Zwischen Wirtschaft und Staat: Aus den Lebenserinnerungen [Reprint 2016 ed.] 9783111509396, 9783111142104

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Zwischen Wirtschaft und Staat: Aus den Lebenserinnerungen [Reprint 2016 ed.]
 9783111509396, 9783111142104

Table of contents :
Inhalt
I. Jugendzeit und Hochschulstudium
II. Referendarzeit und Habilitation
III. Die Professur an der Handelshochschule Köln (1904–1914)
IV. Die Studienreisen durch Sibirien und Westrußland (1910 und 1912)
V. Der Weltkrieg
VI. Der Dienst in der Abteilung für Außenhandelsförderung des Auswärtigen Amtes (1918–1921)
VII. Als Vertreter der Reichsregierung in Moskau (1921–1922)
VIII. Auszüge aus den Moskauer Briefen an meine Frau
IX. Die Professur an der Universität Leipzig (1923–1936)
X. Die Nachkriegsprobleme
Anhang
Kurt Wiedenfeld an der Handelshochschule Köln (1904–1914)
Erinnerungen aus Wiedenfelds Leipziger Zeit (1923–1936)
Kurt Wiedenfeld als Nationalökonom
Bibliographie (Bücher und Aufsätze)
Register

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Zwischen Wirtschaft und Staat

aus den Lebenserinnerungen von

Kurt Wiedenfeld

Walter de Gruyter & Co. vormals G. J. Göschen'sehe Verlagsanatalt — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer — Karl J. Trübner —Veit & Comp.

Berlin 1960

aus dem nachgelassenen Manuskript Kurt Wiedenfelds herausgegeben

von

Friedrich Bülow

© Ar&iv-Nr. 476060 Printed in Germany. — Copyright 1960 by Walter de Gruyter & Co. — Alle Rechte des Nachdrucks, der photomedianischen Wiedergabe, der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, audi auszugsweise, vorbehalten. Herstellung Deutsche Zentraldruckerei AG, Berlin SW 61

Inhalt Seite

I. Jugendzeit und Hochschulstudium 1. Die Jugend 2. Das Studium und die Proniotion zum Dr. jur

II. Referendarzeit und Habilitation 1. 2. 3. 4.

Die Die Die Die

Referendarzeit ersten Veröffentlichungen und Studienreisen ersten Stellungen Habilitation und Berufung nach Posen

III. Die Professur an der Handelsho&schule Köln (1904—1914) 1. 2. 3. 4. 5.

Die Aufgabe der HH und die Eigenart der Studentenschaft Die Forschungstätigkeit Das Museum für Handel und Industrie Mitglied des Vereins für Socialpolitik Die Berufung an die Universität Halle

IV. Die Studienreisen durch Sibirien und Westrußland (1910 und 1912) 1. Sibirien (Anlaß und Verlauf der Reise, das Klima, Bahn und Ströme, die Steppenfahrten) 2. Die primitiven Seiten des sibirischen Wirtschaftslebens (Nomadenwirtschaft, Bergwerke, Verarbeitungsbetriebe) 3. Die Kulturelemente (Großstädte, die Verbannten, Siedlungssteppe, Kosaken, deutsche Bauern) 4. Der Ural — eine Grenze Europas?

V. Der Weltkrieg 1. Die Mitgliedschaft in den wissenschaftlichen Kommissionen des Generalgouvernements Belgien (1915) und des preußischen Kriegsministeriums (1915-1918) 2. Mein Eintritt in die Kriegsrohstoffabteilung (KRA) des preußischen Kriegsministeriums (1916) 3. Die Eigenart der Preisfestsetzungen 4. Die Anfänge der Inflation 5. Der Streit um die Kirchanglo&en 6. Die Kriegsvorträge 7. Der Gesamteindrudi

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VI. Der Dienst in der Abteilung für Außenhandelsförderung des Auswärtigen Amtes (1918—1921) 1. Die neue Abteilung f ü r Außenhandelsförderung (mein Übertritt ins AA, die Aufgaben) 2. Die Organisation der Abteilung (die Referate, die Zweigstellen, der Verwaltungsrat) 3. Der Eildienst und die anderen Quellen der Abteilungseinnahmen 4. Die Auflösung der Abteilung 5. Das Sondererlebnis des Kapp-Putsches

VII. Als Vertreter der Reichsregierung in Moskau (1921—1922) 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Die Besonderheit der Stellung Die Vorbereitung (die Ausreise, die Wohnfrage, die Lebensform) Der Verkehr mit russischen Amtsstellen und deutschen Besuchern . . . . Die wirtschaftlichen Verhältnisse Der Rapallo-Vertrag Mein späteres Verhältnis zum Auswärtigen Amt

VIII. Auszüge aus den Moskauer Briefen an meine Frau IX. Die Professur an der Universität Leipzig (1923—1936) 1. 2. 3. 4.

Die Lehrtätigkeit Die Unternehmer-Erforschung Die Erforschung weltwirtschaftlicher Zusammenhänge Einige Sondererlebnisse der Leipziger Zeit

X. Die Nachkriegsproblerne 1. Die Wandlungen im Aufbau der deutschen Industrie 2. Das Arbeiter-Unternehmer-Verhältnis 3. Die Lebenshaltung

Anhang Kurt Wiedenfeld an der Handelshochschule Köln (1904-1914) von Bruno Rogowski Erinnerungen aus Wiedenfelds Leipziger Zeit (1923—1936) von Erich Dittrich Kurt Wiedenfeld als Nationalökonom von Friedrich Bülow Bibliographie (Bücher und Aufsätze) Register

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I.

Jugendzeit und Hochschulstudium 1. Die Jugend

In Berlin am 30. September 1871 geboren und im 12. Lebensjahr nach Erfurt verpflanzt, habe ich als Sohn eines höheren Eisenbahnbeamten die J u g e n d bis zum zwanzigsten Jahre meines Lebens ständig in Wohnungen verbracht, deren Gärten unmittelbar an eine Eisenbahn stießen. So hat sich mein Interesse früh auf alles gerichtet, was auf den Schienen sich abspielte; es wurde z. B. zum Sport der Kinderjahre, die Namen zu sammeln, mit denen damals die Lokomotiven bezeichnet zu werden pflegten, und nach den Fahrplänen der Personenzüge teilten wir die Freizeit ein. In Berlin habe ich nach einer privaten Vorschule das Askanische Gymnasium besucht, das ganz neu eingerichtet worden war und nach der Art der Reichshauptstadt schon an die ersten Schuljahre verhältnismäßig hohe Anforderungen stellte. So konnte es dahin kommen, daß ich in der Untertertia, mit der ich im Frühjahr 1883 in Erfurt den Besuch des dortigen humanistischen Gymnasiums begann, — außer im Griechisch, das auch in der Berliner Quarta noch nicht gelehrt wurde — in keinem Fach etwas Neues lernte. Erfurt ist mir dann zur Heimatstadt geworden, in der ich auch im Frühjahr 1889 — reichlich jung — das Abiturium bestanden habe. Was sollte nach dem Verlassen der Schule aus mir werden? Welchem B e r u f sollte ich mich zuwenden? Das war eine Frage, für deren Entscheidung ich mit meinen 17 Jahren noch längst nicht reif war. Ich hatte mich zwar seit geraumer Zeit schon in den Gedanken eingelebt, nach 1 Wiedenfeld, Zwischen Wirtschaft und Staat

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I. Jugendzeit und Hochschulstudium

dem Abitur als Kaufmann in den Betrieb eines Verwandten meines Vaters in New York einzutreten und deshalb auch eifrig an dem fakultativen Unterricht der englischen Sprache teilgenommen. Ich war jedoch nicht unglücklich, als sich dies während der letzten Schulzeit zerschlug, weil meine Eltern es allzu bedenklich fanden, mich so jung nach Amerika gehen zu lassen und dort in die Obhut jenes Verwandten zu geben, der als Strohwitwer keinen eigenen Haushalt führte und gerade der Ausbildung wegen seine Frau mit den Kindern in Deutschland leben ließ. Audi der nunmehr verfolgte Plan, mich Pionieroffizier werden zu lassen, zerschlug sich nach einem Jahr, weil ich wegen meines damals schwächlichen Körpers in mehrfacher Untersuchung untauglich befunden wurde — wie ich einige Jahre später aus eben diesem Grunde zum einjährigfreiwilligen Dienst nicht angenommen wurde.

2.

Das Studium und die Promotion zum Dr. jur.

Zwischen diesen Untersuchungen hatte ich mich zur Stärkung meines Körpers f ü r ein Semester nach Lausanne begeben und dort als Jurist immatrikulieren lassen. So lag es nahe, mich nach dieser schönen Zeit zunächst in München, dann namentlich in Leipzig ganz dem Studium der Rechts- und Staatswissenschaften zu widmen, wobei ich besonders an den Vorlesungen über Staatsrecht und Volkswirtschaftslehre ein starkes Interesse gewann. Das lag z. T. an den Gegenständen, mehr aber an dem freien und dadurch sehr eindrucksvollen Vortrag der Dozenten. Das waren in Leipzig vor allem der Jurist Binding und der Nationalökonom Brentano, deren Vorlesungen ich regelmäßig besucht habe. Diese Erfahrung habe ich später als Dozent mir selbst zunutze gemacht: nur die erste meiner Vorlesungen, die ich als Privatdozent in Berlin gehalten habe, wagte ich noch nicht in freiem Vortrag zu bringen, habe sie vielmehr wörtlich niedergeschrieben und auch fast vollständig abgelesen; f ü r alle folgenden Vorlesungen habe ich immer nur ein paar Zettel für die einzelnen Stunden vorbereitet, um mich an der allgemeinen Disposition des Stoffes festzuhalten, dann aber ganz frei gesprochen. Den hiermit verbundenen Nachteil habe ich allerdings auch zu spüren be-

2. Das Studium und die Promotion

zum Dr. jur.

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kommen; ich konnte mit meinen Zetteln nicht einfach aus irgendeiner anderen Arbeit heraus auf das Katheder steigen, mußte midi vielmehr jedesmal wieder gründlich vorbereiten. Diese Arbeit hat jedoch ihre Belohnung in den Erfolgen gefunden, die ich an den verschiedenen Hochschulen bei der Studentenschaft verzeichnen darf. In Leipzig habe ich mich, dem Rat eines älteren Freundes folgend, in das Proseminar von Lujo Brentano aufnehmen lassen und so Gelegenheit erhalten, etwas tiefer in die Volkswirtschaftslehre einzudringen. Ich habe auch ein Referat über ein soeben erschienenes großes Werk gehalten, das vom Geld- und Bankwesen handelte. Hierauf gestützt, bin ich in Berlin in das handelsrechtliche Seminar des großen Handelsrechtlers Goldschmidt aufgenommen worden und habe dort, wie auch später als Referendar, in mehreren Seminaren der Universität mich am Halten von Referaten und an den Erörterungen lebhaft beteiligt, bis ich des bevorstehenden Assessorexamens wegen mich wieder stärker der Juristerei zuwenden mußte. In B e r 1 i n habe ich von den juristischen Vorlesungen ungleich mehr Anregung als in Leipzig gewonnen. Der Handelsrechtler Goldschmidt füllte zwar die Stunden seines Kollegs restlos mit dem Diktieren seiner Ausarbeitung in solchem Tempo aus, daß wir Hörer nur gedankenlos nachschreiben konnten; einige Freunde und ich wechselten sogar im Besuch dieser Vorlesungen ab, schrieben dann zu Hause das Diktierte voneinander ab. Das Lehrbuch, das wir auf diese Weise erhielten, brachte jedoch so viel Verbindung mit dem wirklichen Leben, daß eine Durcharbeitung gerade mir, der ich in Leipzig diesen Zusammenhang so stark vermißt hatte, zu großer Freude wurde und mir das bislang fehlende Interesse am Zivilrecht brachte. Audi Dernburgs Vorlesungen über die Grundzüge des allgemeinen Privatrechts fesselten midi dank demselben Zusammenhang so kräftig, daß ich auch bei ihm ein regelmäßiger Besucher seiner Vorlesungen wurde. So war ich vollends für das Seminar Goldschmidt gut vorbereitet, und dies brachte in meinem letzten Semester die Krönung meines juristischen Studiums. Für meine Arbeit stellte mir Goldschmidt die für seine Art kennzeichnende Wahl, ob ich das von mir gewünschte Scheckwesen nach dem bestehenden Recht oder aber unter dem Gesichtspunkt eines neuen Scheckgesetzes behandeln wollte. Meiner ganzen Natur nach wählte ich das Letztere. Und wenn-

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I. Jugendzeit und Hochschulstudium

gleich ich schon damals überzeugt war, daß das Reichsjustizamt in meinen Darlegungen, selbst wenn es sie kennengelernt hätte, schwerlich etwas Neues und für das vorzubereitende Gesetz Brauchbares finden würde, so war es mir doch eine besonders schöne und befriedigende Aufgabe, mich einmal selbst in den Zusammenhang zwischen Recht und Wirtschaft an einem Sonderfall einzuarbeiten und daraus einige Folgerungen zu ziehen. Ich hatte auch die Freude, daß Goldschmidt ein günstiges Urteil unter meine Arbeit setzte, so daß ich sie der Meldung zum Referendar-Examen beifügen konnte. Den A b s c h l u ß des juristischen Studiums hat für mich ein Repetitorium gebracht, an dem ich im letzten Semester teilnahm. Auch hierin hatte ich das Glück, im ganz kleinen Kreise von nur sechs Teilnehmern ganz vorzüglich über das Gesamtgebiet des Rechtes einen Überblick zu erhalten und hierbei auch meiner Neigung zu praktischer Verbindung der rechtlichen und wirtschaftlichen Erscheinungen freien Spielraum lassen zu können. Im Juni 1892 habe ich am Oberlandesgericht Kassel die Referendarprüfung bestanden. Meine Hausarbeit zur Referendarprüfung hatte einen praktischen Fall zu behandeln, der so stark theoretisch durchsetzt war, daß ich eine der Fragen in entsprechender Erweiterung und Vertiefung zum Gegenstand meiner juristischen Dissertation nehmen konnte. Da es in Leipzig zulässig war, habe ich vor deren Ablieferung im Oktober 1892 das Rigorosum bestanden und dann für die Gesamtleistung das Prädikat „magna cum laude" erhalten. Das goldene Diplom ist mir nach 50 Jahren von der Fakultät verliehen worden. Den Ehrendoktor (Dr. oec. h. c.) habe ich von der Handels-Hochschule Königsberg zu meinem 60-Jahrtag (1931) erhalten.

II.

Referendarzeit und Habilitation 1.

Die

Referendarzeit

Als erste Station meiner amtlichen Ausbildung ist mir das Amtsgericht T r e y s a angewiesen worden. Als ich midi beim Oberlandesgerichtspräsidenten dafür abmeldete, sagte er mir: er schicke midi zum besten Ausbilder seines Bezirks, weil der gerade keinen Referendar habe; wenn ich dort nichts lernte, dann hätte ich mir allein die Schuld zuzuschreiben, und nie würde ich ein tüchtiger Jurist werden. Diese Mahnung hat sich im höchsten Sinne des Wortes bewahrheitet. In den neun Monaten meiner ersten Station habe ich sogar weit über das Juristische hinaus menschlidi von meinem Amtsrichter Mahrenholtz lebenswichtige Förderung erfahren und eine Ausweitung meines Gesichtskreises, die diesen mit völlig neuen Eindrücken und neuem Wissen erfüllte. Aus Treysa und dem Bezirk des Oberlandesgerichts Kassel bin ich zwecks weiterer Ausbildung im März 1893 in den des K a m m e r g e r i c h t s überwiesen worden, weil inzwischen meine Eltern nach Berlin verzogen waren. Das Landgericht II, bei dem ich beschäftigt wurde, galt in der Rechtswelt der Hauptstadt als das „Gardegericht". Ihm wurden nur diejenigen Referendare zugewiesen, deren Väter entweder höhere Beamte oder Großgrundbesitzer oder sonstige Prominente des Wirtschaftslebens oder der Politik waren. Selbst die Söhne von Großkaufleuten oder wenig bekannten Unternehmern wurden dem Landgericht I zugewiesen, das auch

II. Referendarzeit und Habilitation

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alle Referendare sonstiger, namentlich auch jüdischer Abstammung aufzunehmen hatte. — Aus der folgenden Station, der Staatsanwaltschaft, ist mir ein Prozeß

in

lebhafter

Erinnerung:

die

Verhandlung

gegen

Maximilian

Harden, den Herausgeber der damals weit verbreiteten Zeitschrift „Die Zukunft", wegen Majestätsbeleidigung,

die in dem Aufsatz

„König

Phaeton" bestehen sollte. Der Staatsanwalt, dem ich zur Ausbildung zugewiesen war, nahm mich als Zuhörer in die Verhandlung mit, in welcher der Erste Staatsanwalt selbst die Anklage vertrat. E r war von der Rede seines Vorgesetzten sehr begeistert und erwartete mit Bestimmtheit die Verurteilung Hardens. Nun hatten wir in der vordersten Reihe des Publikums unsere Plätze eingenommen, die Richter also gut beobachten können. Da ich diese von meiner Strafkammer-Tätigkeit her zumeist kannte, hatte ich aus ihren Mienen das Gegenteil herausgelesen; der E r s t e Staatsanwalt hatte im typischen Ton und Stil eines Korpsstudenten gesprochen, auf die allgemeine Stimmung Berliner Richter nicht genügend Rücksicht genommen, während Harden selbst und sein damals sehr berühmter Verteidiger, Rechtsanwalt Friedmann, in höchst geschickter Weise jede Absicht einer Majestätsbeleidigung bestritten. Mein Staatsanwalt kannte dagegen, da erst vor kurzem aus der Provinz nach Berlin versetzt, das dortige Mileu noch nicht so genau wie ich und glaubte mir daher nicht. Tatsächlich wurde aber Harden freigesprochen, obwohl ganz deutlich zutage trat, daß er den Kaiser, der damals ( 1 8 9 4 ) mit seinem Auftreten in weitesten Kreisen Deutschlands starken Unwillen erregte, mit Phaeton hatte treffen wollen; nur die Form, in der dies nach Hardens bekannter Art geschehen war, machte die Freisprechung möglich. Mein Staatsanwalt,

der referatmäßig die

Anklage hätte vertreten sollen, konnte nur schwer vor mir seine Genugtuung verbergen; er brachte aber alsbald bei der ganzen Behörde in Umlauf, daß ich ihm dies Ergebnis gegen seine Meinung vorausgesagt hätte, und ich konnte nun teils ironisdie, teils ehrliche Glückwünsche ob solcher „Menschenkenntnis" in Empfang nehmen. Beim Kammergericht als letzter Ausbildungsstation habe ich die Beschäftigung mit der Volkswirtschaftslehre ruhen lassen und mich wieder in die Juristerei vertieft.

Das wurde mir dadurch erleichtert,

daß ich einem handelsrechtlichen Senat zugewiesen wurde und hier

1. Die

Referendarzeit

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wieder eine gründliche Ausbildung erfuhr. Jetzt galt es mit allem Nachdruck die im vorbereitenden Votum begründete und etwa vom Referenten beanstandete Meinung wirksam zu vertreten. Da konnte es sich ereignen, daß ich einmal dem bekannten Verfasser eines vielgebrauchten Buches vom Handelsrecht, dem Geh. Justizrat Kayßner, so lange widersprechen, durfte, bis er das Handelsgesetzbuch bringen ließ und dann zugab, im Unrecht zu sein. So etwas lohnte die Arbeit und spornte an. Der Vorfall hat mir sogar in der Assessorprüfung noch erheblich genutzt: Kayßner war unter meinen Prüfenden und hat mich nicht nur sehr wohlwollend gefragt, sondern danach im Senat hervorgehoben, ich hätte mit derselben Bestimmtheit wie s. Zt. ihm gegenüber meine Ansichten vertreten und so das Prädikat gut verdient. Neben der Beschäftigung im Senat gab es aber beim Kammergericht auch noch eine Art Seminar unter der Leitung eines Kammergerichtsrates, der später an das Reichsgericht berufen worden ist. Was uns dort geboten wurde, war im hohen Grade wertvoll; es stellte nicht nur an das juristische Denken große Anforderungen, sondern erweiterte auch durch die Mannigfaltigkeit der behandelten Fälle erheblich die Kenntnis vom Zusammenhange des Rechts mit dem Leben. Leider entsprach jedoch die Erörterung der aufgeworfenen Probleme nur selten dieser Höhe. Die meisten Teilnehmer fühlten sich durch die autoritative Stellung des Leiters bedrückt und kamen mit der Sprache nicht heraus. Das eigentliche Ziel, Ablenkung vom Repetitor, konnte daher nicht gut erreicht werden; wurde doch sogar im Assessorexamen regelmäßig vom Gedächtnis und positiven Wissen der Kandidaten allzuviel verlangt, als daß gerade ein gutes Seminar darauf hätte vorbereiten können, und dieses war doch für die Teilnehmer in der letzten Station kurz vor dem Examen ihr wichtigstes Anliegen. Über das Gesamt meiner juristischen Ausbildung kann ich das Urteil dahin zusammenfassen, daß ich in meiner späteren Laufbahn als Lehrer der Wissenschaft vom Wirtschaftsleben den Wert dieser Grundlage sehr hoch zu schätzen gelernt und nicht zuletzt dank den hierbei gewonnenen Erfahrungen großen Wert darauf gelegt habe, sowohl mir selbst eine möglichst weitgehende Kenntnis von den Tatsachen des Lebens und ein gut fundiertes Urteil über die Kausalzusammenhänge zwischen Wirtschaft und Recht zu verschaffen, als auch in meinen

IL Referendarzeit und Habilitation

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Vorlesungen und Übungen den Teilnehmern die Wirklichkeit und ihr Verhältnis zur wissenschaftlichen Theorie nahezubringen. Ich habe also nicht bedauert, daß ich entgegen meinem damaligen Wunsche durch äußere Umstände verhindert worden bin, vorzeitig den Referendar an den Nagel zu hängen und mich allein der Volkswirtschaftslehre zu widmen. Nach dem Examen, das ich am 21. November 1896 bestanden habe, bin ich allerdings dem juristischen Dienst untreu geworden und nicht einen Tag länger in ihm geblieben.

2.

Die ersten

Veröffentlichungen

und

Studienreisen

Den Weg zur Habilitation hatte ich mir durch jene Vorlesungen und Seminare vorbereitet, die ich in Leipzig als Student, in Berlin als Referendar und Assessor mehrere Jahre besucht habe. Schon im Jahre 1894 habe ich meine e r s t e w i s s e n s c h a f t l i c h e A r b e i t in „(Jonrads Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik" veröffentlichen können; sie hat den Aufbau des deutschen Getreidehandels zum Gegenstand gehabt. Diese Arbeit habe ich mir selbet gewählt, nachdem ich im Sommer für Professor Sering, den Vertreter der Volkswirtschaftslehre an der Landwirtschaftlichen Hochschule in Berlin und außerordentlichen Professor an der Universität, in dessen Seminar an Hand der Statistik die Ein- und Ausfuhr landwirtschaftlicher Erzeugnisse und die Entwicklung von deren Preisen f ü r Deutschland bearbeitet hatte, ständig von ihm beraten. Hierbei hatte ich in die sehr umfangreichen Materialien der „Börsen-Enquetekommission" einen Einblick tun können und gefunden, daß es noch an einer wissenschaftlichen Behandlung der Beziehungen fehlte, in denen der Getreidehandel zu der Produktenbörse stand. Da ein mir nahestehender Verwandter als Direktor des Verbandes Deutscher Müller mit seinen reichen Erfahrungen mir zur Seite stand und mich auch mit anderen Praktikern verband, konnte ich bereits in dieser ersten wissenschaftlichen Arbeit den Weg betreten, dem ich dann später grundsätzlich gefolgt bin: aus dem Studium der tatsächlichen Verhältnisse diese in ihren ursächlichen Zusammenhängen und ihrem volkswirtschaftlichen Wesen zu erkennen und so zu einem

2. Die ersten Veröffentlichungen

und

Studienreisen

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allgemeinen Bilde zusammenzufassen. Dem Ausbau der verschiedenen Wirtschaftszweige als der Unterlage ihrer wirtschaftlichen und sozialen Bedeutung habe ich stets besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Meiner ersten Veröffentlichung habe ich zu verdanken, daß ich zur Mitarbeit am Handwörterbuch der ßtaatswissenschaften durch dessen leitenden Herausgeber, Prof. Johannes Conrad von der Universität Halle, alsbald herangezogen worden bin. In die Referendarzeit fällt auch bereits eine größere F o r s c h u n g s r e i s e , die mich d u r c h g a n z D e u t s c h l a n d geführt hat. Mir war aufgefallen, daß man noch gar nichts von der Art und Weise wußte, mit der die Landwirte ihr Getreide in den Handel einschalteten. Mein Lehrer Sering schlug mir nun vor, darüber an Ort und Stelle persönliche Untersuchungen anzustellen, und vermittelte mir auch beim preußischen Ministerium für Landwirtschaft ein Reisestipendium, das mir die Ausführung des Vorschlages ermöglicht hat. Auf dieser Reise habe ich bei Großlandwirten und Bauern, bei Getreidehändlern und Mühlenleitern allenthalben reiche Auskunft erhalten und daneben die Eigenart der verschiedenen Landschaften und ihrer Bewohner gut kennengelernt. Mit dieser Studienreise hat sich ein sehr merkwürdiges, die politische Lage jener Zeit kennzeichnendes Erlebnis verbunden. Ich saß am Allerseelentage des Jahres 1894 eines Abends, auf meinen Zug nacäi Koblenz wartend, im Warteraum des Bahnhofs Trier und sah allerhand Zeitungen durch. Plötzlich stieß ich auf einen Leitaufsatz mit dem Titel „Ein Referendar als Ministerstürzer" und merkte bald, daß der Artikel sich mit mir beschäftigte. Es ergab sich folgender Zusammenhang: Icäi hatte in Hinterpommern mit mehreren Großlandwirten nach brieflicher Vorbereitung die entsprechenden Unterhaltungen gehabt, hierbei selbstverständlich mich immer als Referendar und mit einer wissenschaftlichen Untersuchung betraut eingeführt. Einer dieser Herren hatte mir eine breitere Unterlage der Erkundung verschaffen wollen und eine größere Anzahl von Landwirten zu einer Besprechung eingeladen, die — ohne mein Wissen — einen Regierungsassessor als Kommissar des Landwirtschaftsministers über die Zustände der Landwirtschaft unterrichten sollte; ich mußte mich begnügen, zu Beginn der Sitzung die Herren über das Unrichtige dieser Begründung aufzuklären. Einige Tage darauf

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IL Referendarzeit und

Habilitation

hat mich in Stettin der Präsident der Handelskammer, mit dessen Sohn ich in Leipzig zusammen studiert hatte, persönlich durch die dortige Börse geführt, was bei den Börsenbesuchern ein gewisses Aufsehen hervorrief. Diese beiden Vorgänge waren, wie ich jetzt aus jenem Artikel erfuhr, in der Kreuzzeitung zu einem scharfen Angriff auf den damaligen Reichskanzler v. Caprivi und den preußischen Landwirtschaftsminister v. Heyden ausgenutzt worden: man sehe jetzt, welch geringes Interesse die leitenden Minister bisher an den landwirtschaftlichen Verhältnissen genommen hätten, wenn sie so spät an Ort und Stelle sich durch einen jungen Kommissar unterrichten ließen. Dieser Aufsatz war dem Kaiser vorgelegt worden und soll in der Tat als letzter Stoß die Entlassung der beiden Männer herbeigeführt haben. Ich nahm natürlich sofort Gelegenheit, in Berlin die Sachlage klarzustellen, und hatte auch die Genugtuung, daß die schon erhobenen Vorwürfe ob inkorrekten Verhaltens zurückgenommen wurden. Zur Erläuterung des ganzen Vorganges muß ich aber ins Gedächtnis zurückrufen, daß jenes Jahr 1894 den Höhepunkt der überaus heftigen Kämpfe um die Getreidezölle, besonders um den deutsch-russischen Handelsvertrag und die darin vorgesehene Senkung der bisherigen Zollsätze gebracht hatte. Das Ergebnis dieser Reise habe ich als zweiten Teil der Arbeit über die Organisation des deutschen Getreidehandels in Conrads Jahrbüchern (1895) veröffentlicht. Es liegt ferner meinem kleinen Buche „Die Börse in ihren wirtschaftlichen Funktionen und ihrer rechtlichen Gestaltung" (Berlin, 1898) zugrunde. Aus den Erkundigungen, die ich in Vorbereitung der Studienreise im preußischen Ministerium der öffentlichen Arbeiten über die Getreidetarife der deutschen Eisenbahnen eingezogen hatte, ist noch ein anderes Erlebnis entsprossen, das zwar nichts mit der Politik zu tun hatte, für meine Zukunft jedoch von geradezu entscheidender Bedeutung geworden ist. Als eine Folge der Unterhaltungen, die ich mit dem Herausgeber der wirtschaftlichen Zeitschriften des Ministeriums, Geheimrat Prof. Dr. von der Leyen, hatte führen dürfen, erhielt ich im Frühjahr 1895 die Aufforderung, bei ihm als Hilfsredakteur einzutreten, da ich doch zur beabsichtigten Habilitation den Assessor nicht brauchte. Ich erklärte mich um so lieber hierzu bereit, als ich kurz zuvor meinen Vater verloren

3. Die ersten

Stellungen

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hatte und meine Mutter nun mit der Witwenpension schwer an der Last tragen würde, mich als unbesoldeten Referendar und auch zunächst als Privatdozent zu unterhalten. Es kam jedoch anders. Der damalige Minister Thielen, der wohl mit meinem Vater von dessen Eisenbahnzeit her gut bekannt war, lehnte meine Einstellung mit der Begründung ab, als alter Freund meines Vaters könne er es nicht verantworten, den Sohn so kurz vor dem Assessorexamen (IV2 Jahre) aus der Laufbahn herauszunehmen; dazu bedeute doch in Preußen der Assessortitel allzu viel; ich sollte midi nach bestandenem Examen zur Übernahme in den Eisenbahndienst melden, er würde den Sohn eines alten Eisenbahners gern annehmen. Ich war naturgemäß über diesen Eingriff des alten Herrn damals schwer entrüstet, bin aber später ihm doch recht dankbar gewesen; der Assessortitel hat mir manchen Vorteil gebracht, und von der Bedeutung, die gerade die Zeit beim Kammergericht für mich gehabt hat, ist schon die Rede gewesen.

3. Die ersten

Stellungen

Unmittelbarer als diese Aussicht hat sich an meine erste Veröffentlichung ein drittes Ereignis angeschlossen, und zwar von der wirtschaftlichen Praxis her. Als ich mich bei einem nahen Verwandten, der mir schon bei diesen Arbeiten wesentlich geholfen hatte, in der neuen Würde des Gerichtsassessors vorstellte, bot er mir die Stelle eines Hilfsarbeiters i m V e r b a n d d e u t s c h e r M ü l l e r a n , den er als Direktor leitete. Er habe, so erklärte er mir, Prof. Conrad (Halle) wie auch andere Professoren, ohne mich zu nennen, um die Angabe eines jungen Nationalökonomen gebeten, der für eine solche Stellung passe; übereinstimmend sei ich ihm unter Berufung auf jene Arbeiten genannt worden, ich brauchte also an der Verwandtschaft keinen Anstoß zu nehmen. Da er mir weiter versicherte, ich würde für meine volkswirtschaftlichen Studien Zeit genug behalten, so einigten wir uns rasch, und — am 21. 11. zum Assessor geworden — habe ich am 1. 12. 1896 die Stelle angetreten, die mir zum erstenmal in meinem Leben ein eigenes festes Einkommen gewährte.

12

IL Referendarzeit und

Habilitation

Mit der neuen Tätigkeit hat sich mir eine ganz neue Anschauungswelt geöffnet. Hatte ich mich bisher so gut wie ausschließlich in Beamtenkreisen bewegt, so gewann ich jetzt um so tieferen Einblick in die Unternehmerart und ihr Verhältnis zu den Staatsgewalten, als gerade der Streit um den sog. Antrag Kanitz und um die Durchführung des Börsengesetzes von 1896 tobte; bei jenen ging es um die Forderung, die Höhe der Getreidezölle mit Hilfe eines staatlichen Einfuhrmonopols in eigenartiger Weise je nach den Preisen des Weltmarktes auf und ab gehen zu lassen, und beim Börsengesetz um die Frage, ob die Berliner FeenpalastVereinigung, in der sich zur Vermeidung der für Börsen vorgesehenen Staatsaufsicht die bisherigen Börsenbesucher zusammenzufinden pflegten, nun eine Börse im Sinne des Gesetzes sei, das eine Definition des Objektes peinlich vermieden hatte. Da der Müllerverband dem Zentralverband Deutscher Industrieller angehörte, bekam ich auch mit dessen Geschäftsstelle engere Fühlung und lernte kennen, mit welcher Einseitigkeit und Naivität die einzelnen Wirtschaftsgruppen je ihre Interessen mit denen der Allgemeinheit identifizierten, wie aber auch die Staatsverwaltung reichlich einseitig dem Standpunkt der Schwerindustrie zugeneigt war. Mit der Arbeiterfrage hat sich dagegen mein Verband während der beiden Jahre, die ich in ihm als Syndikus tätig war, fast nur unter dem Gegensatz der Produktions- und Konsumtionsinteressen beschäftigt; ich entsinne mich nicht, dienstlich mit der Betriebsstellung der Arbeiter beschäftigt gewesen zu sein. Am Ende des Jahres 1898 habe ich die Stellung niedergelegt. Ich hatte damals noch eine andere Aufgabe zu erfüllen, und beides zusammen ließ mir nicht genügend Zeit und Aufmerksamkeit, mich für die noch abzulegende Prüfung als Dr. phil. und damit für die Habilitation vorzubereiten. Diese andere Stellung war gerade diejenige, die mir im preuß. M i n i sterium der ö f f e n t l i c h e n A r b e i t e n (Eisenbahna b t e i l u n g ) zunächst angeboten, dann aber nicht verliehen worden war. Sie wurde zum 1. März 1897 wieder frei, und damals wurde sie mir übertragen. Bis zum Frühjahr 1903, also sechs Jahre, bin ich in dieser Stellung geblieben. Ich habe hier durch einen Bericht des Petersburger Militärattaches die Anregung zu meiner Doktor-Dissertation über „Die wirtschaftliche Bedeutung der Sibirischen Bahn" empfangen,

3. Die ersten

Stellungen

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während die Verfolgung der nordamerikanischen Literatur mir den Anlaß gegeben hat, die Probevorlesung als letzten Teil der Habilitationsleistungen über „Die Zusammenschlußbewegung der nordamerikanischen Bahnen" zu halten. Schließlich möchte ich noch ein Ereignis erwähnen, dessen Beobachtung sich mir besonders anbot. In jenen Jahren, die ich im Arbeitsministerium tätig war, ist der Kampf um den sog. Mittellandkanal zwischen der Staatsregierung und der Volksvertretung mit einer Heftigkeit geführt worden, die fast an die „Konfliktszeit" der sechziger Jahre erinnert. Er ging nicht etwa dem Wesen nach um die technische Frage, ob der Kanal oder eine neue Eisenbahn billiger und besser dem Bedürfnis des Verkehrs dienen würde. Tatsächlich war sein Inhalt das Verlangen der westdeutschen Großindustrie, in der Frachtengestaltung nach Berlin hin unabhängig von den Tarifen der Staatsbahn zu werden. Dem stellte die ostdeutsche Landwirtschaft die Sorge entgegen, daß auf dem Kanal das ausländische Getreide noch tiefer nadi Mittel- und wohl gar nach Ostdeutschland eindringen würde, als es bisher schon dem ostdeutschen Gewächs den Absatz einengte. Hiermit vereinigte sich die Furcht des oberschlesischen Kohlenbergbaues und der darauf hochgekommenen Industrien, auf dem Berliner Markt zurückgedrängt zu werden. Dank diesen Widerständen sind die Vorlagen der Staatsregierung, obwohl diese auf verschiedene Weise den Bedenken des Abgeordnetenhauses gerecht zu werden suchte, wiederholt von der Volksvertretung abgelehnt worden. Der Kaiser war jedoch vom Westen her an dem Zustandekommen des Kanals so stark interessiert worden, daß sogar die preußischen Landräte, die als Mitglieder der konservativen Fraktion an der Ablehnung beteiligt waren, verfassungswidrig zur Disposition gestellt und erst später wieder in den aktiven Staatsdienst eingereiht wurden. Schließlich hat aber die Vorlage eine Gestalt erhalten, die den Anhängern des Kanals jede Freude nahm, die Gegner aber beruhigte: die Wasserstraße sollte nicht bis zur Elbe durchgeführt werden, sondern mitten im Lande bei der Stadt Hannover enden, und ferner sollte die Staatsverwaltung ein Schleppmonopol haben, um mit Hilfe des Schlepplohns — des wichtigsten Teils der Frachtkosten — diese auf einer für die Staatsbahn erträglichen Höhe zu halten; außerdem sollten die westlichen Provinzen als Kommunalverbände für die Betriebseinnahmen des

14

II. Referendarzeit und Habilitation

Staates gewisse Garantien übernehmen. Was konnte ein so eingeschränkter und so belasteter Kanal f ü r die westliche Industriewelt bedeuten? Es war n u r folgerichtig, daß im Provinziallandtag von Westfalen die Vertreter dieser Industrien gegen die Übernahme der Garantie stimmten, obwohl sie bisher sich stärkstens für den Bau des Kanals eingesetzt hatten. Am 1. April 1905 hat das Gesetz verkündet werden können — ein reichlich teurer Aprilscherz. Für midi, der ich bis zum Frühjahr 1903 den Gang der Verhandlungen unmittelbar verfolgen konnte, war das wichtigste Ergebnis der Einblick in das politische Geschiebe, das hinter den Kulissen sich abgespielt hat. War ich schon durch jenes Erlebnis, das sich an meine Deutschlandreise angeschlossen hatte, ohne mein Wissen in eine politische Intrige hineingezogen worden, so bin ich jetzt von der idealistischen Meinung, daß auch die Politik ein Feld sachlicher Kämpfe sei, gründlich geheilt worden. Zu den mannigfachen Fragen, die hier zur Entscheidung standen, habe ich wiederholt (in den Preußischen Jahrbüchern, 1904) Stellung genommen und kein Hehl daraus gemacht, daß ich unserem dichten Eisenbahnnetz gegenüber den Bau eines so langen und teuren Kanals, der nicht einmal die Elbe erreichen sollte, f ü r eine Verschwendung hielt.

4. Die Habilitation

und Berufung nach Posen

In die Wende des Jahrhunderts ist ebenso die P r o m o t i o n z u m D r . p h i l . (August 1900) wie auch die Habilitation als Privatdozent der Volkswirtschaftslehre in der Philosophischen Fakultät der Unversität Berlin (Dezember 1902) gefallen. Meine H a b i l i t a t i o n s s c h r i f t behandelt „Die nordwest-europäischen Welthäfen (Hamburg, Bremen, London, Liverpool, Amsterdam, Rotterdam, Antwerpen und Le Havre) in ihrer Verkehrs- und Handelsbedeutung". Sie beruht vor allem auf einer Studienreise, die ich im Auftrage des „Instituts f ü r Meereskunde" unter starker Anteilnahme von Professor v. Richthofen mit Hilfe von Institutsmitteln im Herbst 1901 an Ort und Stelle habe anstellen können.

4, Die Habilitation

und Berufung

nach Posen

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Die Probevorlesung hat (wie schon, erwähnt) „die Einheitsbewegung unter den Eisenbahnen der Verein. Staaten von Amerika" behandelt. Ich bin darin zu der Feststellung gelangt, daß im Nordost- und im Südostviertel zwar mehrere Konzerne noch tatsächlich, nicht nur der Rechtsform nach, selbständig nebeneinander bestanden und sich auch in der Betriebsgestaltung immerhin Wettbewerb gemacht haben; die veröffentlichten Tarife wurden jedoch durch lose Vereinbarungen einigermaßen in Einklang gehalten, doch sind sie aller Wahrscheinlichkeit nach — nach den Untersuchungen des Bundesverkehrsamts — durch geheimgehaltene Sonderfrachtsätze zugunsten solcher Großunternehmungen der Industrie durchbrochen worden, die mit je einem der Eisenbahnkonzerne durch Aktienbesitz eng verbunden waren. In dem gewaltigen Raum zwischen dem Mississippi und dem Großen Ozean hat dagegen ein Kampf zwischen den Beherrschern der Nord- und der Südhälfte, der bis zu den europäischen Börsen hin um den Besitz der absoluten Aktienmehrheit und nicht mit Frachtunterbietungen geführt worden war, unter Führung des Bankhauses Morgan mit einer Einigung geendet, die das ganze Gebiet umfaßte; diese ist allerdings später durch das Oberste Bundesgericht als gesetzwidrig zur formellen Auflösung gezwungen worden, hat aber tatsächlich unter entsprechender Verteilung der Aktien der Teilunternehmungen weiterbestanden. Meine A n t r i t t s v o r l e s u n g habe ich über „Wesen und Bedeutung der Zentralproduktenbörsen" gehalten. Am 1. April 1903 bin ich nach meiner verkehrspolitischen Tätigkeit im Ministerium in das Statistische Reichsamt berufen worden. Meine Bedingung, jederzeit auf einen Ruf als Professor wieder ausscheiden zu dürfen, wurde mir zugestanden. Diese Berufung — und zwar nach P o s e n — habe ich dann auch bereits im September erhalten, und es ist mit ihr einer der merkwürdigsten Glücksfälle verbunden, die meinem Leben zugute gekommen sind. Eines Morgens fand ich Anfang Juli in meinem Dienstzimmer im üblichen Großformat die Bestallung als etatsmäßiges Mitglied. Darauf lag ein ungewöhnlich kleines Briefchen, aus dem die Aufforderung des Ministerialdirektors im preußischen Kultusministerium, des allmächtigen Herrn Althoff, mir entgegensprang, am Nachmittag dieses Tages zu ihm zu kommen, ohne daß irgendein Zweck angegeben war. Ich gab also meiner Frau die Nachricht, daß die Ernennung gekommen wäre, ich aber erst gegen Abend nach Hause kom-

16

II. Referendarzeit und

Habilitation

men könnte, und feierte das Ereignis mit einigen Kollegen in einem fröhlichen Frühstück. Als ich hiernach ins Kultusministerium kam, merkte ich, daß ich ganz vergessen hatte, auf meine Visitenkarte, mit der ich midi bei Herrn Althoff melden lassen wollte, den neuen Titel zu setzen, konnte dies aber nicht mehr ändern, und gerade das sollte wichtig werden. Nach einigen Nebensächlichkeiten, die er auffallend lange hinauszog — ich mußte mir z. B. den angebotenen Stuhl erst selbst aus einer entfernten Ecke seines sehr großen Zimmers heranholen und dann eine längere Bemängelung meiner Handschrift über mich ergehen lassen —, fragte mich Herr Althoff kurz, ob ich wohl als Professor an die neue Akademie Posen zu gehen bereit wäre. Auf meine Bejahung dieser Frage bot er mir zunächst eine Besoldung an, die hinter meinen damaligen Dienstbezügen weit zurückblieb. Meinen Einwand, daß ich damit mit meiner Familie nicht auskommen könnte, wies er mit der Bemerkung zurück, ich dürfte nicht unterschätzen, daß ich in Posen sogleich etatsmäßig angestellt werden sollte, im Statistischen Reichsamt aber auf die feste Anstellung wohl noch lange würde warten müssen. Jetzt konnte ich midi endlich entschuldigen, daß ich midi mit einer nicht mehr zutreffenden Visitenkarte bei ihm hätte melden lassen, daß ich aber erst am selben Morgen die Ernennung zum Regierungsrat erhalten hätte. Er quittierte diese Mitteilung mit reichlichem Spott, bot mir dann aber eine Besoldung an, die fast das Doppelte der bisher genannten Summe betrug, und auch gegenüber dem Einkommen, das ich als Mitglied des Statistischen Reichsamts in Zukunft beziehen sollte, eine beträchtliche Steigerung brachte. Ich ignorierte seinen Spott und nahm ohne weiteres den Ruf an, da ich damit in der akademischen Laufbahn zu einer festen Anstellung kam —, was ich so rasch in meinem ersten Privatdozentensemester nicht hatte erwarten können. So konnte ich am Abend, als mir mein Bruder die Tür öffnete und mich als frischgebackenen Regierungsrat beglückwünschte, ihn mit der Erwiderung überraschen: der Professor dankt dir. Es ist das einzige Mal geblieben, in dem ich um meine Besoldung zu feilschen hatte; bei allen späteren Berufungen habe ich die mir angebotenen Dienstbezüge glatt annehmen können. In Posen, wo ich am 1. Oktober 1903 die neue Stellung angetreten habe, erwartete mich eine eigenartige Aufgabe. Studenten im formalen

4. Die Habilitation

und Berufung

nach Posen

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Sinne des Wortes gab es nicht. Wir Dozenten sollten den dort und in der Provinz ansässigen Deutschen nicht ein systematisches Studium ermöglichen, ihnen vielmehr geistige Anregungen geben und deshalb nicht geschlossene Vorlesungen halten, sondern in kurzen Kursen und Einzelvorträgen die Teilgebiete unserer Wissenschaftszweige nahebringen. Meine Hörer setzten sich dementsprechend aus jungen und älteren Kaufleuten, Volksschullehrern, jungen Beamten und Offizieren zusammen. Durch ihre Fragen haben die Glieder dieses Kreises mir einen tiefen Einblick in ihre Interessen und Auffassungen gewährt, so daß auch ich wichtige Belehrungen, nicht zuletzt sozialen Inhalts, erhielt. Wertvoll war auch, daß ich von dem Leiter der „Berliner Vereinigung für staatswissenschaftliche Fortbildung" aufgefordert wurde, ihn bei einer Studienfahrt durch das rheinisch-westfälische Industriegebiet zu unterstützen; ich gewann hierbei zum erstenmal einen Einblick in die großen Werke des dortigen Raumes, die Mannigfaltigkeit ihrer Produktion und ihres Aufbaues. Besonders gründlich beschäftigte midi die Arbeit der staatlichen „Ansiedlungskommission", die auf Grund des Gesetzes von 1887 als ein Organ der inneren Kolonisation und zugleich der Stärkung des Deutschtums deutsche Bauern aus den benachbarten wie aus den sonstigen Reichsteilen unter Parzellierung polnischen Grundbesitzes anzusetzen bestimmt war. Die zahlreichen neuen Dörfer, die ich nach und nach besichtigen konnte, haben mir in ihrer sozialen und technischen Gestaltung einen vorzüglichen Eindruck gemacht. Ich konnte aber den Zweifel nicht abweisen, ob das politische Ziel einer Massenbewegung mit den ausgesetzten Mitteln wirklich erreicht werden könnte, ob nicht vielmehr "ilzu stark auf die Schaffung vorbildlicher Betriebe und Dörfer genalten wurde. Es machte sich recht deutlich bemerkbar, daß die polnische Gegenarbeit, die sich auf die allgemeinen Rentengutsgesetze von 1890 und 1892 stützte, immer weniger polnische Großgüter zum Ankauf der Kommission bereitfinden ließ. Die Übernahme deutschen Besitzes, der seine Außenteile zwecks Sicherung seiner finanziellen Lage gern abgestoßen hätte, war selbst in Posen und Westpreußen leider nicht erlaubt, und hierfür erwiesen sich die Rentengutsgesetze in den Bedingungen als allzu umständlich und die Durchführung als zu teuer, weil dafür der preußische Staat zwar seine landwirtschaftlichen Behörden als Aufsichts2

Wiedenfeld, Zwischen Wirtschaft u n d Staat

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II. Referendarzeit

und

Habilitation

Organe, aber nicht finanzielle Mittel zur Verfügung stellte. Sozial und technisch hat also die Ansiedlungskommission beste Ergebnisse erzielt; der politische Erfolg ist nur gering gewesen. Es war nur beste Beamtenarbeit gemäß preußischer Tradition, ließ aber den Mangel an politischem Sinn, der allem Beamtentum eigen ist, nicht verkennen. Während meines zweiten Posener Semesters im Sommer 1904 erhielt ich unter auffallend günstigen Bedingungen einen Ruf an die Städtische Handelshochschule Köln für den Herbst des Jahres. Ministerialdirektor Althoff, den ich zur Besprechung dieses Rufes aufsuchen mußte, erklärte mir ganz unvermittelt, ohne mich zu Worte kommen zu lassen, daß er nichts tun könnte, mich in Posen zu halten; er hätte dies dem Kölner Oberbürgermeister versprochen, um den Studiendirektor der HH, Professor Schumacher, der noch für zwei Jahre vertraglich an seine Stellung gebunden sei, für eine Professur an der Universität Bonn und hiermit für die wissenschaftliche Betreuung des dort studierenden deutschen Kronprinzen sofort freizubekommen; ich täte also dem Staate einen Dienst und ihm persönlich einen Gefallen, wenn ich den Ruf annähme. Was blieb mir da übrig, als diesem Drängen nachzugeben. Daß man in Posen meinen Weggang bedauert hat, wurde mir nicht nur damals bei den Abschiedsbesuchen, sondern stärker noch nach zehn Jahren beim Jubiläum der Akademie in einem Festaufsatz des Oberbürgermeisters bestätigt. Nach einjährigem Wirken habe ich also im September 1904 Posen verlassen, um am 1. Oktober in Köln die neue Professur anzutreten.

III.

Die Professur an der Handelshochschule Köln (1904/14)

1. Die Aufgabe der HH und die Eigenart der

Studentenschaft

Der HH Köln war durch die Stiftungsurkunde, eine persönliche Ausarbeitung des Stifters Gustav Mevissen, die Aufgabe gesetzt, junge Menschen zur Ausfüllung führender Wirtschaftsposten derart auszubilden, daß sie neben ihrer privat-wirtschaftlichen Arbeit ein volles Interesse nicht nur den volks-wirtschaftlichen Zusammenhängen, sondern hierüber hinaus auch dem staatlichen Geschehen und der allgemein-menschlichen Entwicklung zuzuwenden vermöchten. Wie ich in diesen Fragen, meiner allgemeinen staatlichen Einstellung entsprechend, mich ständig für die Innehaltung des Stiftungsziels eingesetzt habe, so habe ich mich auch gegen den schon zu meiner Zeit auftauchenden Plan gewehrt, die HH in eine Universität zu verwandeln. Dies erschien mir bei der Nähe Bonns ein allzu starker Lokalpatriotismus und mit dem Rufe, den sich die HH Köln in Deutschland und auch weithin im Auslande als führendes Institut dieser Art errungen hatte, im Widerspruch zu stehen. Schon bald nach der Übernahme der Kölner Professur hatte ich entsprechend eine private Anfrage, ob ich midi wohl für ein Bonner Extra-Ordinariat als Nebenamt interessierte, mit der Begründung verneint, daß ich damit ein Übergewicht der Universität anerkennen würde, was mir fern läge. Auch nach der Eigenart des Kölner Lebens schien mir die Stadt für eine Universität viel weniger als für eine HH geeignet. Tatsächlich hat ja dann audi, als nach dem ersten 2'

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III. Die Professur

an der Handelshochschule

Köln

(1904/14)

Weltkriege unter Ausnutzung der politischen Lage die Umwandlung herbeigeführt werden konnte, das Schwergewicht der jungen Universität bei der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät als der Nachfolgerin der HH gelegen. Die Besonderheit der Kölner HH hat während der zehn Jahre, die ich ihr bis zum Ausbruch des Weltkrieges angehört habe, scharf ausgeprägt bei ihrer S t u d e n t e n s c h a f t gelegen. In der ersten Zeit machte sich geltend, daß diese HH als erste nicht (wie die ältere Leipzigs) einer Universität angegliedert war, sondern ein völlig selbständiges, in allem Wesentlichen fast allein auf sidi gestelltes Institut darstellte und in dieser Eigenschaft einen aufgestauten Bedarf zu befriedigen hatte. Ich fand, als ich 2V2 Jahre nach ihrer Begründung in ihren Lehrkörper eintrat, einen Stamm von älteren Studenten vor, die nicht von der Schule her unmittelbar zu ihr gekommen waren, sondern bereits mehr oder minder lange Zeit sich in der kaufmännischen Praxis betätigt hatten und nun das Bedürfnis empfanden, sich eine breitere und tiefere Unterlage f ü r ihr künftiges Leben zu geben. Viele von ihnen stützten sich auf eigene Ersparnisse, die sie f ü r diesen Zweck angesammelt hatten, und beträchtlich war die Zahl derjenigen, die bereits in Übersee tätig gewesen waren. Wenn ich es recht in Erinnerung habe, war das Lebensalter unserer Studenten im Durchschnitt nicht weniger denn drei Jahre höher als bei den Universitäten. Allmählich hat sich dies Verhältnis der Altersklassen naturgemäß nach der Seite der jüngeren hin etwas verschoben; wertvoll jedoch ist immer der Anteil geblieben, den die Gereiften stellten. Es hat sich bewährt, daß eine mehrjährige Praxis dem Abitur der Höheren Schulen f ü r die Immatrikulation statutengemäß gleichstand.

