Zwischen Utopie und Aporie: Die erzählerische Ermittlung der Identität in argentinischen Romanen der Gegenwart: Juan Martini, Tomás Eloy Martínez, Ricardo Piglia, Abel Posse und Rodolfo Rabanal 9783964567871

Untersuchungsgegenstand dieser Dissertation sind die Darstellungsweisen und Funktionen von Identität in argentinischen G

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Zwischen Utopie und Aporie: Die erzählerische Ermittlung der Identität in argentinischen Romanen der Gegenwart: Juan Martini, Tomás Eloy Martínez, Ricardo Piglia, Abel Posse und Rodolfo Rabanal
 9783964567871

Table of contents :
Vorbemerkung
Inhalt
I. Einleitung
1. Identität und Differenz
2. Identitätsmodelle
3. Der argentinische Identitätsdiskurs in Geschichte und Literatur
4. Die literarischen Detektive des Río de la Plata
5. Textanalyse
6. Habermas und die Literatur: zwischen Utopie und Aporie
Bibliographie

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Roland Spiller Zwischen Utopie und Aporie

Editionen der Iberoamericana Reihe m Monographien und Aufsätze Herausgegeben von Walther L. Bemecker, Frauke Gewecke, Jürgen M. Meisel, Klaus Meyer-Minnemann Band 46

Roland Spiller

Zwischen Utopie und Aporie Die erzählerische Ermittlung der Identität in argentinischen Romanen der Gegenwart Juan Martini, Tomás Eloy Martínez, Ricardo Piglia, Abel Posse und Rodolfo Rabanal

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 1993

Überarbeitete Version der Inaugural-Dissertation in der Philosophischen Fakultät II (Sprach- und Literaturwissenschaften) der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg (1990)

Die Deutsche Bibliothek - CEP-Einheitsauñiahme Splller, Roland: Zwischen Utopie und Apoiie: die erzählerische Ermittlung der Identität in argentinischen Romanen der Gegenwart; Juan Martini, Tomás Eloy Martínez, Ricardo Piglia, Abel Posse und Rodolfo Rabanal/ Roland Spiller. - Frankfurt am Main : Vervuert, 1993 (Editionen der Iberoamericana: Reihe 3, Monographien und Auffitze; Bd. 46) Zugl.: Erlangen, Nürnberg, Univ., Diu., 1990

ISBN 3-89354-846-7

NE: Editionen der Iberoamericana / 03

O Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1993 Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany

VORBEMERKUNG Die vorliegende Untersuchung ist die überarbeitete Version einer in den Jahren 1988 bis 1992 in Buenos Aires und an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen entstandenen Dissertation. Dank eines Forschungsstipendiums des DAAD konnte ich die Schriftsteller Juan Martini, Tomás Eloy Martínez, Ricardo Piglia, Abel Posse und Rodolfo Rabanal in Buenos Aires kennenlernen und interviewen. Ihnen danke ich für die Gesprächsbereitschaft. Sie unterstützten mit ihren Auffassungen über Literatur die Entwicklung der Idee des "literarischen Detektivs", der hier als Arbeitshypothese vorgestellt wird und auf Verbesserung wartet. Von den Mitarbeitern des bonaerenser Goethe-Institut gilt mein Dank allen voran Gabriela Massuh und Wolfgang Tichy, die stets gesprächsbereit waren und wichtige Kontakte vermittelten. Susana Zanetti und David Lagmanovich erleichterten die Orientierung in der ausgesprochen vitalen Gegenwartsliteratur Argentiniens. Die Aktualität der Identitätsthematik in Argentinien bestätigte sich in vielen leidenschaftlichen Diskussionen. Viviana, Raúl, Marcelo, Sarah und Pepe, und die anderen in Argentinien gewonnenen Freunde, teilten das Interesse am Thema und an der Literatur. Auf hiesiger Seite danke ich meinem akademischen Lehrer Titus Heydenreich für die verständnisvolle Unterstützung und steten moralischen Beistand. Ein gewichtiges Wort des Dankes gebührt Klaus Meyer-Minnemann, der mit konstruktiver Kritik und Scharfblick zur Klärung mancher Probleme der theoretischen Vorgehensweise beitrug. Der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg sei für die Gewährung eines einjährigen Stipendiums gedankt. Ebenso wichtig wie die argentinischen Freunde waren die hiesigen: Andrea Pagni vermittelte hilfreiche Kontakte auf beiden Seiten. Justina, Gabriela, Victor, Gerti, Carmen, Anja, Birgit, Gerd und Jochen beteiligten sich an der Korrektur der Druckvorlage. Der Leser möge mir Tippfehler und andere Mängel, für die ich natürlich selbst verantwortlich zeichne, nachsehen.

Erlangen, im März 1993

Roland Spiller

¿Somos nación? ¿Nación sin amalgama de materiales acumulados, sin ajuste ni cimiento? ¿Argentinos? Hasta dónde y desde cuándo, bueno es darse cuenta de ello. Domingo Faustino Sarmiento Oh, Babilonia. La ciudad gallega más grande del mundo. La ciudad italiana más grande del mundo... "Lo nacional". ¡Dios mío! ¿Qué era lo nacional? Oh, Babilonia. Ernesto Sabato, Sobre héroes y tumbas. Wir sehnen uns nach Hause Und wissen nicht, wohin? Johann von Eichendorff Die Sprache ist kraft ihres dichtenden Wesens, als verborgenste und darum am weitesten auslangende, das inständig schenkende Hervorbringen der Heimat. Martin Heidegger, Denkerfahrungen, Frankfurt a. M. 1985, S. 112. Das kulturelle Erbe der Völker und Nationen muß im Kontext sozialer Entwicklungen und politischer Bewegungen interpretiert werden. Mustafa Khayati Das Moment am Kunstwerk, durch das es über die Wirklichkeit hinausgeht, ist in der Tat nicht vom Stil abzulösen: doch es besteht nicht in der geleisteten Harmonie, der fragwürdigen Einheit von Form und Inhalt, Innen und Außen, Individuum und Gesellschaft, sondern in jenen Zügen, in denen die Diskrepanz erscheint, im notwendigen Scheitern der leidenschaftlichen Anstrengung zur Identität. Anstatt diesem Scheitern sich auszusetzen, in dem der Stil des großen Kunstwerks seit je sich negierte, hat das schwache an die Ähnlichkeit mit anderen sich gehalten, an das Surrogat der Identität. Kulturindustrie endlich setzt die Imitation absolut. Horkheimer/ Adorno, Die Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a. M. 1986, S. 156. Ein «Subjekt», was ist denn das? «Subjekt» [...] nennt man ein Seiendes, dessen Identität fest genug ist, damit es die Veränderung, das heißt das Anderswerden tragen und ertragen kann. [...] Der doppelte Angriff gegen das phänomenologische Bewußtsein und gegen die Identitätslogik wird also unter der Flagge eines einzigen Kreuzzuges gegen das Subjekt im allgemeinen geführt werden. Vincent Descombes, Das Selbe und das Andere, Frankfurt a. M. 1981, S. 94. La gêne qui fait rire quand on lit Borges est apparentée sans doute au profond malaise de ceux dont le langage est ruiné: avoir perdu le "commun" du lieu et du "nom". Michel Foucault, Les mots et les choses, Paris [1966] 1990, S. 10.

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INHALT I. I.I I.II

EINLEITUNG INHALTSÜBERBLICK AUTORENAUSWAHL

11 13 16

1.

IDENTITÄT UND DIFFERENZ

23

2.

IDENTITÄTSMODELLE

51

3.

DER ARGENTINISCHE IDENTITÄTSDISKURS IN GESCHICHTE UND LITERATUR

4.

DIE LITERARISCHEN DETEKTIVE DES R í o DE LA PLATA

5.

TEXTANALYSE

65 101

5.1."LaEloy verdad divididaLaennovela cuatrode milPerón pedazos". Tomás Martínez:

110

5.2. Ricardo Piglias artifizielle Konstruktion der Identität

138

5.3. Kalliope schreibt Geschichte: Abel Posses Los perros del paraíso

196

5.4. Juan Carlos Martinis erzählerische Ermittlung des verweigerten Ursprungs in Composición de lugar

244

5.5. Vagabundierende Identität: Rodolfo Rabanals Ästhetik des Verdachts 6.

HABERMAS UND DIE LITERATUR: ZWISCHEN UTOPIE UND APORIE

BIBLIOGRAPHIE

270 . 301 307

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I. EINLEITUNG Es mag aufschlußreich sein, sich mit dem Thema der Identität zu befassen und es kann historisch sogar durchaus lehrreich sein, wie das Beispiel Argentinien zeigt. Im Falle der argentinischen Literatur ist es indessen ausgesprochen faszinierend, sich mit der Identitätsproblematik zu beschäftigen. Tomás Eloy Martínez* La novela de Perón (1985), Juan Carlos Martinis Composición de lugar (1984), Ricardo Piglias Respiración artificial (1980), Abel Posses Los perros del paraíso (1983) und Rodolfo Rabanals En otra parte (1982) enthalten in mehrfacher Hinsicht aufschlußreiche und repräsentative literarische Darstellungsweisen von Identität. Vor dem Horizont einer düsteren Zukunft und im Rückblick auf eine Vergangenheit, die offensichtlich nicht zu "bewältigen" ist, erfüllt das Erzählen zum einen eine identitätsstiftende Funktion in der Auseinandersetzung mit den im beschleunigten Wandel begriffenen menschlichen Identitäten. Zum anderen sind das Erinnern und das Erzählen selbst zutiefst problematisch geworden, wie in diesen fünf Romanen sichtbar wird, die dem Leser Formen des Mißbrauchs des Bedürfnisses nach Identität vor Augen führen und die im Gegensatz zu soziologischen und historischen Darstellungen der Identitätsproblematik eine dramatische Innensicht des Bedürfnisses nach Identität vermitteln. Der Wunsch nach einer überindividuellen Symbolik wird dabei grundsätzlich mit Skepsis gegenüber den mythisch überhöhten Identifikationsfiguren betrachtet, die ihn zu erfüllen vorgeben. Die vorliegende Arbeit untersucht die erzählerischen Darstellungsweisen von Identität, wobei die Beziehung zwischen innerliterarischen und sozialen Prozessen als zentrale Achse der Identitätsproblematik betrachtet wird. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, daß dieses Wechselverhältnis sowohl im Mittelpunkt der literarischen Auseinandersetzung mit Identität steht als auch ein verbindendes Anliegen der heterogenen Theoriebildung ist.1 Erzählerisch schlägt sich dies in Form "literarischer Untersuchungen" nieder, die mit den dafür besonders geeigneten Gattungen des Briefs, des Tagebuchs, des Entwicklungsromans, des Archivromans, der fiktiven Biographie und Autobiographie und des Detektivromans experimentieren. In den Romanen wird dargestellt, unter welchen Voraussetzungen sich Identitäten verändern, wie sie aufgelöst, blockiert, unterdrückt, marginalisiert, ausgeschlossen und zuweilen auch (wieder-)gefunden werden. Aus der Besonderheit der Darstellung von Identität in diesen fünf Romanen leite ich meine Arbeitshypothese ab: Identität ist Gegenstand einer erzählerischen

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Ermittlung. Die Protagonisten und Erzählerfiguren, die diese "investigación narrativa" durchfuhren, sind in diesem Sinne "literarische Detektive". Identität erscheint in den Romanen dementsprechend in Form einer kritischen Textarbeit. Durch diese mise en abyme der Identitätsdarstellung wurde die Frage nach der Identität in neue Bahnen gelenkt, wodurch neue Formen des literarischen Umgehens mit Identitätskrisen entstanden. Aufgrund der Tatsache, daß die Texte Prozesse von Identitätsbildung bzw. von Identitätsverlust erforschen und das eigene literarische Vorgehen als erzählerische Untersuchung reflektieren, lassen sich mit ihrer Hilfe Grundelemente der Identitätsbildung veranschaulichen: die sprachliche Bedingtheit von Identitäten, das Wechselverhältnis von Individuum und Gesellschaft, die Kontinuität im zeitlichen Wandel und die selbstkritische Hinterfragung der identitätsbildenden Verfahren. Da die literarische Vermittlung in allen Romanen außer in Posses Los perros del paraíso selbst zum Schwerpunkt der Ermittlungen wird, könnte man etwas zugespitzt sagen, daß die Suche nach Identität inszeniert wird, um ein bestimmtes erzählerisches Vorgehen vorzuführen: den literarischen Detektiv in Aktion. Anhand der untersuchten Romane lassen sich Möglichkeiten aufzeigen, wie man mit den Aporien argentinischer Identität umgehen kann, denn lösbar sind sie ohnehin nicht und wenn, dann allenfalls in der Literatur, wo es immerhin Möglichkeiten ihrer Aufhebung gibt. Man stößt dabei in vielen Fällen auf die weitverbreiteten nationalen Mythen und Klischees mit starker emotionaler Kraft. Deren Entstehung, Verbreitung und Auflösung untersuchen die Schriftsteller in den Romanen. Sie decken die normative Kraft dieser Stereotypen auf, indem sie auf die Entwicklung vom Archetypus zum Allgemeinplatz hinweisen, wodurch sie zugleich die Veränderbarkeit bestehender Identitätskonventionen aufzeigen. Begriffe wie vacío original, aluvión inmigratorio, campaña del desierto, viveza criolla, grandeza argentina, compadre, gaucho, die bei der Entwicklung von "argentinidad" eine fundamentale Rolle spielen, werden von der Literatur, vom Tango, von den Geisteswissenschaften, etc. tradiert und diskursübergreifend in der offiziellen und in der Populärkultur zur Erklärung argentinischer Identität herangezogen. Sie bilden gewissermaßen den Fundus der kollektiven Symbolik aus dem sich argentinische Identität über die Unterschiede der sozialen Schichten hinweg entwickelte. Dadurch rücken in den Romanen jene literarischen Umsetzungen von Wertvorstellungen und Denkweisen ins Blickfeld, die Argentinität seit der Unabhängigkeit kennzeichnen. In der Aneignung europäischer Modelle äußert sich ein Prinzip von Identität: sie ist auf Differenz angewiesen. Identität ist Differenz, oder analytisch gesprochen ein Beziehungsbegriff, der einerseits die Voraussetzung für Erkenntnis von und Kommunikation mit anderen — Todorovs question de l'autre — impliziert und andererseits auf der Objektebene als Konstituente dieser Beziehung die Entfaltung von

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Macht enthält. Man denke nur an die identitätsstiftende Kraft der Feindbilder, die die lateinamerikanische Identitätsdiskussion beherrschten. Ihre bestimmenden Pole sind die Ablehnung von oder die Anlehnung an Spanien, Europa und die USA. Dies gilt auch ftir die Argentinität, die nationale Spielart des Identitätskonfliktes, der besondere Bedeutung zukommt, weil die Auswirkungen der nationalistischen Exzesse der jüngsten Militätdiktatur im kollektiven Bewußtsein noch deutlich spürbar sind und die Film-, Theater-, und Literaturproduktion bis weit in die achtziger Jahre hinein beherrschen. In diesem Zusammenhang möchte diese Arbeit auf die identitätsstiftende Bedeutung der Literatur im Spannungsfeld von regionaler Besonderheit und supranationaler Gesinnung hinweisen. Dadurch kommt die ambivalente Entwicklung des globalen Identitätszerfalls auf der einen und der Bedeutungsgewinn regionaler kultureller Traditionen auf der anderen Seite als Rahmenthema zum Vorschein. Der neue argentinische Roman birgt die Kraft des vielstimmigen Widerstands gegen den militärisch verordneten Monolog der Diktatur und gegen die Uniformierungen der Massenmedien. Nach dem Zusammenbruch der Diktatur als Konsequenz des Falklandkrieges veränderten Martínez, Martini, Piglia, Posse und Rabanal den Identitätsdiskurs, indem sie versuchten, die vorangegangenen nationalistischen Exzesse kritisch aufzuarbeiten, nicht respektlos gegenüber der nationalen Geschichte, aber frei von Furcht. Diktatur und Demokratisierung sind zentrale historische Bezugspunkte der argentinischen Geschichte und Literatur der achtziger Jahre. Die Romane werden deshalb im klaren Bewußtsein dessen analysiert, daß Identität und Literatur in sozio-kulturellen Prozessen entstehen, die grundlegender sind als das Schreiben. /./. Inhaltsüberblick Nach einer Einführung in die Problematik des Identitätsbegriffes und einem Abriß der grundlegenden nationalen, juristischen, wirtschaftlichen und sprachlichen Voraussetzungen von Identität im ersten Kapitel folgt im zweiten die Darstellung des Ansatzes von Jürgen Habermas, mit dessen Hilfe Kriterien für eine Identitätsdefinition vorgeschlagen werden, an denen sich die Textanalyse orientiert. Das dritte Kapitel umreißt historische und literarische Epochen, mittels derer sich zeigen läßt, wie sich die Einschätzung der Identität mit jeder neuen Lektüre vom Standort der jeweiligen Gegenwart aus veränderte. In chronologischer Reihenfolge liegen die Schwerpunkte auf Domingo Faustino Sarmiento, Leopoldo Lugones, Ricardo Rojas und Jorge Luis Borges. Sarmientos Civilización y barbarie: Vida de Juan Facundo Quiroga (184S) ist thematisch und formal ein Ausgangspunkt des argentinischen Identitätsdiskurses. Der ambivalente Text erforscht Argentinität und (v)erklärt sie gleichzeitig zum Rätsel. Aus dieser widersprüchlichen Konstellation resultiert jene

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Spannung, die die Auseinandersetzung mit Identität im argentinischen Roman charakterisiert. In der historischen Entwicklung wirkte sich der proyecto liberal de construcción nacional maßgeblich auf die Literatur aus (Bremer; Peñate Rivero, 1989: 108ff.). Die Literatur diente im 19. Jahrhundert der Idee der nationalen Einheit, aus der sich der hegemoniale Mythos der grandeza argentina entwickelte, an den der Peronismus mit einem genuin argentinischen "dritten Weg" zwischen Kapitalismus und Kommunismus anknüpfen wollte, mit dem Ergebnis, daß in den 50er Jahren der Traum wirtschaftlicher Unabhängigkeit wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel, was schließlich nach Peróns gescheitertem Comeback zur Doktrin der Seguridad Nacional führte, deren diktatoriale Fortführung des Nationalgedankens zu jener präpolitisch-emotionalen Aufblähung nationalistischer Parolen führte, die die Texte der 80er Jahre aufgreifen. Die Romane spiegeln mit Exil, Isolation, Repression, Zensur und dem Verschwinden von Menschen persönliche Erfahrungen der Autoren wieder. Hierin sind die therapeutischen Effekte des literarischen Rollenspiels zur Konfliktverarbeitung erkennbar. Die ohnehin offenkundigen Bezüge zwischen Literatur und (Autoren-)Leben sollen uns hier jedoch nur insofern interessieren, als sie das übergreifende Verhältnis von Geschichte und Fiktion thematisieren. Mit der Abkehr von den traditionellen nationalpatriotischen Vorstellungen lassen die Romane eine Zäsur in der Darstellung von Argentinität erkennen. Sie erscheint nicht mehr als unveränderliches Konzept aus dem Bereich der präpolitischen Meinungsbildung, wie hispanidad, argentinidadxmdamericanidad, die lange Zeit sozialdarwinistisch legitimiert waren, sondern als Produkt gesellschaftlicher Auseinandersetzung. Somit wird jene "posttraditionale Identität" erkennbar, wie sie Habermas für moderne Gesellschaften anstrebt. Das vierte Kapitel leitet mit der These des literarischen Detektivs die Textanalyse ein. Identität erscheint in den Texten als Gegenstand einer "investigación narrativa", wie Martini und Piglia dem Verfasser gegenüber zu verstehen gaben, die die Protagonisten oder die Erzählerfiguren der Romane durchführen. Diese Aufgabe macht sie zu Detektiven, die mit erzählerischen Mitteln Identitäten ent- und gelegentlich auch verschlüsseln. Außer im Sonderfall Abel Posses wird in den Romanen diese Untersuchung von Identität leitmotivisch dargestellt und problematisiert. Damit rücken erzähltechnische Aspekte der Identität in den Mittelpunkt. Die Schriftsteller forschen besonders dort nach, wo — wie in nicht wenigen Fällen — Identität manipuliert wird: in Texten, in anderen und im eigenen, in echten und in fiktiven, in Versen und in Prosa. Zur Illustration dienen Ereignisse aus der kollektiven Geschichte — Entdeckung, Eroberung, Peronismus, Diktaturen, Exil — und die Lücken und Tücken der Erinnerung bei den Entwürfen persönlicher Lebensgeschichten. Die historischen Fälle finden sich in Tomás Eloy Martínez* La novela de Perón, wo Perón als "madrileño" und entwurzelter Argentinier auftritt, in Abel Posses Los perros del paraíso, wo der

