren. Sie präsentieren zukünftige Formen sozialer Organisation nicht als alternativlos, sondern als (teilweise umkämpfte) Gestaltungsräume. In seiner Mars-Trilogie (Robinson 1993, 1993a, 1996) entwirft Robinson bspw. das Szenario einer Marsbesiedlung durch den Menschen. Die Pio84

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niere, eine Gruppe von hundert WissenschaftlerInnen, müssen dabei einerseits ein völlig neues Mensch-Natur-Verhältnis entwickeln, da sie im Prozess des terraforming eine Welt erschaffen, die das Überleben der Menschen erlaubt. Andererseits bietet die Besiedlung auch die Möglichkeit, in Verbindung mit der Gestaltung der materiellen Welt neue Formen des sozialen Zusammenlebens zu entwickeln. Durch die zeitweise Trennung der Lebensräume in unterschiedliche Klimakapseln entstehen so im Verlauf der Handlung imaginative Labore, in denen verschiedene wirtschaftliche, soziale, ökologische und spirituelle Arrangements ausagiert werden. »New York 2140« wiederum verlagert das mehrstimmige Gedankenexperiment in ein überflutetes, zukünftiges New York. Dabei werden die inselartig aus dem Wasser aufragenden Hochhäuser zu autarken sozialen Einheiten, in denen jeweils selbstorganisiert mit den knappen Ressourcen umgegangen werden muss. Alle diese Texte setzen unterschiedliche thematische Schwerpunkte und vereinen sehr diverse Handlungsstränge. Was sie jedoch gleichermaßen auszeichnet, ist der literarische Versuch, im Rahmen der skizzierten veränderten zukünftigen Welt alternative und synchrone Handlungsspielräume aufzuzeigen, ohne deren potentielle Konflikthaftigkeit und ihr mögliches Scheitern auszublenden. Robinson selbst bezeichnet seine Literatur gerade wegen des spekulativen Zugangs als einen realism of the possible (Robinson/Feder 2018). Literaturwissenschaftlich spräche man wohl eher von critical dystopias, in denen nicht die eine, bessere Welt den gegenwartskritischen Fluchtpunkt des literarischen worldbuildings bietet (Moylan 2000, S 188). Was sie vielmehr auszeichnet, ist das imaginative Aufzeigen alternativer Möglichkeiten der Bewältigung sozialer und ökologischer Herausforderungen eingedenk damit verbundener Probleme und Unwägbarkeiten.

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Fazit Mit dem Aufzeigen alternativer Bewältigungsmöglichkeiten wird das Problem der Darstellung des Klimawandels jedoch nicht einfach durch die Literatur monopolisiert. Vielmehr werden die künstlerischen Bearbeitungen des Themas in unterschiedlichen gesellschaftlichen Arenen rezipiert, nicht zuletzt auch in der Wissenschaft. Das Interessante speziell an Robinsons Arbeit ist, dass die bis hierhin skizzierte Denkbewegung nicht einseitig aus dem Bereich der wissenschaftlichen Wahrheitsproduktion in die fiktionale Literatur hinein verläuft, sondern umgekehrt auch Rückwirkungen zu beobachten sind. Die bisherige Argumentation hat vor allem gezeigt, dass die Klimawandelliteratur unter Rückgriff auf wissenschaftliches Wissen mit den Mitteln der Kunst fiktive Räume erzeugt, in denen das Ausmaß der möglichen Veränderungen vorstellbar und damit kulturell überhaupt bearbeitbar wird. Wie bereits eingangs argumentiert, wird durchaus innerhalb des Funktionssystems Wissenschaft darauf hingewiesen (Jasanoff 2010), dass die klassischen und abgesicherten Formen wissenschaftlicher Kommunikation der gesellschaftlichen Debatte dieses Phänomens nicht gerecht werden. Andere, umfassendere und mehr Ambivalenz ermöglichende Verhandlungen der Klimathematik bezieht daher auch die Wissenschaft inzwischen aus der Kunst. Denn Klimawandelfiktionen richten sich nicht nur an ein unspezifisches allgemeines Publikum, sondern werden umgekehrt auch von spezialisierten WissenschaftlerInnen rezipiert. Insbesondere in der sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Thematik lassen sich daher viele Rückwirkungen aus dem Bereich des Fiktiven beobachten, wenn es darum geht, Orientierungswissen für den Umgang mit kommenden Veränderungen zu formulieren. Ein populäres Beispiel ist Bruno Latours Rezeption des Hollywood-Blockbusters »Avatar« (Latour 2010). Vielschichtiger und komplexer ist demgegenüber die 86

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Resonanz, die Kim Stanley Robinsons Arbeiten erfahren haben. Die Zeitschrift »Configurations« (2012, Volume 20) etwa widmete dem Autor ein eigenes Sonderheft, in dem zahlreiche der Einzelbeiträge den Vorschlag unterbreiten, Robinsons Romane als wissenschaftliche Theorie zu lesen (eine Zuschreibung, die er selbst ablehnt). Zugleich tauchen Robinsons Arbeiten als wichtige Quelle in sozialtheoretischen Schriften auf, die sich um eine wissenschaftliche Neubestimmung grundlegender Begriffe und Kategorien unter den Vorzeichen des Klimawandels bemühen. McKenzie Wark bspw. entwirft in »Molecular Red« (2012) unter Rückgriff auf Robinsons Mars-Trilogie Vorschläge für eine neue Fassung der Mensch-Natur-Kultur-Unterscheidung. Neben Karl Marx wird dabei vor allem Robinsons Science-Fiction für ihn zu einer wichtigen Bezugsquelle: »The special virtue of Robinson’s […] science fiction is that it is no longer about just one worldview, but about the negotiation between worldviews. […] Here a […] meta-utopian mode of writing might point the way forward.« (Wark 2012, S. 122). Schließlich übernimmt Donna Haraway in ihrem aktuellen Buch »Staying with the Trouble« von Robinson den zeitdiagnostischen Begriff »the great dithering« (Haraway 2016, S.  144) zur Beschreibung der gegenwärtigen politischen Handlungsblockaden. Die hier abschließend nur kurz erwähnten Bezugnahmen legen nahe, dass das Potential der Klimawandelliteratur sich nicht in der Popularisierung klimawissenschaftlicher Erkenntnisse erschöpft. Vielmehr wird das Fiktive selbst zu einer experimentellen Ressource für die Wissenschaft auf der Suche nach angemessenen Denk- und Erkenntnismethoden für die fundamentale Herausforderung des globalen Klimawandels. Es erweitert den Bewegungsspielraum um die Möglichkeit, nicht nur die Kontingenz des Status quo gesellschaftlicher Zustände zu reflektieren, sondern auch zukünftige Möglichkeiten präsent zu halten, ohne sie festzuschreiben. Weder die Potentiale 87

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und Grenzen noch die wissenssoziologische Reflexion einer solchen durch die Kunst informierten »spekulativen Sozialwissenschaft« sind bisher ausreichend diskutiert worden. Eine genauere Untersuchung der beschriebenen Aneignungs-, Diffusions- und Übersetzungsprozesse könnte eine der Grundlagen einer differenzierungstheoretisch informierten Wissenssoziologie werden, die es zu erarbeiten gilt.

Zum Weiterlesen Esposito, Elena (2007): Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Garforth, Lisa (2016): Green Utopias. Environmental Hope Before and After Nature. Cambridge: Polity. Robinson, Kim Stanley (2015): Green Earth. New York: HarperCollins.

Literatur Atwood, Margaret (2015): »It’s Not Climate Change, It’s Everything Change«. Verfügbar unter: https://medium.com/matter/it-snot-climate-change-it-s-everything-change-8fd9aa671804 (zuletzt abgerufen am 12.11.2018). Brüggemann, Michael (2017): »Traditional and Shifting Roles of Science Journalists and Environmental Reporters Covering Climate Change«. In: Oxford Encyclopedia of Climate Change Communication. Oxford: Oxford University Press. Goodbody, Axel/Johns-Putra, Adeline (2019): Cli-Fi. A Reader. Oxford: Peter Lang. Haraway, Donna (2016): Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene. Durham: Duke University Press. Heise, Ursula K. (2008): Sense of Place and Sense of Planet. The Environmental Imagination of the Global. Oxford: Oxford University Press.

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Differenzierungstheorie Jasanoff, Sheila (2010): »A New Climate for Society«. In: Theory, Culture & Society 27, S. 233-253. Latour, Bruno (2010): »An Attempt at a ›Compositionist Manifesto‹«. In: New Literary History 41, S. 471-490. Luhmann, Niklas (1996): Die Realität der Massenmedien. Opladen: Westdeutscher Verlag. Luhmann, Niklas (2008): Schriften zu Kunst und Literatur. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Moylan, Tom (2000): Scraps of the Untainted Sky. Science Fiction, Utopia, Dystopia. Boulder: Westview Press. Robinson, Kim Stanley (1993): Red Mars. New York: Spectra/Bantam Dell/Random House. Robinson, Kim Stanley (1993): Green Mars. New York: Spectra/Bantam Dell/Random House. Robinson, Kim Stanley (1996): Blue Mars. New York: Spectra/Bantam Dell/Random House. Robinson, Kim Stanley (2015): Green Earth. New York: HarperCollins. Robinson, Kim Stanley (2017): New York 2140. New York: Orbit. Robinson, Kim Stanley/Feder, Helena (2018): »The Realism of Our Time. Interview with Kim Stanley Robinson«. In: Radical Philosophy 2, S. 87-98. Trexler, Adam (2015): Anthropocene Fiction. The Novel in a Time of Climate Change. Charlottesville: University of Virginia Press. Wark, McKenzie (2016): Molecular Red. Theory for the Anthropocene. New York: Verso.

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Poststukturalimus: Dekonstruktion und/als Bewegung Derrida über die akademische Lehre Steffi Hobuß Was hat Dekonstruktion mit Bewegung und diese wiederum mit akademischer Lehre zu tun? Im Folgenden gehe ich davon aus, dass die theoretische Perspektive der Dekonstruktion ihrerseits als eine Bewegung zu verstehen ist, die mit Gewinn wiederum verwendet werden kann, um die Tätigkeit der akademischen Lehre als Fallbeispiel für eine Praxis der Bewegung zu beleuchten. Bewegung kommt also gleich auf beiden Ebenen vor: der der theoretischen Perspektive und der des betrachteten Falls. Um das zu zeigen, geht es zunächst um die Dekonstruktion als theoretische Perspektive, dann in einem zweiten Schritt um die akademische Lehre und schließlich um die Anwendung der Perspektive auf den Fall, also um die dekonstruktive Betrachtung der Lehre.

Dekonstruktion als theoretische Perspektive Dekonstruktion lässt sich als eine Bewegung verstehen: Der Begriff der Dekonstruktion, den Jacques Derrida in seiner Schrift »De la grammatologie« (Derrida 1967) eingeführt hat, bezeichnet keine philosophische oder sozialwissenschaftliche Methode, wie sie manchmal verstanden wird, und auch keine eigenständige Theorie, sondern eine Praxis der Arbeit mit und an Texten und damit eine Bewegung. Sie ist nicht immer in der gleichen Art und Weise ›anwendbar‹, weil sie sehr kontextabhängig ist. So lässt sich sagen, es gibt gar nicht ›die Dekonstruktion‹, sondern stets

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nur bestimmte Dekonstruktionen im Plural. Jonathan Culler schreibt: »Dekonstruktion [ist] keine Theorie […], die Sinn definiert, um Anweisungen zu geben, wie man ihn findet. Als kritische Aufhebung der hierarchischen Gegensätze, von denen Theorien abhängen, weist sie die Schwierigkeiten jeder Theorie auf, die Sinn eindeutig definieren möchte: als Intention des Autors, als determiniert durch Konventionen, als Erfahrung des Lesers.« (Culler [1982] 1988, S. 146) Der Sinn eines Textes ist also weder durch die Intention einer Autorin noch durch Konventionen noch als Erfahrung einer Leserin festzulegen, sondern den Sinn eines Textes bekomme ich heraus, indem und während ich den Text lese, Lesen dabei als Praxis des Umgehens mit dem Text verstanden. Derrida selbst hat die Dekonstruktion als eine Haltung beschrieben, den Begriff aber nie definiert (was der Dekonstruktion als Bewegung auch entgegenstehen würde). Dekonstruktion ist, könnte man sagen, eine bestimmte Aufmerksamkeit für Strukturen und Konstruktionen und gleichzeitig der Versuch ihrer Demontage. Der Wortausdruck ›Dekonstruktion‹ entstand vor dem Hintergrund von Derridas Versuch, Heideggers ›Destruktion‹ ins Französische zu übersetzen. Heidegger spricht davon, die Metaphysik des Abendlandes zu destruieren (Heidegger 2000). Im Französischen würde eine wörtliche Übersetzung von ›destruieren‹ den hier irreführenden Sinn von ›zerstören‹ ergeben, so dass Derrida nach einer anderen Möglichkeit gesucht und den Kunstausdruck ›De-construction‹ geprägt hat. Es geht hier darum, Gedankenbewegungen nachzuvollziehen, im Nachvollzug zu kritisieren und zu destabilisieren. Da die Dekonstruktion einen Text jedes Mal zugleich zitiert und wiederholt, verändert sie ihn auch jedes Mal, ohne aber dabei einen 92

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ganz neuen Text zu schreiben. Es geht also um eine Bewegung der Kritik und Transformation von Texten in der Arbeit an Texten. In Derridas Verständnis ist Text allerdings weit mehr als das geschriebene oder gesprochene Wort. Sehr vieles kann als Text begriffen werden, auch soziale Institutionen oder Situationen. In der Operation der Dekonstruktion versucht Derrida, stabile Bedeutungen zu destabilisieren und die untergeordneten oder ausgeblendeten Bedeutungen eines Textes sichtbar zu machen. Zunächst einmal ist also der theoretische Ausgangspunkt ein ganz grundsätzliches Plädoyer dafür, Dekonstruktion als Bewegung zu verstehen.

Der Fall: Universitäre Lehre Inwiefern handelt es sich bei universitärer Lehre überhaupt um einen ›Fall‹, der in Bezug auf Bewegung untersucht werden kann? Insbesondere seit der Bologna-Reform sind an europäischen Universitäten umfangreiche Modulhandbücher entstanden; an vielen Orten wird die Lehrplanung im Vergleich zu früher als eingeschränkter, statischer und bürokratischer erlebt oder beklagt – und das, obwohl es bei den Reformen darum ging, stärkere Mobilität der Studierenden und Lehrenden im europäischen Hochschulraum zu ermöglichen. Diese Entwicklungen und ganz grundsätzlich alle Bereiche, die zur Lehre gehören, können mit Gewinn aus der Perspektive der Dekonstruktion angeschaut werden: die Entwicklung von Studienprogrammen, die Lehrplanung auf Studiengangs-, Programm- und Modulebene, hochschuldidaktische Überlegungen und auch der tatsächliche Vollzug, also die Praxis des Lehrens und Lernens an Universitäten. Die dekonstruktive Perspektive ist vor allem überall dort hilfreich, wo scheinbare Selbstverständlichkeiten, unbefragte Alternativen und Sachzwänge walten. All dies ist in der akade93

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mischen Lehre immer wieder der Fall. Im Folgenden möchte ich daher gern anschauen, was es heißen kann, die universitäre Lehre im Lichte der Dekonstruktion als Bewegung zu betrachten.

Universitäre Lehre in der Dekonstruktion Unter dem Titel »Du droit à la philosophie« (Derrida 2002) versammelte Derrida in der französischen Originalausgabe von 1990 Texte aus den Jahren 1974 bis 1990. Es handelt sich um Essays, Interviews und Vorträge, die sich mit dem Verhältnis von Philosophie und Recht, von Philosophie und Institution, Philosophie und Sprache sowie Philosophie und Lehre beschäftigen. Viele Einzeltexte beziehen sich auf die Groupe de Recherche sur l’Enseignement Philosophique (Greph), in der Derrida eine Schlüsselrolle spielte, und auf das Collège International de Philosophie (Ciph), dessen Gründungsdirektor er 1983 war. Damit sind Derridas Überlegungen einerseits klar auf den französischen Kontext bezogen, sie weisen aber auch darüber hinaus und sind zudem grundsätzlich von Interesse. Die Gruppe Greph wurde 1974 gegründet und führte Forschungen zur Philosophie und ihrer Lehre an Universitäten und Schulen durch. Die Gruppe erlangte Berühmtheit durch ihre Kämpfe gegen Bestrebungen, den Philosophieunterricht an französischen Schulen einzuschränken. Das Collège International de Philosophie war zu einem gewissen Grad ein Ergebnis dieser Kämpfe dafür, den Philosophieunterricht nicht nur zu erhalten, sondern auszuweiten. Den Anfang der Sammlung »Right to Philosophy« macht die umfangreiche Einleitung Derridas, die dem Gedankengang eines gleichnamigen Seminars aus dem Jahre 1984 folgt und unter dem Titel »Privilege: Justificatory Title and Introductory Remarks« einen Einblick in das gesamte – theoretische wie praktische – Projekt gibt (Derrida 2002, S. 1-66). Derrida unter-

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scheidet hier als erstes zwischen vier möglichen Lesarten des Titels »Du droit à la philosophie« (Ebd. S. 2-4): Erstens lässt sich die Präposition ›à‹ so lesen, dass sie eine Richtung angibt, (wie in ›nach Paris‹, ›à Paris‹), auf Deutsch müsste man dann übersetzen ›vom Recht zur Philosophie‹. Wie kommt man vom Recht zur Philosophie, wäre dann die Frage; wie kommt man vom juristischen Denken, vom Recht als Disziplin oder als Praxis zur Philosophie? Im Einzelnen geht es weiter um die juristischen Strukturen, die philosophische Institutionen in der Forschung und in der Lehre implizit oder explizit stützen und ermöglichen, und wie sie die ›Philosophie selbst‹ ermöglichen, wie man über Regelungen hinaus zur Philosophie selbst kommt. Um solche Fragen und Probleme zu untersuchen, müsse man zweitens den Titel in dem Sinne lesen, dass man zu Philosoph*innen über Juristisches spricht. Hier gibt es keine elegante wörtliche deutsche Übersetzung; ›Über das Recht an die Philosophie‹ als Gruppe von Adressat*innen gerichtet kommt ihm vielleicht am nächsten. Drittens kann ›Recht auf‹ den rechtlich garantierten Zugang zu etwas bedeuten. Hier geht es um die Bedingungen des Zugangs zur Philosophie. Und viertens lässt sich der Titel im Sinne von ›geradezu zur Philosophie‹ verstehen, sich geradewegs mit der Philosophie beschäftigen, ohne Umweg auf die Philosophie losgehen. Das ist vielleicht am plausibelsten in der englischen Übersetzung, wenn man das ›right‹ als Adjektiv statt als Nomen liest. Es haben sich also vier Bedeutungen ergeben: 1. Wie ist das Verhältnis des Rechts und rechtlicher Regelungen zur Philosophie zu denken? 2. Wir müssen zur Philosophie, also zu Philosoph*innen, über das Recht sprechen.