2. Die

Forschungstätigkeit

Da ich von Köln aus das Ostproblem der inneren Kolonisation und die Ansiedlungspolitik der preußischen Staatsverwaltung nicht so intensiv verfolgen konnte, wie es meiner Arbeitsweise entsprochen hätte, so wandte ich alsbald, midi dem Genius loci anpassend, meine F o r s c h u n g s t ä t i g k e i t auf die I n d u s t r i e , auf deren Entwick-

2. Die

Forschungstätigkeit

21

lung und namentlich den so verschiedenartigen Aufbau ihrer Unternehmungen. Bei diesen Untersuchungen fiel mir auf, daß gewichtige Unterschiede des Unternehmungsaufbaus sich letztlich nur aus der Eigenart der verschiedenen Unternehmungsleiter erklären ließen. Ich versuchte daher, diesen Persönlichkeiten näherzukommen, und das ist mir zunächst auch mit Hilfe der Kölner Handelskammer gelungen. Bald sprach sich herum, daß ich die mir gegebenen Auskünfte nicht journalistisch benutzte und es auch entschieden ablehnte, jemals mit dem Namen oder der Firma der Gesprächspartner meine Darlegungen zu fundamentieren. Es bewährte sich auch meine Gewohnheit, bei den Unterhaltungen den Fragebogen, den ich mir vorher zusammengestellt hatte, ganz für mich zu behalten und mir auch keine Aufzeichnungen zu machen; es sollten eben Unterhaltungen und nicht Fragen-Antwortspiele sein. Ergab sich dann beim Niederschreiben meiner Notizen, daß ich trotz meiner Übung etwas Wichtiges nicht zur Sprache gebracht hatte, so stand ja nichts im Wege, das später einmal nachzuholen. Auf solche Weise habe ich viel Sachlich-Wichtiges erfahren, was mir sonst nicht bekannt geworden wäre, und ich habe dies selbstverständlich auch, aber ohne Angabe der speziellen Quelle in meinen Schriften stark benutzt. Weiter habe ich aber die maßgebenden Männer und viele andere in ihrem Wesen erkennen und miteinander vergleichen, auch je nach dem Temperament des Gesprächspartners seine Mitteilungen sachlich werten können. Eine dieser Unterhaltungen darf ich als ein Beispiel, ohne indiskret zu werden, hier kurz skizzieren. Sie verlief zunächst in der üblichen Weise, in ganz freier Aussprache. Zum Schluß erbat ich mir aber von Herrn Thyssen eine Auskunft über den Aufbau seines sehr großen, in seiner Zusammensetzung jedoch geheimgehaltenen Konzerns. Dies lehnte er, wie ich erwartet hatte, zunächst kategorisch ab. Auf meine Frage, ob ihn vielleicht interessiere, was ich mir aus öffentlichen Quellen darüber zusammengestellt hätte, ging er aber lebhaft ein, und wir kamen dann überein, daß er mir zu meiner rein persönlichen Kenntnis diese Liste berichtigen und vervollständigen, ich ihm meine Quellen angeben sollte. So ist es geschehen: er bemängelte einige Angaben meiner Liste als nicht zutreffend und nannte mir die noch fehlenden Konzernglieder; ich gab ihm als einzige Quelle, die ich hätte benutzen können, die Nachrufe auf

22

HI. Die Professur

an der Handelshochschule

Köln

(1904/14)

seinen verstorbenen Bruder an, die in der Kölnischen Zeitung fast eine Woche lang jeden Tag mehrere der großen Seiten gefüllt hatten. Das zu glauben, wurde dem alten Herrn merklich nicht ganz leicht; er fand es schrecklich, daß man nicht einmal Nachrufe veröffentlichen könnte, ohne daß ein neugieriger Wissenschafter dadurch in Geheimnisse eindringe, und beklagte, daß ich nach solcher Quelle doch meine Liste in der ursprünglichen Gestalt bei einer wissenschaftlichen Arbeit benutzen könnte. Dies aber lehnte ich mit der Begründung ab, daß ich dazu in der Tat bis zu unserer Unterhaltung berechtigt gewesen wäre, jetzt jedoch mich zum Schweigen verpflichtet fühlte. Des war er sehr zufrieden, ja froh, und ich kann mich rühmen, den alten Herrn einmal zu einem richtigen Lachen gebracht zu haben, was nicht viele von ihm sagen konnten. Später habe ich von ihm denn auch noch manche Auskunft erhalten, die mir dies und jenes an der Entwicklung der rheinisch-westfälischen Montanindustrie in ein klareres Licht setzte. Als ein Problem, das ich ausschließlich in der Form leichter Unterhaltungen, nicht in präzisen Fragen zu einer gedeihlichen Erörterung bringen konnte, erwähne ich die Stellung, die bei den großen Aktiengesellschaften die leitenden Direktoren zu den Aktionären und auch zum Aufsichtsrat einzunehmen pflegen. Einige Male habe ich mir eine Aktie beschafft, um an einer Generalversammlung selbst teilnehmen zu können, und selbstverständlich habe ich mich auch mit Bankdirektoren als Aufsichtsratsmitgliedern darüber unterhalten. Mein Eindruck war nicht ausnahmslos, aber doch weit überwiegend der, daß, je größer die Unternehmung und entsprechend die Zahl der Aktionäre, desto selbständiger der Vorstand geradezu notwendig der Generalversammlung und auch dem Aufsichtsrat gegenüberstand. Wie sollte denn auch ein Aktionär und selbst ein Aufsichtsratsmitglied all die Bedingungen überschauen, auf denen sich das Endergebnis der Geschäftsführung in der Zeit der Weltmarktwirtschaft jeweils aufgebaut hat. Größte Fusionen, wie sie vor dem Weltkriege etwa in der Montanindustrie des Ruhrbezirks vorgekommen sind, haben in knappen halben Stunden durch die Generalversammlung die Genehmigung erhalten, ohne daß irgendeine Erörterung etwa herbeigeführt worden ist. Bemängelte ja einmal ein Aktionär die vorgeschlagene Dividende oder den in der Schlußabrechnung angeführten Gewinn als zu niedrig, so genügte in aller Regel die Be-

2. Die

Forschungstätigkeit

23

merkung des Aufsiditsratsvorsitzenden, nähere Ausführungen, als er einleitend gemacht habe, verbiete das Geschäftsinteresse der Unternehmung, und der Widerspruch wurde mit großer Mehrheit unwirksam gemacht. Oft konnte nicht der leiseste Zweifel bestehen, daß bei günstiger Geschäftslage in der Schlußabrechnung nur ein Teil und manchmal ein recht geringer Teil des wirklichen Gewinns ausgewiesen, ein großer Betrag über die offengelegten Abschreibungen hinaus als „stille" Reserven geheimgehalten war, um für ungünstige Jahre die Ausschüttung der üblich gewordenen Dividende zu ermöglichen. Gewiß kam dies Verfahren letztlich den Aktionären späterer Jahre wieder zugute. Aber es bewies doch, daß die Generalversammlung ganz anders, wie das deutsche Aktiengesellschaftsrecht es vorsah, zur Jasage-Maschine geworden war, und daß — so habe ich es wiederholt formuliert — nicht die Dividende nach dem wirklichen Gewinn ausgerichtet war, sondern daß umgekehrt die vorgeschlagene Ausschüttung den ausgewiesenen Gewinn bestimmte. In vielleicht geringerem Maße galt die Verheimlichung des wirklichen Gewinns auch dem Aufsichtsrat gegenüber, wenn darin die Bankenvertreter sich als Wahrer der Aktionärinteressen fühlten und eine möglichst hohe Dividende verteilt wissen wollten. Dem traten die Vorstände etwa in der Weise entgegen, daß sie die Anschaffungskosten nicht nur für die kleineren Werkzeuge, sondern auch f ü r Daueranlagen anstatt über das Kapital- über das Ausgaben-Konto leiteten. Jedenfalls bin ich immer wieder auf eine Auffassung gestoßen, die ein solches Verfahren für richtig erklärte. Ich halte daher für die Zeit vor dem Weltkrieg meine Formel aufrecht: ein Vorstand, der es nicht versteht, über den wirklichen Gewinn den Schleier des Geheimnisses zu legen, müßte wegen Unfähigkeit entlassen werden. Was bei den Aktiengesellschaften in den beiden Personengruppen der Unternehmer (Unternehmungsleiter) und der Kapitalisten (Rentner) als den Risikogestaltern und den Risikoträgern deutlich auseinandertrat, das ließ sich überdeckt auch bei denjenigen Unternehmern feststellen, die noch völlig oder hauptsächlich ihre eigenen Kapitalisten waren, d. h. vom eigenen Kapitalbesitz her ihre Betriebe leiteten. Man merkte ihnen an, ob ihnen die Mehrung ihres Besitzes unter dem Ziel verbesserter Lebenshaltung stand, sie also Rentner- und nicht Unternehmernaturen waren, oder ob sie in der Arbeit f ü r ihr Werk den

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III. Die Professur an der Handelshockschule Köln (1904/14)

Inhalt ihres Lebens fanden und darin aufgingen, den Genuß des hohen Einkommens dagegen ihrer Familie überließen. Gewiß strebten auch diese Menschen nach einem Gewinn, der ihnen aus der Verwendung ihres Kapitalbesitzes zufließen sollte und den sie — leider — in aller Regel rechnungsmäßig nicht von dem Lohn für ihre Leitungsleistung und einem Zinsbetrag trennten; aber von der Gesamtsumme ihrer Entnahmen, d. h. ihrem geschäftlichen Einkommen, pflegte doch ein nidit geringer Teil für die Herstellung neuer Werksanlagen und ähnliche Produktivaufgaben verwendet zu werden. Stimmungsmäßig sahen sie im Gewinn den Maßstab ihres Arbeitserfolges in ähnlicher Weise, wie der Beamte etwa in einer Beförderung oder einem Orden die Anerkennung seiner Arbeit empfand. Es brauchte ja nicht immer so weit zu gehen wie bei Alfred Krupp, der in den siebziger Jahren schon Tausende von Arbeitern und Angestellten beschäftigte und doch oft genug nicht Bargeld genug hatte, seiner Frau das Wirtschaftsgeld auszuzahlen — der aber nie begriffen hat, daß seine Verwandten, wenn sie ihm in den schweren Anfangsjahrzehnten geldlich aushalfen, für diese Zuwendungen später auch Zinsen begehrten. Mit Kredit, mit fremdem Gelde zu wirtschaften, war längst allzu geläufig geworden, als daß nicht die Zinsenzahlung selbstverständlich geworden wäre; schon Werner Siemens hat sich auf große Aufträge stets Anzahlungen leisten lassen, also Kredite in Anspruch genommen. Im ganzen Auftreten dieser Unternehmernaturen offenbarte sich das Besondere, das sie von den Rentnerkapitalisten unterschied, auch wenn sie sachlich beide Funktionen zugleich erfüllten. Unmöglich war natürlich festzustellen, bei welcher Gruppe die Mehrheit lag; daß jedoch eine sehr große Zahl der Einzelbesitzer als echte Unternehmernaturen anzusprechen war, unterliegt für mich für die Vorkriegszeit keinem Zweifel. Nicht zuletzt habe ich meine Kenntnis von den Kartellen, von deren inneren Verhältnissen, den darin herrschenden Gegensätzen und den Mitteln des Ausgleichs erheblich zu vertiefen vermocht. Der Abschwächung des Wettbewerbs, der auf den Märkten wenigstens teilweise eingetreten war, stellte sich, ein interner Kampf von gleicher Heftigkeit gerade dann gegenüber, wenn nach außen hin für das Ganze das Monopol nahestand und doch nicht voll sich erreichen ließ. So gut wie immer spielten auch persönliche Gegnerschaften eine wichtige Rolle.

2. Die

Forschungstätigkeit

25

Das Gesamt dieser Erfahrungen, ergänzt durch die Literatur über das Ausland, habe ich in den Versuch zusammengefaßt, aus dem erkennbaren Aufbau der wichtigsten Wirtschaftszweige und ihrer Unternehmungen zu einem Urteil über die Bedeutung der Unternehmerpersönlichkeit zu gelangen. In allgemeinen Zügen habe ich zunächst für Frankreich, Großbritannien und USA festgestellt, inwieweit in der Zeit des Kapitalismus die Unterschiede der Naturgegebenheiten, der technischen Entwicklung, der staatlichen Wirtschaftspolitik und anderer Sachelemente als maßgeblich anzusprechen sind, oder ob noch wesentliche Erscheinungen ungeklärt bleiben und nur durch Verschiedenheiten der persönlichen Zielsetzung etwa zu begründen sind. Trotz aller Vorsicht und Zurückhaltung, die ich bei der Beurteilung der einzelnen Persönlichkeiten festzuhalten bemüht war, bin ich zu dem Ergebnis gelangt, daß zwar die sachlichen Elemente die Entwicklungsrichtung im wesentlichen bestimmen, daß aber als ganz selbständiger Faktor, der das Maß des Werdegangs bestimmt und vielfach sogar im Gegensatz zu jenen Sachelementen sich, auswirkt, die Persönlichkeit des leitenden Mannes gleichsam, die letzte Instanz bildet, von deren Willen und Entscheidung abhängt, inwieweit die Ansprüche der Sachlichkeit erfüllt werden. Dem Bildhauer vergleichbar, der nach seinem Material sich richten muß und doch die verschiedene Eigenart einer Bronze- oder einer Marmorstatue als das Ergebnis freier künstlerischer Tat erschafft, hat der Unternehmer als Schöpfer der Werke zu gelten, ob er sie mit eigenem oder mit fremdem Kapital errichtet hat. Man darf also nicht sagen, „das" Kapital habe „den" Unternehmer in den Hintergrund gedrückt; es ist nur neben ihn getreten, um für größere Aufgaben die materielle Grundlage zu bieten. Hieraus ist denn auch der scharfe Gegensatz geworden, der zwischen den Unternehmern und den Kapitalisten in allen Gesellschaftsformen besteht: der Kapitalist, der den Gewinn zur Besserung seiner Lebenshaltung anstrebt und möglichst hoch zu beziehen wünscht, auf der einen und auf der anderen Seite der Unternehmer, der seinem Werke lebt und ihm deshalb den Gewinn vor allem zufließen läßt. Zwei völlig verschiedene Faktoren sind es, die mit diesen beiden Bezeichnungen in der kapitalistischen Weltmarktwirtschaft gedeckt wurden — der Rentner (Bourgeois), der das Kapital stellt und davon den Ertrag für sich genießen will, und der Unternehmer (Merchant Adventurer),

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III- Die Professur

an der Handelshochschule

Köln

(1904/14)

der den Kapitalertrag mit Hilfe seiner Angestellten und Arbeiter erwirtschaftet und davon einen möglichst großen Teil zur Verbesserung oder Erweiterung „seines" Werkes benutzt, als eine Einheit zu betrachten, tut wirtschaftlich und sozial der Wirklichkeit Gewalt an. Der große Aufschwung, den f ü r die führenden Länder die kapitalistische Zeit kennzeichnet, ist aus Unternehmermut und Risikofreudigkeit erwachsen. Von Köln aus habe ich zu zwei Vorgängen besonderer Natur literarisch Stellung genommen: zu der Verstaatlichung der RuhrbergbauGesellschaft H i b e r n i a und zu der des mitteldeutschen Kaliwerkes H e r c y n i a . Jene besaß als größte der reinen, d. h nicht mit einer Eisenhütte verbundenen Zechenunternehmungen im Ruhrbezirk eine stark herausgehobene Bedeutung; mit ihrer Beteiligungsziffer stand sie im Syndikat an zweiter Stelle, während die staatliche Bergwerksverwaltung diesem nicht angehörte. Die Hercynia hatte im Kali-Syndikat eine ähnliche Stellung inne, dicht hinter dem Besitz des preußischen Staates. Dieser wünschte beide Bergwerke zu erwerben, weil um die Wende des Jahrhunderts in beiden Bereichen je die Privatunternehmungen stärkstens zugenommen hatten, und alle Gesetzgebungsfaktoren Preußens waren sich auch über dieses Ziel einig geworden. Zu dem formellen Akt eines Gesetzes zu gelangen, mußte aber zunächst die Majorität des Aktienkapitals auf privatem, nichtöffentlichem Wege f ü r den Staat gesichert werden, da mit einem Widerstand der anderen Größen und entsprechendem Kampf um diesen Aktienerwerb zu rechnen war. Hierbei hat sich ein wichtiger Unterschied im Verlauf der Handlung ergeben. In beiden Fällen war der Staat schließlich erfolgreich, die Wege aber waren doch recht unterschiedlich *).

3.

Das Museum für Handel und

Industrie

Hinter meinen Lehr- und Forschungsverpflichtungen hat die nebenamtliche Aufgabe, ein M u s e u m f ü r H a n d e l u n d I n d u s t r i e aufzubauen, stark zurückstehen müssen. Lange Zeit stand mir dafür kein geeigneter Raum zur Verfügung. Erst im Neubau der Handels*) Vgl. hierzu Wiedenfeld, Kurt: Gewerbepolitik, 1927.

4. Mitglied

des Vereins

für

Socialpolitik

27

hochschule, der im Jahre 1909 eingeweiht wurde, waren am Rheinufer zwei schöne und helle ¡Säle vorgesehen, die um die Eingangshalle gelegt waren und reichlich Platz boten. Um diese Zeit war ich jedoch schon zu tief in die Erforschung des Unternehmertums eingedrungen, als daß ich noch volle Kraft an das Nebenamt hätte wenden können. Ich mußte mich begnügen, neben einem langen Profil des rheinisch-westfälischen Erdraums, dessen Herstellung ein junger Geologe übernahm, einige Modelle besonders wichtiger industrieller Anlagen, wie z. B. das einer modernen Zeche mit ihren Unter- und Übertaganlagen und eine Erdölgewinnungsstätte, sowie Rohmaterialsammlungen, nach Qualitäten getrennt, entsprechende Diagramme und Landkarten zusammenzustellen. Die Verarbeitungsindustrien und der Warenhandel waren nur erst spärlich berücksichtigt, als das Museum auf Drängen der Handelskammer zur Besichtigung eröffnet wurde.

4. Mitglied

des Vereins

für

Socialpolitik

Meine Absicht, nach Durchführung der Unternehmeruntersuchungen in ähnlich exakter Weise mich mit den Arbeiterverhältnissen zu beschäftigen, habe ich in Köln über das Studium der Literatur nicht hinausbringen können; ich war noch in diese Vorbereitungen verstrickt, als meine Berufung an die Universität Halle mich in eine ganz neue Umwelt versetzte und dann der Krieg ausbrach, in dem ich nach einem Jahr zum militärischen Dienst eingezogen wurde. So mußte ich mich damit begnügen, den allgemeinen Eindruck, den ich als Mitglied des „ V e r e i n s f ü r S o c i a l p o l i t i k " in dessen Ausschuß durch mannigfache Unterhaltungen gewann, sowohl Unternehmern als auch Teilnehmern der staatswissenschaftlichen Fortbildungskurse gegenüber gesprächsweise zu verwenden. Mir ist immer wieder aufgefallen, wie grundverschieden die Unternehmer der schweren Massenindustrie und die der feineren Verarbeitung den Sozialismus betrachteten. Besonders bemerkenswert erscheint mir die Antwort, die ich von den Generaldirektoren zweier großer Maschinenbauanstalten auf meine Frage erhalten habe: lächelnd meinten sie beide, wenn sie keine Sozialisten in ihren Be-

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III. Die Professur an der Handelshochschule Köln (1904/14)

trieben duldeten, dann würden ihnen gerade die tüchtigsten Arbeiter fehlen. Um so schroffer pflegten die Leiter der anderen Gruppe die Beschäftigung sozialistischer Arbeiter als ein. zwar notwendiges, aber doch schweres Übel zu bezeichnen. Jene hatten es im Kern mit hochqualifizierten, zumeist älteren Arbeitern zu tun, die sie bei dem häufigen Überprüfen der Betriebe persönlich kennenlernten und zumeist mit ihrem Namen ansprechen konnten. Diese dagegen mußten dank der schnellen Zunahme ihrer Industriezweige die Belegschaften großenteils mit landfremden und nur leicht angelernten oder ungelernten Arbeitern auffüllen, hinter denen die alten und noch vielfach mit Landbesitz versehenen Arbeiter an Zahl immer mehr zurücktraten; schon die höheren Angestellten konnten kaum in persönliche Fühlung mit den Arbeitern gelangen. Gewiß besaßen die größten Unternehmungen dieser Gruppe allerhand Einrichtungen, die man als sozial zu bezeichnen pflegte und die nach Einführung der Sozialversicherung deren Leistungen ergänzen sollten; diese waren aber regelmäßig an die Bedingung längerer Betrieb szugehörigkeit geknüpft, zugleich also zum Festhalten eines bewährten Arbeiterstammes bestimmt und griffen auch in die Privatsphäre der Belegschaft insofern ein, als Sozialdemokraten nach Möglichkeit ferngehalten wurden und daher von diesen Vorteilen tatsächlich ausgeschlossen waren. Ein wirklich soziales, d. h. den Arbeiter außerhalb des Betriebes als gleichberechtigt anerkennendes Empfinden lag mithin diesen Einrichtungen nicht zugrunde; es waren Reste der patriarchalischen Vergangenheit.

5. Die Berufung an die Universität Halle Im Sommer 1914 habe ich die B e r u f u n g a n d i e U n i v e r s i t ä t H a l l e als Nachfolger von Professor Johannes Conrad erhalten und angenommen. Der Entschluß ist mir nicht leicht geworden. Noch im Frühjahr dieses Jahres hatte mir zwar der Oberbürgermeister der Stadt Köln nahegelegt, mein Seminar, das ich durch hohe Anforderungen und nicht etwa durch Zurückweisung von Meldungen auf einer Zahl von zwölf bis fünfzehn Mitgliedern regelmäßig hatte halten

5. Die Berufung an die Universität

Halle

29

können, nadti dem Beispiel der Fachkollegen auf eine erheblich größere Zahl zu erweitern; das lag mir nicht und hätte midi gezwungen, noch ein zweites Seminar danebenzustellen. Demgegenüber war aber das einzig schöne Forschungs- und Lehrfeld, das sich mir im niederrheinischwestfälischen Industriebezirk und in den reiferen Studenten der Handelshochschule darbot, doch ein mächtig anziehender Magnet geblieben. Wäre es nicht die Nachfolgerschaft eines Johannes Conrad gewesen, die ich in Halle übernehmen sollte, und nicht eine Universität von so anerkanntem alten Ruf, so hätte ich wohl das Bleiben ebenso vorgezogen, wie ich im Laufe der Jahre einige Anfragen verneint hatte, die mir von kleineren und jüngeren Universitäten wegen der Übernahme eines Ordinariats zugegangen waren. Conrad hatte mir in einer langen Unterhaltung ausgesprochen, daß er lediglich seines hohen Alters wegen im Herbst 1914 von seinem Lehramt zurückzutreten wünschte, und mir dann die sachlichen und persönlichen Verhältnisse, die mich erwarteten, ausführlich geschildert; nicht zuletzt auch die Neuerung erklärt, daß die Volkswirtschaftslehre aus der philosophischen in die juristische Fakultät übertragen werden sollte. Auch die Bedingungen, die mir das Ministerium anbot, waren sofort so günstig, daß ich sie ohne jede Verhandlung annehmen konnte. Dem Kölner Oberbürgermeister habe ich denn auch nur kurz mitgeteilt, daß ich die Berufung an die Universität Halle erhalten und angenommen hätte. Zugleich bat ich, entsprechend einem Wunsche des Ministeriums und Conrads, um meine vorzeitige Entlassung aus der Professur und dem Amte als Direktor des Museums für Handel und Industrie für den Herbst des Jahres. Dies wurde ohne weiteres bewilligt. So konnte ich Mitte Juli die Bestallung als ordentlicher Professor der wirtschaftlichen Staatswissenschaften in der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Halle für den 1. Oktober 1914 erhalten. Die ersten Wochen des Krieges haben wir noch in Köln erlebt. Diese Zeit habe ich auf einem Polizeibüro im Wettbewerb mit einem alten Wachtmeister damit verbracht, daß ich die eingehenden Strafanzeigen an die Staatsanwaltschaft formularmäßig weiterleitete. Schwer lastete damals auf der Stadt die Frage, ob die so nahegelegene Grenze gehalten werden könne, und erst mit der Erstürmung Lüttichs löste sich die

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UL Die Professur

an der Handelshochschule

Köln

(1904/14)

Spannung. Danach wirkte das stürmisdie Vordringen unserer Heeressäulen um so stärker. Sogar der Verlauf der Marneschlacht machte keinen merklichen Eindruck; man ließ sich durch die täglichen Heeresberichte beruhigen. Erst als die späteren Berichte beim Vergleich der Karten erkennen ließen, daß der Schlieffenplan offenbar gescheitert war, überkam mich die Sorge, was es wohl für das Ende des Krieges, für den nunmehr voraussichtlich eine lange Dauer anzunehmen war, trotz aller Erfolge bedeuten würde, daß der Generalstab es für notwendig hielt, diese Wirkung der Marneschladit zu verschleiern, und damit zeigte, daß er kein Vertrauen zu dem Durchhaltewillen unseres Volkes hatte.

IV.

Die Studienreisen durch Sibirien und Westrußland (1910 und 1912) 1.

Sibirien

(Anlaß 'und, Verlauf der Reise, das Klima, Bahn und Ströme, die Steppenfahrten) Eine Besonderheit der Kölner Handelshochschule, die ihr Studiendirektor, Prof. Dr. Eckert, unterstützt von einigen Kollegen, einige Jahre hindurch mit Studenten durchgeführt hat, ist in den großen Studienreisen entstanden, die den Teilnehmern einen recht guten Einblick in ausländische Verhältnisse gewährt haben. Sie waren möglich dank den Beiträgen, die jeweils eine größere Anzahl von wohlhabenden Bürgern der Stadt in entsprechender Höhe dafür geleistet haben. Nicht zuletzt war wichtig, daß für jede dieser Reisen durch Stipendien auch solche Studenten zugezogen werden konnten, die sich als tüchtig erwiesen hatten, aber die Kosten nicht aufzubringen vermochten. An zweien dieser Reisen habe ich mich beteiligt: an der nach der Levante und der nach Ost-Afrika. Beide waren vorzüglich vorbereitet und ließen uns dank den Führungen, die allenthalben die deutschen Auslands* und Kolonialbehörden uns stellten, und dank den Erklärungen der draußen tätigen Deutschen sehr viel mehr sehen und vor allem erfahren, als uns sonst beschieden gewesen wäre. Es war auch wichtig, daß wir Professoren auf der Grundlage spezieller Vorstudien bei der Ausfahrt die Studenten durch Vorträge auf das Besuchsgebiet vorbereiteten, und, daß auf der Rückfahrt ältere Studenten uns über ihre Eindrücke zu

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IV. Die Studienreisen

durch Sibirien und

Westrußland

berichten hatten; jedesmal schloß sich ein ziemlich reges Frage- und Antwortspiel an. Eine weitere Auslandsstudienreise habe ich während meiner Kölner Zeit nach S i b i r i e n durchführen können. Sie hing nicht mit der HH zusammen. Mich hat vielmehr auf Grund meiner Dr. phil.-Dissertation der Juniorchef einer Moskauer Unternehmung eingeladen, ihn als wissenschaftlicher Beobachter auf einer längeren Fahrt zu begleiten, die ihn durch die wichtigsten Teile des russisch-nordasiatischen Besitzes führen und etwa drei bis vier Monate dauern sollte. In der Firma, die zu den größten Unternehmungen Rußlands gehörte, jedoch reiner Familienbesitz geblieben und nicht Aktiengesellschaft geworden war, kam der deutsche Ursprung noch im Namen des Begründers Wogau zum Ausdruck, und nicht nur die älteren Inhaber, auch mein Gastfreund und die höheren Angestellten, die sämtlich der deutschen Kolonie Moskaus entnommen waren, hielten die deutsche Sprache noch im ständigen Gebrauch, wenngleich ihre Familien längst die russische Staatsangehörigkeit erworben hatten. Der Zweck der Reise sollte sein, den Teilnehmern einen Einblick in die sibirischen Verhältnisse und Entwicklungsmöglichkeiten und so ein eigenes Urteil über das Land zu verschaffen, von dem neuerdings in Rußland viel gesprochen werde. Es war also eine denkbar reizvolle Aufgabe, die sich mir bot. Daß ich sie übernehmen mußte, war für meine Frau ebenso wie für mich eine Selbstverständlichkeit. Gegen Verzicht auf mein Gehalt für das Sommersemester 1910, das mir von meinem Gastfreund zu ersetzen war, erhielt ich den erforderlichen Urlaub. Ende Mai begann die Fahrt. Außer mir nahmen noch der Leiter der Tee-Abteilung der Firma, ein junger Verwandter der Firmeninhaber und ein russischer Privatdozent der Volkswirtschaftslehre teil. Besonders wertvoll war für mich, daß mein Gastfreund dank den mannigfachen Industriebetrieben, die sein Haus in eigener Verwaltung führte und dank mehreren Kartellen, an denen es maßgeblich beteiligt war, die industriellen Verhältnisse des europäischen Rußlands genauestens kannte und mich in vielen Unterhaltungen darüber unterrichtete. Ich will hier nur die wichtigsten Erscheinungen behandeln und durch die Erzählung teiniger persönlicher Erlebnisse ergänzen. So glaube ich auch der Gegenwart noch etwas bieten zu können, was f ü r sie wichtig ist; herrschen doch über Sibirien auch jetzt noch Meinungen, die

1.

Sibirien

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bereits im Jahre 1910 grundfalsch waren und vollends heute die entscheidenden Züge des dortigen Lebens gründlich verkennen. Die Fehlmeinungen beginnen mit dem K l i m a . Man stellt sich das Gesamtgebiet als so etwas wie einen Eiskeller vor, in dem die Sonne den Boden nicht aufzutauen vermag und den Pelz sogar im Sommer nicht entbehren lasse. Hieran ist gewiß richtig, daß der Winter um einige Wochen länger als bei uns anzuhalten pflegt und bis in die südlichen Teile des Gebiets zu Kältegraden führt, die uns unbekannt sind; in der nördlichen Hälfte taut auch in der Tat der tiefere Untergrund des Bodens niemals auf, wie bekanntlich dort Mammutreste und ähnliche Zeugen früherer Zeiten gefunden worden sind. Zum Ausgleich ist aber der Sommer auch im Norden um so heißer, wie es dem ausgeprägten Kontinental-Klima entspricht. Für den Süden, für die Vorberge des Altai z. B., reicht meine Erfahrung bis zu 55° C im Sonnenschein, und in der Tundra des Nordens taut der Boden doch so weit auf, daß flachwurzelnde Pflanzen, wie namentlich Getreide, für dieses Gebiet herangezüchtet werden können; überall wirkt die Sonne so stark, daß die Reifungszeit um etwa vier bis sechs Wochen kürzer ist als in unseren Breiten. Für den Menschen wird der nur selten unterbrochene Sonnenschein der Tage durch die starke Abkühlung der Nächte (nach meiner Erfahrung im Süden bis auf 4° C herunter) ausgeglichen. Gelegentlich kommt auch am hellichten Tage ein Nordsturm angebraust, der das Thermometer binnen weniger Minuten um 20° C und mehr senkt und nach der vorangehenden Hitze empfindlich frieren läßt. Eben diese Nordstürme sind es aber auch, die im Winter — hier setze ich Moskauer Erfahrungen ein, da ich in Sibirien nur den Sommer erlebt habe — die Kälte erst schwer erträglich machen; dann gilt es als derbe Unhöflichkeit, Mann oder Frau, deren Nase oder Ohr man die Gefahr des Erfrierens ansieht, hierauf nicht hinzuweisen, damit sie sich die gefährdeten Glieder mit Schnee warmreiben können. Im ganzen gilt Sibiriens Klima als gesund, wie mir noch in Irkutsk, weit nach dem Osten hin vorgeschoben, der dort tätige baltische Arzt versichert hat. Was dem Rußlandreisenden, der zum ersten Mal das Land betritt, zuerst mit starkem Eindruck als etwas Neues bewußt wird, das sind die gewaltigen Entfernungen, die selbst bei beschränktem Ziele zu überwinden sind, und hiermit die Bedeutung, die den V e r k e h r s m i t 3 Wiedenfeld, Zwischen Wirtschaft und Staat

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IV. Die Studienreisen

durch Sibirien

und

Westrußland

t e 1 n beigemessen ist — was dem Mittel- und Westeuropäer kaum noch zum Bewußtsein gelangt. Gewiß hatte ich bereits in Ostafrika eine Bahnfahrt von rd. 48 Stunden über mich ergehen lassen müssen. Daß man aber von der Westgrenze des Reichs bis zum Zentrum des „europäischen" Gebietsteils bei größerer Geschwindigkeit reichlich zwei Tage braucht, wirkt doch überraschend, und mit Wohlbehagen genießt der Reisende den Schlafplatz, für den sein Sitz abendlich in jedem Wagen umgewandelt wird, und den größeren Raum des Abteils, der sich aus der Breitspur der russischen Schienenwege von Praga ab, der rechtsufrigen Vorstadt Warschaus, ableitet. Von Moskau jedoch nach Omsk als der ersten Großstadt Sibiriens und dem Zentrum des Generalgouvernements Westsibirien sind es damals fast vier Tage gewesen und nach Irkutsk, der nahe dem Baikalsee gelegenen Hauptstadt Ostsibiriens, gar acht Tage, in denen der „Expreßzug" die Entfernung überwand. Zum Vergleich sei angeführt, daß in Deutschland die größtmögliche Strecke von der russischen bis zur Schweizer Grenze, bei allerdings erheblich größerer Geschwindigkeit, bequem in 24 Stunden zurückgelegt werden konnte. Auf dem Boden Sibiriens und schon östlich der Wolga war die Bahn eingleisig und der einzige Schienenweg, der jenseits des Urals das gewaltige Land durchquerte; erst nach der Revolution von 1917 wurde sie zweigleisig ausgebaut und in ihrem Unterbau f ü r größere Geschwindigkeiten verstärkt, wie auch im westlichen Teil bis zum Jenissej und nach Zentralasien hin neue Linien in beträchtlicher Ausdehnung hinzugekommen sind. Im wesentlichen ist die Stammbahn bis zum Baikalsee dem sog. Sibirischen Trakt gefolgt; jenem Weg also oder besser jener Richtung, die seit alters dem Karawanen- und Personenverkehr gedient hatte, d. h. einem Stück Steppe, in das in wechselnder Breite die Wagen je ihre Spur eingedrückt hatten, an der jedoch sonst niemals etwas von Menschenhand gefestigt worden ist. Von diesen Transporten war schon 1910 nicht gar viel übrig geblieben. Die Eröffnung des Suezkanals (1869) hat vor allem den chinesischen Tee den Ozeandampfern soweit überwiesen, daß die Bezeichnung Karawanentee seitdem nichts mehr mit der Art des Transportes zu tun hat, vielmehr zu einer Qualitätsbezeichnung f ü r das Gewächs der ersten Jahresernte geworden ist. Nicht einmal der örtliche Bedarf Sibiriens ist dem alten Wege treu geblieben, seitdem die Bahn erst den Baikalsee

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und dann an der Küste des Großen Ozeans ihren ßchlußpunkt Wladiwostok (d. h. Zwingburg des Ostens) erreicht hat. Dies wird erklärlich, wenn man den Zeitaufwand, den eine Karawane brauchte, mit dem vergleicht, der für die neue Bahn zu rechnen war: dort von Shangai, dem Hauptverschiffungshafen für den chinesischen Tee, bis zum östlichen Fuß des Uralgebirges eineinhalb bis zwei Jahre und bei ungünstigen Witterungsverhältnissen noch wesentlich mehr, hier dagegen wenige Wochen und dazu noch eine bessere Schonung des Gutes. Im Personendienst ist der Vorsprung des Schienenweges noch erheblich stärker und gilt auch gegenüber dem Ozeanwege; dem Mangel an Bewegung wurde dadurch die Schärfe genommen, daß täglich dreimal, nach den Mahlzeiten, der Expreß einen Aufenthalt von einer halben Stunde hatte, den die Reisenden schon vor der ersten und noch nach der letzten Minute auszunutzen pflegten, und nicht gering ist auch einzuschätzen, daß zwischen Europa und Ostasien, sogar zwischen New York und Ostasien sich zu Lande kein Rotes Meer mit fünf bis sechs Tagen Qual in die Fahrt einschiebt. Für Sibirien selbst hat die Bahn eine ganz gewaltige Steigerung ihrer Bedeutung erhalten durch das Verhältnis, in welchem sie zu den riesigen S t r ö m e n des Landes angelegt ist. Diese — der Irtysch, der Ob und der Jenissej — werden alle drei an Stellen gekreuzt, von denen sie nach Nord und Süd auf Tausende von Kilometern für große Dampfer schiffbar sind. Urmodern waren die Schiffe, mit denen wir von Omsk den Irtysch hinauf nach Semipalatinsk und dann von Barnaul den Ob hinunter, den Tom hinauf, nach Tomsk fuhren; so neuzeitlich nach nordamerikanischem Muster gebaut und ausgestattet, daß wir die Vernachlässigung dieses Umstandes auf unserer Steppenfahrt mit dem Verlust des Proviants bezahlen mußten, den wir dafür in Omsk besorgt hatten: wir hatten ihn in unseren Kabinen verstaut und nicht bedacht, daß in den Nächten bei 4 bis 5° C gegenüber 35—40° C Tagestemperatur das Angehen der Zentralheizung eine unabweisbare Notwendigkeit war, für Konserven aber nicht gerade das Richtige. Sogar die kleinen Dampfer, mit denen wir dem Irtysch noch in die Vorberge des Altai hinein und dem Jenessej von Krasnojarsk hinauf bis Minussinsk, dicht an die chinesische Grenze folgten, hatten wohnliche und heizbare Kabinen. In den Altaibergen gab es trotzdem auf der Rückfahrt ein recht unbehag3*

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IV. Die Studienreisen

durch Sibirien und

Westrußland

liches Erleben: unser Dampferdien war zu stark mit frischen Häuten und Därmen beladen und lief daher für zwölf Stunden auf einer Sandbank auf — bei einer Hitze von 40—50° C in praller Sonne, ohne Wind, mit solcher Ladung. Das war furchtbar für den ganzen Körper, nicht zuletzt für die Nase. Etwas Entschädigung lag darin, daß uns die Bedeutung des Transitverkehrs mit der Mongolei recht deutlich zum Bewußtsein gebracht wurde. Ein Gegenstück zu diesem Erlebnis hat sich uns auf dem Jenissej geboten. Dort wäre der kleine Dampfer, mit dem wir den Fluß hinaufgefahren waren, mit der fahrplanmäßigen Rückfahrt zu spät für den nächsten Expreßzug an die Bahn gekommen. Deshalb vertrauten wir uns für die nötigen 48 Stunden einem langen, schmalen Kahn an, der von der starken Strömung getragen und nur vom ortskundigen Paddler gesteuert, aber nicht gerudert werden sollte. Das wurde das schönste Erlebnis der ganzen Reise: der mächtige, schnell dahinströmende Fluß — auf beiden Seiten von herrlichen Wäldern begleitet —. die strahlende Sonne durch den Strömungswind gemildert — nachts ein Sternenhimmel, wie ihn nur die trockene Luft des Kontinentalklimas hervorzuzaubern vermag — dazu von den Ufern her das Geheul der Wölfe, die wir auf dem Strome nicht zu fürchten brauchten. Da erstarb jedes Gespräch, und die Natur allein hatte das Wort. In der zweiten Nacht wurde es allerdings durch einen starken Nordwind etwas ungemütlich; wir froren nicht nur tüchtig, wir mußten auch mit verspätetem Ankommen rechnen und damit mit einem Verpassen des Expreßzuges, was einige Tage ungeplanten Aufenthalt bedeutete. Am nächsten Morgen fuhr denn auch unser kleiner Dampfer an uns vorbei, lehnte aber der starken Strömung wegen das Mitnehmen ab. Trotzdem schmeckte das Frühstück, am Ufer rasch mit etwas gesammeltem Reisig warm bereitet, als ein besonderer Genuß. Als wir endlich einige Stunden nach dem Dampfer in Krasnojarsk wieder anlangten, war der Expreß noch nicht durchgekommen, und der kam auch erst geraume Zeit später, nahm uns nach Moskau mit und fuhr dort nach sechs Tagen Fahrt pünktlich zur fahrplanmäßig vorgesehenen Zeit trotz der ursprünglichen Verspätung ein. Von Semipalatinsk nach Barnaul, vom Irtysch zum Ob hinüber haben wir auch eine A u t o f a h r t genossen. Auf dem natürlich gebliebenen Steppenboden waren sämtliche Reifen unseres Postwagens binnen

1. Sibirien

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weniger Stunden durchgebrannt; der Wagen war überlastet, weil kurz vor der Abfahrt ordnungswidrig der Ortspolizist uns gezwungen hatte, noch einen Fremden mit starkem Gepäck aufzunehmen. Das bedeutete, bis zum Nachmittag des nächsten Tages, abgesehen von einem ganz kurzen Nachtaufenthalt, ohne Reifen auf der reinen Steppe zu fahren. Da sehnten wir uns nach unserem P f e r d e f u h r w e r k zurück, mit dem wir kurz zuvor vom Irtysch aus (Pawlodar) einen Jahrmarkt in der Kirgisensteppe besucht hatten. So ein Reisefuhrwerk, ein Tarantas, läßt sich am besten mit einem sehr großen und tiefen Waschkorb vergleichen, der für zwei oder auch drei Erwachsene gut Platz bietet. Seine Federung besteht in drei Birkenstämmchen, die nur auf einer Querseite am Wagenrahmen befestigt sind und daher die Stöße der Steppe vortrefflich auffangen. In den Korb kommt zuunterst das größere Gepäck, darauf eine tüchtige Lage von Stroh und Heu und schließlich einige Wolldecken. Das kleinere Gepäck, nicht zuletzt der Wäschesack mit seinen Kissen und Laken gibt die Rückenlehne. Man liegt in Bogenstellung Tag und Nacht. Hat man sich in dem Wagen fest eingelegt, so werden drei Panjepferdchen vorgespannt, die eben erst auf der Weide eingefangen sind und vielleicht noch nie einen Wagen gezogen haben. Zwei Kirgisen halten das Stangenpferd und je ein Seitenpferd, während ein dritter und vierter die Verbindung mit den Querdeichseln besorgen. Ist alles in Ordnung, so steigt der kirgisische Kutscher auf den Bock, d. h. setzt sich auf ein Brett, das vorn über den Korb gelegt ist. Auf seinen Ruf springen die anderen Kirgisen mit möglichst weitem Sprung beiseite, und die Pferde, nicht der Kutscher, bestimmen zunächst die Richtung der Fahrt. Das geschieht zumeist nicht so, wie es zum Ziele führen würde; oft genug entgegengesetzt, so daß der Wagen nicht gerade zum Behagen der Insassen stark um seine Längsachse gedreht wird. Eine ganze Weile läßt der Kutscher das Gespann dahinstürmen. Wenn aber das Stangenpferd aus seinem Galopp in den ihm zukommenden Trab fällt, nur noch die Seitenpferde galoppieren, dann übernimmt der Kutscher die Lenkung. Vielleicht nach einer halben Stunde fährt man einigermaßen ruhig in der richtigen Richtung an der Station des Pferdewechsels vorbei. Das wiederholt sich alle zwei oder zweieinhalb Stunden bei Tag und Nacht, f ü r uns während vier Tagen auf der Hinfahrt zu dem Jahrmarkt und während reichlich zweier Tage auf der Rückfahrt,

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IV. Die Studienreisen durch Sibirien und Westrußland

unterbrochen durch den Aufenthalt auf dem Jahrmarkt von Kujandy tief in der Kirgisensteppe.

2. Die primitiven

Seiten des sibirischen

(Nomadenwirtschaft,

Bergwerke,

Wirtschaftslebens

Verarbeitungsbetriebe)

Unter den primitiven Seiten des sibirischen Wirtschaftslebens stehen die N o m a d e n v ö l k e r weitaus im Vordergrund. Deren stärkstes sind die Kirgisen, deren Daseinsführung wir auf der Fahrt zum Jahrmarkt und mehr noch auf diesem selbst beobachten konnten. Ihre Stämme zogen im Jahre 1910 noch in dem gewohnheitsrechtlich festumgrenzten Teilgebiet mit ihren Pferde- und Schafherden in regelmäßiger Anpassung an die Jahreszeiten umher; wirtschaftlich waren sie mit der übrigen Welt noch immer ausschließlich durch ihre Jahrmärkte verbunden, lebten in allem Wesentlichen naturalwirtschaftlich aus der eigenen Produktion. Für den Ziegeltee einfachster Art, für Zucker und allenfalls auch sonstige Luxuswaren zahlten sie mit Schafen, Pferdehäuten und Därmen. Im Mittelpunkt ihres Daseins stand die einzelne Familie in ihrer Jurte, einem Rundzelt, dessen Wände und Decke aus dichtem Wollfilz sie gegen die stärksten Stürme sichern, das sie nur während des Winters im Norden des Gebietes mit Erdhöhlen vertauschen. Nahrung und Kleidung liefern ihre Herden, vor allem ihre Schafe. Die Kleidung zeigt noch genau dieselbe Form, welche die altgriechischen Vasenscherben Südrußlands für die Skyten erkennen lassen. Ihr soziales Unterscheidungsbedürfnis, ihren Schmuckbedarf gleichsam befriedigt in der Hauptsache der Umfang ihres Pferdebesitzes und allenfalls ein Stück bunten Baumwolltuches, das sie auf dem Jahrmarkt gegen Schafe und deren Produkte eintauschen. Die Pferdeherden tragen zwar in Gestalt der Stutenmilch auch zu ihrer Nahrung regelmäßig bei; Fleisch kommt jedoch in den Kochtopf nur, wenn etwa ein Pferd einem Sturm zum Opfer gefallen war oder aus sonstigem Grunde getötet werden mußte und dann geschlachtet wurde. Das Schaf — nach der Abraham-IsaakLegende dem Kinde gleichgestellt — war ihnen als Mohammedanern das Opfertier geblieben. Auf dem Pferde aber lebte der Kirgise von frühester

2. Die primitiven

Seiten des sibirischen

Wirtschaftslebens

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Kindheit an; mit ihm verwuchs er zu jener Einheit, die den alten Griechen den Skyten als einen Zentauer zu sehen nahelegte. Auf dem Jahrmarkt konnten wir immer wieder beobachten, daß etwa ein Häuptling, von zwei berittenen Dienern begleitet, von Laden zu Laden die kurze Entfernung nicht zu Fuß mit wenigen Schritten überwand, sondern über den breiten Fußgängerweg zu seinem Pferde ging, sich auf dieses hinaufheben ließ und nach wenigen Schritten wieder abstieg, um über denselben Fußgängerweg an den benachbarten Laden heranzugehen — so wollte es offenbar seine Würde. Dennoch hatte sich die fremde Welt bereits seit Menschenaltern in seine Lebensführung als unentbehrlich eingeschaltet mit dem chinesischen Tee, den er in Ziegelform geringster Sorte mit der Stutenmilch und reichlich Zucker mischte, um ihn als Suppe mit dem Holzlöffel zu essen, nicht etwa direkt mit dem Munde zu schlürfen. Was er sonst auf dem Jahrmarkt gegen die Erzeugnisse seiner Schafhaltung eintauschte — eine messingbelegte Eisentruhe etwa oder jene Stücke grellbunten Baumwolltuchs oder auch eine Nähmaschine —, das war als Luxus zur Hebung seines Ansehens bestimmt. Auch die Geldbenutzung war wenigstens den Häuptlingen und den Ältesten nicht ganz fremd geblieben; die Kopfsteuer und die leichteren Strafen zog die russische Staatsverwaltung in Geld vom Häuptling als dem Vertreter seines Stammes ein. Das soll, wie es den Anfängen der Geldbenutzung überall in der Welt entsprochen hat, in der Steppe ein recht einträgliches Geschäft gewesen sein: wer das Amt begehrte, mußte etwa drei- bis fünftausend Rubel unter die wahlberechtigten Ältesten verteilen, um die Mehrheit zu gewinnen. Die Masse der Kirgisen dagegen konnte weder schreiben und lesen noch1 gar rechnen. Nicht anders war das Leben bei den mongolischen Burjaten, die jenseits des Baikalsees im Gebiet der Amurquellen ihre Jurten und ihre Herden haben. Auch sie führten damals noch ungebrochen ihr Nomadenleben und konnten nicht daran denken, ihre Pferde und Schafe gegen die Stürme und die Kälte der Nächte und Winter durch feste Anlagen zu schützen. Audi ihre Pferde bildeten gegen die Stürme lange, schnurgerade Reihen, an deren Spitze die schwächsten Tiere durch die stärkeren gedrängt wurden und nun der Naturgewalt zum Opfer fielen. Durch Schnee und Eis mußte das Futter nicht anders wie im Sommer durch

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/V. Die Studienreisen durch Sibirien und Westrußland

die Trockenheit von den Tieren selbst gefunden werden. Man rechnete, daß etwa ein Drittel der Herden in jedem J a h r den Unbilden der Witterung und den Schwierigkeiten der Ernährung bei den Burjaten ebenso wie bei den Kirgisen preisgegeben wurde. Außer dem Tee war den Menschen alles, was von der Außenwelt zu ihnen kam, ebenfalls noch immer ein Luxus. So konnten wir es bis zur mandschurischen Grenze beobachten, die wir mit der Bahn bei der Station Mandschurija erreichten, um dann umzukehren und von Krasnojarsk aus noch ein Kupferbergwerk bei Minussinsk zu besichtigten. Mit diesem B e r g w e r k offenbarte sich uns die ganze Primitivität, mit der noch im westlichen Sibirien die Schätze der Erde ans Tageslicht gehoben wurden; die großen Goldwäschereien des nordöstlichen Lenagebietes lagen zu weit abseits unserer Reiselinie und wären n u r mit allzu großen Schwierigkeiten zu erreichen gewesen, als daß wir sie noch hätten aufsuchen können. Bei Minussinsk, dicht an der chinesischen Grenze, ging es in einem engen Schacht, eine offen brennende und nirgends geschützte Kerze in der Hand, auf eisernen Sprossen etwa 20 m in die Tiefe, und kärgliche Kerzenlampen gaben auch dem unterirdischen Betriebe ihr spärliches Licht. Man kann sich vorstellen, wie weiß besprenkelt wir wieder heraufkamen; als „weißgewaschene Jungf r a u " stand beim Einstieg bereits der Unterste zum Empfang bereit. Die Arbeitskräfte zeigten eine bunte Mischung von Mongolen und Russen. Die Leitung hatte ein baltischer Bergingenieur. In der naheliegenden Hütte wurde in ebenfalls primitiver Technik das Rohkupfer vom Rohblei getrennt. Eine Aschenschale aus reinem Kupfer durften wir als Andenken mitnehmen.