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jüdische Italiener Columbus zum Argentinier und "Integralsüdamerikaner" wird, und in Ricardo Piglias Respiración artificial, wo ein Pole seine Argentinität entdeckt und mehrere Argentinier selbige artifiziell zu beleben suchen. Der zurück zu den italienischen Ursprüngen reisende Argentinier Minelli in Juan Carlos Martinis Composición de lugar erfährt sich als doppelt Entwurzelter. In Rodolfo Rabanals En otra parte wehrt sich ein Argentinier in New York gegen Entwurzelung und Amerikanisierungserscheinungen. Im fünften Kapitel folgen die Textanalysen. Die üblichen, nach wie vor effizienten Motive und Erzähltechniken literarischer Identitätsdarstellung, darunter besonders die Formen fiktiven biographischen und autobiographischen Schreibens werden in den Romanen weiterentwickelt. Die dazu eingesetzten Typen des Archivromans, des Briefromans, des Tagebuchromans und des historischen Romans dienen der detektivischen Zielsetzung, weil sie den Ermittlungsprozeß multiperspektivisch gestalten lassen. Die Erkundung widersprüchlicher Versionen einer einzigen Identität erweist sich als identitätsbildendes Element. Es stellt sich die Frage nach der Wahrheit: Wie ist die Geschichte jener Identität beschaffen, ist sie erzählbar, ja gibt es überhaupt eine Geschichte? Um den Unterschied zu poststrukturalistischen Texttheorien gleich vorwegzunehmen, sei gesagt, daß geschichtsphilosophische Wahrheitsbezüge zwar dekonstruiert, nicht aber eliminert werden. Die Weltbezüge und Sprechperspektiven sprachlicher Kommunikation, die Unterscheidung verschiedener Relationsebenen zwischen Fiktion und Wirklichkeit werden nicht vom unkontrollierten Strudel der Sprache aufgesogen. Gleichwohl die Faszination für das Buch der Bücher, den Satz der Sätze oder das offenbarte totale Wort fortbesteht, läßt sich eine Weiterentwicklung des Topos der Nichtsagbarkeit der Wirklichkeit beobachten, die Borges' phantastische Vorgehensweise kritisch revidiert. Der Zauber des Gedankens von der Auflösung der Grenzen von Schein und Sein, von Fiktion und Wirklichkeit, in einem grenzenlosen Urtext jenseits von Zeit und Raum, bleibt weiterhin Thema. Eine beliebige Aufhebung der Grenzen des Textbegriffes indessen ist in den hier ausgewählten Texten nicht realisiert. Allmählich setzt sich nicht nur in der wissenschaftlichen Forschung die Meinung durch, daß zur Identität mehr gehört als Volkstümelei, Patriotismus, Nationalbewußtsein und emotionale Identifizierung mit Argentinien, die aus der "Tiefe des Herzens" kommen und die ein "Spiegel der Volksseele" sind, wie immer wieder proklamiert wurde und wird. Die emotionale Funktion von Identitätskonzepten ist sicher eminent wichtig — nicht nur in romantisierenden Ansätzen —, sobald sie jedoch über andere nicht minder wichtige Funktionen dominiert, beginnt die meist beabsichtigte Manipulation. Es fehlte nicht an Versuchen, den geistig-kulturellen Raum der "argentinischen Seele" geographisch zu umreißen: Argentinität und die Weite der Pampa gehörten demnach zusammen. Dieses tellurisch Argentinische ist

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jener Argumentation zufolge freilich wissenschaftlich unbegriindbar und rätselhaft wie das monstruöse Buenos Aires am Rande der ozeanischen Leere der Pampa oder wie die schillernde Kargheit der Quebrada von Humahuaca. Derartige Erklärungsversuche fasse ich unter dem Begriff der "Vakuum-Theorie" zusammen. Im Kapitel zur "Semantik der Pampa" (3.7) wird versucht, darüber hinauszugehen. I.II. Autorenauswahl Der Tatort ist Buenos Aires, die Zeit des Geschehens die achtziger Jahre dieses Jahrhunderts. Die fünf Schriftsteller lebten während der ersten Phase dieser Arbeit in der argentinischen Metropole und gaben dort auf die Fragen des Verfassers — mehr oder weniger bereitwillig, jedoch immer mit Emphase — Auskunft.2 Piglia und Rabanal sind gebürtige porteños. Martini stammt aus Rosario, fühlt sich der Hauptstadt verbunden und lebte acht Jahre im europäischen Exil. Der Cordobese Abel Posse ist als Berufsdiplomat ein professioneller Kosmopolit. Die Autoren gehören einer Generation an, deren bekannteste Mitglieder hier erwähnt seien: Cecilia Absatz, Vicente Battista, Eduardo Belgrano Rawson, Antonio Dal Masetto, José Pablo Feinmann, Luisa Futoransky, Carlos Gardini, Mempo Giardinetti, Angélica Gorodischer, Luis Gusmán, Vlady Kociancich, Alberto Laiseca, Héctor Libertella, Jorge Manzur, Antonio Marimón, Carlos Dámaso Martínez, Juan Carlos Martini Real, Tununa Mercado, Leonardo Moledo, Silvia Molloy, Gloria Pampillo, Reina Roffé, Guillermo Saccomano, Ana María Shua, Marta Traba und Hebe Uhart. Sie kennen oder kannten die Generationen der "Alten" Adolfo Bioy Casares, Jorge Luis Borges, Julio Cortázar, Leopoldo Marechal und Ernesto Sàbato meist persönlich, ebenso wie diejenigen Autoren, die lange vor dem Jahr 1980 publizierten, deren literarischer Einfluß jedoch erst im anschließenden Jahrzehnt voll zur Geltung kam, wie Osvaldo Lamborghini3, Manuel Puig, Juan José Saer und Andrés Rivera. Mit den Werken dieser Vorläufergenerationen, mit den darin enthaltenen literarischen Genealogien und mit deren Umsetzung der Identitätsproblematik sind sie bestens vertraut. Hierbei denkt man zwar gewiß nicht zu unrecht zuerst an Borges, aber man vergißt mit Bioy Casares ungerechterweise viele andere Autoren.4 Eloy Martínez dekonstruiert in einer fiktionalisierten Perón-Biographie den identitätsstiftenden Mythos des Parteigründers. Piglia benutzte in Respiración artificial Erzählstrategien, wie z.B. die literarische Darstellung theoretischer Fragen, die Borges popularisiert hatte, um sich eine eigene literarische Tradition zu schaffen. Rabanal, der sich in El apartado (Buenos Aires 1975) zunächst an Cortázar orientierte, entwickelte seinen eigenen unverkennbaren Stil. Posses Los perros del paraíso trägt, obwohl mehr an der karibischen Literatur — besonders der Alejo Carpentiere — orientiert als an der argentinischen, deutliche Zeichen, die auf Borges schließen lassen, wie das parodistische Spiel mit falschen und echten Zitaten und Autoren, teils in Form von

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Fußnoten, die den Eindruck einer nicht immer leicht zu durchschauenden künstlichen Authentizität erwecken.3 Piglia und Rabanal vertreten in theoretischen Schriften und Diskussionen programmatische literarische Positionen, Martini und Posse halten literaturtheoretische Prämissen im Hintergrund. Während die vorgestellten Romane in Deutschland noch nahezu unbekannt sind, stehen sie in Argentinien längst im Lehrplan der Universitäten. Ohne sie in die begradigten Kanäle literarischer "Strömungen" drängen zu wollen, vermitteln sie in einem überschaubaren Bereich Widersprüche, Polaritäten, Spannungen der argentinischen Literatur mit den komplexen Wechselwirkungen zwischen Phantastik und Realismus, zwischen Avantgarde und engagierter Literatur, zwischen und innerhalb der Gattungen und deren Verästelungen. Die Autoren warnten eindringlich vor Reinheitsgesetzen einer nationalen Kultur oder Kunst, deren Aufblähung und Mißbrauch der Peronismus und vor allem die letzte Militärdiktatur in allen gesellschaftlichen Bereichen vorgeführt hatten, und vor jeder Art von Paternalismus, einschließlich ethnozentrischer Kriterien europäischen Zuschnitts. Die Zugehörigkeit zum kritisch-intellektuellen Flügel der argentinischen Literatur im Gegensatz zu Bestsellerproduzenten wie Jorge Asís und Enrique Medina wäre eine erste — zugegebenermaßen sehr weit gefaßte — Kategorie, der man die Autoren zuordnen könnte. Ihr Einfluß äußert sich in den Texten der allerjüngsten Generation, deren bekannteste Autoren nicht unerwähnt bleiben sollen: César Aira, Martín Caparrós, Sergio Chejfec, Marcelo Cohen, Juan Forn, Rodolfo Fogwill, Daniel Guebel, Liliana Heer, Alan Pauls, Matilde Sánchez, Cristiana Sisear und Susana Szwarc. Bei dem Versuch, die Romanproduktion der Gegenwart zu überblicken, lassen sich im großen und ganzen fünf Linien ausmachen:6 1. Eine neo-avantgardistische mit Autoren wie César Aira, {Erna, la Cautiva, Buenos Aires 1981, Canto castrato 1984, Una novela china, Buenos Aires 1987, Embalse, Buenos Aires 1992, El llanto, Rosario 1992) Isidoro Blaisten, Martin Caparrós (No velas tus muertos, 1986) Rodolfo Fogwill (Los pichyciegos, 1984), Alberto Laiseca (Matando enanos a garrotazos, La hija de Kheops, Buenos Aires 1989) und Alan Pauls (El pudor del pornógrafo, 1988, El coloquio, Buenos Aires 1990). Osvaldo Lamborghini ist deren zentrale und bisher unzureichend berücksichtigte Bezugsperson (vgl. Anmerkung 3). 2. Eine journalistisch-engagierte mit den action-betonten Romanen Osvaldo Sorianos, die stilistisch den amerikanischen Kriminalroman anklingen lassen (No habrá más penas ni olvido, 1980, Cuarteles de invierno, 1982, A sus plantas rendido un león, 1986) und Eloy Martínez; hinsichtlich der Nähe zum Kriminalroman und des lakonisch prägnanten Stils könnte man hier Namen wie José Pablo Feinmann (Ultimos días de la víctima, 1980, Ni el tiro del final, 1982, El ejército de ceniza, 1986) und

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Juan Sasturain (Manual de perdedores, 1985) oder auch Mempo Giardinetti (La revolución en bicicleta, 1982, Luna caliente, Buenos Aires 1984) ergänzen. Daneben wären die der Testimonialliteratur nahestehenden Romane Miguel Bonassos (.Recuerdo de la muerte, Buenos Aires 1984) und Antonio Marimóns (El antiguo alimento de los héroes, Buenos Aires 1988) zu erwähnen. 3. Die oftmals historischen Romane, die einfach Geschichten erzählen, ohne Literatur oder Literaturtheorie eingehender zu reflektieren. Neben Abel Posse könnte man den Salgari-Verehrer Daniel Guebel (Arnulfo o los infortunios de un príncipe, 1987; La perla del emperador, Buenos Aires 1990), Martha Mercader, (Juanamanuela, mucha mujer, 1980), Juan Carlos Martini (La vida entera, 1981) und Jorge di Paolo (Minga, 1987) in diese Sparte einordnen. 4. Die selbstreflexive, mit literaturtheoretischen Prämissen arbeitende Literatur von Jorge Asís (Parte de la inteligencia, 1987), Luis Gusmán (El frasquito, 1980, En el corazón de junio, Buenos Aires 1983), Reina Roffé (La rompiente, 1987), Andrés Rivera (En esta dulce tierra, 1982, La revolución es un sueño eterno, 1987) und Matilde Sánchez (La ingratitud, Buenos Aires 1990). Piglias Respiración artificial wäre deren Aushängeschild. 5. Die sogenannte "Exilliteratur" mit Manuel Puig (Maldición eterna a quien lea estas páginas, 1980) und Juan José Saer (Nadie nada nunca, México 1980; Glosa, Buenos Aires 1986) als bekanntesten und literarisch einflußreichsten Autoren neben Héctor Bianciotti, Mario Goloboff und Daniel Moyano. Autoren, die im Exil leben oder gelebt haben, problematisieren sozusagen naturgemäß Identität. Natürlich gibt es noch einige andere Autoren, die sich mit der Thematik befassen. Sie in diese Arbeit aufzunehmen, würde zu weit führen. Es soll hier keine erschöpfende Katalogisierung vorgenommen werden, sondern die Darstellung der Identitätsproblematik in fünf repräsentativen Romane.7 Angesichts der Materialfulle zum Thema der Identität in der zeitgenössischen Literatur ist die Selektion angesichts der Repräsentativität einiger exemplarischer Werke in Kauf zu nehmen. Die einzelnen Romane, allen voran Piglias Respiración artificial, sind in Form, Stil und Inhalt derart vielschichtig, daß eine generische Einordnung Gefahr läuft, jeweils nur bestimmte Aspekte zu verallgemeinern. Die vorgeschlagene Auswahl bietet einen ersten Überblick und erschließt das literarische Umfeld. Der ausschlaggebende Grund, die literarische Gruppenbildung hier nicht zu vertiefen, liegt in der gattungsübergreifenden Fragestellung der Identität, die in Argentinien bei vielen Autoren und in den unterschiedlichsten Werken erscheint, bis hin zur unmittelbaren Gegenwartsliteratur. So z.B. Matilde Sánchez' 1990 erschienener Roman La ingratitud. Darin vollzieht sich die Erkenntnis der eigenen Identität erst nach der Einsicht in die eigene Fremd- und Andersheit einer Argentinierin in Berlin. Das

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Wechselspiel von Identität und Differenz findet in der Exilthematik einen traditionellen literarischen Rahmen. Auch der Erzähler in Sergio Chejfecs Roman Lenta biografía (1990) arbeitet an einem typisch argentinischen Identitätskonflikt. Beim Versuch, seine Lebensgeschichte zu schreiben, erkennt er, daß dies nur möglich ist, wenn er zuvor die Geschichte des Vaters erforscht. Die europäische Vergangenheit des Vaters, eines polnischen Juden, besteht jedoch nur noch aus Fragmenten, Leerstellen und Widersprüchen, so daß das Ergebnis seiner "langsamen Biographie" letztlich den literarischen Bewußtwerdungsprozeß der eigenen — mühsam aktivierten — Erinnerungen an die lückenhaften Erinnerungen des Vaters darstellt. Chejfec bestätigt dadurch eine Tendenz der jüngeren argentinischen Literatur, die Martinis Composición de lugar deutlich signalisierte: Identität ist nicht mehr in Europa zu finden. Diese Untersuchung klammert die jüdisch-argentinische Literatur aus. Sie allein bietet ausreichend Stoff, um der ihr immanenten Identitätsthematik ein größeres Forschungsprojekt zu widmen.* Auch die Literatur aus den Provinzen und der historische Roman im engeren Sinn bleiben ausgespart. Beide Richtungen enthalten zahlreiche wichtige Überlegungen zur Identität, lassen sich aber nicht auf den hier gewählten Zeitausschnitt begrenzen. Die Romane von Eloy Martínez, Piglia und Posse mögen deshalb als Beispiele aus dem historischen Bereich genügen.9 Auch die Literatur aus den Provinzen thematisiert auf vielfältige Weise Identität. Der "jujeño" Héctor Tizón ist der renommierteste Vertreter einer vitalen, autochthonen Literatur, die sich durch Regionalbezug inhaltlich deutlich von der bonaerenser unterscheidet.10 Über die Identitätsproblematik in Lateinamerika, besonders in Argentinien, Bolivien, Brasilien, Mexiko, Peru, Venezuela und in der Karibik gibt es umfangreiche Literatur. Die kontinentale Spannweite von Identitätsfindungsprozessen in den früheren Kolonien ist offenkundig. Auch die ehemaligen Kolonien und Protektorate in Afrika und Asien stehen im Zeichen eines dekolonisierenden Diskurses, der im Bereich der Literatur ein weitgehend unerschlossenes Feld darstellt, das für die kommenden Jahre eine Fülle von Möglichkeiten zu reizvollen komparatistischen Untersuchungen bietet." Auf argentinischer Seite gibt es freilich zahlreiche lesenswerte Studien zum Thema Identität,12 die nueva novela argentina bildet jedoch bislang eine Forschungslücke (Vgl. dazu Kap. 3). Ebenso wie eine umfassende Darstellung der Rolle des Romans im argentinischen Identitätsdiskurs weiterhin ein Desiderat der Forschung zu bleiben scheint, zumindest ist dem Verfasser dieser Arbeit zum Zeitpunkt der Redaktion kein derartiges Projekt bekannt.13

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Anmerkungen: 1. Z.B. ANGEHRN: 1985. FOUCAULT: 1966. HABERMAS: 1981, 1985, 1988. HAYDEN WHITE: 1986. 2. Zwischenzeitlich sind die Gespräche mit Abel Posse (Spiller: 1989) und Rodolfo Rabanal (Spiller: 1991) in Interviewform erschienen. 3. Lamborghinis (1940-1985) literarische Wirkung (besonders der beiden Romane El Fiord, Bs. As.: Ed. Chinatown, 1969, und Sebregondi retrocede, Bs. As.: Noè, 1973) kam erst in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre voll zur Geltung. Der frühe Tod des Autors trug neben der avantgardistischen Außenseiterposition sicher zur Entstehung eines postumen Kultes bei. Sein literarischer Nachlaß liegt unter dem Titel Novelas y cuernos, (Barcelona: Ediciones del Serbal, 1988) vor. César Aira konstatierte im Vorwort zu dieser Ausgabe die Bedeutung Lamborghinis für die jüngste argentinische Literatur. Zum Einfluß Lamborghinis siehe auch Héctor LIBERTELLA, Nueva escritura en Hispanoamérica, Caracas: M. Avila, 1977. 4. Der Aspekt der Identitätsthematik wurde in der umfangreichen Sekundärliteratur über diese Autoren erstaunlich partiell abgehandelt. Adolfo Bioy Casares wies in einem Interview mit der Literaturwissenschafüerin und Philosophin Graciela SCHEINES (1988: 65) auf deren zentrale Bedeutung in seinem Werk hin. Er erklärte dort, Identität sei eine seiner literarischen Obessionen. Borges widmete sich wiederholt dem Thema der Argentinität. Bei Ernesto Sàbato erfährt die Identitätsproblematik eine ontologische Vertiefung, die weit über die Komponente der italienischen Einwanderung hinausgeht, ein Umstand der E. CALABRESE dazu bewegte, den Roman Sobre héroes y tumbas (1961) als eine Summe der Argentinität zu bezeichnen (in: "De El túnel hasta Abadón el exterminador. trayectoria de una trilogía", in: Sur 325: 91). Daß die Thematik den gesamten Kulturbereich des Río de la Plata betrifft versteht sich von selbst. Aus der Literatur Uruguays sei hier mit Juan Carlos Onetti nur auf den inzwischen wohl prominentesten Schriftsteller hingewiesen. Sein Gesamtwerk und besonders der Santa Maria-Zyklus ist eine prägnante Verdichtung einer als existentiell erfahrenen Identitätsproblematik. Vgl. dazu die lesenswerte Arbeit von J. M. MOLINA, La dialéctica de la identidad en la obra de J. C. Onetti, Ffm. 1982. 5. Dem Roman war seit der Verleihung des "Premio Internacional de Novela Rómulo Gallegos" (1987) internationaler Erfolg beschieden. Er ist bisher in vierzehn Sprachen übersetzt. Die deutsche Übersetzung ist im Druck. 6. Vgl. dazu R. SPILLER, (ed.), La novela argentina de los años '80, Frankfurt: Vervuert, 1991. 7. Zu erwähnen sind: Antonio BRAILOVSKIS, Identidad (Bs. As. 1978), der zur Zeit der frühen Kolonialisierung Mexikos spielt. Anfbal FORD konstruierte in Ramos generales (1987) eine literarische Version seiner essayistischen kommunikationstheoretischen Begründung einer an populären Sitten und Verhaltensweisen orientierten Identitätssuche und -konstituierung. Des weiteren sind zu erwähnen: Rosa MAJIAN, Cuando empiezan a ser argentinos, Bs. As. 1987. Luisa VALENZUELA, eine in den USA viel beachtete Autorin, die in ihrem inzwischen umfangreichen Werk die Grenze zur Trivialliteratur überschreitet, beschrieb in Como en la guerra (1988) die Etappen einer obsessiven Suche nach Ich-Identität. Die nationale Komponente der