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3. Wer hat ein Recht auf Philosophie und unter welchen Bedingungen? 4. Gibt es einen direkten Zugang zur Philosophie? Gerade dieser vierte Punkt ist nicht trivial. Ein direkter Zugang zur Philosophie, schreibt Derrida, würde so etwas bedeuten wie ›Universalität und Natürlichkeit der philosophischen Praxis‹. Was könnte das bedeuten? Ist es tatsächlich möglich, wie man vielleicht glauben könnte, einen direkten und unmittelbaren Zugang zur Philosophie zu haben, ohne eine Vermittlung durch Übung, Lehre, Unterricht, philosophische Institutionen, ohne eine Vermittlung durch einen anderen oder durch die Sprache oder diese oder jene Sprache? Dieser Punkt betrifft auch die Lehre an der Universität. Zum einen ist es wichtig, dass in den Seminaren in Echtzeit gedacht wird, dass von Studierenden und Lehrenden eigene Gedanken entwickelt und wirkliche Dialoge geführt werden. (So lege bspw. ich als Lehrende selbst großen Wert auf den Ereignischarakter der Wahrheit, dass man die Wahrheit nicht in einem Stoffbeutel nach Hause tragen kann, sondern sie in der persönlichen Anwesenheit in Seminaren erfahren wird.) Das bedeutet aber gleichzeitig überhaupt nicht, wie manche dann meinen, dass man sich um das Wissen um philosophische Inhalte und Standards und um das Einüben philosophischer Argumentationen und Techniken nicht mehr zu kümmern brauche. Im Gegenteil. Geht man hier zu unbekümmert vor, mag es leicht geschehen, dass bspw. einer einen Einfall für genial hält, der in der Geschichte schon mehrere Male und womöglich präziser gedacht, entfaltet und diskutiert wurde. Insofern gibt es keinen ›unmittelbaren‹ Zugang zur Philosophie. Außerdem begegne ihm, so schreibt Derrida, immer wieder die drängende Haltung des »wir-müssen-die-Dinge-selbst-ganz-direktangehen-und-ohne-groß-abzuwarten-sofort-den-wahren-Gehalt-derdringenden-und-wichtigen-Probleme-adressieren-die-uns-alle-ange96

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hen-usw.« (Ebd., S. 3f., Übersetzung von mir, S. H.) Warum diese ganzen Reflexionen auf Bedeutungsdimensionen und sprachliche Spitzfindigkeiten? Derrida schreibt sehr schön, wir könnten diese Ungeduld einerseits teilen und gleichzeitig trotzdem der Meinung sein, dass es nicht hilft, ihr nachzugeben. Vielmehr hat diese Verlockung selbst eine Geschichte und entstammt bestimmten Interessen – nämlich denjenigen, die Philosophie und die Geistes- und Sozialwissenschaften überhaupt als verhältnismäßig unwichtig zu erklären und ihren Platz und Raum in der schulischen und universitären Lehre und Forschung einzuschränken, zugunsten vermeintlich nützlicherer Disziplinen und Fächer. Jede philosophische Lehrveranstaltung, würde Derrida sagen, kann gar nicht anders, als implizit oder explizit immer wieder diese Fragen nach ihrem Recht (in den vier möglichen Bedeutungsdimensionen) zu stellen. Was be-rechtigt uns, was gibt uns das Recht, hier zu sein, das gilt für alle, die wir in konkreten Lehrsituationen versammelt sind, die wir sprechen und zuhören, scheinbar ohne um Autorisierung ersucht zu haben? Scheinbar, weil wir ja wissen, dass lange und komplizierte institutionelle Prozesse der Autorisierung diesen Vorlesungssettings oder einem Seminar vorausgegangen sind, auf der Seite der Studierenden und auf der Seite der Lehrenden. Diese langen und komplizierten Prozesse thematisiert Derrida in dem auf die Einleitung folgenden Text mit dem Titel »Where a teaching body begins and how it ends«.

Lehr-Körper Derrida spricht hier also über den Lehr-Körper, und zwar in sehr unterschiedlichen Verständnissen: Der Lehrkörper ist ja zum einen die Gruppe der Lehrenden an einer Universität, aber ich kann auch sagen, dass der Lehr-Körper der Leib der jeweils lehrenden Person ist, der z.B. in einer Vorlesung am Pult steht und

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zum Publikum spricht und auch verletzbar ist, wenn er angegriffen würde. Die Passage, um die es mir zu tun ist, beginnt mit dem ganz allein für sich stehenden Satz: »Here, for example, is not an indifferent place.« (Derrida 2002, S. 68) Es geht um ein Hier, wobei ›hier‹ ein indexikalischer Ausdruck ist. D.h., die Bedeutung von ›hier‹ hängt jeweils davon ab, wo ich mich als sprechender Leib gerade befinde. Bevor Derrida uns weitere Erklärungen gibt, kommt ein langer komplexer Absatz: »One must not forget that. One must (try, first of all, just to see, a discourse without ›one must‹, and not just without an obvious ›one must‹, one that is visible as such, but without a hidden ›one must‹; […]), one must therefore avoid naturalizing this place.« (Ebd., S. 68f.) Hier haben wir, typisch für Derrida, eine lange eingeschobene Reflexion oder Abschweifung über die verwendete Sprache, hier darüber, was es eigentlich bedeutet zu sagen ›man muss‹, oder ›man darf‹ oder ›man darf nicht‹. Erst nach zehn Zeilen geht der Hauptsatz zu Ende: »one must therefore avoid naturalizing this place«. Wir sollen es also vermeiden, das Hier, den Platz, an dem jemand steht und lehrt, zu naturalisieren. Und er setzt fort: »Naturalizing always, very nearly at any rate, amounts to neutralizing.« (Ebd., S. 69) Jetzt spricht er über den Zusammenhang von Naturalisieren und Neutralisieren, wobei beides Dinge sind, die wir im Nachdenken über die Lehre nicht tun sollen. Was bedeutet das? Bis hierher bleibt der Beginn des Textes noch sehr abstrakt, Derrida schraubt sich gleichsam in Form unterschiedlicher Bewegungen auf sein Thema hin, und erklärt dann, was er unter ›naturalisieren‹ versteht: »By naturalizing, by affecting to consider as natural what is not and has never been natural, one neutralizes. One neutralizes what? One conceals, rather, in an effect of neutrality, the active intervention of a force and a machinery.« (Ebd.) Ich neutralisiere also, wenn ich etwas, das eigentlich nicht natürlich ist, als natürlich hinstelle, als ob es gar nicht anders 98

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sein könnte. Wenn ich etwas neutralisiere oder naturalisiere, tue ich so, als ob etwas neutral wäre, was in Wirklichkeit das Ergebnis aktiver Interventionen ist, von Kräften, von Mächten, von Machtprozessen und von einer regelrechten Maschine.

Fazit Wie kommt nun die Lehre wieder zurück ins Spiel? Das erklärt Derrida im folgenden Absatz, indem er ausführt, was all diese Überlegungen mit der Lehre in einer Institution zu tun haben: »By passing off as natural (and therefore beyond question and transformation) the structures of a pedagogical institution, its forms, norms, visible or invisible constraints, settings, the entire apparatus that […] determines that institution right to the center of its content, and no doubt from the center, one carefully conceals the forces and interests that, without the slightest neutrality, dominate and master […] the process of teaching from within a heterogeneous and divided agonistic field wracked with constant struggle.« (Ebd.) Derrida beschreibt hier mit großem Engagement, dass die Situation, in der universitäre Lehre stattfindet, eben keine neutrale, selbstverständliche, natürliche Situation ist, sondern eine, von der man sich klarmachen sollte, dass hier viele Mächte, Interessen und Kräfte arbeiten. Auch wenn wir das in der Universität jeden Tag als selbstverständlich erleben, ist es wert, darüber nachzudenken. Die Situation, in der ich als Lehrende stehe und lehre bzw. einer Lehrveranstaltung folge oder an ihr teilnehme, ist nicht überall dieselbe und ist an unterschiedlichen Orten unterschiedlich geprägt. In allen geohistorischen Kontexten funktioniert es unterschiedlich, was wir unter Lehre zu verstehen haben:

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»Every institution (I again make use of a word that will have to be subjected to a certain critical reworking), every relation to the institution, then, calls for and, at any rate, implies in advance taking sides in this field: account being taken, effectively taken, of the effective field, taking a position, taking a side.« (Ebd.) Das bedeutet, wenn ich mich hinstelle und lehre, bedeutet es immer, dass ich Position beziehe, auch wenn ich das gar nicht merke. Dass ich Position beziehe, dass es immer irgendetwas in Rechnung zu stellen gibt, und dass ich mich in einem Feld befinde, das immer schon umkämpft ist, auch wenn es mir gar nicht so vorkommt, wo also ganz viel Bewegung stattfindet. Derrida schreibt diesen Text im Zusammenhang seiner Analyse vor allem des französischen Systems, wo die Bewegung gern eher vernachlässigt wird. Dies ist bei der Lektüre zu berücksichtigen. Es gilt aber auch ganz grundsätzlich: »There is no neutral or natural place in teaching.« (Ebd.) Und deswegen kommt Derrida schließlich wieder zurück zu seinem ersten Satz und wiederholt ihn: »Here, for example, is not an indifferent place.« (Ebd.) Wir sollten auf der Rechnung haben, dass wir immer in einem bewegten Raum von Kräfteverhältnissen lehren, in dem Dinge passieren und in Bewegung sind. Immer wenn ich mich entscheide, dies oder jenes in der Lehre zu tun oder zu lassen oder zu verändern, entscheide ich mich gegen etwas Anderes. Dem sollten Lehrende stets Rechnung tragen und in dieser Bewegung weder stecken bleiben noch stehen bleiben. Das ist für mich die zentrale Botschaft des dekonstruktiven Nachdenkens über die universitäre Lehre: Jede Institution hat immer ihr je eigenes Feld von Strukturen, Interessen und Machtverhältnissen, und die Lehr-Lern-Kultur ist nicht denkbar ohne die Struktur, die sie trägt. Naturalisierte man die Lehre, werden die bedingenden Strukturen erstens unsichtbar und verdeckt, und

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man erklärt sie zweitens zu etwas Feststehendem, und das verhindert Veränderung. Die Bewegung der Dekonstruktion bietet für den Fall der Lehre die Möglichkeit, scheinbar Gegebenes und Feststehendes als Handlungs- und Bewegungsraum wahrzunehmen. Selbstverständlichkeiten und Sachzwänge, bedingende Strukturen, Interessen und Machtverhältnisse können dekonstruiert werden, und zwar zuerst in einer theoretischen Bewegung, die Räume eröffnet und weitet. Darauf können reflektierte Handlungen folgen, die die Programmentwicklung, die Lehrplanung für einzelne Veranstaltungen und die jeweilige Praxis sogar als Freiheits- und Gestaltungsraum nutzen. Derridas philosophischer Blick ist insofern auch ein soziologischer Blick, indem er für das Auch-anders-möglich-Sein sozialer Tatsachen sensibilisiert. Soziale Tatsachen wie der Kontext, in dem wir lehren und lernen, könnten auch ganz anders sein, und es ist immer die Verantwortung dafür zu übernehmen, was wir hier veranstalten: Es gibt keinen neutralen oder natürlichen Ort in der Lehre. Hier z.B. ist kein gleichgültiger Ort.

Zum Weiterlesen Derrida, Jacques (2001): Die unbedingte Universität. Frankfurt a.M.: Edition Suhrkamp. Hobuß, Steffi (2015): »Kritik, Autonomie und Widerstand bei Adorno und Derrida. Überlegungen zur Rolle von Bildung und Ästhetik«. In: Ulrich Wergin/Martin Schierbaum (Hg.). Die Frage der Kritik im Interferenzfeld von Literatur und Philosophie. Unter der Perspektive von Hermeneutik, Kritischer Theorie und Dekonstruktion und darüber hinaus. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann, S. 59-86. Kimmerle, Heinz (2008): Jacques Derrrida zur Einführung. Hamburg: Junius.

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Steffi Hobuß

Literatur Culler, Jonathan ([1982] 1988): Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie. Reinbek: Rowohlt. Derrida, Jacques (1967): De la grammatologie. Paris: Editions de Minuit. Derrida, Jacques ([1990] 2002): Who’s Afraid of Philosophy? Right to Philosophy I. Redwood City: Stanford University Press. Heidegger, Martin (2000): »Überwindung der Metaphysik«. In: Ders. (Hg.). Gesamtausgabe Bd. 7. Vorträge und Aufsätze. Frankfurt a.M.: Klostermann, S. 67-98.

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Theorie der Utopie: ›Utopie in Bewegung‹ Plädoyer für einen dynamischen und mehrdimensionalen Utopiebegriff Björn Wendt Der vorliegende Text versucht etwas eigentlich Unmögliches. Er will im engen Rahmen dieses Formats erstens einen Überblick über alle theoretischen Ansätze und Begriffe der Utopieforschung geben und zweitens die Geschichte der Utopie, von ihrer Entstehung bis in die Gegenwart rekonstruieren, um auf diese Weise drittens eine prominente Zeitdiagnose – das Ende der Utopie und ›großen‹ Erzählungen (klassisch: Fest 1991, aktuell: Exzellenzcluster Religion und Politik der Universität Münster 2014) – zu entkräften. Den Ausgangspunkt der Argumentation bildet dabei das totalitarismustheoretische Begriffsmuster der Utopieforschung, demzufolge Utopien als etwas Starres und Unbewegliches, als feste Zukunftsbilder und Endziele sowie eine Methode der Ganzheitsplanung zu charakterisieren sind, die totalitäre Praktiken mobilisieren und einer freien und offenen Gesellschaft diametral gegenüberstehen (Popper 1986; Dahrendorf 1986). Eine solche Deutung der Utopie als starres Endziel und Methode totalitärer Ganzheitsplanung verfehlt jedoch das Wesen des Utopischen, das sich, so die These, die im Folgenden entfaltet werden soll, vielmehr durch Beweglichkeit, Dynamik und Reflexivität auszeichnet und keinesfalls an sein Ende gekommen, sondern nach wie vor höchst lebendig ist. Wovon ist also die Rede, wenn von ›Utopie in Bewegung‹ gesprochen wird? Es ist dreierlei gemeint: Erstens, dass Utopien zunächst Protest und Kritik artikulieren und mit ganz realen soziogenetischen 103

Björn Wendt

Prozessen (Elias 1985) bestehenden Ungerechtigkeiten und spezifischen Träger*innengruppen, vor allem den großen sozialen Bewegungen der Moderne, verwoben sind (Mannheim 1985). Zweitens ist mit ›Utopie in Bewegung‹ gemeint, dass Utopien insofern ›in Bewegung‹ sind, als dass ihre Intentionen, Formen, Inhalte, Funktionen und Begriffe bei einer historisch-makroskopischen Betrachtung des Modernisierungsprozesses stetig transformiert werden und sich selbstreflexiv aufeinander beziehen (Saage 2001; Seeber 2003). Drittens ist gemeint, dass Utopien per se etwas Bewegliches und nichts Statisches darstellen. Soziologisch, psychologisch aber auch literaturwissenschaftlich betrachtet sind sie, auch wenn man sie mikroskopisch untersucht, stets ›in Bewegung‹.

Theorie der Utopie – Gegenstände und theoretische Ankerpunkte der Utopieforschung Utopieforschung ist spätestens seit dem 20. Jahrhundert wesentlich auch eine Kontroverse um ihre Gegenstände und Begriffe (Schölderle 2011). Als Minimaldefinition möchte ich ein Verständnis von Utopie zugrunde legen, dass zunächst zwei Merkmale beinhaltet: Utopien protestieren erstens gegen einen Zustand, leisten also Kritik, und weisen zweitens antizipierend auf die Möglichkeit einer (besseren) Alternative hin (von Mohl 1960; Horkheimer 1986; Elias 1985; Heyer 2008). Die Frage, wie utopische Phänomene im Einzelnen nun für eine wissenschaftliche Analyse fixiert werden können und sollen, produzierte vor allem drei begriffliche Ansätze, die bis heute die Utopieforschung kennzeichnen. (1) Enge Utopiebegriffe zielen auf ein Utopieverständnis, das diese mit der Kategorie der literarischen Utopie gleichsetzt. Gegenstand der Analyse sind fiktionale Geschichten, die, Thomas Morus 1516 erschienener Schrift »Utopia« folgend, Gesellschaftskritik leisten und eine komplette Idealgesellschaft mit104

Theorie der Utopie: ›Utopie in Bewegung‹

tels einer literarischen Erzählung ausgestalten (von Mohl 1960; Gnüg 1999). Seiner Anlage nach ist dieser klassische Utopiebegriff damit in der Literaturwissenschaft beheimatet und grenzt diese Textform von ähnlichen Phänomenen, wie etwa der Science-Fiction-Literatur, Prognosen, religiösen Heilsvorstellungen, politischen Programmen oder wissenschaftlichen Textformen, ab (Biesterfeld 1982). Utopiebegriffe mittlerer Reichweite, die auch als neoklassische Utopiebegriffe bestimmt werden könnten, gehen zwar ebenfalls von der Grundjustierung dieses klassischen Verständnisses aus, öffnen sie jedoch für wahlverwandte Textformen, vor allem jedoch für politische Utopien (Saage 1991), so dass es nicht verwundert, dass diese Utopiebegriffe vor allem in der Politikwissenschaft beheimatet sind. Auch hier werden objektive Texte der Analyse zugeführt, wenn von Utopien die Rede ist (Schölderle 2011; Saage 2008). (2) Einen kategorialen Bruch zum (neo-)klassischen Verständnis markieren weite Utopiebegriffe. Sie setzen nicht in erster Linie bei den manifesten Objektivierungen der Utopie an (Bücher, Texte usw.), sondern grundlegender bei den anthropologischen, psychologischen und soziologischen Prozessen, die Utopien produzieren. Dieser sozialpsychologische Utopiebegriff, der vor allem in der Soziologie, Philosophie und Psychologie beheimatet ist, fokussiert auf das utopische Denken bzw. utopische Bewusstsein an sich und seine Verbindung zum sozial-historischen Entwicklungsprozess, die vor allem über soziale Bewegungen und Revolutionen gedacht wird (Landauer 1977; Mannheim 1985). Das Streben nach dem ›Noch-Nicht-Vorhandenen‹ drückt sich in zahlreichen Manifestationen des Utopischen aus, etwa der Musik, Architektur, Kunst, Religion, Wissenschaft, Medizin oder Politik, die alle zum Gegenstand der Utopieforschung gemacht werden können (Bloch 1985). (3) Das klassische, aber vor allem das sozialpsychologische Utopieverständnis wurde im Rahmen totalitarismustheoretischer 105

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Utopiebegriffe unter den Eindrücken der großen Systemutopien des 20. Jahrhunderts nun gegen das utopische Denken gewendet, indem es – wie eingangs bereits beschrieben – als eine starre Methode der Ganzheitsplanung begriffen wurde, die sich dogmatisch stets gegen Andersdenkende wenden müsste und damit letztlich in Gewalt und sogar Massenmord einmünde (Popper 1986, 1992). Gegenstand der Analyse sind demnach vor allem totalitäre Ideologien und Praktiken, etwa des Faschismus oder Kommunismus.

Genese, Geschichte und Gegenwart der Utopie Mit jedem der bisher präsentierten Begriffsmuster sind unterschiedliche Erzählungen über die Entstehung, die Entwicklung und die Gegenwart der Utopie verbunden (exemplarisch für die Debatten zwischen den Vertreter*innen der verschiedenen Ansätze EWE 2005). Die Geschichte der Utopien, so argumentieren insbesondere einige Vertreter*innen des sozialpsychologischen Begriffsmusters, ist älter als ihr Begriff. Schon immer träumten Menschen von dem, was (noch) nicht ist und woran es ihnen in der Gegenwart mangelt (Bloch 1985). Lange Zeit waren die Visionen von einer idealen Welt, in der keine Leiden und Ungerechtigkeiten mehr existieren, an religiöse Vorstellungen vom Paradies oder ein in der Vergangenheit liegendes goldenes Zeitalter gebunden. Erst als Thomas Morus seine fiktive Idealgesellschaft im Jahr 1516 auf die ferne Insel Utopia verlegte und damit auch ein neues Wort schöpfte, so betonen nun vor allem Vertreter*innen des (neo-)klassischen Begriffsmusters (Schölderle 2011), transformierte sich das Jenseits und die Vergangenheit in einen räumlich-fiktiven, aber doch rationalen, Ort der Gegenwart – eine Insel auf der alles gut ist. Die »Utopia« ist ein Gedankenexperiment, sie spielt mit der Phantasie und sozialen Wirklichkeit. Dieses Spiel mit dem Uneindeutigen beginnt bereits beim Begriff. ›U-Topia‹ heißt ›Nicht106

Theorie der Utopie: ›Utopie in Bewegung‹

Ort‹ oder auch ›Nirgendwo‹. Der Begriff hat aber im Englischen denselben Klang wie ›Eu-Topia‹, was ›guter Ort‹ heißt. Auch in Bezug auf ihren Inhalt ist Morusʼ Schrift, die in einem ersten Buch die Zustände im zeitgenössischen England scharf kritisiert und im zweiten Buch eine Idealgesellschaft auf der Insel Utopia beschreibt, voller Uneindeutigkeiten. Diese Dynamik wird über die Rahmenerzählung und trialogische Struktur zwischen drei Hauptfiguren (Morus selbst, einen humanistischen Zeitgenossen und den erfundenen Protagonisten Raphael) diskursiv erzeugt. So plädieren sie etwa für unterschiedliche Verhältnisse zwischen den Intellektuellen und den Herrschenden und bewerten die von Raphael beschriebene Gesellschaft der Utopier unterschiedlich. Während Raphael die anarchistisch-sozialistische, auf Gütergemeinschaft basierende Gesellschaftsstruktur auf Utopia in höchsten Tönen lobt, so nimmt die Figur des Morus eine kritische Position ein: »Mir scheint umgekehrt, daß eine vernünftige Lebensordnung niemals dort möglich ist, wo Gütergemeinschaft besteht.« (Morus 2009, S. 55) Diese Haltung gerät jedoch selbst auf der Ebene der Einzelperson mit sich in Widerspruch, wenn Morus abschließend verkündet, dass es »in der Verfassung der Utopier sehr vieles gibt, was ich in unseren Staaten eingeführt sehen möchte. Freilich ist das mehr Wunsch als Hoffnung.« (Morus 2009, S. 147f.) Das Buch fordert Leser*innen zur eigenen Interpretation auf, indem die Haltung von Morus zu der von Raphael beschriebenen, sozialistisch-anarchisch anmutenden, Ideal-Gesellschaft gerade nicht fixiert, sondern offen gehalten wird. Kein Wunder also, dass die Schrift die Utopieforschung bis heute zu sehr unterschiedlichen Interpretationen einlädt (für eine Übersicht: Voßkamp 1985; Saage 2006). Deutlich wird bei einer Analyse der »Utopia« als Prototyp der literarischen Utopie, dass sie unzweifelhaft ein Ausdruck der humanistischen Bewegung ist, und eine mikroskopische Betrach-