3. Die (Großstädte,

Kulturelemente

die Verbannten, Siedlungssteppe, Bauern)

Kosaken,

deutsche

In diese Primitivität hat die Sibirische Bahn von Anfang an eine Bresche geschlagen und allmählich nach Osten erweitert. Der Großteil des gesamten Russisch-Nordasien war gewiß nach wie vor von den

3. Die Kultur elemente

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Sumpfwäldern der Taiga eingenommen, in denen nur vereinzelt Pelztierjäger und Altgläubige ihr Dasein fristeten, und hoch im Norden lebten auf den Moossteppen der Tundra über ständig gefrorenem Boden noch immer fast ausschließlich „Fremdvölker" in altgewohnter Einfachheit. Was längs der Riesenflüsse, vor allem an der Ob- und Jenissejmündung an russischen Händlern siedelte, gab dem Gesamtbilde kaum eine andere Farbe. Zum Kern der Bevölkerung waren denn auch jene Kulturelemente geworden, die in den Städten und in der Altaisteppe in wenig mehr als einem Jahrzehnt die Bewohnerschaft mächtig vermehrt hatten; sie waren aus dem europäischen Rußland gekommen, haben nun hier sich eine neue Grundlage ihres Lebens geschaffen. Der Schienenweg hatte mit Hilfe der gekreuzten Ströme seine Wirkung, vor allem nach Süden bis an die Grenzgebiete als Träger neuer Arbeitsmöglichkeiten tragen können, ist aber wenigstens im äußersten Westen bis an den Ural heran nach Norden hin zu gleicher Wirkung gelangt. Sogar die kleinen Ortschaften, die vordem vom Karawanen- und Postverkehr mit der Gestellung von Pferden und Lebensmitteln wie auch mit sonstigen Hilfen gutenteils ihren Lebensunterhalt bezogen hatten, gewannen als Vermittler des regionalen Handels an Größe und Bedeutung; eine Ausnahme hat nur Irbit gebildet, das Gegenstück zu Nishni-Nowgorod am Ostfuß des Uralgebirges, das ebenso wie die Wolgastadt in seinen Messen den Rückgang des Karawanenverkehrs stark zu spüren bekommen hat. Am stärksten haben sich in Sibirien, wie sonst in der Welt, diejenigen S t ä d t e entwickelt, die entweder an den Kreuzungsstellen von Bahn und Strom oder an den Endpunkten der Großschiffahrt zum Teil schon bestanden, zum Teil aber auch ganz neu errichtet wurden. Die Zentren der Verwaltung — ein Omsk, Tomsk und Irkutsk — waren im Jahre 1910 bereits zu Großstädten von mehr als 100 000 Bewohnern angewachsen, und wenngleich noch immer die Militär- und Zivilbehörden des Staates sich recht stark bemerkbar machten, so hatten doch daneben der Warengroßhandel und das Bankentum von Moskau und Petersburg aus dort für ihre Filialen recht ansehnliche Bauten errichtet, wie es auch an gut ausgestatteten Kaufhäusern und iSpezialläden des Einzelhandels nicht fehlte. In Tomsk konnten wir auch an großen Neubauten ablesen,

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IV. Die Studienreisen

durch Sibirien und

Westrußland

daß die Universität und Technische Hochschule, die einzige für ganz Sibirien, im letzten Jahrzehnt einen kräftigen Aufstieg genommen hatte. Tief im Süden, dort wo auf dem Ob und dem Tom die Großschiffahrt mit den kleinen Dampfern und Kähnen des Oberlaufs die Waren tauscht, waren Semipalatinsk und Barnaul wichtig genug geworden, uns für ein paar Tage zu beschäftigen. Am Jenissej hatte der Kreuzungsort Krasnojarsk das alte Verwaltungszentrum Jennissejsk, weiter nördlich am Strom gelegen, tief in den Schatten gestellt. Erst weit östlich des Baikalsees lernten wir in Tschita, der Hauptstadt der Provinz Transbaikalien, ein Verwaltungszentrum kennen, das dem ganzen Ort sehr ausgeprägt den Charakter bestimmte, in seinen Bauten jedoch auch schon recht deutlich das Neue ihres Wesens offenbarte; dort gab es in der stark gebirgigen Landschaft keinen Fluß, der den Handel hätte beleben können, und das Nomadenvolk der Burjaten, nichtrussisches Bauerntum, stellte die Bevölkerung des platten Landes. Noch weiter östlich, ganz ins Gebirge eingelagert, hatte nicht einmal die Stelle, an der der Amur für größere Dampfer schiffbar wird, dank demselben Fehlen einer entsprechend eingestellten Landbevölkerung einen neuen Charakter bekommen: Nertschinsk hatte nicht den Eindruck einer Militär- und Beamtenstadt kleinen Ausmaßes überdecken können. In den Verwaltungsbehörden des Staates ist uns die beträchtliche Zahl von V e r b a n n t e n aufgefallen, die darin angestellt waren. Diese hatten, wegen leichterer Vergehen aus dem europäischen Teil des Zarenreiches nach Sibirien ausgewiesen, sich nach einigen Jahren schweren Existenzringens im Beamtentum eine feste Lebensstellung zu schaffen vermocht. Sehr zahlreich waren darunter die deutschen Balten; für midi war daran besonders wichtig, daß ich in Angestellten der Eisenbahn oft Personen finden konnte, mit denen ich mich in unserer gemeinsamen Sprache unterhielt und wertvollen Gedankenaustausch vollziehen konnte. Das Schwergewicht der Bevölkerung Sibiriens hatte sich jedoch, seitdem die Eisenbahn erst Omsk am Irtysch (1895) und dann am Ob Nikolajewsk (1898, jetzt Nowosibirsk) erreicht hatte, für den Westteil mehr und mehr in die S i e d l u n g s s t e p p e verlagert. In diese strömte, von der Regierung mannigfach unterstützt und durch sog. Kundschafter dorfweise vorbereitet, eine Völkerwanderung hinein, wie sie die Welt noch nicht erlebt hatte. Bis zu sieben- und achthunderttausend Über-

3, Die

Kulturelemente

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Siedler sind jährlich gezählt worden, die nach der Regel der staatlichen Verwaltung mit ordnungsgemäßen Pässen den Ural überschritten haben, und hinzutraten mit ebenfalls hohen Zahlen solche russische Bauern, die auf eigene Faust den Weg nach dem Osten gezogen sind; uns berichtete man von etwa 250 000 solcher irregulär gekommener Menschen, die nun als Knechte bei den Bauern arbeiteten. In merklichem Unterschied hierzu standen die K o s a k e n , die auch räumlich und sozial von den Bauernsiedlungen streng getrennt lebten. In Westsibirien waren ihre sog. Heere (besser: ihre Regimenter) ursprünglich dazu bestimmt gewesen, gegen die Kirgisensteppe, die erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts dem russischen Reich wirklich eingegliedert und entwaffnet worden war, den russischen Siedlungsraum nach West, Nord und Ost abzuschirmen; nur in Ostsibirien dienten sie noch dem Schutz der Grenze gegen China. Aus dem Stammesbegriff, der im Dongebiet Südrußlands verwurzelt ist, war längst eine rein militärische Organisation geworden, wie wir sie noch beobachten konnten. Die sibirischen Regimenter füllten in der Hauptsache nicht kosakische Kleinrussen, sondern Großrussen und auch Alt-Eingeborene — im Westen Kirgisen, im Osten Burjaten. Der militärische Charakter fand seinen Ausdruck in der Erziehung der Knaben zu Reitern, die auf dem Pferde groß wurden und anstrengendsten Ritten gewachsen sind. Nach fünfjährigem Volldienst war dann der Kosak bis zum 50. Lebensjahr in der Reserve geführt und zu einer täglichen Übung verpflichtet, die allerdings kaum je eine halbe Stunde überschritt und so gut wie ausschließlich in Reiterkunststückchen bestand. Zum Unterhalt diente den Kosaken ein überreicher Landbesitz, östlich breit an den Irtysdi als die wichtigste Wasserquelle der Altaisteppe vom Saissansee bis Omsk gelagert und dann an den Südfuß des Uralgebirges und den Uralfluß reichend. Dieser Besitz wurde völlig extensiv, in der Viehhaltung fast noch weniger sorgfältig genutzt, als die benachbarten Bauern es taten. Eine engere Verbindung, z. B. ein Heiraten zwischen den Kosaken und den Bauern, wird von beiden Seiten peinlich vermieden. Der Landreiditum der Kosakenregimenter hat aber nodi eine Erscheinung im Gefolge gehabt, die uns von den Deutschtumsinteressen her anging. Der Ansiedlung der ursprünglich d e u t s c h e n B a u e r n , die in der Zahl von etwa 20 000 Köpfen bei der Stadt Omsk sidi der Übervölkerung des Wolgadeutschen Bezirks entzogen hatten, war von der

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IV. Die Studienreisen

durch, Sibirien

und

Westrußland

Regierung jede Hilfe verweigert und auch in der Altaisteppe kein Land überlassen worden. Von ihren Heimatdörfern aber mit Geld und Werkzeug unterstützt, haben sie von den ebenfalls weiten Flächen, die den Kosakenoffizieren zur Sicherung ihres Lebensunterhalts, als Gehalt und Pension gleichsam, zu freier Verfügung überwiesen waren, große Stücke pachten und sogar käuflich erwerben können. Hier haben sie in ähnlich sorgfältiger Weise, wie sie es von ihrem russischen Ausgangsorte her gewohnt waren, — die Tradition reicht bis an die Ufer des Schwarzen Meeres — ihre Höfe aufgebaut mit festen Steinhäusern und mit Ställen f ü r Pferd und Vieh. Audi der Acker wurde nicht in einfachster Feldgraswirtschaft genutzt; es war eine Art von Dreifelderwirtschaft, die dem Klima angepaßt war: anstelle der Winterfrucht, deren Anbau der Winter verbot, wurden Futtergewächse gezogen, die neben dem Weidegang des Sommers in Stallfütterung das Vieh durchhielten und nicht nur die schweren Verluste der russischen Viehhaltung vermieden, vielmehr dem Acker auch Stalldünger zuzuführen erlaubten. Kein Wunder natürlich, daß die größeren Erträge und das bessere Aussehen der Höfe von den rassischen Bauern mißgünstig, von den Kosaken verächtlich betrachtet wurden.

4. Der Ural — eine Grenze Europas?

Man fragt sich unwillkürlich, ob diese Zusammensetzung der sibirischen Bevölkerung das U r a l g e b i r g e und den U r a 1 f 1 u ß noch als eine G r e n z e zwischen Europa und Asien anerkennen läßt. Von den Naturverhältnissen her ist sie das sicherlich nicht; denn ebenso wie die Tundra des Nordens und die Taiga der Mitte vom Osten her tief nach Europa, teilweise bis an Norwegens Nordwestküste herübergreift, so setzt sich im Süden das Schwarzerdgebiet Europas fast bis an den Jenissej fort. Das Uralgebirge ist zwar in seinen Spitzen höher und in seiner Erstreckung erheblich länger als etwa der Thüringer Wald; aber er ist fast ebenso schmal, und auf dem Paß, mit dem die Sibirische Bahn es überschreitet, käme man niemals auf den Gedanken, an einer Erdteilscheide zu stehen, wenn da nicht ein Obelisk auf der einen Seite die Inschrift Europa und auf der anderen Asien trüge. Daß der Ural-

4. Der Ural — eine Grenze

Europas?

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fluß keine wirkliche Grenze darstellt, lehrt die Geschichte bekanntlich mit den großen Völkerströmen, die seit ältesten Zeiten hin und her über ihn hinweggegangen sind; er ist zwar mit seinen 2400 Kilometern um rd. 1000 km länger als der Rhein, aber nur in den Wochen der Schneeschmelze wasserreich und schwer zu überschreiten. Auch staatlich ist der Zusammenhang der westlich und östlich dieser angeblichen Grenze gelegenen Gebiete uralt; als Beispiel sei nur die 'Goldene Horde der Mongolen angeführt, die von der Mitte des 13. Jahrhunderts bis an das Ende des 15., also rd. 250 Jahre über beide Seiten geherrscht hat, und dann die schnelle Besetzung Sibiriens durch den Moskauer Staat, die am Ende des 16. Jahrhunderts begonnen und in knapp hundert Jahren bereits den Baikalsee erreicht hat. Auch die staatliche Verwaltung hat sich nicht an die geographisch gezogene Grenze gehalten; die Gouvernements östlich der Wolga haben nach Sibirien hinübergegriffen und erst am Ostfuß des Gebirges, wie jenseits des Uralflusses ihre Grenze gehabt. War es etwa mit der Bevölkerung anders? Auch darin sind kleine Ausläufer asiatischer Stämme auf der Westseite des Gebirges und des Flusses im Norden und Süden seßhaft geblieben; am stärksten die Tataren, die sich in Kasan an der Wolga ein kulturelles Zentrum in ihrer Universität errichtet und f ü r diese über ihr Gebiet hinaus hohes Ansehen errungen haben. In der Mitte hat aber die gewaltige Volksmasse Rußlands jenen starken Strom russischen Volkstums in den Osten gesandt, der im neuen Jahrhundert dem ganzen Sibirien sein Gepräge gegeben hat. Diesen Zusammenhängen entspricht denn auch das volkswirtschaftliche Verhältnis, in dem Sibirien mit den Gebieten westlich des Urals seit Menschengedenken gestanden hat und erst recht in der neuesten Zeit steht. Gewiß hat sich im Fernen Osten vom Baikalsee an fremder Einfluß einschalten können: in Irkutsk stießen wir auf chinesische Händler, die mit den Erzeugnissen ihres Heimatlandes, nicht zuletzt mit Tee und Rohseidenstoffen lebhaften Absatz hatten, und eine deutsche Firma besorgte von Wladiwostok aus ebenso die Versorgung des östlichen Gebietsteils mit europäischen Waren wie den Ankauf der dortigen Rohstoffe. Westlich jenes gewaltigen Sees und der dann folgenden Gebirgszüge jedoch wurde der Güteraustausch mit dem europäischen

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IV. Die Studienreisen

durch Sibirien

und

Westrußland

Rußland und dem westlichen Europa so gut wie ausschließlich über die Messe von Nishnij-Nowgorod und vor allem über Moskaus Großhandel geführt, und an beiden Stellen hat auch Zentralasien bis zur Mongolei hin den Anschluß an die Außenwelt gefunden. Allerdings hat die berühmte Messe der Wolgastadt in jüngster Zeit an Bedeutung stark verloren; der allmählich von West nach Ost fortschreitende Bau der Großen Sibirischen und der Transkaspischen Bahn hat zu erheblichem Teil die jeweils erreichten Gebiete von dem Zwange befreit, sich mit einem nur einmal im Jahre stattfindenden Güteraustausch zu begnügen und hierfür die schweren Hemmungen des primitiven Transports in den Kauf zu nehmen. Längs der Schienenwege wurden von Moskau her in den hochkommenden Großstädten und auch in kleineren Gemeinwesen rasch Filialen errichtet, die nun fortlaufend die Landesprodukte einkauften und die fremden Güter feilboten. Die Einbuße hat im Jahre 1910, als ich von Moskau aus die Messe besichtigte, einen sehr deutlichen Ausdruck in den großen Flächen gefunden, die leer geblieben waren. Der Zusammenhang mit dem europäischen Rußland war jedoch nicht zerbrochen oder auch nur abgeschwächt worden. Moskau hatte die Erbschaft angetreten, und in den dortigen Kontoren wurde gehandelt, was von Nishnij-Nowgorod abgewandert war. So hängt denn politisch, kulturell und wirtschaftlich das Land des Ostens auf engste mit dem Gebiet des alten Rußlands zusammen. Es geht nicht an, das Uralgebirge und den Uralfluß als eine Grenze zwischen dem europäischen und dem asiatischen Rußland zu betrachten. Darf man aber dieses erweiterte Rußland als Ganzes von Europa trennen? Da gibt es bekanntlich bis zu den Karpathen herunter überhaupt keine natürliche Grenze zum mittleren Europa hin, und trotz der kirchlich-christlichen Eigenart des beherrschenden Volkes ist auch der kulturelle Zusammenhang unverkennbar. Oder trägt etwa die russische Literatur asiatischen Charakter? Hat man nicht in Deutschland die Bücher eines Dostojewski und Leo Tolstoi geradezu verschlungen, wie umgekehrt Goethe in mannigfacher Form in Rußland gelesen und interpretiert worden ist? Will man einen Puschkin, Gogol, Gontscharow, Turgenjew als Asiaten bezeichnen? Wer in Moskaus Tretjakow-Galerie einmal die russischen Bilder eines Repin, Schischkin u. a. m. und im sonstigen Europa die immer gleichen Schlachtenbilder Wereschtschagins

4. Der Ural — eine Grenze Europas?

47

auf sich hat wirken lassen, wird ihnen den europäischen Charakter nicht abstreiten wollen, und das Gegenstück bietet die Eremitage Petersburgs, die zu den besten Sammlungen westeuropäischer Gemälde gehört. Europäisch endlich, aber wahrlich nicht zuletzt, ist die russische Musik gewesen mit ihrem Glinka, Mussorgski, Rimski-Korsakow, Borodin, Glasunow; und die drei großen B Deutschlands (Bach, Beethoven, Brahms) sind ebenso wie die deutschen Opern bis zu Richard Wagner immer wieder von großen Hörermengen aufgenommen worden. Lassen wir also die wissenschaftliehen Leistungen Rußlands, deren Verbreitung in Deutschland und überhaupt im übrigen Europa das Fehlen von Übersetzungen im Wege stand, trotz ihrer großen Bedeutung unerwähnt, so muß anerkannt werden, daß umgekehrt die Wissenschaft Mittel- und Westeuropas sehr aufmerksam von den Russen verfolgt worden ist. Rußland gehört also kulturell zu Europa und nicht zu Asien; und nicht nur staatlich, sondern kulturell durch seine Bevölkerung und ihre Sprache nimmt hieran Sibirien teil. Erst die hohen Gebirge, die südlich den sibirischen Raum von China trennen, können als eine Grenze gegen Asien gelten. Äußerlich hat diese Betonung des europäischen und nichtasiatischen Wesens für das Gesamtreich einen augenfälligen Beweis gefunden in der baulichen Eigenart der großen und kleinen Städte des Landes. Im Kern der beiden Hauptstädte wie auch etwa in Kijew und Odessa, in Tomsk, Irkutsk und Wladiwostok überwiegt in den wichtigeren Straßen bei den großen Mietskasernen durchaus eine Bauweise, die deutlich von Mitteleuropa her bestimmt ist; daneben stehen aber nicht nur ausnahmslos die Kirchen orthodoxer Konfession, sondern auch zahlreiche Kleinhäuser in einer Bauart, die selbst bei Stein- und Marmorverwendung an den altrussischen Holzstil erinnert, während nirgends Anklänge an asiatische Baugewohnheiten zu bemerken sind. Dies gilt nicht zuletzt in Moskau für den Kreml mit seiner Fülle von Kirchen, Palästen und einfachen Wohnhäusern, wie auch für den Roten Platz mit seiner bizarren Wassilly-Kirche auf der einen, dem großen Tor und der dahinter stehenden Kapelle der Iberischen Mutter Gottes auf der anderen Schmalseite, den Handelsreihen in der Mitte der einen Längsseite und den sie flankierenden Häusern — alles echt russisch und nicht im leisesten irgendwie asiatisch empfunden. In Leningrad ist es insofern anders, als

48

IV. Die Studienreisen

durch Sibirien und

Westrußland

das Viertel der zaristischen Paläste und Zentralbehörden auf das westliche Europa weist und kaum russische Züge zeigt; von asiatischem Einfluß ist jedoch auch dort nichts zu spüren. Das herrliche Denkmal, das an der Newa „Peter dem Ersten — Katharina die Zweite" gewidmet hat, bekundet unmißverständlich in dem russisch gekleideten und den russischen Säbel schwingenden Zaren in ähnlicher Weise wie die viel ältere Wassilly-Kirche Moskaus, als Werk eines französischen Künstlers den europäischen Zusammenhang, in dem kulturell das Zarenreich mindestens seit Kaiser Heinrich IV. und seiner russischen Gemahlin zum übrigen Europa gestanden hat. Nicht anders stehen die Religion und Religiosität des russischen Volkes — trotz aller Besonderheiten und Gegensätze — im Grundstock als christlich dem Westen nahe, jedenfalls mit Asiens Bekenntnissen nicht verbunden. Die Kirchen haben gewiß einen anderen Stil als im westlichen Europa; er schließt jedoch ebenso wie die Kultform an das christliche Konstantinopel, nicht an das türkisch gewordene Stambul an, und die Aussicht, am Bosporus das Andreaskreuz wieder auf die arg verschandelte Sophienkirche setzen zu können, hat noch immer die Kriege des Zarenreichs in der Masse des russischen Volkes populär gemacht. Man kann auch nicht einwenden, daß es innerhalb des russischen Reiches doch auch mohammedanische Stämme gibt — wie etwa die Tataren und die Kirgisen, die Völker des Kaukasus und Transkaspiens — dazu auch Heiden im Osten und Norden; alle zusammen bilden diese „Fremdstämme" gegenüber den Groß-, Klein- und Weißrussen eine so ungeheuer verzettelte und im ganzen so verschwindende Minderheit (höchstens 20 vom Hundert), daß sie dem Gesamtcharakter des Reichsvolkes keinen bestimmenden Zug eingedrückt haben. Welche Lebensäußerung also zum Erkennen der russischen Wesensart herangezogen wird — immer stößt man im Gesamtbereich des russischen Staates auf Erscheinungen, die unverkennbar, ungeachtet des Uralgebirges und des Uralflusses, auf Europa und nicht auf Asien als verwandt hinweisen.

V.

Der Weltkrieg 1. Die Mitgliedschaft in den wissenschaftlichen des Generalgouvernements

Belgien

und des preußischen Kriegsministeriums

Kommissionen (1915) (1915/18)

In scharfem Gegensatz zu der Einheitlichkeit meiner Kölner Arbeiten hat der erste Weltkrieg mich vor mannigfache Aufgaben recht verschiedener Art gestellt. Ein Jahr lang habe ich noch in Halle die Lehrtätigkeit ausüben können. Dann bin ich zum Heeresdienst eingezogen worden und habe in ihm sowohl wissenschaftliche wie praktische Aufgaben zu lösen gehabt. Meine Forschungstätigkeit konnte und sollte ich auch während des Krieges fortsetzen. Zu einem kurzen Intermezzo während des Krieges ist meine Berufung in die W i s s e n s c h a f t l i c h e K o m m i s s i o n d e s belg i s c h e n G e n e r a l g o u v e r n e m e n t s geworden, für die ich vom August bis zum Oktober 1915 in Brüssel tätig war. Meine Aufgabe bestand darin, aus belgischen Akten und sonstigen Materialien die Transportpolitik festzustellen, die von der Staatsverwaltung Belgiens in der Friedenszeit verfolgt worden war; besonders unter dem Gesichtspunkt, ob etwa besondere Vergünstigungen für den Durchgangsverkehr zwischen Deutschland und Antwerpen im Wettbewerb mit der Rheinsdiiffahrt und der Deutschen Eisenbahn heimlich gewährt worden wären. So wie sie gedacht war, ließ sich jedoch diese Aufgabe nicht erfüllen. Der Zivilgouverneur, der als Präsident der Aachener Regierung mich in meiner 4

Wiedenfeld, Zwischen Wirtschaft und Staat

50

V. Der

Weltkrieg

Kölner Zeit kennengelernt hatte, lehnte es ab, auf die belgischen Behörden einen Druck zur Auslieferung der Akten auszuüben, wie er sich überhaupt gegen die Errichtung dieser WK gewehrt hatte. Er begründete mir gegenüber die Verweigerung damit, daß die deutsche Verwaltung von den belgischen Beamten bis zum Ministerialdirektor aufwärts im Interesse des Landes und auch Deutschlands ein loyales Zusammenarbeiten verlange, und daß dies auch völlig innegehalten worden sei; da wäre es von ihm illoyal, sie zum Herausgeben der Geheimakten zu zwingen. Er hatte mir gleich eröffnet, daß ich sein Verhalten sicherlich richtig finden würde, wie er mich kenne. Und in der Tat, ich habe seine Begründung sofort als stichhaltig anerkannt und mußte nun sehen, wie ich sonst zu einwandfreien Ergebnissen gelangen könnte. Wesentlich Neues, das der Öffentlichkeit nicht schon bekannt war, ließ sich aus den Parlaments- und sonstigen Materialien nicht gewinnen. So benutzte ich die Gelegenheit, mir eine genauere Kenntnis von den Wasserstraßen Belgiens und ihren Verkehrsverhältnissen, wie allgemein von den wirtschaftlichen Grundlagen des Landes zu verschaffen zur Ergänzung dessen, was ich bereits für meine Seehafenarbeit erforscht hatte. Die W i s s e n s c h a f t l i c h e K o m m i s s i o n d e s p r e u ß i s c h e n K r i e g s m i n i s t e r i u m s (WK des KM), in die ich am 1. November 1915 als Stellvertreter des Vorsitzenden, meines alten Lehrers Sering, eingetreten bin, hatte die Aufgabe, die militärische Lenkung des deutschen Wirtschaftslebens in unmittelbarer Fühlung mit den militärischen Stellen zu verfolgen und so eine spätere Darstellung vorzubereiten. Mir fiel hiermit zunächst das große Gebiet der Buntmetall-Bewirtschaftung zu; später sind noch Eisen, Kohle und Erdöl hinzugetreten. Für jeden dieser Wirtschaftszweige stand mir ein Assistent zur Seite, der die erforderlichen Aktenauszüge zu machen, das nach und nach anfallende Material zu sammeln und daraus nach meiner Weisung einen Berichtsentwurf zu verfassen hatte. Die Besprechungen mit den Referenten des KM and sonstiger Behörden, wie namentlich mit den Leitern der allmählich geschaffenen Ausführungsorgane und den Privatinteressenten behielt ich mir selbst vor.

2. Mein Eintritt in die Kriegsrohstoffabteilung 2. Mein Eintritt

(KRA)

in die Kriegsrohstoffabteilung

des preußischen

Kriegsministeriums

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(KRA) (1916)

Für midi hat sich im Herbst jenes Jahres 1916 eine ganz neue Lage und Kriegsaufgabe ergeben. Nach der Aufstellung des sog. HindenburgProgramms, das bekanntlich alle Mann zur Sicherung eines guten Kriegsausgangs aufgerufen hat, erschien es mir nicht mehr angemessen, meine Kenntnis des deutschen Wirtschaftsaufbaus und namentlich der rheinisch-westfälischen Rüstungsindustrie nur in einem wissenschaftlichen Werk auszunutzen, das erst nach dem Kriege an die Öffentlichkeit gelangen sollte und konnte. Ich wollte unmittelbar an der Erfüllung der wirtschaftlichen Kriegsaufgaben mitwirken und bat deshalb den Chef der Kriegsrohstoffabteilung des KM, der bisher schon öfter mich als Berater zu seinen Arbeiten hinzugezogen hatte, mich nunmehr als ständig beteiligten Referenten in seine Abteilung herüberzunehmen. E r willigte unter der Bedingung ein, daß der Vorsitzende der WK mit diesem Wechsel einverstanden wäre und ich auch weiter Mitglied der WK bliebe. Sering stimmte bereitwilligst zu. So wurde ich durch einen Erlaß des Stellvertretenden Kriegsministers als „Kriegsreferent" in die Kriegsrohstoffabteilung (KRA) eingegliedert und darin durch deren Leiter zum wirtschaftlichen Generalreferenten bestellt. In diesem Posten lag nun bis zur Auflösung der KRA nach dem Kriege hauptsächlich mein Arbeitsfeld. Die KRA war Mitte August 1914 im KM neu errichtet worden mit der A u f g a b e , eine systematische Bewirtschaftung derjenigen Rohstoffe durchzuführen, die für die Herstellung von Kriegsmaterial von entscheidender Bedeutung, in Deutschland jedoch nur im beschränkten Umfang zu gewinnen oder aus dem Ausland heranzuholen wären, die also — nach einem später üblich gewordenen Ausdruck — ,,Mangelware" im Sinne des Rüstungsbedarfs darstellten. Den Gedanken, daß dies aller Voraussicht nach notwendig sein würde, hatten bereits in der kritischen Zeit vor dem Ausbruch des Krieges zwei junge Ingenieure der Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft (AEG) auf Grund ihrer Feststellung, daß selbst ein Werk solchen Umfangs nur verhältnismäßig geringe Mengen wichtigster Rohstoffe auf Lager hatte, dem Präsidenten der 4-

52

V. Der Weltkrieg

AEG, Walther Rathenau, vorgetragen. Sie hatten sich, auch nicht bei dessen urspünglicher Ablehnung beruhigt und mehrfach ihn gedrängt, mit einem entsprechenden Vorschlag an das Kriegsministerium heranzutreten als diejenige Behörde, die von jeher die individuellen Bedürfnisse hinter die Allgemeininteressen besonders stark zurückgestellt hätte und entsprechend die jetzt erforderliche Energie besser als das Reichsamt des Innern entfalten könnte. Nach dem Ausbruch des Krieges hat sich auch Rathenau von der Notwendigkeit einer solchen Bewirtschaftung überzeugen lassen, wie auch davon, daß zu deren Führung allein das Kriegsministerium geeignet sei. Er h a t daraufhin erst dem Chef des Allgemeinen Kriegsdepartements (Oberst Scheuch) und dann mit dessen Zustimmung dem Stellvertretenden Kriegsminister (General v. Falckenhain) diesen Plan vorgetragen und mit seiner Beredsamkeit allen Bedenken gegenüber durchgesetzt. Das zuständige Reichsamt des Innern widersprach zwar in der daraufhin einberufenen Besprechung mit der Begründung, daß das KM doch f ü r den Kriegsfall mit zahlreichen Werken die sofortige Lieferung entsprechender Mengen Rüstungsmaterials in der Friedenszeit vereinbart hätte und nun die E r füllung dieser Verpflichtungen durch Androhen der vorgesehenen Konventionalstrafen erzwingen könnte; es mußte sich aber sagen lassen, daß sich mit den etwa gezahlten Geldern dieser Strafen nicht schießen ließe u n d nun einmal mit einem Mangel an entsprechenden Rohstoffmengen bei Versagen jener Betriebe zu rechnen wäre. So ist es zu dem Beschluß gekommen, daß im Preußischen KM eine neue Abteilung, abseits der allgemeinen Departementsgliederung direkt dem Stellvertretenden Kriegsminister unterstehend, errichtet werden sollte. Auf Anregung des KM haben alsbald die einzelstaatlichen Kriegsministerien (Bayern, Württemberg, Sachsen) sich damit einverstanden erklärt, daß diese Abteilung f ü r den Gesamtbedarf des Heeres die Rohstoffbewirtschaftung übernähme. So ist das preußische KM f ü r diesen Teil seiner Aufgaben im vollen Sinne des Wortes ein Reichsorgan geworden. Die Errichtung und Leitung der neuen Abteilung wurde Rathenau trotz seiner anfänglichen Weigerung zur Pflicht gemacht. N u r zur Wahrung der militärisch üblichen Formen wurde ihm ein älterer Offizier beigegeben. Als Mitarbeiter (Referenten) zog er außer jenen beiden Ingenieuren seiner Gesellschaft (v. Möllendorf und Tröger) noch einen

2. Mein Eintritt

in die Kriegsrohstoffabteilung

(KRA)

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dritten und bald auch einen Leipziger Großkaufmann heran, die sich in die Bearbeitung der Buntmetalle (Kupfer, Zinn usw.), der chemischen Rohstoffe, der Häute und Felle, der Rohwolle teilten. In dieser Zusammensetzung hat die KRA bis zum Frühjahr 1915 als oberstes Lenkungsorgan funktioniert. Im Februar 1915 wurde Rathenau, der mit dem 31. März seine Stellung aufzugeben wünschte, an Stelle jenes älteren Offiziers zur Einarbeitung in die neue Aufgabe der zum Nachfolger bestimmte Major Koeth beigegeben, der in der Friedenszeit einer der Beschaffungsreferenten des KM gewesen war und jetzt gegen seinen Wunsch aus dem Frontdienst herausgezogen wurde. Am 1. April 1915 hat er die Leitung der KRA übernommen und bis zum Spätherbst 1918 beibehalten, um dann die Demobilmachung des Heeres als Reichskommissar durchzuführen. Koeth hat der KRA den Inhalt und die Form gegeben, in der sie die ständig zunehmende Zahl der Mangelrohstoffe autoritativ bewirtschaftet hat. Eine der wichtigsten Änderungen, die Koeth bald in die Organisation dieser Bewirtschaftung bringen mußte, war die Umwandlung der sog. K r i e g s g e s e l l s c h a f t e n . Diese hatte Rathenau als die eigentlichen Träger der Beschaffung und Lagerung in der Form von Aktiengesellschaften und Gesellschaften m. b. H. aus den größten Privatunternehmungen der einzelnen Wirtschaftszweige aus Aktionären oder Mitgliedern gebildet, die mit ihren Kapitaleinlagen zunächst die Kosten der Geschäftsführung aufbringen und dazu auch aus ihren Kreisen die Direktoren oder Geschäftsführer stellen sollten; der Beitritt anderer Unternehmungen war aber statutgemäß offengehalten. Zu solchem Beitritt ist es jedoch nicht gekommen; die außenstehenden, zumeist kleineren Werke, scheuten die Einzahlung der entsprechend großen Beiträge, waren dazu auch großenteils nicht imstande. Hervorzuheben ist, daß zwar für die eingezahlten Kapitalien zumeist eine Verzinsung von 4 oder 5 % vorgesehen war, etwaige Gewinne jedoch an die Reichskasse fließen sollten und tatsächlich auch nach dem Kriege geflossen sind. Von den Kriegsgesellschaften aus ergaben sich Mißhelligkeiten, als die Besetzung Belgiens und Nordfrankreichs, bald auch Polens die Beschlagnahme recht erheblicher Rohstoffmengen ermöglichte und auch Gelegenheit zu freiem Ankauf vielfach bot. Bei der Verteilung dieser Mengen beanspruchten nun die beteiligten Großunternehmungen in

54

V. Der

Weltkrieg

erster Linie bedacht zu werden, und tatsächlich ließ sich deren Bevorzugung solange nicht gut vermeiden, als das eingezahlte Kapital der Kriegsgesellschaften zur Deckung der Kosten ausreichte. Hiermit wurden diese Rohstoffmassen nicht nach Maßgabe des Bedarfs aller jener Werke verteilt, die für die Herstellung von Kriegsmaterial mit ihren technischen Anlagen bereitstanden, diese aber mangels Rohstoffen nicht ausnutzen konnten; die Rohstoffe folgten vielmehr dem Kapital, das die größten Unternehmungen gestellt hatten. Das widersprach sowohl dem Erfordernis der höchstmöglichen Rüstungsproduktion als auch der sozialen Notwendigkeit, in möglichst großer Breite die sonst zur Stillegung kommenden Betriebe vor dieser Folge der Rohstoffknappheit zu bewahren. Kein Wunder daher, daß sich in der Öffentlichkeit ein Sturm der Entrüstung gegen die Kriegsgesellschaften erhob so stark, daß auch die KRA, die man mit ihren Gesellschaften identifizierte, ständig unter dem allgemeinen Mißtrauen gelitten hat. Schon im Winter 1914/15 stellte sich heraus, daß das eingezahlte Kapital nicht annähernd ausreichte, die sehr hohen Kosten zu decken, die mit dem Ankauf und der technischen Behandlung der aufkommenden Rohstoffe verbunden waren. Es mußten große Kredite bei den deutschen Banken beansprucht werden, und diese wurden in aller Regel nur bewilligt, wenn das Reichsfinanzamt für ihre Verzinsung und Rückzahlung garantierte. Erhebliche Summen hat das Reich auch für die schon beginnende Aufschließung älterer deutscher Rohstoffquellen und die Errichtung neuer Verarbeitungswerke zur Verfügung stellen müssen. Beides war mit der Selbständigkeit der Kriegsgesellschaften nicht zu vereinigen. Hier setzte Koeth ein: er gesellte den Vorständen für die endgültige Entscheidung aller wichtigen Beschlüsse je einen Kommissar der KRA zu und band diesen wieder an seine Weisungen. Die Kriegsgesellschaften machte er auf diese Weise zu Ausführungsorganen von lediglich technisch-kaufmännischer Natur, die zwar für die Preisfestsetzungen und die Regelung der Rohstoffverteilung als Berater zugezogen, an die Beschlüsse der KRA-Leitung aber vollständig gebunden wurden. Für die Regelung der Verteilung rief Koeth besondere „Zuweisungsämter" aus Vertretern der behördlichen Beschaffungsstellen (Militär, Eisenbahnen, Post) ins Leben, während er die Preisfestsetzung sich selbst vorbehielt. So ist ein Bau zustandegekommen, der

3. Die Eigenart der

Preisfestsetzungen

55

mit seiner Verteilung der Aufgaben sich bewährt hat und daher auch späterhin ausgeweitet worden ist, je mehr Rohstoffe als Mangelwaren in die militärisch-autoritative Bewirtschaftung einbezogen werden mußten.

3.

Die Eigenart

der

Preisfestsetzungen

Als ich im Herbst 1915 in die W K des K M eintrat, waren die Anfangsschwierigkeiten der neuen Organisation im wesentlichen überwunden; vollends war dies im Herbst 1 9 1 6 der Fall, als ich ein mitarbeitendes Glied der K R A werden durfte. Hierbei fiel mir neben der Aufgabe, das Gesamt der wirtschaftlichen Entwicklung für In- und Ausland zu verfolgen und in den Referentenbesprechungen über allgemeine W i r t schaftsfragen kurze Vorträge zu halten, vor allem die zu, bei der P r e i s f e s t s e t z u n g den Chef zu beraten. E s war ein schwer zu übersehendes Gebiet. Auf keinem anderen Felde hat sich mit gleichem Schwergewicht die Tatsache geltend gemacht, daß die Kriegswirtschaft nicht eine teilweise Wandlung der gewohnten Friedenswirtschaft, sondern etwas ganz anderes, etwas grundsätzlich Verschiedenes war und sein mußte. Wie die Bedarfsdeckung, so war auch die Preisfestsetzung zu einer amtlichen, in straffer Systematik auszuübenden Funktion geworden. Wenngleich nämlich das dringende Bedürfnis nach einer zweckmäßigen Bedarfsdeckung und deshalb größtmöglichen Produktion von Kriegsmaterialien das nächste Ziel zu sein hatte, so durfte doch in der Kriegswirtschaft auch das Gemeininteresse nicht vernachlässigt werden, und sofort meldete sich die Frage, wie sich die zu bewilligenden Preise zu den Gestehungskosten nicht nur der schon zu übersehenden, sondern namentlich auch der etwa neu hervorzurufenden Produktion verhalten sollten. Bei freier Weltmarktwirtschaft ist in dieser Frage das ganze Risiko enthalten, das der einzelne Unternehmer mit der Einleitung jedes einzelnen Produktionsvorganges auf sich nimmt; denn die Antwort gibt ihm der Weltmarkt erst, wenn die Ware zum Verkauf angeboten wird, der Produktionsvorgang also durchgeführt ist, und erst nach wirklichem Verkauf kann berechnet werden, wie hoch sich die Gestehungskosten für das einzelne Stück in Wirklichkeit stellen, da j a

56

V. Der Weltkrieg

n u r die verkaufte u n d nicht auch die unverkäuflich gebliebene Menge den Divisor f ü r die aufgewandten Gesamtkosten abgibt. In autoritär geregelter Wirtschaft jedoch wird zwar, wenn sie aus allgemeiner Güterknappheit hervorgegangen ist, so leicht kein Vorrat unverkäuflich bleiben; es scheint also, als müßte man den vorweg festzusetzenden Preisen die ebenfalls im voraus zu beredinenden Kosten zugrunde legen und so zu den „gerechten" Preisen gelangen können, die von einer autoritären Festsetzung gefordert werden. Tatsächlich ist jedoch auch dies nur in sehr eingeschränktem Maße möglich, nämlich n u r dann, wenn es sich um einen einfachen Betrieb handelt, in dem n u r eine einzige Ware hergestellt wird, und wenn die restlose Ausnutzung der stehenden Anlagen gesichert ist. Fehlt auch nur eine dieser beiden Voraussetzungen, so sieht sich die amtliche Preisfestsetzung sofort vor die Notwendigkeit und Unentrinnbarkeit einer willkürlichen Entscheidung gestellt. Es gibt nun einmal kein Mittel, die allgemeinen Unkosten eines gemischten, also mannigfach verschiedene Waren herstellenden Werkes exakt rechnerisch auf die einzelnen Waren zu verteilen. Ebenso ist es unmöglich, die Kosten einer nicht abzusehenden Abnutzung der Anlagen als Tilgung des stehenden Kapitals rechnerisch auszudrücken. In der Kriegswirtschaft fehlte es bei der Rohstoffgewinnung vielfach an beiden Voraussetzungen. Die großen Unternehmungen, die am schnellsten die großen Mengen Kriegsmaterial zu liefern vermochten, waren großenteils Hersteller von unendlich vielen Güterarten, und niemand konnte zu irgend einem Zeitpunkt voraussagen, wie lange der Krieg noch dauern würde, welche Produktionskosten also f ü r die Abnutzung der neu aufgestellten Apparatur und damit f ü r die Tilgung der hierfür aufgewendeten Kapitalien einzusetzen wären. Zwei empfindliche Sonderhemmungen kamen noch hinzu: in den Werken fehlte es bald an dem notwendigsten Personal, auch n u r die üblichen Buchungen und Berechnungen vorzunehmen, geschweige daß man die sehr umständlichen Sonderberechnungen f ü r eine exakte Feststellung der Einzelgestehungskosten vornehmen konnte; und zweitens stellte, vom Anfang des Krieges an leise, vom Hindenburg-Programm ab unverkennbar deutlich, die Geldinflation jedes einmal errechnete Kostenpreisverhältnis in kurzer Frist völlig in Frage. Die Geldwertverschiebungen mußten sich um so peinlicher geltend machen, als eine Berechnung der Preise nach den Ge-

3. Die Eigenart der

Preisfestsetzungen

57

stehungskosten der jeweils zu verkaufenden Ware überhaupt nur bei ausgeprägt gleichmäßiger Lage dieser Kosten einen Sinn hat; steigern sie sich (wie in einer Inflation) ruckweise, so muß der Verkaufspreis einer Ware nicht ihre Gestehungskosten, sondern vielmehr die Kosten ihrer Neufertigung (die sog. Reproduktionskosten) decken, da sonst mit dem Erlös nicht dieselbe Menge Ware zu beschaffen und zu erarbeiten ist, der Betrieb also an Umfang verliert. Eben dies mußte für die Kriegsmaterialfertigung und damit für die Rohstoffgewinnung mit allen Mitteln verhindert werden; und das war bei den Preisfestsetzungen um so schwerer zu vermeiden, als die privatwirtschaftlichen Buchungsmethoden noch nicht auf die neue Geldlage und dauernde Geldwertbewegung umgestellt waren und demgemäß als Gewinne auch solche Erlöse ausgewiesen wurden, die tatsächlich nur zur Deckung der Kosten, aber eben nicht der Reproduktionskosten ausreichten. Früher hatten die Industriellen ebenso wie die Händler unbewußt und entgegen ihren Buchungsformen tatsächlich stets in Gestalt der sog. Gewinnzuschläge die Reproduktionskosten irgendwie berücksichtigt. Wenn sie dies jetzt nicht tun durften, so kamen gerade die anständigen, an die Gesetze sich haltenden Elemente zu einem nicht aufzuhaltenden Rückgang ihrer Betriebe und außerdem oft genug trotzdem in Konflikt mit den Preisforderungen, weil diese nicht nur mit den Gepflogenheiten kaufmännischer Rechnung, sondern mit dem Interesse der Betriebserhaltung unvereinbar waren. Nach dem Kriege hat das Reichswirtschaftsministerium, obwohl es sich für die Berechnung von Selbstkosten der verschiedenen Industriezweige einen großen Apparat geschaffen hatte, die daraufhin festzusetzenden Preise in Wirklichkeit mit den Interessenten „aushandeln" müssen. Vollends war während des Krieges die letzte Entscheidung über die Höhe der amtlichen Preise, d.h. über die Zuschläge, die zu den vielleicht errechneten Sonderkosten der einzelnen Objekte nodi bewilligt werden mußten, für die Behörden ein Durchhauen und nicht eine Lösung des Knotens. Das Schwergewicht dieser Frage hat nun aber im Kriege noch dadurch eine gewaltige Steigerung erfahren, daß sich soziale Rücksichten hineinverwoben. Wenn ein Großteil des ganzen Volkes im Schützengraben lag und mit der doch immer geringen Heeresentlöhnung sich zu begnügen hatte, den eigenen Wirtschaftsinteressen überhaupt nicht nach-

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V. Der

Weltkrieg

gehen konnte, dann bekam der „Kriegsgewinn", der aus etwa zu hoch angesetzten Preisen hervorging, ein besonders häßliches Ansehen — häßlicher noch als je in einem früheren Kriege, da in diesem nur ein kleiner Bruchteil des Volkes unter den Waffen stand. Wer sah denn damals, daß dank der Geldentwertung auch die Gewinne nur Schein waren? Wer hat vorausgesehen, daß auch sie sich später in leere Ziffern auflösen würden? So sicher von den Bedürfnissen der Kriegsführung her das Ziel, durch die Preisfestsetzungen den Produktionswillen der Unternehmer nicht zu schwächen und womöglich noch zu steigern, allen anderen Rücksichten voranzustellen war, so schwer mußte doch in jedem Einzelfall den verantwortlichen Männern die Entscheidung werden. Diese große Schwierigkeit ist während des Krieges und auch nachher von der Öffentlichkeit zumeist unterschätzt worden. In einem besonderen Vorkommnis hat sich dies noch während des Krieges recht deutlich gezeigt. Ein Professor der Betriebswirtschaftslehre hatte in einer ausführlichen Denkschrift die Ansicht vertreten, daß sich die Gestehungskosten aller Rüstungsmaterialien mit genügender Genauigkeit errechnen ließen und „nur" Zuschläge zu den errechneten Beträgen zur Deckung der nicht berechenbaren Kostenbestandteile notwendig wären. Diese Denkschrift ging mir referatmäßig zu, und ich machte meine Bedenken in aller Schärfe geltend. Der Chef des Kriegsamts ließ uns daraufhin beide kommen und verlangte von uns eine Einigung über einen brauchbaren, ihm die Entscheidung ermöglichenden Vorschlag. Er war erstaunt, als wir nach verhältnismäßig sehr kurzer Zeit wieder eintraten und ich ihm als der ältere von uns beiden erklärte, wir hätten festgestellt, daß wir uns eigentlich nur über das Wort Berechenbarkeit stritten; ich stünde auf dem Standpunkt, daß die Zuschläge, für die auch der Kollege die Unberechenbarkeit zugäbe, allzu wichtig seien, als daß man noch von einer Berechenbarkeit der Kosten sprechen dürfe — der Kollege dagegen halte sie nicht für so wichtig. General Scheuch, der im Hochsommer 1917 das Amt des Kriegsamtschefs übernommen hatte, fragte darauf, wie hoch denn diese Zuschläge in Friedenszeiten gewesen wären, und erhielt von dem Kollegen die Antwort: sehr verschieden; sie hätten wohl im allgemeinen zwischen 10 und 25 v. H. der berechneten Kosten sich bewegt, gelegentlich aber auch wesentlich

3. Die Eigenart der

Preisfestsetzungen

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weniger und auch wesentlich mehr betragen. Auf die weitere Frage, wonach sich die Wahl des Prozentsatzes gerichtet hätte, kam die Antwort: das hätte von den Absatzaussichten hauptsächlich abgehangen; man hätte hohe Zuschläge da gewählt, wo die errechenbaren Kosten verhältnismäßig niedrig waren und mit einem vollen Absatz der hergestellten Waren auch bei etwas erhöhten Preisen geredinet werden konnte — umgekehrt bei Waren entgegengesetzten Marktverhältnisses; am höchsten seien wohl die Zuschläge bei den ausgeprägten Luxuswaren gewesen, deren Absatz nur wenig von den Preisen abhinge. General Scheuch: Diese Verschiedenheiten des Marktverhältnisses bestünden doch jetzt aber nicht während des Krieges, und über die Wahl der Zuschlagshöhe, die von den errechneten Kosten abhängen sollte, müßten sich doch nach der Höhe dieser Kosten bestimmtere Angaben machen lassen. Die Antwort lautete: Das wäre nicht möglich. Hier müßte der Chef des Kriegsamts nach seinem Gefühl entscheiden und sich von den Interessenten beraten lassen. Darauf Scheuch: Wie sollte er mit den dann festgesetzten Preisen vor der Kritik des Reichstags bestehen? Dort verlange man exakte Begründung und nicht Gefühle; er müsse meiner Auffassung zustimmen, daß man die Preisfestsetzungen mindestens nicht so weit auf Kostenberechnungen stützen könne, wie es notwendig sei, um andere Menschen von der Richtigkeit der Festsetzung zu überzeugen. Der Kollege erklärte denn auch, daß es für den Chef des Kriegsamts aus dieser Lage keinen Ausweg gäbe. Trotz aller Bedenken hat aber der Chef der KRA dem Drängen des Reichstags und weiter Kreise der Öffentlichkeit einmal nachgeben wollen und deshalb den Versuch gemacht, von den großen Eisenhütten des Ruhrgebiets für alle wichtigen Erzeugnisse bis zu den Fertigfabrikaten hinauf genau errechnete Kostenfeststellungen zu erhalten. In einem Fragebogen, der mehrere Folioseiten umfaßte, wurden in der Fachsektion der KRA alle Einzelheiten des technischen Prozesses mit ihrem Material-, Kraft- und Arbeitsaufwand, mit den technisch erforderlichen Abschreibungen und ihrem Anteil an den Allgemeinkosten zusammengestellt; nichts war unberücksichtigt geblieben, was für eine exakte Kostenberechnung in Betracht kommen konnte. Der Versuch ist jedoch gescheitert: den Werken fehlte nicht nur für die Beantwortung der überaus zahlreichen Fragen die erforderliche Anzahl geeigneter An-

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V. Der

Weltkrieg

gestellter, da deren Großteil zum Heeresdienst eingezogen war; es stellte sich auch alsbald heraus, daß weder für die Abschreibungen der zahlreichen Maschinen, die lediglich für die Herstellung von Kriegsmaterial neu angeschafft worden waren, eine bestimmte Zeit der Verwendung angenommen werden konnte, noch für die Verteilung der Allgemeinkosten ein rechnerisch zu begründender Maßstab zu finden war. Ohne willkürliche Schätzungen war in der Tat nicht auszukommen. So mußte als erwiesen gelten, daß eine behördliche Preisfestsetzung, die sich auf genaue Kostenberechnungen stützte und so das Entstehen eines Kriegsgewinns von vornherein verhindert hätte, schlechthin unmöglich war. Es blieb nichts anderes übrig, als die schon entstandenen Sondergewinne irgendwie steuerlich zu erfassen — etwa in der Weise, wie es Großbritannien schon seit dem Jahre 1915 tat, indem es das Mehr an Einkommen der Kriegsjahre mit besonders hohen Steuern erfaßte. Auf diesen Weg hat denn auch in Deutschland so manche Stimme der Öffentlichkeit gedrängt, als die Bilanzen der Rüstungswerke stark erhöhte Gewinne offenlegten, und auch der Chef des Kriegsamts, wie schon vorher der der KRA haben wiederholt beim Staatssekretär des Reichsschatzamts in ausführlicher Begründung ähnliche Maßnahmen gefordert. Dem stand jedoch in Deutschland als schweres Hindernis die Reichsverfassung entgegen, nach der die direkten Steuern zu den Reservatrechten der Einzelstaaten gehörten und von der Reichsverwaltung nicht angetastet werden durften. Wieder machte sich verhängnisvoll der Grundsatz geltend, daß an der Verfassung während des Krieges nichts geändert werden sollte; die Reichsregierung, der Bundesrat und die Mehrheit des Reichstags hielten daran starr fest und ließen es lieber zu schweren Störungen des sozialen Lebens, sogar zu Rüstungsstreiks kommen, als daß sie auf die sehr weit verbreitete und zumeist sehr harte Verurteilung des Kriegsgewinns die wahrlich angebrachte Rücksicht nehmen wollten. Nur in völlig unzureichendem Maße und in verschnörkelter Form, um den Schein einer indirekten Steuer aufrecht zu erhalten, ist schließlich im Dezember 1916 der Einkommens- und Vermögenszuwachs der Kriegszeit unter eine Reichssteuer besonderer Art gestellt worden. Die Belastung war viel zu gering, als daß sie sozial hätte wirksam werden können, und vollends für die Entwicklung der Reichsfinanzen, für die Höhe der Papiergeldausgabe war sie fast ohne

4. Die Anfänge der Inflation

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Bedeutung. Was sich aber aus dieser Quelle für das Reich an Einnahmen hätte erzielen lassen, läßt die Entwicklung ahnen, die in Großbritannien eingetreten ist: hier haben die Erträge der Sondersteuer von der gesamten Staatsausgabe der Kriegszeit fast 10 v. H. gedeckt und somit wesentlich dazu beigetragen, daß die Geldinflation weit hinter dem deutschen Maße zurückbleiben konnte. Das Verhalten der deutschen Staatsverwaltung ist um so auffallender, als kein Geringerer als der bekannte hochkonservative Historiker Heinrich von Treitschke ausdrücklich festgestellt hat, daß in einem schweren Kriege eine kräftige Einkommensteuer die einzige Quelle wäre, aus der das Staatseinkommen in wirklich starkem Maße gesteigert werden könnte, — also der Widerstand der konservativen Parteien des Reichstages schließlich doch wohl sich hätte überwinden lassen. Die entscheidende Hemmung lag im Partikularismus der Einzelstaaten, nicht zuletzt Preußens.

4. Die Anfänge

der

Inflation

Durch meine Beschäftigung mit den Fragen der Preisbildung bin ich einmal mit dem Reichsbankpräsidium in Konflikt geraten. Für mich wie wohl für alle meine Fachgenossen bestand kein Zweifel, daß die starke Erhöhung aller Preise, gleichgültig ob für Kriegsmaterialien oder für Konsumobjekte, auf die übergroße Ausgabe von Banknoten zurückzuführen wäre, denen keine entsprechende Zunahme der Reichseinnahmen gegenüberstand, daß wir also schon während des Krieges eine I n f l a t i o n erhielten. Nun war aber bekannt, daß der sonst so hochverdiente Reichsbankpräsident Havenstein die Lage anders beurteilte und die dauernd sich verschlechternden Wechselkurse allein auf das Mißverhältnis zwischen den Gesamtwerten unserer Ein- und Ausfuhr zurückführte. Es war daher verboten, in der Öffentlichkeit (Zeitungen und Büchern) das Wort Inflation zu gebrauchen; wir Fachleute mußten unsere Sorge anders ausdrücken. Bei einem kleinen Herrenabend im Hause des Berliner Historikers Hoetzsch machte ich aber kein Hehl aus meiner Beurteilung der Geldlage und gebrauchte hierbei auch das Wort Inflation. Da sprang der ebenfalls als Gast anwesende Vizepräsident der

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V. Der

Weltkrieg

Reichsbank in höchster Erregung auf und schrie midi an, wie ich das sagen könnte, von Inflation wäre keine Rede. Der Hausherr sah ebenso wie ich eine handgreifliche Widerlegung sich nahen und stellte sich deshalb schützend vor mich, brachte schließlich auch den sehr erregten Mann zur Ruhe. Für midi und manchen anderen Teilnehmer der Tischrunde war hierbei die größte Überraschung, daß offenbar das Reichsbankpräsidium in vollem Ernst und nicht nur aus politischen Gründen das Vorliegen einer Inflation bestritt. Nach dem Kriege jedoch hat der spätere Stellvertreter des Präsidenten, ein alter Reichsbankbeamter, in der Sechzigjahres-Schrift f ü r Schacht kurzerhand ausgesprochen, daß die Inflation „mit dem ersten Tage des Krieges begonnen" habe. Auf Drängen meiner Fachgenossen, die in ähnlicher Weise wie ich in der KRA in anderen Zentralstellen Berlins beschäftigt waren, habe ich auf jene Szene hin in einer kleinen Broschüre leise warnend darauf hingewiesen, daß der Ausgabe immer neuer Notenmengen endlich die Öffnung neuer Einnahmequellen f ü r das Reich gegenübergestellt werden müßte, wie es Großbritannien mit einer starken Erhöhung der Einkommensteuer und einer kräftigen Kriegsgewinnsteuer bereits getan hatte. Diese Broschüre hat unter meinen Fachgenossen lebhafte Zustimmung gefunden; nach der Reichsverfassung, diesem Kraut Rühr-michnicht-an der Kriegszeit, war jedoch dieser Weg versperrt.