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Identitäsproblematik kommt in den folgenden Romanen Novela negra con argentinos (1990) und Realidad nacional desde la cama (1991) zum Tragen. 8. Bis in die jüngste Zeit erschienen zahlreiche Abhandlungen, Kongreßberichte, Romane und Erzählungen: AMIA, V Congreso internacional de investigaciones sobre judaismo latinoamericano, Bs. As.: Milá, 1989. Veröffentlichung der Beiträge des Kongresses, der vom 15.-19.8.1988 in Buenos Aires stattfand. Themen: Identität, jüdisch-lateinamerikanische Literatur, Erziehung, Minoritätenintegration, Antisemitismus; ARCUSCHIN, Maria, De UrcraniaaBasalvibaso, Bs. As. 1986. Erzählungen über die jüdisch ukrainischen Einwanderer, die sich in der Provinz Entre Ríos niederließen. BARYLKA, Jaime, et.al., Pluralismo e identidad: lo judío en la literatura latinoamericana, Bs. As. 1986; KATZ, Isle Esther, De raíces y de sitios, Bs. As. 1988. GERCHUNOFF, Alberto, Los gauchos judíos; GRIMANI, Santiago, Grimanescas, Bs. As. 1988; KOREMBLIT, Bernardo Ezequiel, Coherencia de la paradoja, Bs. As. 1987; KOVADLOFF, Santiago, Por un futuro imperfecto, Bs. As. 1987. Zum Teil politische Texte über Judentum, Poesie, Glaube und Wissenschaft; MACTAS, Rebeca, Los judíos de las acacias: cuentos de la vida campesina, Bs. As. 1936, hrsg. vom Verfasser. Die Erzählungen handeln von Protagonisten, die sich zu Beginn des Jahrhunderts in Argentinien niederließen. METZ, Allan, Leopoldo Lugones y losjudíos argentinos. Las contradicciones del nacionalismo argentino, Bs. As. 1992. MIRELMAN, Víctor, En búsqueda de una identidad. Los inmigrantes judíos en Buenos Aires 1890-1930, Bs. As. 1988. PEREDNIK, Gustavo Daniel, Hebreo soy, 2 Bd., Bs. As. 1989; PORTNOY, Antonio, Temas judíos en la literatura argentina: Hasta 1822, Bs. As. 1986. SCHICHT, José, Testigo de espanto: relato de un sobreviviente judío a la 2 Guerra Mundial, Bs. As. 1988. SENKMANN, Leonardo, La identidad judía en la literatura argentina, Bs. As. 1983. SCHALOM, Myrtha; WOLFF, Martha, Judíos & argentinos. Judíos argentinos, Bs. As. 1988; SOSNOWSKI, Saúl, La orilla inminente: escritores judíos argentinos, Bs. As. 1987; ders., Borges y la Cúbala: la búsqueda del verbo, Bs. As. 1976. 9. Zu den wichtigsten Autoren, die in historischen Romanen Identität thematisieren, zählen: Nicolás CASULLO, Elfrutero de los ojos radiantes, Bs. As. 1984; Marco DENEVI, Enciclopedia secreta de una familia argentina, Bs. As. 1987; ders. Manual de historia, (Erzählungen), Bs. As. 198S; Eduardo Mallea, Historia de una pasión argentina, Bs. As. 1937; Martha MERCADER, Juanamanuela, mucha mujer, '1980, 10 1982; Enrique MOLINA, Una sombra donde sueña Camila O'Gorman, 1973; Manuel MUJICA LAINEZ, Misteriosa Buenos Aires, Bs. As. 1950; ders., El escarabajo, Bs. As. 1982; Pedro ORGAMBIDE, Yo, argentino, Bs. As. 1968; ders., El arrabal del mundo, Bs. As. 1983; ders., Hacer la Amirica, Bs. As. 1984; ders., Historias imaginarias de la Argentina, Bs. As. 1986 (Erzählungen); Mario SZICHMAN; Bernardo VERBITSKI (Sohn jüdischer Einwanderer), Villa miseria también es América, Bs. As. 1957. Den aktuellsten Überblick gibt: Discurso historiográfico y discurso ficcional, Río de la Plata. Culturas, 11-12, CELCIRP, (Paris 1991). 10. Der aus der Provinz Jujuy stammende und nach Jahren des Exils wieder dorthin zurückgekehrte Tizón hat ein umfangreiches Werk veröffentlicht, in dem sich Exilerfahrung und Identitätsproblematik widerspiegeln. Tizón hat sich mit Erzählungen und Romanen wie Fuego en Casabindo, (Bs.As. 1987) und La casa y el viento, (Bs.As. 1984) auch in Buenos Aires durchgesetzt. J.C. Martini näherte sich in La vida entera (Barcelona 1981) dieser Art Literatur. Er integrierte dort die

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Sicht des einfachen Volkes und des Elends in den "villas": Die Hauptfiguren sind Tagelöhner, Prostituierte, Zuhälter, korrupte Priester und Politiker, mithin die in Buenos Aires nahezu vollständig verdrängten indigenen Gruppen. Dadurch kommen die zahlenmäßig stärksten Bevölkerungsschichten, Unterschicht, absinkende Mittelschichten, Arbeiter und Tagelöhner zu Wort, die sich überwiegend aus den despektierlich "cabecitas negras" genannten dunkelhäutigen Kreolen zusammensetzten. 11. Einige Beispiele aus der neueren Literatur zu Lateinamerika: R. BARTRA, La jualable melancolía: Identidad y metamorfosis del mexicano, México 1987. C. BLONDET, Muchas vidas construyendo una identidad. Mujeres pobladores de un barrio limeño, Lima 1986. Rafael CARIAS BAZO, "La identidad del venezolano y su función integradora", in: Lateinamerika-Studien, 19, (Hg.), T. HEYDENREICH, München 1985: 43-49. José Luis GOMEZ M., Bolivia: un pueblo en busca de su identidad, La Paz 1988. R. KREBS, "Identidad histórica chilena", LateinamerikaStudien, 19: 51-71. R. HUHLE, "Auf der Suche nach einer andinen Identität. Interview mit Pater Neptalí Liceta", ebd. S. 259-275. A. FLORES GALINDO, Buscando un inca: Identidad y utopía en los Andes, Havana 1986. S. E. LOZANO ALVARADO, Andes e indigenismo: identidad y conflicto, Cajamarca, Perú 1982. E. Maño MARQUEZ CASTRO, "Die kubanische Revolution: Mythos und Wirklichkeit ihrer ideologischen Identität", in: Lateinamerika, Rostock 1986: 56-69. Renato ORTIZ, Cultura brasileira A identidade nacional, S. Paulo 1985. Perú: Identidad nacional, Lima 1975. A. RODRIGUEZ DE LAGUNA, (Hg.), Images and identities: The Puerto Rican in Two World Coruexts, New Brunswick 1987. SANTI, (Hg.), The emergence of Cuban Identity and Nationality, Cuban Studies, 16, University of Pittsburgh 1986. 12. Wichtige weiterführende Literatur enthalten: Fernando AINSA, Identidad cultural de Ibero América en su narrativa, Madrid 1986; Identidad cultural en América Latina, Sondernummer der UNESCO 1986. Identidad y cultura latinoamericana. Nuestra América, 8, (México), Mai-August, 1983; José Luis IMAZ, Sobre la identidad iberoamericana, Bs. As. 1984. Paul VERDEVOYE, (Hrsg.), Identidad y literatura en los países hispanoamericanos, Bs. As. 1984; Saúl YURKIEVICH, Identidad cultural de Iberoamérica en su literatura, Madrid 1986. 13. Einen Überblick der neueren Romane vermitteln: BALDERSTONE: 1987; CELCIRP: 1991; GIMBERNAT GONZALES: 1992; FOSTER: 1986; KOHUT/ PAGNI: 1989; SPILLER: 1991. Im Bereich des Essays bildet Identität das Schwerpunktthema des 20. Jahrhunderts, auf die umfangreiche Literatur dazu kann hier nur hingewiesen werden. Als Beleg des ungebrochen anhaltenden Interesses an der essayistischen Identitätsproblematisierung in Argentinien sei lediglich ein aktueller Titel angeführt, weil der Autor darin einen Überblick von Martínez Estradas Radiografía de la pampa (1933) bis Marco Denevis La República de Trapalanda (1989) gibt: Juan Carlos DIDO, Identität de los argentinos, Bs. As. 1991.

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1. Identität und Differenz 1.1. Galoppierende Begriffsinflation. 1.2. Wesen und Prozeß. 1.3. Das Konzept des Nationalstaats. 1.4. Der juristische Aspekt: Rechtsstaatlichkeit — Verfassung — Menschenrechte. 1.5. ökonomische Aspekte. 1.6. Identität als sprachliche Interaktion. 1.7. Kulturelle Identität

1.1. Galoppierende Begriffsinflation Identität ist begehrt. Der Begriff ist nicht nur in Argentinien einer Inflationierung ausgesetzt. Die Identitätsdiskussion hallt unvermindert durch die Alte und Neue Welt. Das Echo einer breit geführten Kontroverse dringt — inzwischen bis zur Unkenntlichkeit differenziert — durch alle Bereiche und Nischen der Industriegesellschaften in deren Schaltzentralen vor: Corporate Identity ist die aktuelle Zauberformel, die die wirtschaftliche Profitmaximierung auf eine weitere Spitze treiben soll.1 Identität hat in den letzten zwanzig Jahren fast alle wissenschaftlichen Disziplinen und als Konsequenz davon die öffentliche Diskussion überflutet. Zahllose Fragen lassen sich scheinbar mit nur einem einzigen Wort beantworten: Identität. Spätestens hier erhebt sich der Verdacht der Vieldeutigkeit dieses Schibboleths. Viele punktuelle Deutungsversuche definieren den Begriff aus sich selbst heraus. Die Polysemie des Identitätsbegriffs geht einher mit einer progressiven Sinnentleerung. Identität ist in den alltäglichen Sprachgebrauch eingesickert und synonymisiert nur mehr vage etwas, das mit Selbstbildkosmetik, mit Imagepflege, zu tun hat: Identität als Fassade, Persönlichkeitsdesign und Selbstdarstellung auf der Bühne des Alltags.2 Der durch rituelle Wiederholung in den Massenmedien dehnbar gemachte Begriff der Identität gehört zur Liturgie der Informationsgesellschaften. Verbleiben somit Hypothesen — aufgerichtet wie Potemkinsche Dörfer — das fassadenhafte Resultat der langwierigen Identitätsdiskussion? Die virulente Verbreitung des Begriffes ist in der Tat ein Indiz für Oberflächen-Rhetorik und insofern authentischer Ausdruck des Zeitgeistes. Dient das Tagungsthema "kulturelle Identität" wirklich nur noch der Gewissensberuhigung?3 In Argentinien erfaßte die Identitätsdiskussion bereits seit der Gründung des Nationalstaats und besonders nach den Phasen der massiven Immigration um die Jahrhundertwende alle gesellschaftlichen Bereiche, insbesondere auch die Literatur, die ein zentraler Schauplatz dieser häufig

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ideologisierten Auseinandersetzungen wurde. Am Beispiel Argentiniens läßt sich zeigen, daß der Identitätsbegriff in der Literatur sinnvoll anwendbar ist, und daß er mit der Bewahrung und Entwicklung kultureller Identität eine wichtige Funktion erfüllt, die eine entscheidende Kraftquelle für den Selbsthilfeprozeß einer Gesellschaft ist (Richard von Weizsäcker). Das Wissen, wer wir sind, konstituiert unsere kulturelle Identität und unsere Wirklichkeit. Mit der Identität sind Problemstellungen verknüpft, die weit über die unmittelbare Thematik hinausweisen, wie das Verhältnis der Fiktion zur Wirklichkeit, zu Geschichte und Politik und die philosophische Frage nach der Erkennbarkeit der Wahrheit und ihrer Darstellung. Diese Themen aus Borges' literarischem Repertoire findet man in den hier behandelten Romanen wieder. 1.2. Wesen und Prozeß Ein Prinzip der Identität ist die Veränderung, angesichts derer ein Ziel von Geschichtsschreibung und von literarischen Identitätsentwürfen die Bildung von Kontinuität ist. Wie kann etwas, das sich verändert, identisch sein? Sind Identität und Kontinuität nur artifizielle und zudem defizitäre Abfallprodukte der linearen Begrenztheit literarischer Darstellungsformen? Dieses Paradox akzentuiert sich mit dem beschleunigten Weltprozeß, in dem nur der Wandel dauerhaft zu sein scheint. Identität läßt sich jedoch weder ausschließlich dynamisch noch rein statischsubstantiell definieren. Keiner der beiden Komponenten Prozeß und Essenz ist Priorität zu gewähren. Eine Entweder-Oder-Entscheidung ist auszuschließen, da sich für beide Thesen ausreichend Gründe finden. Das bevorzugte Thema der Metaphysik "Einheit und Vielheit" zeugt von dem Bemühen, die Welt auf den "All-Einen" Nenner zu bringen. Die idealistische Philosophie fand für dieses Eine eine Reihe von Etiketten: das Gute, das Unbedingte, den absoluten Geist, summum ens, etc. Damit wollte sie die erste — atemporale und utopische — Ursache erklären, das Urbild oder im platonischen Sinn das Original zu den irdischen Abbildern. In den monotheistischen Religionen vertritt ein die menschliche Erkenntnisfähigkeit überschreitender Gott diese absolute über hermeneutische Aporien erhabene Instanz. Die sogenannte Identitätsphilosophie (Parmenides, Fichte, Hegel, Schelling, Spinoza) entwickelte daraus das Postulat der Selbigkeit eines Absoluten jenseits der Dialektik von Individuum und Gesellschaft: Die Einheit von Denken und Sein, bzw. Geist und Natur.4 Läßt man metaphysische Begründungsversuche beiseite, bietet sich die Möglichkeit, zwei sich gegenseitig bedingende Prozesse der Identitätsbildung ins Auge zu fassen: Sozialisation und Individuation. Wir realisieren beide im Medium der Sprache. Persönliche Identität ist in der Regel in einen gesellschaftlichen Rahmen (Nation, Geschlecht, Familie, Beruf, etc.) eingebunden. Eine Konzentration auf diese

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Aspekte berücksichtigt zugleich die von den Autoren vorgeschlagene Unterscheidung von privater und kollektiv-öffentlicher Geschichte. Das Ich braucht das Du bzw. das Wir. Je größer die Gruppe, desto abstrakter und damit manipulierbarer ist ihre Identität. Daher rührt das Unbehagen an nationaler Identität, repräsentiert durch Staat und Kultur. Die gezielte Steuerung emotional besetzter nationaler Werte und Symbole von politischen Machtgruppen wird in diktatorialen Regimen zu völliger Gleichschaltung, die das Unbehagen in Angst und Panik steigert. Die Bewertung dieses Wechselverhältnisses und seine Darstellung in Romanen weisen in den bürgerlichen Gesellschaften eine lange Tradition auf. Die hier ausgewählten Romane beinhalten den Basiskonflikt, der darin besteht, die Bedürfnisse des individuellen Ichs dem gesellschaftlich geforderten Rollenzwang anzupassen. Für diese Problematik lassen sich respektable Beispiele finden. Wer kennt nicht Rimbauds vielzitierten Ausruf: "Je est un autre", Prousts Atomisierung des Ichs in A la recherche du temps perdu, Kafkas existentielle Deformierung und Animalisierung des Ichs, Musils Auflösung des individuellen Ichs in Der Mann ohne Eigenschaften, James Joyces stream of consciousness, Pirandellos Protagonisten, die in Seipersonaggi in cerca d'autore vor allem ihre Identität suchen, die écriture automatique der Surrealisten, die Doppelgängerthematik in Max Frischs Mein Name sei Gantenbein, in vielen Erzählungen Borges' und bei Cortázars poetischem camaleonismo, die Rollenspiele der Protagonisten und Erzählerfiguren in den Texten Manuel Puigs5 oder in Carlos Fuentes' Cambio de piel, die alle Ich-Identität, Individualität in Form von narrativen Rollenspielen thematisieren. Die vorzustellenden Autoren problematisieren in diesem Sinne Konflikte, die aus der Beziehung von persönlicher und kollektiver Identität entstehen. Eloy Martínez wagt sich an eines der heikelsten Themen der argentinischen Geschichte. Er stellt mit verschiedenen konkurrierenden Perón-Biographien eines der rätselhaftesten und deshalb vielleicht aufschlußreichsten Kapitel des 20. Jahrhunderts in den Mittelpunkt einer Identitätsreflexion, die das Leben Peróns im nationalen Zusammenhang betrachtet.6 Martini benutzt in Composición de lugar die Reise in den italienischen Süden, dem Herkunftsland der Vorfahren des Protagonisten Minelli. Piglia versucht in Respiración artificial im Fadenkreuz von persönlicher und nationaler Geschichte die geheimnisvolle Identität mehrerer Protagonisten zu enträtseln und produziert mit dem Text "artifizielle Identität". Abel Posse karikiert in Los perros del paraíso eingebunden in die Kritik an der hispanozentrischen Version der Inbesitznahme Amerikas, das Motiv der Paradiessuche. In seiner wenig erobererfreundlichen Sicht des Konfliktes zwischen europäischer und indianischer Kultur folgte dem descubrimiento (Entdeckung) der cubrimiento (Bedeckung) der indigenen Kulturen, die den Vergleich mit der sogenannten Zivilisation des mittelalterlichen Spaniens nicht zu scheuen hätten brauchen, sondern sie schienen in vielen Bereichen überlegen zu sein,

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auf alle Fälle verhielten sie sich humaner, kultivierter und rationaler als ihre "ziviliserten" europäischen Artgenossen. Posse hinterfragt stellvertretend für ganz Lateinamerika das Klischee von Zivilisation und Barbarei in bewährter okzidentkritischer Tradition und ohne das Klischee des "guten Wilden" zu reproduzieren. Er vereint die westliche Linie der zivilisatorischen Selbstkritik (Spengler, Gehlen, Marcuse) mit der antimaterialistisch ausgerichteten, als Antipode zu den USA gedachten, Utopie des Arielismus von José Enrique Rodó. Der religiöse Imperialismus der katholischen Könige habe soziale Strukturen in die neue Welt gebracht, so Posse, die sich noch heute in Form des Caudillismo auswirken, dessen Entstehung sein Text darstellt. Rabanals Roman En otra parte konzentriert sich auf die persönliche Sphäre. Seine schreibenden Protagonisten sind Jäger ihrer persönlichen Identität. Auch sie stoßen in ihren Biographien auf die Stigmata der argentinischen Geschichte. Historische Konflikte wie Peronismus und Diktaturen brechen in die labile Gegenwart ein: auch Rabanal kann Identitätskonflikte nicht auf die Privatsphäre reduzieren. Die Analyse der Texte wird zeigen, wie Literatur zum Freiraum für Rollenspiele wird, in denen mittels fiktiver oder fiktionalisierter Biographien versucht wird, totalitäre Repression, Zensur, Exil und die "desaparecidos" zu thematisieren. Die Texte legen Zeugnis von den Schäden ab, die ein faschistischer Staat im kulturellen Bewußtsein einer Gesellschaft hinterläßt. Insofern sind die Romane Mahnmale des kollektiven Gedächtnisses. Ricardo Piglia widmete Respiración artificial zwei "desaparecidos" um auszudrücken, daß er den Sinn des historischen Bewußtseins darin sieht, Gegenwart und Zukunft verstehend zu verändern und totalitärem Machtmißbrauch vorzubeugen. Die Tendenz, persönliche Identität im Laufe der gesellschaftlichen Evolution als Privatunternehmen zu betrachten, im Gegensatz zur Vorstellung von der gesellschaftlichen Produktion und der festen Verankerung von Identität in der Sozialstruktur bei vorindustriellen Kulturen, ist in Zusammenhang mit kultureller Identität eminent wichtig.7 Während in den auf Abstammungsgemeinschaften, Volkstum, Rasse oder Nation basierenden Identitätskonzepten Natur, Blutsbande und Tradition als Schicksalsmächte galten, denen die Individuen unterworfen waren, nährt der moderne Individualismus die Vorstellung, daß allein die Entwicklung der Persönlichkeit das Verhältnis zur Gesellschaft bestimmt. Die gesellschaftlichen Umstände werden infolgedessen nicht mehr fatalistisch hingenommen, sondern als veränderbare soziale Produkte erachtet. Identität gilt als Konstrukt, nicht als Fatum. Der Begriff der Identität löst im 20. Jahrhundert den Schicksalsbegriff des 19. ab. Identität beruht, so der Tenor neuerer Identitätstheorien (Erikson 1966, Freud 1940, Goffmann 1967, Habermas 1973, 1974, 1976, 1981, 1988, Krappmann 1971, Luckmann 1979, 1980, Mead 1968, 1980) auf der menschlichen Fähigkeit zur

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Selbstreflexion. Bei der Bildung und Aufrechterhaltung von Identität verschränken sich folgende Prozesse: 1. Das Verhältnis zwischen Person (Selbstbild) und Gesellschaft (Selbstbild im Blick der anderen). Darunter fällt die Situierung in der Sozialstruktur, sowie die Gesamtheit der sozialen Zuschreibungen von a) Staat, Erziehungssystem, Kulturindustrie und Kirche und b) Institutionen und Kräften, die außerhalb der offiziellen Norm stehen oder sich dieser widersetzen (Ideologien: Kommunismus, Anarchismus, Aktivitäten von Intellektuellen, Künstlern, Gegenkulturen und subversiven Gruppierungen). 2. Das Verhältnis zwischen den unterschiedlichen Instanzen und Rollen einer Person. 3. Das Verhältnis der verschiedenen Lebensphasen einer Person auf der biographischen Zeitachse. Wie wir am Beispiel des Habermas'schen Ansatzes (Kap. 2) sehen werden, handelt es sich bei der Entstehung personaler Identität um Vermittlungsprozesse zwischen Distanz und Einbindung in die soziale Umwelt und zwischen den synchronen Instanzen und den diachronen Lebensphasen einer Person. Die ausgewählten Texte lassen sich dazu als Negativfolie lesen, die die Problematik oder das Scheitern einer Ausbalancierung dieser Vermittlungsprozesse illustrieren.