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tung zeigt, dass sich in ihrer Gesellschaftskritik ein beweglich-reflexives und kein starres doktrinäres Denken dokumentiert. Ich komme damit zur zweiten Dimension von Bewegung, der Wandlung der Utopie vor dem Hintergrund einer makroskopisch-historischen Betrachtungsweise. Aufgrund der Ferne und ihrem Wesen zwar scheinbar nicht erreichbar, aber doch irgendwo vorhanden, zwar fiktiv, aber doch aus der Realität geschöpft, wandelte sich die Utopie seither immer wieder, sodass ein höchst beweglicher Utopiediskurs die Geschichte durchzieht, der sich in seinem Verlauf selbst zum Gegenstand der Reflexion macht. Es ist im vorliegenden Rahmen nicht möglich, auf alle Manifestationen der Utopie und tiefgehender auf diesen Wandlungsprozess einzugehen (hierzu Saage 2001, 2002a, 2002b, 2003; Schölderle 2011). Gleichwohl können über einige Marker die Beweglichkeit und Transformationsdynamik des utopischen Denkens angedeutet werden. Von Morus ausgehend, wurde die humanistische Utopie zunächst in andere Raumutopien übersetzt, etwa technische oder auch autoritär-religiöse Utopien. Im Rahmen der Aufklärung wurde sie als Zeitutopie in die ferne Zukunft verlegt und zu einem Handlungsprogramm der revolutionären Bewegungen, die auf eine Gesellschaft abzielten, in der die Menschen als Freie und Gleiche miteinander leben. Nach den Enttäuschungen revolutionärer Veränderungsstrategien legte die Utopie ab den 1920er Jahren schließlich das Gewand der Dystopie und des Totalitarismus an. Im Zuge der neuen sozialen Bewegungen brachte sie aber erneut positive Entwürfe hervor, die die totalitäre Kritik antizipierten, indem sie ihre eigene Selbstkritik in die utopischen Entwürfe einbetteten (Seeber 2003) und sich zudem häufig von der Gesellschaftsebene lösten und Alternativen eher auf die gemeinschaftliche Ebene projizierten. Mit dieser Entwicklung von der Gesellschafts- zur Gemeinschaftsutopie und dem Zusammenbruch des Sozialismus schien es nun so, als wenn das endgültige Ende der Großutopien gekommen sei (Fest 1991). Ein Trugschluss, denn unter anderem mit der Nachhaltigkeits108

Theorie der Utopie: ›Utopie in Bewegung‹

und Postwachstumsbewegung lebte die Idee vom guten Leben, auch auf der Gesellschaftsebene, wieder auf (Wendt 2018). Die dritte Dimension von Bewegung, das in sich Bewegliche am Phänomen des utopischen Denkens, wurde bereits in Bezug auf die »Utopia« und auch auf der makroskopischen Ebene des Utopiediskurses angeschnitten. Utopisches Denken im klassischen Sinne experimentiert, es erkundet Möglichkeiten, ohne sie endgültig zu fixieren, sondern – sicherlich in unterschiedlichem Maße – durch selbstreflexive Momente auch in Frage zu stellen. Löst man sich von der Vorstellung der Utopie als Text, so verweist der sozialpsychologische Utopiebegriff zunächst auf einen anderen Ort des Utopischen: die menschliche Psyche und Gesellschaft: »Ja wo liegt Nirgendwo? […] Welches Nirgendwo? Welches von den vielen Tausend und Hunderttausend, Millionen und Billionen Nirgendwo, die es gegeben hat, gibt und geben wird […]? Hat doch jeder Mensch sein Nirgendwo – und die meisten nicht bloß eines, sondern mehrere, viele.« (Liebknecht 1981, S. 32f.) Es rückt demnach zunächst das Individuum mit seinen Träumen, Sehnsüchten, Wünschen und Bestrebungen in den Fokus, und all das ist, wie wir alle wissen, höchst beweglich. Utopie, das meint dann mit Gustav Landauer, ein »Gemenge individueller Bestrebungen und Willenstendenzen, die immer heterogen und einzeln vorhanden sind« (Landauer 1977, S. 13). Diese widerspenstigen individuellen Utopien schweben jedoch nicht im luftleeren Raum, sondern reagieren auf die jeweiligen sozialen Verhältnisse und vereinen sich zu Gemeinschaftsvorstellungen über eine neue, noch zu schaffende Topie (d.h. Gesellschaft), die »keinerlei Schädlichkeit und Ungerechtigkeit« (Landauer 1977, S. 13) mehr enthält. Im Prozess der Revolution scheitern diese nun jedoch zwangsläufig, denn am Ende steht stets eine neue Gesellschaftsordnung mit neuen Missständen, sodass der Prozess von neuem, allerdings doch unter partiell veränderten sozialen Bedingungen beginnt. Der Kontakt zwischen Utopie und Realität verändert somit nicht nur Teile der sozialen Wirklichkeit, sondern auch 109

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die Utopie, da sie von einer veränderten gesellschaftlichen Basis erneut abhebt, um die mit ihr verbundenen Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Und so treibt die Utopie die Topie, aber auch die Topie die Utopie durch die Geschichte der Moderne. Dieser dynamische Begriff von Utopie richtet sich also sowohl auf ihre Soziogenese (die jeweilige Gesellschaft strukturiert die Utopieproduktion) als auch ihre Funktion (die jeweiligen Utopien verändern die soziale Wirklichkeit), wobei der Utopie ein transformativ-voluntaristisches und der Topie und auch der mit ihr verbundenen Ideologie ein konservierendes Moment zugeschrieben werden kann (Landauer 1977; Mannheim 1985). Diese Denkfigur wurde durch die Neuen sozialen Bewegungen, insbesondere die sozial-ökologische Alternativbewegung, inzwischen zu einem vierten Paradigma der Utopieforschung ausgebaut, das bisher unterschlagen wurde und mit den Begriffen ›Realutopie‹, ›gelebte Utopie‹ oder auch dem Foucaultʼschen Begriff der ›Heterotopien‹ (Foucault 2013), den ›anderen Orten‹, verbunden ist. Bereits in der bestehenden Gesellschaft existieren utopische Orte, an denen versucht wird, gemeinschaftlich auf Basis kritischer Alternativentwürfe gegen die Missstände des Kapitalismus, Industrialismus und Neo-Kolonialismus anzuleben. Doch auch hier verschmelzen Utopie und soziale Wirklichkeit nicht, sondern es bleibt stets ein Spannungsverhältnis bestehen, das durch die Träger*innen dieser sozial-ökologischen Gemeinschaften stets neu austariert werden muss (Kunze 2009), sodass die Utopie in Bewegung bleibt.

Fazit Mein Beitrag ist ein Plädoyer für einen beweglichen und mehrdimensionalen Utopiebegriff, der das Phänomen nicht auf eine spezifische Form und einen Begriff verengt, sondern es in seiner Vielschichtigkeit erfassen will. Die These lautet, entgegen der Dogmatismus- und Starrheitsthese der Totalitarismustheore110

Theorie der Utopie: ›Utopie in Bewegung‹

tiker*innen, dass Utopien umgekehrt stetig in Bewegung sind. Sie sind insofern ›in Bewegung‹, als dass sie soziale Missstände durch ein sozialkritisches und reflexives Denken infrage stellen und kritisieren, positive Entwicklungsmöglichkeiten erschließen, vor negativen Trends warnen, in Protest und sozialen Bewegungen wurzeln, sich im Laufe des historischen Prozesses stetig transformieren und dadurch auch auf die gesellschaftlichen Verhältnisse einwirken. Die Langlebigkeit der Utopie liegt demnach darin begründet, dass Utopien keineswegs alleine aus dem Nichts irrationaler Phantasievorstellungen geboren werden, wie es der Alltagsbegriff impliziert, oder zwangsläufig ein doktrinäres Denken darstellen, das in totalitäre Systeme einmündet. Sowohl der Inhalt als auch die Formen, Intentionen und Funktionen der Utopien variieren vielmehr. Utopien sind klassischerweise ein dynamisches Medium, in dem spezifische Milieus Strukturprobleme der Gegenwartsgesellschaft thematisieren und gedanklich positive Entwicklungsmöglichkeiten ihrer Überwindung erkunden. Sie sind sozialpsychologisch betrachtet jedoch auch eine wichtige kulturelle Ressource, aus der soziale Bewegungen Energien für eine Transformation der Welt beziehen. Und sie können schließlich auch zu einer Ideologie verhärten und im Bündnis mit totalitären Weltbildern erstarren. Unsere Zeit zeichnet sich, wie schwer zu übersehen ist, durch zahlreiche soziale Krisen und ihre Verschränkung mit ökologischen Problemlagen aus, weshalb das utopische Denken unter anderem in der sozial-ökologischen Bewegung nach wie vor höchst beweglich und relevant ist. Neben den sozial-ökologischen Utopien kennt die Gegenwartsgesellschaft gleichwohl zahlreiche Utopien, die auch Räume für dystopische Entwicklungen und totalitarismustheoretische Interpretationen öffnen – man denke nur an das Wiederaufleben religiöser und neurechter Utopien sowie das nach wie vor höchst lebendige Feld der 111

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technischen, etwa transhumanistischen Utopien. Die These vom Ende der Utopie überzeugt im Gesamtblick kurzum nicht. Auch die Gegenwartsgesellschaft produziert Utopien, die von den sozialen Verhältnissen unserer Zeit geprägt sind und auch in Zukunft weiter in Bewegung bleiben werden. Und genau das sollte auch der Utopiebegriff, der die ideologischen Grenzziehungen innerhalb der Utopieforschung nicht zementieren muss. Vielmehr kann er entlang der sich wandelnden und ausdifferenzierenden utopischen Gegenstände, Intentionen, Formen, Inhalte und Funktionen selbst dynamisch und mehrdimensional werden, um auf diese Weise das utopische Profil der Gegenwartsgesellschaft möglichst umfassend und präzise zu analysieren.

Zum Weiterlesen Bloch, Ernst (1980): Abschied von der Utopie? Vorträge. Herausgegeben von Hanna Gekle. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Neupert-Doppler, Alexander (2015): Utopie. Vom Roman zur Denkfigur. Stuttgart: Schmetterling. Wendt, Björn (2018): Nachhaltigkeit als Utopie. Zur Zukunft der sozial-ökologischen Bewegung. Frankfurt a.M.: Campus.

Literatur Biesterfeld, Wolfgang ([1974] 1982): Die literarische Utopie. Stuttgart: Metzler. Bloch, Ernst ([1959] 1985): Das Prinzip Hoffnung. 3 Bände. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Dahrendorf, Ralf ([1967] 1986): Pfade aus Utopia. Arbeiten zur Theorie und Methode der Soziologie. München: Piper. Elias, Norbert (1985): »Thomas Morusʼ Staatskritik«. In: Wilhelm Voßkamp (Hg.). Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Bd. 2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 101-150.

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Theorie der Utopie: ›Utopie in Bewegung‹ Erwägen Wissen Ethik (EWE) (2005): Plädoyer für den klassischen Utopiebegriff (16, 3). Exzellenzcluster Religion und Politik der Universität Münster (2014): »Das 21. Jahrhundert kennt keine positiven Utopien«. Verfügbar unter: https://www.uni-muenster.de/Religion-und-Politik/ aktuelles/2014/okt/PM_Ringvorlesung_Zukunftsvisionen_zwi schen_Apokalypse_und_Utopie.html (zuletzt abgerufen am 12.11.2015). Fest, Joachim (1991): Der zerstörte Traum. Vom Ende des utopischen Zeitalters. Berlin: Siedler. Foucault, Michel ([1966] 2013): Die Heterotopien. In: Ders. Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 7-22. Gnüg, Hiltrud (1999): Utopie und utopischer Roman. Stuttgart: Reclam. Heyer, Andreas (2008): Der Stand der aktuellen deutschen Utopieforschung. Bd. 1: Die Forschungssituation in den einzelnen akademischen Disziplinen. Hamburg: Kovač. Horkheimer, Max ([1937] 1986): »Die Utopie«. In: Arnhelm Neusüss (Hg.). Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen. Frankfurt a.M.: Campus, S. 178-192. Kunze, Iris (2009): Soziale Innovationen für eine zukunftsfähige Lebensweise. Gemeinschaften und Ökodörfer als experimentierende Kernfelder für sozial-ökologische Nachhaltigkeit. Münster: Ecotransfer. Landauer, Gustav ([1907] 1977): Die Revolution. Berlin: Karin Kramer Verlag. Liebknecht, Wilhelm ([1892] 1981): »Vorwort«. In: William Morris (Hg.). Kunde von Nirgendwo. Eine Utopie der vollendeten kommunistischen Gesellschaft. Reutlingen: Schwarzwurzel, S. 31-34. Mannheim, Karl ([1929] 1985): Ideologie und Utopie. Frankfurt a.M.: Klostermann Verlag.

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Björn Wendt Morus, Thomas ([1516] 2009): Utopia. Stuttgart: Reclam. Popper, Karl ([1947] 1986): »Utopie und Gewalt«. In: Arnhelm Neusüss (Hg.). Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen. Frankfurt a.M.: Campus, S. 313-326. Popper, Karl ([1945] 1992): Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. II. Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen. Tübingen: Mohr. Saage, Richard (1991): Politische Utopien der Neuzeit. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Saage, Richard (2001): Utopische Profile. Bd. I: Renaissance und Reformation. Münster: Lit. Saage, Richard (2002a): Utopische Profile. Bd. II: Aufklärung und Absolutismus. Münster: Lit. Saage, Richard (2002b): Utopische Profile. Bd. III: Industrielle Revolution und Technischer Staat im 19. Jahrhundert. Münster: Lit. Saage, Richard (2003): Utopische Profile. Bd. IV: Widersprüche und Synthesen des 20. Jahrhunderts. Münster: Lit. Saage, Richard (Hg.) (2006): Utopisches Denken im historischen Prozess. Materialien zur Utopieforschung. Münster: Lit. Saage, Richard (2008): Utopieforschung. Bd. II: An der Schwelle des 21. Jahrhunderts. Berlin: Lit. Schölderle, Thomas (2011): Utopia und Utopie. Thomas Morus, die Geschichte der Utopie und die Kontroverse um ihren Begriff. Baden-Baden: Nomos. Seeber, Hans Ulrich (2003): Die Selbstkritik der Utopie in der angloamerikanischen Literatur. Münster: Lit. von Mohl, Robert ([1855] 1960): »Die Staatsromane«. In: Ders. (Hg.) Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaft. Bd. 1. Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt, S. 165-214. Voßkamp, Wilhelm (1985): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Bd. 2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Wendt, Björn (2018): Nachhaltigkeit als Utopie. Zur Zukunft der sozial-ökologischen Bewegung. Frankfurt a.M.: Campus.

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Theorie der Strukturierung Das Automobil und die moderne Gesellschaft Weert Canzler Seit Jahrzehnten gehört in modernen Gesellschaften das private Auto zum Kern des individuellen Lebenskonzepts. Das Auto gehört einfach dazu. Woher kommt diese hohe Attraktivität des Automobils, obwohl mit der Massenmotorisierung seine Schattenseiten und nicht-intendierten Effekte längst offensichtlich geworden sind? Ein Blick auf die jüngsten Zahlen zeigt die ganze Ambivalenz: Die Zahl der zugelassenen Fahrzeuge steigt und steigt, schon bald wird wohl die Marke von 50 Mio. PKW in Deutschland erreicht. Im ländlichen Raum sind mehr als 750 Autos pro 1.000 Einwohner zugelassen. Die Autos werden zum überwiegenden Anteil von einem Verbrennungsmotor angetrieben, was für die Luftqualität und klimapolitisch hochproblematisch ist (Agora Verkehrswende 2017). Auch in der alltäglichen Nutzung sind die Restriktionen für die Autofahrenden immens und die Probleme für die vom Autoverkehr Betroffenen nicht zu verdrängen: der wachsende Anteil des Verkehrs an den Treibhausgasemissionen, die Stickoxid-Belastungen an vielbefahrenen Straßen, die zeitraubenden Pendlerströme und nicht zuletzt die Staus und der Parksuchverkehr für viele Autofahrende in den Städten. Wie attraktiv ist vor diesem Hintergrund der Besitz eines eigenen Fahrzeuges heute und in Zukunft noch? Im Folgenden soll mithilfe der Strukturationstheorie von Anthony Giddens dem Phänomen nachgegangen werden, warum der Automobilismus in der modernen Gesellschaft eine solche Stabilität erlangt hat. Im Mittelpunkt stehen dabei handlungsentlastende Routinen. Sie finden ihren Niederschlag so115

Weert Canzler

wohl in gewachsenen Raum- und Infrastrukturen als auch in habitualisierten Verhaltensweisen. Weiterhin werden neuere institutionelle und auch handlungsseitige Entwicklungen thematisiert, die aus den Legitimationsproblemen des überbordenden Autoverkehrs erwachsen. In urbanen Nischen entstehen neue Handlungsmuster im Verkehr jenseits des privaten Autos. Inwieweit sie sich jedoch zu gesellschaftlich relevanten neuen Routinen verstetigen, hängt nicht zuletzt von veränderten Regeln in der Nutzung des öffentlichen Raumes ab. Das gilt nicht zuletzt für den bisher auf das private Auto ausgerichteten Verkehrsraum. Auch für diesen Fall der möglichen Veränderung lange stabiler Routinen ist das Giddensʼsche Strukturationskonzept erhellend, indem es auf das Wechselverhältnis von Struktur- und Handlungsebene verweist.

Die Theorie der Strukturierung und der Automobilismus Um die Frage nach der aktuellen und künftigen Attraktivität des eigenen Autos zu beantworten, hilft ein Blick in die Theorie der Strukturierung von Anthony Giddens (siehe ausführlicher: Canzler 2016, S. 35ff.). Mit seinem Konzept der Dualität von Handlung und Struktur lässt sich ein einander bedingendes Verhältnis von Autoverfügbarkeit und moderner Lebensweise besser verstehen (Giddens 1988a). So können einseitige Erklärungen vermieden werden, die entweder auf das Individuum und seine Motive und Interessen schauen oder auf die Verhältnisse, die das individuelle Verhalten determinieren. Giddens konzentriert sich auf die Konstitution des Alltagslebens, für die eine eigentümliche Spannung von bewusstem und unbewusstem Handeln gelte. Er entkleidet den Handlungsbegriff von der üblicherweise unterstellten Intentionalität. Die Subjekte handeln, indem sie »in die natürliche und soziale Ereigniswelt« (Giddens 1988b, S.  289) eingreifen. Das tun sie durchaus mit 116

Theorie der Strukturierung

einer bestimmten Absicht, aber nicht ausschließlich und immer. Subjekte handeln ebenso, ohne einen eindeutigen Zweck zu erfüllen oder ihn explizit machen zu können. Die Grundlage des Handelns ist oft ein intuitives Wissen, das Routinehandeln – im Verkehr eben habitualisiertes Handeln – ermöglicht. Giddens nennt es ›praktisches Bewußtsein‹. Giddens möchte mit seinem Handlungskonzept dem Problem des Zwangs entkommen, der aus den Einzelnen äußerlichen Strukturen erwächst. In seinem Konzept handeln Subjekte nicht zwanghaft, da selbst langlebige Institutionen der permanenten Reproduktion durch die Akteure bedürfen. Im Prozess dieser (Re-)produktion von Strukturen liegen für die Reproduzierenden demnach durchaus Freiheitsgrade. Struktur ist also bei Giddens in seinen Worten »chronisch in das Handeln selbst eingebettet« (1988b, S. 290). Damit ist eine starke Kontingenzvermutung verbunden: ein Akteur kann so, aber auch anders handeln. So bildet Giddens seine Dualität von Struktur, mit der er sich vor allem von funktionalistischen Theorien absetzt. Auf den Automobilismus übertragen, bedeutet das Giddensʼsche Strukturierungskonzept, dass die Autonutzenden als Akteure zwar permanent den Automobilismus reproduzieren, dies aber unbewusst-bewusst tun. Autofahren ist kein Zwang, aber andererseits auch nicht immer die Folge absichtsvoller Entscheidungen. Oft wird es nicht bewusst gemacht, vielmehr handelt es sich um ein Nutzen ohne nachzudenken, wie es in Interviews mit Autofahrenden immer wieder zu erkennen ist (vgl. Canzler 2016, S. 108ff.). Der wichtigste Mechanismus für das Alltagshandeln, ohne in jedem Einzelfall nachzudenken, sind nach Giddens Routinen. Routinen entlasten von Unsicherheit und Entscheidungsdruck, sie laufen ab als Hintergrundprogramme. Und genau für diese psychische Dauerarbeit sind neben Verhaltensroutinen internalisierte Nutzungsformen von Techniken sehr hilfreich. Das Automobil ist eine solche Hilfstechnik und 117

Weert Canzler

das Autofahren ist oft das unbewusst-bewusste Bewältigen – und Verketten – von unterschiedlichen Aktivitäten an verschiedenen Orten. In den Kategorien von Giddens hat das Autofahren als Alltagspraxis starke Entlastungswirkungen, aber nicht nur solche. Die regelhafte und routinierte Nutzung des Autos mindert existentielle Unsicherheiten und eröffnet zugleich neue Handlungsspielräume. Hier setzt sein wissenschaftliches Interesse ein: »Das zentrale Forschungsfeld der Sozialwissenschaften besteht – der Theorie der Strukturierung zufolge – weder in der Erfahrung des individuellen Akteurs noch in der Existenz irgendeiner gesellschaftlichen Totalität, sondern in den über Zeit und Raum geregelten gesellschaftlichen Praktiken.« (Giddens 1988a, S. 53) Sicherlich würde Giddens diese Doppelqualität vielen Alltagspraktiken zuschreiben, die Autonutzung ist da kein Sonderfall.