5. Der Streit um die Kirchenglocken

Ein Sonderauftrag meines Chefs hat mich in den Kampf verwickelt, der zwischen der KRA und den evangelischen Kirchengemeinden Deutschlands um die Behandlung der G l o c k e n heftig hat geführt werden müssen. Die Lage war schwierig. Wir konnten auf die Beschlagnahme der Glocken nicht verzichten; die Knappheit an Kupfer und Zinn zwang uns zu dieser Maßnahme, und zwar verhältnismäßig früh, weil vom Abnehmen der Glocken bis zum Herstellen einer Kanone etwa zwei Jahre erforderlich waren. Es galt also, das Einverständnis der Kirchenvorstände herbeizuführen, um nach Möglichkeit in Ruhe zum Ziele zu gelangen. Dies war verhältnismäßig einfach f ü r die katholischen Kirchen zu erreichen:

5. Der Streit

um die

Kirchenglocken

63

nach katholischem Recht gelten bekanntlich sämtliche Gotteshäuser katholischer Konfession als Eigentum der Gesamtkirche, und darüber konnten die Erzbischöfe entscheidende Beschlüsse fassen; andererseits gehören die Glocken dieser Kirchen zu den geweihten Gegenständen, ihre Beschlagnahme hätte also ein Sakrileg bedeutet, und das war aus innerund außenpolitischen Gründen aufs äußerste zu vermeiden. Ein Beschluß der Fuldaer Bischofskonferenz hat aber für alle Kirchen die Weihe aufgehoben; die Beschlagnahme ist denn auch unter Schonung der kulturhistorischen Werte durchgeführt worden, indem gleichzeitig ein Ersatz durch gut abgestimmte Stahlschienen schönen Klanges zugesichert und später geliefert wurde. In Belgien lehnte der Erzbischof zwar die allgemeine Freigabe der Kirchenglocken ab, fand aber — wie es scheint, auf einen Druck von Rom her — den Ausweg dahin, daß er jede Kirche, die irgendwie durch einen fehlgegangenen Schuß oder sonst eine Kriegshandlung beschädigt würde, für entweiht erklärte und so tatsächlich doch den deutschen militärischen Stellen den Zugriff ermöglichte. Für die evangelischen Kirchen Deutschlands fehlt dagegen bekanntlich eine Zentralinstanz. Hier mußte also mit den einzelnen Kirchengemeinden als den Eigentümern der Gotteshäuser verhandelt werden, und da stieß die KRA fast allgemein auf einen merkwürdigen Widerstand. Dieser wurde nämlich nicht mit kirchlich-religiösen Bedenken begründet, sondern ausschließlich mit der Forderung, daß zunächst einmal die Beschlagnahme der Glocken ausnahmslos in den besetzten Gebieten, vor allem in Belgien, durchgeführt werden müßte. Dieser Widerstand sollte nun sogar in einer Versammlung, die von kirchlicher Seite nach Berlin einberufen war, in einem einheitlichen Beschluß zusammengefaßt werden. Das sollte ich als Vertreter der KRA nach Möglichkeit verhindern. Als ich mich bei dem zuständigen Referenten über die augenblicklich gegebene Sachlage informierte, schilderte dieser mir die Erregung der Kirchenkreise mit den Worten: „Stecken Sie sich in jede Tasche eine Handgranate, es kann zu Handgreiflichkeiten kommen." In der Tat habe ich so etwas von Erregung, die jedes mir sonst begegnete Maß weit überstieg, bis dahin nicht für möglich gehalten. Wer immer für ein Entgegenkommen sprach, und mochte er noch so stark auf die Kriegspflichten hinweisen, wurde nicht niedergeschrien, sondern niedergebrüllt.

64

V. Der

"Weltkrieg

Auf meinen Hinweis, daß doch die evangelischen Kirchenvorstände sich nicht von den katholischen Erzbischöfen und Kirchenorganen in der Erfüllung einer nationalen Pflicht übertreffen lassen dürften, blieb bei der großen Mehrheit der Teilnehmer ohne jede Wirkung; ich bekam zu hören: „Was geht uns das 'Sakrileg an, Stahlschienen sind keine Glocken." Sogar Träger hoher Kirchenwürden, die sich um eine ruhige Erörterung bemühten, ließ man kaum zu Worte kommen. Immer hieß es: „Erst Belgien, dann wir." So ging hier eine politische Saat auf in einer Frucht, die um so häßlicher war, als in ihren Farben die des nationalpolitischen Sinnes vollständig fehlte. Es war der Mehrheit gänzlich gleichgültig, daß in einer ausreichenden Deckung unseres Metallbedarfs eine wichtige Bedingung, ja mit die Entscheidung f ü r den Verlauf und das Ergebnis des Krieges lag, und daß wir alle Ursache hatten, den Papst durch die Begehung eines schweren Sakrilegs nicht auch noch aus seiner neutralen Stellung auf die Seite der Feinde zu treiben. Mir blieb schließlich nicht anderes übrig, als unter stark betonter Wiederholung der politischen Argumente zu erklären, daß die KRA. von der Beschlagnahme der Glocken wie bei den katholischen so auch bei den evangelischen Kirchen Deutschlands nicht absehen könnte und sie auch nicht in einen Zusammenhang mit dem belgischen Vorgehen bringen dürfte. Eine Minderheit verließ hierauf mit mir den Raum. Die Versammlung verzichtete dann auf die Fassung eines Beschlusses, löste sich vielmehr mehr und mehr von selber auf. Zu einem ernsten Widerstand gegen die Wegnahme der Glocken ist es aber auch in den evangelischen Gemeinden n u r ganz vereinzelt gekommen.

6. Die

Kriegsvorträge

Eine Nebenbeschäftigung gaben mir die zahlreichen V o r t r ä g e , die ich im Reich und in den besetzten Gebieten teils vereinzelt, teils in allgemeineren Kursen im amtlichen Auftrage über die Rohstoffwirtschaft und die Rohstofflage zu halten hatte. Hierbei galt es hauptsächlich, jenem Mißtrauen entgegenzutreten, das noch immer von Anfang des Krieges her weite Kreise unseres Volkes beherrschte; ich legte also

6. Die

Kriegsvorträge

65

dar, daß die privatwirtschaftlich aufgebauten „Kriegsgesellschaften" zwar als technische Hilfen von der Kriegsrohstoff-Abteilung des Kriegsministeriums weiter benutzt würden, ihre anfängliche Selbständigkeit jedoch schon im Jahre 1915 vollständig verloren hätten — daß die Leitung der gesamten Rohstoffwirtschaft seitdem straff in der Hand jener militärisch geführten und an wichtigen Stellen mit aktiven Offizieren besetzten Abteilung des Kriegsministeriums läge und so auch deren kriegsnotwendige Anordnungen im gesamten Reich und in den besetzten Gebieten ausschließlich von militärisch ihr untergeordneten Amtsstellen befolgt würden. Stets las ich dann von den Mienen der Hörer nicht anders wie der Hörerinnen ab, daß ihnen völlig neu die Darstellung der Abhängigkeit war, in der sich Deutschland auch mit seinem Rohstoffbedarf (nicht nur mit den Lebensmitteln) in der Friedenszeit vom überseeischen Ausland befunden hatte, und daß sie daher die gewaltige Schwierigkeit nicht richtig einschätzten, in die uns die englische Blockade mit diesem Bedarf gestürzt hatte. Mein Appell, im Interesse eines guten Kriegsausgangs sich den Einschränkungen des Zivilbedarfs zu fügen, wurde zumeist gutwillig aufgenommen. Eine Ausnahme haben zwei Vorträge gebildet, die ich auf Anforderung der örtlichen Gewerkschaftsverbände in Hamburg und Friedrichshafen noch im August 1918 habe halten müssen. Der Besuch der Gewerkschaftsveranstaltungen war schon recht schlecht, und tatsächlich sprach ich beide Male gegen einen Eisblock, der sich auch im Verlauf der Vorträge nicht auftauen ließ. Dieses Ergebnis habe ich dann nicht nur dem Chef der KRA gemeldet, sondern auch sonst in militärischen Kreisen zur Sprache gebracht. Durch die Vorträge, die ich in Belgien und Nordfrankreich, in Warschau und Bukarest vor aktiven und verwundeten Soldaten zu halten hatte, habe ich einen tiefen Eindruck in die Lebensweise unserer Besatzungen erhalten. E r war nicht überall erfreulich; man lebte eigentlich nur in Bukarest den Kriegsverhältnissen angemessen einfach, auch wir Gäste waren z. B. streng auf das allgemein geltende Maß der Ernährung angewiesen. Da ich hier als Hallenser Professor zugleich dank einem Auftrag meiner Fakultät dem Feldmarschall v. Mackensen, der vor Zeiten in Halle studiert hatte, das Diplom eines Dr. h. c. überreichen sollte, war ich eines Abends dessen Gast bei dem Essen, das er wie 5 Wiedenfeld, Zwisdien Wirtschaft und Staat

66

V. Der 'Weltkrieg

stets mit den Offizieren seines Stabes einnahm, u n d konnte so den Unterschied besonders deutlich merken, f ü r den der Stabschef, General v. Seeckt, verantwortlich war. Dieser ließ sich von mir genau ü b e r den A u f b a u der KRA informieren u n d fiel m i r durch seine umfassende Kenntnis der Rohstoffragen auf. Ein A u f t r a g meines KRA-Chefs brachte m i r auch die Bekanntschaft mit jenem Offizier des Großen Generalstabs, der s. Z. den Abbruch der Marne-Schlacht herbeigeführt hatte u n d d a f ü r als Sündenbock nach Bukarest z u r Bearbeitung der Wirtschaftsfragen gesandt worden war; ich f a n d in ihm einen sehr klugen, aber wohl doch gebrochenen Mann, der sich zu Unrecht gemaßregelt fühlte, ohne natürlich dies irgendwie auszusprechen. Durch einen Reserveoffizier, den ich von Köln her kannte, h a b e ich das große, fabelh a f t wirkende Salzbergwerk Rumäniens, Wieliczka, und das Erdölgebiet besichtigen können, bin auch durch ihn nach Constanza an die Küste des Schwarzen Meeres geführt worden. Eine nette Annehmlichkeit bot sich mir auch in einer Soldatenfürsorgesteile, die mit lauter Kölner Schwestern u n t e r Leitung einer Kölnerin besetzt war; so manchen Nachmittag habe ich dort verplaudert u n d als willkommene Erweiterung der E r n ä h r u n g zum üblichen Kaffee ein Stück Kuchen genossen. Die Veranlassung zu diesem Besuch Bukarests war ein Hochschulkurs von 14 Tagen; e r w a r als Fortbildungskurs f ü r Akademiker gedacht, die dort teils aktiv, teils in der E t a p p e tätig waren. 7. Der

Gesamteindruck

Wenn ich n u n versuche, die E i n d r ü c k e zusammenzufassen, die mir aus dem Kriegserleben der KRA h a f t e n geblieben sind, so muß ich vor allem das ganz einzigartige Verhältnis hervorheben, in dem Major (später Oberstleutnant und ganz am Ende des Krieges Oberst) Koeth zu uns zivilen Mitarbeitern stand u n d hiermit auch unser gegenseitiges Verhältnis bestimmte. Nur ein einziges Mal h a t eine Meinungsverschiedenheit zwischen zwei Referenten eine solche Schärfe angenommen, daß ein ferneres Zusammenarbeiten ihnen schwer möglich zu sein schien. Das brachte Koeth in der nächsten Morgensitzung ohne Namensnennung zur Sprache u n d „bat" so dringend uns alle um gegenseitiges Verstehen, daß wir die Streithähne an den Gesichtern erkannten, u n d sie haben sich vertragen. Während er bei den aktiven Offizieren durchaus

7. Der

Gesamteindruck

67

die militärische Üblichkeit anwandte, hielt Koeth im Einzelgespräch mit uns Zivilisten stets den Ton zivilkameradschaftlicher Zusammengehörigkeit inne. Das war um so schwieriger, als unser Arbeitskörper in denkbarer Verschiedenheit zusammengesetzt war: da standen Unternehmer und Angestellte aus großen und kleinen Betrieben, Ingenieure und Kaufleute, Juristen und Verwaltungsbeamte, Reserveoffiziere und einfache Landsturmmänner nebeneinander, die je nach ihrer Individualität verschieden angefaßt werden mußten. Wie waren wir auch alle empört, daß f ü r Koeth, weil er nicht im Frontdienst oder in der OHL stand, weder eine beschleunigte Beförderung noch der Pour le Mérite in Betracht kam. Eine Kunst der Menschenbehandlung war unserem Chef eigen, die sogar das bei höheren Offizieren übliche Maß ganz erheblich übertraf. War aber der straffe Zusammenhang, der in der KRA zwischen den Personen herrschte, für die Durchführung der ihr allmählich zufallenden Aufgabe, das Ganze des deutschen Wirtschaftslebens während des Krieges autoritativ zu lenken, schon von großer Wichtigkeit, so war entscheidend doch, daß in ihr das Besondere der Kriegswirtschaft zuerst und lange Zeit allein in seiner ganzen Wucht erkannt und allen ihren Maßnahmen systematisch zugrunde gelegt worden ist. Das war der feste Untergrund, von dem aus diese militärische Behörde im einzelnen beweglich geblieben ist, von dem aus sie ihren Einfluß gerade deshalb nach allen Seiten des Wirtschaftslebens ausstrahlen lassen konnte. Gewiß galt es immer wieder, ausgleichend in den Kämpfen zu wirken, die zwischen der KRA selbst und der OHL, zwischen den militärischen und den zivilen Höchstinstanzen, zwischen den Reichsbehörden und den allzu partikularistisch gebliebenen Einzelstaaten (Preußen zumal darin noch stärker als etwa Bayern) ausgetragen wurden. Oft hat aber unser Chef verantwortungsfroh auch solche Maßnahmen eingeleitet, die eigentlich von anderen Stellen schnellstens hätten durchgeführt werden müssen, zu denen diese aber sich so rasch nicht entschließen konnten. Nach dem Waffenstillstand galt es daher geradezu als selbstverständlich, daß Oberst Koeth, gestützt auf die Reste seiner KRA, zum Chef des neuen Demobilmachungsamtes ernannt worden ist. Während der wenigen Wochen, die ich noch frei war, habe ich in diesem Amt in einer ähnlichen Stellung wie in der KRA mitgearbeitet. 5'

VI.

Der Dienst in der Abteilung für Außenhandelsförderung des Auswärtigen Amtes (1918/1921) 1. Die neue Abteilung für Außenhandelsförderung ins AA, die Aufgaben)

(mein

Übertritt

Die Aufforderung, im AA die Errichtung und Leitung der neu geplanten A b t e i l u n g f ü r A u ß e n h a n d e l s f ö r d e r u n g zu übernehmen, hatte ich im Sommer 1918 abgelehnt und nur dahin beantwortet, daß ich zur fachlichen Hilfe von meiner Universität Halle aus bereit wäre. Der Personalreferent des Amtes, Geheimrat Schüler, kam aber nach dem 9. November 1918 auf jenen Wunsch zurück und packte midi unter Ausnutzung der Stimmung, die nach dem Zusammenbruch des Staates und gerade auch in den Tagen nach dem Abschluß des Waffenstillstandes auch mich beseelte, an meinem Staatsgefühl; ich müßte nicht nur als Kenner des Außenhandels und der weltwirtschaftlichen Beziehungen, sondern auch deshalb den Posten annehmen, weil ich bei meinen Auslandsstudien schon vielfach mit den deutschen Konsulatsbeamten in Verbindung gestanden und ihre Arbeitsweise kennengelernt hätte; ich wäre daher auch im AA bereits persönlich bekannt und würde als Außenseiter keine Schwierigkeiten finden; ich würde mithin beim Wiederaufbau unseres Staates in dieser Stellung viel wichtigere Dienste leisten können, als dies mir als Professor an der Universität Halle möglich sein würde. Das waren Gründe, denen ich die Berechtigung nicht wohl abstreiten konnte. Während ich im Sommer noch entscheidendes Gewicht darauf gelegt hatte, meine Professur in Halle

1. Die neue Abteilung für

Außenhandelsförderung

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möglichst bald wieder aufnehmen zu können, und mich deshalb nur bereit erklärt hatte, von dort aus mit Rat und Tat die Arbeiten der neuen Abteilung nach Kräften zu fördern, glaubte ich jetzt, die persönlichen Rücksichten ganz zurückstellen zu müssen und mich einer Aufgabe nicht versagen zu dürfen, die f ü r unsere •wirtschaftliche Entwicklung von besonderer Bedeutung werden sollte, für die ich mich aber auch geeignet fühlen mußte. So habe ich nach dem Ablauf einer kurzen Bedenkzeit mich zur Übernahme des neuen Amtes bereit erklärt, mir aber die spätere Rückkehr in den akademischen Beruf vorbehalten. Was midi im einzelnen gereizt hat, das war die Mannigfaltigkeit und Eigenart der verschiedenen A u f g a b e n , die mich in dem neuen Amt erwarteten und mir ein inhaltreiches Arbeiten versprachen; ein Arbeiten voller Verantwortung und Gestaltungsmöglichkeit. Natürlich habe ich auch sofort auf die Ausgestaltung der Pläne eingewirkt, die Schüler in großen Zügen für die neue Abteilung sich gebildet hatte. Die Grundlage sollte in der Beschaffung und Verbreitung von zusammenfassenden Berichten und Einzelnachrichten bestehen, die das Inland über die wirtschaftlichen Verhältnisse des Auslandes, wie sie sich während des Krieges neu ergeben hatten, zuversichtlich unterrichten könnten; man rechnete damit, daß es aller Wahrscheinlichkeit nach dem privaten Außenhandel deutscher Firmen längere Zeit unmöglich sein würde, in ähnlicher Weise wie früher sich in der feindlichen Welt zu betätigen und entsprechende Verbindungen oder gar eigene Organe zwecks Erlangung der notwendigen Kenntnisse zu gewinnen, während für die Zulassung deutscher Konsulate voraussichtlich keine Schwierigkeiten zu erwarten wären. Das Gegenstück von innen nach außen war in der Aufgabe gegeben, die deutschen Auslandsstellen regelmäßig über die Entwicklung des deutschen Wirtschaftslebens und die wichtigeren Einzelerscheinungen zu informieren, die sie zur Anknüpfung abgebrochener und neuer Beziehungen in ihrem Amtsbereich benutzen könnten — eine Aufgabe, die in der Vergangenheit völlig im Hintergrunde geblieben war, weil andere Quellen, namentlich deutsche Zeitungen, dafür zur Verfügung standen. Beide Arbeitsrichtungen waren aber befriedigend nur dann einzuschlagen, wenn zwischen den Mitarbeitern der Abteilung und den deutschen Wirtschaftskreisen eine erheblich engere Fühlung als früher erreicht wurde; deshalb sollten in dem neuen Amt neben einer Anzahl von Beamten des auswärtigen Dien-

70

VI. Der Dienst im Auswärtigen

Amt des Reiches

stes auch Männer der Praxis beschäftigt werden, und dies wieder hätte Gelegenheit geboten, darunter diejenigen auszusuchen, die f ü r eine feste Anstellung im Dienste des AA. geeignet erschienen. Das Hinüber und Herüber der Berichterstattung bot ferner eine gute Unterlage für die wirtschaftliche Spezialausbildung der Anwärter des auswärtigen Dienstes; diese Ausbildung sollte in der neuen Abteilung erfolgen. Beide Aufgaben fußten auf der neuen Grundlage, die dem Aufbau des Auswärtigen Amtes und seiner Auslandsstellen überhaupt gegeben werden sollte: auf der Vereintheitlichung der diplomatischen und konsularischen Laufbahn und auf der freien, von keiner besonderen Vorbildung abhängigen Auswahl der Attachees. Die Ergänzung des Beamtenstabes durch geeignete Praktiker konnte naturgemäß immer nur eine Ausnahmeerscheinung sein. Um so stärker lag die Betonung für die Zukunft auf der Sonderausbildung der Anwärter, und für diese, die hauptsächlich in den politischwirtschaftlichen Länderabteilungen des Amtes zu erfolgen hatte, waren daneben wissenschaftliche Spezialkurse vorgesehen, die außer der Volkswirtschaftslehre noch Geschichte, Staats- und Völkerrecht, Geographie umfaßten. Den Abschluß sollte eine Prüfung bilden, die unter dem Vorsitz des Ministers oder des von ihm zu bestimmenden Stellvertreters von je einem Vertreter der wissenschaftlichen Fächer und einem Beamten der Personalabteilung abzuhalten war. Die A u s b i l d u n g d e r A t t a c h e e s ist einerseits in den einzelnen Länder- und Fach-Referaten der Abteilung, andererseits in regelmäßigen Besprechungen allgemeiner Natur erfolgt, die ich selbst mit ihnen abgehalten habe. Das Gesamt dieser Tätigkeit habe ich, nachdem ich aus dem Amt wieder ausgeschieden war und die Professur in Leipzig übernommen hatte, auf Ersuchen des Amts solange beibehalten, bis die Laufbahnen des diplomatischen und konsularischen Dienstes wieder getrennt und die Sonderkurse der KonsularAttachees gänzlich eingestellt wurden; deren Ausbildung wurde wieder allein auf den Dienst in den Länderabteilungen und deren unvermeidliche Einseitigkeit beschränkt. Der Gedanke, erfahrene P r a k t i k e r in die Beamtenschaft einzugliedern, ist aus den Erfahrungen entsprossen, die in der Kriegswirtschaft das Zusammenarbeiten geboten hatte. Die kurze Zeit, während der die Abteilung ihre Hauptaufgabe nur zu erfüllen vermochte, ließ jedoch reichere Erfahrung über das Zusammenwirken von Praktikern und Be-

2. Die Organisation

der

Abteilung

71

amten in der Friedenszeit nicht gewinnen. Nach Schülers und meinem Ausscheiden aus dem auswärtigen Dienst war in diesem auch niemand, der sich für eine weitere Verfolgung solchen Gedankens einsetzen mochte. Von einer Reform des auswärtigen Dienstes wurde nicht mehr gesprochen. Für alle diese Aufgaben meiner Abteilung, die mit der Politik und so auch mit der Handelspolitik nichts zu tun hatte, gelang es mir, als eine besonders wichtige Unterlage des Arbeitens die Mitwirkung der großen Handelskammern des Reiches zu gewinnen; sie verpflichteten sich, allmonatlich ohne irgend politische Beurteilung, in rein tatsächlicher Natur, je einen kurzen Bericht über neu aufgetretene Erscheinungen ihres Bereichs einzusenden, und sind dieser Verpflichtung auch regelmäßig nachgekommen, nur die preußischen Handelskammern fielen nach wenigen Monaten plötzlich vollkommen aus. Auf eine fernmündliche Befragung der Handelskammer Berlin erfuhr ich den Grund, daß der preußische Handelsminister den Kammern die Berichterstattung verboten hätte; er nahm Anstoß an dem unmittelbaren Zusammenarbeiten der ihm unterstellten Kammern mit einer Reichsbehörde und verlangte, darin eingeschaltet zu werden, um dann seinerseits einen zusammenfassenden Bericht dem AA. zuzuleiten. In einem Telefongespräch mit dem Referenten des preußischen Ministeriums entschuldigte ich mich zunächst, daß ich in Unkenntnis der Üblichkeit versäumt hätte, mich mit ihm rechtzeitig in Verbindung zu setzen, und wies dann darauf hin, daß der von ihm geforderte Weg den Sinn der neuen Einrichtung wesentlich verkümmerte; denn hierbei käme es auf die Schnelligkeit des Arbeitens an. Ich schlug dann vor, daß die Handelskammern mit dem offiziellen Bericht, den sie dem Ministerium erstatten sollten, gleichzeitig mir einen Durchschlag zugehen ließen. Dieser Vorschlag wurde als formell unzulässig abgelehnt. So blieb mir nichts anderes übrig, als für die Berichterstattung über Preußen mir andere Quellen zu erschließen.

2. Die Organisation der Abteilung (die Referate, die Zweigstellen, der Verwaltungsrat) Für die Durchführung aller dieser Aufgaben hatte Schüler eine eigenartige O r g a n i s a t i o n in Aussicht genommen, wobei er meine Anregung, das Amt als eine Abteilung des AA. zu formen und hiermit den Weisun-

72

VI. Der Dienst im Auswärtigen

Amt des Reiches

gen ihres Direktors den Charakter von Ministerialerlassen zu geben, als zutreffend anerkannte. Dementsprechend bin ich unter dem 2. Dezember 1918 zunächst aus Haushaltgründen auf die gerade freiwerdende Stellung eines Ministerialdirigenten ins Auswärtige Amt berufen worden; nach einigen Monaten der Einarbeitung habe ich am 1. April 1919 die Leitung der neuen Abteilung übernommen, die später als Abteilung 10 auch in der Benennung den anderen Abteilungen gleichgestellt worden ist. Am 1. Januar 1920 habe ich auf Grund des neuen Haushaltsplanes die Ernennung zum Ministerialdirektor erhalten. Auch darin hat mir der Personalchef des AA. zugestimmt, daß ich neben die vorgesehenen L ä n d e r r e f e r a t e , für deren Besetzung auch die früher draußen tätig gewesenen Konsulatbeamten in Betracht kamen, einige S a c h r e f e r a t e für die wichtigsten Wirtschaftszweige stellen sollte. Ich hielt dies für notwendig, um der Abteilung eine unmittelbare Fühlung zur Binnenwirtschaft zu verschaffen; waren doch von dieser über die neuen Verhältnisse des Auslands zahlreiche Anfragen spezieller Natur zu erwarten, die der Abteilung wichtige Anregungen für ihre Arbeit geben und oft in persönlichen Besprechungen noch zu klären sein würden. Hierzu hätte eine Fühlung mit den großen Zentralverbänden des Handels und der Industrie nicht ausgereicht; die Abteilung mußte aus eigener Kenntnis sich ein Urteil über die Export- und Import-Bedürfnisse der Wirtschaftsgruppen zu bilden vermögen, wenn sie wenigstens solange eine Initiative für das Wiederfinden alter und die Öffnung neuer Wege entfalten sollte, als f ü r die private Initiative viele Auslandsgebiete verschlossen waren. Für die Besetzung dieser Referate ist mir bald ein Auftrag wertvoll geworden, den mir das Reichskabinett im Mai 1919 persönlich erteilt hat: ich sollte auf Grund der langjährigen Tätigkeit, die ich in der Kriegsrohstoffabteilung des Kriegsministeriums und deren Nachfolgerin, dem Demobilmachungsamt, ausgeübt hatte, die Nachrichten-Abteilung dieses Amtes liquidieren. Hier fand ich geeignete Kräfte; und da sich bald herausstellte, daß sich die Liquidierung bei einer Vereinigung der beiden Abteilungen rascher und glatter vollziehen ließ, so habe ich im Herbst 1919 den noch gebliebenen Rest von Angestellten des Demobilmachungsamtes in meine Abteilung des AA. eingegliedert. Allerdings mußte ich dafür den formalen Nachteil in Kauf nehmen, daß die Zahl der Angestellten in meiner Abteilung scheinbar empor-

2. Die Organisation

der

Abteilung

73

schnellte, und daß die weiter durchgeführte Liquidierung dieses Restes einige Zeit noch gegenüber der Anfangszahl meiner Abteilung als eine Zunahme erschien — was dann später auch mehrfach getadelt worden ist. Daneben gelang es, mit den wichtigsten Fachverbänden zu guten Vereinbarungen über ein Zusammenarbeiten zu gelangen; ich nenne aus dem Gedächtnis die für die Ausfuhrfragen besonders bedeutsamen Vereine der deutschen Maschinenbau-Anstalten, der Eisen- und Stahlindustrie, der Chemischen Industrie, der sächsischen Textilindustrie. Demselben Ziel, für die Abteilung eine engere Fühlung mit der Wirtschaftspraxis zu gewinnen, haben die Z w e i g s t e l l e n gedient, die im Zusammenhang mit den großen Industrie- und Handelskammern errichtet worden sind; und auch hierbei habe ich eine wichtige Änderung des ursprünglichen Planes herbeiführen können. Die Anregung zu diesen neuen Organen ist aus hamburger Wirtschaftskreisen gekommen, die auf eine schnellere Übermittlung und auf bessere Sicherung der Vertraulichkeit für die aus dem Ausland eingehenden Berichte drängten. Sie hätten allerdings gern gesehen, wenn nur für ihre Stadt und allenfalls noch für Bremen der Vorschlag durchgeführt worden wäre, und waren unter dieser Bedingung bereit, die Kosten selbst aufzubringen. Sie haben sich ständig gegen die Ausdehnung auf das Binnenland mit der bekannten Begründung gewehrt, daß dies für Hamburg die Ausschaltung der kleineren, im ganzen jedoch besonders wichtigen Exportfirmen und Exportagenten noch über das bisherige Maß steigern würde. Die bremischen Kaufmannskreise stellten sich auf den entgegengesetzten Standpunkt; sie begrüßten die Ausweitung des Zweigstellennetzes, wie ich sie sofort forderte. Mir erschien die Einschaltung des Binnenlandes sowohl aus sachlichen Gründen als auch deswegen notwendig, weil nur auf diesem Wege dem Sturm der Entrüstung vorzubeugen wäre, der sich sonst im Binnenland mit Sicherheit ergeben würde und für die Beziehung des AA. zu der binnenländischen Wirtschaft die anzustrebende Verbesserung außerordentlich erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen würde. Die Erweiterung des Zweigstellennetzes über Hamburg und Bremen hinaus ist denn auch in das Programm der Abteilung aufgenommen und in einigen Städten rasch durchgeführt worden; nur der preußische Handelsminister verbot den Handelskammern die Beteiligung.

74

VI. Der Dienst im Auswärtigen

Amt des Reiches

Die Form, die dafür gefunden wurde, war im allgemeinen so gewählt, daß die Zweigstelle von der Handelskammer ihres Ortes finanziert wurde, der Leiter jedoch trotzdem als ein Angestellter der Abteilung und demgemäß der Handelskammer gegenüber als selbständig zu gelten hatte. Nur in Hamburg und Bremen ist diese Selbständigkeit auch räumlich festgehalten worden, was sich an der Elbe nicht gerade vorteilhaft ausgewirkt hat. Auch sonst hat sich ein beträchtlicher Unterschied zwischen der hamburgischen und den sonstigen Stellen dauernd geltend gemacht; jene fühlte sich dem AA. gegenüber nicht in erster Linie als die Vermittlerin von den An- und Absichten meiner Abteilung, sondern umgekehrt als Vertreterin der hamburgischen Interessen bis ins politisch-persönliche Gebiet hinein, das zu betreuen doch Sache des hamburgischen Reichsratsmitgliedes war — ein Verhalten, das in Hamburg selbst vielfach gerügt wurde. Die anderen Zweigstellen haben sich dagegen streng an ihre Aufgabe gehalten und hiermit, wie mir bei meinem Ausscheiden mehrfach ausgesprochen worden ist, bei den Wirtschaftskreisen lebhafte Zustimmung gefunden. Meiner Abteilung haben sie durch die schnelle Weiterleitung der vertraulichen Auslandsberichte und durch die Übermittlung mannigfacher Anregungen trotz gelegentlicher Übertreibung ihres Eifers wertvollste Dienste geleistet und sogar das AA. als Ganzes in einen besseren Ruf gebracht. Die eigentümlichste, aus dem üblichen Rahmen einer Behörde völlig herausfallenden Schöpfung innerhalb des neuen Amtes, die allein dem Kopfe Schülers entsprungen ist, hat im Aufbau meiner Abteilung der „ V e r w a l t u n g s r a t " dargestellt. Er sollte nach dem ursprünglichen Plane dem amtlichen Leiter unterstützend zur Seite stehen und diesen in unmittelbare Fühlung mit Wirtschaftspraktikern bringen; andererseits sollte er für die Abteilung diejenigen Mittel bereitstellen, die über die etatsmäßige Besoldung des Leiters und einiger besonderer Beamten sowie den im Reichshaushalt vorgesehenen Pauschalbetrag hinaus die Erfüllung der neuen Aufgaben erst möglich machen würden. Man darf diese Konstruktion wohl mit den sog. gemischtwirtschaftlichen Unternehmungen vergleichen, die im Wirtschaftsleben selbst zu starker Ausbreitung gelangt waren und nach allgemeinem Urteil sich gut bewährten; allerdings mit dem wichtigen Unterschied, daß zur Leitung der Abteilung ein Beamter vorgesehen war, die behördliche Mitarbeit sich also nicht nur über

2. Die Organisation

der

Abteilung

75

den Aufsichtsrat geltend machte. Solchem Aufbau konnte ich nach meiner ganzen Einstellung zu dem Staats-Wirtschafts-Verhältnis nur aufs lebhafteste zustimmen; er ergab eine weitgehende Selbständigkeit der Abteilungsführung gegenüber den Einschränkungen des Haushalts und auch gegenüber dem Kern des AA. Auszusetzen hatte ich jedoch, wie bei den Zweigstellen, die zunächst vorgesehene Besetzung des Verwaltungsrates. Über seine Bildung hatten zwar Besprechungen nicht nur mit den hamburgischen und bremischen Kaufmannsgruppen stattgefunden; auch der Reichsverband der Deutschen Industrie und der Zentralverband des Deutschen Großhandels waren zugezogen worden und hatten zugestimmt. Nun war aber der Reichsverband erst soeben unter starkem Druck des Reichswirtschaftsministers durch eine Zusammenfassung der drei führenden Berufsverbände der Industrie — des ausgesprochen schutzzöllnerischen Zentralverbandes Deutscher Industrieller, des ebenso ausgesprochen freihänderischen Bundes der Industriellen und des vermittelnden Vereins zur Wahrung der Interessen der Chemischen Industrie — zustande gebracht worden und ließ kaum einen Zweifel, daß das Schwergewicht des neuen Gebildes bei der Schwerindustrie liegen würde; namentlich die Unterverbände der beiden anderen Glieder standen daher mit starkem Mißtrauen dem Neuen gegenüber. Auch der Zentralverband des Deutschen Großhandels wurde keineswegs unangefochten als Repräsentant allen Handels anerkannt. Die Industrie- und Handelskammern vollends hielten stark an ihrer Selbständigkeit fest und hatten sich sowohl gebietsmäßig in den Handelskammertagen als auch über das Reich hin im Deutschen Handelstag eine eigene Organisation geschaffen, an der sie auch jetzt festhielten; sie gerade standen dem Aufgabenkreis meiner Abteilung unmittelbar nahe. Da war es gut, daß sich Schüler in den Vorbesprechungen nicht auf jene vier Gruppen hatte festlegen lassen. Wir konnten daher das Ziel, die verschiedenen Wirtschaftskreise Deutschlands in ihrer räumlichen und fachlichen Gliederung im Verwaltungsrat zur Mitwirkung zu bringen, trotz des Widerspruchs der hamburgischen Kaufmannsgruppe und der beiden Zentralverbände, aber unter Billigung der bremischen Gruppe bei den Handelskammern gleich im Sommer 1919 zu verfolgen beginnen und haben fast überall — Preußen wieder ausgenommen — Anklang gefunden. Im Herbst 1919 hat der Verwaltungsrat seine erste Sitzung abgehalten. Zu ersprießlicher Arbeit ist er jedoch niemals gelangt; die Vertreter des

76

VI. Der Dienst im Auswärtigen

Amt des Reiches

Reichsverbandes der Deutschen Industrie haben jedesmal in den Sitzungen lange Geschäftsordnungs-Debatten erzwungen und hiermit sehr deutlich eine Verschleppungstaktik geübt, die jede sachliche Erörterung unmöglich. gemacht hat. Zur Wirklichkeit geworden und geblieben ist jedoch eine enge Fühlung, die sich für mich persönlich mit den anderen Mitgliedern ergeben hat und mir in meinem Amte sehr wertvoll geworden ist.

3. Der Eildienst und die anderen Quellen der

Abteilungseinnahmen

Allerdings mußte ich dank solchen Versagens des Verwaltungsrats versuchen, die nun fehlenden G e l d m i t t e l auf anderem Wege zu beschaffen. Hierfür kam in erster Linie in Betracht der neu geschaffene „Eildienst f ü r vertrauliche Auslandsnachrichten". Dieser wandte sich, im Unterschied von den früheren Verfahren, nicht nur an die Handelskammern und ähnliche Interessenvertretungen, die dann nach eigenem Ermessen die amtlichen Mitteilungen weitergaben. Auf ihn konnte vielmehr jede Firma gegen die Verpflichtung vertraulicher Benutzung abonnieren und erhielt ihn dann direkt zugeschickt. So wurde der frühere Umweg Auswärtiges Amt — Wirtschaftsministerium — Handelsministerium des Einzelstaats — Handelskammer — Interessent von Wochen und Monaten auf wenige Tage oder gar Stunden abgekürzt. Der Eildienst hat sich schnell zu einer wichtigen Informationsquelle f ü r die Wirtschaftspraxis und einer wichtigen Einnahmequelle f ü r meine Abteilung entwickelt. Besondere Anerkennung hat dieses Organ sich in Bremen und bald darauf in Hamburg dadurch erworben, daß es ihm gelang, sich in den New Yorker Börsen-Funkdienst einzuschalten und so zuerst dem Baumwollhandel Bremens, dann auch dem Metallhandel Hamburgs am selben Abend die Börsennotierungen zu übermitteln, während das Büro Wolff dies erst am nächsten Morgen tat und dadurch die deutschen Interessenten in einen Nachteil gegenüber dem englischen Wettbewerb brachte. Für ein Zusammenarbeiten gelang es jedoch einen Weg zu finden. Der Anfang war dabei umständlich genug: die Funkmeldungen New Yorks ließen sich mangels eines entsprechenden Funkdienstes Deutschlands nur telefonisch an die Zweigstellen weitergeben, und auch diese

3. Der

Eildienst

77

mußten die einzelnen Abonnenten nacheinander anrufen. Da war es ein großer Fortschritt, als mit Hilfe des neu von der Deutschen Postverwaltung eingerichteten Funkdienstes die Preisnotierungen sich von Berlin aus ebenfalls im Funkdienst weitergeben ließen; die Einstellung auf eine bestimmte Wellenlänge gewährleistete, daß nur Abonnenten mit entsprechenden Empfangsgeräten die Meldungen erhalten konnten. Dies ist der Anfang des Rundfunks für Deutschland geworden, wie ihn später die Reichspostverwaltung in Zusammenarbeit mit der Abteilung 10 aufgebaut hat; auch den Kern des AA. zu beteiligen, ist leider an der Ablehnung der zuständigen Stellen gescheitert. Finanziell war das Ergebnis so gut, daß eine deutsche Großbank dem Eildienst gern gegen eine hohe Summe die Beteiligung abgekauft hätte, was natürlich abgelehnt wurde. Für den Eildienst wurde aber weitestgehende Beweglichkeit eine unerläßliche Voraussetzung seines Erfolges. Im Sommer 1920 habe ich mich daher entschlossen, ihn aus dem unmittelbaren Zusammenhang mit meiner Abteilung, aus der Stellung eines Referates herauszulösen und ihn in der Form einer GmbH, zu einer gemischtwirtschaftlichen Unternehmung im eigentlichen Sinne des Wortes umzugestalten. Den Kapitalgebern wurde hierbei auf ihre Einlagen eine gewisse Verzinsung und vom Gewinn ein kleiner Anteil zugesprochen: der Großteil des Gewinns hatte jedoch in die Abteilung zu fließen. Als Geschäftsführer trat mein Referent, der den Eildienst von Anfang an aufgebaut und bearbeitet hatte, in die GmbH, über; deren Büro blieb jedoch im Hause der Abteilung, und deren Direktor wurde zum ehrenamtlichen Vorsitzenden des Aufsichtsrats bestimmt, der denn auch ständig über alles Wichtige unterrichtet wurde. Ich glaube sagen zu dürfen, daß diese Organisationsform sich in jeder Weise bewährt und nicht zuletzt die Grundlage für den finanziellen Erfolg gegeben hat. Eine andere Quelle eigener Abteilungs-Einnahmen bot sich in der „Industrie- und Handelszeitung", die an die Stelle der „Nachrichten für Handel und Industrie" des Reichswirtscbafts-Ministeriums gesetzt und vom Verlag Reimar Hobbing rasch zu erheblicher Verbreitung gehoben wurde. Endlich ließ auch die Sammelmappe „Deutschland und die weltwirtschaftliche Lage", die ursprünglich vom Demobilmachungsamt unter Be-

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VI. Der Dienst im, Auswärtigen

Amt des Reiches

schränkung auf binnenwirtschaftliche Erscheinungen herausgegeben worden war, nach der Ausweitung ihres Inhalts steigende Erträge erwarten. Mit dem Ganzen dieser finanziellen Unterlagen der Abteilung 10 hat nun aber der Streit, der mit dem Reichsverband der Deutschen Industrie im Verwaltungsrat entstanden war, eine besondere Schärfe erhalten. Der Reichsverband hatte sich nämlich im „Deutschen Wirtschaftsdienst" eine Organisation angegliedert, die zwar tatsächlich innerpolitische Aufgaben lösen sollte und deshalb über das ganze Reich ausgedehnt worden war, formell jedoch die Wirtschaftswelt Deutschlands mit Auslandsnachrichten zu versehen hatte. Sie verursachte dem Reichsverband sehr hohe Kosten. Ein Weg, diese zu vermindern, schien ihm die Vereinigung mit meiner Abteilung zu bieten. Er ging aber hierbei auf eine Form aus, die seinem Organ ein für alle Mal das Übergewicht gesichert hätte, und dies erschien mir unannehmbar. Da ich meiner Staatsauffassung gemäß das Übergewicht irgendwelcher Wirtschaftskreise über eine Staatsbehörde als unerträglich empfinde, so wollte ich wenigstens das Zusammenarbeiten, das mir an sich ebenfalls erwünscht war, solange hinausschieben, bis die Abteilung 10 kräftig genug geworden wäre, dem Ganzen den Stempel staatlich-politischer Objektivität aufzudrücken. Dieser Auffassung hat auch mein damaliger Minister zugestimmt. So sind die schon eingeleiteten Verhandlungen ergebnislos abgebrochen worden. Dem Widerstand des Reichsverbandes bin ich dann auf Schritt und Tritt begegnet.

4. Die Auflösung der Abteilung

Schneller als bei Errichtung meiner Abteilung anzunehmen war, hatten die privaten Fäden der Wirtschaft wieder in wichtige Bezirke des Auslands hinausgelegt werden können. Die Außenunternehmungen des Handels und die Industrie erfuhren durch ihre Verbindungen rasch und zuverlässig, was f ü r sie von Bedeutung war. Nur zur Ergänzung ließ sich noch verwerten, was von meiner Abteilung an wichtigen Nachrichten dem Wirtschaftsleben zu bieten war. So nahte die Zeit, zu der an eine A u f l ö s u n g der Abteilung gedacht werden konnte. Sie ist dann, nachdem ich im Juli von der Leitung entbunden und mit der Vertretung des Reiches bei der Sowjetregierung betraut worden war, im Herbst 1921 durch-

5. Das Sondererlebnis

des

Kapp-Putsches

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geführt und der frühere Zustand im wesentlichen wieder hergestellt worden. Waren es auch nur zweieinhalb Jahre, die ich die Abteilung des AA. f ü r Außenhandelsförderung in den schweren Anfangsjahren nach dem ersten Weltkriegsabschnitt unter starker Umgestaltung des ursprünglichen Planes habe aufbauen und dann völlig selbständig leiten können, so glaube ich doch annehmen zu dürfen, daß meine Arbeit f ü r die Ingangsetzung des deutschen Außenhandels und damit f ü r das heimatliche Wirtschaftsleben überhaupt nützlich gewesen ist. Das haben mir einige der wichtigsten außerpreußischen Handelskammern, als mein Ausscheiden durch die Presse bekannt wurde, in warmen Worten ausgesprochen. Für mich selbst und meine stets im Auge behaltene wissenschaftliche Arbeit habe ich eine wesentliche Bereicherung meiner volks- und weltwirtschaftlichen Kenntnisse, nicht zuletzt auch eine wichtige Erweiterung meines Wissens von den innerpolitischen Verhältnissen und den Grundlagen der Reichsverwaltung erhalten, die sich aus der neuen Verfassung ergaben; ich fand das Neue nicht annähernd so mannigfaltig und so tiefgreifend, wie die gewandelte Rechtsform wohl erwarten ließ. Allzu stark war noch im Reichsrat als dem Nachfolger des früheren Bundesrats, im Reichstag und in der Beamtenschaft der Einfluß der alten Kräfte, und ob es einen politischen Fortschritt bedeutete, daß die Zusammenfassung der drei großen Industrieverbände zum „Reichsverband der deutschen Industrie" den schon in sich stark gesteigerten großkapitalistischen Mächten die kaum angefochtene Führung gab, darf wohl als recht zweifelhaft beurteilt werden.

5. Das Sondererlebnis

des

Kapp-Putsches

In diese Zeit fällt ein recht eigentümliches Sondererlebnis: meine Berührung mit dem Kapp-Putsch. Wie mangelhaft seine Vorbereitung gewesen ist, habe ich am Nachmittag des 13. März 1920 persönlich erfahren. Es war schon bekanntgeworden, daß alle Versuche Kapps, die Ministerposten zu besetzen, bisher fehlgeschlagen waren; er hatte also offenbar dafür nicht vorgesorgt. Seine Aufforderung an den Staatssekretär des Reichsfinanzministeriums, ihm sofort eine größere Geld-

80

VI. Der Dienst im Auswärtigen

Amt des Reickes

summe auszuhändigen — auf einem herausgerissenen Notizbuchblatt mit Bleistift geschrieben —, war natürlich abgelehnt worden. Da geschah es dann noch am Nachmittag desselben Tages, daß sich bei mir ein Journalist melden ließ und midi im Auftrage Kapps fragte, ob ich die Stelle des Reichswirtschaftsministers in der neuen Regierung übernehmen wollte. Das schlug dann doch dem Faß den Boden aus. Ich war nicht imstande, die Frage ernst zu nehmen, und erklärte deshalb nur lächelnd, daß mein Ehrgeiz noch niemals auf einen Ministerposten gerichtet gewesen wäre, und daß ich unter den besonderen Umständen des Tages schon gar nicht daran dächte. Wie schwer es aber für Kapp war, überhaupt jemand für diesen Posten zu finden, konnte ich daraus entnehmen, daß mein Besucher trotz allem mich zu einer Wiederholung dieses Bescheides zwang.

VII.

Als Vertreter der Reichsregierung in Moskau (1921/1922) 1. Die Besonderheit

der

Stellung

Den Wunsch, mit der Auflösung meiner Abteilung aus dem Auswärtigen Dienst wieder auszuscheiden, habe ich allerdings noch einmal zurückstellen müssen: ich sollte erst noch als V e r t r e t e r d e r R e i c h s r e g i e r u n g in provisorisch gedachter, nichtdiplomatischer Stellung bei der Regierung der RSFSR in Moskau meine Kenntnis von Rußland und den deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen für meinen Staat unmittelbar einsetzen. Diese Aufgabe habe ich ein Jahr lang zu erfüllen gesucht. Die Reichsregierung war seit der Ermordung des deutschen Gesandten (Juli 1918) in Rußland ohne amtliche Vertretung gewesen, hatte aber in ähnlicher Weise, wie es kurz zuvor Großbritannien getan hatte, im Mai 1921 mit der Sowjetregierung sich vertraglich dahin geeinigt, daß beide Staaten je in dem anderen eine Stelle einrichten sollten, welche die Wiederherstellung der wirtschaftlichen Beziehungen einleiten und dieser beschränkten Aufgabe wegen keinen diplomatisch-politischen Charakter tragen sollte; die Anerkennung der RSFSR als eines Staates im völkerrechtlichen Sinne wurde damit noch vermieden. Für diese Stelle einen Mann zu finden, der den Russen genehm war, ergab Schwierigkeiten, da die Sowjetregierung die Mitglieder der sozialdemokratischen Mehrheitspartei ablehnte. Da hat, wie ich später erfuhr, mein Kriegsfreund Koeth auf mich hingewiesen als jemanden, der sich mit den russischen Verhältnissen wissenschaftlich beschäftigt und politisch sich von allen Parteien freigehalten habe. Die 6 Wiedenfeld, Zwischen Wirtschaft und Staat

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VII. Als Vertreter der Reichsregierung in Moskau

Reichsregierung hat diesen Vorschlag aufgegriffen. So ließ mich der soeben neu ernannte Reichsminister des Äußeren (Rosen) eines Tages auffordern, ihn am Nachmittag in seiner Wohnung aufzusuchen. Mir fiel natürlich auf, daß die Unterredung nicht im Amtszimmer des Ministers stattfinden sollte; das ließ auf eine besondere Absicht schließen. Meine Erwartung stieg dann noch," als auf meine Meldung hin der Diener mich nicht in die Wohnung, sondern in den herrlichen Park des Außenministeriums und hier an einen recht verlockend hergerichteten Kaffeetisch führte. Ich war also auf eine Überraschung gefaßt und auf einen Auttrag, der wohl etwas schwierig sein würde. Der Minister kam dann mit einer Zigarrenkiste unter dem Arm, und bei Kaffee und Kuchen stellte er mir die Frage, ob ich wohl bereit wäre, nach Moskau als Vertreter des Reichs zu gehen. Auf meinen Einwand, daß ich nach meiner Eigenart zur Erfüllung diplomatischer Aufgaben nicht paßte, setzte er mir auseinander, daß diese Eigenart gerade für und nicht gegen mich spräche; ich sollte unter Beibehaltung meiner Stellung als Ministerialdirektor des AA kommissarisch entsandt werden und deshalb keinerlei Titel führen, der im Ausland üblich wäre, sondern einfach als „Deutscher Vertreter" bezeichnet werden; von mir würde gefordert, daß ich mich jeder diplomatischen Betätigung enthielte und nur zu beobachten und zu berichten hätte, wie es eigentlich in Rußland aussähe, wie weit die Aufnahme der wirtschaftlichen Beziehungen schon möglich wäre. Auch meinen Einwand, daß ich die russische Sprache nicht beherrschte, ließ er nicht gelten; das auszugleichen, gäbe es Dolmetscher. Als ich schließlich erwähnte, daß ich nach sechs Jahren intensivster Amtsarbeit das Gefühl hätte, nun meiner Familie mich etwas mehr widmen zu müssen und meine Frau nicht noch länger mit so starker Verantwortung für fünf Kinder belasten zu dürfen, bekam ich zu hören, daß ich allerdings die Familie nicht mitnehmen könnte, daß aber in solcher Zeit die Staatspflichten doch wohl an erster Stelle stünden. Nur damit war er einverstanden, daß ich mich nicht entscheiden könnte, ehe ich nicht mit meiner Frau den neuen Auftrag besprochen hätte. Einige Einzelheiten wurden dann noch bei einer Zigarre besprochen, und ich wurde verabschiedet mit der Bitte, wenn irgend möglich meine Entscheidung am nächsten Morgen mitzuteilen.

1. Die Besonderheit

der

Stellung

83

Ich hatte wenig Neigung, den Auftrag anzunehmen. Der Gedanke war mir lieb geworden, daß ich in der Zeit, in der ich z. D. gestellt sein würde, mich zunächst wieder in die wissenschaftliche Arbeit versenken und hierbei zugleich mit meinen reichlich angegriffenen Nerven in Ordnung kommen wollte. Auch die Ermordung des Grafen Mirbach und die fluchtähnliche Art, mit welcher Reichsminister Helfferich, im Herbst 1918 zur Berichterstattung nach Moskau entsandt, nach meiner Kenntnis rasch die Stadt wieder verlassen hatte, legte das Bedenken nahe, ob ich mich meiner Familie gegenüber einer solchen Gefahr wohl aussetzen dürfte. Dem stand nur der Reiz gegenüber, als Beobachter — in einer Aufgabe also, die mir lag — in dem so neuartig gewordenen Rußland mich betätigen und den Vergleich mit der zaristischen Zeit ziehen zu können; durfte das den Ausschlag geben? Ich glaubte, diese Frage verneinen zu müssen. Meine Frau war entgegengesetzter Ansicht und ließ sich von der Überzeugung tragen, daß gerade eine neue und für midi so gut passende Aufgabe mir am raschesten und sichersten die Elastizität wiedergeben würde, deren Schwinden ich beklagte; sie nahm also dieselbe Stellung ein, die sie früher gegenüber meinen langen Auslandsreisen stets eingenommen hatte. Und das Ergebnis war auch dasselbe: ich nahm den Auftrag an und bin, nachdem die Sowjetregierung ihr Einverständnis erklärt hatte, Ende Juli 1921 zum „Vorläufigen Vertreter der Reichsregierung" bei der Regierung der RSFSR durch den Reichsminister des Auswärtigen bestellt worden. Die Ausführung des Auftrags begann alsbald in Berlin mit einem wertvollen Erlebnis. Auf seinen ausdrücklichen Wunsch meldete ich mich in der neuen Eigenschaft beim Reichspräsidenten. Ich kannte ihn noch nicht und war naturgemäß gespannt, welchen Eindruck ich von ihm gewinnen würde. Er ließ sich genau erzählen, woher icii Rußland schon kannte, und schilderte mir dann ausführlich die führenden Sowjetmänner — Lenin, Trotzki, Kamenjew, Sinowjew und andere — sowie das Verhältnis, in dem sie zueinander standen, in einer Weise, die sich später als durchaus zutreffend ergab und mir für mein Verhalten wichtige Unterlagen gewährte. Auch für meine Aufgabe gab er mir um so wertvollere Fingerzeige sachlicher Natur, als ich darüber Spezielleres sonst nicht hatte erfahren können. Etwa eine Stunde dauerte die Unterhaltung, die in einfach behaglicher Form bei einer Zigarre gehalten wurde 6'

84

VII. Als Vertreter der Reichsregierung in Moskau

und doch die ruhig selbstverständliche Würde des Reichsofoerhauptes nicht vermissen ließ. Auch später, wenn ich zur Berichterstattung und Einholung neuer Instruktionen in Berlin war und mich beim Reichspräsidenten erst an- und dann wieder abzumelden hatte, war es stets derselbe Eindruck, den ich von seinem Wesen empfing.