1.3. Das Konzept des Nationalstaats Nationalisme est acceptation d'un déterminisme. Maurice Barrés L'homme n'appartient ni à sa langue, ni à sa race: il n'appaitie nt qu'à lui-même, car c'est un être libre, c'est un être moral. Einest Renan Das nackte Prestige der «Macht» wandelt sich in andere, spezifische Formen ab, und zwar in die Idee der «Nation». Max Weber

Es folgt die Darstellung der grundlegenden nationalen, juristischen, ökonomischen und sprachlichen Aspekte der argentinischen Identitätsdiskussion. Sie bedingen sich wechselseitig. Ihre getrennte Darstellung dient der analytischen Klarheit. Der nationale Aspekt ist exemplarisch für die enge Verknüpfung von literarischer Auseinandersetzung mit Identität und anderen Diskursen. Das politische und wirtschaftliche nation building-Projekt vereinnahmte die Kultur und in besonderem Maße die Literatur. Die gesamte postkoloniale Literatur des 19. Jahrhunderts ist in Argentinien von dem Bemühen durchdrungen, an Gründung und Entwicklung der Nation mitzuwirken. Die Literatur stand seit der Unabhängigkeit im Zeichen des

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nation-building-Projektes, bestimmt von der Suche nach guiding-fictions.1 Es entwickelte sich ein Identitätsdiskurs, der weitgehend von einem Nationalbegriff regiert wurde, dessen Intention maßgeblich antikolonial war, der sich auf die bezeichnenderweise weitgehend mit Buenos Aires gleichgesetzten patria konzentrierte9 und der Unabhängigkeit, Freiheit, Gleichheit und Fortschritt garantieren sollte.10 Die positive Besetzung als progressive Kraft führte den Nationalismus in Argentinien durch das 20. Jahrhundert hin zur Debatte um das ser national, an der sich das gesamte politische Spektrum beteiligte." Hans-Joachim König legte am Beispiel Neu-Granadas eine differenzierte Studie zur Entstehungsgeschichte und zur gesellschaftlichen Funktion der verschiedenen Erscheinungsformen des Nationalismus vor.12 Königs detaillierte Rekonstruktion der Nationwerdung Kolumbiens von den kolonialen Anfängen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts darf trotz regionaler Begrenztheit als Fallstudie für andere lateinamerikanische Regionen herangezogen werden, zumal er es vermeidet, den vieldeutigen Begriff der Nation aus sich selbst heraus zu definieren. Anstelle dessen untersucht er die jeweils vorherrschenden gesellschaftlichen Funktionen und Instrumentalisierungen von Nationalismus. Das Konzept der Nation ist nicht nur aus historischen Gründen für die Identitätsdiskussion relevant; es erlebt gegenwärtig eine weltweite Renaissance. Ein kurzer Blick in die Begriffsgeschichte zeigt, daß Nation im heutigen Sinne ein relativ junger Begriff ist. Im Altertum wurde nicht eindeutig unterschieden zwischen natio (lat. Geburt, Volksstamm), gens (Geschlecht, Stamm) und populus (Volk, Gemeinde). Im Mittelalter schlössen sich Studenten einer Fakultät zur wirtschaftlichen und rechtlichen Absicherung zu einer Nation zusammen. In Europa entwickelte sich innerhalb der katholischen Kirche ein Nationalbewußtsein (in England bereits im 13. Jh.), das durch das Schisma (1378-1415) an Konturen gewann und durch Anglikanismus, die deutsche Reformation und Gallikanismus forgesetzt wurde. Eine global verbindliche Begriffsbestimmung existiert bis heute nicht. Das aus der Französischen Revolution und aus der Industriellen Revolution hervorgegangene Konzept nationaler Verfassungsdemokratien, das bislang kollektive Identitäten garantierte, ist ein Produkt des Bürgertums. Mit dem Erstarken des dritten Standes gegenüber Aristokratie und Klerus trat es einen weltweiten Siegeszug an, indem es sich durch Abgrenzung nationaler Identitäten von anderen differenzierte. Die Dominanz des Bürgertums kam im Anspruch, das ganze Volk zu repräsentieren, zur Geltung. Die soziale Machtverschiebung vom ersten und zweiten zum dritten Stand ging einher mit dem von Max Weber beschriebenen Säkularisierungsprozeß: das Hervortreten der Nation ging einher mit dem Zurücktreten der Religion. Die Entwicklung des nationalen Gedankens im 19. Jahrhundert führte neben der Herausbildung staatsbürgerlicher Werte in Form von Menschenrechten und verfassungsmäßig verankerten politischen Freiheiten durch imperialistische

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Radikalisierung auch zu den nationalistischen Stahlgewittern des zwanzigsten. Ehemalige absolutistische Monarchien mit einer starken Zentralgewalt waren die ideale Voraussetzung für den nationalen Expansionsdrang der kapitalistischen Märkte. Gab es keine starke absolutistische Regierung, wie in Deutschland, Italien oder in den skandinavischen und slawischen Ländern, war auch der dritte Stand schwach, die Entwicklung von Feudalismus zum Nationalismus verlief infolgedessen langsamer. Dieser Prozeß wies in Argentinien und anderen lateinamerikanischen Ländern aufgrund der durch die Kolonialisierung mitbedingten Divergenz von Staats- und Nationwerdung, der Unabhängigkeitsbewegung und der postkolonialen Abhängigkeit grundlegend andere Charakteristika auf als die der europäischen Nationen. Doch die Schwäche des Bürgertums wird gemeinhin als eine der Hauptursachen der schwachen Demokratien in Lateinamerika gewertet. Die Probleme beginnen wie bei der Identität mit der Begrifflichkeit.13 Das argentinische Wort nación läßt die intensiv gepflegte Erinnerung an die Unabhängigkeitskämpfe anklingen und alles, was diese, inzwischen zum Klischee verkommen, darstellen sollen. Freiheitsdrang und Heldenmut derpróceres erfüllen wie ehedem die "Bollwerkfunktion" zur Sicherung nationaler Identität, wie ein Blick in die Geschichtsbücher leider immer noch zeigt. Heroische Männer — Frauen eignen sich nach wie vor nur sehr bedingt —, Ruhm und Märtyrer scheinen unverzichtbar für das Nationalgefühl zu sein. Diese historisch ins Übermenschliche erhöhten Leitfiguren erreichten oft schon zu Lebzeiten eine gesamtlateinamerikanische Reichweite. Der Makel der Rassenmischung konnte durch deren Unterstützung und durch neue Entwürfe einer "kosmische Rasse" in Positive projiziert werden. Anders die Konnotationen im Spanischen der Halbinsel, wo der Nationalgedanke das von den Katholischen Königen initiierte Goldene Zeitalter evoziert und wo die Verfassung innerhalb der unauflösbaren Einheit der "nación española" die Autonomie der "nacionalidades y regiones" garantiert. Der deutsche Begriff "Nation", geht auf J.G. Herders (1744-1803) "Volksgeist" zurück und wurde vom aufstrebenden Bürgertum geformt, das eine staatstragende Rolle übernehmen konnte: Das nationale Bürgertum konnte seine Interessen in den ersten Industrienationen sehr gut über den Staat artikulieren und vertreten; ein derartiges nationales Bürgertum ist in der Dritten Welt allenfalls rudimentär existent, da es im Zuge der abhängigen Entwicklung über keine solide sozio-ökonomische Basis verfügt und keine ausreichende Identifikation mit der Nation als solcher hat.14

Nationalbegriffe sind so zahlreich wie Nationen. Es gibt einige Gruppierungsversuche, die auf einige fundamentale Unterschiede hinweisen. Westeuropäische und nordamerikanische Staaten, die in Lateinamerika als Vorlage dienten, definieren Nation als politische Willensgemeinschaft, die sich selbst eine politische Verfassung

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gibt; im Sinne von Abbé Sieyès Gemeinschaft, die über ein gemeinsames Gesetz verfügt und durch dieselbe gesetzgebende Versammlung vertreten wird (Schieder, 1984: 122). Die mittel- und osteuropäische Tradition geht dagegen von den präpolitischen Kriterien der Sprach-, Kultur- und Geschichtsgemeinschaft aus, um nationale Identität substantiell zu definieren. Diese Richtung spricht auch von "subjektiver" Nationenbildung für die westeuropäischen politischen Willensgemeinschaft im Gegensatz zur "objektiven", auf gemeinsamer Sprache, Kultur und Geschichte basierender (Hayes, Lemberg, Kohn). Neuere Untersuchungen weisen auf den künstlichen und gemachten Charakter von Nation und Nationalität hin (Anderson: 1988; Giddens: 1985; Hobsbawm: 1991). So betont Anthonny Giddens den Einfluß der politischen Machtstrukturen bei der Ausbildung nationalstaatlicher Verfassungen und die Einbindung der Nation in das System miteinander konkurrierender Nationalstaaten: The nation-state, which exists in a complex of other nation-states, is a set of institutional forms of gouvernance maintaining an administrative monopoly over a given territory with demarcated boundaries, its rule beeing sanctioned by law and direct control of the means of internal and extemal violence (1987: 171).

So gesehen stellt sich Nation weder als politische Willensgemeinschaft, noch als ethnisch-kulturelle Schicksalsgemeinschaft dar, sondern als das Resultat der Vereinheitlichung politischer Herrschaftsgebilde, die ihren Antrieb in der internationalen Machtkonkurrenz finden. 15 Der konstruktivistische Charakter der objektivistischen Auffassung von Nation kommt besonders in Gesellschaften zur Geltung, die im 19. Jahrhundert noch keine klare politisch-staatliche Einheit bildeten. Die Identität von Nation und Staat ist mithin nicht nur in Argentinien ein problematisches Gebilde: "Nach der geglückten Gründung des italienischen Nationalstaates 1861 soll der frühere piemontesische Ministerpräsident Massimo d'Azeglio vor allem mit Blick auf den Nord-Süd-Gegensatz innerhalb Italiens bemerkt haben: 'Wir haben Italien geschaffen, nun müssen wir die Italiener schaffen.'" 16 Diese grobe Skizze verdeutlicht, daß der Nationalstaat aus dem Machtgefüge des Absolutismus entstanden ist. Wesentliche Konzepte und Kriterien sind: (a) die kulturelle Schicksalgemeinschaft, basierend auf gemeinsamer Abstammung und Sprache; (b) die politische Willensgemeinschaft; beide verbunden mit (c) persönlichem Zugehörigkeitsgefühl. Die von Giddens betonte Komponente der politischen Vereinheitlichung von Herrschaftsgebilden verweist auf die Frage der sozialen Akzeptanz staatlich verfugter Identität. Die Abgrenzungsfunktion gegenüber anderen durch Machtentfaltung und Prestigesicherung ist ein konstantes Merkmal der verschiedenen Typen. Auch in Argentinien wurde nationale Identität durch Differenz definiert. Ein Charakteristikum dieser Entwicklung war, so der Tenor der Forschung,

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aufgrund des geringen indianischen Substrats und der massiven Einwanderungssch&be die starke Abgrenzung von anderen lateinamerikanischen Staaten und die Identifikation mit Europa bei zunächst harscher Abwendung von Spanien. Die argentinische Geschichte pendelte zwischen den Extremen eines Überlegenheitsgefühls gegenüber Lateinamerika und eines durch die Europaorientierung verursachten Minderwertigkeitskomplexes. Der Europäismus entwickelte sich in Argentinien zu einem Prinzip irrationaler Hoffnung, das verstärkt durch das historisch verwurzelte Minderwertigkeitsgefühl bis heute die wirtschaftliche Entwicklung blockiert. Seit Sarmiento hält sich der Glaube, die Mestizierung habe die schlechten Eigenschaften der Einwanderer bzw. der Indianer (und in anderen Ländern wie Brasilien und Peru der Schwarzen) verbreitet. Spekulationen über eine nationale Wesensart, die auf unveränderliche Eigenschaften abzielen, wie dies beim ser nacional der Fall war, können sich aufgrund der historischen Gewachsenheit solcher Vorstellungen nur in Widersprüche verstricken. Dennoch klebt die aktuelle Auseinandersetzung um Identität — und das nicht nur in Argentinien — noch immer an den Begriffen des 19. Jahrhunderts; dennoch finden Identitätskonzepte, die mit den Begriffen Volk und Nation arbeiten, nicht nur in den Reihen konservativer Denker prominente Fürsprecher, die auf Tradition pochen. Es mag überraschen, einen elitären Ästheten wie Karl-Heinz Bohrer die völkische Trommel schlagen zu hören: "Nationale Identität ist etwas anderes als das Sichwohlfühlen in provinziellen Reizen. Die Kategorie der Nation — das sind die symbolischen und reflexiven Konstanten eines kollektiven historischen und kulturellen Erinnerungsvermögens".17 Die nationale Eingrenzung kultureller Traditionen kennzeichnet den Typ (a) der Schicksalsgemeinschaft. Hier wird die Gefahr der Vermischung verschiedener Ebenen offenkundig. Cortázar gehörte, auch nachdem er die französische Nationalität angenommen hatte, weiterhin unzweifelhaft zum Kulturraum des Rfo de La Plata, ebenso wie der Prager Jude Franz Kafka zur deutschen Kultur zählt. Kulturelle Überlieferung sind nicht auf Nationen angewiesen, wie der argentinische Universalismus eindrucksvoll beweist. Die argentinische Identitätsdiskussion dieses Jahrhunderts erfaßte das gesamte ideologische Spektrum: Zuerst zur Zeit der Jahrhundertfeiern. Dann in den Essays von Martínez Estrada, über Raúl Scalabrini Ortiz' El hombre que está solo y espera (1931) und Eduardo Malleas Historia de una pasión argentina (1937) bis hin zu Bernardo Canal Feijoos drei grundlegenden Bänden zum Problem der nationalen Kultur Proposiciones en tomo al problema de una cultura nacional argentina (1944). Bei der in den sechziger Jahren unter dem Schlagwort "ser nacional" geführten Polemik um das "Wesen der argentischen Nation" beteiligten sich ebenfalls alle ideologischen Lager: J. J. Hernández Arregui18, José Luis Imaz, Los que mandan (1965), Arturo Jauretche mit El "medio pelo" en la sociedad argentina (1966)," J. J. Sebreli mit Buenos Aires: vida cotidiana y alienación (1964). Einige zeitge-

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nössische Autoren gehen wie Anibal Ford in Desde la orilla de la ciencia. Ensayos sobre identidad, cultura y territorio (1987) von der Alltags- und Volkskultur aus, um Identität ideologisch zu begründen. Man hält den Begriff der Nation nach wie vor für psychologisch effizient, so daß man glaubt, sich guten Gewissens mit ihm identifizieren zu können.20 Den Hintergrund dieser Diskussionen bilden die Veränderungen der politischen Auseinandersetzungen, die in ganz Lateinamerika dieselben Phasen durchliefen: In den 60er Jahren sollten die notwendigen sozialen Veränderungen revolutionär erreicht werden, in den 70ern strebte eine integrative Bewegung nach Selbstbestimmung und Solidarität. Die demokratischen Bewegungen der 80er Jahre konzentrierten sich auf Menschenrechte und ideologischen Pluralismus, um Reformen zu bewirken. Inzwischen ist von notwendigen sozialen Veränderungen und Solidarität nicht mehr die Rede, sondern man spricht von "reajustes estructurales". In ganz Lateinamerika stützen sich Massenbewegungen wie der Peronismus auf völkisches Gedankengut. Gefährlich daran ist nicht, daß sie für die Rechte des Volkes eintreten, sondern daß die sie präpolitisch legitimiert und anfällig für charismatische Führerfiguren sind. Deren Militarismus und Faschismusnähe stellt Eloy Martfnez am Beispiel Peröns und dessen demagogischer Selbstmythifizierung dar, die von den Volksmassen bereitwillig übernommen wurde. Im Rahmen des deutschen "Historikerstreites" versteifte sich Michael Stürmer geradezu exemplarisch auf Nation und Patriotismus als Mittel der Sinnstiftung, quasi als Ersatzreligion.21 Der deutsche Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt, ein Fürsprecher multinationaler Paktsysteme, kann dem Konzept des Nationalstaats nichts mehr abgewinnen. Er hält die Diskrepanz zwischen den Lösungsangeboten, die uns die althergebrachten Ideologien vermitteln, und den neuen übernationalen Problemstellungen für die "Tragik des 21. Jahrhunderts": "In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehen wir eine Wiederkehr des Nationalstaats oder wenigstens der nationalen Identität. [...] Das ist nicht nur in Europa, sondern auch innerhalb der Sowjetunion so, wo die Nationalitäten sich entdecken und ihr Recht verlangen". Damit nicht genug, denn so Schmidt weiter: "Das schlimmste: Es ist in der gesamten Dritten Welt so. Ein Mann wie der Präsident von Sambia schwärmt schon seit zwanzig Jahren von 'nation building'. Das tun sie alle in Afrika". Dies ist jedoch, folgt man Schmidt, mit erheblichen Problemen verbunden: "Fast in der gesamten Welt lebt die Vorstellung der Souveränität des nationalen Staats, auch wenn er in Wirklichkeit so national nicht ist, weil es zufällig zusammengewürfelte Grenzen etwa in Afrika sind, die das koloniale Zeitalter hinterlassen hat". Schmidts Vorstellung steht dem gegenüber, "daß die Probleme des nächsten Jahrhunderts durch die Nationalstaaten nicht gelöst werden können, wie immer sich diese Nationalstaaten ihre eigene gesellschaftliche, wirtschaftliche oder staatliche Ordnung herrichten wollen [...].22 Diese Aussagen beschreiben insofern auch die argentini-

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sehen Verhältnisse, als nation building ein Leitmotiv der Identitätsdiskussion war, das schon im 19. Jahrhundert alle gesellschaftlichen Bereiche bestimmte. Im 19. Jahrhundert war der Ausdruck literatura nacional ein Pleonasmus (Ricardo Piglia). Die Literatur war in das Projekt des Nationalstaats eingebunden. Erst wehte der Geist der Unabhängigkeitskämpfe, dann war es das liberale Projekt des nationalen Aufbaus, das die Literatur prägte. Die nationalen lateinamerikanischen Unabhängigkeitsbewegungen wiesen, wie in den Werken des Venezolaners Andrés Bello, des Cubaners José Martí oder Rubén Darios aus Nicaragua nachzuvollziehen ist, häufig eine amerikanische Dimension auf.23 Der Traum Bolivars von der Einheit Südamerikas sollte in Abgrenzung von Nordamerika eine kreolische Mentalität für Lateinamerika erzeugen; problematisch war dabei die Frage, auf welcher Basis dies geschehen konnte. Auch Estéban Echeverría, Lucio Mansilla, José Marmol und Sarmiento konnten — gefesselt im gesellschaftlichen Kontext — auf keine autochthone Romantradition zurückgreifen. Der als erster argentinischer Romantiker bezeichnete Echeverría schrieb neben Elvira o la novia del Plata (1832) mit dem gesellschaftskritischen Opus El matadero (geschrieben 1838, veröffentlicht 1871) das Ursprungswerk argentinischer Literatur. Echeverría zerrte an diesen Fesseln. Trotz des Korsetts europäischer Überlieferungen experimentierten die Autoren des 19. Jahrhunderts mit den tradierten Formen, die das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, von Literatur und Politik in seiner genuinen Verschränkung wiedergaben, um die Besonderheiten ihrer Gesellschaften zu erfassen. Dadurch nationalisierten sie, wie Ricardo Piglia sagt, den Roman. Piglia leitete von der Argentinisierung der europäischen Kulturgüter die formalistisch angehauchte These ab, der argentinische Roman sei durch die Nationalisierung der Gattung (Roman) entstanden. Domingo Faustino Sarmiento transformierte in Civilización y barbarie europäische Themen, Gattungen, Stilformen und Sprachen zu einer genuin argentinischen Einheit, so daß der Text zu einem Ausgangspunkt argentinischer Literatur wurde, der sich hervorragend als Beispiel für literarische Transkulturation eignet. Der nationale Gedanke fand in der Erinnerung an die Unabhängigkeitsbewegung emanzipatorische Kraft und eine Legitimation, deren Berechtigung noch heute für unwiderlegbar gehalten wird. Ein Beispiel ist die Forderung des liberalen Denkers Juan Bautista Alberdis, auf den wir beim Abriß des argentinischen Identitätsdiskurses ausführlicher zurückkommen werden, nach einer nationalen Philosophie: Es, pues, ya tiempo de comenzar la conquista de una conciencia nacional, por la aplicación de nuestra razón naciente, a todas las fases de nuestra vida nacional. Que cuando, por este medio, hayamos arribado a la conciencia de lo que es nuestro y deba quedar, y de lo que es exótico y deba proscribirse, entonces sí que habremos dado un inmenso paso de emancipación y desarrollo, porque no hay verdadera

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emancipación mientras se esté bajo el dominio del ejemplo extraño, bajo la autoridad de las formas exóticas. Y como la filosofía es la negación de toda autoridad que de la de la razón, la filosofía es madre de toda emancipación, de toda libertad, de todo progreso social. Es preciso, pues, conquistar una filosofía, para llegar a una nacionalidad. Pero tener una filosofía, es tener una razón fuerte y libre: ensanchar la razón nacional, es crear la filosofía nacional y, por tanto, la emancipación nacional.24

Solches Denken wirkt bis in die zeitgenössischen Auseinandersetzung um Argentinität zwischen Victor Massuh und José Isaacson fort. Trotz kontroverser Standpunkte kamen sie unisono zu dem Ergebnis, daß nur eine Stärkung des Nationalstaats die Lösung der Identitätsproblematik mit sich bringe.25 Isaacson, der eine rationale Analyse der sozialen Strukturen vorschlug, stellt fest: "[que] la identidad argentina es una cuestión de indudable vigencia, y no tanto por la juventud de la nación como por la debilidad de sus estructuras". 26 So sehr diese Diagnose zutreffen mag, verhindert sie effiziente Lösungsmöglichkeiten, denn wenn die nationalstaatlichen Konzepte nicht mehr taugen, weil sie den neuen Problemhorizont nicht erfassen, bleiben zwei Möglichkeiten: entweder man reformiert sie oder man erarbeitet neue transnationale Lösungsmodelle. Dazu müßten die Voraussetzungen, die man beim Aufbau der Nation festgelegt hatte, verändert werden. Im Falle Argentiniens führte dies notwendigerweise zu der Beschäftigung mit der Einwanderung, die im Zentrum des nation-building-Projektes stand und die das Land erst zu dem machte, was es heute darstellt. In den 60er Jahren veröffentlichten José Luis Romero und Gino Germani ihre inzwischen klassischen Forschungen, die in verschiedene Richtungen wiesen. Romero prägte den Begriff des "aluvión inmigratorio": "el aluvión inmigratorio incorporado a la sociedad criolla adquirió caracteres de conglomerado, esto es, de masa informe, no definida en las relaciones entre sus partes ni en los caracteres del conjunto". 27 Germani hob, im Gegensatz zur Konglomerat-These Romeros, mit der These vom "crisol de razas" (Rassen-Schmelztiegel) die qualitative Veränderung des gesamten gesellschaftlichen Systems durch synkretistische Prozesse hervor.2* Erst in der jüngeren sozialwissenschaftlichen und historischen Literatur finden sich Arbeiten, die sich mit der Vorstellung einer mehr oder weniger problematischen Rassenvermischung nicht mehr begnügen. Sie betonen den pluralistischen Charakter der Integrationsprozesse. Argentinisierung wäre demnach kein Prozeß der Hybridisierung, sondern der Formation eines kulturellen Mosaikes, in dem die verschiedenen ethnischen Gruppen ihre jeweilige Identität bewahren und die sozialen Grenzen zwischen den kulturellen Traditionen klar abgesteckt bleiben.29 Die Eingliederung der Einwanderer gehört zum übergreifenden Prozeß der Entstehung der argentinischen Gesellschaft. Hilda Sabato hält die Spannung zwischen Aufrechterhaltung

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(durch Solidarität) und Auflösung (durch Anpassung oder Neubildung) von Identitäten als charakteristisch für Argentinien. In der Schlußbetrachtung fordert sie wie Helmut Schmidt eine Revision der Konzepte der Bildung des Nationalstaates: [...] será necesario pensar de manera diferente el proceso de formación de la nación. Porque tanto el enfoque integracionista como el pluralista abordan la historia de ese proceso a partir de concepciones previas muy fuertes de cómo debía ser una nación, concepciones que remiten a supuestas esencias y que actúan como referencias míticas. El proceso histórico no sería sino el despliegue en el tiempo de esas esencias: la nación como amalgama o la nación como mosaico son, por lo tanto, más que un resultado, un punto de partida. (H. Sabato, 1989: 5).