Stabilität des Automobilismus: Auch eine Frage der Kosten Die Routinethese ist empirisch immer wieder bestätigt worden, sie erklärt den trotz aller bekannten Schwierigkeiten stabilen Automobilismus allerdings nicht vollständig. Neben den Handlungsroutinen und dem über viele Jahre plausiblen Narrativ vom privaten Auto als Voraussetzung und Ausdruck eines gelungenen Lebens gibt es aus Konsumentensicht weitere – ganz handfeste – Gründe für die Nutzung eines Kraftwagens. Dazu gehören nicht zuletzt die Kosten. Zwar sind im Verhältnis zu den allgemeinen Verbraucherpreisen die Preise im Verkehr geringfügig stärker gestiegen, aber dies je nach Verkehrsträger unterschiedlich. Während der allgemeine Index zwischen den Jahren 2000 und 2015 um 25 Prozent gestiegen ist (Basisjahr 2010), kletterte er im Verkehr im gleichen Zeitraum um 34 Prozent. Deutlich ist jedoch der Unterschied bei der Entwicklung der Kosten für das Auto und für den Öffentlichen Personennahverkehr 118

Theorie der Strukturierung

(ÖPNV): während von 2000 bis 2015 das Autofahren 27 Prozent teurer wurde, stiegen die Preise für den ÖPNV um 73 Prozent und die Bahntickets für Fernfahrten um mehr als 50 Prozent. Besonders in den letzten Jahren hat sich diese Schere weiter geöffnet, weil nach 2012 die Kraftstoffpreise drastisch gesunken sind. Angesichts von Schuldenbremse und hohem Sanierungsbedarf bei der Verkehrsinfrastruktur wollen – und müssen – die Kommunen den Kostendeckungsgrad im Öffentlichen Verkehr (ÖV) erhöhen, was eben höhere Ticketeinnahmen und damit voraussichtlich höhere Preise bedeutet (vgl. ausführlich: Canzler/ Knie 2018).

Einstellungen ändern sich langsam Gleichzeitig verschärft sich der Problemdruck im Verkehr, nicht zuletzt durch die international verbindlich vereinbarten Klimaschutzziele. Die im Herbst 2016 von der damaligen Bundesregierung beschlossenen Klimaziele, nämlich die Reduktion der CO2-Emissionen im Verkehr bis zum Jahre 2030 von mehr als 40 Prozent, werden nach Lage der Dinge nicht erreicht. Das erschüttert außer einige Umweltbewegte und Klimaschützer zwar bisher kaum jemanden. Allerdings droht auch im Massenmarkt der Automobile die Legitimationsbasis zu bröckeln. Denn der Glaube an die Zukunft des Verbrennungsmotors in einer weiter wachsenden Automobilflotte hat gelitten. Der Dieselskandal, der im Jahr 2015 die systematische Manipulation deutscher Autohersteller offenbarte, gesetzlich vorgeschriebene Abgasgrenzwerte zu umgehen, hat die Glaubwürdigkeit einer ganzen Branche nachdrücklich erschüttert. Bei den Einstellungen zum Verkehr und zu den damit verbundenen Belastungen zeigt sich insgesamt ein Wandel quer durch alle Altersgruppen. In einer von der Kreditanstalt für Wiederaufbau (Kf W) im Herbst 2017 in Auftrag gegebenen Umfrage unterstützen mehr als 80 Prozent der Befragten im fahrfähigen 119

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Alter die Verkehrswende mit ihren Kernbestandteilen ›schnelle Elektrifizierung‹, ›besserer öffentlicher Verkehr‹ und ›insgesamt weniger Autos‹. Sogar ein Tempolimit auf Autobahnen wird von knapp 60 Prozent der repräsentativ Befragten befürwortet. Damit werden Ergebnisse der jüngsten Umweltbewusstseinsstudie des Umweltbundesamtes bestätigt (BMUB/UBA 2017). Die Bereitschaft von jungen Leuten für den Kauf eines Automobils große Summen Geld auszugeben, ist weniger vorhanden als in früheren Generationen. Digitale Medien, Reisen und Kleidung stehen in der Wertepräferenz höher. Führerscheine werden viel später als vor 25 Jahren gemacht. Man kann mit Automarken und mit großen Fahrzeugen heute keinen Statusgewinn mehr verbuchen (vgl. Schönduwe/Lanzendorf 2014). Insgesamt zeigt sich, dass mit einer sinkenden Legitimationsbasis strukturelle Aspekte auf eine Einschränkung des Automobilismus hinwirken. Damit geraten lange stabile Einstellungen in Bewegung und die Handlungsdimension erhält – im Sinne von Giddens – eine neue Dynamik.

Auch die Fahrpraxis ändert sich Vor allem in den Städten sind nicht nur Verschiebungen in den Einstellungen und Präferenzen zu messen, sondern auch in der tatsächlichen Verkehrspraxis (vgl. Ruhrort i. E.). Das Verkehrshandeln zunächst von Vorreitergruppen – vor allem von gut ausgebildeten, sich multimodal bewegenden Städtern – ändert sich. Obwohl der motorisierte Individualverkehr insgesamt noch steigt bzw. auf hohem Niveau stagniert, sinkt sein Anteil am Verkehrsaufkommen in vielen Großstädten, gerade in den früh motorisierten Ländern. Das Fahrrad, der klassische öffentliche Verkehr und neue Sharing-Angebote nehmen hingegen zu. Mehr als zwei Drittel der Stadtbewohner von London und Paris bspw. entwickeln bereits eine intermodale Verkehrspraxis, in anderen europäischen Großstädten entstehen ähnli120

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che Muster. Die hohe Verbreitung von Smartphones und günstige Flatrates begünstigen Sharing-Dienste und intermodale Angebote in den großen Ballungsgebieten. Die Kombination von unterschiedlichen Verkehrsoptionen ist für die Nutzerinnen und Nutzer einfach und sie erlauben den Zugriff auf eine breite Angebotspalette. Insbesondere im Carsharing-Bereich hat die Einführung digitaler Plattformen die Zahl der Nutzer stark steigen lassen. In der Kombination mit flexiblen Angeboten sind damit Angebotsformen entstanden, die sich bequem auch mit Rädern und Rollern kombinieren lassen. Individualität und pragmatische Nutzungen sind nicht an eine private Verfügung über einzelne Verkehrsmittel gebunden. Mehr und mehr gewinnen im Carsharing auch sog. ›Peer-to-Peer‹-Angebote an Bedeutung. Hierbei verleihen Menschen ihre privaten Fahrzeuge anderen Menschen gegen ein Entgelt. Darüber hinaus erlebt der Rad- und Fußverkehr vielerorts eine Renaissance. In vielen Städten Europas und Nordamerikas spielt der Fahrradverkehr eine wachsende Rolle. Es sind nicht mehr nur die bekannten Vorreiter wie Kopenhagen, Amsterdam oder Utrecht, sondern auch Städte wie Wien, Paris, London, die massiv in die Fahrradinfrastruktur investieren: in Fahrradwege, Abstellanlagen, Radschnellwege. Die Zuwachsraten im Radverkehr bestätigen den bereits bei der Autoförderung immer wieder offensichtlichen Zusammenhang zwischen Infrastrukturinvestitionen und Nutzungsintensität. Zusätzlich wird das Fahrradfahren durch den Pedelec-Boom verstärkt. Die Verdichtung städtischer Räume erhöht schließlich die Erreichbarkeit vieler alltäglicher Ziele und erweitert damit die Spielräume für den Fußverkehr. Umgekehrt profitiert dieser davon, dass der städtische Raum weniger von Autos blockiert wird – vorausgesetzt, dass es tatsächlich einen Rückbau von Autofahrbahnen und Parkflächen geben könnte. Das steigende Gesundheitsbewusstsein unterstützt wiederum diese Aktivitäten der ›aktiven 121

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Mobilität‹. Alleine in Berlin hat sich die Nutzerzahl zwischen 2005 und 2015 verdoppelt, der Anteil des Rades an den täglichen Wegen der Berliner und Berlinerinnen ist im Jahresdurchschnitt auf knapp 18 Prozent geklettert. Insgesamt sind das Zufußgehen, das Laufen und Fahrradfahren zu Bestandteilen eines neuen ›urbanen Lifestyles‹ geworden. Das Narrativ vom privaten Automobil als Voraussetzung für ein glückliches Leben hat also zumindest in den Großstädten Konkurrenz bekommen. Die »Liebe zum Automobil« (Sachs 1984) erkaltet. Eine pragmatische Intermodalität ist bei den unter 30-Jährigen das dominante Nutzungsmuster. Zusammen mit den Fußwegen ist damit die Verkehrswende in den großen Städten bereits eingeleitet, das private – und nicht geteilte – Auto ist nur mit rund 30 Prozent an den täglichen Wegen beteiligt. Allerdings dominiert der private Autoverkehr weiterhin bei den zurückgelegten Entfernungen, also bei der Verkehrsleistung, und er prägt als ruhender Verkehr das Stadtbild. Hinsichtlich der Fahrpraxis verbinden sich institutionelle und handlungsbezogene Aspekte. Institutionell stehen neue Verkehrsangebote und eine erweiterte Infrastruktur zur Verfügung. Das geht einher mit einem veränderten Verhalten, etwa einer höheren Bereitschaft des Teilens sowie mit der sich verbreitenden Routine, verschiedene Verkehrsmittel miteinander zu kombinieren.

Raumvorstellungen des letzten Jahrhunderts Den beschriebenen Veränderungen sowohl bei den Einstellungen als auch im Verkehrshandeln steht eine Nutzung des öffentlichen Raumes entgegen, deren Prinzipien aus der Mitte des letzten Jahrhunderts stammen (vgl. ausführlich Canzler 2016). Diese reichen zurück zu den Diskussionen in den 1930er Jahren, die unter avantgardistischen Stadtplanern und Architekten um Le Corbusier geführt wurden. Die Autoren des Congrès Interna122

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tionaux dʼ Architecture Moderne (CIAM) haben 1933 in einem Manifest (der ›Charta von Athen‹) den Verkehr systematisch in ihre ambitionierte Stadtplanung miteinbezogen. Das in der Charta von Athen umrissene Reformprojekt, die Trennung der Funktionen Wohnen, Arbeiten und Erholung, konnte nur durch die Hinzunahme bzw. Aufwertung einer neuen Funktion, eben der des Verkehrs, realisiert werden. Allerdings unterlagen die Planungen zum Verkehrsraum dabei einem folgenreichen Kurzschluss. Die Gestaltung des Verkehrs wurde rein funktionalistisch betrachtet. Schon Ende der 1920er Jahre hatte Le Corbusier das Programm der radikalen Moderne mit Verkehrs-Metaphern beschrieben: »Man ziehe endlich den Schluß, dass die Straße kein Kuhweg mehr ist, sondern eine Verkehrsmaschine, ein Verkehrsapparat, ein neues Organ, eine Konstruktion für sich und von entscheidender Bedeutung, eine Art Längenfabrik (Le Corbusier 1929, S. 106). Bei der Metaphorik blieb es nicht. Die Überwindung von Distanzen musste organisiert werden. Gemäß ihren technischen Charakteristika und ihren unterschiedlichen Geschwindigkeiten sollten die einzelnen Verkehrsmittel eigene Trassen erhalten. Ziel war es, eine maximale Fließgeschwindigkeit und möglichst wenig Störungen des Verkehrs zu erreichen. Verkehrsverstopfungen infolge der Überlastung von Straßen, die bereits in den 1920er Jahren ein wichtiges Thema in der Presse waren, galten als ein wesentliches Hindernis für die Realisierung der funktional gegliederten modernen Stadt. Störendes und Unvorhergesehenes durfte es in einem Transitraum nicht geben, Widerstände im Raum mussten beseitigt werden, während zugleich der ruhende Verkehr genügend Platz bekommen sollte (Notz 2016). Der Verkehrsraum ist aber nicht nur Transitraum, sondern auch ein öffentlicher Raum. Die Konstituierung von Öffentlichkeit ist geradezu maßgebend auf die Existenz von Straßen und Plätzen angewiesen. Als Ort der Begegnung, der Kommunika123

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tion und der Bewegung hat die Straße jahrhundertelang ihre Dienste geleistet. Es erstaunt daher auch nicht, dass ein halbes Jahrhundert nach der Veröffentlichung der Charta von Athen von Stadt- und Raumplanern gefordert wird, die Widerständigkeit des Raumes wieder zu erhöhen. Nicht die klar gegliederte und räumlich entzerrte Stadt, sondern das »Gegenmodell der ›verdichteten und verflochtenen‹ Stadt« (Albers 2000, S. 31) wurde spätestens zur Jahrtausendwende zum neuen Planungsideal. Den Stadtplanern liegt seither die Aufenthaltsqualität in den Städten am Herzen, wenn sie verkehrsarme urbane Quartiere postulieren und dabei in erster Linie die Zurückdrängung des motorisierten Individualverkehrs meinen. Die Prioritätenfolge ›vermeiden, verlagern, verbessern‹ ist Gemeingut im Selbstverständnis der allermeisten Verkehrs- und Stadtplaner, während die Bündelung von Verkehrsströmen und die flächenhafte Verkehrsberuhigung in Wohngebieten seit Jahrzehnten fester Bestandteil kommunaler Verkehrsplanung sind. Die Eindämmung des Autoverkehrs gehört zum Kern postfunktionalistischer Stadtkonzepte. Dem städtischen Raum seine Wertigkeit (zurück) zu geben, das ist die Absicht der meisten jüngeren städtebaulichen Umbau- und Sanierungskonzepte. Doch kann dabei nicht einfach an Vorstellungen des 18. und 19. Jahrhunderts zur Konfiguration und Bedeutung des Raumes angeknüpft werden. Der Straße als primärem öffentlichen Raum der kollektiven Kommunikation und Auseinandersetzung dürfte keine Renaissance bevorstehen. Hierfür liefert die an die Individualisierungsthese angelehnte soziologische Modernisierungstheorie eine Fülle plausibler Hinweise (vgl. diverse Beiträge in: Beck/Beck-Gernsheim 1994). In ihr wird gerade der Verlust sowohl vormoderner als auch fordistischer kollektiver Identitäten betont. Öffentliche Räume, nicht nur Straßen und Plätze, sind sozial hochgradig segmentiert; sie werden zeitlich in sehr unterschiedlicher Weise ge124

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nutzt. Eine Reintegration von Aktivitäten und Funktionen auf und an öffentlichen Straßen und Plätzen ist zwar in beschränktem Umfang möglich und auch dort zu beobachten, wo der motorisierte Individualverkehr erfolgreich zurückgedrängt wurde. Aufgrund der Trennung in Erschließungs- und Wohnstraßen einerseits und der Bündelung des Autoverkehrs in einem Vorbehaltsnetz von Verbindungsstraßen andererseits werden diese Effekte nachweisbar erzielt. Allerdings haben sich insgesamt differenzierte Lebensentwürfe und damit verbundene Mobilitätsansprüche verbreitet, die eben raumgreifend sind und sich nicht allein im öffentlichen Nahraum verwirklichen lassen. Eine Verkehrswende bedeutet nicht den Status quo ante. Eine neue Verbindung von Verkehrsinfrastruktur und veränderten Handlungsroutinen, so würde Giddens argumentieren, bedingen sich.

Neue Routinen im Verkehr erfordern eine Neubewertung des öffentlichen Raumes Eine Neubewertung des öffentlichen Raumes in einem doppelten Sinn ist entscheidend für die Verkehrswende. Im Zentrum steht dabei das private Auto, das derzeit einen im Verhältnis zur Verkehrsleistung überproportional großen Anteil des Verkehrsraumes in Anspruch nimmt. Zum einen nimmt die Nutzungskonkurrenz um öffentlichen Raum generell zu, wenn es um eine bessere Aufenthaltsqualität geht. Ein lauter, stinkender und Stadtflächen zerschneidender Autoverkehr ist alles andere als zuträglich für mehr Aufenthaltsqualität. Auch der ruhende Verkehr stört, weil er benötigte Flächen belegt und oftmals Barrieren im öffentlichen Raum darstellt. Weniger Autos und eine Umstellung auf einen leisen, emissionsfreien Elektroantrieb sind Antworten auf diese Belastungen. Zum anderen nimmt die Konkurrenz der verschiedenen Verkehrsmittel untereinander um den begrenzten Verkehrsraum zu. Busse und Bahnen 125

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brauchen freie Fahrt, wenn sie attraktiv sein sollen. Das Fahrrad wird nur dann von vielen genutzt, wenn genügend und sichere Radwege zur Verfügung stehen. Auch das Zufußgehen und neue Formen der Mikromobilität wie das Skaten machen nur dann Spaß, wenn genug Platz dafür vorhanden ist. Eine ernst gemeinte Förderung des sog. Umweltverbundes einschließlich neuer Sharing-Angebote kommt um eine Neuverteilung des öffentlichen Verkehrsraumes nicht herum. Ein wichtiger Hebel für diese Neuverteilung ist eine konsequente Parkraumbewirtschaftung, die im Übrigen eine tiefgreifende Strukturänderung im Sinne der Strukturierungstheorie ist. Der Grundsatz sollte sein, dass wer für private Zwecke öffentlichen Raum in Anspruch nimmt, dafür zahlen muss. Das gilt auch für Anwohner. Es muss gute Gründe geben, von dieser Regel abzuweichen. Das klingt einfach, ist aber oft mit Konflikten verbunden, weil das freie oder für Anwohner stark vergünstigte Parken meistens als Gewohnheitsrecht empfunden wird. Mindestens so wichtig wie eine Neubewertung des öffentlichen Raumes ist jedoch, dass die Alternativen zum privaten Auto einfach und habituell genutzt werden können. Das ist die Konsequenz der These vom Routinehandeln im Alltagsverkehr, die von der Giddensʼschen Theorie der Strukturierung abgeleitet ist.

Zum Weiterlesen Burkart, Günter (1994): »Individuelle Mobilität und soziale Integration. Zur Soziologie des Automobilismus«. In: Soziale Welt 45, S. 216-241. Canzler, Weert/Knie, Andreas/Ruhrort, Lisa/Scherf, Christian (2018): Erloschene Liebe? Das Auto in der Verkehrswende. Soziologische Deutungen. Bielefeld: transcript. Freudendahl-Pedersen, Malene (2009): Mobility in Daily Life: Between Freedom and Unfreedom. London: Routledge.