2. Die Vorbereitung

(die Ausreise,

die Wohnfrage, die

Lebensform)

Meine A u s r e i s e verzögerte sich um einige Wochen, weil in Moskau die Wohn- und Geschäftsräume erst noch herzurichten waren und ich auch auf einen Wunsch des Reichsverbandes der Deutschen Industrie hin die bevorstehende Leipziger Messe zu Besprechungen in größerem Kreise benutzen sollte. Anfang September habe ich die Fahrt auf dem Seewege über Stettin und Reval angetreten; diesen Weg habe ich gewählt, um in der estnischen Hauptstadt mich von dem mir gut bekannten Gesandten über die Moskauer Verhältnisse näher unterrichten zu lassen. Der Aufenthalt in Reval dauerte allerdings länger, als ich hatte annehmen können; der nächste Zug nach Petersburg ging erst nach sechs Tagen. Dank der freundlichen Hilfe des Gesandten konnte ich aber diese Zeit benutzen, auch über die estnischen Verhältnisse eine eigene Anschauung zu gewinnen, namentlich von dem neuen Leben der dort gebliebenen früheren Großgrundbesitzer und ihren Beziehungen zu den kleinbäuerlichen Benutzern ihrer enteigneten Güter. An der Newa empfing mich der Vertreter des Deutschen Roten Kreuzes, das als Glied der sog. Nansen-Organisation f ü r das Herausbringen der deutschen Kriegsgefangenen zu sorgen hatte. Am 13. September 1921 bin ich dann morgens in Moskau angekommen und habe wenige Tage später Herrn Kalinin, der als Vorsitzender des zentralen Exekutivausschusses als Präsident der Republik galt, mein Beglaubigungsschreiben überreicht. Mitte September 1921 habe ich also meinen neuen Dienst angetreten. D i e W o h n - u n d B ü r o f r a g e fand ich durch den Legationssekretär, der schon einige Wochen zuvor zur Vorbereitung der neuen Behörde nach Moskau entsandt worden war, bestens gelöst. Die Sowjet-

2. Die Vorbereitung

85

regierung hatte uns taktvoll nicht diejenige Villa angewiesen, in der vor drei Jahren Graf Mirbach ermordet worden war, sondern das Stadthaus eines Moskau-deutschen Großkaufmanns, das außerhalb des Ringes in der stillen Nebenstraße (Obuchow) einer Hauptstraße lag und außer einer beträchtlichen Anzahl gut eingerichteter Räume einen schönen Garten enthielt, was mir an dem strahlenden Septembertage meiner Ankunft das schönste Willkommen bot. Da die Vertretung als ein Provisorium gedacht war, hatten wir alle unsere Familien daheim zurückgelassen. Wir wurden auch gemeinsam verpflegt, und zwar, da das Jahr 1921/22 in Rußland dank sehr ausgeprägter Mißernte unter großen Schwierigkeiten der Versorgung stand, großenteils durch Lebensmittel, die uns von Berlin zugesandt wurden. Auch einige Eisenbahnwagen Koks haben wir für die Zentralheizung des Wohnhauses von der Ruhr beziehen müssen, da Masud in genügender Menge in Moskau nicht zu erhalten war und das frische Birkenholz allein zu wenig Hitze abgab. Feste Gehälter bezogen wir nicht, uns wurde ersetzt, was wir je ausgegeben hatten. Die wichtigste Abwechslung brachten in unser sonst einförmiges Leben der Besuch der Großen Oper, die auf voller Höhe ihrer früheren Leistungsfähigkeit stand, sowie die zahlreichen Orchester- und Solistenkonzerte, unter denen die Darbietungen eines Stradivari-Quartetts, einschließlich der Bratsche lauter Stradivari-Instrumente umfassend, allmonatlich einen besonders hohen Genuß bereiteten. Da die DiplomatenLoge der Oper von allen ausländischen Vertretungen häufig beansprucht wurde und man sie nicht für ein bestimmtes Werk, sondern nur f ü r einen bestimmten Tag beim Außenkommissariat vorausbestellen konnte, so erwies es sich für midi als ein willkommener Zufall, daß der erste Kapellmeister, der später auch in Deutschland bekanntgewordene Dobrowen, mit einer Nichte meines Sibiriengastfreundes verheiratet war und mir jederzeit die ihm zustehenden zwei Plätze überließ; ich konnte also stets noch einen meiner Beamten beglücken. Unter welchen Schwierigkeiten teilweise die Konzerte standen, zeigte uns ein Sinfoniekonzert, das bei etwa 30° C unter Null in dem seit Jahren und auch jetzt nicht geheizten Saal des Konservatoriums stattfand: Publikum und Orchester konnten weder den Pelz noch die Pelzmütze ablegen; nur der unglückliche Solist Dobrowen spielte im Frack das Beethovensche Klavier-

86

VII. Als Vertreter der Reichsregierung

in Moskau

konzert, lehnte aber unter Ausstrecken seiner eiskalt gewordenen Hände jede Zugabe ab. Der allgemeine Mangel an Heizung bereitete mir sogar die Freude, daß das Streichquartett des Opernorchesters regelmäßig in meinem Musiksaal probte und namentlich mir russische Quartette vorspielte. Sehr häufig veranstaltete ich in diesem Saal mit einem herrlichen Bechstein-Flügel musikalische Abende, f ü r die mir Dobrowen die Solisten und Solistinnen der Oper als Gäste zuführte. Diese Abende erhielten dadurch eine eigene Note, daß ich ohne Scheu neben dem russischen Musikminister und einigen Angehörigen seines Ministeriums auch russische Familien einladen konnte, ohne daß diese von der Tsdieka etwa behelligt wurden. Gleich beim ersten Abend machte ich die Erfahrung, daß nach alter russischer Sitte die Eingeladenen fast alle noch Angehörige oder Freunde mitbrachten, so daß es 40 anstatt 20 Gäste wurden; ich war froh, als mein russischer Koch mir auf meine besorgte Frage sagen ließ, daß er bei dem kalten Büfett schon mit etwa 40 Personen gerechnet hätte. Ein genauerer Blick auf die Speisen und Getränke, von deren geschmackvollem Aufbau ich mich vorher n u r kurz überzeugt hatte, gab mir denn auch die Beruhigung, daß neben dem Schönen des Anblicks auch der Inhalt meine Gäste zufriedenstellen würde. Diese Abende, glaube ich sagen zu dürfen, haben nicht unwesentlich dazu beigetragen, mir in Moskau bei den Russen eine gute Position zu schaffen.

3. Der Verkehr mit russischen

Amtsstellen

und deutschen Besuchern

Im dienstlichen V e r k e h r m i t d e n r u s s i s c h e n Amtss t e l l e n war sehr angenehm, daß er fast ausschließlich in deutscher Sprache erfolgte; n u r ein einziges Mal, als Tschitscherin, der Volkskommissar f ü r das Äußere, und sein Stellvertreter Litwinow in Genua weilten, habe ich mit dem Stellvertreter Karachan, einem Armenier, mit Hilfe meines Kanzlers als Dolmetscher verhandelt. Je zweier Dolmetscher hat es aber bedurft, als die Gesandten des bucharischen und des mongolischen Staates mir ihre Antrittsbesuche machten und ich diese erwiderte; beim

3. Der Verkehr mit russischen

Amtsstellen

87

einen über Mongolisch und Russisch, beim andern über Persisch und Russisch. Als ständiger Verbindungsmann war mir von der Sowjetregierung von Anfang an Radek zugewiesen, der als österreichischer Galizier ebenso wie seine aus der preußischen Provinz Posen stammende Gattin die deutsche Spräche als ihre Muttersprache beherrschten. Sogar die Vertreter der asiatischen Großstaaten (Türken und Perser) bedienten sich untereinander mehr der deutschen als der französischen Sprache. Von besonderem Wert für mich war, daß bald nach meiner Ankunft der frühere Vorsitzende der Moskauer Landwirtschaftlichen Gesellschaft, die für Rußland etwa mit der DLG zu vergleichen war, mich aufsuchte; er sowohl als auch seine Gattin hatten an der Universität Leipzig den Doktorgrad erworben, sprachen ebenfalls fertig Deutsch und haben mir um so wichtigere Informationen geben können, als der Mann trotz des Verlustes seines großen Grundbesitzes aus echt patriotischem Bedürfnis eine landwirtschaftliche Professur der Universität Moskau übernommen hatte und als durchaus loyal von der Sowjetregierung geachtet wurde. Auch meinem Verkehr mit anderen Professoren der Universität, mit noch tätigen Beamten und Offizieren zaristischen Ursprungs ist keinerlei Hemmung bereitet worden, wie diese auch keinerlei Belästigung erfahren haben. Sogar frühere Unternehmer, die jetzt als angestellte Direktoren ihre früheren, jetzt volkseigen gewordenen Betriebe leiteten, haben ungehindert bei mir verkehren können; hatte doch Lenin selbst wiederholt in aller Schärfe gefordert, daß loyal mitarbeitende Glieder der zaristischen Verwaltung wie auch Besitzer eigener Unternehmungen nicht durch peinliche Kontrollen gekränkt würden. Eigenartig war die Aufgabe der F ü r s o r g e f ü r d i e d e u t s c h e n K a u f l e u t e u n d I n d u s t r i e l l e n , die schon in recht beträchtlicher Zahl nach Moskau kamen, um sich über die Aussichten geschäftlicher Verhandlungen zu unterrichten oder auch mit den russischen Zentralbehörden die in Deutschland schon vorbereiteten Lieferungsverträge zum Abschluß zu bringen. Da galt es stets, wenigstens für die mir gemeldeten Besucher irgendwo in der Stadt eine Wohnung zu beschaffen, da es ein Hotel noch nicht wieder gab; mein Kanzler hatte sich allmählich eine lange Liste von Privatzimmern angelegt, die er vergeben konnte, und doch blieb einmal nichts anderes übrig, als einem nichtangemeldeten jungen Industriellen das Bett im obersten Gefach

88

VII. Als Vertreter

der Reichsregierung

in

Moskau

eines großen Aktenschrankes aufzuschlagen. Von mir wurden fast immer konkrete Ratschläge erwartet, oft mußte ich zu vorsichtigerem Vorgehen ermahnen, und was der Hilfen mehr waren, die ich einzusetzen vermochte. Sehr oft erhielt auch einer meiner Legationssekretäre, der fertig russisch sprach, die Aufgabe, die Gäste bei ihren Verhandlungen zu unterstützen und nicht zuletzt durch die Straßen Moskaus zu geleiten; was zugleich den Vorteil mit sich brachte, daß ich dann genau erfuhr, wie die Verhandlungen verliefen. Einmal ist es aber vorgekommen, daß eine größere Gesellschaft, von deren Kommen ich nicht benachrichtigt worden war, gerade dann in 'Moskau eintraf, nachdem ich dieses eben verlassen hatte, um mich in Berlin über das Ziel des Rapallo-Vertrages persönlich zu unterrichten; und wie bitter haben sich die Glieder dieser Gesellschaft bis in die deutsche Presse hinein über mein Fehlen beklagt. Bei allen Besuchen ist mir besonders aufgefallen, daß die Ankömmlinge erstaunt waren, wie frei ihnen die Auswahl der Werke gelassen wurde, die sie aufzusuchen oder gar zu besichtigen wünschten, und daß es dann doch immer wieder dieselben Werke waren, auf die ihre Wünsche gerichtet wurden. Dem Zwecke, den Fremden wenigstens etwas Behaglichkeit und zugleich und vor allem einen Anreiz zu gegenseitiger Aussprache zu bieten, hat ein großes Zimmer unseres Wohnhauses gedient, das ihnen als eine Art Klubraum zu beliebiger Benutzung an den Sonntagabenden freistand. Einige Gäste haben allerdings auch daran Anstoß genommen, daß ich mich nicht bei diesen Gelegenheiten als Gastgeber gab und mir auch das Fernbleiben ausdrücklich vorbehielt, dazu nur Tee und Teegebäck, aber keinen Wein und sonstigen Alkohol anbieten ließ; was hätte man in Moskau wohl geredet, wenn hier in einem Raum der Vertretung allsonntäglich nach den Entbehrungen der Woche ein Gelage entstanden wäre. Es hatte also seinen guten Grund, wenn ich zwischen den Klubabenden und meinen persönlichen Einladungen einen Unterschied festhielt. Daß überhaupt in Berlin über das Leben, das wir in Moskau führten, allerhand Märchen erzählt wurden, zeigt in besonders nettem Lichte die Art, wie mein Nachfolger, der inzwischen zum Botschafter ernannte Graf Brockdorff-Rantzau, für seine Unterbringung hat sorgen wollen: er lehnte ausdrücklich eine Dachkammer als Schlafraum ab und begründete das mit einer Warnung, die ihm in Berlin über meinen Schlafräum gemacht worden wäre; was mag er wohl für Augen

3. Der Verkehr mit russischen

Amtsstellen

89

gemacht haben, als ihm mein prunkthafter Saal mit seinem großen Schlafalkoven und seinem Altan als mein Wohn- und Schlafraum gezeigt wurde, in dem ich allerdings fremde Besuche nicht zu empfangen pflegte. Jene Rücksicht auf die Stimmung der Russen schien mir notwendig zu sein, weil in dem Jahre, als ich dort das Reich zu vertreten hatte, als dem erst fünften nach der Revolution, die verheerenden Wirkungen des Weltkrieges, der Kämpfe mit den weißen Heeren und des russischpolnischen Krieges wie auch das unvermeidliche Chaos der ersten Revolutionsjahre sich in den Lebensverhältnissen der Stadt Moskau und so auch der anderen Städte, besonders stark Leningrads, sehr deutlich geltend machten. Es war doch selbstverständlich, daß in so kurzer Zeit weder die Landwirtschaft und die Kleingewerbe noch gar die Großindustrie und der Bergbau ihre zerstörten Produktionsmittel wieder auf den alten Stand hatten bringen oder auch nur ihm hatten annähern können; waren sie alle doch gerade hierfür in der Vergangenheit auf die Einfuhr angewiesen, die sich jetzt mangels entsprechender Ausfuhrgelegenheiten nicht beschaffen ließ. Es kam hinzu, daß die Ernte des Jahres 1921 von schlechthin erschreckender Niedrigkeit dank übergroßer Dürre sich herausstellte und Brot z. B. in Moskau so selten war, daß der Preis für ein Pfund bis auf 500 000 Rubel stieg und ich mir meinen Bedarf allwöchentlich von meiner Frau aus Berlin schicken ließ, was bei der langen Dauer der Eisenbahnfahrt immerhin schon bei der Ankunft mein Brot fünf Tage alt sein ließ. Diese besondere Schwierigkeit der Großstadt hing aber mit dem Zustand zusammen, in dem sich die E i s e n b a h n e n und W a s s e r s t r a ß e n noch befanden. Nur einige der wichtigsten Schienenwege, z. B. aber nicht der Weg Moskau—Warschau, konnten schon wieder einigermaßen regelmäßig befahren werden; man hatte zur Ausbesserung des Oberbaues die weniger wichtigen Linien großenteils ihrer Schienen und sonstigen Anlagen beraubt. Auf den Wasserstraßen, vor allem auf Mütterchen Wolga, hatten die Schiffahrtszeichen, aus denen die Fahrrinne abzulesen war, in den letzten Jahren nicht den Veränderungen angepaßt werden können, die aus dem Entstehen neuer Sandbänke, neuer Baumund Sträucherablagerungen und vielen sonstigen Störungsquellen sich

90

VII.

Als Vertreter

der Reichsregierung

in

Moskau

ergeben hatten. Das erwies sich im Herbst 1921 als besonders schwerwiegende Verkehrshemmung, weil dank der Dürre des Sommers der Wasserstand allenthalben ungewöhnlich niedrig war. Die Schiffe liefen allzu oft gerade dort auf Grund, wo das Fähnchen der Vergangenheit den Fahrweg bezeichnete; es mußte also mitten im Strom geleichtert werden. Nirgends war die Zeit vorauszusehen, wann eine Ladung ihren Bestimmungsort erreichen würde, und wesentlich niedriger als erwartet war die Menge, die dann wirklich ankam. Was mußte dies f ü r eine Stadt wie Moskau bedeuten, die ihre Nahrungsmittel, ihr Heizmaterial und vieles andere zum ausschlaggebenden Teil auf der Schiffahrtstraße Wolga—Oka—Moskwa zu beziehen pflegte! Es hat aber auch großer Anstrengungen und längerer Zeit bedurft, um f ü r das größte Hungergebiet, das der unteren Wolga, die Eisenbahnen von der sonst betonten Ost-West-Richtung auf den umgekehrten Weg umzustellen und so anstelle der gewohnten Getreideabfuhr nun große Getreidemassen dorthin bringen zu können. In Moskau wurde es daher als höchst willkommene Erleichterung der Versorgung begrüßt, als in Leningrad, von Nordamerika gespendet, ein Dampfer mit Konserven eintraf und diese nun nach der Hauptstadt weitertransportiert wurden; aber ebenso groß war die Enttäuschung, als ein Großteil der Büchsen sich als verdorben erwies, das Ganze nur aus übriggebliebenem Kriegsmaterial bestand. Das hat sich in merkwürdiger Weise auch in der Deutschen Vertretung bemerkbar gemacht: sie wurde von Russen, die sonst gar keine Beziehung zu ihr hatten, in beträchtlichem Umfang bestürmt, sich bei der amerikanischen Spezialkommission — eine amtliche Vertretung der USA bestand noch nicht — f ü r eine besondere Berücksichtigung gerade des Bittenden einzusetzen und diesem so zu einer unverdorbenen Konserve zu verhelfen; ein Wunsch, dem ich natürlich nicht entsprechen konnte, der aber die Einschätzung der deutschen Weltstellung bei der Bewohnerschaft der russischen Hauptstadt erkennen ließ. 4. Die wirtschaftlichen

Verhältnisse

Ganz schlimm etwa stand es auch um die W o h n u n g s f r a g e in den großen Städten. Das trat äußerlich wohl am augenfälligsten in

4. Die wirtschaftlichen

Verhältnisse

91

Leningrad hervor; denn hier hatte der sumpfige Boden von unten, Schnee und Regen von oben jahrelang bewirkt, daß allzu oft die kleinen Häuser völlig unbewohnbar und die großen Mietskasernen nur in den mittleren Stockwerken noch benutzbar waren, überall waren die Fenstersdieiben eine ausgeprägte Seltenheit. Die Prachtstraße der früheren Hauptstadt, der Alexander-Newski-Prospekt, der von den anliegenden Häusern aus fast ganz unterkellert war, hatte an Festigkeit des Fahrdamms so stark gelitten, daß z. B. ein Personenkraftwagen, der vor mir fuhr, plötzlich in der Tiefe versank und mein Wagen fast auf ihn herabgestürzt wäre. Da war es wenigstens eine Erleichterung der Wohnungsnot, daß der Wechsel der Hauptstadt die Zentralämter und auch viele Spezialbehörden mit ihren Beamtenmassen und ihren Büros nach Moskau gebracht hatte. Hier hat dieser Zufluß natürlich die entsprechende Steigerung der Wohnungsnot bewirkt; denn auch hier hatte in den Kriegen 1914/21 für die Erhaltung der Bewohnbarkeit der Häuser so gut wie nichts geschehen können; und wenngleich Boden und Klima nicht so verhängnisvoll wie an der Newa viel Wohnraum vernichtet hatten, so waren doch hier die strengeren Winter für die Fensterscheiben und vor allem für die Wasserleitungen von vernichtender Wirkung gewesen. In den festen Untergrund der Straßen versanken zwar keine Wagen, aber tiefe Löcher erschwerten auch hier bis in die Hauptstraßen der Innenstadt hinein und vollends in den Außenvierteln den Verkehr so stark, daß in gerader Linie fast immer nur auf wenige Meter zu fahren war. Auch in der neuen Hauptstadt konnte wie überall an Wiederherstellung der Häuser und Straßen durch die Stadtverwaltungen nicht herangetreten werden, da es am notwendigsten Material fehlte und dieses nicht zu beschaffen war. Daß alle diese Schwierigkeiten nicht zuletzt den Gesundheitszustand der Stadtbevölkerung schwer schädigen mußten, ist im Winter 1921/22 nur allzu deutlich in Erscheinung getreten. Alle Bemühungen z. B., das Fleckfieber wirklich einzudämmen, sind ergebnislos geblieben. Das hat sich auch in der Deutschen Vertretung geltend gemacht. Der eine Fall, in welchem ein Bürobeamter von einer Laus gebissen worden war, hat sich allerdings als harmlos erwiesen; nach dem Ablauf der Wartefrist, die naturgemäß eine Zeit höchster Sorge und Vorsicht war, ist das Fieber nicht eingetreten, die Laus war offenbar nicht infiziert. Der

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VII. Als Vertreter

der Reichsregierung

in

Moskau

Leiter der deutschen Rot-Kreuz-Stelle hat es nicht so gut gehabt: er ist dank dem Biß einer Laus am Fleckfieber schwer erkrankt und hat es lediglich seiner besonders kräftigen Natur als Moskau-Deutscher zu verdanken, daß er schließlich mit dem Leben davon gekommen ist, auch keinen Dauerschaden erlitten hat. Aus dem Kreise der Angestellten, die großenteils weit entfernt von der Dienststelle in ihren Privatwohnungen geblieben waren, ist mir aber nahegelegt worden, der sonst großen Ansteckungsgefahr wegen allgemein die Benutzung der Straßenbahn zu verbieten, und ich bin diesem Verlangen nachgekommen, nachdem ich eine Probefahrt selbst unternommen und aus dem fahrenden Wagen abgesprungen bin, weil in der Überfüllung vor meinen Augen auf den Anzügen der Mitfahrer ganze Scharen von Läusen auf und ab liefen. Die Angestellten nahmen lieber den weiten Fußmarsch in den Kauf, als daß sie sich der Gefahr einer Ansteckung aussetzten. Aus dem Gesamtzustand hat sich Lenin den gewiß schweren Entschluß abgerungen, in der Wirtschaftspolitik das Steuer um 180 Grad herumzuwerfen und mit der N e u e n Ö k o n o m i s c h e n P o l i t i k (nach den Anfangsbuchstaben der russischen Worte Nep oder Nepo genannt) an das wieder anzuknüpfen, was unter seiner Führung die Jahre vorher zerstört worden war und f ü r den Radikalkommunisten, für das Dogma des Kommunistischen Manifestes den Gipfel des Verabscheuungswürdigen bedeutet: an den freien Handel und den freien Geldverkehr. Wie schwer ihm das gewesen sein muß, wird aus den Worten klar, mit denen Lenin in seiner Schrift „Die russische Agrarfrage" (1920) den Begriff des Sozialismus erläutert hat; er sagt dort: „Nichts ist verkehrter als die Ansicht, daß die Nationalisierung des Bodens irgend etwas mit Sozialismus zu tun hätte; sie war eine politische Notwendigkeit. Der Sozialismus will die marktmäßig orientierte Wirtschaft beseitigen; solange der Warenmarkt besteht, ist es lächerlich, von Sozialismus zu reden." Und dennoch gab es auf seinen Vorschlag hin im Spätherbst 1921 wieder die Freiheit der Geldbenutzung, die Freiheit des binnenländischen Handels, die Freiheit der bäuerlichen und gewerblichen Betriebe; nur der Außenhandel und einige wenige Industriezweige blieben noch in der Hand der Regierung. Wie zu erwarten, hat sich die Geldbenutzung sehr schnell wieder durchgesetzt, sobald nur in Gestalt von Papiergeld ein allgemeines Um-

4. Die vnrtschaftlichen

Verhältnisse

93

laufsmittel zur Verfügung stand. Alsbald wurden die Gehälter aller Angestellten, die bis dahin in einem Pajok, d. h. einem Paket von Lebensmitteln und anderen Lebensnotwendigkeiten, bestanden hatten, in den neuen Rubel- und den späteren Tscherwonetz-Scheinen ausgezahlt. Die Leistungen der Staats-, Stadt- und Kreisverwaltungen, wie die Gehälter, Eisenbahnfahrten, Theatervorstellungen und Konzerte, Museen und auch Warenlieferungen, die bisher zwar umsonst, aber bis auf die Straßenbahnfahrten nur gegen je ein besonderes behördliches „Mandat" im Einzelfall beansprucht werden konnten, waren wieder in Geld zu bezahlen und nicht mehr bei irgendeiner Behörde, sondern an den Kassen der betreffenden Institute oder Läden zu begleichen. Die Naturalabgaben der Bauern wurden ebenso wie die der gewerblichen Betriebe in Geldsteuern umgewandelt, und es war gegen Geld zu kaufen, was nun wieder auf den Markt kam. Da wir noch einige Wochen des geldlosen Verkehrs erlebt hatten, haben auch wir seine kaum vorstellbare Umständlichkeit gut kennengelernt und aufgeatmet, als es wieder Geld gab; es war ein Anschauungsunterricht eindringlichster Art, wie wesentlich das Geld zwar das Verständnis der Vorgänge erschwert, aber doch den Verkehr erleichtert. Allerdings reichten die Einnahmen des Staates nicht annähernd aus, alle Ausgaben zu decken, und die Bequemlichkeit der Geldbenutzung wurde daher mit einer Inflation erkauft, die von kaum vorstellbarer Größe war. Es konnte nicht bei denjenigen Papiergeldmengen bleiben, die etwa zur Ankurbelung des Verkehrs auszugeben waren. In geradezu rasendem Tempo mußten die neuen Rubelscheine vermehrt und immer wieder vermehrt werden. Der Kaufwert des Papiergeldes sank entsprechend rasch und tief; auf einige Hundert Millionen Rubel z.B. belief sich bereits am Beginn des Jahres 1922 das Monatsgehalt eines mittleren Beamten und reichte kaum zur Deckung des lebenswichtigsten Bedarfs. Als eine neue Einheit wurde der Tscherwonetz, je 1000 Rubel bedeutend, neu geschaffen. Da wurde besonders wichtig, daß der Außenhandel ein Monopol des Staates geblieben war; er wurde in den ausländischen Währungen abgewickelt, und Kursnotierungen gab es nicht; die inländischen Ein- und Verkaufspreise für die Ausfuhr- und Einfuhrwaren festzusetzen, blieb das Privileg des Außenhandels-Kommissariats. In Ziffern läßt sich daher die Entwicklung nicht ausdrücken.

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VII. Als Vertreter

der Reichsregierung

in

Moskau

Zunächst nur langsam, bald aber stärker und stärker belebte sich in den Städten das Straßenbild durch die Wiedereröffnung mannigfacher Läden und manchen großen Kaufhauses; darin wurde feilgehalten, was noch aus der Vergangenheit dem Besitzer geblieben war, und es kam auch an neuen Gegenständen mancherlei hinzu, was dem unmittelbaren Lebensbedarf entsprach und in zahlreichen Handwerksbetrieben aus gebliebenen Resten früheren Rohstoffvorrats hergestellt wurde. Auffallend groß wurde namentlich die Zahl kleiner Reparaturwerkstätten, die von arbeitslos gewesenen Fabrikmeistern und auch einfachen Arbeitern eingerichtet wurden; in Moskau standen sie z. B. den Lebensmittelläden bald als ein ebenfalls geprägegebender Bestandteil des Straßenbildes zur Seite. Trotz der schweren Mißernte belebten sich auch die Lebensmittelmärkte, wenngleich nicht zu der früheren Fülle. Überhaupt war in den Städten als den Zentren des Konsums im Frühjahr 1922 die Wandlung, die gegenüber dem Herbst 1921 durch die Nep herbeigeführt worden war, recht deutlich an den Gesichtern und Bewegungen von jung und alt abzusehen, die auf den Straßen sich nicht mehr von Behörde zu Behörde um das Einholen der Pajoks abzumühen hatten; man sah wieder frohe Augen und kräftigen Gang. Allerdings war es einstweilen nicht viel mehr als ein Zehren von der Vergangenheit, was das Leben in den Städten damals erleichtert hat. In der Neugewinnung der Lebensunentbehrlichkeiten sah es noch trübe aus. Diejenigen Industriezweige, die es vor dem Weltkriege schon zu selbständiger Bedeutung gebracht hatten — so der Bergbau auf Kohle und Erze, die Verarbeitung von Eisen und Buntmetallen in den ersten Stufen, die großbetriebliche Herstellung derber Baumwollwaren, die Zuckerindustrie (um nur die wichtigsten Zweige anzuführen) —, litten noch empfindlich unter den Zerstörungen, die vor allem die Weißen Armeen bei ihren Rückzügen gerade über die wichtigsten Gebiete des Südens (Donez), Ostens (Ural) und Nordens (Baltikum) verhängt hatten. Nur ein verhältnismäßig recht kleiner Kreis um Moskau herum war davon verschont geblieben. Leningrad dagegen hatte schon unter den Kanonen der Judenitsch-Armee gestanden. Überall, auch in Moskau, machte sich außerdem geltend, daß die technische Apparatur der Fabriken durch die Kriegsarbeit übermäßig beansprucht worden war und

4. Die wirtschaftlichen

Verhältnisse

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daher einer Erneuerung bedurfte, die aus den eigenen Kräften des Landes nicht zu erbringen war. Demgemäß war die Sowjetregierung bestrebt, mindestens für die Wiederherstellung der eigenen Rohstoffwerke (Petroleum, Kohle, Eisenerz) , die sie auch unter der Nep in der Hand behielt, a u s l ä n d i s c h e K a p i t a l h i l f e durch die Errichtung gemischter Gesellschaften heranzuziehen und die fehlenden Maschinen und sonstigen Materialien sich liefern zu lassen. Ihr Bemühen ist mir im Frühjahr 1922 an einem Beispiel sehr deutlich vor die Augen gerückt worden: Da kam von Berlin die Mitteilung, daß der bekannte Kohlen- und Stahlmagnat Hugo Stinnes eine Kommission nadi Moskau schicken werde, um über geschäftliche Verbindungen mit der Regierung zu verhandeln. Die Russen zeigten sich überglücklich ob der so gegebenen Aussicht. Mir war allerdings auffällig, daß ich von den Mitgliedern dieser Kommission niemand auch nur dem Namen nach kannte. Und tatsächlich erwies das Eintreffen der Kommission, daß darin nicht ein einziger Sachverständiger des Bergbaues oder der Stahlgewinnung sich befand, daß es vielmehr ausschließlich Hotelfachleute waren. Der Größe der Freude entsprach jetzt die Enttäuschung und Entrüstung auf russischer Seite. Die Regierimg ließ denn auch die Kommission, die — wie man es nannte — unerhörte Täuschung recht bitter spüren. Nach anfänglich scheinbarem Eingehen wurde jede ernste Verhandlung über Hotelfragen schließlich abgelehnt. Ich konnte nur bedauern, daß meinem dringenden Rate, sich dieser Behandlung durch baldige Rückreise zu entziehen, keine Folge geleistet wurde. Mit einer anderen deutschen Gruppe, die schon in der Friedenszeit in Deutschland am russischen Petroleumhandel beteiligt gewesen war, hat die Räteregierung unter Hälftelung des Kapitalaufbringens in jener Zeit die Deutsch-Russische-Naphtha-Gesellschaft (Derunaph) gebildet, die unter Ausnutzung der bei uns schon bestehenden Absatzanlagen das russische Erzeugnis wieder absetzen sollte und dieser Aufgabe auch gerecht geworden ist. Aus anderem Ausland für diese oder andere Industriezweige eine Kapitalhilfe zu erlangen, ist jedoch nicht gelungen. Nur einzelne Lieferungen hat die staatliche Außenhandelsstelle wie mit deutschen, so auch mit Firmen anderer Länder von Fall zu Fall in der Weise vereinbart, daß der Kaufpreis für fremde Lieferungen dem Russen für längere Zeit kreditiert wurde, in umgekehrter Richtung dagegen einzelne

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VII. Als Vertreter der Reichsregierung

in Moskau

Ausfuhrgeschäfte gegen Vorauszahlung des Kaufpreises zustande kamen; ihrer Zahlungsverpflichtung ist dann die Außenhandelsstelle stets pünktlich nachgekommen. Wirklich durchgreifende Erfolge, die etwa das Ganze der russischen Industrie belebt hätten, sind aber während der Zeit, die ich in Moskau tätig war, noch nicht erzielt worden. Aus den Bestrebungen, das Eisenbahnwesen mit Hilfe des Auslands aufzubauen, ist ein Vorgang als wichtig herauszunehmen: die Lieferung von Lokomotiven durch deutsche Maschinenbauanstalten. Hierbei ist zunächst eine erhebliche Schwierigkeit aus der Unterschätzung erwachsen, mit der man in Deutschland die russischen Ingenieure zu betrachten pflegte. Die deutschen Fabriken nämlich bestanden bei den Verhandlungen zunächst hartnäckig darauf, ihre gewohnten Konstruktionen anzuwenden; die Russen dagegen wiesen auf die Besonderheiten ihres Klimas und namentlich auch darauf hin, daß hinter ihnen in dem Spezialisten Lomonossow eine international anerkannte Autorität stünde, die sogar von den großen britischen Selbstverwaltungskolonien zu Gutachten über die dort zu verwendenden Lokomotiven vielfach herangezogen worden wäre. Schließlich wurde denn auch die Bauweise Lomonossows durchgesetzt, und ihr haben es die deutschen Fabriken zu verdanken, daß ihre Lokomotiven sich im Sommer und Winter in gleicher Weise bewährt haben. Für mich persönlich hat sich aus diesen Verträgen ein erfreuliches Erlebnis ergeben, das ich hier anführen darf. Die erste Lieferung einer deutschen Lokomotive wurde nämlich, nachdem die Probefahrt von Leningrad nach Moskau über das WaldaiGebirge hinweg zur Zufriedenheit ausgefallen war, durch eine festliche Rückfahrt gefeiert, zu der ich eingeladen wurde. Hierbei lernte ich Lomonossow persönlich kennen. E r war mir durch die englischen Fachzeitschriften, die ich im preußischen Eisenbahnministerium regelmäßig hatte durchsehen müssen, dem Namen und den Leistungen nach als ein international anerkannter Lokomotivkonstrukteur schon bekannt, und Transportwesen gehörte ja zu den Spezialgebieten meiner Wissenschaft, die ich besonders gepflegt hatte. W i r kamen daher, zumal Lomonossow die deutsche Sprache vollkommen beherrschte, bei der Festfahrt rasch in gute Fühlung miteinander, und ich habe in den Tagen, die wir im Zuge verbrachten, von ihm wichtige Auskünfte über die russischen Verhältnisse der Vergangenheit wie auch der Gegenwart erhalten — nicht

4. Die wirtschaftlichen

Verhältnisse

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zuletzt auch über die Beziehungen Rußlands zu den fremden Ländern, in denen Lomonossow als Gutachter tätig gewesen war. So hat mir jene Tätigkeit noch nach 20 Jahren unmittelbaren Nutzen gebracht. Für Deutschland hat sich als besonders vorteilhaft erwiesen, daß die Verhandlungen auf deutscher Seite durch den Verband der Lokomotivfabriken einheitlich geführt worden waren; man stand also dem russischen Partner der Gespräche in gleicher Einheitlichkeit gegenüber, und die deutschen Interessenten konnten von den Russen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Das hat sich in den Lieferbedingungen und vor allem in den Preisen als wertvoll erwiesen; es war das, was ich in Moskau vergeblich durch die Einrichtung der erwähnten Klubabende zu erreichen versucht hatte. Audi die Arbeitslosigkeit wurde durch diese Aufträge im Bereich der Lokomotivfabriken selbst wie auch darüber hinaus für die Lieferer der Hilfsmateralien immerhin gemildert. Mit einem zweiten Ereignis hat sich Deutschland in die Gestaltung des russischen Transportwesens zur Zeit meiner Moskauer Tätigkeit in ähnlicher Form wie in den Petroleumhandel, aber anders als mit den Lokomotivverträgen eingegliedert; mit der Gründung der DeutschRussischen Luftfahrtgesellschaft (Deruluft), deren Gründung im Frühjahr 1922 zustande gekommen ist. In ihr haben sich die Sowjetregierung und die Deutsche Lufthansa, in der alle deutschen Luftfahrtunternehmungen zu einer Einheit verbunden waren, zur Betreibung des Luftfahrtdienstes zwischen Moskau und Königsberg vereinigt. An dem ersten Fluge habe ich teilnehmen können. Die Flugzeit zwischen den beiden Endpunkten betrug allerdings noch 11—12 Stunden, und die Einrichtung der Kabine ließ von den später üblichen Bequemlichkeiten nichts ahnen; als Sitzgelegenheit z. B. dienten zwei Bretter, die quer zur Flugrichtung angebracht waren, und es gab auch keine Verbindung zwischen der Kabine und dem Pilotensitz, geschweige einen zweiten Piloten oder sonstigen amtlichen Begleiter. Aber der Weg nach Berlin, der mit der Bahn noch immer vier Tage erforderte, wurde mit der anschließenden Eisenbahnnachtfahrt auf 24 Stunden abgekürzt. Das neue Mittel erfreute sich daher im Personen- und Postverkehr alsbald einer solchen Anziehungskraft, daß die wenigen Plätze (höchstens sechs, bei starkem Gewicht der Postsendungen nur fünf oder gar vier) stets belegt waren. Die deutschen Kaufleute und Industriellen, die sich in Moskau 7 Wiedenfeld, Zwischen Wirtschaft und Staat

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VII. Als Vertreter der Reichsregierung

in

Moskau

zu geschäftlichen Verhandlungen einfanden, und ebenso die deutschen Ärzte, die zur Begutachtung von Lenins Krankheit durch die Räteregierung eingeladen wurden, haben die neue Transportgelegenheit regelmäßig benutzt. Für mich war außerdem wichtig, daß ich bei meinen wiederholten "Flügen einen Überblick über die westlichen Landschaften Rußlands erhielt, die ich sonst nicht hätte erreichen können; da sah ich, wo den Eisenbahndämmen die Schienen und Signaleinrichtungen vollständig genommen waren, und wenigstens oberflächlich konnte ich midi über den Stand der Ackerbestellung unterrichten. Durch eine Panne, die auf dem Rückweg zwischen Witebsk und Smolensk das Flugzeug auf einem Acker zu landen zwang, habe ich auch Gelegenheit erhalten, mich mit einigen Bauern, die aus ihrem Dorfe herbeigeeilt waren und in deutscher Gefangenschaft recht gut deutsch zu sprechen gelernt hatten, über die Lage und die Stimmung ihrer Kreise eingehend zu unterhalten. Für die deutsche Industrie sind aus diesem Flugverkehr allerdings Bestellungen auf Flugzeuge nicht entsprossen; holländische Fokker wurden eingesetzt. Die Piloten stellten abwechselnd die Deutsche Lufthansa und der russische Partner. Auch für deutsche Ingenieure, die in der Heimat beschäftigungslos geworden waren, fanden sich vielfach Gelegenheiten, in Rußland bei der Wiederherstellung des Bergbaues und der Schwerindustrie im Donezbezirk und in Kriwoirog beschäftigt zu werden. Hiervon pflegte ich allerdings, wenn ich um Rat gefragt wurde, verheirateten Männern abzuraten; ich rechnete damit, daß es aus innerpolitischen Gründen — jener Aufbau erforderte naturgemäß längere Zeit, als der Ungeduld der russischen Arbeiterschaft entsprach — wohl zu Prozessen kommen würde, in denen den deutschen Angestellten der Vorwurf der Sabotage gemacht und dann auch eine Verurteilung erfolgen würde — was ja auch tatsächlich geschehen ist. Die Strafen wurden dann zwar regelmäßig im Gnadenwege nach einiger Zeit erlassen, und die Behandlung der Verurteilten gab zu Klagen keinen Anlaß. Für die Angehörigen aber, die in Deutschland zurückgeblieben waren, bereitete die lange Dauer solcher Prozesse und Inhaftierungen, da dann keine Nachrichten von den Männern zu erhalten waren, eine so empfindliche Belastung, daß sie durch die gute Bezahlung schwerlich ausgeglichen wurde. Unverheirateten konnte ich unbedenklich zur Annahme solcher Stellungen raten.

4. Die wirtschaftlichen

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Wesentlich anders als auf die städtischen Gewerbe hat die Nep auf die russische L a n d w i r t s c h a f t eingewirkt. Dank den schweren Verwüstungen, die mehr noch als der Weltkrieg die weißen Armeen bei ihren Rückzügen durch ihre Politik der „verbrannten Erde" durchgeführt haben, und dank der ersten planlosen Aufteilung des Großgrundbesitzes durch die Bauern waren noch im Jahre 1921 die landwirtschaftlichen Produktivkräfte — der Grund und Boden, die Vieh- und Pferdebestände, die Geräte — weit von dem Stande der letzten Vorkriegszeit entfernt, und es fehlten so gut wie vollständig jene Vorräte aus der Vergangenheit, die von den städtischen Gewerben und dem Handel für die freiere Betätigung alsbald hätten eingesetzt werden können. Dazu hatten die sehr hohen Naturalabgaben, die den Bauern auferlegt waren, und die Unmöglichkeit, für die nicht dem eigenen Verbrauch dienenden Überschußmengen ihrer Produktion im Naturaltausch etwa Geräte oder Vieh zu erwerben, den Arbeitswillen der Bauern so stark geschwächt, daß sie fast nur noch für den eigenen Bedarf ihre Felder bestellten. Nicht nur der durchschnittliche Desjatin-(Hektar-) Ertrag war beträchtlich gesunken. Im Sommer 1921 ist dann gar jene entsetzliche Dürre gekommen, die gerade die wichtigsten Gebiete weit über alles gewohnte Maß hinaus traf und hier nicht allein für die Zuschußräume keinerlei Überschüsse lieferte, vielmehr nicht auch nur annähernd den eigenen Bedarf aus den Ernten deckte. An sich war es gewiß nichts Ungewöhnliches für Rußland, daß die Bauern, weil sie zur Begleichung ihrer Steuerschulden und zur Befriedigung ihres Schnapsbegehrs zuviel Getreide zu verkaufen pflegten, in den letzten Wochen vor der neuen Ernte arge Not litten und strichweise sogar regelrecht hungern mußten. Das Elend jedoch, das sich schon im Frühjahr 1922 an der Wolga in entsetzlichen Szenen kundgab, stellte alles Vergangene tief in den Schatten; Augenzeugen haben mir das nicht nur berichtet, sondern mit selbstaufgenommenen Bildern belegt. Dazu bespült die mittlere Wolga doch gerade diejenigen Gouvernements, aus denen sich große Teile Rußlands und des Auslands regelmäßig zu versorgen pflegten. In den Sdiwarzerdgebieten der Ukraine sah es nicht besser aus. Es war eine Hungersnot, die in ungeheuerlichem Ausmaß die landwirtschaftliche Bevölkerung selbst traf und ihrer Arbeitskraft beraubte. Dies wirkte sich sogar in den Städten keineswegs T

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VII. Als Vertreter der Reichsregierung in Moskau

allein in der Erschwerung der Ernährung aus; zu vielen Tausenden lagen vielmehr z. B. in Moskau völlig entkräftete Männer, Frauen und Kinder, die vom Osten und Süden dorthin gekommen waren, auf den großen Plätzen so dicht an- und aufeinander gepreßt, daß kaum noch ein Verkehr aufrechtzuerhalten war. Alle Bemühungen der Regierung, zur Bekämpfung der Not aus den weniger berührten Reichsteilen des Westens genügende Mengen Getreide in die Hungergebiete hineinzubringen, fanden allzufrüh ihre Grenze an dem Ausmaß der Not und an den Schwierigkeiten des Transports, dem weder die Eisenbahnen noch die Schiffahrts- und Landwege gewachsen waren. Nach amtlicher Schätzung sind mehr als 20 Millionen Menschen in dem Erntejahr 1921/22 dem Hunger zum Opfer gefallen; darunter bei weitem die meisten aus den landwirtschaftlichen Bezirken stammend. Jetzt bekam die Sorge, wie es mit der Bestellung der Äcker f ü r das Erntejahr 1922/23 stehen würde, ein gewaltig gesteigertes Gewicht. Aus ihr heraus ist der Beschluß erwachsen, die Bauernschaft von den Fesseln zu befreien, die noch durch die naturalwirtschaftlichen Auflagen dem freien Verkehr auferlegt waren: die Naturalsteuern wurden im Herbst 1921 in Geldsteuern umgewandelt, dem Verkauf der landwirtschaftlichen Erzeugnisse die letzten Beschränkungen genommen und der E i n f u h r landwirtschaftlicher Geräte besondere Pflege gewidmet. Im Laufe des Winters 1921/22 ist dann die Neue Ökonomische Politik zu voller Ausprägung gebracht worden, und die beabsichtigte Wirkung ist nicht ausgeblieben: die Frühjahrsbestellung hat nicht weitere Einschränkungen gezeigt; man konnte dank den günstigen Witterungsverhältnissen des Sommer 1922 mit einer reichlichen Ernte wohl rechnen, brauchte eine Wiederholung der so gewaltigen Hungersnot nicht zu befürchten. Bis zum Tode Lenins (Februar 1924) ist denn auch die Nep in K r a f t geblieben.

5. Der

Rapallo-Vertrag

Aus der Darstellung der Nep, wie sie Lenin im Dezember 1921 in einer großen Rede vor dem Parteikongreß gegeben hat, ist eine politische Wirkung hervorgegangen, die das deutsch-russische Verhältnis

5. Der

Rapallo-Vertrag

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nach langen Verhandlungen auf eine neue Grundlage gestellt hat: der R a p a l l o - V e r t r a g . Wie allgemein im Ausland, so war man nunmehr auch in Deutschland der Meinung, daß den wiedergegebenen Freiheiten der Binnenwirtschaft in absehbarer Zeit eine Erleichterung des Außenhandels folgen werde, daß also ein grundsätzlicher Wandel der wirtschaftspolitischen Richtung eingeleitet worden sei; man nahm die Ergänzung, die der Volkskommissar Kamenjew an den Vortrag Lenins gefügt hatte, in der Bemerkung nicht ernst, daß der jetzt beschrittene Weg zwar der einzig mögliche für die Überwindung der Schwierigkeiten, aber gefährlich und hoffentlich nicht von langer Dauer sei. In Deutschland drängten daher in verstärktem Maße die Wirtschaftskreise auf eine Ausnutzung der schon jetzt gegebenen Möglichkeiten eines Güteraustausche, um für die Gegenwart eine Erleichterung und f ü r die bessere Zukunft dem deutschen Handel eine feste Position zu schaffen. Hierzu schien ein Ausbau der bisherigen „Vertretung" zu einer völkerrechtlich vollen „Botschaft" erwünscht. Für diesen Gedanken ließ sich auch der neue Außenminister Rathenau gewinnen. So konnte über den Wunsch der Sowjetregierung, der durch den Vertrag vom Mai 1921 noch keine Erfüllung gefunden hatte, nunmehr ernstlich verhandelt und die Aufnahme der regulären diplomatischen Beziehungen, d. h. die formelle Anerkennung der RSFSR als eines Staates in Aussicht genommen werden. Die Verhandlungen sind im Februar 1922 in Berlin eröffnet worden. Das Ergebnis war der sog. Rapallo-Vertrag, der am 17. April 1922 bei Gelegenheit der internationalen Genua-Konferenz abgeschlossen und sofort veröffentlicht worden ist; er ist mit dem Amtsantritt des neuen Botschafters, Graf Brockdorff-Rantzau, im September zu voller Wirksamkeit gekommen. Mit der Vorbereitung dieses Vertrages bin auch ich, allerdings in eigenartiger Weise, verbunden gewesen. Auf eine Klärung unseres Verhältnisses zur Sowjetrepublik hat schon in den letzten Monaten des Jahres 1921 im AA der damalige Vortragende Rat, spätere Ministerialdirektor der Ostabteilung, Frhr. v. Maltzan, gedrängt. E r sah darin ein Mittel, allmählich für das Reich eine bessere Stellung in der Reparationsfrage zu gewinnen, namentlich zu dem für Mäßigung eintretenden Erstminister Großbritanniens, Lloyd George, etwas bessere Fühlung zu bekommen und für die Zukunft auch in Fortführung der Bismarckschen Tradition

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VII. Als Vertreter der Reichsregierung

in Moskau

die Verbindung mit Rußland auf festeren Boden zu stellen. Mit diesen Zielen und dem dafür zu beschreitenden Weg stimmte ich durchaus überein, hatte darauf auch in Moskau meine Verbindung zum britischen Vertreter eingestellt und dies Maltzan in Berlin mitgeteilt, als ich dort meinen Weihnachtsurlaub verbrachte. Ich hielt allerdings ein langsameres Tempo, als er dafür in Aussicht nahm, für unvermeidlich, zumal ich an ein rasches Wiederaufleben der wirtschaftlichen Beziehungen nach meinen damaligen Beobachtungen nicht glauben konnte. Mit Maltzan war ich aber darüber einig, daß die Frage des Tempos nur taktische Bedeutung hätte und im wesentlichen vom Verhalten der Räteregierung abhinge, daß aber auch der offenbar bevorstehende Wechsel unseres Ministers dafür von entscheidender Wichtigkeit wäre. Ende Januar 1922 ist dann Walther Rathenau zum Auswärtigen Reichsminister ernannt worden, und es gelang Maltzan auch, ihn für Ziel und Weg zu gewinnen. Im Februar fiel mir in Moskau auf, daß ich das bis Weihnachten ziemlich häufige Zusammensein mit Radek, der mir von den Russen als Auskunftsperson bezeichnet worden war, nicht in gewohnter Weise fortsetzen konnte; mir wurde gesagt, er sei mit besonderem Auftrag für einige Zeit nach Irkutsk gesandt worden. Daß er tatsächlich in Berlin bereits über die Wiederherstellung der diplomatischen Beziehungen und damit über die Anerkennung der Sowjetrepublik als eines völkerrechtlich geltenden Staates verhandelt hatte, erfuhr ich erst nach seiner Rückkehr und bekam dann auch hierüber im Auftrage Maltzans durch einen meiner Legationssekretäre, den ich eigens zwecks Einziehung von Erkundigungen nach Berlin beurlaubt hatte, einen mündlichen Bericht. Hieraus ging hervor, daß die Berliner Verhandlungen noch nicht zu dem gewünschten Ergebnis geführt hatten und schließlich durch Minister Rathenau, den Radek durch seine burschikose Art persönlich verletzt hatte, zur Enttäuschung der Russen abgebrochen waren. Die Mißstimmung der russischen Regierung bekam ich alsbald darin zu spüren, daß Radek merklich bei ihr an Einfluß verloren hatte und nun Litwinow, der Stellvertreter des Außenministers Tschitscherin, abweichend von seinem bisherigen Verhalten sich häufig selbst mit mir in Verbindung setzte. Litwinow machte auch kein Hehl daraus, daß man den Abbruch nicht recht verstünde; ich konnte also zu der Ansicht gelangen, daß die russische Regierung zu einer Wieder-

5. Der Rapallo-V

ertrag

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aufnähme bereit wäre, und machte es mir zur Aufgabe, den Boden hierfür zu bereiten, den Abbruch also auch von unserer Seite her als nicht endgültig gewollt darzustellen. Da dann auch Berlin den Wunsch nach Wiederaufnahme der Verhandlungen erkennen ließ, hat Litwinow in Berlin das Gespräch von neuem beginnen können, das dann in Genua Reichskanzler Wirth und Außenminister Rathenau, unterstützt von Maltzan, mit Tschitscherin und Litwinow zum Abschluß gebracht haben. Von diesem Abschluß habe ich die erste Nachricht am frühen Morgen des folgenden Tages durch Frau Radek erfahren, die mich aus dem Bett holen ließ, um mir dieses „hocherfreuliche" Ergebnis mitzuteilen. Vom AA habe ich das Telegramm, das mir die wichtigsten Bestimmungen des Vertrages brachte, erst nach dem Schluß der Konferenz von Berlin aus erhalten. Trotz wiederholter Bitten ist mir aber der volle Wortlaut des Vertrages und eine Darlegung der näheren Umstände, die in Rapallo diesen plötzlichen Abschluß herbeigeführt hatten, nicht mitgeteilt worden. Das hat die Gesprächsführung nicht gerade erleichtert, während ich von russischer Seite dauernd auf den Vertrag angesprochen wurde. Unter diesen Umständen blieb mir zweifelhaft, ob der gewählte Zeitpunkt und die so plötzliche Veröffentlichung, die in die Konferenz von Genua wie eine Bombe hineingeplatzt ist, wirklich unserem Ziele entsprachen. Deshalb entschloß ich mich, auf eigene Verantwortung selbst nach Berlin zu fahren, und teilte dem AA telegrafisch mit, daß ich an dem und dem Tage dort eintreffen würde, um nähere Auskunft zu erhalten. In Königsberg wurde mir dann zwar auf dem Flugplatz vom Vertreter des Oberpräsidenten ein Telegramm Rathenaus überreicht, das mich anwies, sofort auf meinen Posten zurückzufliegen, wenn nicht sehr wichtige Gründe mich zur Fortsetzung der Fahrt bestimmten. Mir war es aber selbstverständlich, daß ich nicht umkehren dürfe. Ich bat daher den Oberpräsidialrat, den Flugzeugplatz für Moskau wieder abzubestellen und mir einen Schlafwagenplatz nach Berlin besorgen zu lassen. Im AA gab es dann eine ziemlich heftige Auseinandersetzung mit Maltzan über die Verlegenheit, in die mich mein Schweigen gesetzt hatte, und allgemeiner über die Art, midi nur als Handlanger und Ausführungsorgan zu benutzen, über den Inhalt der Verhandlungen aber im unklaren zu lassen. Ich betonte sehr stark, daß sich ein solches

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VII. Als Vertreter

der Reichsregierung

in

Moskau

Verfahren mit meiner Auffassung von den Aufgaben eines Auslandsvertreters nicht vertrüge; das könnte man billiger haben. Da ich hierauf die Antwort erhielt, damit müßte ich midi abfinden, endete die recht unerquicklich gewordene Unterredung mit meiner Erklärung, daß er nicht in Sorge zu sein brauchte, ich erstrebte etwa die Stellung des vorgesehenen Botschafters, ich freute mich vielmehr auf die nun mögliche Rückkehr in meinen akademischen Beruf. Eine Besprechung mit Rathenau, bei dem ich mich natürlich melden mußte, trug einen lediglich förmlichen Charakter. In meinem Zweifel, daß der Vertrag, den ich an sich für erwünscht hielt, der aber dank dem gewählten Zeitpunkt den Engländern keine Möglichkeit ließ, sich in den Reparationsverhandlungen gegenüber den Franzosen für eine Ermäßigung der uns aufzuerlegenden Last stark einzusetzen, bin ich allerdings durch den Verlauf der Genua-Konferenz und die folgende Zeit bestärkt worden. Für die wenigen Wochen, die ich dann in Moskau noch in der alten Stellung tätig war, hat der Vertrag nichts Neues gebracht. Zur Erledigung der erforderlichen Formalitäten war mir ein Gesandtschaftsrat zugewiesen, und sachlich ergab sich nichts Neues*). Für Ende Juli glaubte ich jedoch, da im heißen Sommer in Moskau nichts Wichtiges zu erwarten war, einen längeren Urlaub beanspruchen zu dürfen. Dieser wurde mir auch bewilligt. So habe ich am 23. Juli Moskau verlassen und bin auch nicht dorthin zurückgekehrt, da mein kommissarischer Auftrag mit der Errichtung der Botschaft zum Ende gekommen war. Dieser Urlaub ist mir noch bis zum Ende des Jahres verlängert worden. Die Frage des Reichspräsidenten Ebert, ob ich die Stellung des Botschafters in Moskau annehmen würde, habe ich verneint mit der Begründung, daß ich in der Auffassung von den Aufgaben eines Auslandsvertreters allzuweit von der Üblichkeit abwiche und daß ich den dringenden Wunsch hätte, in die akademische Laufbahn zurückzukehren. Von der Reform des aus*) Bemerkung des Herausgebers: Wiedenfelds Eindrücke über seinen Aufenthalt in Moskau sind am besten den Auszügen aus den Briefen an seine Frau zu entnehmen. Audi sei derjenige, der sich für diese einem unmittelbaren Erleben entstammenden Berichte interessiert, auf die Rußland-Veröffentlichungen Wiedenfelds, insbesondere auf sein Buch „Lenin und sein Werk", München 1923, hingewiesen.