Man kann das Gesagte dahingehend zusammenfassen, daß der in einigen Bereichen nach wie vor effiziente und vor allem populäre Nationalbegriff an seine Grenzen stößt.30 Nationalstaatliche Eigenbrötelei und kompromißlose Partikularismen, wie sie die sicherlich berechtigten Minderheitenbewegungen vertreten, sind abzubauen, jedoch ohne die rechtstaatlichen Errungenschaften gleich mit abzuschaffen. Nationen haben zur Entstehung der universellen Richtlinien der Verfassungsdemokratien mit beigetragen. Dennoch muß man angesichts des neuen Problemhorizonts fragen, ob es nicht angebracht wäre, ein Medium einzusetzen, das die neuen weltpolitischen Anforderungen besser erfüllt als die Nation, um die Menschenrechte weiterhin zu verbreiten. Ich werde im nächsten Kapitel darauf zurückkommen. Insofern ist die Fusion verschiedener Ethnien, eine der Hauptursachen der argentinischen Identitätsproblematik, eine Chance, Rassismus, chauvinistischen Patriotismus und anachronistischen Nationalismus, die allein auf dem geographisch-biologischen Zufall beruhen, aufzulösen. Kulturelle Identität ersetzt ohnehin zunehmend den völkischen Nationalismus, der wie der verwandte Begriff der Abstammungsgemeinschaft, den Ideen des demokratischen Rechtsstaats widerspricht.31 Reinhard Merkel sprach übereinstimmend damit vom "Wahnbild Nation": "Nation kann in demokratischen Staaten nicht eine Abgrenzung der volkshaften Besonderheiten nach außen sein. Sondern Symbol eines binnengesellschaftlichen täglichen Plebiszits für die demokratische Teilhabe an der politischen Selbstorganisation".32 Schon Julio Cortázar verstand Argentinität als einen durch die Verschmelzung der Rassen gereiften Cocktail der Differenz. An das kulturelle Erbe der liberalen Gründung des nationalen Projektes könnte man auch anknüpfen, ohne den aufgeblähten Nationalismus der Tradition zu übernehmen. Der seit der Französischen Revolution vorherrschende Begriff der Nation ist keine unveränderbare Norm, auch wenn Geschichte und Identität von Völkern in Europa zumindest bis zum Ende des ersten Weltkrieges und in Lateinamerika bis weit ins 20. Jahrhundert gemeinhin mit der Bildung von Nationen legitimiert wurde. Die vormals notwendige nationale Selbstbegründung, die

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in Argentinien und ganz Lateinamerika seit der Unabhängigkeit in ehrgeizigen juristischen, pädagogischen und ästhetischen Projekten zum Ausdruck kam, muß angesichts des veränderten Problemhorizonts am Ende des 20. Jahrhunderts überholt werden. Zudem ist der Begriff der Nation ein Brennpunkt kollektiver Emotionen, ein manipulierbares Symbol in den Händen der Macht. Schon Max Weber bemerkte, daß der Nationbegriff "der Wertsphäre" angehört, 33 d.h. es ist kein analytischer, sondern ein psychologisch effizienter Begriff, der weder politisch noch territorial bestimmbar ist. Von daher verwundert es nicht, daß durch die demagogische Aufblähung von Nationen zu Nationalismen mit dem emotional besetzten Begriff, der sich auf der Basis eines dumpfen Irrationalismus vorzüglich zur Identifikation eignete, ganze Völker in einen fürchterlichen Blutrausch verführt werden konnten. Auch in Argentinien liegen die Leichen im Keller. Wie leicht sich dort die nationalistischen Feuer schüren lassen, haben während der letzten Diktatur die Grenzkonflikte mit Chile, die Fußballweltmeisterschaft und der Malvinenkrieg eindringlich vorgeführt. Die weltweite Brisanz der Fragestellung zeigt sich bei Anbruch des letzten Jahrzehnts dieses Milleniums allerorts. Angesichts der verstärkt aufbrechenden Minderheitenkonflikte beginnt das vorherrschende abendländische Modell der Bildung nationaler Identität durch Unterordnung oder Auflösung regionaler Identitäten zu bröckeln. Im 19. Jahrhundert setzte man die imperialistische Politik, die regionale Identitäten nationalisierte, gewaltsam durch. In der Entstehungszeit übernationaler Vielvölkergesellschaften, gilt es regionale Heterogenität positiv zu sanktionieren. Der geopolitische Hintergrund dieser Problematik zeigt sich im Aufbrechen regionaler und ethnischer Identitäten in allen lateinamerikanischen Ländern, in Belgien, Frankreich, Irland, Jugoslawien, Korsika, Spanien, der Sowjetunion, Südtirol und in den USA, das sich gegen die zentralistischen Regierungsgewalten kolonialer und imperialistisch entstandener Supranationalitäten richtet. Die nationale Renaissance, die Charles de Gaulle vor Jahren den kommunistischen Chefideologen prophezeit hatte, entpuppen sich als unberechenbare Urgewalten bestehend aus Nationalismen, Patriotismen und Chauvinismen. Gleichzeitig schmelzen die Machtblöcke des kalten Krieges, multilaterale Paktsysteme reduzieren nationale Aspekte, eine Welle integrativer wirtschaftlicher Prozesse erfaßt den Globus. Die Frage, was sich besser zu einer "höheren Sinnstiftung" (Habermas) eigne, nationaler Patriotismus oder vorbehaltlose Öffnung nach außen, hat neben der politischen auch eine soziale und kulturelle Dimension. Das in Bewegung geratene Verhältnis von «Weltzivilisation und Regionalkultur» 3 4 , die Spannung zwischen der Herausbildung universalistischer Interessen (Habermas) und den allerorts brodelnden ethnischen Minderheitenbewegungen, ist das bemerkenswerteste Zeichen der gegenwärtigen weltpolitischen Situation. Die lateinamerikanische Diskussion um die Vielheit in der Einheit weist seit Simón Bolívar eine ausgeprägte Tradition auf, die von Andrés

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Bello, José Martí, Domingo Faustino Sarmiento, ja von nahezu allen einflußreichen Denkern und Staatsmännern, gepflegt wurde. Insofern weisen die erstarkenden oft indigenistischen Minderheitenbewegungen nicht notwendigerweise auf reaktionären Traditionalismus hin, sondern sie wenden sich gegen mangelnde Institutionalisierung partikularer Interessen, d.h. sie treten für die "freie Entfaltung eines jeden" ein, die nach Marx und Engels eine "Bedingung für die freie Entwicklung aller ist". Die von der Minderheitensoziologie geäußerte Furcht, der Traum der Weltzivilisation sei an den Realitäten von Neonationalismus, Rassismus und Ethnozentrismus zerschellt, ist zu differenzieren. Bedroht die kulturelle Vereinheitlichung im Zuge einer globalen Vernetzung regionale Besonderheiten und lokale Charakterzüge? Der US-amerikanische Einfluß in Wirtschaft und Medien gewinnt in ganz Lateinamerika, bei gleichzeitiger Förderung regionaler Märkte und Kulturen, selbst in Argentinien und im weniger europäisch geprägten Brasilien, im öffentlichen und privaten Leben nach wie vor an Bedeutung.35 Dem ist allerdings entgegenzuhalten, daß das globale Dorf von Randgebieten wie Argentinien Denkanstöße bekommen kann, weil das Zentrum die Peripherie der Peripherie langsamer vereinnahmt als zentrumsnähere Länder wie Mexiko. Vor diesem — zumindest ambivalenten — Hintergrund sind literarische Texte, die diese Probleme anschneiden, zu betrachten. Die ausgewählten Romane zeichnen sich durch ausgeprägte Bezüge zur nationalen Geschichte aus. Multi-ethnische Gesichtspunkte spielen dabei natürlich eine beachtliche Rolle. Die Bezüge zu Lateinamerika sind verschwindend gering gemessen an denen zu Europa. Die argentinische Selbstbezogenheit und das spezifische Verhältnis zur eigenen Geschichte sind allerdings noch zu präzisieren. Der argentinische Autor José Asís36 beantwortete die Frage, wie er Argentinität defmiere, wie folgt: Prefiero hablar de nacionalidad, y en definitiva hay que hablar entonces de nación, pero no veo una manera de definirla sin extenderme demasiado. Puedo decir simplemente que el sentimiento de nacionalidad es lo que más nos falta: no hay noción de nación, entendida como un conjunto de intereses que hacen a una historia compartida y un destino común.37

Mit dieser Haltung markiert Asfs eine den hier vorgestellten Autoren entgegengesetzte Position. Letztere mag eine Aussage des in Frankreich lebenden argentinischen Autors Juan José Saer zusammenfassen: La narración no es un documento etnográfico ni un documento sociológico, ni tampoco el narrador es un término medio individual cuya finalidad sería la de representar a la totalidad de una nacionalidad. [...] La pretendida especifidad nacional no es otra cosa que una especie de simulación, la persistencia de viejas máscaras disparatadas destinadas a preservar el status quo ideológico. De todos los

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niveles que componen la realidad, el de la especifídad nacional es el que primero debe cuestionarse, sostenido por razones políticas y morales, aparenta ser indiscutible. [...] La novela es sólo un género literario; la narración, un modo de relación del hombre con el mundo. Ser latinoamericano no nos pone al margen de esta verdad, ni nos exime de las responsabilidades que implica. Ser narrador exige una enorme capacidad de disponibilidad, de incertidumbre y de abandono y esto es válido para todos los narradores, sea cual fuere su nacionalidad. Todos los narradores viven en la misma patria: la espesa selva virgen de lo real.3*

Diese Bewertung betont den universellen Charakter der Kunst. Mit der Machete der Sprache schlägt der Schriftsteller jenseits von Nation und falschem Patriotismus Wege in den Dschungel der Wirklichkeit. Die Textanalyse wird zeigen, daß Saer mit dieser Haltung nicht alleine steht. Auch wenn die hier behandelten Autoren möglicherweise eine derart adjektivierte "Dschungelmetaphorik" nicht teilen mögen, thematisieren sie nationale Identität prinzipiell in Form einer kritischen Analyse, die herauszufinden versucht, wie Argentinität entstanden ist, welche Funktionen sie erfüllte, welche Klischees den Identitätsdiskurs prägen und was der Schriftsteller dem nationalistischen Mißbrauch von Identität entgegensetzen kann. Mit dieser Denk- und Schreibweise fuhren die Autoren Borges* doppeltes Erbe aus universeller Ästhetik und nationaler Tradition fort. Borges stand der Diskussion um das "ser nacional" grundsätzlich skeptisch gegenüber, denn er sah darin eine Art moderner Mythenbildung, wie das abschließende Zitat belegt: Y sin embargo, estamos creándolos continuamente, ¿eh?, por ejemplo, digamos, las diversas patrias son diversos mitos; y el hecho de hablar, bueno, ahora se habla tanto del ser nacional, y se lo busca: en todas partes del mundo se supone que hay una especial virtud en haber nacido en tal o cual lugar, ¿no? Y claro, eso es bastante peligroso porque lleva a las discordias, a la guerras, a las hostilidades; en suma, a tantos males. Pero también corresponde a hermosos sueños, puede tener un valor estético; incluso ético también, ya que la gente muere por esas categorías."

1.4. Der juristische Aspekt: Rechtsstaatlichkeit — Verfassung — Menschenrechte Der juristischen Fundierung von Identitäten kommt eine ähnliche Bedeutung zu wie der nationalen, denn sie legitimiert die staatlichen Organisationen.40 Nation-building erfordert einen allgemeingültigen Rechtskodex. Die Repräsentanten des liberalen Projektes der Nationgründung entwarfen in Argentinien die pädagogischen und die rechtlichen Grundlagen für den neuen Staat. Das Werk Juan Bautista Alberdis spielt dabei eine bis in die Gegenwart reichende Rolle. Deshalb geht Ricardo Piglia in Respiración artificial, wo er sich mit den Prämissen der Entstehung des Nationalstaates auseinandersetzt, ausführlich auf Alberdi ein.

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In Europa galten die rechtstaatlichen Verfassungen, wie sich am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland zeigen läßt, als eine "Auslegung des historischen Seins des Staates und — in romantischer Einsicht — als Verkörperung und Ausdruck des Wesens der Nation oder des Volkes".41 Zwar wurden in Argentinien und Uruguay wie in fast allen lateinamerikanischen Staaten Verfassungen in Kraft gesetzt (1853), doch diese wurden eher als "good wiir-Erklärungen denn als wirksames und geltendes Recht verstanden.42 Ein Beispiel für die Diskrepanz zwischen theoretischer und praktischer Verwirklichung der Verfassung, so stellt Roberto Vernengo fest, sei die von jeder Verfassung regulierte Verteilung der politischen Macht. Die meist buchstäblich nordamerikanischen oder europäischen Vorbildern nachempfundenen lateinamerikanischen Verfassungen übernahmen das traditionelle, auf den Präsidenten konzentrierte Machtverteilungsmuster.43 Es erübrigt sich, die verfassungsmäßig verankerten Menschenrechte als weiteres Beispiel für die eklatante Diskrepanz zwischen Gesetz und Wirklichkeit anzuführen. Jeder Kenner der lateinamerikanischen Geschichte ist sich der zynischen Mißachtung der Grundrechte in der gesellschaftlichen Praxis bewußt; und zwar nicht nur in den Diktaturen. Verfassungstext und soziale Realität bilden zwei voneinander unabhängige Welten. Wie weit der faktische und der juristische Zustand auseinanderklaffen, belegen die zahlreichen progressiven Verfassungen diktatorialer Regimes. Viele lateinamerikanische Verfassungen kranken an ihrem programmatischen Charakter.44 Die Rechtsstaatlichkeit bliebe ein Ziel, das, folgt man der Zuversicht Vernengos, noch in dieser Generation zu realisieren sei. Um diesen Punkt abzuschließen, ist ein Einwand gegen die Übertragung des in dieser Arbeit zur Analyse benutzten Ansatzes von Habermas auf lateinamerikanische Verhältnisse anzubringen. Der auf die deutschen Verhältnisse zugeschnittene Verfassungspatriotismus, den Habermas zu etablieren versucht, kann in Argentinien zunächst nur als Desiderat gelten. Die beschriebene Diskrepanz zwischen Gesetzestext und effektiver Handhabung desselben erschwerten die Verbreitung und Verankerung eines Verfassungspatriotismus noch zusätzlich. Der dazu erforderliche Bewußtseinswandel der Institutionen und der Bevölkerung kann sich nur allmählich vollziehen.

7.5. ökonomische Aspekte Die wirtschaftliche Entwicklung einer Gesellschaft ist ein nicht unbedeutender Faktor der Identität. Mit dem demokratischen Regierungswechsel 1989 trat die problematische Ökonomie, an der schon Raul Alfonsfn gescheitert war, weiter in den Vordergrund: Was nützt Argentinien ein außergewöhnlich ausgeprägtes und alle Bevölkerungsschichten umfassendes politisches Bewußtsein angesichts einer anhaltend katastrophalen Wirtschaftsentwicklung? Diese Frage stellen vermehrt auch die von

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den Härten der Krise besonders betroffenen Intellektuellen. Auslandsverschuldung, sinkende Reallöhne und Inflation bieten wenig positive Identifikationsmöglichkeiten. In Argentinien ist die passionierte Identifikation mit Land und Nation sehr ausgeprägt und nach wie vor weit verbreitet. Seit der Gründung des Nationalstaats enstanden Stereotypen, die die Wirklichkeit exzessiv überstiegen und damit einer modernen Mythenbildung Vorschub leisteten. Die Rede vom Land des Überflusses, das seine Erträge verschenkt, der Kult um die viveza criolla und der wohl im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs nach der Jahrhundertwende aufgekommenen Wendungen der grandeza argeraina und "Gott ist Argentinier" sind die geläufigsten. Diese Allgemeinplätze erfreuen sich nach wie vor größter Beliebtheit, vor allem wenn es darum geht, den status quo zu beklagen. Sie tragen freilich nicht zur Ursachenklärung bei. Derartige übersteigerte Interpretationen der natürlichen Ressourcen und der menschlichen Kapazität sind nichts anderes als zählebige mystifizierende Stereotype. Diese Art verzerrter Wirklichkeitsauslegung prägte die kollektive Selbstwahrnehmung, die zur Bildung von Identität beisteuert, in Argentinien grundlegend. Die hier behandelten Romane greifen typische Identifikationsmuster, Klischeevorstellungen und Vorurteile über die eigene Wesensart auf und vertiefen das Reflexionsniveau der Problematik. Argentinier ist, um die territorial definierte Identität zu erweitern, wer zwischen Jujuy, Feuerland und Misiones am besten die Inflation bewältigt. Die Wirtschaftsentwicklung bietet seit der ersten Regierung Peröns allenfalls negatives Identifikationspotential. Das Land des Überflusses ringt um die Verteilung von Nichtvorhandenem. Während man sich im Nachkriegsdeutschland umgekehrt dazu fast ausschließlich auf den wirtschaftlichen Wohlstand konzentrierte, kämpft inzwischen, wie in anderen lateinamerikanischen Staaten auch, ein Großteil der argentinischen Bevölkerung um die nackte Existenz. Die unterlassene Aufarbeitung von Faschismus und Diktatur blockiert hier wie dort die Bildung anderer Werte. Der deutsche Tanz ums goldenene Kalb, die ausschließliche Identifikation mit Leistung (Etwas leisten) und Konsum (Sich etwas leisten), den Pfeilern des wirtschaftlichen Wachstums, drängte mit ungeheurer Schubkraft andere Werte in den Hintergrund. Wir befinden uns in Argentinien am anderen Ende der Werteskala: Die Wogen der Inflation überschlagen sich, die materiellen Grundbedürfnisse stehen auf dem Spiel. Jedoch auch die wirtschaftlichen Probleme sprengen den nationalen Rahmen. Aufgrund der Interdependenz von Wohlstand in den Industriestaaten und Armut in Lateinamerika und anderen Regionen müßten Strategien entwickelt werden, die den Bedürfnissen der einzelnen Nationen entgegenkommen. Diese erfordern allerdings ein globales Umdenken.