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Literatur Agora Verkehrswende (2017): »12 Thesen«. Verfügbar unter: https:// www.agora-verkehrswende.de/12-thesen (zuletzt abgerufen am 10.09.2018). Albers, Gerd (2000): Zur Entwicklung der Stadtplanung in Europa. Basel: Birkhäuser. Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hg.) (1994): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. BMUB (Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit)/UBA (Umweltbundesamt) (2017): »Umweltbewusstsein in Deutschland 2016. Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage«. Verfügbar unter: https://www. umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/376/publika tionen/umweltbewusstsein_deutschland_2016_bf.pdf (zuletzt abgerufen am 10.09.2018). Canzler, Weert (2016): Automobil und moderne Gesellschaft. Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Mobilitätsforschung. Berlin/ Münster: LIT Verlag. Canzler, Weert/ Knie, Andreas (2018): Taumelnde Giganten. Gelingt der Autoindustrie der Neuanfang? München: oekom. Giddens, Anthony (1988a): Die Konstitution der Gesellschaft. Frankfurt a.M./New York: Campus. Giddens, Anthony (1988b): »Die ›Theorie der Strukturierung‹. Ein Interview mit Anthony Giddens«. In: Zeitschrift für Soziologie 17, S. 286-295. Le Corbusier (1929): Städtebau. Berlin/Leipzig: Deutsche Verlagsanstalt. Sachs, Wolfgang (1984): Die Liebe zum Automobil. Ein Rückblick auf die Geschichte unserer Wünsche. Reinbek: Rowohlt. Notz, Jos Nino (2016): »Die Privatisierung öffentlichen Raums durch parkende KFZ. Von der Tragödie der Allmende – über Ursache, Wirkung und Legitimation einer gemeinwohlschädigenden

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Weert Canzler Regulierungspraxis. IVP-Discussion Paper«. Verfügbar unter: https://www.ivp.tu-berlin.de/fileadmin/fg93/Dokumente/Dis cussion_Paper/DP10_Notz_Privatisierung_%C3%B6ffentlichen _Raums_durch_parkende_Kfz.pdf (zuletzt abgerufen am 10.09. 2018). Ruhrort, Lisa. (i. E.): Transformation im Verkehr? Erfolgsbedingungen verkehrspolitischer Maßnahmen im Kontext veränderter Verhaltens- und Einstellungsmuster. Dissertationsschrift, Wiesbaden: Springer VS. Schönduwe, Robert/Lanzendorf, Martin (2014): Mobilitätsverhalten von Heranwachsenden und Möglichkeiten zur Bindung an den ÖPNV. Eine Synthese des Forschungsstandes von deutschsprachiger und internationaler Forschungsliteratur. Frankfurt a.M.: Univ.-Bibliothek Frankfurt a.M.

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Innovationsforschung: Soziale Innovationen für nachhaltige Bewegung Alternative Mobilitätskonzepte für den ländlichen Raum Ute Samland

Soziale Innovationen in der Mobilität In der modernen Gesellschaft ist Mobilität ein elementarer Bestandteil des täglichen Lebens. Mobilität bedeutet nicht nur die Fortbewegung mit einem Verkehrsmittel von einem Ort zum anderen, vielmehr setzt auch soziale Teilhabe vielfach Mobilität voraus: Im ländlichen Raum ist Mobilität unumgänglich, um am sozialen Leben teilzunehmen – und dabei ist das eigene Automobil nach wie vor das wichtigste Verkehrsmittel des Alltags. Diese erwünschte soziale Inklusion bringt jedoch unerwünschte ökologische Schwierigkeiten mit sich, werden doch täglich große Wege im vielfach von nur einer Person genutzten Automobil zurückgelegt. Die Etablierung innovativer und nachhaltiger Mobilitätslösungen im ländlichen Raum ist so aus Klimagesichtspunkten wie gesellschaftspolitisch eine zentrale Zielsetzung. Dies gilt umso mehr, als nachhaltige Mobilitätsalternativen im ländlichen Raum mit einer Vielzahl von Schwierigkeiten konfrontiert sind. Dazu gehören Schrumpfungsprozesse und demographischer Wandel; zugleich konzentrieren sich zunehmend Güter und Dienstleistungen, wie Arbeit, Bildungsstätten, Freizeit- und Kulturangebote, Gesundheitszentren und Angebote des Einzelhandels in städtischen Gebieten. Damit steigen nicht nur die Kosten und der Zeitaufwand zur Erreichung dieser Güter und Dienstleistungen – es wird auch zunehmend schwie129

Ute Samland

rig, überhaupt ein Grundangebot an öffentlichen Mobilitätsdienstleistungen aufrechtzuerhalten. Mobilität im ländlichen Raum ist mithin ein zentraler Gegenstandsbereich, wenn es um ökologisch und sozial nachhaltige Bewegung geht; entsprechend vielfältig sind Forschungsprojekte in diesem Feld. Innovationen und Innovativität gelten dabei als wesentliche Merkmale wissenschaftsbasierter Projekte, die technologische Entwicklungen zur Verbesserung sozialer Problemlagen und darüber hinaus eine Erneuerung sozialer Spielweisen im Umgang mit Bedürfnissen anbieten (Howaldt/Schwarz 2010, S.  55). Betrachtet man ländliche Mobilität, so trifft man auf drei wesentliche projekt- und innovationsorientierte Stoßrichtungen: erstens den Austausch fossiler in elektrisch betriebene Automobile, zweitens die Reduktion von Fahrten etwa durch Mitbringdienste oder Gemeinschaftsfahrten, drittens die Ergänzung, z.B. durch Schaffung alternativer Mobilitätsangebote wie das Dorf-Auto. Im folgenden Fall steht mit Blick auf die Frage nachhaltiger Bewegung die zweite Stoßrichtung, die Reduktion von Verkehr, im Mittelpunkt. Dabei wird auf das empirische Material aus dem interdisziplinären Forschungsprojekt »NEMo – Nachhaltige Erfüllung von Mobilitätsbedürfnissen im ländlichen Raum« zurückgegriffen1. Im Kontext der hier verhandelten soziologischen Perspektiven auf Bewegung geht es im folgenden Beitrag um die Frage, ob eine testweise Einführung neuartiger Mobilitätspraktiken 1 |  Das vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur und der VW-Stiftung geförderte wissenschaftliche Forschungsprojekt hatte eine dreijährige Laufzeit von 2016 bis 2019 und verbindet die Disziplinen Informatik, Ingenieurs-, Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften miteinander. Beteiligte Universitäten waren die Universität Oldenburg, die Technische Universität Braunschweig und die Leuphana Universität Lüneburg.

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Innovationsforschung: Soziale Innovationen für nachhaltige Bewegung

zu einer nachhaltigen Verhaltensveränderung führen kann und damit zu einem auf ökologische Nachhaltigkeit hin ausgerichteten sozialen Wandel beiträgt. Soziale Innovationen in der Mobilität sind dabei auf zweierlei Arten bewegt: zum einen geht es um physisch-räumliche Bewegung, etwa die von Menschen und Gütern durch den Raum oder auch das Potential, sich räumlich zu bewegen; zum anderen aber auch um soziale Beweglichkeit und damit das Potential, gesellschaftlichen Wandel voranzutreiben. Dieser empirische Gegenstand der sozialen Mobilitäts-Innovation wird mit der theoretischen Perspektive des Innovationskonzepts von Werner Rammert (2010) näher beleuchtet. Rammerts Konzept betrachtet soziale Innovationsprozesse in zwei Stufen, die der Relation und die der Referenz. Dies erlaubt, nicht nur die gesellschaftliche Anschlussfähigkeit von Innovationen zu untersuchen, sondern auch die Kontextabhängigkeit einer gesamtgesellschaftlichen und langfristigen Durchsetzungsfähigkeit zu berücksichtigen. Im folgenden Abschnitt werden zunächst die theoretische Perspektive und der empirische Fall der Mobilität im ländlichen Raum näher vorgestellt, um diese anschließend aufeinander zu beziehen. Es wird deutlich, dass jede innovative Bewegung erst im Zusammenspiel mit anderen Innovationen und damit verbundenen gesellschaftspolitischen Maßnahmen zu einem gesellschaftlichen Wandel beitragen kann.

Soziale Innovation als theoretische Perspektive Ein Blick in die Werbung zeigt: eine innovative Note gehört zum guten Ton. Ob Schuhsohlen, Gartenbewässerung, Büroutensilien oder Kosmetikprodukte – alle versprechen innovative Nutzungsweisen und Inhaltsstoffe für ein Mehr an Nachhaltigkeit, Bequemlichkeit und Individualität. Aber was macht Innovationen eigentlich aus? Ab wann kann etwas als Innovation bezeichnet werden? Und was schließlich kann man sich unter ›sozialen Innovationen‹ vorstellen? 131

Ute Samland

Eine Definition sozialer Innovation findet sich bei Werner Rammert (2010). Rammert begreift soziale Innovationen als »Innovationen der Gesellschaft« und unterscheidet dabei einen engen und einen weiten Innovationsbegriff. Während der enge Innovationsbegriff auf die Entwicklung innovativer technischer Artefakte beschränkt bleibt, bezieht der weite Innovationsbegriff die sozialen Mechanismen mit ein, die mit einer gesellschaftlich-institutionellen Einbettung der technischen Innovation einhergehen. Die Entwicklung einer sozialen Innovation ist in ihrer Prozesshaftigkeit zu verstehen, da unterschiedliche Entwicklungs-, Akzeptanz- und Institutionalisierungsstufen durchlaufen werden müssen, soll diese Innovation langfristige Geltung beanspruchen. Rammert konstatiert zudem, dass Innovationen nie einzeln vorkommen, sondern sich gegenseitig bedingen. Auf die Innovationen im technischen Bereich folgen soziale und ökonomische Innovationen. Viele soziale Innovationen wären bspw. ohne die Entwicklung des Internets oder des Smartphones undenkbar, gehen doch mit technischen Innovationen vielfach veränderte Nutzungsmuster einher. Den Innovationsprozess konzipiert Rammert als zweistufig: Er unterscheidet die Stufe der »Relation« und die der »Referenz«, wobei er die Stufe der Relation weiter differenziert in eine zeitliche, eine sachliche und eine soziale Dimension (Rammert 2010, S. 45). Als Relation wird die erste Innovationsphase bezeichnet; sie beschreibt eine Neukombination und Variation vorhandener Elemente, aus denen etwas Neues entsteht und die das Potential bergen, von der aktuellen Normalität abzuweichen. Diese neue Relationierung von Elementen kennzeichnet bestenfalls eine Verbesserung der bisherigen Normalität. Jedoch betont Rammert, dass zu einer Innovation zwar »Modifikationen der Elemente und Relationen notwendig [sind, diese] aber noch keine Innovation [machen]« (ebd., S. 46).

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Innovationsforschung: Soziale Innovationen für nachhaltige Bewegung

An die erste schließt daher die zweite, ebenso wichtige Phase der sozialen Innovation an, die der »Referenz« (ebd., S. 45). Rammert macht mit dem Begriff der Referenz deutlich, dass eine Innovation nicht nur eine Wirkung auf verschiedene gesellschaftliche Teilbereiche entfaltet, sondern zugleich heterogen verteilt entsteht – auf diese referiert. Neben ökonomischen Faktoren oder eben Referenzen, die eine soziale Innovation als erfolgreich anzeigen, spielen weitere Referenzen aus dem wissenschaftlichen, künstlerischen oder politischen Teilbereich hinein, die eine langfristige Durchsetzung und Verbreitung erst ermöglichen (ebd., S. 24). Eine soziale Innovation kann erst als eine solche bezeichnet werden, wenn sich das Neuartige langfristig auf gesellschaftlicher Ebene durchsetzt (ebd., S. 46). Die Stufe der Relation differenziert Rammert, wie bereits erwähnt, näher in eine zeitliche, eine sachliche und eine soziale Dimension. So lässt sich der Prozess der Relationierung des technischen Artefaktes analytisch getrennt in zeitlicher, sachlicher und sozialer Hinsicht beschreiben und verweist gleichzeitig auf die gesellschaftliche Wahrnehmung des Potentials, von der Normalität abzuweichen. Die zeitliche Dimension: Diese bezeichnet eine Unterscheidung zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem, wobei eine Innovation etwas »Neues« gegenüber dem Vergangenem mit sich bringt (Rammert 2010, S. 30). Zentraler Aspekt in der Zeitdimension ist, dass zwar mit der Herstellung des Neuen eine Differenz zum Alten produziert wird, die soziale Konstruktion der Wahrnehmung dessen, dass etwas ›alt‹ erscheint, aber ebenfalls zum Prozess der Herstellung des Neuen gehört. Die sachliche Dimension: Diese hinterfragt, wie Neues in die Welt kommen kann. Darauf gibt Rammert zwei Antworten: Zum einen können sich neue Ideen und Dinge ex nihilo durch »kreatives Hervorbringen aus noch nicht Dagewesenem« formen, als ein schöpferischer Prozess. Zum anderen entsteht Neuartiges 133

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durch das »Variieren von bekannten Elementen und das Rekombinieren zu neuen Arten und Gestalten«, so Rammert (2010, S. 31). Zentral hier ist die Betrachtung der Art der Neukombination von Elementen, die sich auf den Umfang der Abweichung von der bis dato herrschenden Normalität auswirkt. Die soziale Dimension: Rammert beschreibt das Neue als eine Abweichung vom Normalen, das eine Verschiebung von Routinehandlungen erforderlich macht. (2010, S.  32). Ebenfalls bezeichnet er das Abweichende als fremd und anders im Verhältnis zum Vertrauten – jedoch muss es sich überhaupt in den Alltag integrieren lassen können: »Das Neue muss sich gegenüber dem Vertrauten und Bewährten […] als friedlich, integrierbar und verlässlich bewähren.« (Ebd., S. 33) Bei trivialen, wenig abweichenden Verbesserungen ist dies leichter zu bewältigen als bei Innovationen, die grundlegend in routinisierte Praktiken eingreifen, da hier mit widerständigen Gewohnheiten und gefestigten Sichtweisen umgegangen werden muss (ebd., S. 34). Für die Untersuchung sozial und ökologisch nachhaltiger Bewegung ist die Anwendung von Rammerts Innovationskonzept aus mehreren Gründen hilfreich: erstens ist der Kern seines Konzeptes noch immer eine technische Innovation, die zweitens neue organisatorische Koordinations- und Steuerungsmechanismen beinhaltet und drittens begleitet ist von der Entwicklung sozialer Umgangsweisen und institutioneller Einbettung. Im folgenden Abschnitt wird das Mobilitätskonzept des Projektes »NEMo« als Fall vorgestellt.

Der Fall – Ein Konzept der Mobilität im ländlichen Raum Wie eine soziale Innovation in der Mobilität ausgestaltet sein kann, soll am Beispiel der Entwicklung eines integrierten Mobilitätskonzeptes des Forschungsprojektes »NEMo« erörtert werden. Zentrales Ziel des Projektes war die Entwicklung und 134

Innovationsforschung: Soziale Innovationen für nachhaltige Bewegung

die Erprobung einer Web-Applikation, angepasst an die Bedarfe der ansässigen Bevölkerung in der Untersuchungsregion Wesermarsch. Mittels quantitativer und qualitativer sozialwissenschaftlicher Befragungen und Bürgerforen wurden Mobilitätsbedürfnisse und -potentiale ermittelt und in die App übertragen. Ein weiterer wichtiger Bestandteil war die Vernetzung mit anderen Projekten, den hiesigen Verkehrsdienstleistern sowie mit dem Regionalmanagement in der Untersuchungsregion mit dem Ziel, die entwickelte Mobilitätsalternative in die bereits bestehende Mobilitätslandschaft einzubetten. Verschiedene technische, organisatorische und soziale Elemente wurden innerhalb des Projektes »NEMo« zusammengeführt: Kern und Verbindungselement des Projektes ist als technisches Element die Entwicklung einer Web-Applikation, die Informationen zu verschiedenen Verkehrsmitteln und Anbietern von Mobilitätsdiensten anzeigt. Durch die Entwicklung integrierter Mobilitätsdienstleistungen werden bewährte Mobilitätsoptionen des privaten und des öffentlichen Bereichs im Rahmen einer App zusammengeführt und, wie im technischen Fachjargon ausgedrückt, ›orchestriert‹. Als Verbesserung dieser Innovation wird angestrebt, nebeneinanderliegende Mobilitätsangebote, wie den motorisierten Individualverkehr, den öffentlichen Personennahverkehr sowie Car-Sharing-Angebote und Mitfahrverkehre so miteinander zu verknüpfen, dass am Ende eine neue ökologisch und sozial nachhaltigere Mobilitätspraxis entsteht. Dafür werden die unterschiedlichen verfügbaren Mobilitäts-Optionen über den Mobilitätsdienst zu einer multimodalen Wegekette zusammengefügt und dem Nutzer vorgeschlagen. Die Entwicklung eines Geschäftsmodells bildet das organisatorische Element mit der zentralen Idee, den Community-Gedanken durch über die Mobilitätsdienste hinausgehende Tauschaktivitäten zu fördern und die Teilnehmer dadurch längerfristig zu binden. Einbezogen sind Organisationsformen, wie etwa 135

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Mitbringdienste und Unterstützungsangebote, die in einem eng umgrenzten Teilnehmerkreis angeboten und ausgetauscht werden. Wichtig dabei ist als soziales Element, dass die Rolle des Kunden als Dienstleistungsempfänger überdacht wird. Der Kunde wird neu definiert als Prosument, der die eigene Privatfahrt geteilt als Mitfahrgelegenheit anbietet und somit eine Alternative zum öffentlichen Personen(nah)verkehr sowie dem motorisierten Individualverkehr bietet. Darüber hinaus sollen durch die im Geschäftsmodell geschaffenen Anreize die Selbstorganisationspotentiale der Teilnehmer mobilisiert und gestärkt werden.

Mobilitäts-App als soziale Innovation? Das vorgestellte Mobilitätskonzept kann im Sinne von Rammert als eine soziale Innovation beobachtet werden. Das Konzept nachhaltiger Bewegung als soziale Innovation zu betrachten, ist hilfreich, weil durch die Feststellung einer Neuartigkeit konkrete Vorzüge gegenüber früheren Lösungen ausgemacht werden können, die wiederum helfen können, den Nachhaltigkeitszielen entgegenzukommen und sich die angestrebten Verhaltensänderungen realisieren. Es könnte demnach als eine Art Prognoseinstrument dienen, Art und Umfang der Änderung im Vorfeld zu explizieren. Das Konzept der Relation unterscheidet, wie oben beschrieben, eine zeitliche, eine sachliche und eine soziale Dimension. Entlang dieser drei Dimensionen lässt sich das Konzept nachhaltiger Bewegung diskutieren: Laut Rammert lassen sich, allein durch die Anwendung von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) auf bewährte Handlungspraktiken, Entwicklungen in einen »aussichtsreichen Innovationskandidaten« verwandeln (Rammert 2010, S. 23). Die zeitliche Dimension beschreibt die Unterscheidung von ›Neuem‹ in Bezug zum ›Alten‹ in Verbindung mit der gesellschaftlichen Wahrnehmung, dass es ›neu‹ ist. Zeitlich neu in diesem Zusammenhang 136

Innovationsforschung: Soziale Innovationen für nachhaltige Bewegung

ist die durch Digitalisierung entstehende Veränderung des verfügbaren Mobilitätsangebotes sowie damit einhergehender Organisationsformen. Außerdem verändern sich durch die Nutzung der Mobilitäts-App als nachbarschaftliches Organisations- und Kommunikationsmedium bestehende Interaktionsund Kommunikationsmuster in ländlichen Gemeinschaften. Bei der Betrachtung der sachlichen Dimension werden auf der Basis von IKT verschiedene Stakeholder zusammengebracht. Da sind nicht nur die privaten Autonutzer*innen und öffentlichen Verkehrsmittelbetreiber als Fahrtenanbieter auf der einen und die Mitfahrer*innen und Nutzer*innen dieser Mobilitätsangebote auf der anderen Seite zu nennen, sondern darüber hinaus auch die Anbieter*innen und Konsumenten*innen von Unterstützungs- und Tauschangeboten, die die App als Kommunikationsplattform und zur Netzwerkbildung nutzen. Zur Schaffung von sachlich Neuem ist ein Blick in andere Regionen und Projekte hilfreich gewesen – so konnten für die Entwicklung des Geschäftsmodells bereits etablierte Ideen auf die eigene Region übertragen werden, was als Imitation bezeichnet wird. Halberstadt und Kraus haben für diese Verbindung von Imitation und Innovation den Begriff der »Imovation« geprägt (2016, S. 262). Das Neue im Vergleich zum Bewährten liegt hier also in der Kombination einer veränderten Praxis der Gemeinschaftsbildung durch Digitalisierung, und darin integriert, die alltäglich stattfindende Mobilität. Beide Optionen – die der Mobilität und die des Austauschs von Nachbarschaftsdiensten – existieren für sich genommen bereits. Z.B. hält das Mobilitätsprojekt »mobilfalt« integrierte Mobilität bestehend aus Angeboten aus dem öffentlichen und dem privaten Verkehr vor, oder die Onlineplattform »nebenan.de« vernetzt Nachbarschaften, durch die Haushaltsgeräte, wie Bohrmaschinen und Leitern, aber auch Informationen über den Kiez (aus-)getauscht werden. Bei dem hier entwickelten Mobilitätskonzept ist insofern ›neu‹, 137

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dass bekannte Elemente – entsprechend einer Imovation – miteinander verknüpft werden: die Mobilitätsoptionen des privaten und öffentlichen Verkehrs mit dem Nachbarschaftsgedanken des Tauschens und Leihens. Innovativ ist schließlich die Entwicklung alternativer Mobilität im Rahmen eines nachbarschaftlichen Unterstützungsnetzwerkes. Eine besondere Herausforderung liegt dabei in der Verknüpfung des öffentlichen mit dem privaten Verkehr und als Transformation des privaten Automobilfahrers in einen öffentlichen Mobilitätsanbieter. Damit reiht sich das Projekt in andere teils wissenschaftliche, teils regional initiierte Projekte ein. Die soziale Dimension verweist folglich auf die Art der Abweichung. Sozial neu an diesen Projekten ist eine Grenzverschiebung zwischen dem öffentlichen Personen(nah)verkehr und dem motorisierten Individualverkehr. Das von der Normalität abweichende ist die Modifikation des privaten Automobils in ein Instrument öffentlicher Nutzung, was auf viele Nutzer*innen befremdlich wirkt. So zeigen die Auswertungen der im Projekt gesammelten Interviewdaten, dass gerade die Zeit im Auto oft als eine qualitative Zwischenzeit erlebt wird, die als Möglichkeit des Rückzugs, der Vorbereitung oder des Ausgleichs zum anstrengenden Alltag genutzt wird. Die bisher privaten routinemäßigen Handlungen, wie der Fahrstil, das Konsumieren von Radiosendern und Musik oder das Kommunizieren im Auto werden mit dieser Transformation zu Handlungen auf der »Vorderbühne« (Goffman 1969). Während die Stufe der Relation die Innovation selbst beschreibt, beleuchtet die Stufe der Referenz die gesellschaftliche Einbettung der Innovation. Ob diese Innovation gesellschaftliche Relevanz entfaltet und damit den sozialen Wandel vorantreibt, ist damit auch abhängig von den externen Referenzen. Die Rahmenbedingungen bestimmen weithin die Durchsetzungskraft einer Innovation. So besteht etwa das Problem der Verfügbarmachung von Echtzeitdaten seitens öf138

Innovationsforschung: Soziale Innovationen für nachhaltige Bewegung

fentlicher Verkehrsmittelanbieter, die eine erleichterte Planung multimodaler Wege ermöglichen könnte (Schultz 2018). Außerdem spielt die Unterstützung von Personen aus dem öffentlichen Leben, wie Bürgermeister*innen, engagierte Bürger*innen, Unternehmer*innen oder Regionalmanager*innen, eine große Rolle. Diese haben zumeist durch ihre Vorbildwirkung einen besonderen Einfluss auf die lokale Gemeinschaft. Auch in diesem Fall bleibt abzuwarten, wie stark diese Sachverhalte die langfristige Durchsetzung stützen bzw. erschweren.