5. Der Rapallo-V ertrag

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wärtigen Dienstes war (wie schon erwähnt) nicht mehr die Rede; ich sah daher auch keine Möglichkeit, mit meiner Auffassung midi durchzusetzen. Demgemäß bin ich mit meiner Zustimmung in den einstweiligen Ruhestand vom 1. Januar 1923 ab versetzt worden, und in dieser Stellung zum AA formell bis zum 18. Juli 1933 geblieben, vom 1. April 1923 ab natürlich ohne Besoldung neben meiner Leipziger Professur. Den Winter 1922/23 habe ich zu einem zusammenfassenden Bericht über die staatlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse Rußlands benutzt und sandte das daraus entstandene Buch dann mit dem folgenden Begleitbrief an den Reichspräsidenten Ebert: Hochgeehrter Herr Reichspräsident,

Leipzig, den 26. Mai 1923

in der Anlage beehre ich midi, mein soeben erschienenes Buch über Sowjet-Rußland ergebenst zu überreidien. Da ich es habe vermeiden müssen, die außenpolitischen Folgerungen aus meiner Auffassung der innerpolitischen Verhältnisse Rußlands im Buche selbst zu ziehen, so bitte ich, dies mit einigen Sätzen hier anfügen zu dürfen. Meiner Auffassung nach ist Rußland zwar in einem Konsolidierungsprozeß begriffen und braucht, wenn dieser nicht von außen gestört wird, mit gewaltsamen Umwälzungen in absehbarer Zeit nicht zu rechnen; sogar die schwere Erkrankung Lenins dürfte wenigstens so lange keine politischen Folgen haben, als die Tatsache von Lenins Vorhandensein die Gegnerschaften seiner Schüler und Freunde nachhaltig dämpft. Trotzdem ist Rußland als ein wirklicher Machtfaktor noch nicht wieder anzusprechen, dazu reichen — abgesehen von der Roten Armee, über deren militärischen Wert ich kein Urteil besitze — seine wirtschaftlichen Kräfte noch längst nicht aus, dazu ist das soziale Gefüge allzusehr zerrüttet. Auf wirtschaftlichem Gebiet ist vor allem die riesige Ausdehnung des Hungers von ausschlaggebender Bedeutung. Die Sowjetregierung sucht zwar den Anschein zu erwecken, als ob Rußland dank seiner letzten verhältnismäßig guten Ernte schon wieder an Getreideausfuhr denken könne, tatsächlich ist jedoch die Anbaufläche derart zurückgegangen, daß auch ein guter Hektarertrag f ü r eine wirklich große und regel-

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VII. Als Vertreter der Reichsregierung in

Moskau

mäßige Ausfuhr noch keine Möglichkeiten schaffen kann, im Gegenteil herrscht auch jetzt schon wieder in weiten Gebieten der Hunger, der jede größere Kraftentfaltung ausschließt. Von außenpolitischer Bedeutung ist ferner der jämmerliche Zustand des ganzen Transportapparates. Von Promptheit der Transporte und sicherer Berechenbarkeit kann ebensowenig die Rede sein wie von großen Massen, die rasch an die Grenze geworfen werden können. Die wichtige Linie Smolensk-Dünaburg z. B., die doch gerade für einen Aufmarsch nach Westen besondere Bedeutung hätte, ist völlig ihres zweiten Gleises beraubt und kann in dem liegengebliebenen Gleis nur ganz notdürftig unterhalten werden. Ein wirkliches Eisenbahnnetz hat es zudem auch früher fast nur in den an Polen gefallenen Gouvernements gegeben. Jede Möglichkeit zu politischer Aktivität ist damit Rußland genommen, wie ihm allerdings auch die Verteidigung gegen fremde Angriffe dadurch wesentlich erleichtert wird. Wie es mit der Herstellung der Kriegsmaterialien steht, vermag ich leider nicht anzugeben. Die strikte Weisung, midi von allen Unterhaltungen, die irgend politisch ausgelegt werden könnten, und von allen Erkundungen dieser A r t auf das strengste fernzuhalten und die damit sich ergebende Weigerung des Auswärtigen Amtes, mir irgendwelche Mittel zu indirekten Feststellungen anzuweisen, haben es mir unmöglich gemacht, in dieser Richtung mehr als nur oberflächliche Nachrichten einzuziehen. Immerhin glaube ich sagen zu dürfen, daß die wichtigsten Kriegsbetriebe — aber z. B. nicht die Putilow-Werke in Petersburg — in gutem Gang gehalten werden. Ich halte es aber für ausgeschlossen, daß auch die ausländischen Kriegsrohstoffe in einer Menge vorhanden sind, die für den Ernstfall genügt, und daß etwa Rußland die Herstellung von Ersatzstoffen mit genügender Nachhaltigkeit zu organisieren vermag. Auf den Mangel an Konsumartikeln ist dagegen kein außenpolitischer Wert zu legen. Die frühere Oberschicht des russischen Volkes, soweit sie noch in Rußland lebt, hat längst den Begriff des „standesgemäßen" Auftretens, der bei uns trotz Krieg und Kriegsfolgen noch immer seine verhängnisvolle große Rolle spielt, völlig über Bord geworfen und macht in Rußland Ernst mit dem bei uns so viel gebrauchten, aber nie angewandten Wort von der „belagerten Festung" und legt gerade

5. Der Rapallo-V

ertrag

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in den früher führenden Kreisen Gewicht darauf, in der ganzen Lebensführung sich von den „Neuen Reichen" so deutlich abzuheben wie nur irgend möglich. Man hat aus der Not in vollem Bewußtsein eine Tugend gemacht, der Staat kann also mit einer Bedürfnislosigkeit von ganz ungewöhnlichem Ausmaß sicher rechnen. Die Eingliederung aller Schichten in das Volksganze geht jedoch auch in Rußland nicht so weit, daß die sozialen Schichtungen als politisch überwunden gelten könnten. Im Gegenteil, die Diktatur des Proletariats hat die Gegensätze im inneren Empfinden zu besonderer Schärfe herausgearbeitet, so daß im außenpolitischen Ernstfall eine sehr empfindliche Hemmung der staatlichen Geschlossenheit zu erwarten ist. Zum mindesten in dem Sinn, daß die verschiedenen Schichten sich gegenseitig nicht trauen und deshalb zu wirklich einheitlicher Kriegsstimmung und Kriegsarbeit nicht gelangen können. Die Häupter der Bolschewisten müssen ein siegreiches Heer, in dem nur höchstens 10 % mit ihnen das kommunistische Bekenntnis teilen, ebenso fürchten wie einen Mißerfolg, der ihnen auch die eigenen Massen entfremden würde. Die Zersetzung der kommunistischen Wirtschaftspolitik hat in die Parteien ein starkes Moment der Gegensätzlichkeit hineingetragen, das noch längst nicht als ausgeglichen bezeichnet werden darf. In allen Schichten der russischen Bevölkerung ist man sich deutlich bewußt, daß Rußland vor allem Ruhe von innen- und außenpolitischen Verwicklungen braucht. Sogar die Gegnerschaft gegen Polen, die heute noch als nationaler Haß zu bewerten ist, ist meiner Auffassung nach nicht stark genug, jenes elementare Bedürfnis nach Ruhe zu übertönen. Den übrigen Randstaaten gegenüber rechnet man auf das Schwergewicht der wirtschaftlichen Zusammenhänge und glaubt, daß der jetzige Staatenbund den späteren Anschluß leichter macht als der Einheitsstaat der Vergangenheit. Somit scheint mir das heutige Rußland trotz aller großen Worte politisch auf Inaktivität eingestellt zu sein. Auch wirtschaftlich kann es uns aber in absehbarer Zeit keinerlei nennenswerte Hilfe gewähren. Hinter dem riesigen Bedarf steht nun einmal so gut wie keine Kaufkraft, und für weitausschauende Kreditgeschäfte fehlt es an allen politischen und rechtlichen Unterlagen. Dies schließt natürlich nicht aus, daß einzelne Abschlüsse kleineren Umfanges mit dem Außen-

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VII. Als Vertreter der Reicksregierung in Moskau

handelskommissariat und den Genossenschaftsverbänden abgeschlossen werden, aber ich muß davor warnen, in angeblichem politischen Interesse unser deutsches Wirtschaftsleben zu größeren, auf weite Sicht arbeitenden Unternehmungen anzuregen; denn es werden dabei Erwartungen geweckt, für die einstweilen keinerlei Unterlagen gegeben sind, und deren Fehlschlag gerade für das politische Verhältnis zwischen uns und Rußland recht üble Folgen zeitigen muß. Erst recht muß ich gerade aus politischen Gründen davor warnen, etwa das Reich selbst als Kreditgeber oder Kreditgarant auftreten zu lassen; denn abgesehen von dem finanziellen Wagnis, das darin liegt, bedeutet ein Einsetzen der Reichsfinanzen eine derartige Steigerung des bei den Russen schon sowieso vorhandenen Gefühls der Überlegenheit und Unentbehrlichkeit, daß sehr rasch die politischen Beziehungen darunter leiden werden. Die russischen Zustände stellen uns meiner Überzeugung nach lediglich vor die Aufgabe vorsichtiger Beobachtung, während wir unsere Bereitwilligkeit zu wirtschaftlicher Zusammenarbeit größeren Umfangs nur mit deutlicher Zurückhaltung erkennen und uns ausgeprägt suchen lassen sollten. Nichts ist für unser Zukunftsverhältnis mit Rußland schädlicher, als wenn wir auch nur den Anschein des Nachlaufens erwecken. Genehmigen Sie, hochgeehrter Herr Reichspräsident, den Ausdruck vorzüglichster Hochachtung, mit dem ich die Ehre habe zu sein Ihr ganz ergebener gez.

Wiedenfeld

6. Mein späteres Verhältnis zum Auswärtigen Amt Mit dem AA bin ich tatsächlich noch bis zum Jahre 1930 dadurch in Verbindung geblieben, daß ich Mitglied des Prüfungsausschusses für die diplomatisch-konsularische Prüfung war und dementsprechend auch regelmäßig Übungen mit den Anwärtern des auswärtigen Dienstes von Leipzig aus in Berlin abgehalten habe; daraus bin ich ausgeschieden, als ein neuer Staatssekretär deutlich erkennbar den Prüfungen keinen

6. Mein "Verhältnis zum Auswärtigen

Amt

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Wert mehr beilegte. In den Jahren 1927 bis 1932 habe ich demDeutschEstnischen Ständigen Vergleichsrat angehört, dessen Vorsitzender das Mitglied des Niederländischen Obergerichts, Van Slooten, dessen andere Mitglieder der Professor der Rechtsgeschichte an der Universität Upsala, Westman, der Professor des Staatsrechts an der Universität Helsingfors, Talas, und der Professor des Staatsrechts an der Universität Dorpat, Uluots, waren. Dieser Vergleichsrat ist, ohne je in Aktion getreten zu sein, schließlich aufgelöst worden, weil die beiden Regierungen sich unmittelbar über die zu entscheidende Streitfrage (Entschädigung der in Estland enteigneten reichsdeutschen Gutsbesitzer) geeinigt haben. Zu erwähnen habe ich noch, daß Reichspräsident Ebert, ehe er meine Zur-Disposition-Stellung unterzeichnete, bei mir durch seinen Staatssekretär anfragen ließ, ob ich mit diesem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst einverstanden wäre — wenn nicht, so würde er die Unterzeichnung ablehnen, und mir müßte mit Rücksicht auf die stark exponierte Stellung in Moskau eine mir zusagende Stellung im In- oder Ausland zugewiesen werden. Die Frage konnte ich bejahen, da ich inzwischen nach Leipzig als Ordentlicher Professor der Universität für denselben Zeitpunkt berufen worden war, zu dem ich aus dem AA ausscheiden wollte.

VIII.

Auszüge aus den Moskauer Briefen an meine Frau (Wie bei meinen anderen Auslandsreisen habe ich in Moskau gleichsam als Tagebuch an meine Frau regelmäßig die wichtigeren Erlebnisse ausführlich berichtet. Während aber die anderen Sammlungen, die meine Frau für diese Mitteilungen angelegt hat, in Berlin sämtlich einem der schweren Bombenangriffe zum Opfer gefallen sind, hat ein glücklicher Zufall das Gesamt meiner Moskauer Briefe unberührt gelassen. Aus ihnen kann ich daher entsprechende Auszüge bringen, die das dort geführte Leben wie auch das Neue meiner Tätigkeit und nicht zuletzt die Stimmungen, aus denen heraus ich die deutschen Vorgänge betrachtete, deutlicher als ein reiner Sachbericht erkennen lassen.) Moskau, 17./18. September

1921

Hoffentlich hast Du vom Amt bereits die Nachricht bekommen, daß ich tadellos hier angekommen bin. Die Fahrt von Reval war ganz ausgezeichnet. Die Sowjetregierung hat uns einen ganz neu hergerichteten und daher völlig bewohnerfreien Schlafwagen gestellt, in dem wir uns schön ausbreiten konnten. Das Gepäck hat uns in keiner Weise beengt; es war in den Abteilen II. Klasse untergebracht. Mit meinen Begleitern (Generalkonsul Graap, Legationssekretär Schmidt-Rollke, Kanzler Lamla), teilte ich mich in die erste Klasse, hatte aber meine eigene Kabine. Für Proviant hatte Lamla in Reval prächtig vorgesorgt: ein tüchtiger Schweinebraten und ungezählte Eier, Wurst und Brot, Tee, Kakao und Kaffee — alles war mit Zutaten für fünf Tage eingekauft. In Narwa an der russischen Grenze hatten wir etwa 10 Stunden Aufenthalt, konnten

Auszüge aus den Moskauer

Briefen

111

uns aber nicht gut von unserem Wagen entfernen, da die Zeit der Weiterfahrt nicht feststand; immerhin konnten wir uns reichlich die Füße vertreten. In Petersburg reichte die Zeit dazu, eine kurze Fahrt mit den Autos der Rote-Kreuz-Stelle durch die Stadt zu machen. Der Eindruck war einigermaßen erschütternd. Selbst am Alexander-NewskiProspekt waren die bei weitem meisten Häuser noch in dem Zustand, in dem sie aus dem Kriege herausgekommen waren; vielfach waren das unterste und das oberste Stockwerk noch unbewohnbar, weil sie unten von dem feuchten Sumpfboden und oben von Schnee und Regen gänzlich durchnäßt waren. Um ein Haar wäre mein Auto in einem Keller verschwunden, der von der Häuserreihe aus bis in die Mitte der Fahrstraße reichte, dessen Decke aber nicht mehr tragfähig war; ein LKW, der zufällig vor mir fuhr, erlitt dieses Schicksal, dem nun mein Auto nur mit einem ganz scharfen Seitenruck entgehen konnte. Bei der Abfahrt gab es einen kleinen Zwischenfall. Wir waren von dem russischen Kurier, der uns an die Grenze entgegengeschickt war, zur Weiterfahrt auf mittags 2V2 Uhr bestellt worden, sahen jedoch auf dem Bahnhof dann unseren Wagen nicht im Moskauer Zuge. Der Stationsvorsteher gab uns dafür die Erklärung: Herr Sinowjew, der Stadtkommandant, habe nachträglich angeordnet, daß wir erst nachts um 12V2 Uhr weiterfahren sollten, weil sonst der Mittagszug zu stark belastet würde. Darauf erklärte ich, daß ich mit dieser Änderung gern einverstanden gewesen wäre, wenn sie mir in die Rote-Kreuz-Stelle mitgeteilt worden wäre; einmal zum Bahnhof gekommen, müßte ich aber auf der ursprünglich angegebenen Abfahrt bestehen und eine Umkehr ablehnen. Auf eine Anfrage bei der Stadkommandantur wurde denn auch die nachträgliche Einfügung unseres Schlafwagens angeordnet, und so ging es mit etwa einer Stunde Verspätung von Petersburg ab. Die Fahrt war dann wieder sehr behaglich, und bei strahlender Sonne kamen wir am nächsten Vormittag in unserer Residenz an. Hier bin ich ganz vorzüglich untergekommen, zunächst nur etwas eng. Als Wohnzimmer habe ich einen dreifenstrigen Saal mit großem Altan, sehr elegant und doch behaglich, ursprünglich für die Dame des Hauses bestimmt, mit Zentralheizung und zugleich einem riesigen Kachelofen versehen. Um diesen Ofen gruppiert sich dann noch nach russischer Sitte ein großer Schlafalkoven, der durch einen dicken Vor-

112

VIII. Auszüge aus den Moskauer

Briefen

hang feinsten Stoffes gegen den Wohnraum abgeschlossen werden kann, und auf der anderen Seite des Ofens ein entsprechend großer Vorraum mit einigen Schränken. Hier werde ich sicherlich midi recht wohlfühlen, zumal mir im Parterre noch ein schönes Arbeitszimmer zur Verfügung steht, so daß ich meinen Wohnraum von Besuchern freihalten kann; im Arbeitszimmer steht sogar ein Flügel, der offenbar auf meine Vorsatz-Phonola wartet. Von meinem Wohnzimmer aus habe ich den Blick auf den davorliegenden, recht großen und mit schönen alten Bäumen bewachsenen Garten sowie die daran anschließenden Gärten ähnlicher Art, die zu anderen Villen gehören. Im ganzen ist das mir zugewiesene Haus sehr geräumig, mit mehreren großen Zimmern und auch einer Reihe von kleinen Räumen versehen. Es wird aber zunächst etwas eng für uns werden, weil ich darin nicht nur das Personal der Vertretung, sondern auch das Büro unterzubringen habe. Sogar der Keller ist noch von einer größeren Zahl von deutschen Kriegsgefangenen bewohnt, die jetzt bei der Rote-Kreuz- und der Kriegsgefangenen-Fürsorgestelle Dienst tun, während der Gefangenschaft zumeist Kommunisten geworden sind; diese sind mir nicht unterstellt, werden aber wohl gute Beobachtungsdienste leisten. Das Haus ist die Stadtvilla eines deutschen Kaufmanns gewesen und mit voller Ausstattung von den Russen enteignet, erst der Roten-Kreuz-Stelle und jetzt mir zur Verfügung gestellt worden. Es liegt in einer Nebenstraße, etwa eine halbe Stunde vom Stadtkern und Kreml entfernt, sehr ruhig. Das Leben wird sich so abspielen, daß die Mitglieder der Vertretung einheitlich verpflegt werden; doch werde ich in der Regel in meinem Arbeitszimmer allein essen oder mit Gästen, die ich. dazu einladen werde. Tagtäglich dreimal am gemeinsamen Essen mich zu beteiligen, würde mir auf die Dauer unerträglich werden und auch die Gefahr in sich tragen, daß ich doch einmal eine unvorsichtige Äußerung tue und andererseits viel zu viel mit persönlichen Angelegenheiten befaßt würde. Für die Verpflegung ist neben einem russischen Koch ein Ehepaar verantwortlich, das aus einem früheren deutschen Kriegsgefangenen und einer jungen Estin besteht; ab und an werde ich aber schon meiner Information wegen in der Stadt auch selbst etwas einzukaufen suchen, wobei mir meine Kenner der russischen Sprache natürlich helfen werden.

Auszüge aus den Moskauer Briefen

113

Äußerlich sieht Moskau nicht viel anders aus, wie es mir von früher her bekannt ist. Das Pflaster ist genau so miserabel. Die Häuser stehen im bunten Gemisch von Groß und Klein nebeneinander. Im ganzen aber macht Moskau nach wie vor viel stärker den Eindruck einer eigentümlich russischen Stadt als das im Kern ganz moderne Petersburg; gegen früher fällt nur auf, daß auch in der jetzigen Hauptstadt des Landes so viel obere Stockwerke bei den größeren Häusern nicht bewohnt sind — da sind die Dächer leck geworden und einstweilen noch geblieben. Die Bevölkerung scheint in der Masse eher etwas besser denn etwas schlechter gekleidet; trotz des noch recht warmen Wetters z. B. sieht man nur selten barfußgehende Leute. Elegantes habe ich allerdings noch nicht gesehen, bin aber auch noch nicht auf den Boulevards bummeln gewesen. Immerhin ist charakteristisch, daß sich die beiden Töchter eines deutschen Großindustriellen, der jetzt als Angestellter der russischen Regierung seine frühere Fabrik leitet, bei mir einen Koffer abgeholt haben; die kann ich mir wohl als früher eleganter vorstellen, und daß sie für das Tragen des Koffers jede Hilfe ablehnten, ist natürlich auch neu. Heute habe ich nun auch schon den Besuch des Direktors der hiesigen Deutschlandabteilung empfangen. E r kam, um mich für morgen 2 Uhr in den Kreml zur Überreichung meines Beglaubigungsschreibens einzuladen. Der Weisung meines Ministers entsprechend, die Form dieses Aktes durch die Russen bestimmen zu lassen, hatte ich mich damit einverstanden erklärt, das Schreiben dem Staatspräsidenten Kalinin zu überreichen, der als Vorsitzender des „Allrussischen Exekutiv-Komitees" diese Stellung innehat. Der Empfang fand dann in einem einfachen Arbeitszimmer statt in durchaus würdiger Form. Hierzu war ich von Radek in einem Auto der Regierung abgeholt worden. Am Eingangstor des Kreml setzte sich dann ein bewaffneter Soldat zum Chauffeur, um uns durch die streng bewachten Straßen und Höfe hin und zurück zu geleiten. So war zu gutem Ausdruck gebracht, daß ich nicht als diplomatischer Vertreter des Reichspräsidenten, sondern gemäß dem Vertrag vom Mai 1921 als kommissarischer Vertreter der Reichsregierung in der entsprechend einfacheren Form empfangen werden sollte. Demgemäß habe auch ich nur eine ganz kurze Rede gehalten, wie sie meiner Aufgabe entsprach. In seiner Antwort betonte Kalinin, daß er 8

Wiedenfeld, Zwischen Wirtschaft und Staat

114

Vili.

Auszüge aus den Moskauer

Briefen

als früherer Arbeiter in einer Maschinenfabrik Rigas viel mit deutschen Ingenieuren zu tun gehabt und dabei die deutsche Arbeit sehr hoch schätzen gelernt hätte; Rußland wäre auf die Hilfe der deutschen Industrie angewiesen. Danach sprach ein zweites Mitglied jenes Komitees mich auf die Möglichkeit an, zwischen Rußland und Deutschland ein Zusammengehen gegen Frankreich und Polen herbeizuführen. Da mir die Behandlung politischer Fragen von meinem Minister untersagt war, antwortete ich ausweichend und verabschiedete mich alsbald. In Berlin ist die heikle Frage, in welcher Form der dortige Vertreter der

Sowjetregierung

sein

Beglaubigungsschreiben

überreichen

solle,

etwas anders gelöst worden, um beim diplomatischen Herkommen zu bleiben und doch den Unterschied nicht allzu stark hervortreten zu lassen: Herr Krestinsky, in gleicher Stellung wie ich eingesetzt, hat das Schreiben dem Minister des Auswärtigen überreicht und ist danach vom Reichspräsidenten in einfacher Form empfangen worden.

Moskau, 24. September 1921 Am Tage, der dem Empfang bei Herrn Kalinin gefolgt ist, habe ich dem Volkskommissar für die auswärtigen Angelegenheiten, Tschitscherin, meinen Antrittsbesuch gemacht, und zwar abends 8 Uhr. Das war ein Entgegenkommen, weil Tsch. solche Besuche nachts zwischen 12 und 4 Uhr zu empfangen pflegte. Auch er sprach sofort von den französischpolnischen Plänen und fragte mich, ob wir den „Fehler" vom vorigen Jahr wiederholen würden, in einem russisch-polnischen Kriege neutral zu bleiben; worauf ich wiederum nur ausweichend antworten konnte. Und gestern ist mir dieselbe Frage durch den stellvertretenden AußenVolkskommissar Litwinow, als er mir seinen Gegenbesuch machte, gestellt worden; natürlich mit derselben Wirkung. So bin ich also in das Gefilde der hohen Politik

schon hineingezogen worden,

obwohl ich

immer wieder habe erkennen lassen, daß meine Aufgabe ausschließlich in der Behandlung wirtschaftlicher Fragen bestände. Ich habe aber nach Berlin hin aus meiner Überzeugung kein Hehl gemacht, daß es falsch wäre, auf die russischen Lockungen einzugehen; Rußland könne uns einstweilen politisch noch nichts Wesentliches bieten und würde die Hauptlast des Krieges auf uns legen, da ja Frankreich sich sofort auf

Auszüge aus den Moskauer Briefen

115

uns stürzen würde. E s wird schon schwer genug sein, den Franzosen das Durchzugsrecht zu verweigern. Die Russen vergessen so leicht, daß wir auch jetzt noch viel zu verlieren haben, während ihnen ja in ihren riesigen Steppen kaum jemand ernstlich etwas anhaben kann. Zum Schluß sagte mir denn auch Litwinow, daß man hier auf Verhandlungen mit Polen rechne, nicht mit Krieg. Höchst merkwürdig ist übrigens, wie ich schon in Reval bei dortigen Unterhaltungen empfinden konnte, das Urteil, das man hier im Osten über unsere Lage sieht gebildet hat. Was uns ziemlich unbedeutend vorkommt, sieht man hier als höchst wichtig an. Bayerns Widerstand gegen die Reichspolitik macht den hiesigen Männern offenbar Mut; sie sehen bereits das Auseinanderfallen von Nord und Süd als Endergebnis und entsprechend den Bolschewismus in Deutschland kommen. Man sollte doch in unseren Zeitungen mehr von diesen Auslandsmeinungen bringen. Für uns hier draußen ist der Zustand um so merkwürdiger, als die jüngsten deutschen Zeitungen, die ich hier habe, mindestens zehn Tage alt sind, ich also deutsche Ereignisse ausschließlich in russischem Lichte zunächst vorgesetzt bekomme. Von den hiesigen Lebensverhältnissen habe ich letzter Tage einen vorläufigen Eindruck dadurch bekommen,

daß ich mit Graap einen

längeren Bummel durch die Stadt gemacht habe. Da wimmelt es von Lebensmittelläden. Darin wird herrliches Obst, ein Apfel

allerdings

5 0 0 0 Rubel = rd. 10 Mark kostend, viel Fleischwaren und namentlich ein Vielerlei der köstlichen kalten Fische feilgeboten. Wie schon der Apfelpreis zeigt, ist das Leben im ganzen recht teuer; ich habe z. B. für etwas Fisch, zwei Brötchen und eine Flasche Bier nicht weniger als 37 0 0 0 Rubel, also rd. 7 0 Mark, bezahlt. Man trägt immer etwa eine Million Rubel bei sich. Bei den anderen Missionen habe ich meine Besuche noch nicht gemacht; ich habe erst gestern meine Diplomatenkarte bekommen und kann mich daher erst jetzt frei bewegen. So war die vergangene Woche noch dem Innendienst gewidmet. Da muß ich vor allem bremsen, daß meine jungen Leute nicht etwa einen Gegensatz zur KriegsgefangenenFürsorgestelle hervortreten lassen. Beinahe hätte Berlin aus mißverständlicher Auffassung eines Berichts von Schmidt-Rollke mir eine Unbequemlichkeit bereitet; es wollte den Leiter der Stelle, Herrn Hilger, 8'

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Vili.

Auszüge aus den Moskauer

Briefen

den man vor meiner hiesigen Ankunft nach Berlin berufen hatte, endgültig dort behalten. Das hätte mir die Arbeit hier recht erschwert. Ich kann seine Erfahrungen doch sehr gut gebraudien und werde sicherlich mit ihm in gutes Einvernehmen gelangen. Man hat ihn denn auch wieder losgelassen; ich erwarte ihn noch heute. Mit einigen Angestellten, die in wichtigen Stellungen bei der Fürsorge sind, habe ich midi schon mehrfach unterhalten können. Offenbar besteht dort die Sorge, ich könnte mich als ausgesprochener Reaktionär und Revisor auftun und ihnen in ihre Privatgeschäfte hineinspucken. Das geht aber mich zunächst nichts an, und nur mit Hilger kann ich besprechen, ob da überhaupt etwas geändert werden soll. E s wäre mehr als töricht von mir, wenn ich ihm irgendwie die Verantwortung abnehmen wollte. Aus meinem Privatleben muß ich Dir noch von einer Oper berichten, die ich mir in der vergangenen Woche angehört habe. Es war ganz prachtvoll; ein sehr großer Genuß, obwohl nicht in der Großen Staatsoper gegeben. Das Orchester, zwar etwas schwach besetzt, aber sehr fein spielend, holte die Eigentümlichkeit der russischen Musik stark heraus. Die lyrischen Stellen überwogen, das Ganze war eigenartig instrumentiert. Mir ging immer der Gedanke durch den Kopf, ob nicht Richard Wagner während seines Rigaer Aufenthaltes doch besonders starke Anregungen von dieser Musik bekommen hat; ich mußte namentlich an Lohengrin denken. Dazu waren es prachtvolle Stimmen, namentlich ein lyrischer Tenor und eine Altistin, mit der die Oper steht und fällt, hervorragend weich und doch groß v Graap hat es übernommen, für entsprechende Phonolarollen zu sorgen. Moskau, 1. Oktober

1921

Heute kann ich schon etwas mehr vom Stadtleben berichten. Der erste Eindruck ist längst nicht so schlimm, wie ich gedacht hatte; äußerlich sieht es in Moskaus Innenstadt ganz wohnlich aus. Auffallend ist aber das fast vollständige Fehlen der jungen Männer im Straßenverkehr; das ist noch stärker, als es im Kriege bei uns war. An dem elenden Aussehen und den trüben Blicken der jüngeren Mädchen merkt man auch, daß hinter den Wänden, die schon wieder besser aussehen, noch viel gehungert wird.

Auszüge

aus den Moskauer

Briefen

117

Ich habe auch eine lange Besprechung mit Hilger gehabt, die durchaus harmonisch verlaufen ist. Ich glaube annehmen zu dürfen, daß wir gut miteinander arbeiten werden. Er war natürlich erfreut, von mir zu hören, daß ich seine Selbständigkeit als Leiter der Roten-Kreuz-Stelle, die ja zur Nansen-Organisation gehört, nicht im leisesten anzugreifen plante, und daß wir uns auch über die Kriegsgefangenen-Behandlung zwar in Konnex halten müßten, daß ich aber auch dafür ihm durchaus die Leitung unangefochten überließe. Mit den Russen in engere Fühlung zu kommen, scheint nicht ganz leicht zu sein. Sie sitzen auf einem riesig hohen Roß, weil sie genau wissen, daß die Ungeduld unserer Wirtschaftskreise es uns recht schwer macht, den Nacken steif zu halten. Dabei ist, soweit ich das schon jetzt übersehen kann, hier noch auf lange Zeit hin wirtschaftlich nur sehr wenig zu machen. Die Sachverständigen aus dem deutschen Wirtschaftsleben, die jetzt anfangen zu kommen, sind sämtlich hierüber mit mir einer Meinung. Es war mir auch sehr lieb, daß ich gestern in Gegenwart von drei solcher Sachverständigen, darunter je einem Vertreter der Hamburger Nachrichten und der Frankfurter Zeitung, eine etwas schwierige Unterhaltung mit Litwinow hatte. Diese Herren sahen und hörten sehr deutlich, welche Stimmung bei den Russen herrscht. Meine Auffassung von meiner Aufgabe erscheint mir einstweilen richtig zu sein: Ich bin zunächst nur zum Beobachten, nicht zum Selbsthandeln hier und kann nur ganz, ganz langsam vielleicht etwas Einfluß gewinnen. An praktischer Arbeit habe ich mehr Gelegenheit, die deutschen Pressevertreter und sonstigen Sachverständigen über meine allgemeinen Eindrücke zu informieren und ihnen dadurch etwas Unterlage für ihre Verhandlungen zu geben. Oft treten allerdings audi Ansprüche an midi heran, die ich schlechterdings nicht zu erfüllen vermag. Selten z. B. beherrschen die Ankömmlinge die russische Sprache auch nur soweit, daß sie wenigstens die Straßenschilder entziffern können, und ich soll dann die Dolmetscher stellen, die ich doch für meine eigenen A u f gaben dringend brauche und nur selten und für kurze Zeit zur Verfügung stellen kann. Es fällt mir auch auf, wie wenig allgemeine Kenntnisse von den russischen Verhältnissen die meisten dieser Herren haben. Es will mir auch nicht gelingen, sie zu gegenseitiger Aussprache zu be-

118

VIII.

Auszüge

aus den Moskauer

Briefen

wegen und so wenigstens zu verhindern, daß sie sich von den russischen Stellen gegeneinander ausspielen lassen. Hoffentlich klappt es jetzt besser mit meinen Briefen. Ich habe festgestellt, daß die Kuriere auf der Rückreise ohne sachlichen Grund zwei Tage in Riga sich aufhalten. Dann kommen sie erst sonntags und nicht schon freitags, wie ich dachte, in Berlin an. Dagegen habe ich im Auswärtigen Amt protestiert. Wir können nämlich auf die dringendsten Sachen bei diesem Verfahren immer erst nach 18 Tagen Bescheid haben. Fahren die Kuriere durch Riga glatt durch, so kann dagegen das Dringendste noch am Sonnabend in Berlin erledigt werden, und wir haben dann schon nach zehn Tagen eine schriftliche Antwort. Moskau, 9. Oktober 1921 Jetzt wird es bei uns Winter. Heute haben wir den ersten Schnee, und dies gleich tüchtig, aber bei Tauwetter; das gibt einen so soliden Schmutz auf den Straßen, daß man die Gummischuhe, um sie nicht stecken zu lassen, anbinden muß. Dabei stehen die Bäume zum Teil noch im Grün der Blätter. Wir haben bisher auch noch nicht alltäglich geheizt, da wir unsere Holzvorräte schonen müssen; nur einmal in der Woche haben wir die Wände warm gemacht. Jetzt müssen wir aber an das Verkleben der Fenster gehen, und ich muß in meine Balkontür die Doppeltür einsetzen; das bedeutet, daß ich weder die Tür noch ein Fenster während des ganzen Winters jemals aufmachen kann und mich zur Lüftung des großen Zimmers mit einer schmalen Luke in einem Fenster begnügen muß. Es ist ein besonderes Glück, daß wir außerdem Wandlüftung haben, sonst wäre die Luftheizung unerträglich. Die vergangene Woche war recht bewegt. Einmal war ich in der Großen Oper, um mir den Knjas Igor anzuhören. Es war wiederum ausgezeichnet. Prachtvolle Stimmen und ganz der alte Luxus der Ausstattung. Ferner war ich in einem Konzert des Akademischen Chors; ganz a capella — eine russische Eigentümlichkeit in dieser Vollendung. Dies hängt damit zusammen, daß es in der russischen Kirche keine Orgel und kein Instrument gibt. Da müssen überall besonders ausgebildete Sänger dem Gesang der Gemeinde das Rückgrat geben. Deshalb wird auch der Baß bis unheimlich tief und der Sopran bis zum höchsten Falsett

Auszüge aus den Moskauer

Briefen

119

gepflegt. Ich habe mir auch kürzlich eine Feier in der Großen Erlöserkirche (Moskaus Kathedrale) angehört. Da war der Gesang das Eigenartigste und ganz prachtvoll. Etwas Besonderes amtlicher Art war das Dinner beim britischen „Agenten". Wir wurden mit großer Liebenswürdigkeit empfangen und konnten deutlich spüren, daß die Absicht auf ein häufigeres Zusammensein ging. Am liebsten hätte man allwöchentlich einen Bridge-Abend vereinbart, leider spielt bei uns niemand Karten. Der erste Sekretär bat, doch gelegentlich in Oper und Konzert mitgenommen zu werden; ein anderer ging bei einem meiner Legationssekretäre direkt aufs Ziel los: wir müßten hier zusammenarbeiten, der Krieg sei doch nun vorbei usw. Ein Russe war eingeladen, um uns russische Musik vorzuspielen. Meine Phonola hat mich in den Geruch eines fanatischen Musikliebhabers gebracht. Die ganze Aufmachung war ausgezeichnet. Man muß es ja nun einmal den Engländern lassen: Lebensart haben sie. Sie haben uns sogar den Laden verraten, wo es die Bestandteile der Sakuska gibt. Also steht der Erwiderung nichts im Wege, sobald ich, das in Aussicht gestellte Bürohaus bekomme und dann im Wohnhaus für solche Geselligkeit Platz habe. In der Politik habe ich mal wieder einen kleinen Krakeel mit Berlin. Dort hat man plötzlich Angst bekommen, wir könnten uns hier zu sehr mit den Russen einlassen; man will deshalb das Verhältnis auf kühlere Temperatur eingestellt wissen. An sich richtig und von mir hier auch durchaus befolgt; gegen plötzliche Extreme wehre ich mich aber. Der Ton war so, daß ich schon dachte, man würde mich zum Bericht nach Berlin rufen; es scheint aber, daß man so weit nicht gehen will. Übrigens merkwürdig: ich bin zu wirtschaftlichen Erkundungen, f ü r die ich doch hergeschickt bin, vor lauter „Politik" noch gar nicht gekommen. Ich betone zwar hier bei jeder Gelegenheit, daß meine Aufgabe ausschließlich wirtschaftlicher Natur sei. Tatsächlich muß ich jedoch recht viel politisch Wichtiges auf eigene Verantwortung tun; die drahtlose Verbindung arbeitet so schlecht, daß ich jetzt seit fünf Tagen von Berlin überhaupt nichts gehört habe und daß ich mindestens 10 bis 12 Tage zumeist auf Antwort warten muß. Kommen dann mehrere Radiotelegramme auf einmal, so kostet das Entziffern meinem Personal eine und das Chiffrieren der Antworten meist eine zweite Nacht. Ein

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VIII.

Auszüge aus den Moskauer

Briefen

Glück, daß ich gestern einen zweiten Kanzleisekretär bekommen habe. Bald werde ich auch einen zweiten Legationssekretär anfordern. Ich selbst halte midi nach Möglichkeit frei und gebe nur Weisungen für die Berichte, diktiere selten selber. Gestern war ich auch bei der Nichte meines sibirischen Freundes, die hier an den ersten Kapellmeister der Großen Oper verheiratet ist. Herr Gott, wie die leben! In dem Häuschen, in dem früher einer der Diener gewohnt hat, sind sie froh — seiner Berufsstellung wegen — noch drei Zimmer zu haben; dabei aber in steter Sorge, daß man ihnen trotz ihrer beiden Kinder zwei wieder nimmt. Finanziell scheint es ihnen ganz gut zu gehen; Musiker werden gut bezahlt und bekommen doppelte Rationen, verdienen auch nebenbei noch allerhand: der Sänger z. B.

meines

letzten

Konzertes

bekam

400 000,

sein

Begleiter

200 000 Rubel, d.h. zusammen rd. 1000 Mark. Aber die ewige Angst, mit der Tscheka, der kommunistischen Geheimpolizei, in Konflikt zu kommen! Ich kann z.B. an keinen Privatmann telefonieren. Vielfach werden Pakete, die bei uns von Deutschland eingehen, von den Empfängern nicht abgeholt, weil diese sich scheuen, bei uns vorzusprechen. Es soll eine Anzahl von Personen verhaftet worden sein, weil sie einer Einladung der Engländer gefolgt sind, und tatsächlich hat man bei allen Russen, genommen

die mal an einem Sonntagstee

haben,

am folgenden

Tage

der Engländer

Haussuchung

gehalten.

teilWir

sollen auf den amtlichen Verkehr beschränkt bleiben. Einen deutschen Journalisten, Mitarbeiter einer großen deutschen Zeitung, den mir das A A zur Betreuung angemeldet hatte, hat man so beobachtet, daß man Stück für Stück wußte, was der Mann auf dem Markt an angeblichen Kunstsachen gekauft hat; auf meine Frage, ob dies bei seiner Rückreise nicht an der Grenze zu Schwierigkeiten führen würde, erhielt ich die köstliche Antwort: ich brauchte mir keine Sorgen zu machen, denn kaum eines der gekauften Stücke sei echt. Mit solcher Beobachtung muß auch ich immerhin rechnen, um nicht etwa Russen ins Gefängnis zu bringen. Meine Beamten und ich sind ja sakrosant, aber die Information leidet natürlich darunter; ich bin einstweilen fast allein auf das angewiesen, was mir die russischen Beamten mitzuteilen für gut halten. Auch die Sachverständigen müssen in dieser Beziehung vorsichtig sein und erfahren von etwaigen Bekannten, die sie aus früherer

Auszüge

aus den Moskauer

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Briefen

Zeit her kennen, so leicht nichts Besonderes. Ich hoffe aber, mir mit Hilfe musikalischer Abende einen Weg zu schaffen, auf dem ich auch gelegentlich mit Nichtbeamten zusammen kommen kann. Aus Deinen letzten Briefen ersehe ich zu meiner Freude, daß sich doch allerhand Kräfte bei uns regen, die ans Aufbauen herangehen wollen. Es ist nur zu schlimm, daß gerade diejenigen Kreise, die ein wirkliches Sachverständnis mitbringen würden, unsere alten Beamten, sich von solchen Bestrebungen so fernhalten. Das erschwert den A u f stieg des Ganzen gewaltig und macht ihn von neuen Schichten abhängig, die erst zum Staatsgefühl gebracht werden müssen. Aber das ist wohl immer und überall so, außer in England. Dessen riesiger Vorteil ist nun einmal darin gegeben, daß es seine Staatsentwicklung seit dem Ende des 17. Jahrhunderts ohne jede revolutionäre Störung ganz organisch und stetig vollzogen hat. Hier in Moskau ist es geradezu verblüffend, mit welcher Selbstverständlichkeit der britische

„Agent"

trotz dieser geringfügigen Bezeichnung zum Mittelpunkt der fremden Vertretungen geworden ist. A n seinen Sonntagstees nimmt alles teil, und niemand denkt daran, etwas Ähnliches einzurichten. Man muß aber anerkennen, daß die Engländer sich dabei ohne jede Prätension geben als old and young good fellows. Ich bin recht froh, daß es sich mit meinen politischen Anschauungen deckt, hier gute Fühlung mit ihnen zu halten. Moskau, 16. Oktober

1921

In den letzten Tagen habe ich mit Berlin einen kleinen Kampf in Form chiffrierter Telegramme ausfechten müssen. Das ist eigentlich besonders komisch. Hat man ein geharnischtes Telegramm hingepfeffert, so ist man bei Erhalt der Antwort — zehn Tage später — natürlich längst aus der ursprünglichen Stimmung heraus. Auch verblaßt diese schon gleich sehr erheblich, wenn man die zornigen Worte erst mühsam durch wiederholtes Addieren, Subtrahieren und Multiplizieren in die Chiffresprache übersetzen muß. Stell

Dir

vor, Du

schimpfst

nicht

Schafskopf, Esel usw., sondern: 25,26, 28,29, 30,31 usw. Das hält keine Schimpflaune aus. Es ist ein zu mühsames Geschäft. Gestern hatten wir ein großes Fest in der Kriegsgefangenenfürsorgestelle mir zu Ehren. Die Leute haben sich hierfür — auf Reichskosten

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VIII.

Atiszüge aus den Moskauer

Briefen

natürlich — mächtig angestrengt. Eine kleine russische Kapelle und dann allerhand Solokünstler: Tänzer, Sänger und Klavierspieler; ein 15jähriger Xylophonspieler, ganz glänzend; zwei russische Clowns und noch allerhand. Es waren wohl 200 Personen da. Um 1.30 Uhr bin ich glücklich nach Hause gefahren. Von besonderem Interesse war die Mischung des Publikums; zumeist waren es frühere Arbeiter, allerdings hochgelernte, und Kontoristen. Die Frauen, fast alle erst hier nach der Revolution geheiratet, stammen mit wenigen Ausnahmen aus gehobenen Schichten und führen deutlich das Regiment; sie waren zumeist in einfachen, aber recht geschmackvollen Kleidern, nur einige wenige ließen in Pelzen und Diamanten gar zu deutlich sehen, daß die Männer

nebenbei Schiebergeschäfte gemacht haben. Es waren

auch die Arbeiter der Werkstätten

aber

der Fürsorgestelle da in hohen

Stiefeln, Joppen usw. Auch hatte ich einige der schon älteren Damen im Verdacht, daß sie tagsüber den Kochlöffel oder das Waschfaß dirigieren. Es war eben alles da, auch die leitenden Angestellten. Und eben dies fand ich ausgezeichnet und habe sehr stark auf öftere Wiederholung eines solchen Festes gedrängt, zumal es für die meisten Angestellten der Stelle sonst gar keine Abwechslung gibt. Die Kosten — die Künstler werden mit Lebensmitteln bezahlt — stehen in gar keinem Verhältnis zu dem großen Nutzen, den solche Veranstaltungen bringen. Ich habe auch fest versprochen, mich stets daran zu beteiligen. Solche Ereignisse helfen aber nicht über die Unruhe hinweg, in der ich mich wegen Oberschlesien und überhaupt wegen unserer Politik befinde. Einige Maßnahmen des A A lassen darauf schließen, daß bei uns wieder einmal zwei Strömungen miteinander ringen, ohne daß sich eine ganz durchsetzen kann. Mir scheint allmählich, daß die Versetzung Maltzans nach Athen, von der man spricht, symptomatische Bedeutung hat, daß man sich stärker an England und auch Frankreich anlehnen will auf Kosten des Verhältnisses zu Rußland. Ich sehe aber noch nicht klar, ob dies nur ein Manöver letzter Stunde wegen Oberschlesien ist, oder ob ernst gemeint. Die endgültige Entscheidung über Oberschlesien wird ja auch hierüber klar sehen lassen; ich sehe wenigstens nicht, wie wir uns mit England und Frankreich gut stellen können, wenn wirklich wesentliche Teile Oberschlesiens an Polen gegeben werden. Auch ein erträgliches Verhältnis zu England und Frankreich schließt aber nicht

Auszüge aus den Moskauer

Briefen

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ein, daß wir dann mit ihnen zusammen gegen Rußland vorgehen sollten. Dieser Gedanke kann nur in den Hirnen von Militärs entstehen, d. h. in Frankreich und bei Ludendorff, nicht aber in England und bei unseren Politikern. England scheint es ganz richtig zu machen, dies nur zu einem gewissen Druck auf die Sowjetleute benutzen zu wollen, daneben aber hier mit uns ein Zusammengehen mit Rußland auf wirtschaftlichem Gebiet nach wie vor zu betreiben. Die Liebenswürdigkeit, mit der die englische Mission uns entgegenkommt, ist nach wie vor besonders stark. Bei dieser Sachlage war es für mich besonders wichtig, daß ich letzter Tage eine sehr ausführliche Unterhaltung mit Tschitscherin gehabt habe. Den Anlaß bot ein reichlich scharf geratener Artikel, den Radek in seiner Prawda gegen unser AA veröffentlicht hat. Da ihn der russische Minister ebenfalls verurteilte, waren wir uns bald über die Behandlung der Frage einig und haben uns dann über deutsche und russische Fragen im allgemeinen unterhalten. Dabei war mir besonders bedeutsam seine Darlegung, warum Rußland aus politischen, nicht sozialen oder wirtschaftlichen Gründen wirtschaftlich zum Bolschewismus habe übergehen müssen. Es hätte kein anderes Mittel gegeben, Rußland davor zu bewahren, daß es eine Kolonie der westeuropäischen Mächte geworden wäre; der private Kapitalbesitz hätte zerstört werden müssen, damit er nicht ganz und gar in westliche Hände übergehen könnte. So trat bei der Unterhaltung straffster Nationalismus und Patriotismus mir in bolschewistischer Gestalt entgegen. Das müssen wir uns für unsere Politik merken, auch für uns selbst. Beinahe IV2 Stunden haben wir geplaudert. Ebenso war sehr interessant ein Abend, den ich kürzlich bei dem Ehepaar Radek zugebracht habe, ehe er jenen boshaften Artikel gegen die Leute des AA gebracht hatte. Radek ist ein glühender Verehrer der deutschen Kultur, in der deutschen Literatur stärkstens belesen und uns hier in jeder Weise behilflich. Da bin ich einfach eines Abends nach telefonischer Anfrage zu ihm mitgegangen, als der hier weilende Vertreter der Frankfurter Zeitung, ein alter Studiengenosse von mir, sich zum Tee angesagt hatte. Wir haben bis 12 Uhr bei ihm im Kreml gesessen, selbst nur wenig gesprochen. E r erzählte von der deutschen Revolution, von Lenin, von Tod und Teufel in glattem Deutsch. Daran

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VIII.

Auszüge aus den Moskauer

Briefen

beteiligte sich auch seine Frau, eine jüdische Ärztin aus der preußischen Provinz Posen. Die äußere Aufmachung war sehr einfach. Die Regierungsleute wohnen fast alle in dem sog. Kavalierhaus des Kreml, je zwei oder drei Zimmer bis zu acht Familien auf einem Korridor mit gemeinsamer Küche. Radek erzählte u. a. mir von einem Artikel, der am nächsten Morgen erscheinen werde; er habe ihn eigentlich als Sonntagsfreude seinen Lesern vorsetzen wollen, ihn aber auf die Ankündigung meines Besuches hin schleunigst in die Druckerei gegeben, da er ihn danach nicht gut hätte schreiben können. Ich war also am nächsten Tag auf allerhand gefaßt, aber ob des tatsächlichen Inhalts doch sehr überrascht, soviel Bosheit auf einmal — von den Ochsen zu sprechen, die nach der belgischen Beschlagnahme der deutschen Restbestände nur noch im AA geblieben seien — das war doch reichlich. Aber ich habe mich doch köstlich amüsiert und mich, auch nachdem Radek sich in aller Form bei mir dafür entschuldigt hatte, in dem Verkehr mit ihm nicht beeinträchtigen lassen. Bei ihm lerne ich von Rußland und auch von allgemeiner Politik so viel kennen, daß mir die Unterhaltungen bald recht wertvoll geworden sind.

Moskau, 23. Oktober 1921 Heute sitze ich in meinem Wohnzimmer bei einem lustig prasselnden Kaminfeuer. Ich werde hier oben viel weniger gestört als in meinem Arbeitszimmer unten, wo man mit jedem Dreck angestürzt kommt. Bald werde ich aber das ganze Büro in ein anderes Haus verlegen und nur mein Arbeitszimmer hier behalten. Wir sind in der letzten Woche ganz plötzlich mit den Russen über ein zweites Haus einig geworden. Nun gibt es noch ein paar Wochen Reparatur, und dann sind wir fein heraus aus den räumlichen Schwierigkeiten zum großen Ärger der Polen, die schon in ihren Zeitungen von unseren vielen Häusern schreiben, in denen der Gesandte W. in „Schlafrock und Mütze" herumwandere, weil er nichts zu tun habe; sie selbst sitzen nämlich zum großen Teil noch in ihren Eisenbahnwagen weit draußen vor der Stadt. Ist für uns erst alles fertig, dann habe ich zwei große Repräsentationsräume und auch noch ein drittes Zimmer, in dem ich „Besuch" unterbringen kann.