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1.6. Identität als sprachliche Interaktion Neben den nationalen, juridischen und ökonomischen Aspekten ist die fundamentale Bedeutung von Sprache, dem "Haus des Seins" (Heidegger), zu berücksichtigen, wenn von literarischen Identitäten die Rede ist. Die evidente Bedeutung der Sprache spiegelt sich in der Theoriebildung. Sozialwissenschaften (Schütz 1932/1974; Schütz/ Luckmann 1979; Berger/ Luckmann 1969; Mead 1968, 1980, 1983; Habermas), psychoanalytische Theorien (Freud 1940; Erikson 1971, 1973, 1988) und Sprachund Literaturwissenschaften (Tugendhat 1979; Wunderlich 1976; Iser 1976; Lämmert 1955/ 1991; Marquard/ Stierle 1979; Stanzel 1979) wiesen auf das Wechselverhältnis von Identität und Sprache hin. Sprache ist die Voraussetzung für die menschliche Identitätsbildung mit anderen und mit sich selbst. Der Mensch wird in eine sprachlich konstruierte Welt hineingeboren, die dem Leben des einzelnen als kollektiver Sinnhorizont vorausgeht (Mead 1973; Berger/ Luckmann 1969; Luckmann 1979, 1981; Habermas 1981, 1988).45 Aus der Sprechakttheorie (Austin; Searle; Wunderlich) entwickelte sich die Vorstellung des sprachlichen Handelns, die u.a. von Habermas, dessen Identitätskonzept im folgenden Kapitel dargestellt wird, aufgenommen wurde. Identität entsteht demzufolge in der Sprache, durch reflexive Selbstbewußtheit, durch Rollendistanz und durch die Integration der Sichtweise der anderen.46 Im Gegenzug entsteht aus der Erkenntnis des Anderen, des Fremden, Abgrenzung und Unterscheidung. Was Mead taking the attitude ofthe other nennt, macht Identität zu Interaktion, zwischen Selbigkeit (Identität von lat. "idem", dasselbe) und Andersheit. Es genügt jedoch nicht, den Impuls zur Identifizierung in den vorgestellten Interessen gesellschaftlicher Gruppen zu lokalisieren, die verschiedene Arten von Identitäten erzeugen. Sprache ist die erste Instanz von Identifikation und Differenz. Durch Benennung entsteht eine doppelte Subjekt-ObjektSpaltung: erstens durch den Gegensatz zwischen Ich und Welt und zweitens durch die dem Menschen eigene Fähigkeit sich selbst als Objekt zu betrachten. Die Fähigkeit, Schöpfer und Geschöpf zu sein, spielt in der literarischen Umsetzung der Identität eine zentrale Rolle. Die Doppelung des Ich in quasi-autobiographischen Texten in erzählendes und erlebendes Ich ist eine der prägnantesten Formen, um dies literarisch umzusetzen. Identität verändert sich aufgrund des vermittelnden Charakters der Sprache, in der sie entsteht, mit der Semantik der identitätsstiftenden Begriffe wie Kultur, Arbeit und Gesellschaft. Identität setzt einen Reflexionsprozeß voraus, der die Veränderungen dieser Begrifflichkeiten registriert und bewertet. Identität entsteht auf einer Metaebene, die sich verändernde gesellschaftliche Funktionen erfüllt. Der lateinamerikanischen Essay wertete die jeweils vorgegebenen Identitätsdiskurse mit Hilfe neuer ideologischer und philosophischer Grundlagen meist europäischen Ursprungs um. Wer die Identität eines Objekts bestimmen will, muß es benennen. Carpentier betonte stets die enorme Wichtigkeit des "proceso de

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nombrar las cosas" für die Identitätsfindung. Wer benennt, legt Identitäten fest. Der erste Akt der Inbesitznahme der spanischen Eroberer war es, Inseln, Orte und Dinge zu taufen. Die Leidenschaft Columbus' und anderer Entdecker, Dinge neu zu benennen, ist bekannt. Die Einwanderungsbehörden in Buenos Aires registrierten die komplizierten Namen der piemontesischen Bauern, der russischen und polnischen Juden, usw. häufig ihren phonetischen Gewohnheiten entsprechend unabsichtlich falsch. Sie vollzogen den ersten Schritt der Argentinisierung der Einwanderer. Jede Identitätskrise ist auch eine Krise der Bezeichnung. Juan Carlos Martini schildert den ersten Akt der Argentinisierung in Composición de lugar am Beispiel seiner Familiengeschichte. Die Identitätskrise von Rabanals Protagonisten Manuel aus En otra parte äußert sich darin, daß er einen anderen Namen erhält. Als der polnische Einwanderer Tardewski in Respiración artificial einen Artikel veröffentlicht, wird sein Name falsch wiedergegeben. Columbus, der sich zum missionarischen Christusträger ernannte, nutzte die Wirkungskraft des Namens. Alle diese Fälle von Metonomasie weisen auf die Identitätsproblematik hin, deren existentielle Bedeutung sich in Namenstausch, -Verwechslung und -Veränderung niederschlägt. Literatur und Identität teilen das gemeinsame Fundament der Sprache. Die Autoren gaben unmißverständlich zu verstehen, daß sie ihre Identität in der Sprache fänden. Frei von anachronistischem Nationalgefiihl und Patriotismus identifizierten sie sich mit dem argentinischen Spanisch. Ohne zu zögern, wiesen sie der Sprache eine Art "Heimatfunktion" zu. Deshalb spielt die Sprache in den Werken oft eine protagonistische Rolle. Das kommt sowohl im inzwischen selbstverständlichen Gebrauch des Voseo und umgangsprachlicher Wendungen zum Ausdruck als auch durch den als Subtext angelegten Dialog unterschiedlicher Sprachen und Sprachebenen. Eloy Martínez führt Peróns Identitätsverlust auf die Bedrohung der Sprache durch langjähriges Exil zurück. Piglia thematisiert dies am Beispiel des innerargentinischen Funktionswandels des literarischen Stils. Martini und Rabanal inszenieren die Exilthematik, indem sie die Fragilität der sprachlichen Identität herausarbeiten und indem sie ein als Subtext angelegtes Spiel der Übersetzungen inszenieren. Posse betont das Moment der Amerikanisierung durch die sprachliche Argentinisierung des Columbus, der in Situationen existentieller Bedrängnis Italienisch spricht, und durch den Dialog von Vergangenheit und Gegenwart in Gestalt einer sprachlichen Synthese.47

1.7. Kulturelle Identität Die kulturelle Komponente der Identität, verstanden als Resultat der Interpretationen und Verständigungsprozesse aus dem gesellschaftlichen Wissensvorrat, nimmt, verglichen mit dem nationalen, juristischen und wirtschaftlichen eine Führungsrolle

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ein: Kulturelle Identität und besonders die literarische ist in Argentinien nicht mehr defizitär. Europa ist für die vorzustellenden Schriftsteller nicht mehr das Maß aller Dinge. Ihre Literatur produziert eine qualitativ neue Identität, deren Originalität sich unter dem Stichwort "Grenzüberschreitung" zusammenfassen läßt. Sei es die Überschreitung nationalpatriotischer Gesinnung oder sei es die erzählerische Innovation überkommener Konventionen. Die Gespaltenheit der kulturellen Traditionen Argentiniens erleichterte es, die Grenzen von nationaler Kollektivität zu achten und zu überschreiten, selbst über die wichtige und vitale Einbindung in die spanische Sprachgemeinschaft hinweg. Die Literatur stellt eine Kontinuität her, die persönliche oder gesellschaftliche Identitäten überdauert. Obwohl die Literatur die Identitätsproblematik nicht lösen konnte, hat sie die nationale Komponente im Bewußtsein der regionalen Verankerung transzendiert, und schielt nicht mehr nach Europa. Die hier vorgestellten Romane enthalten ein entschiedenes "Ja" zum kulturellen und sprachlichen Erbe Argentiniens und ein deutliches "Nein" zu kulturellem Chauvinismus und zu Nationalismen aller Art. Es ist daran zu erinnern, daß sich in der Identitätsdiskussion kulturelle, nationale und wirtschaftliche Argumente überschneiden. Die ideologische Nutzbarkeit der Identitätsbildung für die Umsetzung konkreter Machtinteressen ist bekannt. Identität ist politisch gesehen eine mit handfesten wirtschaftlichen Zielen verbundene Machtfrage. Politiker greifen Aspekte aus der kulturellen Tradition auf, um unter dem Deckmantel kollektiver Identitätsvermittlung jeweilige Gruppeninteressen zu vertreten. Linke Schriftsteller wie Eduardo Galeano betonen neben der obligatorischen Dominanz der "herrschenden Klasse" auch die identitätsstiftende Funktion der Kunst: "lo que uno escribe puede ser históricamente útil sólo cuando de alguna manera coincide con la necesidad colectiva de la identidad". Kunst trage und enthülle kollektive Identität, deshalb sollte sie auch in Lateinamerika kein Luxusgegenstand sein, sondern für jedermann zugänglich. Freilich bezieht sich Galeano damit nicht auf die Produkte der Massenkultur, weil diese Unterdrückungs- und Verdummungsmechanismen des Kapitalismus letztlich nur der Aufrechterhaltung des Systems und der Unterdrückung der historisch ohnehin deformierten Identitäten dienten.4* Konsequenterweise stellt die Trilogie Memoria del Juego Mythen und Gedichte aus der Zeit vor der Entdeckung zusammen. Mit eindeutig identitätsstiftender Absicht soll eine Sammlung von unkorrumpierten Materialen aus dem kollektiven kulturellen Erbe entstehen, die zugleich originäre Identität dokumentiert. Galeano betrachtet die Nationalkulturen als Kulturen der Oberschicht, die ihre Europaimitation als Universalismus ausgeben; Piglia illustriert diese Überzeugung in Respiración artificial an Beispielen aus der argentinischen Literatur. Auch wenn man Galeanos klassenkämpferische Haltung nicht teilt, lassen sich seit der Gründung des argentinischen Nationalstaates mehrere Zyklen erkennen, in denen zahlenmäßig kleine

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gesellschaftliche Gruppen das Verhältnis von Nationalgeschichte, Kultur und Macht durch auf den eigenen Vorteil bedachte Identitätsentwürfe manipulierten. Galeano begreift Identität als Spannungsfeld verschiedener Konflikte zwischen sozialen Gruppen und Akteuren. Literatur ist ein komplexer Träger kultureller Identität. Hierbei ist zwischen Kultur und Politik deutlich zu unterscheiden. Beide Bereiche waren zwar historisch gesehen eng miteinander verbunden, doch kulturelle argentinische Identität ist heute keineswegs mehr ausschließlich mit dem Projekt des Nationalstaats verknüpft, wie dies lange Zeit der Fall war.

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Anmerkungen: 1. Wally OLINS entwirft in: Corporate Identity. Strategie und Gestaltung, (Frankfurt a. M.: Campus, 1990) einen kulturgeschichtlichen Abriß der Identitätssuche von Unternehmen. Er geht darin auf die Bedeutung von Imagepflege, Traditionsbewußtsein und die außerordentlich wichtige Funktion von Symbolen (Mercedes-Stern u.s.w.) ein. 2. Vgl. dazu Erving GOFFMAN, "Techniken der Imagepflege", in: Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation, Frankfurt a. M. 1975: 10-53. Goffmans Vorstellung von persönlicher Identität läßt sich durch die Funktion einer dramaturgischen Strategie zur Imagepflege auf den Punkt bringen. 3. Diesen Verdacht äußerte Richard JACOBY (Präsident der Staatlichen Hochschule für Musik und Theater in Hannover) bei der Tagung des "Club of Rome" (Hannover 1989) vor der Arbeitsgruppe IV, die sich mit "kultureller Identität" auseinandersetzte. Dem wäre entgegenzuhalten, daß eine Welle psycho-sozialer Identitätstagungen für die gesellschaftliche Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit Identität spricht. So fand vom 21.-26.2.1988 in Berlin der "Kongress für Klinische Psychologie und Verhaltenstherapie" unter dem Motto. "Psychosoziale Praxis Widersprüche und Identitäten", mit rund 250 Referaten zu den verschiedenen Aspekten psychologisch-sozialer Identität, statt. Veranstaltet von der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie, unter der Schirmherrschaft der damaligen Bundesministerin R. Süssmuth. Die Psychoanalytische Gesellschaft von Buenos Aires veranstaltete 1988 eine interdisziplinäre Vortragsreihe zum Thema nationaler Identität. Neben dem Soziologen Luis Romero kam dabei auch der argentinische Arzt und Schriftsteller Marcos Aguinis zu Wort. 4. Vgl. dazu Habermas, "Die Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen", 1992: 153ff. 5. Puig bezeichnete diese Problematik als literarische Antriebskraft, die ihn mit Schriftstellern wie Kafka verbinde, über den er diesbezüglich feststellte: * [Kafka] es el que mejor ilustra esa cuestión que a mí me interesa tanto: la opresión del medio ambiente sobre el individuo, el mundo de cárceles internas que llevamos sin saberlo. Pero a mí me interesa referirlo todo siempre directamente a la realidad [...]", aus: Jorgelina CORBATTA, "Encuentros con Manuel Puig", in: Revista Iberoamericana, 123-124, (1983), S. 597. 6. Weitergehende Literatur dazu bei: Rodolfo A. Borello, "Novela e historia: La visión fíctiva del período peronista (1944-55) en las letras argentinas", in: Anales de literatura hispanoamericana, 7. Madrid 1980. Weitere Bibliographie im Kapitel zu T.E. Martínez. 7. Peter LUCKMANN (1980: 138) zieht aus diesen Beobachtungen nicht den Schluß eines evolutionären Sprunges in der Gesellschaftsentwicklung, wie es z.B. William GLASSER mit der These der "Identitätsgesellschaft" tat, in: Identität und Gesellschaft (Engl. Originaltitel: The identity society), Weinheim/ Basel 1974. 8. Vgl. dazu Nicolas SHUMWAY, The Invention Of Argentina, Berkeley 1991. Die Definition findet sich in Kap. 3 dieser Arbeit.

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9. Tatsächlich verstärkte sich seit der "Primera Junta" [vom 25. Mai 1810], der "Mairevolution", die in erster Linie eine bonaerenser Unabhängigkeitserklärung vom napoleonischen Spanien war, jene zentralistische Tendenz, die selten zwischen Buenos Aires und patria unterschied, wie Shumway bezüglich der Schriften Mariano Morenos bemerkte, die zu den guiding fictions der ersten Stunde zählen. Vgl. dazu SHUMWAY, 1991: 20ff. 10. Zum Entwicklungsprozeß der Nationwerdung und zu den historischen Phasen der Ausbildung des Nationalbewußtseins bis in die Gegenwart siehe: Fermín CHAVEZ, La recuperación de la conciencia nacional, Bs. As. 1983. Angel MONTI, Proyecto nacional. Razón y diseño, Bs. As. 1972. Arthur P. Whitaker, The Nationalism in Latin America, Gainesville 1962, dort besonders: "The Case of Argentina". Einen bibliographischen Überblick bietet F. J. CIRIGLJANO, "Aportes para una bibliografía sobre el proyecto nacional", in: Geopolítica, 8, Januar - April 1977, S. 51-53. Tulio HALPERÍN DONGHI, (Hg.), Proyecto y construcción de una nación, Caracas 1980. Einen allgemeineren Überblick vermittelt: Ricaurte SOLER, Idea y cuestión nacional latinoamericanas, México 1980. Zu philosophischen Aspekten siehe: Alejandro KORN, Influenciasfilosóficasen la evolución nacional, Bs. As. 1936. 11. Hans-Jürgen PUHLE stellte den antiimperialistischen Nationalismus dieses Jahrhunderts dar. In: Wolf GRABENDORFF, (Hg.), Lateinamerika - Kontinent in der Krise, Hamburg 1973, S. 4877. 12. Hans-Joachim KÖNIG, Auf dem Wege zur Nation, Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte Bd. 37, Wiesbaden 1988. In "Theoretische Grundlagen und Eingrenzung des Themas" gibt König einen kritischen Überblick der wichtigsten Titel zum Thema. 13. Vgl. zur damit verbundenen Problematik des argentinischen Nationalismus: Christian BUCHRUCKER, Nacionalismo y peronismo. La Argentina en la crisis ideológica mundial (19271955), Bs. As. 1987. Carlos ESCUDE, Patología del nacionalismo. El caso argentino, Bs. As. 1987. Perla ROSENSTEIN, El nacionalismo de derecha en Argentina. Bibliografla e Indice de fuentes. Vol. 1, Bs. As. 1988. 14. Manfred WÖHLCKE, "Morbus Latinus - die lateinamerikanische Krankheit. Einige Fragen und Ergänzungen zur entwicklungstheoretischen Debatte", S. 283, in: Armut im Süden durch Wohlstand im Norden? Nachträge und Schlaglichter zur Dependenz-Theorie, Gerhard ALT, Andreas WROBEL-LEIPOLD, (Hrsg.), Vilsbiburg 1988, S. 279-298. 15. Nach HAFERKAMP, 1992: 267ff. 16. ALTER (1985: 28), zitiert nach HAFERKAMP (1992: 273). 17. K.-H. BOHRER, "Warum wir keine Nation sind, warum wir wieder eine werden sollten", in: FAZ, 13.1.1990. Habermas vermutete, daß Bohrer unter den verdrängten Beständen der "bis dato identitätsbildenden psychischen und kulturellen Traditionen" Carl Schmitt, Martin Heidegger oder Ernst Jünger gemeint haben mag und wandte ein, daß ihm die Tabuisierung oder Ausgrenzung des "jungkonservativen Erbe[s]" entgangen sein muß. Bohrers Klage über Kolonialisierung und geistigen Provinzialismus nennt er eine "kurzschlüssige Beziehung zwischen nationalem

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Größenwachstum und geistiger Produktivität". J. Habermas in: "Der DM-Nationalismus", in: Die Zeit, 30.3.1990, S. 61-63. 18. J. J. Hernández ARREGUI, ¿Qué es el ser nacional?, Bs. As. 1988 (geschrieben zu Beginn der 60er Jahre). 19. Der vielgelesene Jauretche veröffentlichte weitere kämpferisch-polemische Titel zur Argentinenproblematik: Los profetas del odio, (1957); Política nacional y revisionismo histórico, (1959). 20. Vgl. dazu Christoph TÜRCKE, "Darüber schweigen sie alle", S. 770, in: Merkur, 9/10, Sept./Okt. 1987, 463/464, S. 762-772. 21. Michael STÜRMER, "Kein Eigentum der Deutschen: die deutsche Frage", in: Werner WEIDENFELD (Hrsg.), Die Identität der Deutschen, München 1983. 22. Helmut SCHMIDT, "Ende des Kommunismus — und was nun?", in: Die Zeit, 29.12.1989, Symposium, S. 4. 23. Das Thema lateinamerikanische Identität kennzeichnet die Werke vieler Autoren bis in die Gegenwart. Der Argentinier Julio Cortázar stellte sich bewußt in diese Tradition: "En este sentido los escritores más significativos, desde los tiempos de nuestras luchas libertadoras - pienso en José Martí, en un Domingo Faustino Sarmiento en Argentina, entre muchos otros — hasta los contemporáneos poetas como Pablo Neruda o novelistas como Asturias o García Márquez — se caracterizan a pesar de sus enormes diferencias por un rasgo común que es precisamente el de buscar nuestra identidad latinoamericana, nuestra verdad profunda como pueblos y como individuos, destruyendo máscaras y mentiras, liquidando prejuicios y tabúes, mostrando o creando los elementos necesarios para que los diferentes pueblos reconozcan cada vez más que participan de una misma y profunda corriente telúrica e histórica que los une en vez de separarlos [...]. Inútil es agregar que estamos muy lejos de haber alcanzado una noción de esa identidad — de la que debería desgajarse automáticamente la noción de unidad profunda, de unidad dentro de las particularidades y las diferencias". Aus: "América Latina y sus escritores", in: Argentina, años de alambradas culturales, Barcelona 1984: 76-78. 24. J.B. ALBERDI, "Fragmento preliminar al estudio del Derecho", zitiert aus: Historia de la literatura argentina, I, Bs. As. 1980/86: 354. 25. José ISAACSON antwortete mit La Argentina como pensamiento, (Bs. As. 1983) auf La Argentina como sentimiento, (Bs. As. 1982) von Víctor MASSUH. 26. A.a.O. S. 8. Obwohl Isaacson sich für den kulturellen Universalismus ä la Borges stark macht, bleibt er der Vorstellung der Nationalkultur verhaftet: "la cultura del mundo nutre la cultura nacional, y, a su vez, la cultura del mundo sólo es posible por la existencia de la culturas nacionales" (13). 27. José Luis ROMERO, Las ideas políticas en Argentina, Buenos Aires 1946, S. 175. 28. Gino GERMANI, Política y sociedad en una época de transición, Buenos Aires 1969.