Mobilitätswende und Trends Es wurde deutlich, dass eine Veränderung von räumlichen Bewegungsmustern besonders im ländlichen Raum vor Herausforderungen steht. Es bleibt abzuwarten, ob sich diese neuen Praktiken tatsächlich etablieren. Das Projekt »NEMo« kann aber als Teil einer Dynamik beschrieben werden, die eine gehäufte Entwicklung technischer Lösungen auf Basis konkreter Problemlagen vorantreibt und einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel auslösen kann (Rammert 2007, S. 20). Fest steht, dass der Mobilitätstrend in Richtung Zugang zur Mobilität zeigt und damit korrespondierend die Abnahme des bloßen Besitzes eines Automobils, wobei die Nutzung des Smartphones dabei eine zentrale Rolle einnimmt (Canzler/Knie 2016). Noch nicht klar ist, inwiefern der ländliche Raum diese Entwicklungen aufnimmt, da hier mit begründeten Widerständen zu rechnen ist: das private Automobil ist das Instrument, mit dem sich soziale Teilhabe autonom gewährleisten und Erreichbarkeiten flexibel gestalten lässt. Ob sich eine alternative Mobilitätspraxis durchsetzt, dieser Sachverhalt aufgenommen wird, sich also die Charaktereigenschaft des Automobils als privater Raum ändern und der Autobesitzer sich in einen Mobilitätsanbieter transformieren lässt, ist kaum vorherzusagen. Vielversprechend sind jedenfalls die Entwicklung der Elektromobilität und die Ergänzung 139

Ute Samland

durch alternative Mobilitätsangebote wie das Dorfauto oder verschiedene Verleihsysteme. In jedem Fall ist es für die Bewegung in sozialen Praktiken wichtig, durch Projekte und praxisorientierte Initiativen Möglichkeiten alternativer Mobilität aufzuzeigen, die eine Idee davon vermitteln, dass alltägliche Mobilitätspraktiken kontingent sind. Insofern kann von einer multiplen Bewegung des Feldes ausgegangen werden.

Zum Weiterlesen Canzler, Weert/Dienel, Hans-Liudger/Götz, Konrad/Kesselring, Sven/Knie, Andreas/Lanzendorf, Martin/Rammler, Stephan/ Reutter, Ulrike/Scheiner, Joachim/Schönduwe, Robert (2016): Beharrung und Wandel in der Mobilität. Die Verkehrswende als Ausgangspunkt für eine neue Forschungsagenda. Positionspapier. Frankfurt a.M.: Institut für sozial-ökologische Forschung ISOE. Manderscheid, Katharina (2012): »Automobilität als raumkonstituierendes Dispositiv der Moderne«. In: Henning Füller/Boris Michel (Hg.). Die Ordnung der Räume. Geographische Forschung im Anschluss an Michel Foucault. Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 145-178. Rammert, Werner/Windeler, Arnold/Knoblauch, Hubert/Hutter, Michael (2016): Innovationsgesellschaft heute. Perspektiven, Felder und Fälle. Wiesbaden: Springer VS.

Literatur Canzler, Weert/Knie, Andreas (2016): Die digitale Mobilitätsrevolution. Vom Ende des Verkehrs, wie wir ihn kannten. München: Oekom. Goffman, Erving (1969): Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München: Piper.

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Innovationsforschung: Soziale Innovationen für nachhaltige Bewegung Halberstadt, Jantje/Kraus, Sascha (2016): »Social Entrepreneurship. The Foundation of Tomorrow’s Commercial Business Models?«. In: International Journal of Entrepreneurial Venturing 8, 3, S. 261-279. Howald, Jürgen/Schwarz, Michael (2010): »Soziale Innovation« im Fokus. Skizze eines gesellschaftstheoretisch inspirierten Forschungskonzeptes. Bielefeld: transcript. NEMo-Projektantrag (2016): Nachhaltige Erfüllung von Mobilitätsbedürfnissen im ländlichen Raum. Rammert, Werner (2007): »Technik, Handeln und Sozialstruktur: Eine Einführung in die Soziologie der Technik«. In: Ders. (Hg.). Technik – Handeln – Wissen. Zu einer pragmatischen Technikund Sozialtheorie. Wiesbaden: Springer VS, S. 11-36. Rammert, Werner (2010): »Die Innovationen der Gesellschaft«. In: Jürgen Howaldt/Heike Jacobson (Hg.). Soziale Innovationen. Auf dem Weg zu einem postindustriellen Innovationsparadigma. Wiesbaden: Springer VS, S. 21-51. Schultz, Stefan (2018): »Trafi revolutioniert den Stadtverkehr«. Verfügbar unter: www.spiegel.de/wirtschaft/service/mobilitaet-invilnius-app-trafi-revolutioniert-den-stadtverkehr-a-1196674. html (zuletzt abgerufen am 23.03.2018).

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Kontakttheorie Kasuistisches Auswerten und kontakttheoretische Überlegungen im Kontext von Bewegung, Spiel und Sport in heterogenen Settings Steffen Greve Wenn Menschen im Kontext von Bewegung, Spiel und Sport miteinander in Kontakt kommen, entstehen zwangsläufig Interaktionsprozesse und soziale Beziehungen. Diese Bewegungsbeziehungen werden in der aktuellen Fachdiskussion besonders dann ausführlich in den Blick genommen, wenn die von außen angelegten (gesellschaftlichen) Normen in den Augen der jeweiligen Betrachter*innen der Situationen so stark verfehlt werden, dass es zu Irritationen kommt. Diese Umstände firmieren zumeist unter dem Label ›Inklusion‹ oder dem der ›Heterogenität‹. Dieser Beitrag ist allerdings nicht zur Diskussion der Begrifflichkeiten gedacht, dies wäre nicht zielführend. Einheitliche Definitionen liegen nicht vor (Giese 2016), kann es wohl auch nicht geben und wären kaum sinnvoll zu entwerfen. Stattdessen soll es hier darum gehen, Normen und Irritationen an praktischen Beispielen zu identifizieren und zu diskutieren, um diese zu verstehen und zu erklären. Dies gelingt im Sinne einer Annährung, die auf einem bestimmten theoretischen Blick beruht. Im Folgenden werden zwei Fälle vorgestellt, zum einen eine Situation aus dem Sportunterricht einer Grundschulklasse, zum anderen eine Special Olympics Basketballmannschaft, in der Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam spielen. Die zwei hier exemplarisch ausgewählten Settings sind beide institutionalisiert, sie unterliegen aufoktroyierten, relativ starren 143

Steffen Greve

Strukturen. Aber doch entstehen sie erst dadurch, dass die dort handelnden Personen die zur Verfügung stehenden Räume mit Bewegung, Spiel und Sport ausgestalten. In den beiden Fällen nehmen die teilnehmenden Menschen Rollen an, die für das jeweilige Setting typisch sind. Dazu treten sie in Kontakt zueinander, wobei sich zwangsläufig die Frage stellt, unter welchen Bedingungen dieser Kontakt passiert und wie die handelnden Individuen diesen Kontakt gestalten. Dies passiert jenseits von üblichen Normen, was zu Irritationen führt, die sich aber produktiv, und das ist der Anspruch der Analyse, wenden lassen. Die Diskussion soll grundsätzliche Überlegungen anregen, wie Sportangebote verändert werden müssen, damit auch in extrem heterogenen Gruppen alle Teilnehmer*innen gemeinsam ihren Interessen folgend Bewegung, Spiel und Sport freudvoll und fordernd inszenieren können. Es zeigt sich, dass dafür besonders die Diskussion bzgl. der Perspektive der Leistung im Sport essentiell ist.

Kasuistisches Auswerten von Sportunterricht und kontakttheoretische Überlegungen zwischen Menschen mit und ohne Behinderung Um den ersten Fall zu analysieren, wird (um dem Setting Rechnung zu tragen) auf die Methode des Kasuistischen Auswertens von Sportunterricht (Scherler 2008) zurückgegriffen. Diese setzt bei der Auswertung von problematischen Unterrichtssituationen an und stellt ihnen alternative Lösungsmöglichkeiten gegenüber. Für den Prozess der Auswertung ist jedoch eine genauere Lokalisierung des Problembereichs von Nöten. Dazu wird im ersten Schritt die thematisierte Situation wiedergegeben, womit die Fakten dargestellt sind. Anschließend werden die für die Sequenz bestehenden Normen zugeordnet. Im dritten Schritt werden die bestehenden Probleme der Episode ermittelt und abschließend mögliche Lösungen empfohlen (ebd.). 144

Kontakttheorie

Es handelt sich um eine praktikable und möglichst simple Methode qualitativer Auswertung von Sportunterricht, die auch im Alltag von Sportlehrer*innen Anwendung finden soll. Im zweiten Fall wird das gemeinsame Basketballspielen von Menschen mit und ohne Behinderung thematisiert. Um diesem Setting gerecht zu werden, wird eine weitere theoretische Perspektive eingenommen. Cloerkes (2007) hat darauf hingewiesen, dass es drei günstige Bedingungen gibt, die diesen Kontakt, die Interaktionen von Menschen mit und ohne Behinderung, positiv beeinflussen: die Freiwilligkeit von Kontakt (die ist gegeben, die Mitglieder können selbst entscheiden, ob sie teilnehmen oder nicht), intensive Beziehungen (diese befördert der Sport z.B. durch seine affektive Gestalt, man spielt um Sieg und Niederlage, die Spielgeräte und -ziele geben direkte Rückmeldung zum Leistungsvermögen) und die Erwartung einer gewissen Belohnung aus der sozialen Beziehung. Er konstatiert, dass soziale Beziehungen zwischen Menschen mit und ohne Behinderung nie ausgeglichen und gleichberechtigt sein können, da Menschen sich nach der potentiellen Attraktivität sozialer Beziehungen bewerten, was in der modernen Leistungsgesellschaft besonders betont wird. Die soziale Attraktivität von Menschen mit Behinderung ist in diesem Kontext meist eher gering ausgeprägt, was dazu führt, dass Menschen ohne Behinderung aus diesem Grund die sozialen Interaktionen vermeiden, da sich die Beziehung nicht »lohnt« (ebd. 1985, S. 434). Eine Belohnung könnte an dieser Stelle die Dankbarkeit der Menschen mit Behinderung sein sowie das moralische Bewusstsein, »ein guter Mensch« (ebd.) zu sein.

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Geschlechterungerechtigkeit bei der Inszenierung des Sportspiels Fußball im Sportunterricht der Grundschule Die Fußballweltmeisterschaft der Männer dient oftmals als Anlass, dass Lehrkräfte das Spiel mit dem »runden Leder« in ihren Sportunterrichtsstunden zum Thema machen. So auch im folgenden Fall, welcher sich in einer Grundschule in einem sehr bewegten Stadtteil einer deutschen Großstadt ereignete und mit der oben angesprochenen Methode nach Scherler (2008) ausgewertet werden soll. Die Schülerklientel ist sehr heterogen, in der beobachteten vierten Klasse sind Kinder aus einkommensstarken und -schwachen Familien, Jungen und Mädchen mit und ohne Migrationshintergrund und Fluchterfahrung. Diese Schüler*innen, deren Bewegungsbiographien ebenso divers wie ihre sozialen Verhältnisse sind, finden jeden Morgen den Weg in die Ganztagsgrundschule im Viertel. Um der enormen Verschiedenheit der Klasse gerecht zu werden, überrascht die Lehrkraft die Kinder immer wieder mit kreativen Ideen und Ansätzen der Unterrichtsinszenierung. So auch in der angesprochenen Stunde, in welcher mithilfe von Tablets allen Kindern ein Zugang zum Unterrichtsgegenstand Fußball ermöglicht werden sollte. Fakten darstellen: Zu Beginn der Stunde haben die Schüler*innen der vierten Klasse eine freie Bewegungszeit. Direkt nach Betreten der Halle dürfen sie mit Kleingeräten (Seilen, Bällen, Reifen) selbständig und selbsttätig Bewegung, Spiel und Sport für einen kurzen Zeitraum inszenieren. Anschließend treffen sie sich im Sitzkreis und warten auf die Einführung des Lehrers in die Stunde. Diese beginnt mit dem Vorlesen einer (fiktiven, aber das wissen die Kinder nicht) Email von Joachim Löw, die angeblich an sämtliche Sportlehrer in der Stadt gesendet wurde. Der Bundestrainer schreibt, dass er die doch sehr heterogene Gruppe von Nationalspielern in Russland auf die WM vorbereitet und ein gutes Turnier spielen will. Und er bittet um Mit146

Kontakttheorie

hilfe, da auch in Zukunft wieder gute Nationalspieler benötigt werden, damit auch in den nächsten Jahren wieder erfolgreiche Turniere gespielt werden können (die Stunde fand vor dem ersten Gruppenspiel der Nationalmannschaft statt). Darum sollen alle Sportlehrer in der Stadt im Unterricht eine Fußballeinheit durchführen und die Kinder sollen sich dabei filmen (daher die Tablets). Mithilfe dieser Videos möchte Löw neue Talente entdecken. Der Lehrer teilt anschließend Gruppen ein und schickt diese in die vier Ecken der Sporthalle, wo bereits Tablets bereitliegen. Auf diesen finden die Schüler*innen Videos mit Arbeitsaufträgen. Die Jungen laufen ausnahmslos los, nehmen sich auf dem Weg Bälle aus den bereitstehenden Ballkisten mit und beginnen mit dem Ball kleinere Moves durchzuführen. Einige Mädchen machen sich eher langsam auf dem Weg in die Ecken, andere bleiben im Kreis sitzen und schauen zu Boden. Normen zuordnen: Die Inszenierung des Inhaltes Fußball im Sportunterricht verpflichtet die Lehrkraft geradezu zu einer besonderen Sensibilität bezüglich der Geschlechterrollen und des Wettbewerbsgedankens (vgl. Süßenbach 2018; Süßenbach/ Gebken 2016). Frohn und Süßenbach (2012) verweisen in Anlehnung an die DSB-SPRINT-Studie (2006) auf den Umstand, dass Jungen Fußball im Sportunterricht deutlich mehr favorisieren als Mädchen. Gleiches gilt für Wettkämpfe, welche Jungen in den Sportspielen schätzen. Besonders die Kommunikation der handelnden Akteur*innen ist in diesem Kontext zur Herstellung einer geschlechtergerechten Unterrichtssituation von enormer Bedeutung (vgl. Kleindienst-Cachay/Kastrup/Cachay 2008), da sich ansonsten soziale Zuschreibungen bzgl. der Geschlechterrollen verstärken (Hartmann-Tews 2003) und in der Folge intendierte Unterschiede zu Hierarchien führen, welche Nachteile für Mädchen im Sportunterricht bedeuten können (Frohn/ Süßenbach 2012). Die geschlechtersensible Inszenierung von Unterricht ist somit als Schlüsselqualifikation von Lehrkräften 147

Steffen Greve

anzusehen (Sobiech 2010). Der Begriff ›geschlechtersensibel‹ im Kontext von (Sport-)Unterricht folgt der theoretischen Verortung, Geschlecht als soziale Konstruktion aufzufassen, was aufgrund der »gendered structure« (Frohn/Süßenbach 2012, S.  4) des Sports im Allgemeinen als stringent anzusehen ist. Probleme ermitteln: Mithilfe des Mediums Sprache konstruiert der Lehrer (bewusst oder unbewusst) Geschlechterrollen. Es werden ausschließlich Jungen angesprochen, Frauen oder Mädchen gibt es in der Mannschaft von Joachim Löw schließlich nicht. Dazu wird der Wettbewerbsgedanke forciert, da in einer Nationalmannschaft nur die besten (in diesem Fall) Spieler einer Nation spielen. Der Text der Email unterstreicht Leistungsnormierung, Konkurrenz und männliche Dominanz im Kontext des anschließend folgenden Unterrichtsgegenstands. Diese Themen sind dem Sport in vielerlei Inszenierungen zumeist immanent und den Schüler*innen häufig durch mediale Präsenz allgegenwärtig. Die aufgezeigte Einführung der Lehrkraft unterstützt diese konstruierten Ungleichheiten zwischen Jungen und Mädchen, was dazu führt, dass die Schüler offensichtlich voller positiver Erwartungen hinsichtlich des folgenden Unterrichts sind, während eine Vielzahl der Schülerinnen (bewusst oder unbewusst) den Jungen den Vortritt lässt und eine eher abwartende oder defensive Rolle einnimmt. Eine abwartende Rolle entspricht dabei wohl auch der äußeren Erwartung, zumindest unternimmt der Lehrer keinerlei Gegenmaßnahmen. Lösungen empfehlen: Auf der unterrichtspraktischen Ebene sollte die Inszenierung des Unterrichtsgegenstandes Fußball geschlechtersensibel erfolgen und keinesfalls die (mehr als latent) vorhandenen Zuschreibungen verstärken. Dafür sollte der Lehrer im vorhandenen Beispiel ebenso die kommende Weltmeisterschaft der Frauen ansprechen und entsprechend die Geschichte verändern. An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass die Nationalmannschaft der Frauen in den vergangenen Jahr148

Kontakttheorie

zehnten deutlich erfolgreicher war als die der Männer. Dieser sportliche Erfolg hat sich allerdings weder monetär noch bzgl. medialer Verbreitung für die Spielerinnen positiv ausgewirkt. Ob diese Umstände Teil einer kritischen Diskussion im Sportunterricht einer vierten Klasse sein können und sollen, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden, diese Fakten sollten der Lehrkraft aber bei der Inszenierung von Unterricht bewusst sein und entsprechend berücksichtigt werden. Das (kritische) Reflektieren von (vorgefertigten) Zuschreibungen über Fähigkeiten und Fertigkeiten von Jungen und Mädchen im Kontext des jeweiligen Unterrichtsgegenstands sollte Bestandteil der Inszenierung sein und von der Lehrkraft im Gespräch mit der Schülergruppe erfolgen. Nach diesem irritierenden Beispiel zum Umgang mit Heterogenität im Sportunterricht wird im nächsten Punkt das gemeinsame Sporttreiben von Menschen mit und ohne Behinderung in den Blick genommen.