Auszüge

aus den Moskauer

Briefen

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Der Dienst ist augenblicklich nicht leicht. Maltzan scheint in der Tat aus seinem Posten entfernt werden zu sollen und deshalb für Athen als Gesandter bestimmt zu sein. Wir waren wohl unserer Sache in Oberschlesien so sicher, daß wir uns prompt zwischen zwei Stühle gesetzt haben: England haben wir durch die Wiesbadener Verhandlungen verärgert, und Frankreich ist trotz allem unnachgiebig. Frankreich fühlt sich ebenso mächtig auch England gegenüber, daß, es auf seinen Ansprüchen besteht. Kürzlich hat ein Artikel des Figaro dies sehr deutlich ausgedrückt: wer Calais besitzt und dazu U-Boote, hat England in der Hand; es sei falsch, von einem englischen Kanal zu sprechen, der sei französisch. Dazu lockt Frankreich auch die Vereinigten Staaten auf seine Seite durch Angebot von Hilfe in den japanischen Händeln. Folglich wirbt England wieder um Frankreich. Und wir zahlen die Zeche. Dabei können wir uns nicht einmal entschließen, mit einem Anschluß an Rußland zu drohen. Ich arbeite jetzt stark darauf hin; natürlich nicht auf den Anschluß, aber auf das Drohen. In Berlin stößt man sich aber an den Formen! Man will sich nicht mit den Sowjetleuten paritätisch an ein und denselben Eßtisch setzen, nur allenfalls an den Verhandlungstisch. Deshalb will man den neuen Vertreter Rußlands nicht durch den Reichspräsidenten, sondern nur durch den Minister des Auswärtigen empfangen lassen, während ich hier durch den Staatspräsidenten empfangen worden bin. Ich habe meinen Rücktritt in Aussicht gestellt, wenn man mich desavouiert und die Russen auf dem Empfang durch Ebert bestehen. Es ist ja auch nicht auzudenken: wird der Russe durch Ebert empfangen, so rückt er in die Reihe der Diplomaten und muß eingeladen werden. Lieber läßt man eine Aussicht ungenutzt. In allem Ernst hat mir der Staatssekretär telegraphiert: der Empfang verstoße gegen das Herkommen. Darauf habe ich zurücktelegraphiert: dank den Revolutionen gäbe es kein Herkommen mehr, die ganze Vertreterstellung sei doch abseits allen Herkommens. Ich bin neugierig, wie die Sache abläuft. Ich denke, Berlin wird irgendwie nachgeben. Ich rechne übrigens mit einer baldigen Fahrt nach Berlin zu kurzen Besprechungen; denn wenn es zu einer neuen Regierung kommt, wie in Aussicht steht, dann muß die Politik gerade Rußland gegenüber neu

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VIII.

Auszüge aus den Moskauer

Briefen

erörtert werden. Dazu bin ich nötig, sdion um den Emigranten Rußlands entgegenzutreten, die nur an ihre eigene soziale Stellung und an ihren Besitz denken und uns in Gestalt der Balten schon einmal in den größten Fehler des vergangenen Krieges, in den Frieden von BrestLitowsk hineingezerrt haben. Sie stecken auch jetzt wieder hinter den verrückten Gedanken Ludendorffs. Als ob wir irgendein Interesse daran haben, fremden Kapitalbesitz in fremden Ländern wieder herzustellen. Wir haben hier in Rußland nur ein einziges Interesse, daß die Kommunisten sich halten und daß es keinen neuen plötzlichen Umschwung gibt. Sie sind schon so stark auf dem Wege zur Revision ihrer Grundsätze und machen so viel Konzessionen an den Privatbesitz und die Privatinitiative, daß durchaus Licht zu sehen ist. Wenn es uns doch auch gelingen wollte, mit dem früheren Besitz im Interesse des Staats aufzuräumen und erst einmal eine Einheitsbasis herzustellen! Aber der Weg, den man hier gegangen ist, war zu gewaltsam, als daß er gesund sein könnte; man hat nicht nur den Besitz, sondern auch die Produktivkräfte zerstört. Unser Weg der steuerlichen Erfassung verspricht zwar weniger radikalen Erfolg in der Besitzfrage, dafür aber Erhaltung der Produktivkräfte. Nur darf man hieraus, daß man hier den bisher beschrittenen Weg für falsch hält, nicht den Schluß ziehen, daß alles rückwärts revidiert werden muß; richtiger ist schon, man sucht vom falschen Wege durch Abbiegen in die richtige Richtung zu gelangen, und wirft nicht durch plötzliches scharfes Umdrehen alles über den Haufen. Die beiden letzten Wochen haben dieses Abbiegen hier stark gezeitigt. Dabei will ich natürlich nicht leugnen, daß es für die betroffenen Besitzer furchtbar hart ist. In dem neuen Haus z. B., das wir jetzt bekommen, wohnt die bisherige Besitzerin, eine Frau Morosowa, Witwe eines der größten Industriellen Rußlands und Tochter eines großen Eisenbahnmannes, jetzt mit ihren zwei erwachsenen Kindern (Tochter von 16, Sohn von 20 Jahren), ihrer Schwester und drei alten Dienstboten in ein paar Kellerräumen fast ohne Tageslicht und schrecklich dumpf; sie ist selig, daß wir mit unserer Ordnung hineinkommen und daß dann nicht mehr im selben Keller in ihrer alten Küche für 250 Kommunisten täglich gekocht wird, die dort auch essen. Aber auch mit der Zwangseinquartierung ist man jetzt zurückhaltender. Die Häuser werden den Mietern überlassen, die ähnlich wie bei uns Mieter-

Auszüge aus den Moskauer Briefen

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ausschüsse bilden. Unterschied nur, daß es hier keine Eigentümer gibt, welche die Miete bekommen und Hypothekenzinsen zahlen, Kapitalzins gibt es nicht. Aus der abgelaufenen Woche verdient noch Erwähnung eine Führung durch die Hausindustrie-Ausstellung, die mir einen sehr schönen Einblick in die Mannigfaltigkeit gewährt hat, mit der sich vor allem die ländliche Bevölkerung im Winter beschäftigt oder richtiger:

be-

schäftigt hat. E s waren wunderschöne und vor allem eigenartige Stücke aus karelischer Birke und große und kleine Holztruhen, die durch einfache Kiesel in ihren Kupferbeschlägen ein recht lebhaftes Aussehen bekommen. Als Hausarbeit der Frauen waren vor allem gestickte Leinentücher mit eigenartigen Mustern vorhanden und auch etwas von den bunten Wollsachen des Südens. E s ist sehr schade, daß gerade die Birkensachen nicht mehr in der hier gezeigten Qualität hergestellt werden können. Das Holz muß viele Jahrzehnte lagern, um völlig trocken zu sein, und die angesammelten Vorräte sind während des Krieges zum Heizen verbraucht worden. Solche Stücke, wie ich sie mir im Jahre 1 9 1 0 nach meiner Sibirienreise gekauft habe, und die noch jetzt absolut dicht schließen, gibt es nicht mehr. Ich habe aber einige Sachen, die mir besonders gut gefielen, erstehen können. Diese Hausindustrie ist noch immer eine der eigenartigsten Kulturerscheinungen Rußlands und nicht zuletzt dadurch bedeutsam,

daß sich hier in recht

aus-

geprägter Weise der Süden als Steppengebiet mit seinen Stickereien und der Norden als Waldgebiet mit seinen Holzarbeiten ergänzen. Letzter Tage war dann Radek bei mir, um sidh für jenen Artikel zu entschuldigen, gegen den ich protestiert hatte. E s war wieder sehr interessant, viel Neues und Wichtiges habe ich von ihm erfahren. E r ist offenbar zufrieden, mit mir frei von der Leber reden zu können; ich nehme ihn so burschikos, wie er nun einmal gern ist, und komme dadurch recht gut mit ihm zurecht. Meine beiden Mitarbeiter, die ich zu der Unterhaltung noch hinzugezogen hatte, kamen aus dem Staunen nicht heraus, was Radek alles auskramte. Ein weiteres Ereignis der vorigen Woche war eine Helmholtz-Feier des wissenschaftlichen Helmholtz-Institutes.

Dieses beruht auf einer

Stiftung meines sibirischen Freundes, Hugo Marc vom Hause Wogau, von dem ein sehr gutes Bild dort hing; mit Wehmut nur konnte ich

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VIII. Auszüge aus den Moskauer

Briefen

dieses Mannes gedenken, dem ich so viel von meiner Rußlandkenntnis verdanke, der aber nicht mehr unter den Lebenden weilt. Eine lange Rede des leitenden Wissenschafters habe ich angehört. Leider verstand ich nur einzelne Worte, weil so weit mein Russisch noch längst nicht reicht. Natürlich habe ich dem Redner dann für diese Ehrung unseres Helmholtz wärmstens gedankt. Man lernt auch das.

Moskau, 27. Oktober 1921 Die letzten Meldungen aus Berlin, die ich gestern durch den Kurier bekommen habe, sind nicht gerade geeignet, die Stimmung zu heben. Die Entscheidung über das Kabinett scheint auch diesmal wieder ausschließlich unter innerpolitischen Gesichtspunkten fallen zu sollen; nur scheint Maltzan wieder fester im Sattel zu sitzen und nicht nach Athen zu gehen. Besonders übel ist die Entscheidung über Oberschlesien; aber schlimmer noch ist, daß wir so zerfahren in der Öffentlichkeit darauf reagieren. Ich halte Wirth für den besten Reichskanzler, den wir seit langem gehabt haben, und würde es daher sehr bedauern, wenn die von ihm vertretene Richtung jetzt etwa verschwände. Dabei denke ich allerdings nicht an das Wiesbadener Abkommen, das m. E. zu früh abgeschlossen worden ist und erst nach der Oberschlesienentscheidung hätte kommen sollen; ich denke vielmehr an seinen ernsten Versuch, die Versailler Verpflichtungen zu erfüllen und durch diesen Versuch die Unmöglichkeit wirklich zu beweisen. Alles Bramarbasieren hilft ja nicht über die Tatsache hinweg, daß uns Gewaltmittel nicht zur Verfügung stehen, und gerade die Parteien, die am meisten schimpfen und nach Widerstand schreien, lehnen den einzigen Weg ab, der uns wenigstens einen Trumpf in die Hand geben könnte — die Drohung mit dem Anschluß an Rußland; ihnen steht über dem nationalen Interesse der eigene Geldbeutel und die soziale Position. Ein Artikel aus dem „Tag", der vor kurzem erschienen ist, bringt das recht klar zum Ausdruck; er tadelt, daß ich das jetzt hier geltende Wirtschaftssystem kritiklos hinnehme. Als ob ich als Vertreter eines fremden Staates mich irgendwie kritisch über das Wirtschaftssystem des hiesigen Staates äußern dürfte. Das geht mich ebensowenig etwas an, wie es etwa den deutschen Gesandten in Abessinien jemals gekümmert hat, daß dort andere Wirtschaftsverhältnisse sind als bei uns. Das

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aus den Moskauer

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schlimmste an solchen Artikeln wie auch den Ludendorff-Äußerungen ist aber, daß sie uns zwingen, den Russen viel weiter entgegenzukommen, als es sonst nötig wäre; nicht etwa der Russen wegen, dafür ist es gleichgültig — nein, der Entente wegen, die uns angesichts solcher Artikel in solchen Blättern einfach die Annäherung an Rußland nicht glaubt, wenn wir nicht sehr handgreiflich werden. Das wissen natürlich die Russen sehr genau, und sie nutzen diese Situation sehr wacker aus. Offiziös lassen sie erkennen, daß sie gern mit uns zusammengehen wollen; offiziell sind sie kühl bis ans Herz hinan und warten auf unser Entgegenkommen. Gerade das aber können wir uns kaum leisten, ohne unseren Westen zu riskieren, und das würde auch unsere rechten Parteien ganz und gar in Harnisch bringen. So sind wir in einer Zwickmühle außenpolitisch, die im wesentlichen aus innerpolitischen Zügen stammt. Immerhin sollten wir von Regierungswegen den Mut haben, den Schein einer Annäherung an Rußland hervorzurufen. England würde darauf wohl prompt reagieren; dort hat man noch in der Erinnerung, daß sich für englische Firmen in Rußland kaum größere Arbeitsmöglichkeiten dargeboten haben, ohne daß man deutscher Hilfe bedurfte, und so fürchtet man, daß wir vollends in Zukunft eine besonders feste Stellung in diesem so wichtigen Lande erhalten, wenn wir auch wieder politisch in fester Verbindung stehen. Selbst in unserem AA findet aber diese Auffassung bei den jetzt leitenden Männern keine entscheidende Zustimmung. Es ist zum verzweifeln, wie kindlich die Briefe sind, die ich vom neuen Leiter der Ostabteilung bekomme, und Maltzan tut mir geradezu leid, in diesem Zusammenhang arbeiten zu müssen. Mir wird väterlich zugeredet, die Geduld nicht zu verlieren usw., aber nichts von der politischen Linie geschrieben, die man nun einschlagen will. Dieser neue Abteilungsleiter ist schon recht zufrieden, daß er für mich das Recht durchgesetzt hat, in besonders wichtigen Fällen von mir aus die Einreiseerlaubnis für Russen zu geben und nicht mehr immer erst in Berlin anfragen zu müssen. Damit wird der famose „Staatskommissar f ü r die öffentliche Ordnung" ausgeschaltet, ob jemand einreisen darf oder nicht. Er findet es auch als genügende politische Orientierung, wenn er mir die Note über Oberschlesien als Reichstagsdrucksache (!) mit ein paar Karten schickt; was ich natürlich schon kannte. Und der leitet die Ostpolitik! Er hat wahr9 Wiedenfeld, Zwischen Wirtschaft und Staat

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Vili.

Auszüge aus den Moskauer

Briefen

haftig den Artikel Radeks übelgenommen, anstatt äußerlich zu protestieren und innerlich sich köstlich zu amüsieren. Wenn der wüßte, daß Radek seinen Entschuldigungsbesuch bei mir durch eine Ansage zum Tee mit seiner Frau gemacht hat, und daß ich schließlich weiter nichts gesagt habe, als daß ihm seine Feder etwas arg durchgegangen wäre und er damit den russischen Zielen nur schade. Dann sprachen wir noch drei Stunden von etwas anderem. Mir tut nur leid, daß ich immerhin eine Einladung Radeks, mit ihm auf 14 Tage nach Irkutsk zu fliegen, nicht gut annehmen konnte. Mir ist es geradezu eine Herzerfrischung, wenn der Mann in seiner Lebendigkeit und Burschikosität durchs Zimmer tobt und dabei in durchaus kräftigen Worten seine Meinung über Inland und Ausland ausdrückt. Wenn ich in Rußland mich mit niemand an einen Tisch setzen will, der schon gesessen oder auch einen kleinen Raubmord auf dem Gewissen hat, dann sitze ich bald allein und kann meiner Regierung nichts berichten. Das war auch früher schon so; habe ich doch in Irkutsk seinerzeit (1910) einige Abende und Nächte mit einem hohen Staatsbeamten durchgeplaudert, der wegen jugendlichen Raubmordes für Lebenszeit nach Sibirien verbannt war, hier an der Universität Tomsk studiert und nach den vorgeschriebenen Prüfungen anstandslos Aufnahme in der Staatsverwaltung gefunden hatte — was mir schon damals gar nicht uneben erschien. Aber freilich, einen echten Diplomaten alter Schule kann ich mir in solcher Lage nicht recht vorstellen; das ist ein geradezu köstlicher Gedanke. So lasse ich mir von Berlin den Humor nicht nehmen und bin doch immer wieder obenauf. Mit unserem zweiten Haus kommt es plötzlich ganz anders, als ich Dir vor vier Tagen geschrieben habe. Die Russen haben nachträglich für das uns zugewiesene Haus so hohe Forderungen und so schwere sonstige Bedingungen gestellt, daß ich dankend verzichtet habe. Gleichzeitig haben sie aber angefragt, wann wir eines der FürsorgestellenHäuser nun an sie zurückgeben würden. Das ist der Fürsorgeleitung so in die Glieder gefahren, daß sie plötzlich mit mir Verhandlungen angefangen hat, ob wir nicht das eine Haus übernehmen wollten, was wir seit drei Monaten vergeblich erstrebt hatten. Heute Abend habe ich mich dazu erweichen lassen, und so übernehme ich ein fast fertig hergerichtetes Haus anstatt einer halben Ruine, und werde mit den Russen

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aus den Moskauer

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schon fertig werden. Schon morgen gehts an die Räumung des Fürsorgehauses f ü r unsere Zwecke. Moskau, 4. November 1921 In der letzten Woche habe ich mal wieder die Gegensätze zu spüren bekommen, in denen jetzt unser deutsches Dasein verläuft. Die russische Regierung hat den Vertretern der deutschen Lokomotivfabriken (Borsig, Hentschel, Krupp usw.), die zur Übergabe der ersten deutschen Lokomotive hierher gekommen waren, nach der vorzüglich verlaufenen Probefahrt f ü r die endgültige Übernahme eine Einweihungsfahrt bewilligt und midi hierzu eingeladen. Diese Fahrt von Moskau nach Petersburg war schlechthin erhebend. Unsere Lokomotive übertraf trotz schwerster Bedingungen die Erwartungen noch recht beträchtlich und war am Ende der Probefahrt so frisch wie am Anfang; die schwedische dagegen hätte beinahe abbrechen müssen, weil Konstruktionsmängel auftraten, und hat n u r gerade das Ziel keuchend und prustend erreicht. Die deutschen Ingenieure, die jetzt hier waren, waren ganz famose Leute, wie übrigens die Schweden auch. Erst recht hat mir der russische Professor Lomonossow ganz ausgezeichnet gefallen. Er ist ein hervorragend kluger und energischer Mann; ich freue mich, daß ich morgen bei ihm schon wieder zum Frühstück eingeladen bin. Auch die äußeren Umstände der Fahrt waren glänzend und zeigten, wie großen Wert die Russen auf das Zusammenarbeiten mit uns legen; ich wurde nach allen Regeln der Kunst hofiert und bekam sogar f ü r die Rückfahrt, da ich früher als Lomonossow in Moskau sein mußte, einen eigenen Schlafwagen mit zwei russischen Adjutanten. Wir haben von Freitagabend bis Dienstagmittag im Schlafwagen gelebt, aber mit Speisewagen, und entsprechend ausgezeichnet. Lenin hatte sogar aus den alten kaiserlichen Weinkellern des Kreml etliche Flaschen Kaukasuswein überweisen lassen. Da machte es dann nicht viel aus, daß ich bei meiner Rückkehr nach Moskau in den Zeitungen eine große politische Rede fand, die ich bei der Bahnfahrt gehalten haben sollte, tatsächlich aber mit keinem Wort gehalten habe; es gelang glücklicherweise gerade noch, das Telegramm des hiesigen Wolffbiiros aufzuhalten und meine ganz kurze, gänzlich unpolitische Tischrede ins Ausland zu bringen. Erhebung Nr. 2 war gestern die Besichtigung des deutschen RotKreuz-Zuges, der jetzt ins Hungergebiet nach Kasan geht. Auch da sah 9*

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VIII.

Auszüge aus den Moskauer

Briefen

man wieder, was wir auf sachlichem Gebiet leisten können. Da fehlte auch, gar nichts, und alles blitzeblank; die Ärzte sachlich und flott. In Moskau war dazu ein bakteriologisches Laboratorium vom Deutschen Roten Kreuz eingerichtet worden, das ebenfalls ganz glänzend war. In diesem habe ich heute Trotzki kennengelernt — ein famoses Gesicht, mächtige Stirn und scharfe Züge, aber unklare Augen, die dem Partner nicht ins Gesicht sehen können. E r stieg nach der Feier, da ich den Herren vom Roten Kreuz den Vorrang lassen wollte und deshalb vom Laboratorium nicht mit zu jenem Zuge fuhr, nochmals aus seinem Auto heraus und hielt mir an der Haustür eine sehr warme Rede über die Notwendigkeit des deutsch-russischen Zusammengehens, ganz egal welche Richtung hier oder bei uns am Ruder wäre. Man sieht und hört ihm natürlich den Juden an; er ist aber einer von denen, die eine starke Energie mit ausgeprägter Organisationsgabe vereinen. In seinen Ressorts (Kriegs- und Eisenbahnkommissariat) herrscht absolute Ordnung. Er hat in kurzer Zeit die schwierige Aufgabe gelöst, die Eisenbahnen zwischen der Wolga und den westlichen Gebietsteilen des Reichs von Ost nach West auf die umgekehrte Richtung umzustellen. Und dann das Gegenstück gestern Abend. Da hatte ich auf Weisung von Berlin eine Unterhaltung mit Litwinow über die Anerkennung der Vorkriegsschulden Rußlands und mußte mir in aller Freundschaft allerhand sagen lassen, was nur allzuwahr ist, mir aber doch das Blut ins Gesicht jagte. Man wisse nicht, was Berlin wolle, es fehle an Mut und Aktivität und dgl. mehr. Ein richtiges Bild unserer politischen Situation! Das sind immer schwere Wege. Dieser Rechtsanwalt, der die Üblichkeiten seines Berufs in die auswärtige Politik hinübergenommen hat, ist ein Fuchs, der auch gestern absolut nicht aus seinem Bau herauszuholen war. Meine Lage ist dann immer schwierig. Ohne Kenntnis von den jüngsten Vorgängen außerhalb Rußlands, da Berlin mich nicht orientiert und meine Zeitungen günstigstensfalls sechs Tage alt sind, muß ich mit Männern reden, die über den besten Nachrichtendienst der Welt verfügen. Das gibt unbehagliche Situationen. Natürlich hat Litwinow mir auch bei dieser Gelegenheit versetzt, daß Berlin noch immer Bedenken trage, den „russischen Vertreter" durch den Reichspräsidenten empfangen zu lassen, obwohl ich doch von Kalinin empfangen worden wäre. Die Russen scheinen den Streit jetzt zum Aus-

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Briefen

trag bringen zu wollen. Da bin ich neugierig, wie er auslaufen wird. Ich denke, Berlin wird nachgeben, nachdem es ganz unnötigerweise die Russen verärgert hat. Gibt aber Rußland nach, so bleibt erst recht ein Stachel zurück, und das alles lediglich einer Form halber! Litwinow hat mir gestern auch gesagt, daß von gegenseitigem Mißtrauen eigentlich nicht geredet werden dürfe, sondern nur vom Mißtrauen Deutschlands gegen Rußland. Das kommt davon, wenn man sozialpolitische Anschauungsweise in die auswärtige Politik hineinträgt, wo sie nichts zu suchen hat, und wenn man glaubt, der kommunistischen Ideenwelt durch kleinliche Polizeischikanen wirklich Herr werden zu können. Bebende Angst um den persönlichen Besitz als Faktor und auswärtige Politik — ein schönes Bild. Aber genug dieser trüben Dinge. Die Anwesenheit der Rot-KreuzLeute hat mir zuletzt noch etwas besonders Vergnügliches gebracht. Eines Abends hielt der Leiter der hierher gesandten Kommission, der bekannte Chef des Hamburger Tropenkrankheits-Instituts, Professor Mühlens, einen sehr schönen Vortrag über die Malariabekämpfung. Im Anschluß daran fand eine Vorstellung statt, in der die Wirkungen der Malaria an der Hand eines russischen Märchens durch Studenten und Studentinnen dargestellt wurden, und dann ein Kasperle-Theater, wie man sich dagegen schützen könnte und wie nicht. Alles ungemein plastisch und für den Laien verständlich. Mit einem Tee habe ich mich bei den Ärzten und Schwestern erkenntlich gezeigt, dazu war auch Prof. Solowjow, der Vorsitzende des russischen Roten Kreuzes, und Frau Solowjowa für das Gesundheitsministerium erschienen.

Moskau,

9. November

1921

Mein Gemüt ist durch die letzten Nachrichten aus Berlin erheblich erleichtert. Ich habe einen hohen Luftsprung getan, als mir vorgestern ein Telegramm Maltzans das neue Kabinett mitteilte. Nun ist doch vielleicht Aussicht, daß etwas Positives geschieht und die ewige Angstmeierei aufhört, in die nachgerade Rußland gegenüber die sicher nötige Vorsicht ausgeartet war. Hierüber berichte ich Dir das nächste Mal, die Zeit ist heute zu knapp, einen ankommenden Kurier heute und einen abgehenden Kurier morgen; das ist zu reichlich.

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VIII. Auszüge aus den Moskauer Briefen

Moskau, 13. November 1921 Ich bin recht froh, daß ich in den Krisentagen nicht in Berlin zu sein brauchte. Dort herrscht offenbar noch ein solches Parteidurcheinander, daß nur ein ganz versierter Parteimann sich darin zurechtfinden und hindurchlavieren kann. Daß ich hier nicht in einer Versenkung verschwunden bin, zeigt Dir die Meldung der Kölnischen Zeitung, die auch durch andere Zeitungen gegangen sein soll: ich wäre einer der Kandidaten für den Reichskanzlerposten. Das ist allerdings ein denkbar törichter Gedanke; so dumm bin ich denn doch nicht. Ich nehme die Meldung aber als ein Zeichen, welche Bedeutung man dem hiesigen Posten beimißt. Mir ist schon ganz unheimlich, mit welcher Wärme sich die deutsche Presse jetzt nach Rußland hin orientiert. Daß wir doch nie maßhalten können! Natürlich quittieren die Russen dankend mit allerhand kleinen Bosheiten. Und das, was ich erst als großen Fehler ansehen mußte, habe ich jetzt selbst empfohlen: nämlich Krestinski nicht durch den Reichspräsidenten, sondern nur durch den Reichskanzler empfangen zu lassen. Unter den ganz neuen Umständen wäre der Empfang durch den Reichspräsidenten auch als reine Form zuviel gewesen. Daß dieser danach Krestinski inoffiziell empfängt, schadet allerdings nichts. Es ist doch ein fabelhaft interessanter Posten, den ich hier habe, so ganz aus dem Alltäglichen heraus und aus dem Formenkram, der sonst die Auslandsposten kennzeichnet. Mir macht es nun einmal mehr Freude, mit Leuten ä, la Trotzki und Radek zu verhandeln, als mit den geleckten „Staatsmännern der alten Schule". Zum Einschlafen ist jedenfalls hier keine Gelegenheit. Kürzlich hatten wir das Fest des Jahrestages der russischen Revolution von 1917, ganz im alten Stil. Zuerst ein ausgezeichnetes Konzert der ersten Operngrößen, dann schlemmerhaftes Souper, das bis 2 Uhr dauerte. Der Engländer war aber vor dem Souper fortgegangen und ließ die beiden Plätze bei Tisch frei, zum großen Ärger natürlich der Russen. Tschitscherin hielt eine sehr taktvolle Tischrede, in der kein Wort von Revolution vorkam. Der Perser als Ältester der ausländischen Vertreter erwiderte. An erster Stelle erwähnte Tschitscherin, daß diesmal Deutschland offiziell, nicht mehr halboffiziell, vertreten sei, und entsprechend hatte ich nach Tisch eine ziemlich lange Unterhaltung mit ihm.

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aus den Moskauer

Briefen

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An einem anderen Abend hatte ich wieder eine Unterhaltung mit Trotzki, die etwa IV2 Std. dauerte. Ich habe fast nur gefragt und ihn reden lassen. E r hat mir natürlich nur gesagt, was ich verbreiten sollte. Deshalb betonte er gleich zu Anfang, daß wir natürlich streng vertraulich und nicht „zu Protokoll" sprächen. Aber er kam doch auf meine Fragen erheblich aus sich heraus und hat mir über vieles, was mir nicht recht klar werden wollte, ein Licht aufgesteckt. Wichtig ist auch, daß er mir seine Hilfe angeboten hat, wenn ich mal mit den anderen Ressorts nicht vorankäme. Ihn interessiert besonders lebhaft mein Plan, bei Moskau eine landwirtschaftliche Musterwirtschaft einzurichten, um für die deutsche Vertretung eine Sommerwohnung und zugleich eine Sicherheit der Versorgung mit Gemüse zu erhalten. Ich habe dafür ein Bauerngut von etwa 300 Morgen in Aussicht, nur 8 km von Moskau entfernt, also bequem mit dem Auto zu erreichen. Moskau, 20. November

1921

Bei einem Diner, zu dem ich dieser Tage zum persischen Botschafter geladen war, ist mir recht zum Bewußtsein gekommen, daß Deutschland hier noch immer eine besondere Bedeutung hat. Es wurde nämlich neben russisch und etwas französisch von den Teilnehmern vor allem deutsch gesprochen, aber nie englisch. Sogar bei den Engländern selbst spielt Deutsch an ihren gesellschaftlichen Abenden eine so beträchtliche Rolle, daß ich mich mit den Mitgliedern der englischen Vertretung in ihrer Sprache und nicht etwa französisch zu unterhalten pflege. Erwähnen möchte ich noch, daß ich in der vergangenen Woche zum ersten Mal das Stradivari-Quartett gehört habe, so genannt, weil alle vier Instrumente von Stradivari sind, sogar die Bratsche, die einzige ihrer Art, für die die Amerikaner sieben Lokomotiven der russischen Regierung geboten und die sie doch nicht bekommen haben. Moskau, 27. November

1921

Ich kann mir zwar denken, wie unangenehm es für Dich ist, so oft um die Vermittlung meiner Hilfe für irgendeinen Russen gebeten zu werden, der durchaus nach Deutschland kommen muß. An solche Bitten bin ich schon so gewöhnt, daß es mir nicht das leiseste Unbehagen macht,

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VIII.

Auszüge aus den Moskauer

Briefen

sie ausnahmslos abzuschlagen. Du kannst also den Leuten, die sich an Dich wenden, in aller Ruhe sagen, daß Du ihre Bitte mir mitteilen würdest und sie dann später dahin bescheiden, daß ich nichts tun könnte. Hier sind die Leute außerordentlich erfinderisch für Vorwände solchen Auswandems. Wer irgendeinen noch so entfernten Bekannten in Deutschland hat, schreibt an den und hetzt ihn auf mich und leider auch Dich. Das ist alles umsonst; wir brauchen nicht noch mehr russische Emigranten in Deutschland, haben davon schon viel zuviel. Wie würde auch meine Stellung hier wohl sein, wenn ich mich zur Unterstützung solcher Anträge hergäbe. Gerade die absolute Neutralität, die ich dem bolschewistischen Wirtschaftssystem gegenüber bewahre und mit Absicht deutlich hervortreten lasse, bildet die Grundlage meines hiesigen Wirkens, das natürlich nicht den Interessen einzelner Deutscher oder gar Russen, sondern der Gesamtheit unseres Volkes und Staates zu dienen hat. (Nach diesem Brief war ich zunächst bis Weihnachten und Neujahr in Berlin auf Urlaub, wurde dann aber durch eine schwere Grippe und den Tod meiner Mutter bis zur Januarwende dort festgehalten. Daß ich diese Zeit zu Besprechungen im Auswärtigen Amt benutzte und auch in größerer Zahl von Wirtschaftsinteressenten in Anspruch genommen wurde, versteht sich von selbst.)

Moskau, 5. Februar

1922

In den Wochen meiner Abwesenheit hat sich hier unerwartet viel verändert; ich habe manchmal Mühe, in die neuen Verhältnisse mich richtig hineinzudenken. Das Tempo, mit dem die hiesige Regierung dem alten Wirtschaftssystem wichtige Konzessionen macht, ist erstaunlich. Meine Mitarbeiter haben aber alles gut verfolgt, und so werde auch ich sehr bald wieder im Bilde sein. Eine angenehme Überraschung war es für mich, daß mein Büro in der letzten Woche vollständig in unser neues Haus in die Innenstadt hat umziehen können. Das bedeutet für das Wohnhaus eine ganz wesentliche Entlastung und nicht zuletzt für die älteren Mitarbeiter eine bessere Wohngelegenheit. Ich finde dort zwar auch ein angemessenes Arbeitszimmer, werde aber mehr zu Hause bleiben und auf diese Weise

Auszüge

aus den Moskauer

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Briefen

mir viele Besuche und sonstige Störungen fernhalten können. Das neue Haus ist sehr geräumig und in der Verteilung dieser Räume für die Moskauer Verhältnisse der Vergangenheit recht charakteristisch. In dem Frontabschnitt des ersten Stockes bildet den Mittelpunkt ein Festsaal von solcher Größe, daß die Decke von zwei Säulen getragen wird; deren eine ist von Marmor, die andere von einfachem Stuck umkleidet. In diesem Saal hat das ganze Büro untergebracht werden können. Daneben befindet sich mein stattliches Arbeitszimmer, früher der Arbeitsraum des Besitzers. An diese Front schließen sich zwei Flügel an, der eine war für die Söhne des Hauses bestimmt, die je über ihren besonderen Hauslehrer, aber auch je über einen besonderen Wagen mit besonderem Kutscher und Pferd verfügten. Der andere Flügel diente der Hausfrau und den Töchtern, diesen ebenfalls mit je besonderer Gouvernante und besonderem Wagen. Vergleicht man hiermit die Wohnweise der Arbeiter des großen Unternehmens, das der Besitzer dieses Hauses noch allein sein eigen nannte, das also nicht einer Aktiengesellschaft gehörte, so tritt der Unterschied der sozialen Lebensbedingungen Rußlands recht deutlich hervor: in den großen Wohnkasernen — die Fabrik liegt außerhalb Moskaus — waren die Arbeiter vielfach zu vier Familien, je also mit Frau und Kindern, in einem großen Zimmer, das durch Kreidestriche und allenfalls darauf stehende Schränke in vier Sonderräume aufgeteilt war, untergebracht.

In

den beiden

Flügeln

konnte ich schöne Wohnräume für einen Teil meiner Mitarbeiter und nicht zuletzt einen allgemeinen Aufenthaltsraum herrichten lassen, der zugleich für alle Mitarbeiter als Eßzimmer dienen soll. Im Untergeschoß befindet sich, wie früher, die Küche nebst entsprechenden

Vorrats-

räumen.

Moskau, 19. Februar

1922

In der letzten Zeit war besonders unangenehm, daß das AA es nicht für nötig gehalten hat, mich über den Amtsantritt Rathenaus als neuen Minister telegraphisch zu unterrichten. Ich habe die Nachricht glücklich am 16. d. M., vor drei Tagen also, erhalten, vierzehn Tage nach dem Amtsantritt, und war bis dahin in der infamen Lage, den Russen nichts Bestimmtes sagen zu können, sie wohl aber über die Bedeutung dieser Ernennung beruhigen zu müssen. Auch über den Eisenbahner-

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VIII. Auszüge aus den Moskauer Briefen

streik Deutschlands habe ich nichts Authentisches erfahren, war daher ganz ausschließlich

auf das

angewiesen,

was

die hiesigen

kommu-

nistischen Zeitungen brachten, da ja während des Streiks keine deutschen Zeitungen zu mir kommen konnten; Du kannst D i r vorstellen, wie jene schwarz in schwarz gemalt haben. Ein ganz unhaltbarer Zustand! Nächster Tage wird Radek aus Berlin zurück erwartet. E r soll letzthin optimistischer berichtet haben. Ich halte die Berliner Politik, wie sie Maltzan jetzt macht, für außerordentlich gefährlich; es sei denn, daß man entschlossen ist, mit Rußland zu einem endgültigen Abkommen ohne Rücksicht auf England zu gelangen. Dafür scheint mir aber der Augenblick erst dann gegeben, sobald feststeht, daß aus Genua nichts wird. Dann würde Rußland deutlich zeigen, daß es sich infolge seiner schweren wirtschaftlichen Not nicht traut, gegen Frankreich auf dem Kontinent seine Politik zu machen. Dann hat es in der Tat keinen Zweck, noch weitgehend Rücksicht auf England zu nehmen. D a Frankreich noch immer unbelehrbar ist, müssen wir dann in Rußland einen gewissen Rückhalt suchen, so wenig es auch einstweilen an politischer und auch wirtschaftlicher Hilfe uns bieten kann. Dann ist auch nicht ganz ausgeschlossen, daß England schließlich doch energischer für eine verständige Regelung der Reparationsfragen eintritt, um nicht hier im Osten ganz ins Hintertreffen zu geraten. Die Russen würden uns noch immer mit offenen Armen aufnehmen und eine Verbindung mit uns jedenfalls einem Anschluß an Frankreich weit vorziehen. Von hier aus kann ich aber nicht recht übersehen, ob die allgemeine Situation uns einen so wichtigen Entschluß schon erlaubt oder gar aufzwingt;

da

spielen j a auch unsere innerpolitischen Verhältnisse hinein. Sehr interessant war die Aufnahme, die das Gerücht von Rathenaus Ernennung hier gefunden hat. Man war, da Rathenaus England-Einstellung bekannt ist, ganz konsterniert und sah darin eine völlige Abweichung von Deutschlands bisheriger Rußlandpolitik. In einer sehr langen Unterhaltung, die ich darüber mit Tschitscherin gehabt habe, ist es mir schließlich gelungen, ihn etwas zu beruhigen. Ich habe dann auch mit Litwinow, da dessen Auffassung für uns besonders wichtig ist, eine sehr ausführliche Aussprache gehabt, die ungewöhnlich harmonisch verlaufen ist. E s kann nun weiter sachlich von mir gearbeitet werden.

Auszüge

aus den Moskauer

Briefen

139

Gestern war ich auch noch bei Stalin, dem Stellvertreter Lenins in der Partei, der auf mich einen ganz ausgezeichneten Eindruck gemacht hat — vielseitig gebildet und angenehm in der Form; mit ihm habe ich allerhand Projekte besprochen, die ich hier nebenbei verfolge. Morgen sehe ich den Landwirtschafts- und dann noch den Handelsminister. Dann habe ich hoffentlich für die Stimmung etwas getan. In diese Aufgabe fällt auch ein Tee, den ich nächster Tage gebe. Da werde ich für die wirtschaftlich interessierten Mitglieder der Regierung und die des Obersten Volkswirtschaftsrates auf deren Wunsch ein Referat über die Organisation der deutschen Kriegswirtschaft und den Übergang zur Friedenswirtschaft erstatten. E s ist zwar eine etwas heikle Aufgabe, aber wichtig für unsere hiesige Stellung. In der nächsten Woche steigt auch das große Diplomatenessen, mit dem ich mich für die Einladungen revanchiere, die mir vor meinem Urlaub zugegangen waren. Für diesen Abend habe ich einen früheren Maitre d'Hotel gechartert, der mir den ganzen Apparat in Ordnung halten soll. Wir werden 22 Personen sein. Einer feinen Sakuska, die im besonderen Raum nach russischer Sitte aufgebaut wird, soll dann ein entsprechendes Hauptessen folgen. Einschließlich der Weine werden die Kosten nicht weit hinter 10 000 Mark zurückbleiben. Das muß das Reich tragen; solche Ausgaben sind notwendig und dürfen nicht in der sonst hier für uns gebotenen Sparsamkeit gehalten werden. Von zwei Stradivari-Konzerten, die ich kürzlich rasch hintereinander genossen habe, ist von allgemeinerem Interesse der Gegensatz, der darin in den Leistungen hervortrat. Der eine Abend brachte lauter moderne französische Musik; das lag den Künstlern offenbar nicht recht; es wurde wacker schlecht und zum Teil sogar unrein gespielt. Dem folgte aber ein Beethovenabend, und der war wieder ganz prächtig; den Glanz bildete das Septett, das wundervoll herauskam. Ich hatte dazu den Leiter der Stinnesleute eingeladen und habe nachher bei ihm noch lange in lebhafter Unterhaltung gesessen und viel Interessantes von ihm gehört. Das habe ich noch in derselben Nacht mit Graap durchgesprochen. So war es glücklich 2V2 Uhr, bis ich ins Bett kam. Am Abend vorher hatte ich das ganze Personal zu mir eingeladen, um die formelle Ernennung meines Bürovorstehers zum Kanzler würdig zu feiern. Heute beim Roten Kreuz gab es einen Tee zu Ehren der Kasan-

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Vili.

Auszüge

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Expedition, die vor wenigen Tagen zurückgekehrt ist und jetzt teilweise aufgelöst wird. Ein kleiner Rest geht nach Saratow an die Wolga zu den deutschen Kolonisten — für diese ausgerechnet ist der ganze bisherige Apparat zu teuer! Etwas Ähnliches steht in der Krankenhausfrage bevor. Da wird vom Roten Kreuz das viel zu große AlexanderHospital in Petersburg übernommen, weil man die dort tätigen Balten durchhalten will — natürlich auf Reichskosten, während hier in Moskau, wo jetzt der anerkannte Mittelpunkt Rußlands ist, mit einem viel kleineren Krankenhaus und entsprechend geringeren Kosten viel mehr zu erreichen wäre. Ich hoffe, daß es doch noch gelingt, das Moskauer Hospital nach meinem Plan auf die Beine zu stellen. Moskau, 26. Februar 1922 In der Politik sieht es jetzt nicht gerade einfach aus. An die französische Annäherung der Russen glaube ich allerdings nicht; das ist ein Bluff, um uns aus dem Bau zu locken. Daß die Genua-Konferenz vertagt ist oder vielmehr in der Londoner Sachverständigenkonferenz aufgehen soll, ist m. E. für uns gar nicht übel; wir werden ja auch an London teilnehmen. Aber Berlin hat es bisher nicht für nötig gehalten, mich über die Berliner Verhandlungen mit den Russen irgendwie zu informieren. Da soll man nun hier in derselben Linie arbeiten, wenn man die Linie nicht kennt. Ich muß ein Zusammensein mit den Russen geradezu vermeiden, um nicht Fehler zu machen — ein behaglicher Zustand! Ich habe auch an Maltzan deswegen geschrieben und dringend eine Abänderung dieses Verfahrens verlangt. Am liebsten schmiß ich dem Amt den Bettel vor die Füße; das darf ich aber noch nicht tun; wir werden gerade jetzt hier einen eingearbeiteten Beobachter dringend nötig haben. Ich denke aber, daß der Zeitpunkt näher rückt, wo ich es verantworten kann, und dann mache ich Schluß. Ohne Freude an der Arbeit dieses Hundeleben, das ist mehr als der Staat verlangen kann. Lediglich als Berichterstatter genommen zu werden und keinerlei Mitwirkung bei unserer Rußlandpolitik zu haben, dazu bin ich mir zu schade. Da kann ich an anderer Stelle bessere Dienste leisten. Schließlich bin ich doch am Ende berechtigt anzunehmen, daß nicht ich das AA nötig habe, sondern daß die Sache umgekehrt liegt. Ist das AA anderer Meinung, so ergibt sich die Schlußfolgerung, daß die beiden Ansichten sich

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nicht dedien, und daß wir uns trennen müssen. Noch einmal einen Kampf zu führen wie bei der Abteilung 10, einer gegen alle anderen, darauf verzichte ich freiwillig, und noch weniger bin ich gewillt, Hintertreppen zu gehen, um mich durchzusetzen. Sachlich durchleben wir hier jetzt eine sehr bewegte Zeit. Innerhalb der Sowjetregierung toben Kämpfe von größter Schärfe. Es geht jetzt um das letzte Stadium und den Enderfolg. Zwei Gruppen stehen gegeneinander; Lenin ist schwerkrank und muß deshalb auf einem Waldschloß sehr zurückgezogen leben. Persönliche Ehrgeize, Angst um die Stellung spielen in die sachlichen Gegensätze auch hier hinein. Wir müssen uns jetzt sehr zurückhalten. Ith rechne, soweit man so etwas datieren kann, mit 4—6 Wochen dieser Übergangszeit. Besonders schwierig wird es hier sein, die sog. Sachverständigen, die jetzt in größerer Zahl zu kommen anfangen, in der unbedingt notwendigen Zurückhaltung festzuhalten; sie sind doch hierher geschickt, um etwas zu tun und zu erreichen. Ich helfe mir, indem ich zunächst einmal Graap, meinen Hauptreferenten, nach Deutschland schicke; dann fehlt hier der, der die Leute einführen könnte; außerdem lasse ich keinen in der Vertretung wohnen. Da sind wir nicht so belastet mit all dem, was die Sachverständigen machen. Im übrigen müssen wir abwarten. Gute Informationsquellen habe ich in dem Leiter der Stinnesleute und außerdem in einem Vertreter des Merton-Konzerns genug. Moskau, 5. März 1922 Die letzten Wochen standen bei mir im Zeichen einer recht tiefen Depression. Das Ausbleiben jeglicher Nachricht über die Berliner Verhandlungen mit Radek zusammen mit der Ernennung Rathenaus zu unserem Auswärtigen Minister konnte ich mir nicht anders erklären, als daß die Sache schief liefe. Ich war mir aber klar darüber, daß die Verhandlungen, hatten wir uns einmal auf sie eingelassen, zu gutem Ende geführt werden mußten, oder wir mußten uns in vollkommene Abhängigkeit von England begeben. Meine Befürchtungen waren nicht unberechtigt. In der Tat hat Rathenau, der ja von Rußland nichts weiß, und so, wie ich ihn von der Kriegswirtschaft her kenne, theoretischen Konstruktionen nachhängt, die nicht aus der Praxis gewonnen sind, die Verhandlungen zu einem wirklichen Ende nicht kommen las-

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sen. Aber Maltzan hat doch dafür sorgen können, daß der Faden nicht ganz abgerissen ist. Die Situation ist offenbar so zugespitzt, daß er nicht das leiseste Zeichen von sich geben wollte, um midi hier nicht irgendwie voreingenommen zu machen. Der geringste Fehlgriff, auch nur im Ton, hätte bei dieser Lage verhängnisvoll werden können. E r hat mir jetzt durch den Legationssekretär, den ich dafür nach Berlin auf Urlaub geschickt hatte, einen sehr ausführlichen mündlichen Bericht erstatten lassen. Dadurch bin ich mit ihm wieder in Einklang gekommen. Audi er ist übrigens unter der scharfen Spannung fast zusammengebrochen und schwer an einer Grippe erkrankt, die das Ergebnis einer nervösen Überspannung sein soll. Ich denke es mir wahnsinnig schwer nach meinen Kriegserfahrungen, mit Rathenau zusammenarbeiten zu müssen. Ich bin nur froh, daß ich jetzt wenigstens die Situation wieder übersehen und hier wieder arbeiten kann, und erst recht, daß ich nicht im Amt selber sitze. Aber es waren schwere Wochen voll banger Sorge. Moskau, 20. März 1922 Politisch sieht es im Augenblick nicht besonders gut aus, aber ich weiß jetzt wenigstens Bescheid. Die Sache liegt so: Radek hat sich schließlich nicht nur im Ton bei den Berliner Verhandlungen vergriffen, sondern auch von Anfang an sachlich die Situation falsch eingeschätzt, indem er die Wirkung seiner Drohung mit Frankreich zu hoch genommen hat. Dadurch sind die Verhandlungen so verzögert worden, daß Rathenau Minister werden und eingreifen konnte. Dann ist Radek dem empfindlichen Mann vollends auf die Nerven gefallen, und man kam nicht vorwärts. Auch Rathenau scheint sich einmal recht arg vergessen zu haben, was dann durch eine Rede des Reichskanzlers im Reichstag wiedergutgemacht werden sollte, wie Radek triumphierend hier überall erzählt; das ist schon reichlich, aber schlimmer ist, daß die hiesigen Gegner Radeks diese Sache benutzen, ihn aus seiner bisher sehr einflußreichen Position zu verdrängen, und daß dies ihnen auch, zu gutem Teil wenigstens, vorläufig gelungen zu sein scheint. Damit haben wir durch Radeks und eigene Fehler eine wichtige Stütze unserer Politik zunächst kaltgestellt bekommen. Da werden wir unsere Taktik wohl etwas ändern müssen; wir werden schwerlich in der Lage sein, Radek, der gestern wieder nach Berlin gefahren ist, so viel zu bieten, wie er

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braucht, seine hiesige Position wieder ins Gleichgewicht zu bringen, da hierzu ausführliche Verhandlungen mit der deutschen Industrie erforderlich sind. Also müssen wir jetzt abwarten und uns den Weg nach England offenhalten, natürlich aber vermeiden, etwa reine Schleppenträger Englands zu werden. Ganz verbaut ist uns ja der Weg zu Rußland nicht, zumal dieses ja auch nicht nur Objekt der englischen Politik sein will. Mir ist aber vor Rathenau als Minister bange; er glaubt etwas geschaffen zu haben, wenn er eine Form gefunden hat, und hängt allem Anschein nach einstweilen noch an dem Gedanken, über England mit Rußland zu einem gewissen Zusammenarbeiten zu gelangen. In umgekehrter Richtung ist meiner Überzeugung nach der Weg aussichtsreicher. Besonders auffallend ist die Nervosität, die sich bei den hiesigen Regierungsleuten bemerkbar macht. Man sieht den Monaten Mai/Juli mit recht großer Sorge wegen der Ernährung entgegen. Auch ich warte mit Schmerzen auf die sechs Eisenbahnwaggons, die uns die schon vor Weihnachten bestellten Lebensmittel endlich bringen sollen. Aber für uns ist es schließlich nur eine Geldfrage; die tausend Bedenken, die AA und Reichsfinanzministerium gegen unsere Bestellungen hatten, kommen dem Reich dank der Preissteigerung recht teuer zu stehen. Auch das für midi bestimmte Auto habe ich noch längst nicht; vielleicht ist es jetzt in Reval angekommen und wird dann so gegen Ende April vielleicht hier sein. Wer kümmert sich denn in Berlin um so etwas, wie die Vereisung der Ostsee. Ist einmal der Seeweg bestimmt, so wartet man eben, bis er wieder offen ist. Inzwischen habe ich für uns auf meine Privatrechnung einige Postpakete Schokolade bestellt, und Gemüse, Früchte, Würstchen werden auch noch privat bestellt werden. Wir haben also keine wirkliche Not zu leiden. Für die Russen sieht es aber schlecht aus. Die Preise steigen hier so enorm, daß man schon mit etwa 500 000 Rubel für das russische Pfund Brot glaubt rechnen zu müssen (70—80 Mark). Bei einer meiner Abendgesellschaften kostete die Butter für die Vorspeise mehr als der ganze ausgezeichnete Kalbsrücken, da wir in Fleisch gut eingedeckt sind. Habt Ihr noch so starken Frost? Wir drehen uns etwa um die 10° unter Null herum. Das ist nicht arg und außerdem gerade f ü r dieses Jahr sehr gut. Dadurch schiebt sich der Frühjahrszustand, die „Wege-

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losigkeit", wie man sie hier nennt, noch etwas hinaus, und das Saatgut kann noch von der Eisenbahn aus in die Dörfer gefahren werden. Bei dem Tauwetter, das wir gelegentlich gehabt haben, war aber Moskau fürchterlich. Jede Autofahrt war eine Gletschertour; so folgten sich auf den Straßen die gefrorenen Schneerücken und Tieftäler. Man hatte den zu Eis gewordenen Schnee in regelrechten Stollen aufgeschichtet, und da taute er nun hemmungslos in die Straße hinein. Bei Schnee dagegen ist die Stadt prächtig. Moskau, 28. März

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Die vergangene Woche war nicht so geruhsam, wie ich eigentlich gedacht hatte. Mit Krupp war nach langen Verhandlungen endlich ein Vertrag zustande gekommen, in dem es sich um einen großen Landkomplex im Kubangebiet (nördlich des Kaukasus) handelt, auf dem Krupp seine landwirtschaftlichen Maschinen anwenden und den dortigen Kosaken zeigen soll. Das war für mich ein willkommener Anlaß, zu einem größeren Essen die Männer des

Außenhandelskommissariats

einzuladen, die mich als Gegner ihres Monopolstrebens betrachten und darin eine persönliche Gegnerschaft erblicken. W i r haben uns einmal gründlich ausgesprochen, und ich denke, das Kriegsbeil ist nunmehr begraben. Politisch bandelt sich allerhand an. Die Russen scheinen nun doch einzusehen, daß sie mit Frankreich nicht zu Rande kommen können, und deshalb stärker wieder zu uns zu kommen. Heute fährt Litwinow nach Berlin, um die von Radek fallengelassenen Fäden wiederaufzunehmen. Auch unser Minister soll schon, wie mir Maltzan hat bestellen lassen, von seiner bisherigen starren Haltung abkommen. Es sieht so aus, als wenn wir doch noch uns irgendwie einigen werden. Wenn das eintritt, atme ich auf. Schauerlich sieht es jetzt in den Hungergegenden, vor allem an der Wolga aus. Das ist aber so weit von hier, daß kaum von hier aus, geschweige von Europa, wirksame Hilfe gebracht werden kann. Gewiß hat diese Entfernung für uns das Gute, daß die Auswirkung, vor allem der Hungertyphus, nicht bis hierher kommt. Ich werde aber doch froh sein, wenn ich endlich die ganze Sendung von Lebensmitteln hier habe, die in der nächsten Woche kommen soll. Für die große Schar von Menschen,

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die hier in der Vertretung, in der Kriegsgefangenen-Fürsorgestelle und beim Roten Kreuz tätig sind, die Verantwortung zu tragen, ist nicht ganz leicht. Der gestrige Montag, unser Kuriertag, war so toll, wie ich ihn noch nie erlebt habe. Zwei der „Sachverständigen", die gestern zusammen mit dem Kurier wieder nach Hause gefahren sind, hatten ausgerechnet an diesem Tage mir noch allerhand mitzuteilen; sie wußten es zwar schon lange, sie hatten es sich aber aufgespart, obwohl sie den Betrieb solcher Kuriertage schon miterlebt hatten. Dabei mußte ich noch einige Berichte selbst diktieren, weil das Material nicht früher fertig geworden war, und hatte schließlich, als einer der Sachverständigen einen mächtigen Krakeel wegen seines Koffers machte, in die Verhandlung persönlich einzugreifen, wobei es mir schwer wurde, die Ruhe zu bewahren; denn es ging einmal wieder um das Versiegeln von Koffern, das wir wegen des verbotenen Inhalts ablehnen mußten. Für die Sachverständigen einen passenden Wohnraum zu beschaffen, ist bei der größeren Zahl, die hier jetzt einzutreffen pflegt, eine besondere Schwierigkeit. Mein Kanzleidiener hat sogar schon sein Bett in dem obersten Fach eines großen Aktenschrankes aufgeschlagen, weil alle Zimmer, über die wir verfügen können, besetzt sind und nicht einmal eine Bettstelle noch frei ist. Ich bin nur froh, daß meine Leute trotz allem den Humor nicht verlieren und von einer geradezu bewundernswerten Arbeitswilligkeit sind. Es geht auf keine Kuhhaut, was wir alles hier können müssen, und die Rücksichtslosigkeit, mit der unsere Hilfe bei den kleinsten Kleinlichkeiten beansprucht wird, ist wahrhaft rührend; es ist ja so bequem, die Vertretung einzuspannen, anstatt selbst nachzudenken oder gar einen Dolmetscher zu nehmen. Ich habe schon für jede Hilfeleistung von greifbarem Umfange feste Gebühren eingeführt; den Paß besorgen, kostet z. B. eine Million Rubel und kommt dem Hilfsfonds zugute, den ich hier in der Fürsorge für die Kriegsgefangenen dringend notwendig habe. Der Krupp-Vertreter schlug schließlich nur noch die Hände über dem Kopf zusammen, als er einmal etwas länger bei uns zu tun hatte und nun den Betrieb gründlich sah; so etwas von Mittelpunkt aller Deutschen hätte er noch nicht erlebt. Gestern bin ich aber doch dazwischengefahren, als ausgeredinet am Montag ein paar Leutchen meinen Kanzler mit Dingen behelligten, die ebensogut am Dienstag oder sonstwann erledigt werden konnten. 10 Wiedenfeld, Zwischen Wirtschaft und Staat