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29. Fernando DEVOTO; Gianfausto ROSOLI, La inmigración italiana en la Argentina, Buenos Aires 1985. Dies. L'Italia nella Società Argentina, Roma 1988. Hilda SABATO, El pluralismo cultural en la Argentina: un balance critico, Buenos Aires, 1988. Dies., "Pluralismo y nación", in: Punto de Vista, 34, (Jul.-Sept. 1989: 2-5). 30. Noch fragwürdiger ist es, Menschenleben für nationale Symbole wie Fahnen und Hymnen auf den Altären antiquierter staatsbürgerlicher Pflichten und auf Schlachtfeldern zu opfern. Der Publizist und Politiker Peter Glotz, ein weiterer Vertreter supranationaler Gesinnung, drückte dies in drastischen Worten aus: "Ein Haufen nostalgischer Nationalstaaten, in denen alte Männer alte Fahnen küssen und alte Hymnen singen, hat keine langfristige Überlebenschance". GLOTZ, Die Zukunft des Friedens in Europa, hrsg. von C. F. von Weizsäcker, München 1990. Vom selben Autor erschien kürzlich eine ausführliche Darstellung der Problematik: Der Irrweg des Nationalstaats, DVA, 1990. 31. Heinrich Q. WINKLER, (Hrsg.), Nationalismus, Königstein/ Ts. 1985. 32. Reinhard MERKEL, "Wahnbild Nation", in: Die Zeit, 9.3.1990. Das vielbemühte "tägliche Plebiszit" ist ein Zitat Ernest Renans. 33. M. WEBER befaßte sich mit Rassismus, ethnischen Abstammungsglauben und Nationalismus in der Freiburger Antrittsvorlesung von 1895: "Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik*, in ders., Gesammelte politische Schriften, hrsg. von Johannes WINCKELMANN, Tübingen 1980, S. 1-25. Auch in Wirtschaft und Gesellschaft, (Tübingen 1972, S. 234-244) ging er kurz darauf ein: " «Nation» ist ein Begriff, der, wenn überhaupt eindeutig, dann jedenfalls nicht nach empirischen gemeinsamen Qualitäten, der ihr Zugerechneten definiert werden kann. Er besagt, im Sinne derer, die ihn jeweilig brauchen, zunächst unzweifelhaft: daß gewissen Menschengruppen ein spezifisches Solidaritätsempfinden anderen gegenüber zuzumuten sei, gehört also der Wertsphäre an. Weder darüber, wie jene Gruppen abzugrenzen seien, noch darüber, welches Gemeinschaftshandeln aus jener Solidarität zu resultieren habe, herrscht Übereinstimmung". In beiden zitierten Arbeiten kommen Webers Probleme mit diesen Begriffen deutlich zum Vorschein. Einerseits diagnostizierte er die Auflösung des ethnischen Gemeinsamkeitsglaubens als Folgeerscheinung der zunehmenden Rationalisierung. Andererseits räumte er zugleich ein, daß empirisch nationale und regionale Minderheitenbewegungen erstarken. 34. Hanns-Albert STEGER, Weltzivilisation & Regionalkultur. Wege zur Entschlüsselung kultureller Identitäten, München 1989. 35. Die ungewöhnliche Maßnahme der Einführung des Dollars als offizielle argentinische Zweitwährung im April 1991 durch den Wirtschaftsminister Domingo Cavallo unter Präsident Carlos Menem belegt dies im Bereich der wirtschaftlichen Fakten auf eindringliche Weise. 36. Asís, ein Vielschreiber der Gegenwartsliteratur, erzielte neben Gedichten und cuentos vor allem mit pikaresken "novelas testimoniales" große Publikumserfolge: Don Abdel Zolim, el burlador de Dominico, Bs. As. 1972, Los reventados, Bs. As. 1974, Fe de ratas, Bs. As. 1976, Flores robadas en los jardines de Quilmes. Canguros I, Bs. As. 1981, Carne picada. Canguros II, Madrid 1981. Vgl. dazu Andrés AVELLANEDA, Best-seller y código represivo en la narrativa argentina del

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ochenta: el caso Asís, RI, 125: 983-996. Antonio MARIMON, "Un best-seller argentino: las mil caras de un picaro", in: Punto de Vista, 4, 14, (1982): 24-27. 37. J. ASIS in: Babel, 5, November 1988, S. 37. 38. J. J. SAER, "La selva espesa de lo real", in: Una literatura sin atributos, Cuadernos de Extensión Universitaria, Nr., 7, Universidad Nacional del Litoral, Santa Fe 1988, S. 9-13. (Erstpublikation in "Magazine littéraire", Sept. 1979). Vgl. dazu auch ders., "Literatura y crisis argentina", in: Kohut; Pagni, 1989: 105-121. Dort heißt es: "[...] y como en arte las generalizaciones no son de ninguna utilidad, definir la literatura en relación con el término 'nación' o con alguno de sus derivados no corresponde a ninguna realidad y en cambio presenta el inconveniente de crear toda una serie de confusiones" (109). 39. J. L. BORGES; Osvaldo FERRARI, Diálogos, Barcelona 1992: 194. [Dt. Übs.: Usen ist denken mit fremdem Gehirn, Zürich 1990. Die Übersetzung der zitierten Passage lautet: "Und trotzdem schaffen wir uns unausgesetzt neue Mythen, nicht wahr? So sind ja zum Beispiel die verschiedenen Vaterländer verschiedene Mythen; [...] Also, im Moment spricht man soviel vom nationalen Wesen, und man sucht es: In allen Teilen der Welt meint man, daß eine besondere Tugend darin liege, an diesem oder jenem Ort geboren zu sein, nicht wahr? Und natürlich ist das ziemlich gefahrlich, denn es führt zu Zwietracht, zu Kriegen, zu Feindseligkeiten, kurz zu sehr vielen Übeln. Es kann einen ästhetischen Wert haben; sogar einen ethischen, da ja die Leute für solche Kategorien sterben." S. 180]. 40. Identität und Rechtssprechung weisen eine ursprüngliche Verbindung auf. Der für die Identität elementare Begriff der "Person" bekam in der römischen Rechtsgeschichte eine grundlegend neue Bedeutung. Nachdem er in der griechischen Tragödie die Maske des Schauspielers bezeichnete, stellte er die rechtlich reglementierte individuelle Allgemeinheit her. Vgl. dazu H. RHEINFELDER, Das VVorr «persona» - Geschichte seiner Bedeutung mit besonderer Berücksichtigung des französischen und lateinischen Mittelalters, Beiheft zur Zeitschrift für romanische Philologie, 77, Halle 1928. 41. Roberto J. VERNENGO, "Verfassungsstaat in Europa und Lateinamerika", S. 110 in: Lateinamerika und Europa im Dialog, Schriftenreihe des Lateinamerika-Zentrums der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Bd. 1, Hans-Uwe ERICHSEN (Hrsg.), Berlin 1989: 109-115. 42. A.a.O. 43. Und das bis in die jüngste Gegenwart, wie der Wahlsieg Carlos Menems 1989 in Argentinien, der ausschließlich durch charismatischen Personenkult errungen wurde, belegt. 44. Vemengo führt das Beispiel der mexikanischen Verfassung an, "die als politisches und soziales Programm gefeiert wurde und auch heute noch wird, die aber keine Beziehung zu den damaligen und vielleicht auch zu den heutigen sozialen Verhältnissen hat" (a.a.O.: S. 111/112). 45. Zusammenfassend dazu v. ENGELHARDT, 1990a, b.

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46. Der pragmatisch-dynamischen Interpretationslinie zeitgenössischer Denkart zufolge (Derrrida, Lacan, der in Argentinien außerordentlich populär ist, Foucault, Fiedler, Sontag, Hassan) tritt Sprache an die Stelle von Bewußtsein und der Mensch wird zum "language animal" (Ihab Hassan). 47. Ohne hier die Querverbindungen zur Sprechakttheorie (John L. Austin, John R. Searle, P. Strawson, D. Wunderlich) vertiefen zu können, sei daraufhingewiesen, daß die im nächsten Kapitel eingeführte Habermas'sche Theorie des kommunikativen Handelns sich auf die Identitätsbildung in der Sprache bezieht und die "pragmatische Wende in der Bedeutungstheorie" berücksichtigt (Habermas, 1992: 63ff.). Die Identitätsproblematik bildet eine Brücke zwischen Sozialwissenschaften und der Sprechakttheorie. Habermas differenzierte das Axiom der Sprechakttheorie, das jede Art von Sprachgebrauch als eine besondere Art des Handelns definiert, mit einer Systematik der Sprechakte. Die verschiedenen Sprechakte erfüllen demnach durch die Herstellung je unterschiedlicher Selbst- und Weltbezüge speziñsche Funktionen der Identitätsbildung [Vgl. dazu die Zusammenfassung der Unterscheidung von konstativen, emotional expressiven, evaluativnormativen, deklarativen und argumentativen Sprechakten von ENGELHARDT: "Biographie und Identität", In: SPARN, 1990: 197-247], Ausgangspunkt ist die Rezeption der drei bekanntesten bedeutungstheoretischen Ansätze, die je einen Aspekt des Bühlerschen Organon-Modells (1934) vertiefen: 1. Die intentionalistische Semantik (Grice, Bennett, Schiffer), die Darstellungsfunktion, der die Perspektive des Senders (oder des Gemeinten) entspricht; 2. Die formale Semantik (Frege, der frühe Wittgenstein) für die Ausdrucksfunktion oder die Perspektive des Gesagten; 3. Die Gebrauchstheorie (der späte Wittgenstein), die die Bedeutung aus dem Interaktionszusammenhang erklärt, entspricht der Bühlerschen Appellfunktion. Habermas kombinierte diese Modelle und vertiefte den Aspekt des Hörerbezugs, indem er die Kenntnis der Voraussetzungen ergänzte, die Äußerungen akzeptabel machen: "Die Kenntnis einer Sprache ist deshalb verwoben mit dem Wissen davon, wie es sich in der sprachlich erschlossenen Welt tatsächlich verhält. Vielleicht hängt das Weltwissen nur an einer längeren Kette von Gründen als das Sprachwissen. Daß sich beide nicht scharf voneinander trennen lassen, bestätigt den Gedanken, von dem wir ausgegangen sind: einen Ausdruck zu verstehen heißt zu wissen, wie man sich seiner bedienen kann, um sich mit jemanden über etwas zu verständigen" (Habermas, 1992: 81). 48. "Los pueblos cuya identidad ha sido rota por las sucesivas culturas de conquista, y cuya explotación despiadada sirve de funcionamiento de la maquinería del capitalismo mundial, el sistema genera una "cultura de masas". Cultura para masas, debería decirse, definición más adecuada de este arte degradado de circulación masiva que manipula las conciencias, oculta la realidad y aplasta la imaginación creadora. No sirve, por cierto, a la revelación de la identidad, sino que es un medio de borrarla o deformarla, para imponer modos de vida y pautas de consumo que se difunden masivamente a través de los medios de comunicación". In: Eduardo GALEANO, El descubrimiento de América que todavía no Jue, Barcelona 1986, S. 10, 11.

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2. Identitätsmodelle 2.1. Habermas' kommunizierende Identität. 2.2. Der Identitätsbegriff: ein plurivalentes Modell. 2.3. Die literarische Kritik von Identität und Vernunft.

2.1. Habermas' kommunizierende Identität Angesichts der Mehrdeutigkeit des Identitätsbegriffes und der Vielzahl theoretischer Modelle ist vor der Textanalyse und der Interpretation der Untersuchungsgegenstand zu definieren, zumindest als Versuch einer Eingrenzung im ursprünglichen Sinn des Wortes. Als Grundlage dienen einige Überlegungen zur Identität des deutschen Philosophen und Soziologen der "Frankfurter Schule" Jürgen Habermas, die durch deren kommunikationstheoretische Ausrichtung Verbindungen zu literarischen Phänomenen aufweisen.1 Durch die Ergänzung des Habermasansatzes mit spezifisch erzähltechnischen Gesichtspunkten wird dann der Entwurf des "literarischen Detektivs" (siehe Kap. 4) gebildet, der die Untersuchung der romanhaften Darstellung von Identität gewährleisten und mit Hilfe der Kriterien von Habermas eine paradigmatische Einordnung ermöglichen soll. Damit wird die vielschichtige Identitätsproblematik sowie die Besonderheiten ihrer literarischen Vermittlung in der argentinischen Literatur nicht auf die Kriterien der Habermasschen Konzeption reduziert. Die Analyse der einzelnen Romane erfolgt dann mit zusätzlicher Unterstützung bei der Untersuchung bestimmter Aspekte durch die jeweils geeigneten literaturtheoretischen Modelle, wie der Lotmanschen Raumsemantik im Falle der Romane von Abel Posse, Ricardo Piglia und Rodolfo Rabanal, oder das des multiperspektivischen Archivromans bei Tomás Eloy Martínez und Piglia. Es sprechen mehrere Gründe dafür, den Habermas-Entwurf zur Bestimmung von Identität als Untersuchungsgegenstand und zur Beschreibung des literarischen Verfahrens der Konstruktion und Dekonstruktion von Identität heranzuziehen. Die in dieser Untersuchung ausgewählten Romane weisen fundamentale Übereinstimmungen mit dem "Wozu", dem "Was" und dem "Wie" von Habermas Identitätskonzeption auf: 1. Das "Wozu" Bezüglich der Zielsetzung besteht Übereinstimmung mit der grundsätzlich gesellschaftskritischen Ausrichtung, die utopische Elemente aufweist.

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1.1. Die Autoren spielen oftmals die Rolle des subversiven Machtkritikers, der sich in der Auseinandersetzung mit offizieller Geschichte und Geschichtsschreibung für literarische bzw. poetische Versionen von Geschichte einsetzt. Die Texte sind in diesem Sinne Beispiele "ästhetischer Vernunft", die sich um den gesunden demokratischen Dissens bemühen. 1.2. Die national-kritische Einstellung, aufgrund derer sich bei jedem Autor je eigene Genealogien im Kontext des argentinischen Identitätsdiskurses feststellen lassen, steht im Einklang mit der Position von Habermas. Die Romane sind gekennzeichnet von einer Sensibilität gegenüber Formen des Mißbrauchs des Bedürfnisses nach einer überindividuellen Symbolik. Es dominiert der Bezug zur Kriminalisierung des Staates von seiten der Militärjunta 1976-1982 (vgl. R. Piglia, Kap. 5.3). 2. Das "Was" Zur Definition von Identität verwendeten die Schriftsteller in Gesprächen mit dem Vf. zwei zentrale Kriterien zur Festlegung von Identität, die den Thesen von Habermas zugrunde liegen. 2.1. Die prozeßhafte nicht-essentielle Definition von Identität. 2.2. Die Definition der Identität als Beziehungsbegriff, der das Wechselverhältnis von Individuum und Gesellschaft als Entstehungsraum von Identität beschreibt, das in den Romanen in Form von Konflikten zwischen privater und kollektiver Geschichte erscheint. 2.3. Die nachmetaphysische sprachpragmatisch begründete Definition, die über das die Philosophiegeschichte dominierende Identitätsdenken hinausgeht, ohne der postmodernen Auflösung anheimzufallen. 3. Das "Wie" 3.1. Es besteht eine doppelte Übereinstimmung erstens bezüglich des Verfahrens und zweitens bezüglich der Bedeutung des Procedere bei der Identitätsbildung. 3.1.1. Die Autoren prüfen im Zuge der Problematisierung der diskursiven Verfahrensweisen von Identitätsbildung auch die eigene erzählerische Strategie. Damit erfüllen sie die Forderung von Habermas nach Selbstreflexion und Selbstkritik. 3.1.2. Reflexiver Sprachgebrauch ermöglicht Rollendistanz, die eine wesentliche Voraussetzung der Identitätsbildung ist. 3.1.3. Die Romane sind eine "Praxis ästhetischer Vernunft". Sie erschließen das Potential der identitätskritischen und identitätsstiftenden Funktionen von Literatur.

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3.1.4. Die markantesten Querverbindungen zwischen Habermas' kommunikativer Identität und der Literatur bestehen im Bereich des autobiographischen Schreibens, in den Gattungen des Briefs, der Konfession, des Tagebuchs, der Autobiographie, des Bildungsromans und der didaktisch vorgetragenen Selbstreflexion. 3.2. Die auf Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Standpunkten basierende Identitätsbildung entspricht erzähltechnisch der multiperspektivischen Darstellung und Relativierung monolithischer Wahrheiten. Diese Vorgabe der Offenheit für den Widerstreit gegensätzlicher Standpunkte als Ausgangsbasis der Identitätsbildung ist wichtiger als die jeweils diskutierten Inhalte selbst. Die verbindende aufklärerische Ausrichtung von Intention, Definition und Vorgehensweise mag einer der Gründe für das rege Interesse sein, auf das Habermas im spanischsprachigen Kulturraum und besonders in Lateinamerika stößt. Sein Gesamtwerk ist nahezu vollständig übersetzt und wird auch in Argentinien lebhaft rezipiert und diskutiert. Der als "Ultimo ilustrado" eingeschätzte Frankfurter Philosoph stieß 1989 bei einer Vortragsreise durch Südamerika besonders in Buenos Aires auf reges Interesse.2 In der Universalität des Ansatzes, kommt ein weiterer Grund hinzu, der eine Übertragung auf andere Kulturen gestatten soll, denn die Überlegungen, was in modernen Gesellschaften einer sinnvollen Identifikation würdig ist, sind zwar auf den deutschen Kontext zugeschnitten, jedoch handelt es sich dabei um soziale Strukturen und Prozesse, die im Lateinamerika der achtziger Jahre interessant sind, weil sie an die demokratischen Grundregeln gebunden sind, nicht an nationale Grenzen. Da Habermas kein abgeschlossenes Identitätskonzept vorgelegt hat, der Identitätsbegriff hingegen eine Basis seines Gesamtwerks ist, waren zunächst die versprengten Äußerungen zum Thema zusammenzutragen (siehe Bibliographie). Habermas verfolgt eine linkshegelianische Traditionslinie, deren Endpunkte von der vernunftorientierten Programmatik der Aufklärung markiert werden. Sein Projekt enthält eine utopische Dimension: den Traum von einer herrschaftsfreien Kommunikation, von einem Gesellschaftsvertag, der auf dem Willen zur Verständigung beruht, von der versöhnenden Kraft der Auseinandersetzung, die die zerfallende Moderne zusammenhalten soll. Habermas versucht, den Mythos der modernen RatioKritik als praktisches Vernunftdefizit zu entlarven. Er sucht den "Funken einer beinah verglühten Vernunft in der Solidarität einer letztlich immer auf Verständigung angewiesenen Alltagspraxis".3 An die Stelle des "einsam erkennenden und handelnden Subjekts" tritt die Verständigung.4

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Bereits Max Weber sprach von einem "Polytheismus der Werte", vom "Kampf zwischen einer Mehrheit von Wertreihen", die nicht nur gesamtgesellschaftlich, sondern "sogar in den gleichen Individuen nebeneinander koexistieren und wirksam sind". 5 Weber konkretisierte diese Diagnose, indem er die "Entzauberung der Welt" durch Profanisierung und Rationalisierung als isolierte Entfaltung von kognitiver, ästhetischer und moralischer Vernunft analysierte. Darauf greift Habermas zurück, wenn er die Aufhebung der aus seiner Warte illegitimen Abspaltung von Expertenkulturen einfordert, die die Lebenswelt — spezialisiert auf die drei Vernunftbereiche — einseitig dominieren und kolonialisieren. Habermas strebt eine "posttraditionale Identität" an, die sich von Nationalismus und Historismus — den "Muttermalen" (Marx) der Moderne — löst und in öffentlicher Diskussion entsteht, orientiert an den jeweiligen historischen Bedingungen. Dieser aufklärerische Impuls motiviert sein Werk im innersten. Die gewaltige wissenschaftstheoretische Anstrengung der Kommunikationstheorie soll die im postmodernen Getümmel der "neuen Unübersichtlichkeit" untergegangene Identität noch einmal vernünftig wiederbeleben. Die Frage: Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden?6 enthält Habermas' Credo von der Identitätsbildung als kontinuierlichem Lernprozeß, der im "Bewußtsein allgemeiner und gleicher Chancen der Teilnahme an [...] Kommunikationsprozessen begründet ist". Mit dieser Programmatik verfolgt Habermas die "Vollendung der Moderne", weshalb er als Antagonist postmodernen Denkens geziehen wurde. Doch der scheinbar offenkundige Widerspruch modern — postmodern hält einer Überprüfung nicht stand, weil die in sich äußerst heterogene Postmoderne auf die nicht unbedingt homogenere Ästhetik der Moderne zurückgreift. Selbst die Philosophie Lyotards, gemeinhin als Anreger postmoderner Begrifflichkeit angesehen, enthält durch und durch rationale Denkweisen, die sich bis auf Kant zurückführen lassen und die alles andere beabsichtigen als eine Negation der Moderne. Es ist eine unzulässige Vereinfachung, einerseits Habermas als Gegner der Postmoderne zu bezeichnen oder ihm hypochondrische Berührungsängste zu unterstellen7 und andererseits die postmoderne Bewegung antinomisch zur Moderne zu bestimmen. Nichts läge dem Pluralisten Habermas ferner, als die Differenziertheit der Lebenswelt zu leugnen, was ihn allerdings nicht davon abhält, hinter dem plakativen Begriff der Postmoderne Etikettenschwindel zu wittern. Vernünftige Identität "braucht keine fixen Inhalte mehr, um stabil zu sein; aber sie braucht Inhalte", so Habermas bei der Verleihung des Hegel-Preises. Damit grenzt er sich in zwei Richtungen ab. Einmal gegen den konservativen Flügel, der die erloschene Identität durch die Reaktivierung einer nationalpatriotischen Gesinnung wiederherstellen will. 8 Und sodann gegenüber Derrida und anderen, die auf einen wie auch immer gearteten Identitätsbegriff verzichten. Derrida folgte Adornos gegen

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die metaphysische Einheitsphilosophie gerichtetem Kurs, den jener als "Denken der Identität" interpretiert hatte.9 Habermas stützt sich auf sprachlich vermittelte Interaktion: "Die Identität vergesellschafteter Individuen bildet sich zugleich im Medium der sprachlichen Verständigung mit anderen und im Medium der lebensgeschichtlich-intrasubjektiven Verständigung mit sich selbst" (Habermas, 1988:191). Damit wird Identität aus der kommunikativen Situation heraus erklärt. Kritiker wandten dagegen ein, er definiere nicht den Begriff als solchen, sondern liefere lediglich eine kontingente Erklärung. Diese Kontingenzerklärung ist ausgesprochen vorteilhaft für eine literarische Identitätsanalyse, denn sie liefert die konkreten Bezugspunkte von Identität: als Alltagserfahrung, die "letztlich in der dialogischen Struktur der Umgangssprache" zu orten ist (Habermas, 1990: 32). Die Voraussetzung für "kommunikative Vernunft" ist der Säkularisierungsprozeß, die Webersche Entzauberung der Welt. Nach der Ablösung der erst religiös, später national und ideologisch begründeten allgemeinverbindlichen Ordnung tritt eine vom Menschen selbst gemachte Immanenz an die Stelle Gottes. Die neue Sozialordnung findet sich nicht passiv vorgegeben, sondern sie muß aktiv entwickelt werden, d.h. sie muß sich selbst normieren, legitimieren und verantworten. Moderne Gesellschaften müssen ihre Identität permanent neu bilden.10 Das erfordert, von der Gruppe und vom einzelnen, konstante Arbeit am Selbstbild, an den Reaktionen der Umwelt auf dieses Selbstbild und an der Vermittlung dieser beiden Faktoren. Tomás Eloy Martínez illustriert in La novela de Perón den Mißbrauch dieser Arbeit am Selbstbild. Er entwirft einen Perón, der jede Gelegenheit zur Imagepflege nutzt, um sich eine zur populistischen Mythisierung geeignete Identität zuzulegen. Habermas' Ansatz läßt sich in folgenden Punkten zusammenfassen: 1. Identität entsteht aus Leistung. Eine Gesellschaft verliert ihre Identität, wenn sie nichts für deren Erhalt tut. Identität ist die Fähigkeit des einzelnen, auch tiefgreifende Veränderungen und widersprüchliche Erfahrungen in die Persönlichkeitsstruktur zu integrieren und sich selbst als sprach- und handlungsfähiges Subjekt zu bewähren. 2. Ich-Identität ist intersubjektiv anerkannte Selbstidentifikation. Selbstidentifikation ist die symbolische Einheit einer Person, sie beruht auf der Zugehörigkeit zur symbolischen Realität einer Gruppe. Eine über die individuelle Lebensgeschichte hinausgreifende Identität der Gruppe ist Bedingung für die Identität des einzelnen. 3. Ich-Identität des Erwachsenen ist variabel, sie bewährt sich in der Fähigkeit, neue Identitäten aufzubauen und die überwundenen zu integrieren. Ich-Identität drückt das Paradox aus, daß das Ich als Person mit allen anderen Personen gleich, aber als Individuum von allen anderen verschieden ist.