Special Olympics Unified – Inklusion im Sport qua System? Special Olympics ist weltweit die größte Sportbewegung für Menschen mit geistiger Behinderung und Mehrfachbehinderung. Eine Bewegung, entstanden in den 1960er Jahren in den USA, gegründet von Eunice Shriver, einer Schwester von John F. Kennedy, deren ältere Schwester Rosemary Kennedy nach einer Lobotomie selbst behindert war (Special Olympics 2018a). In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat die Diskussion resp. die gesellschaftliche Entwicklung in Kombination mit dem gesetzlich verordneten Prozess des Inklusiv-Werdens sämtlicher Bereiche des Lebens (und damit auch der Sportkultur) Special Olympics vor neue Aufgaben gestellt. Das Sportprogramm hat mit dem Unified Sports eine weitere Säule erhalten, die, so wird es in den offiziellen Veröffentlichungen von Special Olympics beschrie149

Steffen Greve

ben, die Zukunft der Bewegung sein soll (Special Olympics 2018) und das Selbstverständnis von Special Olympics als Inklusionsmotor konsolidiert (Special Olympics Deutschland 2018). Im Unified Sports treiben Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam Sport. Dazu werden die Begriffe ›Athlet‹ und ›Partner‹ benutzt (ebd.). Athlet*In ist der oder die mit Behinderung, Partner*in ist der oder die ohne Behinderung. Im Setting Unified Sport kommt es somit zum Kontakt zwischen Menschen mit und ohne Behinderung, was von Special Olympics Deutschland als positives Beispiel von Inklusion dargestellt wird (ebd.). Unter der Perspektive von Cloerkes (2007, 1985) sind die oben angesprochenen positiven Bedingungen in der Regel gegeben. Dies zeigt auch der Image-Film 25 Jahre Special Olympics Deutschland (Special Olympics Deutschland 2016). Dort beschreibt ein Athlet aus einem Basketballteam die Aufgabe der Partner: »Die Partner sollen einfach die Athleten unterstützen, dass wir auch unseren Weg zum Korb machen«. Es sind an dieser Stelle Hierarchien sichtbar, die bereits durch die sprachliche Differenzierung der Statusgruppen Athlet und Partner konstruiert wurden. Greve (2016, 2017) hat an anderer Stelle auf die Probleme hingewiesen, die in solchen Settings entstehen können. Entsprechende Hierarchien, die unreflektiert durch das Regelwerk des Unified Sports konstruiert werden, unterstützen die Haltung des Athleten, dass er als Mensch mit Behinderung auf die Hilfe des Menschen ohne Behinderung angewiesen ist. Diese defizitorientierte Sichtweise auf sich selbst, ist lang erlernt und wird täglich durch die Umwelt, auch und vor allem außerhalb des Sports, erhärtet. Bei der Analyse dieses Falls stellt sich die Frage, was die Menschen ohne Behinderung dazu bewegt, mit Menschen mit Behinderung Sport zu treiben und ein Basketballspiel im Unified Team zu inszenieren, zu spielen. Ist der Sport an dieser Stelle wirklich so multifunktional, wie meist angenommen wird? 150

Kontakttheorie

Kann er Grenzen überwinden, zusammenführen, und sind im Sport doch in bestimmter Art und Weise alle gleich? Und sind alle Teilnehmer mittendrin statt nur dabei, um einmal den Slogan eines Sportfernsehsenders zu gebrauchen. Mittendrin sind Athlet und Partner. Aber sind auch alle mehr als dabei, besonders die Athleten? Es ist davon auszugehen, dass die Partner*innen in diesem Kontext ihre sportliche Leistungsfähigkeit kaum ausschöpfen und sich zurückhalten, was Greve (ebd.) an anderer Stelle ebenfalls zeigen konnte. Inklusion bei Special Olympics Unified heißt an dieser Stelle (erst einmal) »togetherness«, wie Hassan, Dowling, McConkey und Menke (2012, S. 1287) in einer großen Interviewstudie in Europa und den USA herausfanden. Es bleibt aber die Frage, welchen Benefit die Partner haben, ob für sie dieser sportliche Kontakt ein Benefiz-Spiel darstellt? In jedem Fall ist dieses Spiel endlich, die Drop-Out-Raten der Partner sind hoch (Curdt 2014) und die Fluktuation für das Modell kontraproduktiv, eine langfristige Bindung ist für Menschen mit Behinderung enorm wichtig (Schleiffer 2005).

Normatives und Irritationen – Übergreifendes aus den Fällen Die beschriebenen Fälle irritieren die Betrachter, was besonders an (nicht) vorhandenen normativen Setzungen liegt. Vorweg ist zu sagen, dass Sport, in welcher Ausführung oder in welchem Setting auch immer, starke exklusive und selektive Tendenzen schürt, die extrem von der jeweiligen Inszenierung abhängen. Dies ist oftmals auch gewollt, z.B. im Leistungssport. Das erste Beispiel aus dem Schulsport bzw. dem Sportunterricht irritiert daher. Die Norm wäre, dass dort ein durch staatliche Vorgaben definierter Bildungsauftrag verfolgt wird. Dieser kann im Sinne Klafkis (1989) mit Demokratie-Bildung umschrieben werden, und wurde in dieser Szene augenscheinlich nicht umgesetzt. Es wäre allerdings interessant zu wissen, was die Schülerinnen in 151

Steffen Greve

dieser Szene irritiert und tatsächlich bewegt hat, erst einmal sitzen zu bleiben. Im zweiten Fall setzt Special Olympics eine Norm: Unified ist inklusiv. Dem ist auch nicht zu widersprechen, aber die Definition, und dies entspricht auch einer Norm, und die Umsetzung irritieren. Es bleibt die Frage offen, ob Special Olympics den eigenen Anspruch nicht von Beginn an konterkariert, indem das gemeinsame Sporttreiben institutionell hierarchisiert wird, aber dann qua Doktrin inklusiv sein soll. Special Olympics beruft sich darauf, dass diese Unterschiede existieren, was nicht abzustreiten ist und mit der gängigen Sozialisation zusammenhängt (Cloerkes 2007). Die deutsche (Vereins-)Sportkultur ist hinsichtlich Behindertensport und Nicht-Behindertensport strikt getrennt. Der Deutsche Olympische Sportbund auf der einen Seite, der Deutsche Behindertensportverband auf der anderen. Daneben existieren Special Olympics Deutschland und der Deutsche Gehörlosen-Sportverband. Auf dieser Ebene herrscht somit ein institutionalisiertes Nebeneinander, welches bei Special Olympics Unified in Teilen aufgehoben wird. Es wird aber auch offensichtlich, dass Inklusion einen Prozess darstellt, der weiter verfolgt werden muss. Zur Zeit ist Special Olympics Unified eine Möglichkeit der Kontaktaufnahme, was als äußerst positiv zu werten ist. Gleichberechtigt scheinen Partner*innen und Athlet*innen aber eher nicht, die Kategorie Behinderung ist diejenige, welche Hierarchien konstruiert. Für die Entwicklung des Unified-Ansatzes müssen grundsätzliche Überlegungen angestellt werden, wie Sportangebote verändert werden können, damit alle Teilnehmer*innen gleichermaßen gefördert und gefordert werden, um erneut eine Norm anzulegen. Dabei scheint es von enormer Bedeutung, Leistungsbegriffe zu diskutieren und zu verändern und andere Perspektiven im Sport zu betonen. Dies hilft sicher auch der Inszenierung 152

Kontakttheorie

der Sportart Fußball in der Grundschule, um der übermächtigen medialen Vereinnahmung des Sports und der daraus folgenden Reproduktion der verschiedenen Klischees entgegenzutreten. Es ist die große Aufgabe, diese Prozesse in Gang – in Bewegung – zu halten.

Zum Weiterlesen Cloerkes, Günter (2007): Soziologie der Behinderten. Heidelberg: Winter. Greve, Steffen (2016): »Inklusion im Sportverein – Eine nutzenfokussierte Evaluationsstudie am Beispiel von Freiwurf Hamburg e.V.«. In: Zeitschrift für Inklusion 3. Verfügbar unter: https:// www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/ view/386 (zuletzt abgerufen am 25.02.2019). Scherler, Karlheinz (2008): Sportunterricht auswerten. Hamburg: Czwalina.

Literatur Cloerkes, Günter (1985): Einstellung und Verhalten gegenüber Behinderten. Eine kritische Bestandsaufnahme internationaler Forschung. 3., erw. Aufl. Berlin: Marhold. Curdt, Wiebke (2014): »Integration und Sport – Gemeinsamkeiten der Sportler am Beispiel des Special Olympics Unified Sports® – Vielfalt ist gegeben – Gemeinschaft zu erarbeiten«. In: Fachausschuss Wissenschaft, Special Olympics Deutschland e.V. (Hg.). Inklusion in Bewegung. Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam im Sport. Berlin: Sport-Thieme GmbH, S. 55-70. Deutscher Sport-Bund (Hg.) (2006): Sportunterricht in Deutschland – Eine Untersuchung zur Situation des Schulsports in Deutschland. Aachen: Selbstverlag. Frohn, Judith/Süßenbach, Jessica (2012): »Geschlechtersensibler Schulsport – Den unterschiedlichen Bedürfnissen von Mäd-

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Steffen Greve chen und Jungen im Sport mit Genderkompetenz begegnen«. In: sportpädagogik 36, 6, S. 2-7. Giese, Martin (2016): »Inklusive Sportpädagogik. Kritische Überlegungen zu einer anthropologischen Fundierung«. In: Sportwissenschaft 46, 2, S. 102-109. Greve, Steffen (2017): »Freiwurf Hamburg – Qualitative Evaluation eines inklusiven Sportprojekts – ›Weil ich bin ja behindert‹– Inklusives Handeln im Sportverein am Beispiel der Initiative ›Freiwurf Hamburg‹«. In: Andreas Hebbel-Seeger/Thomas Horky/Hans-Jürgen Schulke/Jörg Förster (Hg.). Sport und Stadtentwicklung. 16. Hamburger Symposium für Sport, Ökonomie und Medien 2016. Aachen: Meyer & Meyer, S. 345-367. Hartmann-Tews, Ilse (2003): »Soziale Konstruktion von Geschlecht im Sport. Neue Perspektiven der Geschlechterforschung in der Sportwissenschaft«. In: Ilse Hartmann-Tews/Petra Gieß-Stüber/Marie-Luise Klein/Christa Kleindienst-Cachay/Karen Petry (Hg.). Soziale Konstruktion von Geschlecht im Sport. Opladen: Leske + Budrich, S. 13-27. Hassan, David/Dowling, Sandra/McConkey, Roy/Menke, Sam (2012): »The Inclusion of People with Intellectual Disability in Sport: Lessons from the Youth Unified Sports Programme of Special Olympics«. In: Sport in Society 15, 9, S. 1275-1290. Klafki, Wolfgang (1989): »Gesellschaftliche Funktion und pädagogischer Auftrag der Schule in einer demokratischen Gesellschaft«. In: Karl-Heinz Braun (Hg.). Subjekt – Vernunft – Demokratie. Weinheim: Beltz, S. 4-33. Kleindienst-Cachay, Christa/Kastrup, Valerie/Cachay, Klaus (2008): »Koedukation im Sportunterricht – ernüchternde Realität einer löblichen Idee«. In: Sportunterricht 57, 4, S. 99-104. Schleiffer, Roland (2005): »Bindung und Lernen«. In: Stephan Ellinger/Manfred Wittrock (Hg.). Sonderpädagogik in der Regelschule. Konzepte – Forschung – Praxis. Stuttgart: Kohlhammer, S. 159-177.

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Kontakttheorie Sobiech, Gabriele (2010): »Gender als Schlüsselqualifikation von (Sport-)Lehrkräften«. In: Norbert Fessler/Albrecht Hummel/ Günter Stibbe (Hg.). Handbuch Schulsport. Schorndorf: Hofmann, S. 554-568. Special Olympics (Hg.) (2018): »Go the Extra Distance«. Verfügbar unter: www.playunified.org/about (zuletzt abgerufen am 28.07.2018). Special Olympics (Hg.) (2018a): »Who We Are«. Verfügbar unter: https://www.specialolympics.org/Sections/Who_We_Are/Who_ We_Are.aspx (zuletzt abgerufen am 04.08.2018). Special Olympics Deutschland (Hg.) (2018): »Special Olympics Unified Sports® – Gemeinsam stark«. Verfügbar unter: https://spe cialolympics.de/sport-angebote/sport/special-olympics-uni fied-sportsR/ (zuletzt abgerufen am 02.08.2018). Special Olympics Deutschland (Hg.) (2016): »Image-Film ›25 Jahre Special Olympics Deutschland‹«. Verfügbar unter: https://www. youtube.com/watch?v=B5ZMDBKC2FY (zuletzt abgerufen am 26.11.2016). Süßenbach, Jessica (2018): »Fußball mit und für Mädchen – Fußballunterricht aus der Gender-Perspektive«. In: Grundschule Sport 17, 1, S. 24-27. Süßenbach, Jessica/Gebken, Ulf (2016): »Bildungsarbeit mit Mädchen im Fußball«. In: Der pädagogische Blick, 3, S. 158-169.

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Phänomenologie/Systemtheorie Unentwegt sinnhaftes Bewegen Nikolai Drews

Bewegung als soziologische Kategorie? Wie ist Bewegung soziologisch bestimmbar? Soziolog*innen könnten z.B. untersuchen, wie Menschen sich körperlich bewegen – im Sport, für die Gesundheit oder als Freizeitbeschäftigung. Soziolog*innen könnten auch betrachten, wie sich soziale Akteure im Nah- und Fernverkehr bewegen und wie sie sich dabei auch technisch unterstützt fortbewegen. Dies wären Gegenstände etwa für Sport-, Stadt- oder Techniksoziolog*innen. Generell soziologisch interessant ist es, wie sich Menschen im Alltag bewegen – wie sie sich zu Fuß ihren Weg über einen belebten Marktplatz bahnen oder wie sich Gestik und Mimik darstellt, wenn sie im Gespräch interagieren. Soziolog*innen können dabei auf Gesten und Zeichen achten, die die Interagierenden – mithin unbewusst – nutzen und die für ihre Verständigung bedeutsam oder gar essentiell sind. Bei all diesen Beispielen liegt, bei genauerem Hinsehen, ein physikalisch-räumlicher Begriff des Bewegens zugrunde – sozusagen von Orts- oder Lageveränderungen in der Zeit –, ein gesellschaftlicher Aspekt wird der Betrachtung erst in einem zweiten Schritt hinzugefügt. Wenn man so will, ist der Begriff der (physischen) Bewegung in diesem Fall nur ein Anstoß, bestimmte Gegenstände soziologisch in den Blick zu nehmen. Ähnlich verhält es sich mit den ›sozialen Bewegungen‹ – auch hier wird eine physische Metapher verwendet für die Bestrebungen, sich in eine neue, andere gesellschaftliche Zukunft zu bewegen. Der Versuch, einen Bewegungsbegriff abseits physischer Vorstellungen zu finden, ist schwierig; Metaphern und Bilder halten 157

Nikolai Drews

sich hartnäckig. Dies mag damit zusammenhängen, dass sich uns einerseits der physische Raum mittels Wahrnehmung unablässig aufdrängt und wir andererseits seit frühester Kindheit dadurch in eine entsprechende Welt hineinsozialisiert werden: »[Es] scheint der Raum das Grundmodell für die Entwicklung der Logik zu sein. Am Raum lernt man Logik.« (Luhmann 1984, S.  525) Was ist aber, wenn wir versuchen, uns von einer allzu physischen oder physikalischen Begrifflichkeit zu lösen und einem soziologischen Begriff der Bewegung nachspüren? Der Beitrag geht diese Frage an, indem er den soziologischen Sinnbegriff aufgreift. Die Vorstellung eines sinnhaften Aufbaus des Sozialen und das Wort ›unentwegt‹ helfen anschließend dabei, nachzuvollziehen und zu illustrieren, wie das Soziale eine unausweichliche Dynamik in sich trägt – sich selbst aus sich selbst heraus ständig ›in Bewegung‹ befindet.

Der Pfad der Soziologie Für Menschen, die nicht genau wissen, was Soziologie ist, erweist es sich oft als schwer, diese als Wissenschaft einzuordnen und zu verstehen, worin ihre Relevanz besteht – irgendwo zwischen Psychologie, Philosophie, Ökonomie, Geschichte, Politikwissenschaften und anderen Disziplinen, die sich auch mit der Gesellschaft beschäftigen. Ein Aspekt, anhand dessen ich versuche, Studierenden zu erklären, womit sich Soziologie befasst, ist der, dass es in den meisten soziologischen Theorien und Ansätzen darum geht, auf eine bestimmte Weise aufzulösen, wie einzelne, zumeist flüchtige Handlungen mit dauerhafteren gesellschaftlichen Strukturen zusammenhängen. In manchen Theorien wird dabei dem Ereignis mehr Aufmerksamkeit gewidmet – also vor allem Handlungen, aber auch Kommunikation oder ähnlichem (je nach Theorie). Andere Ansätze betrachten eher die Strukturen – etwa gesellschaftliche Normen, Erwar-

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Phänomenologie/Systemtheorie: »Unentwegt sinnhaftes Bewegen«

tungen, Institutionen, Systeme etc. Spannend ist dabei, wie die Vermittlung der beiden Ebenen theoretisch angestellt wird. Grob gesagt: Einzelne Handlungen (oder Ereignisse) sind beeinflusst von der Struktur – sie orientieren sich an dieser, sind von ihr angeleitet, eingeschränkt oder erzwungen. Man hält sich bspw. im eigenen Tun meist an Verhaltensregeln, die man kennt und für achtenswert hält (klassisch: Dahrendorf 2006). Andererseits beeinflussen die Einzelereignisse ihrerseits die Struktur – sie bestätigen, reproduzieren, verändern, modifizieren diese, lehnen sie durch ein Abweichen ab oder schaffen neue, bisher abwegige Verbindungen. Die Vorstellung ist somit die eines gegenseitigen, mehr oder weniger dynamischen Beeinflussungsverhältnisses zwischen Einzelereignissen und Gesellschaftsstruktur. Dieses Verhältnis lässt sich mit dem Bild eines Pfades illustrieren. Einzelne Entscheidungen und Handlungen lassen wie Schritte einen Pfad entstehen. Jeder neue Schritt hinterlässt eine Spur und tritt damit den Pfad an einer Stelle weiter aus oder verlässt ihn und sucht neue Wege. Manchmal wird der Pfad auf einer Seite mehr genutzt, manchmal auf der anderen. Wenn viele Schritte einen Pfad gut ausgetreten haben, dann ist es einfach, sich an ihm zu orientieren und dort zu gehen, anstatt über freies Feld. Neue Wege sind dagegen unsicherer – man weiß nicht immer, ob man sicher auftreten wird oder gar wohin man gelangt. Dieses Bild von einem Pfad lässt sich noch weiter austreten: Aus Pfaden werden befestigte Straßen – gegebenenfalls mit Straßenverkehrsordnungen – zugleich unterliegen sie durch Schlaglöcher, Erosion des Geländes und anderen Einflüssen ständigem Wandel. Aber ich möchte nicht abschweifen. Auch mit diesem Bild habe ich auf räumliche Vorstellungen und das physische Bewegen durch den Raum zurückgegriffen.