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Der vorige Kurier hat mir übrigens noch eine sehr erfreuliche Nachricht gebracht. Der Minister, der wohl den Eindruck seiner Reden verwischen will, kann sich plötzlich in der Anerkennung der Wichtigkeit des Moskauer Postens nicht genug tun und hat deshalb beschlossen, mir noch einen älteren Botschaftsrat beizulegen. Das würde einen schon lange von mir gehegten Wunsch erfüllen, weil ich es mit meinem Betrieb kaum noch bewältigen kann. Ich verspreche mir eine ganz wesentliche Entlastung. Der neue Mann kann dann die „politischen" Gespräche führen, die mir den Bierbank-Gesprächen so verteufelt ähnlich vorkommen und deshalb nicht liegen, die aber ein zünftiger Diplomat zu pflegen gewohnt ist. Heute war ich in einem Nikisch-Gedächtnis-Konzert, in dem Tschaikowskis Pathetische nicht gerade schwungvoll und Mozarts Requiem ganz wundervoll gespielt wurden. Nach dem Schluß ließ ich mir den Direktor der Philharmonie, die Dirigenten und die Solisten vorstellen, um ihnen für diese Ehrung unseres Nikisch zu danken. Es ist doch hocherfreulich, zu sehen, mit welch tiefem Verständnis unsere Klassiker der Musik aufgenommen und mit welcher Anerkennung trotz des Krieges noch der Künstler gedacht wird, die hier deutsche Musik zur Geltung gebracht haben. Es ist charakteristisch, daß es sogar in rein privater Form hier in Moskau eine Brahms-Vereinigung gibt, zu der sich eine Anzahl von russischen Familien zusammengefunden hat. Politisch ist in der vergangenen Woche nichts Besonderes los gewesen. Da die Russen am Montag unter gewaltiger Heimlichtuerei nach Genua abgedampft sind — einige schußbereite Tschekisten auf der Lokomotive und einige in jedem Wagen —, so ist jetzt stille Zeit. Ich benutze sie, midi mal wieder um den inneren Betrieb etwas mehr zu kümmern; ich brauche z. B. dringend eine Dame, die russisch schreibt und spricht. Was alles hier passiert: Aushilfsweise beschäftige ich jetzt eine Freifrau v. B., deren „Ehemann" sich als reiner Schwindler entpuppt hat. Er war in der Fremdenlegion und hat sich dann nach Tiflis durchgeschlagen, dort das hübsche Mädchen aus sehr guter deutschgeorgischer Familie geheiratet und wollte jetzt mit ihr nach Deutschland. Hier in Moskau stellte sich heraus, daß er in Tiflis die Gesandtschaftskasse und einige Angestellte bestohlen und sonst noch einiges verbrochen hat, vor allem aber, daß er einen falschen Namen trägt. Er

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sitzt jetzt hier im Gefängnis, und sie arbeitet in meinem Büro. Was mich dabei besonders eigentümlich berührt, das ist das Merkwürdige, daß seine Angaben alle auf den Familiennamen B. gingen, aus der die Frau meines Posener Kollegen stammt. Weiß der Kuckuck, wo er diese Kenntnis und diese Papiere her hat. Meine Juristen doktern jetzt über die Frage, wer diese Ehe zu scheiden hat; ich jedenfalls nicht, da ich keine standesamtlichen Befugnisse habe. Moskau, 9. April 1922 Das Ereignis der vergangenen Woche war ein Musikabend, zu dem ich eigentlich ohne meinen Willen gekommen bin. Kapellmeister Dobrowen von der Großen Oper hat mir sein Streichquartett f ü r einen Abend eingeladen und der Sicherheit halber die führende Altistin gleich dazu. Ich habe natürlich nicht nein gesagt und großen Genuß gehabt und Freude gemacht. Die Streicher (Prof. Zeitlin und drei seiner besten Schüler) spielten russische Quartette von Borodin, Glasunow und Rachmaninow. Das war ganz prächtig. Die Sängerin sang mit ihrem sehr schönen Alt einige russische Lieder, alles bis etwa 12 Uhr. Dann wurde gegessen und dann, statt daß die Leute so gegen 1 Uhr nach Hause gingen, setzte sich die Sängerin ans Klavier und spielte russische Tänze. Da einige junge Frauen (Frau Dobrowen und Kusine) dabei waren, gab es kein Halten. Teppich beiseite, Tisch und Stühle desgleichen, und mein schöner Salon in all seiner Renaissancewürde sah auf dem großen Grundteppich die kühnsten Kombinationen von russischen und ganz modernen Tänzen durch die jungen Leute ausgeführt. Dann setzte sich Dobrowen an den Flügel, und nun ging es vollends los. Die Sängerin tanzte russisch in köstlich graziöser Weise. Als Begleitung n u r ein Taschentuch in der Hand, wie es zu den russischen Tänzen gehört. Es wurde immer ausgelassener, zumal ich noch ein Glas Sekt spendierte, und um vier Uhr erst ging das letzte Auto los. Das Quartett wird von nun an bei mir üben, da es sonst nirgends einen warmen Raum zur Verfügung hat. Allgemein bewundert wurde mein Diener, der schnell aus Draht noch zwei feine Notenpulte gemacht hatte und in seinem schwarzen Anzug mit weißem Schlips entschieden verführerisch aussah. Unter den anderen Gästen war auch der Industrielle Heuß, der hier seinen früheren Eigenbetrieb als Direktor leitet, mit seiner Frau, und 10'

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ein früherer Großgrundbesitzer Ugrimow mit Frau, der jetzt an der hiesigen Universität die Agrarwissenschaft lehrt und mir schon viele Dienste durch seine Auskünfte geleistet hat; so habe ich wieder viel gehört, was mir sogar Stoff zu amtlidien Berichten geliefert hat. Der Agrarwissenschaftler hat, übrigens ebenso wie seine Frau, an der Universität Leipzig den Doktor gemacht; beide sprechen also fließend deutsch. Wie hoch übrigens in Rußland die Musik geschätzt wird, kann ich jetzt besonders deutlich erkennen: man wartet nämlich auf das Auftreten des Sängers Schaljapin, und von dem redet man nur mit verzückten Augen; sein Honorar für einen Abend ist IV2 Milliarden Rubel, die Eintrittspreise entsprechend hoch, und doch wird es schwer halten, Plätze zu bekommen. Politisch macht sich jetzt geltend, daß Rathenaus Verhalten den Abschluß der Verhandlungen um reichlich acht Wochen verhindert hat. Jetzt sieht es so aus, als ob wir durch die Entente-Note erst zur Nachgiebigkeit gebracht worden seien, und das wird auch von den Russen so dargestellt. Ein unmittelbares Wirken erwarte ich sowieso nicht von der Einigung, höchstens ein etwas leichteres Arbeiten hier mit den Behörden; aber wir haben doch etwas Rückhalt gegenüber Frankreich erhalten, und dieses Gefühl erleichtert das Geduldhaben. Warum die neue Reparationsnote so fürchterlich viel Staub aufgewirbelt hat, ist mir hier nicht recht klargeworden. Sie läuft doch ganz auf dem Gleis, in dem die Entente sich seit langem bewegt und uns vor sich herschiebt oder vielmehr pufft. Solche Dinge werden wir noch viel erleben, und es entspräche meiner Auffassung von deutscher Würde viel mehr, wenn wir solche Zumutungen wenigstens von Regierungswegen rein sachlich und ohne jedes Geschrei behandelten. E s gibt ja doch nur ein einziges Ziel: immer noch Zeit zu gewinnen, bis Englands Situation in der Welt fester geworden ist und vielleicht auch Amerika einsieht, daß Europa noch vorhanden ist; bis dahin gilt es, die Besetzung des Ruhrgebietes, Frankreichs Traum, zu verhindern. Haben wir den Weg des ewigen Nachgebens, den wir bis zur völligen Einstellung unseres ganzen Volkes auf Weltpolitik nicht hätten verlassen dürfen, viel zu früh durch das Einlassen auf den Krieg tatsächlich doch verlassen, so müssen wir jetzt die Folgerungen mit zusammengebissenen Zähnen ziehen und noch viel mehr nachgeben, als wir es

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ohne den Krieg und seinen Ausgang nötig gehabt hätten. E s gibt doch noch recht weite Kreise bei uns, die sich über die Zusammenhänge des Weltgeschehens so gar kein Urteil bilden und die noch immer nicht einsehen, was es heißt, jetzt von vorn anfangen zu müssen. Man soll nicht immer von nationaler Ehre reden, sondern durch die Tat die nationale Würde wahren, d. h. heute weiter nichts tun, als das Reich in seinem Bestände und den Kreisel im Drehen zu erhalten, damit vielleicht unsere Enkel oder auch Urenkel wieder freie Menschen werden können. Aber wer denkt denn heute bei uns staatlich! wo

unsereins

in

Deutschland

selbst

nötig

E s naht die Zeit,

wird

und

vor

allem

unserem Beamtentum ins Gewissen reden muß. Bei den Alten hat es ja wenig Zweck, aber die junge Generation muß wieder aus den Schichtempfindungen herausgeholt und ins Staatsfühlen hineingehoben werden. Einstweilen tue ich dies hier mit meinen beiden Legationssekretären so nachts zwischen 1—3 Uhr, wenn sonst alles still ist. Ich kann es noch, und es ist doch meine beste Seite. Herrgott sakra, was habe ich kürzlich von einem befreundeten Beamten wieder für einen Brief bekommen! Allgemeines Geschwabbel vom Verstand, der nur wenigen gegeben sei — als ob eine ganze Schicht wenige wären —, und von Mangel an Nationalgefühl bei den Sozi — als ob dies Gefühl so ganz von selber kommen könnte und nicht ausschließlich durch eine entsprechende Heranziehung zur Staatsverwaltung eingeimpft werden müsse. Aber kein Wort davon, ob es für einen Staatsbeamten sich gehört, mit Schieberkreisen intimen Verkehr zu haben und Kriegsanleihe zu verkaufen, um mit dem Erlös an der Börse zu spekulieren. E s ist die Antwort auf einen Brief, den ich selber dem Freunde geschrieben habe, und er schreibt daher, als ob ich der Mann wäre, irgend jemandem seine politischen Anschauungen übelzunehmen; er zeigt aber nicht das leiseste Verständnis dafür, daß ich allerdings in Fragen der Moral, die von einem Staatsbeamten zu verlangen ist, keine Kompromisse kenne. Ich wünschte meinem Freunde und seinesgleichen ein paar Monate russischen Aufenthalts. Dann könnte er sehen, was Menschen starken Nationalstolzes aushalten können, selbst wenn ihnen das herrschende System in der Seele zuwider ist. Ich freue mich doch sehr, daß ich gerade mit einigen Beamten hier Fühlung bekommen habe.

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Ganz etwas anderes: Am Freitag ist das Eis der Moskwa aufgegangen mit einem so prachtvollen Eisgang, wie ich es noch nie gesehen habe. Der merklich anschwellende Strom, im Sommer ein Rinnsal, saust bergab in rasendem Tempo und trägt dabei die Eisschollen von mächtiger Größe, die zum Teil zu Hügeln sich aufbauen. Der Kontrast des weißen Eises zu dem tiefschwarz wirkenden Wasser gab namentlich bei Sonnenuntergang ein ganz wunderbares Farbenbild. Ganz Moskau sozusagen stand an den Ufern. Dieser „Frühlingsanfang" war früher regelrecht ein allgemeines Volksfest. Sonst merkt man den Frühling auch hier an der allgemeinen Schlappheit und Schlaflosigkeit, von der auch meine jungen Leute wie ich selbst nicht frei sind. Das wird so etwa 14 Tage dauern, dann ist die Luft wieder im Gleichgewicht. Soeben wird mir das Eintreffen unserer Lebensmittel gemeldet. Es scheint, daß wir nur einen Waggon „unterwegs" gelassen haben. Da bin ich eine nicht geringe Sorge los. So etwa drei Wochen war meine Nahrung stark auf Kaviar und schwammiges Weißbrot aufgebaut; Kaviar eine schöne Sache, aber drei Wochen sozusagen davon leben — schauderhaft. Moskau, 17. April 1922 Hier ist jetzt im vollsten Sinne des Wortes Frühling, ja beinahe Sommer geworden. Ostern spielt ja immer eine ganz fabelhafte Rolle, und diesmal war es wirkliche Befreiung vom Winter, der ziemlich genau bis Gründonnerstag mit Frost und Schnee geherrscht hat. Ostern (gestern) war alles in hellen Kleidern. Die ganze Welt sah sich anders an als noch vorgestern. Sehr interessant war das Osterfest, das ich in folgender Weise verlebt habe: Am Sonnabendabend war das Ehepaar Dobrowen bei mir, und mit ihm bin ich um V2I Uhr zur großen Kathedrale zum Ostergottesdienst gefahren. Da war es derart erdrückend voll, daß wir draußen bleiben mußten und nun sahen, wie eine ganze Menge bewußtlos gewordener Menschen über die Köpfe hinweg aus dem Innern hinausgeschafft wurde. Wir hörten uns die russische Messe von einem verstohlenen Winkel aus an, wo wir ausgezeichnet hörten, doch natürlich nichts sahen. Wir warteten dann vor der Kirche auf den Umzug der Geistlichkeit. Dabei stiegen Raketen in die Höhe und läutete die große Glocke ihren prachtvollen tiefen Ton. Alles war

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sehr feierlich und durch nichts gestört. Bei der Abfahrt hätte es beinahe Streit gegeben. Mein Auto war nicht, wie ich angeordnet hatte, an einer entfernteren Stelle geblieben, sondern bis dicht an die Kirche selbst herangefahren und tutete nun, als wir nicht kamen. Das nahm die Menge übel und hielt das Auto, als wir dazu gekommen waren, mal erst an. Ein Mann trat an uns heran und erklärte uns sehr bestimmt in höflichster Form: es sei sehr ungehörig, wenn so ein Volkskommissar sein Auto an die Kirche fahren und tuten ließe; das verbäte man sich in der jetzigen Zeit. Als er dann aber hörte, daß ich kein Volkskommissar, sondern der deutsche Vertreter wäre, und von mir auf mein Fähnchen aufmerksam gemacht wurde, da entschuldigte er sich sehr warm und gab den Weg frei; beides recht charakteristisch, aber es war doch gut, daß mein Fahrer sich nicht aus der Ruhe hatte bringen lassen. So kamen wir gegen 2 Uhr ungefähr zu Debrowen, wo unser das Ostermahl wartete. Das ist hier eine große Sache. Der Russe fastet noch immer ziemlich streng, zumindest die letzten zwei Wochen, wenn auch nicht mehr die ganzen sieben Wochen der Fastenzeit, und von Gründonnerstagabend ab genießt er nur noch etwas Tee und Wasser. Das holt er dann in der Nacht zum Sonntag nach dem Gottesdienst ordentlich nach. Und dies machen auch die Nichtrussen mit. Kulitsch, eine Art Stollen, und vor allem Paschia (Osterspeise) wird in Massen vertilgt. Paschia enthält so ziemlich alles, was während des Fastens hat entbehrt werden müssen: Milch, Butter, Sahne, Rosinen, Mandeln und noch einiges mehr, ist natürlich enorm schwer. Gegen 5 Uhr waren wir dann glücklich wieder zu Hause. Natürlich wurden zwischen Dobrowens und mir auch, wie üblich, Ostergeschenke ausgetauscht. Am Sonntag mußte ich verhältnismäßig früh aufstehen und fuhr dann, um einen Wunsch des deutschen Generalsuperintendenten Meyer zu erfüllen, zur Konfirmations- und Osterfeier in die deutsche evangelische Kirche. Es war eine sehr schöne Feier, Meyer sprach sehr warm und gut zu den Konfirmanden, die Liedertafel sang recht schön, nachdem sie eigens dieser Feier wegen vor vier Wochen wieder aufgetan worden ist. Aber es war bitter kalt in der Kirche. Ich fror trotz Pelz gründlich, und so ging ich nach 2Y2 Stunden von dannen, als das Abendmahl den Konfirmanden gereicht war und eine endlose Zahl

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sonstiger Kommunikanten antrat. Die Feier war für mein Empfinden zu lang; wir sangen nicht weniger als acht Kirchenlieder ungekürzt, darunter eins von allein acht langen Strophen. Ich habe wieder einmal die unendlich viel geschicktere, den Menschen angepaßte Regie der katholischen Kirche bewundern müssen. Aber Meyer wollte eben beides: Konfirmation und Osterfeier zu seinem vollen Recht kommen lassen. Von der Kirche fuhr ich zu meinem Büro, wo ich die dort wohnenden Beamten und Angestellten österlich begrüßte, dann in mein Wohnhaus, wo ich am gemeinsamen Mittagessen teilnahm und die Frau des Hauskommandanten, eine Estin, neben mich nötigte. Am Nachmittag war Tee auf der Terrasse, wozu ich sämtliche Beamte und Angestellte eingeladen hatte. Als es kühler wurde, haben wir uns im Garten mit allerhand kindlichen Spielen gewärmt und schließlich sogar zu einem Grammophon getanzt. Gegen 9 Uhr ging alles hochbefriedigt auseinander. Meine beiden Legationssekretäre, das Hauskommandantenehepaar haben dann noch mit mir unser Abendbrot gegessen. Um 12 Uhr schlief ich den Schlaf des Gerechten. Am zweiten Feiertag war ich zum Ostertee in die Familie eines früheren hohen Beamten eingeladen, dessen Tochter als Geigenkünstlerin früher öffentlich aufgetreten und mit einem Mann verheiratet ist, der früher als Oberst im zaristischen Dienst gestanden hat und jetzt in der Sowjetarmee wiederum Dienst tut. Hier gab es wieder Kulitsch und Osterspeise, außerdem aber sehr schöne Musik. Der Vater bläst vorzüglich die Flöte, das Trio der Tochter war vollzählig; da treffe ich außerdem immer frühere Beamte und aktive Offiziere. So höre ich immer allerhand über die allgemeine Stimmung, zumal ich jetzt russisch so weit verstehe, daß ich mir erzählen lassen kann, ohne für jedes Wort einen Dolmetscher zu brauchen. Es war auch diesmal recht angeregt. Gegen Abend drückte ich mich aber, um noch auf meinem Balkon den Tag zu genießen und von den Strapazen, die es wirklich waren, mich auszuruhen. Auch die russische Regierung hatte in diesen Tagen vollständig Schluß gemacht. Trotz aller Kirchenfeindlichkeit war von Freitagmittag an keine Katze im Außenkommissariat; sonst hätte ich eine wenig angenehme Sache, die Verhaftung eines Reichsdeutschen, in diesen Tagen noch betreiben müssen. Ich habe aber auch keine Telegramme be-

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kommen, da die ja sämtlich erst durch das Außenkommissariat gehen müssen. So intensiv macht man hier Ostern: 3, 4 Tage — Schluß! Mein Büro hat dies benutzt, um Reste aufzuarbeiten. Ich habe ihm aber diese Tage auch freigegeben. Es ist wirklich eine Freude, wie eifrig meine Leute sind. Da ist es leicht, ihnen freundlich zu sein. Für nächste Woche erwarte ich von Berlin den Chef der Kriegsgefangenenfürsorge, der hier Ordnung in den etwas verfahrenen Stall bringen soll. Man hatte nämlich von Berlin zur Ablösung Hilgers, der nur noch die Stelle des Roten Kreuzes leitet, einen Mann hergeschickt, der wie ein Elefant im Porzellanladen gehaust hat und deshalb von mir schon zum 1. des Monats kaltgestellt worden war. Dieser Mann ist aber der Freund eines Freundes eines Berliner Ministers, und ich rechne damit, daß jener General meine Anordnungen irgendwie rückgängig zu machen versuchen wird; doch wird ihm das vorbeigelingen. Dieser Kampf — wozu das Reich nicht alles Geld hat? — wird wohl etwa acht Tage dauern, bis wieder ein Kurierwagen den General davonträgt. Wie sich übrigens die Verhältnisse auch hier gewandelt haben, zeigt Dir der eine Umstand. Ich schrieb Dir vor etwa 4 Wochen, daß ich für mich hier als feste Summe 30 000 Mark monatlich beantragt hätte und damit gut auszukommen rechnete. Jetzt muß ich dem Amt berichten, daß ich für den April 60 000 Mark als Minimum fordern und eine Erhöhung schon für den Mai vorbehalten müsse. So sind hier die Preise gestiegen, während die Mark ungefähr auf dem gleichen Kurs angelangt ist wie zu Mitte März. Mir ist es eine große Beruhigung, zu wissen, daß unser Riga-Gesandter monatlich 90 000 Mark bekommt. Berlin scheint auch unsere Ansprüche nicht hoch zu finden, ist übrigens zu gutem Teil an der Erhöhung unserer Lebenskosten selbst schuld; es hat die Hersendung der Lebens- und Tauschmittel so verzögert, daß wir alles auf dem Markt haben kaufen müssen. Morgen hoffe ich die Sendung endlich aus dem Zoll herauszubekommen, bis auf jenen einen Waggon, der irgendwo auf der Straße mit gebrochener Achse liegengeblieben ist und erst umgeladen werden muß. Ich habe doch wahrhaftig noch seinetwegen ins Außenkommissariat gehen und mich beschweren müssen, um die Regelung der Zollfrage in die Zeit nach Auslieferung der Waggons verlegt zu bekommen. Auf die Aufforderung, für unsere

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Häuser nun endlich die Miete zu zahlen, reagiere ich nicht mehr; die Forderung ist so hoch, daß ich mich hinter unsere Gegenforderung (Zerstörung der Petersburger Botschaft) zurückziehe, so geht es am einfachsten. Jetzt erhalte ich jeden Monat eine Rechnung, bezahle immer den Teil, der sich auf Wasser pp. bezieht, und schweige mich über den Rest aus. Was man hier nicht alles lernt! Schlimm ist, daß man in Berlin noch immer glaubt, mit den russischen Emigranten es nicht verderben zu dürfen. Dabei denken hier gerade die nichtbolschewistischen Kreise denkbar hart über dies „Gesindel", das sich den hiesigen Schwierigkeiten entzieht und diese durch seine Interventions-Politik für die Hiergebliebenen nodi ins Ungemessene vermehrt. Ich merke dann immer wieder, wie wichtig es für unsere Stellung ist, daß ich auch Fühlung mit hiergebliebenen Mitgliedern des alten Systems habe. Dazu brauche ich meine musikalischen Abende, da sonst diese Leute es nicht riskieren könnten, zu mir zu kommen; ganz abgesehen davon, daß wir die kulturellen Verbindungen pflegen müssen, um nicht in den Ruf einseitig wirtschaftlicher Ausbeutungsabsichten zu gelangen. Mein Musikfimmel ist in Moskauer Künstlerkreisen schon so bekannt, daß ich immer wieder angegangen werde, ob ich nicht diesen oder jenen Künstler einmal einladen wolle; er habe darum gebeten, ihm dies zu vermitteln. Gut so! Das wird in weiteren Kreisen bekannt und macht für uns allgemeine Stimmung. Vor ein paar Tagen habe ich einmal wieder seit langer Zeit Frau Radek zum Frühstück bei mir gehabt. Sie rief mich an wegen ihrer Ausreise und war, da ihres Mannes Stellung momentan etwas erschüttert ist, offenbar sehr erfreut über meine Einladung. Bei dieser Gelegenheit habe ich sie für meinen Plan interessiert, hier ein deutsches Krankenhaus zu errichten, für das ich das Geld auch schon von Deutschland aus zugesichert bekommen habe, das aber die Russen einstweilen noch an unmögliche Bedingungen knüpfen. Frau Radek bemüht sich selbst um ein Krankenhaus für die höheren Beamten, die — nach ihren Worten — doch auf eine andere Umgebung Anspruch haben als ein gewöhnliches russisches Krankenhaus. Das ergab einen Kuhhandel: sie soll mir zu der Konzession des deutschen Krankenhauses verhelfen, und ich reserviere darin nach ihrem Wunsch zehn Betten für Russen. Hoffentlich gelingts.

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Moskau, 23. April 1922 Das Rapallo-Abkommen war auch für mich eine große Überraschung. Ich hatte wenige Tage zuvor noch ein Telegramm aus Berlin erhalten, wonach die dortigen Verhandlungen mit den Russen keineswegs so glatt verlaufen waren, wie es nach den Zeitungsmeldungen schien, und daß sie vor allem noch nicht zum Abschluß geführt hätten; Rathenau wollte also wohl an die Sache nicht heran, ehe er nicht Englands sicher war. Da bekam ich am Osterdienstag frühmorgens durch Frau Radek die erste Nachricht, daß in Genua eine Einigung zwischen uns und den Russen erzielt sei, und bald darauf auch — ganz ungewöhnlich prompt — von Berlin her ein Telegramm mit dem wichtigsten Inhalt des Abkommens. Es scheint mir ganz so zu sein, wie Maltzan es von Anfang an angestrebt hat, und für mich nehme ich das Verdienst in Anspruch, trotz Scheiterns der ersten Berliner Verhandlung und trotz Rathenau hier in Moskau die Stimmung der Russen einigermaßen hochgehalten zu haben. Es war eine verflucht saure Arbeit und voller unangenehmer, selbst peinlicher Situationen, die an meine Nerven immer wieder recht hohe Anforderungen stellten, zumal ich wochenlang von Berlin aus nur wenig Ermunterndes hörte. Wäre ich nicht so felsenfest davon überzeugt, daß der Weg über Rußland führt, der uns langsam, sehr langsam wieder in die Reihe der wirklichen Großmächte hineinstellt, so hätte ich wohl kaum durchgehalten. Das Gefasel „deutscher Patrioten", die ebenfalls von Rußland sich allerhand für unsere Zukunft versprechen, war nicht gerade dazu angetan, die eigene Zuversicht zu stärken; liegt doch die Hilfe, die ich erwarte, auf ganz anderem Gebiet als dem, wo sie jene suchen. Mit Schrecken denke ich noch an allerhand Gespräche, die ich hier mit den sog. Sachverständigen aushalten mußte, als ob das gänzlich zurückgeworfene, völlig erschöpfte Rußland uns wirtschaftlich in naher Zeit wirklich viel helfen könnte! Nein, wirtschaftlich müssen wir ihm helfen, wieder auf die Beine zu kommen, indem wir ihm auf Kredit die ihm fehlenden, aber notwendigen Produktionsmittel liefern. Und das wird uns schwer genug werden. Aber gerade diese Aufgabe ist es, an der wir uns wieder recken und uns wieder auf unser Bestes besinnen werden. Gerade weil in näherer Zeit keine, nicht die geringste Aussicht besteht, aus Rußland nennenswerte Gewinne herauszubekommen und dadurch unseren Lebensstandard wieder zu

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erhöhen, darum erstrebe ich den Anschluß. Arbeit um der Arbeit willen f ü r unsere Wirtschaft — das ist das, was wir brauchen, und wirtschaftliche Arbeit um des politischen Erfolges willen. Diesen erwarte ich von der Rücksichtslosigkeit, die sich Rußland leisten kann und die es uns ebenfalls aufdrücken wird. Rußland ist nicht gehemmt durch die Erinnerung an vergangene Genußzeiten; die ist durch Jahre Bolschewistenherrschaft gründlich ausgetrieben. Und auch für uns kommt alles darauf an, daß wir uns recht oft zu der unabänderlichen Tatsache bekennen, daß wir von der Höhe heruntergestürzt sind und nun von unten, ganz von unten wieder anfangen müssen. Es stählt unsere Kraft, wenn wir uns dabei auf einen Staat stützen, der ebenfalls unten liegt, und wenn wir uns nicht von einem hochgebliebenen Staat in die halbe Höhe ziehen lassen. Dann besteht Aussicht, nicht auf dieser halben Höhe stehenzubleiben, sondern auf die volle Höhe hinaufzukommen. Ob das 30 oder 50 Jahre dauert, ist ja Nebensache. Der Kreisel dreht sich, fällt nicht um und bekommt sogar schnellere Drehung. Da wird er auch wieder vorwärts laufen; aber erst muß er heraus aus dem allzu stillen Gang, bei dem das Umfallen gar zu leicht eintreten kann. Ein tüchtiger Peitschenhieb ist es, den unser Kreisel jetzt bekommen hat. Was den Abschluß in Rapallo so rasch herbeigeführt hat, kann ich noch nicht übersehen. Es scheint mir, daß wir den Feinden zuvorgekommen sind, die sonst wohl für sich mit Rußland ohne uns abgeschlossen hätten. Von Anfang an nahm ich an, daß dabei eine gewisse Fühlung mit England bestanden hat, und das scheint nach den dürftigen Nachrichten, die ich bis jetzt bekommen habe, auch tatsächlich der Fall gewesen zu sein. Trifft dies zu, dann wäre meine Auffassung bestätigt, die ich Mitte Februar mal in einem Bericht nach Berlin ausgedrückt habe — nämlich daß es Lloyd George wohl recht wäre, wenn wir den ersten Schritt nach Rußland hin täten und ihm dadurch die Möglichkeit böten, sich auf eine gewisse Zwangslage zu berufen, sowohl der englischen Öffentlichkeit als auch Frankreich gegenüber. Hätten wir damals abgeschlossen, so wäre unsere Situation erheblich günstiger den Russen gegenüber gewesen. Nicht recht kann ich von hier aus übersehen, wie unser Verhältnis zu Amerika mitgesprochen hat. Ich halte es nicht für ausgeschlossen,

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daß der russische Schachzug, die Abrüstungsfrage im ¡Sinne Amerikas zunächst gleich zu Anfang in die Erörterung zu werfen, uns den Entschluß erleichtert hat. Amerikas Stellung zu Rußland ist dadurch sicherlich erheblich besser geworden. Amerika ist ja nun einmal in militärischen Fragen sentimental. Diese Annäherung ist übrigens durch andere Dinge schon vorbereitet und erstreckt sich auch auf das Verhältnis Amerika—England, die namentlich in Petroleumfragen sich auf russischem Boden berühren. Da kann Genua noch Überraschungen bringen. Köstlich ist übrigens die Naivität, mit der deutsche Zeitungen jetzt eine Erleichterung für den wirtschaftlichen Verkehr mit Rußland erwarten; tüchtige Kenner der russischen Art! Das Gegenteil wird einige Zeit hindurch der Fall sein. Die Russen betrachten das Abkommen als einen Erfolg, den sie in der Welt und auch uns und unserer Zauderpolitik gegenüber erzielt haben, und das bedeutet Stärkung ihres Selbstgefühls, d. h. Erschwerung aller Verhandlungen. Ich bin heilfroh, daß gerade jetzt so wenig „Sachverständige" hier sind, welche Bezeichnung ja gerade daher stammt, daß sie von Rußland keine Ahnung haben und nun von mir in alles eingeweiht werden wollen. Das hätte gerade noch gefehlt! Es hat sich sehr bewährt, daß ich Graap gerade jetzt nach Hause geschickt habe; das hat auch die Sachverständigen einigermaßen zurückgehalten. Einiges Wichtige habe ich doch unter Dach und Fach bringen können. Hinter dem Ereignis des Abkommens steht natürlich alles zurück, was sonst die vergangene Woche gebracht hat. Darunter war sogar ein großer Tanzabend, den ich für die junge Welt gegeben habe. Es waren 12 junge Frauen und Mädchen, etwa 18 tanzende Herren und einige ältere Leute für den Drachenfels. Es wurde kolossal getanzt, weil ja hier niemand übersättigt ist. Wir hatten auch feine Klavierspieler. Der eine, den ich bestellt und noch in der letzten Stunde aus den Lumpen eines durchgebrannten Fremdenlegionärs in einen Anzug der NansenHilfe gesteckt, auch seiner mächtigen Mähne entblößt hatte, war so fürchterlich, daß ich ihn mit heißem Dank und einigen Zigarren bald entließ. Dafür spielten dann Dobrowen, der erste Kapellmeister der Großen Oper, und Prof. Mühlens vom Roten Kreuz zum Tanze auf. Wenn ich denke, daß einige der früher reichsten Mädchen Moskaus

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unter meinen Gästen waren in denkbar einfachen Kleidchen, so gibt das das hiesige Leben ganz gut wieder. Alle aber, auch die jungen Männer, waren ehrlich dankbar, und erst gegen 4 Uhr ließ ich die letzten nach Hause fahren. Schade, daß ich es nicht öfter machen kann. Ich kann dem Reich die hohen Kosten nicht oft zumuten; da muß im Sommer der Garten helfen. Inzwischen habe ich mich auch nach einem Landhaus, einer Datsche, umgesehen, aber noch kein passendes gefunden. Die Frage wird brennend, da es im Mai schon hier oft unerträglich heiß ist. Bei dem Suchen habe ich aber die Umgebung Moskaus gründlicher kennengelernt als bisher. Das war allein schon etwas wert. Am Nachmittag dieses Tages hatte ich dann freilich strammen Dienst: eine vierstündige Besprechung um die Umgestaltung der Gefangenenfürsorge. Dazu war General Bauer vom Kriegsministerium eigens aus Berlin hierher gekommen; man scheint midi dort für sehr empfindlich und nervös zu halten. Dabei will ich weiter nichts, als daß man midi mit Etatsfragen in Ruhe läßt und diese in Berlin regelt. Mit meinen sachlichen Vorschlägen war man schon ganz einverstanden, und ich wußte gar nicht, was denn nun eigentlich zu besprechen wäre. In der Unterhaltung kam dann heraus, daß man in Berlin geglaubt hatte, ich wollte etwas, was nach Berliner Meinung auf den Etat des AA gehörte, noch auf den des Kriegsministeriums bringen. Es war sicher ein sehr geistreiches Gesicht, das ich bei dieser Eröffnung gemacht habe; an den Etat hatte ich; überhaupt nicht gedacht, der ging midi ja nichts an, und so war es ein köstlich schlaues Gesicht, was General Bauer machte, als ich ihm sagte: „Ich habe doch gar keine Voranschläge hier; wie soll ich denn da meinen Vorschlag ganz speziell auf den einen oder anderen einstellen? Vom Etat ist doch in meinem Vorschlag mit keinem Wort die Rede." So sind die Berliner! Sie denken bloß in Etattiteln und trauen jedem anderen auch nichts anderes zu. Ich und Etat! Das AA scheint trotz Abteilung 10 noch immer unbegrenzte Hochachtung vor meiner Diensttüchtigkeit zu haben; oder ob sie Angst hatten, daß ich da wieder neben allen Etats spazieren wollte? Na, jedenfalls löste sich die Spannung rasch in allgemeines Wohlgefallen auf, und wir beschlossen alles einstimmig. Außerdem hielt mir der General bei einem Glas Kognak, das er stiftete, eine wohlgesetzte Rede, wie angenehm enttäuscht er sei, daß die Verhandlungen, die ihm wäh-

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rend der ganzen Fahrt schwer auf der Seele gelegen hätten, so rasch ins Fahrwasser so voller Harmonie gekommen wären. Da konnte ich doch nicht anders, als die tüchtigen Männer f ü r morgen in die Oper einzuladen, f ü r die ich schon in ahnender Voraussicht eine Loge bestellt hatte. Außerdem habe ich den General in meinem Gastzimmer einquartiert, das er damit eingeweiht hat, und wo er sich sehr wohl fühlt; das wird sicher in Berlin gute Früchte tragen und bringt uns hier den Inhalt seiner Konserven- und Spirituosenkisten ein, was auch nicht zu verachten ist. Ich muß immer wieder sagen, was würde hier in meiner Stellung wohl ein ängstliches Gemüt anfangen. Jeder Tag bringt neue Entscheidungsnotwendigkeiten. Ich muß aber auch dem AA gerecht werden; es deckt alles, was ich tue und anordne. Heute abend hatte ich Prof. Borchert bei mir zum Abendessen. Er hat gestern Lenin die Kugel aus dem Hals operiert, die dort noch seit dem Attentat von 1917 steckte. Es ist doch fein, daß man dazu den deutschen Arzt herangeholt hat. Er ist mit dem Verlauf der Operation sehr zufrieden und fährt morgen wieder nach Berlin zurück. Wir haben lange zu zweien geplaudert. Es war f ü r midi ein außerordentlich anregender Abend. Moskau, 1. Mai 1922 Da hier der erste Mai großer Feiertag ist, kann ich den herrlichen Sommertag auf meinem Balkon genießen und freue midi der großen Stille, die nur ab und an durch einen Hahn und das Geklimper einer Balaleika unterbrochen wird. Ein leichtes Unwohlsein hat mich verhindert, heute Vormittag die große Parade der Roten Armee mitzumachen; das war vielleicht kein schlechter Zufall, weil meine Anwesenheit dem französischen Gerede von einer deutsch-russischen Militärkonvention neue Nahrung hätte zuführen können. Mein ganzes Volk ist draußen auf dem Flugplatz, um die Ankunft des ersten Postflugzeuges aus Deutschland dort zu erleben. Am Abend werde ich die deutschen Insassen des Flugzeuges noch begrüßen. Wenn es jetzt wirklich zur regelmäßigen Flugfahrt kommt, sind wir einen ordentlichen Schritt weiter. Berlin ist dann in 24 Stunden zu erreichen. Leider wird der Spaß allerdings sehr teuer; man spricht von 15 000 Mark die ein-

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zelne Fahrt. Aber Briefe sind dann wenigstens rasch hin und her zu bringen. Hoffentlich dauert Genua nicht mehr lange; das ist eine ziemliche Nervenanstrengung, da ich neben den oft arg verstümmelten Telegrammen Berlins hier nur die kommunistische Presse zur Information habe und deshalb oft in den wichtigsten Dingen auf mein Gefühl und auf Erraten der Situation gestellt bin. So haben mir erst die deutschen Zeitungen, die mir der letzte Kurier gebracht hat, das Kämpfen um unseren Vertrag einigermaßen geklärt. Und was mag jetzt wohl in Genua vorgehen? Mir scheint fast, daß England den Rüdezug, den Frankreich dank unserem Vertrag angetreten hat, mit Nachgiebigkeit in der Reparationsfrage erkauft. Damit mußten wir von vornherein rechnen. Uns bleibt nur die Zuversicht, daß nur der gute Wille, den wir in der Erfüllung der uns auferlegten Tributpflichten im letzten Jahr gezeigt haben, der Welt die Augen über die Unmöglichkeit einer weitergehenden Belastung öffnet, und daß dann die allgemeine moralische Stimmung uns gegen weitere Bedrückung hilft. Dies verstehe ich nicht in dem Sinne, daß wir dann irgend wesentlich entlastet werden; damit rechne ich für absehbare Zeit gar nicht, wohl aber in dem Sinne, daß uns nicht immer neue Sanktionen drohen und wir einigermaßen wissen, woran wir sind. Daß wir lange Jahre hindurch schwer werden zahlen müssen, ist mir absolut sicher; es sei denn, daß irgendein großes politisches Ereignis, wie vor 100 Jahren Napoleons Rußlandzug uns zugute kommt. Jedenfalls dürfen wir aber gerade für diesen Fall uns nicht jetzt immer neuen Abtrennungen aussetzen, d. h. wir müssen einstweilen zahlen, genau wie Preußen damals bis zum Weißbluten hat zahlen müssen. Wir dürfen Frankreich keinen Vorwand zur Besetzung des Ruhrgebietes liefern. Jeder Schritt, den wir heute tun, muß unter dem Gesichtswinkel einer viel späteren Zeit abgewogen werden. Ein merkwürdiger Gegensatz: unser tagtägliches Leben darf nicht bis übermorgen, kaum bis morgen denken, und unsere Politik kann weder das Morgen noch das Übermorgen vermitteln, muß sich vielmehr ganz auf spätere Jahrzehnte einstellen. Diese spätere Zeit haben wir heute in der Hand; das Heute selbst wird uns von den Gegnern diktiert. Wer sich zu diesem Standpunkt durchringt, für sich

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selbst nicht mehr wesentliche Erleichterung erwartet und nur für die kommenden Generationen sorgen will, der kommt zu der Geduld, die heute nötig ist, d. h. nicht zu Resignation, sondern zu Tatkraft und Reformwillen. Unsere Kinder und Enkel müssen die Aufgabe wieder aufgreifen, an deren Ausführung wir einstweilen gescheitert sind, und dazu müssen wir Heutigen den Boden bereiten. Preußen ist auch nicht auf einmal und ohne den Rückschlag von 1806 wieder zu einer europäischen Großmacht geworden. Es scheint wirklich, daß wir noch viele Reste der kontinentalen Zeit erst mal abstreifen müssen, ehe wir als eine Weltmacht wieder auftauchen können. Das haben wir vor 1914 versäumt und müssen jetzt versuchen, es langsam nachzuholen. Rußland kann uns da viel lehren, auch wenn wir seine Extreme ablehnen. Es ist doch sehr bezeichnend, mit wie anderem Urteil über die hiesigen Verhältnisse selbst eine so ausgeprägte Unternehmernatur wie der längere Zeit hier weilende Vertreter von Hugo Stinnes schließlich weggegangen ist! Freilich sind es nur die kräftigsten, in sich selbständigen Naturen, die die Zukunft sehen. Der westeuropäische Normalmensch sieht natürlich nur das Negative, Zerstörende, was die hiesigen Menschen an sich haben, und nicht das Aufbauende ihrer Ideenwelt. Moskau, 8. Mai 1922 In der vergangenen Woche habe ich hier zwei Gewitter von solcher Macht erlebt, daß ich geradezu an meine ostafrikanischen Erfahrungen erinnert worden bin; Blitze und Donner und vollends der Regen hatten durchaus tropisches Maß. Eins dieser Gewitter habe ich im Hause Heuß erlebt; da war es von großartiger Schönheit. Das Haus liegt direkt dem Kreml gegenüber auf der anderen Seite der Moskwa. Das Gewitter stand hinter dem Kreml, und wir saßen so gegen 2 Uhr nachts auf der Veranda im sicheren Schutz eines Glasdaches. Blitze erhellten alle Augenblicke den Hintergrund taghell. Da hob sich die prachtvolle Linie des Kreml haarscharf vom Himmel ab. Wir konnten uns gar nicht trennen. Der ganze Abend war außerordentlich anregend. Es war glücklich 4 Uhr, als ich nach Hause fuhr. Gewiß war es nicht anähernd so luxuriös, wie ein Heuß es früher etwa gemacht hat, aber eben deshalb viel intimer und netter. Jedenfalls hat dieser Industrielle sehr klug getan, daß er hiergeblieben ist. Es müssen zwar schwerste Jahre hinter diesen Men11 Wiedenfeld, Zwischen Wirtschaft und Staat

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sehen liegen, und es hat sicher alle Klugheit und Vorsicht erfordert, nicht mit der Tscheka in Berührung und ins Kittchen zu kommen. Daf ü r hat aber jeder der Hiergebliebenen doch das Gefühl, jederzeit zum Wiederaufbau parat zu stehen, während die Emigranten jede Fühlung mit der hiesigen Wirklichkeit verloren und sich selbst zu absoluter Wirkungslosigkeit verurteilt haben. Mit der einfachen Negierung einer so gewaltigen Erscheinung, wie der Bolschewismus ist, kommt man natürlich nicht durch, und hier kann eine neue Zeit ebensowenig mit dem Herbst 1917 wieder anfangen, wie wir nicht an den Juli 1914 anzuknüpfen vermögen. Ob dies nicht auch Lloyd George empfindet? Was sich jetzt nach Rapallo in Genua abspielt, ist doch schwerlich mehr als eine Kulisse; dazu bestimmt, eine Form zu finden, die allen erlaubt zu sagen, daß sie nichts von ihren Prinzipien aufgegeben haben. Nur Frankreich und noch mehr, auf französischen Druck hin, Belgien scheinen wirklich etwas Positives von den Russen herausschlagen zu wollen. England verhandelt über solches Herausschlagen lieber hinter den Kulissen und läßt sich wichtige Konzessionen übertragen, ohne sich um den Eigentumsbegriff zu kümmern. Wie man in London das Schimpfen von Lloyd George über den Rapallo-Vertrag aufgefaßt hat, zeigt die englische Presse, die dafür den Ausdruck Theaterdonner gefunden hat. Gewiß ist keineswegs sicher, daß wir nun etwa in der Reparationsfrage von England unterstützt werden. Aber England hat — das darf nicht unterschätzt werden — schon vieles in unserem Interesse verhindert, was Frankreich eigentlich wollte, und ich möchte annehmen, daß es auch nach dem 31. Mai nicht zur Besetzung des Ruhrgebietes kommen wird. Im ganzen hat ja auch die deutsche Presse dem Abschluß des RapalloVertrages zugestimmt; auch mir ist zweifelhaft, ob Zeitpunkt und Form richtig gewählt waren. Das ist von hier aus nicht zu entscheiden. Hinterher aber diese Frage so aufzubauschen, wie es vielfach geschieht, ist allzu töricht; aber es klingt nach selbstständigem Urteil, wenn man der eigenen Regierung entgegentritt, selbst wenn man sich dabei das Mundwerk von den Gegnern diktieren läßt. Was man im einzelnen jetzt vorhat, weiß ich noch nicht. Die Gewitter der letzten Tage haben den Funkverkehr ganz gewaltig gehindert, zumal sie in der Nacht auftraten, der eigentlich besten Zeit für

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das Funken. Das Telegramm von W o l f i s Telegraphenbüro, wonach Karachan und ich beschlossen hätten, den diplomatischen Verkehr sofort aufzunehmen, hat mir viel Spaß gemacht. Warum schreibt man nicht gleich, daß ich mich selbst zum Botschafter ernannt habe? Dabei ist Wolff

das offiziöse Telegraphenbüro

und wird von unserer

Presse-

abteilung scharf kontrolliert. Ich warte in aller Seelenruhe ab, wie das Rennen

um den hiesigen

Botschafterposten in

Berlin

abläuft,

und

rühre keinen Finger. In Deutschland wartet meiner ein Arbeitsfeld, das aller Voraussicht nach befriedigender ist, als der hiesige Posten es sein wird, nachdem ich den Karren aus dem Dreck geholt und

die

Grundlinie der hiesigen Tätigkeit gezogen habe. Im Auswärtigen Dienst noch längere Zeit zu verbleiben, liegt mir nicht, weil das A m t

den

Außenposten zu wenig Einfluß auf den tatsächlichen Gang der Politik einräumt, sie vielmehr ziemlich ausgeprägt zu Berichterstattern

und

Handlangern herunterdrückt. Meine eigentliche Aufgabe sehe ich doch in Deutschland selber, nicht im Ausland. Dort drängt alles nach Neugestaltung und damit nach Menschen, die sich ein Mitarbeiten zutrauen. Im Ausland werden wir noch lange Jahrzehnte nur wenig gestaltend eingreifen können — auch in Rußland nicht, wennschon hier unsere Stellung mit am stärksten sein wird. Moskau, 15. Mai 1922 Von Genua ist Wesentliches nicht gekommen. Wenn die

knappen

Nachrichten, welche die hiesigen Zeitungen bringen, midi nicht täuschen, sind die Russen daran, dort ihren dritten Meisterstreich auszuführen: sie werfen ausgerechnet jetzt im letzten Augenblick die Erdölfrage zwischen die Gegner als einen rechten Zankapfel und werden aller W a h r scheinlichkeit nach zu dem Ziel kommen: Einzelverhandlungen mit den verschiedenen Staaten und nicht Verhandeln mit einer geschlossenen Front der Gegner. Ich habe nach dem, was ich hier hörte, mit dieser Erdölfrage schon seit Monaten gerechnet und darüber auch nach Berlin berichtet. Kommt es aber zu diesen Einzelverhandlungen, so ist das die glänzendste Rechtfertigung f ü r unsere Politik, die wir uns wünschen können. Da zeigt sich deutlich, daß es L l o y d George ganz recht ist, wenn wir den ersten Schritt tun und ihn vor eine vollendete Tatsache stellen. Für die Konferenz als Ganzes bleibt dann der

Abrüstungs-

gedanke allein noch übrig, und das ist ausgezeichnet, weil er L l o y d lf

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Georges Lieblingskind ist und Frankreichs Abneigung dagegensteht. Es sind recht feine Fäden, die da hinter den Kulissen gesponnen werden; weiß der Kuckuck, wie lange das noch dauert. Kürzlich habe ich einen herrlichen Flug über Moskau gemacht; wir waren 1400 m hoch und haben nichts von dieser Höhe gemerkt. Moskau von oben ist wunderbar schön. Strahlende Sonne stand auf den tausend goldenen Kuppeln der zahlreichen Kirchen, und von der Misere des Lebens sieht man in solcher Höhe nichts. Das war eine schöne halbe Stunde, und dafür war die sehr knappe Kabine des Flugzeugführers bequem genug. Wir haben den Flug mit den Flugleuten etwas gefeiert; eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen je für 10 Personen kostete die Kleinigkeit von 9 Millionen Rubel = 600 Mark. In letzter Zeit hat hier und über Rußland hinaus die Requisition der Kirchenschätze starkes Aufsehen erregt und hier auch einige Unruhe hervorgerufen. Tatsächlich hat aber diese Wegnahme sich nur auf diejenigen Stücke bezogen, die für den Ritus nicht erforderlich sind, und es hat sich auch dieselbe Erfahrung gezeigt, die wir in Deutschland während des Krieges mit der Beschlagnahme solcher Dinge gemacht haben: der Überzug an edlen Metallen war in aller Regel so dünn, daß sich die Ablösung nicht lohnte. Man hat deshalb hier auch bald wieder Schluß gemacht und auch dadurch die Bevölkerung etwas beruhigt, daß der Ertrag dieses Vorgehens ausschließlich für soziale Zwecke bestimmt und auch wirklich verwandt worden ist. Hierbei hat sich selbst in Moskau, vollends in den kleineren Städten auch der Gegensatz geltend gemacht, der so merkwürdig schroff zwischen der hohen und der niederen Geistlichkeit von jeher bestanden hat und auch jetzt noch besteht. Er beruht darauf, daß für die hohen Posten (Bischof, Erzbischof, Patriarch) tatsächlich so gut wie ausschließlich Mönche in Betracht kommen, die einfache Popenwelt aber, weil jeder Pope verheiratet sein muß, davon ausgeschlossen ist. Irgendwie einzugreifen, hatte ich natürlich keinerlei Veranlassung; nur bei einem gelegentlichen Gespräch hatte ich Gelegenheit, als rein persönliche Meinung auszusprechen, daß eine Verurteilung des Moskauer Patriarchen zu schwerer Strafe in Deutschland der antirussischen Stimmung starke Nahrung zuführen würde. Der Patriarch ist aber seiner aufhetzenden Reden wegen nur abgesetzt und in ein großes Moskauer Kloster zu

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dauerndem Aufenthalt eingewiesen worden. Meine Zurückhaltung hatte jedoch hier ein Gerücht hervorgerufen, daß wir Deutsche an der Wegnahme der Kirchenschätze interessiert seien. Deshalb wollte ich mich mal mit einigen Leuten streng kirchlicher Richtung öffentlich sehen lassen. Da kam mir das Auftreten Schaljapins in der Großen Oper recht zu paß. Ich lud daher eine Anzahl von russischen Ehepaaren, die wegen ihrer kirchlichen Gesinnung bekannt sind, zu diesem Abend in die Loge ein, die ich mir dafür durch das Außenkomissariat hatte beschaffen können, und nahm dann auch einige meiner Männer mit. Das ist in der Tat aufgefallen und hat den Zweck erreicht. Der Genuß war allerdings nicht annähernd so groß, wie Schaljapins Ruf eigentlich erwarten ließ; eine reichlich verbrauchte Stimme, doch ein fabelhaftes Spiel. Moskau, 22. Mai 1922 Mir will scheinen, daß man in Berlin plötzlich Angst vor der eigenen Courage bekommen hat, und ich weiß noch immer nicht, was nun eigentlich in Genua herausgekommen ist und welche Politik ich nun hier in Moskau zu verfolgen habe. Es scheint, daß wieder recht viel persönliche Ehrgeize und Intrigen von der Innenpolitik hier hineinspielen. Da werde ich mich wohl eines Tages aufmachen und ohne besondere Weisung selbst nach Berlin fahren. Ist es nicht haarsträubend, daß das AA es noch immer nicht fertigbringt, die Flugpost zu benutzen? Die Russen haben schon alle ihre Zeitungen aus Berlin vom Abend vorher, und meine frischeste Zeitung ist acht Tage älter. Das gibt ein schönes Verhandeln, wenn die Gegenseite alle Trümpfe in der Hand hat, die sich aus dem Kennen der momentanen Situation ergeben. Ich habe jetzt mit den Russen vereinbart, daß sie die letzten Zeitungen auch für mich mitkommen lassen; Karachan hat es mir freundlichst zugesagt; aber um so etwas bitten zu müssen, ist doch recht übel, und ich bin noch zweifelhaft, wie lange sie diese Zusage einhalten werden, da sie doch ihre eigene Situation dadurch verschlechtern. Aber ich mußte es doch wenigstens versuchen, da der bisherige Zustand unhaltbar ist. Auch Berichte kann i