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Ein phänomenologischer Sinnbegriff Was aber genau ist denn das, was sich bewegt oder das, was bewegt wird, wenn es nicht physische Körper sind? Sprich: Was ist dann der Gegenstand der Bewegung? Eine mögliche Antwort auf diese Frage, die uns zu einem soziologischen Bewegungsbegriff jenseits des physikalischen Raums und der metaphorischen Verwendung führt, ist Sinn. Die sozialtheoretische Entscheidung, Sinn als Zentralbegriff zu verwenden, ist wie so vieles in der Soziologie kontingent: Man könnte ebenso mit Begriffen wie Handlung oder Wissen ansetzen. In der Phänomenologie, vor allem nach Husserl, aber auch schon bei Hegel (etwa 1986, S. 31-55) und dann später in der Systemtheorie (Luhmann 1971; Nassehi 2011, Kapitel 2) ist Sinn gefasst als Differenz von Aktualität und Potentialität. D.h., es geht im Moment des sinnhaften Erfahrens aktuell um Etwas – aber alles andere, um das es jetzt gerade nicht geht, bleibt als Potential für anschließende Erfahrungen erhalten. Ein Gedanke aktualisiert einen bestimmten Gegenstand für den Moment des Gedankens und klammert dabei den Rest der Welt aus. Dieser Rest ist aber nicht verloren, sondern verweilt in der Potentialität. Das Ausgeschlossene, das Negierte, ist Teil des Sinnhaften, steht im Hintergrund des Jetzt-nicht-aktuell-Seins. Im nächsten Moment kann die Grenze anders gezogen werden, ein anderer Weltausschnitt wird aktualisiert und verweist durch diese Wahl wieder anderes in die Potentialität des Ausgeschlossenen, aber Möglichen. Sinn unterscheidet, trennt, zieht eine Grenze – worum geht es, was ist unmarked space (Spencer-Brown 1994)? Wir kreieren Sinn im Erfahren aus den vielfachen Möglichkeiten der Welt und verständigen uns darüber. Was wir in unserem Kopf haben, können wir jedoch nicht direkt eins zu eins an Andere übertragen, wir müssen dies kommunikativ, meist sprachlich, vermitteln. Ob das, was der andere dann aufnimmt,

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Phänomenologie/Systemtheorie: »Unentwegt sinnhaftes Bewegen«

dasselbe ist, wie das, was wir meinen, bleibt jedoch in letzter Konsequenz unergründlich. Dies impliziert die Annahme, dass Kommunikation eine eigene Realität hat. Menschen sind zwar eindeutig an ihr beteiligt, können sie aber nicht restlos kontrollieren. Unser Miteinanderabstimmen und somit das, was wir für Wirklichkeit und Wahrheit halten, hat seine eigene Wertigkeit und Logik. Nehmen wir nun aus der Systemtheorie mit, dass diese Kommunikation, die gleichsam zwischen Subjekten emergiert und sich so eigenlogisch selbst fortsetzt, ebenso sinnhaft vonstattengeht wie unser Denken, dann können wir auch hier von sinnhaftem Prozessieren und von Sinnsystemen sprechen. Damit gilt: Bewusstsein und das Soziale teilen sich Sinn als Medium. Aus dieser Perspektive ist also das Soziale selbst ein sinnhafter Zusammenhang und nicht nur die Summe des Interagierens Einzelner. Nimmt man diese theoretische Perspektive ein – was ist dann Bewegung?

Bewegung innerhalb eines Wortes Ausgehend vom Sinnbegriff lässt sich eine interessante Spielerei um das Wort ›unentwegt‹ anstellen, die den angestrebten Begriff der Bewegung illustriert. ›Unentwegt‹ ist ein recht merkwürdiges Wort, nicht nur, weil es ein wenig altmodisch erscheint: Einerseits impliziert es eine gewisse Dauerhaftigkeit, andererseits scheint aus dieser Dauerhaftigkeit eine Dynamik und Unruhe hervor – dies wird deutlich etwa, wenn wir uns jemanden vorstellen, von dem es heißt, er ›arbeite unentwegt‹. Die Wortherkunft verweist darauf, dass das Wort ›unentwegt‹ seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorkommt und gebildet ist als Verneinung von ›entwegt‹, dem Partizip Perfekt des schweizerischen Verbs ›entwegen‹, was mit der Bedeutung ›wegbewegen‹ oder ›vom Fleck bewegen‹ verbunden wird. Dies wiederum kommt vom mittelhochdeutschen ›entwegen‹, das 161

Nikolai Drews

noch eher ›auseinanderbewegen‹ bedeutet, ›Trennen‹ oder ›Scheiden‹ (DWDS 2018). Als Verneinung des Entwegten erscheint das Unentwegte als das Ruhende oder Ruhige. Das Wort funktioniert allerdings nur in seiner Unterscheidung. D.h., ohne das Entwegte kein Unentwegtes – die Unterscheidung zwischen Unentwegtem und Entwegtem ist im Unentwegten selbst schon enthalten. Nehmen wir das Entwegen als einen Begriff für das Trennen, das Unterscheiden, so können wir es uns auch vorstellen als ein sinnhaftes Unterscheiden, eine Selektion aus Möglichkeiten. Das Aktualisieren von Potentialität. Es wird entschieden, welcher Weg eingeschlagen wird. Welcher Sinngehalt wird aktualisiert, welche Möglichkeiten werden damit ausgeschlossen? Dabei überrascht sich jedes Ereignis – sei es nun Gedanke oder Kommunikation – mit jedem Schritt selbst: Was bedeutet der Gedanke? Was bedeutet die Kommunikation? – Erst mit einem weiteren Schritt, der sich wiederum diesem widmet, kann die Frage geklärt werden. Er verstrickt sich gleichsam aber darin, schon der nächste Schritt zu sein. Der Versuch des Festhaltens und des weiteren Eingehens auf das Vorangehende ist schon das nächste Unterscheiden, das nächste Entwegen, die nächste Bewegung im Sinn. Jede sinnhafte Aussage bietet viele Möglichkeiten des Anschlusses – auch hier muss selektiert werden, wie weiter; nur ein Bruchteil kann gewählt werden, vieles fällt erst einmal unter den Tisch der Negation. Das sinnhafte Bewegen rollt oder gar stolpert somit von selbst vor sich hin. Versuchen wir uns ein Anhalten, ein Stillstellen dieser Dynamik vorzustellen: Denken Sie bitte einmal an nichts! Oder um im Soziologisch-Sozialen zu bleiben: In der zwangsläufigen Kopräsenz im Fahrstuhl, in der man versucht, möglichst nicht mit anderen zu interagieren, sagt das 162

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Nichtkommunizieren schon, dass Kommunikation vermieden werden soll, oder es wird zumindest als möglich angenommen, dass das Nichtkommunizieren kommunizieren soll, dass nicht kommuniziert werden soll – »wir können nicht nicht kommunizieren« (Watzlawick/Beavin/Jackson 2011, S.  53). Luhmann spricht bei dieser Konstellation in Anschluss an Talcott Parsons von »doppelter Kontingenz« (Luhmann 1984, Kapitel 3). Mit dieser Vorstellung einer so unentrinnbaren Fortsetzung eines sinnhaften Entwegens oder Bewegens im Kopf, wenden wir noch einmal den Blick auf das Unentwegte: Das Unentwegte stellt dann etwas dar, das oder in dem nicht unterschieden wird. Es ist eine Art unentschiedener Dauerzustand. Der Begriff des Unentwegten erschließt sich nur im Verweis auf sein Gegenteil – selbst bildet sich das Wort ja aus einer Negation. Das Unentwegte ergibt so nur Sinn in der Einheit seiner Differenz zum Entwegen. Die Dauerhaftigkeit, die mit dem Begriff zum Ausdruck gebracht werden soll, liegt dann im unentwegten Entwegen; wenn man so will in der unentwegten Bewegung. Der Begriff verweist in sich auf die Paradoxie, dass eine Dauer, eine Konstanz nur im flüchtigen Ereignis oder im fortgesetzten Fluss flüchtiger Ereignisse vorgestellt oder repräsentiert werden kann. So liegt dann die Existenz des Sozialen in der Differenz imaginierter Dauer und der Ereignishaftigkeit des Operierens. Ein nicht stillstellbares Oszillieren von Sinn.

Unentwegt sinnhaft Wählt man Sinn als soziologische Perspektive, so gerät als Bewegung bereits die Kommunikation selbst in ihrem unentwegten Entwegen in den Blick. Wie kann man darüber hinausgehen? Stellen wir uns Sinnbewegungen als die ruhelose Triebfeder sowohl unserer Gedanken, als auch der gesellschaftlichen Kommunikation vor, so bekommen wir ein Gefühl dafür, wie dynamisch und oft unberechenbar, unkontrollierbar die Gesellschaft 163

Nikolai Drews

in ihrer Praxis ist. Im Erschließen der Welt – ob in Form wissenschaftlicher Wahrheitssuche oder in persönlicher Suche nach ›dem Sinn des Lebens‹ – laufen wir dieser Dynamik mal mehr, mal weniger bewusst hinterher. Die Soziologie trägt dabei ihren kleinen Teil zur Mannigfaltigkeit gesellschaftlicher Prozesse bei, als ihre eigene kleine, unentwegte Sisyphusarbeit unter vielen anderen. Wir müssen uns die Soziolog*in als einen glücklichen Menschen vorstellen. Jegliches sinnhafte Prozessieren, jeder Anschluss von Gedanken an Gedanken und von Kommunikation an Kommunikation aktualisiert etwas Bestimmtes und trägt den Verweis auf mehr in sich. Das Aktuelle und die Potentialität, die zwei Seiten des Sinns, sind unauflöslich miteinander verbunden, wenn Welt erfahren wird. Der inhärente Bruch, die Unvollständigkeit, die Spaltung, die damit verbunden ist, drängt dazu, das Rad weiter zu drehen, den Stein weiter zu rollen, die Bewegung fortzusetzen. »Unentwegt sinnhaftes Bewegen«, dieser Titel fasst die These zusammen, dass das Soziale in sich unruhig und dynamisch ist und ständig dem Drang nach seiner eigenen Fortsetzung folgt. Die Dauerhaftigkeit des Sozialen liegt im unentwegten Entwegen, in der unentwegten Bewegung von Sinn.

Zum Weiterlesen Baraldi, Claudio/Corsi, Giancarlo/Esposito, Elena (1997): GLU: Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Camus, Albert ([1965] 2011): Der Mythos des Sisyphos. Reinbek: Rowohlt. Fuchs, Peter (2004): Der Sinn der Beobachtung. Begriffliche Untersuchungen. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.

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Literatur Dahrendorf, Ralf ([1958] 2006): Homo sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle. Wiesbaden: VS Verlag. Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache (2018). Verfügbar unter: https://www.dwds.de/wb/unentwegt (zuletzt abgerufen am 03.11.2018). Hegel, Georg Wilhelm Friedrich/Moldenhauer, Eva/Michel, Karl Markus (1986): Phänomenologie des Geistes. Werke. Bd. 3. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas (1971): »Sinn als Grundbegriff der Soziologie«. In: Jürgen Habermas/Niklas Luhmann (Hg.). Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung? Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 25-100. Nassehi, Armin (2011): Gesellschaft der Gegenwarten. Berlin: Suhrkamp. Spencer-Brown, George (1994): Laws of Form. Portland: Cognizer Company. Watzlawick, Paul/Beavin, Janet H./Jackson, Don D. (2011): Menschliche Kommunikation: Formen, Störungen, Paradoxien. 12., unveränderte Aufl. Bern: Huber.

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Autorinnen und Autoren Burkart, Günter studierte Soziologie in Frankfurt a.M., wo er 1981 auch promovierte. Seit 1979 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter zunächst in Klagenfurt, dann an der Freien Universität Berlin tätig, wo 1993 die Habilitation erfolgte. Nach einem Forschungsaufenthalt an der University of Pennsylvania in Philadelphia, einer Lehrstuhlvertretung an der Universität Mannheim und einer Professur an der Pädagogischen Hochschule Freiburg (seit 1995) wurde er 1998 Professor für Soziologie an der Universität Lüneburg. Seine Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte sind Kultursoziologie, Familie und Paarbeziehungen, Geschlechterforschung, Individualismus, Technik, Medien und Kultur sowie Methodologie. Jüngste Publikationen: »Soziologie der Paarbeziehung« (2018); »Liebe: Historische Formen und theoretische Zugänge« (2017); »Szenarien und Narrative: Soziologische Familienbilder zwischen individualisierter Vergangenheit und einer ungewissen Zukunft« (2017); »Sprache und Kultur in der Systemtheorie Luhmanns« (2016). Canzler, Weert, geb. 1960, studierte Politische Wissenschaft, Volkswirtschaft und Jura an der Freien Universität Berlin. Er promovierte in Soziologie an der Technischen Universität Berlin und habilitierte sich mit Lehrbefugnis für »Sozialwissenschaftliche Mobilitätsforschung« an der Technischen Universität Dresden. Von 1988 bis 1992 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (IZT) Berlin sowie am Sekretariat für Zukunftsforschung (SFZ) Gelsenkirchen. Seit 1993 arbeitet er als Wissenschaftler am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), seit 1998 ist er zusammen mit Andreas Knie Leiter der »Projektgruppe Mobilität« am WZB und seit 2008 Mitglied der »Forschungsgruppe Wissenschafts167

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politik«. Seit 2013 ist Canzler Sprecher des »Leibniz-Forschungsverbundes Energiewende« und seit 2015 Sprecher der »Themengruppe Energietransformation« der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaften. Seine Forschungsschwerpunkte sind Innovations- und Technologiepolitik, insbesondere (Auto-)Mobilitätsentwicklung und Verkehrspolitik sowie Energiepolitik. Döpking, Lars studierte von 2009-2016 Politikwissenschaft, Soziologie und Geschlechterforschung an der Georg-August-Universität Göttingen. Seit 2016 forscht er am Hamburger Institut für Sozialforschung, ist zur Zeit dort wissenschaftlicher Mitarbeiter, lehrt an der Leuphana Universität Lüneburg und promoviert zur Transformation des italienischen Steuerstaats seit 1946 in fiskal- und politsoziologischer Perspektive. Im Zuge dessen war er im September und Oktober 2017 Forschungsstipendiat am Deutschen Historischen Institut in Rom. Er interessiert sich neben diesem Themenkomplex für Soziologische Theorie, Historische Soziologie sowie Grundfragen sozialwissenschaftlichen Erfahrens, Darstellens und Erklärens. Drews, Nikolai studierte Sozialwissenschaften und empirische Politik- und Sozialforschung an der Universität Stuttgart sowie am Institut d’études politiques in Bordeaux. Seit 2015 beschäftigt er sich an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und anschließend an der Leuphana Universität Lüneburg im Rahmen des Projekts »Reflexive Responsibilisierung. Verantwortung für nachhaltige Entwicklung« mit einer gesellschaftstheoretischen Dissertation zu den Themen Nachhaltigkeit und Tiefseebergbau. Zu den Lehr- und Forschungsschwerpunkten zählen Soziologische Theorie, Systemtheorie, Umweltsoziologie und empirische Sozialforschung.

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Autorinnen und Autoren

Farzin, Sina ist Soziologin. Nach dem Studium in Bochum und Peking folgte die Promotion an der Bremen International Graduate School of Social Scienes mit einer Arbeit zur Rhetorik der Exklusion. Seit 2012 ist sie Juniorprofessorin für Soziologische Theorie an der Universität Hamburg und seit 2013 Principal Investigator und Ko-Direktorin des Forschungsverbundes Fiction Meets Science. Greve, Steffen studierte in Hamburg Lehramt für die Grundund Mittelstufe mit den Fächern Mathe, Deutsch und Sport. Er promovierte 2012 bei Prof. Dr. Claus Krieger an der Universität Hamburg im Arbeitsbereich Bewegung, Spiel und Sport. Anschließend absolvierte er das Referendariat und arbeitete als Lehrer in Hamburg. Seit 2016 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Leuphana Universität Lüneburg im Institut für Bewegung, Sport und Gesundheit bei Prof. Dr. Jessica Süßenbach, wo er ein Habilitationsprojekt zum inklusiven Vereinssport verfolgt. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind Inklusion im Kontext von Bewegung, Spiel und Sport, digitale Medien im Sport, empirische Schulsportforschung und Professionalisierung angehender Sportlehrkräfte. Henkel, Anna ist Professorin für Kultur- und Mediensoziologie an der Leuphana Universität Lüneburg. Zuvor war sie Juniorprofessorin für Sozialtheorie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und promovierte nach einem Studium der Ökonomie zur »Soziologie des Pharmazeutischen«. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der soziologischen Theorie sowie der Wissens-, Materialitäts- und Nachhaltigkeitsforschung. Sie verbindet gesellschaftstheoretische Perspektiven mit empirischer Forschung, etwa bei der Frage nach dem Wandel von Verantwortungsverhältnissen. Sozialtheoretisches Denken zum

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Verstehen und Erklären sozialer Tatsachen zu nutzen, ist ihr zentrales Anliegen. Hobuß, Steffi ist Philosophin und seit 2017 akademische Leiterin des Leuphana College. Davor war sie in der Fakultät Kulturwissenschaften der Leuphana Universität Lüneburg in Forschung und Lehre (Philosophie und Kulturwissenschaften) und als Prodekanin für Internationalisierung tätig. Ihre Forschungsinteressen sind Philosophie der Bildung, Memory Studies, Theorie der visuellen Wahrnehmung, Sprachphilosophie und Postkoloniale Theorie..Aktuelle Publikationen (Auswahl): mit Ina KhiariLoch/Moez Maataoui (Hg.): Tunesische Transformationen. Feminismus – Geschlechterverhältnisse – Kultur. Tunesischdeutsche Perspektiven. Bielefeld: transcript, erscheint Frühjahr 2019; Sorge im Kontext einer neuen Ontologie der Körper. In: Anna. Henkel et. al. (Hg.). Sorget nicht! Kritik der Sorge. Baden-Baden: Nomos, im Druck; Memory, Contradictions and Resignification of Colonial Imagery in »My Heart of Darkness«. In: Steffi Hobuß/Benedikt Jager (Hg.). (Post)Colonial Histories: Trauma, Memory and Reconciliation in the Context of the Angolan Civil War. Bielefeld 2017:transcript. In Vorbereitung sind Aufsätze zu den Themen Humanismus und Bildung sowie eine Studie zur Visuellen Wahrnehmung bei Platon und Aristoteles.  Klaut, Manuela studierte Verwaltungsökonomie in Halberstadt und Medienkultur in Weimar. Sie organisierte 2012 (gemeinsam mit Fabian Steinhauer) das erste Festival des nacherzählten Falls, ist Herausgeberin des »Kinohefts« und der »1.2.3.« (Semesterschrift für interdisziplinäre Forschung). Sie war von 2010 bis 2013 Stipendiatin an der Bauhaus-Universität Weimar mit dem Dissertationsprojekt »Die Logik und Poetik des juristischen Falls«. Seit Oktober 2013 arbeitet sie am Institut für Kultur

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Autorinnen und Autoren

und Ästhetik Digitaler Medien (ICAM) der Leuphana Universität Lüneburg als wissenschaftliche Mitarbeiterin. Samland, Ute studierte Soziologie technikwissenschaftlicher Richtung an der Technischen Universität in Berlin. Seit 2016 ist sie beschäftigt im interdisziplinären Projekt »NEMo – nachhaltige Erfüllung von Mobilitätsbedürfnissen im ländlichen Raum« zunächst an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und später an der Leuphana Universität Lüneburg. Im Rahmen ihres Promotionsprojektes befasst sie sich mit den Themen Mobilität im ländlichen Raum, Nachhaltigkeit sowie zivilgesellschaftliches Engagement. Wendt, Björn studierte von 2005-2011 Soziologie und Politikwissenschaft an der Universität Münster, wo er von 2012-2017 zum Thema »Nachhaltigkeit als Utopie« promovierte und zurzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie tätig ist. Er ist Mitherausgeber der Beitragsreihe »Soziologie und Nachhaltigkeit – Beiträge zur sozial-ökologischen Transformationsforschung« und Mitglied des DFG-Netzwerkes »Soziologie der Nachhaltigkeit«. Seine Lehr- und Forschungsgebiete sind Utopieforschung und Wissenssoziologie, Elitensoziologie und Machtstrukturforschung, Protest- und Bewegungsforschung sowie Umweltsoziologie und Soziologie der Nachhaltigkeit. Werner, Melanie studierte an der Universität Trier Erziehungswissenschaften und war anschließend in der antirassistischen Bildungsarbeit und in der Jugendarbeit tätig. Seit 2008 ist sie Mitarbeiterin im Arbeitsbereich »Soziale Arbeit plus« an der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften der Technischen Hochschule Köln. 2016 erhielt sie eine Förderung über das Mathilde-von-Mevissen-Programm der TH Köln und promoviert zum Verhältnis von Sozialer Arbeit zu sozialen Bewegungen. 171

Soziologie Juliane Karakayali, Bernd Kasparek (Hg.)

movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Jg. 4, Heft 2/2018

Februar 2019, 246 S., kart. 24,99 €(DE), 978-3-8376-4474-6

Sybille Bauriedl, Anke Strüver (Hg.)

Smart City – Kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten 2018, 364 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4336-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4336-1 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4336-7

Weert Canzler, Andreas Knie, Lisa Ruhrort, Christian Scherf

Erloschene Liebe? Das Auto in der Verkehrswende Soziologische Deutungen 2018, 174 S., kart., zahlr. Abb. 19,99 € (DE), 978-3-8376-4568-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4568-6 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4568-2

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Soziologie Gianna Behrendt, Anna Henkel (Hg.)

10 Minuten Soziologie: Fakten 2018, 166 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4362-6 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4362-0

Heike Delitz

Kollektive Identitäten 2018, 160 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3724-3 E-Book: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3724-7

Anna Henkel (Hg.)

10 Minuten Soziologie: Materialität 2018, 122 S., kart. 15,99 € (DE), 978-3-8376-4073-1 E-Book: 13,99 €(DE), ISBN 978-3-8394-4073-5

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