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4. Nur eine universalistische Moral, die allgemeine Normen als vernünftig auszeichnet, kann mit guten Gründen verteidigt werden. Die Normen der allgemeinen Vernunft bilden universalistische Identität. Dieses idealistische Paradigma betont die ausgleichenden Momente. Sämtliche Vermittlungsprozesse sind auf Balance ausgerichtet. Ich-Identität als dreifache Balance: zwischen den verschiedenen Instanzen des Ich, zwischen den verschiedenen Lebensphasen und zwischen sozialer und persönlicher Identität." Letztere resultiert aus der biographischen Einmaligkeit des Individuums. Diese Interaktionsprozesse sind an die Sprache gebunden: "Reflexiver Sprachgebrauch" vermittelt durch Mehrdeutigkeit Rollendistanz. Die Textanalyse wird zeigen, daß die ausgewählten Romane eine Negativfolie zu dieser harmonischen Ausbalancierung bilden. Die persönlichen Identitäten der Protagonisten illustrieren das disharmonische Konfliktpotential dieser Vermittlungsprozesse. In der Literatur findet man dieses Schema besonders in quasi-autobiographischen Texten, die erzählendes und erlebendes Ich einer Person in verschiedenen Lebensphasen darstellen. Identität entsteht aus der in die kollektive Geschichte eingebundene Erinnerung des erzählenden Ichs, sodaß man von einer Art persönlicher Geschichtsschreibung sprechen kann. Die Einbindung in die kollektive Geschichte kann unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Doch selbst in sehr ich-bezogenen Texten, wie Rabanals En otra parte, ist es nicht möglich, die Bezüge zur sozialen Umwelt völlig auszuklammern. Intersubjektivität ist auch für das autobiographische Gedächtnis die Voraussetzung für die Erkenntnis der Eigenart des Ich. Das vielzitierte "Wiederfinden des Du im Ich" (Wilhelm Dilthey) ist erst mittels der Erkenntnis des Eigenen im Fremden möglich, d.h. des Erkennens der Identität in der Alterität. Autobiographische Texte führen somit das zu den Voraussetzungen von Identität zählende Verhältnis einer Person zu sich selbst aus: Die Gemeinsamkeit, die auf der intersubjektiven Geltung sprachlicher Symbole beruht, ermöglicht beides in einem: die gegenseitige Identifikation und das Festhalten an der Nicht-Identität des Einen mit dem Anderen. [...] in der retrospektiven Deutung des Lebenslaufes kommuniziert das Ich mit sich selbst als seinem Anderen. Selbstbewußtsein konstituiert sich im Schnittpunkt der horizontalen Ebene intersubjektiver Verständigung mit Anderen und der vertikalen Ebene intrasubjektiver Verständigung mit sich selbst.12

Mit anderen Worten: Die duale Erzählperspektive (erzählendes — erlebendes Ich) ermöglicht die Erkenntnis von Identität in den Koordinaten von Raum und Zeit. Dieses dezidierte Festhalten am Subjekt weist der Individualität ein hohes Maß an Bedeutung zu, das sich aus der autobiographischen Perspektive der ersten Person erst

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erschließen läßt: "Nur ich selbst kann performativ den Anspruch stellen, als Individuum in meiner Einzigartigkeit anerkannt zu werden" (Habermas, 1992: 184). Die historische Entwicklung autobiographischer Schreibformen seit der Antike ist eingebunden in den gesellschaftlichen Säkularisierungsprozeß. Der literarische Wendepunkt zu einem prononcierten Individualitätsbegriff sind Rousseaus autobiographische Schriften, die Lettres de la Montagne (1764), die Confessions (1782), und Rêverie du promeneur solitaire (1782), in denen es um die performative Selbstdarstellung einer irreduziblen Singularität geht, bei der der religiöse Hintergrund "[...] nur noch als Metapher fur eine aller Transzendenz beraubte innerweltliche Szene," präsent ist, "auf der niemand den Autor besser kennt als er sich selbst" (Habermas, 1992: 205ff.). Der Adressat der profanen Selbstbekenntnis ist nicht mehr Gott und die Mitchristen, sondern das "Lesepublikum der bürgerlichen Öffenlichkeit" (Habermas, 1992: 204). Rousseaus oberstes Anliegen ist die Authentizität der Selbstdarstellung, nicht Gottesliebe und Glaube, verbunden mit dem Anspruch auf Anerkennung der eigenen "unvertretbaren Identität eines in bewußter Lebensführung sich manifestierenden Ich" (Habermas, 1992: 206). Es dominiert die intentionale Funktion: der Adressat soll die eigene Besonderheit anerkennen. Insofern hat das identitätsstiftende Selbstverständnis einer Person keinen deskriptiven Sinn, sondern den der intersubjektiven Anerkennung "der Kontinuität einer mehr oder weniger bewußt übernommenen Lebensgeschichte" (Habermas, 1992: 208). Am Beispiel der autobiographischen Schriften Rousseaus zeigt Habermas, daß niemand über seine Identität als Eigentum verfügt, weil die auf Anerkennung durch die anderen angelegte Ich-Identität, in der Gesellschaft entstanden und deshalb wesenhaft intersubjektiv ist (Habermas, 1992: 209). Die im folgenden vorgestellten Romane problematisieren biographische und autobiographische Schreibformen, und sie reflektieren die steigende Problemhaftigkeit der Entwicklung einer personalen Identität durch verschiedene Formen sozialer Repression. Die fiktionale Biographie wurde zu einem literarischen Medium für die Auseinandersetzung mit der kollektiven Geschichte. Die Darstellung von Entfremdungsprozessen führte zu diskoninuierlichen Formen der persönlichen und der kollektiven Geschichte. Die Texte stoßen bei dem Versuch der Bildung von Identität durch Kontinuität auf irreparable Bruchstellen, die sich weder im individuellen noch im sozialen Lebensentwurf zu einer harmonischen Einheit fügen. Deshalb wurden sie als Negativfolie zum idealtypischen Modell bezeichnet. Da sie dennoch zugleich eine Sensibilisierung gegenüber dem Mißbrauch des Bedürfnisses nach einer überindividuellen Symbolik bewirken, gehen sie mit der utopischen Komponente des Habermas-Ansatzes konform. Habermas ist sich der Problematik von "universalistischen Ich-Strukturen" bewußt. Er macht selbst auf die Spannungen zwischen der kosmopolitischen Ebene, von der aus identitätsbildende Gruppen wie Familie, Staat und Nation zu hinterfragen

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sind, und eben diesen Basisinstutitionen, die andererseits ganz entscheidend IchStrukturen prägen, aufmerksam13: Wir können die Identität unseres Ich immer weniger an den konkreten Rollen festmachen, die wir als Angehörige einer Familie, einer Region oder Nation erwerben. Das, was uns inmitten komplexer und wechselnder Rollenerwartungen erlaubt, wir selber zu sein und zu bleiben, ist die abstrakte Fähigkeit zu einem ganz und gar individuellen Lebensentwurf. [...] für die vergesellschafteten Individuen bleibt nur noch die Möglichkeit der riskanten Selbststeuerung durch eine hoch abstrakte Ich-Identität. (Habermas, 1990: 88).

Dafür liefern die ausgewählten Romane reichhaltiges Anschauungsmaterial. Martínez, Martini und Rabanal beschreiben die Fragilität von familiären und nationalen Identitätsmerkmalen im Exil. Piglia schildert, wie sich Identität nur noch über das "hoch abstrakte" Verfahren einer komplexen literarischen Ermittlung herstellen läßt. Die Romane untersuchen die Belastbarkeit von individuellen und kollektiven Identitäten. Martinis Composición de lugar illustriert die Grenzen des Erträglichen und die Ausweglosigkeit für den Betroffenen, wenn die biographische Kontinuität einmal gebrochen ist. Die Romane sind beispielhaft für den Rollendistanz schaffenden "reflexiven Sprachgebrauch". Sie zeigen aber auch die Grenzen des Modells von Habermas, indem sie wie Martini irreparable Identitätsbrüche beschreiben, wie sie durch Exil und Diktatur verursacht werden können. 2.2. Der Identitätsbegriff: ein plurivalentes Modell Die postmodernen Ängste vor allem, was als Einheit auftritt, lassen die Sehnsucht nach Identität als Projektion fiktiver Homogenität erscheinen, die an der empirischen Heterogenität vorbeigeht.14 Auch wenn gegenwärtig wieder Identitätskonzepte dominieren, die Rasse, Volk, Nation absolut setzen wie ehedem, zeichnet den Begriff ein weit über diese Kriterien hinausgehendes konzeptuelles Spektrum aus. Habermas will dazu beitragen, Adornos Negation der Negation, die nicht in Position übergeht, ein Stück weiterzuführen in Richtung eines Modells, das dadurch, daß es weniger kann und will als die negative Metaphysik, ein Mehr an unversehrter Intersubjektivität und an freier reziproker Anerkennung bietet (Habermas, 1992: 185, 186). Die conditio sine qua non jeglicher Auseinandersetzung mit Identitätskonzepten ist die Berücksichtigung der kulturgeschichtlichen Varianz und der konzeptuellen Streubreite des Begriffes. Anstelle eines Fazits der Identitätsdiskussion ist hier nochmals zu betonen, daß ihr Brennpunkt in den Oppositionsverhältnissen von Identität und Differenz, von Einheit und Vielheit, von Wesen und Wandel liegt. Daraus resultieren grob vereinfacht zwei Positionen: Die, die der verlorenen Identität

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und der Einheit nachtrauert und die, die diesen Verlust, d.h. die Differenz, positiv wertet. Der Auffassung, daß Identität und Differenz aufeinander angewiesen sind, kommt Habermas' vermittelnde Verfahrensprozedur am weitesten entgegen. Auf der Basis der Berücksichtigung der Funktionen von Identität und deren historischer Wandel kann "die Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen" (Habermas, 1992: 153-186) als utopischer Grenzwert gesetzt werden. Die kommunizierende Identität basiert auf der simplen Erkenntnis der Notwendigkeit von Kommunikation, zwischen Person und Gesellschaft und innerhalb des biographischen Lebensentwurfs einer Person. Der in der Literatur performativ vorgebrachte Anspruch auf Anerkennung der eigenen Andersheit wird im Lichte der Prozesse von Vergesellschaftung und Individualisierung aus der literarischen Innerlichkeit befreit. 2.3. Die literarische Kritik von Identität und Vernunft Die literarische Themenstellung erfordert es, auf die über die vernunftorientierten und zielgerichteten Funktionen hinausgehenden Aspekte der Identität hinzuweisen. Sie erlaubt es uns, die vernunftorientierte Identität des Habermasschen Ansatzes zu relativieren. Die symbolische Darstellung mythischer und irrationaler Elemente spielt in der Literatur eine gewichtige Rolle. Identität erscheint oft in Form des Mythos; Adorno und Horkheimer lokalisierten in der Dialektik der Aufklärung dort ihren Ursprung. In der postmodernen Version tritt sie entsprechend maskiert als Differenz oder Paradox auf, dessen Spannung nicht logisch aufgelöst werden kann. Abendländische Vorstellungen von Identität und Rationalität verschmolzen im Zuge der Aufklärung zu einer unzertrennlichen Einheit. Literatur verpflichtete sich seit jeher der sogenannten anderen Seite der Ratio, den von ihr ausgegrenzten Bereichen des menschlichen Lebens: die häretischen Kräfte der Differenz, die Antipoden der Vernunft, Unvernunft und Verrücktheit, das von den Romantikern exaltierte Andere, Irrationales, Traum, Phantasie, Delirium, Gefühl, Wahn, Ekstase, Sinnlichkeit, Verschwendung, Liebe und Tod. Literatur nimmt jene Außenseiterperspektive ein, "aus der sich der Wahnsinnige, der existentiell Vereinzelte, der ästhetisch Entzückte ekstatisch von der Welt [...] distanziert", die Adorno faszinierte (Habermas, 1992: 185). Die Philosophie nannte dieses archaisch-sakrale Reminiszensen evozierende Andere "Macht" (Nietzsche, Foucault), "Sein" (Heidegger) oder "Heterogenes" (Baudrillard, Deleuze, Derrida, Lyotard). Gesellschaften mit einem anderen Verhältnis zu Vernunft und Identität verbinden, wie der Anthropologe und Soziologe Marcel Mauss am Beispiel der Initiationsriten von Naturvölkern belegte, den "Eintritt in die Ekstase" mit dem in die Erwachsenenwelt. Nur wer außer sich sein kann, wird zum vollwertigen Mitglied der Gesellschaft.15 In diese Kerbe schlägt die Tradition der westlichen Vernunftkritik. Habermas prägte für die in ihr enthaltene Machtkritik ein plastisches Bild: "Die

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subversive Kraft einer Kritik ä la Heidegger oder Bataille, die den Schleier der Vernunft vor dem schieren Willen zur Macht wegzieht, soll gleichzeitig das stählerne Gehäuse ins Wanken bringen, in dem sich der Geist der Moderne gesellschaftlich objektiviert hat" (Habermas, 1989: 12). Die verschiedenen Erscheinungsformen des, hier dichotomisch vereinfachten, Verhältnisses von Ordnung (Vernunft) und Chaos (Irrationalismus) greifen in die innere Dynamik der abendländischen Identitätsbildung. Das bestätigen die ausgewählten Romane, die ein kritischer Gesellschaftsbezug verbindet, der sich unterschiedlich manifestiert. Gesellschafitsbezogene Literatur benötigt bestimmte religiöse, ethische, politische oder juristische Ordnungen als Anhaltspunkt. Die hier vorgestellten Autoren orientieren sich an unterschiedlich stark ausgeprägten Ordnungsvorstellungen, die meist aus der schriftstellerischen Tätigkeit resultieren oder sich auf diese reduzieren. Diese dünnhäutige Ordnung der Literatur integriert in den komplexen Prozeß der Modellierung von Weltbildern das unberechenbare Irrationale.16 Die Romane von Eloy Martínez, Piglia und Posse artikulieren dabei eine literarische Form des Widerstands gegen repressive Machtübergriffe. Alle Autoren betonen die machtkritische Funktion ihrer Werke, die häufig eine Gegengeschichte zur offiziellen Geschichtsschreibung entwerfen. Freilich beteiligt sich auch Literatur an der Gewalt, die jede Form menschlichen Zusammenlebens in den bisher bekannten Gesellschaftsformen enthält. Selbst die schöngeistigste Literatur ist auf eine Kehrseite angewiesen. Die Faszination des Bösen, des Kriminellen und des Barbarischen kennzeichnet nicht nur die Werke ihrer großen Huldiger — Bataille, Freud, Nietzsche und de Sade —, sondern auch die von Jorge Luis Borges, Adolfo Bioy Casares, Julio Cortázar, Manuel Puig, Ernesto Sábato und allen voran Domingo Faustino Sarmiento (siehe Kap. 3) sowie wohl auch die in dieser Arbeit ausgewählten Autoren. In der argentinischen Literatur stand hinter dem Schlagwort der Barbarei das faszinierend bunte Spektrum gesellschaftlich ungebändigter Randfiguren, die in den Prototypen des gaucho und des compadre mit ihrem überkommenen Ehrenkodex hochstilisierte Identifikationsfiguren fanden. Diese standen meist in Konflikt mit dem Gesetz und stammten aus dem Unterschichtenmilieu, das vom offiziellen Kulturbetrieb ausgeschlossen wurde. Diese nicht nur von Borges bewunderten "primitiven Kriminellen" wiesen oft einen beachtlichen Familienstammbaum in Argentinien auf, was ja als stichhaltiger Nachweis für Argentinität gilt, aber sie paßten nicht in das Bild des Argentiniers, das den weißen oder hellhäutigeren Führungsschichten vorschwebte. Identität wird von den jeweiligen Machtkonstellationen geprägt. Die jeweiligen literarischen Manifestationen von Argentinität reflektieren diese — implizit und explizit — in der figurativen Darstellung. Infolgedessen wies auch die im traditionellen Gewand der Einheit auftretende Identität eine Kehrseite auf. Die verbindende, überbrückende, ausgleichende und heilende Identität mußte aufgrund dieses ihr eigenen Reflexes immer auch

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trennen, spalten, abwerten, unterdrücken und verletzen, und dies zu jeder Zeit in allen Gesellschaften im Interesse der Mächtigen. Foucault konzentrierte sich auf die Stacheldrähte unseres historischen Wir-Gefiihls, indem er die von der herrschenden Vernunft vollzogenen Spaltungen, Ausschließungen und Einsperrungen analysierte. Identität erzeugt, wie Hegel erkannte, Differenz und Distanz. Je raffinierter man die Einheit inszenierte (Hegels absolute Identität von Identität und Nicht-Identität), desto totalisierender und gewaltsamer ist das Resultat. Der Imperativ der Einheit konnte sich nie vom Effekt der Spaltung in Vielheit freimachen. Es stellt sich die Frage, ob der Poststrukturalismus wirklich einen Qualitätssprung über das Identitätsdenken hinaus getan hat, oder ob es sich nicht um weitere Variationen handelt, die ex negativo Heteronomie und Differenz verordnen. Wir werden sehen, wie es sich mit der "Auflösung des Ich" (Foucault) durch den "radikalen Kontextualismus mit einer verflüssigten Sprache" (Habermas, 1992: 247) in der zeitgenössischen Literatur verhält. Doch zunächst ein Abriß der historischen Entwicklung des argentinischen Identitätsdiskurses mit einigen exemplarischen Identitätsmodellen. Nur soviel sei vorausgeschickt: Gleichwohl sich auch dort hinter den Foucaultschen Masken des Ich heterogene Systeme verbergen, lassen sich zumindest in den ausgewählten Texten, trotz expliziter Aufwertung der freien Vielheit der Diskurse gegenüber totalitärem Monolog, keineswegs alle Geltungsansprüche diskursimmanent einebenen. Auch wenn das raffinierte Spiel mit fingierten Wirklichkeitsebenen das Gefälle zwischen Fiktion und Wirklichkeit kaschiert, bleibt es dennoch existent — auch als nie ganz unwichtiges Thema der Romane.

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Anmerkungen: 1. Habermas unterscheidet zwei Arten der Kommunikation: "kommunikatives Handeln* und "Diskurs". Während er kommunikatives Handeln als sprachlich vermittelte Interaktion definiert (Befehl, Warnung, Versprechen) verweist der Diskursbegriff auf den durch Diskussion zu bildenden Konsens, der in den sozialen Kontext der Sprechsituation eingebunden ist, wobei die utopische Komponente im Postulat der herrschaftsfreien Diskussion gleichberechtigter Sprecher besteht. Vgl. dazu Heidrun PELZ: "Der 'Diskurs' bei Habermas", in: dies., LinguistikJÜr Anßnger, Hamburg 1990: 249-253. 2. Vgl. dazu die Rezensionen der spanischen Übersetzungen wie z.B. der Ensayos políticos, (Barcelona: Península 1988, Trad. de García Cotarelo) von Ricardo IBARLUCIA: "No cabe duda de que Habermas es el último ilustrado", (in: Babel, 2, 1988, S. 40) Die respektvolle Haltung der ersten Sätze bestimmt den Tenor der Rezension: "La amplitud y variedad del programa de investigación encarado por Jürgen Habermas no tienen paralelo en el panorama filosófico del presente. Heredero del notable, pero gravoso, legado de la Escuela de Francfort, Habermas supo hacerse un perfil independiente [...]". Ebenso zu den Ensayos políticos: José FERNÁNDEZ VEGA, "Habermas: una modernidad discreta", in: Espacios 8/9, Buenos Aires 1990, S. 78-79. Vega bemerkt dort: "Para Habermas, el postmodernismo tanto como el postestructuralismo configuran una noche en la cual todos los gatos son neoconservadores" (S. 78). Sowie die Rezension Delfín Leocadio GARASAS von Conocimiento e interés, (Madrid: Taunis, 1990, dt. Erkenntnis und Interesse), in: La Nación, 14 de octubre de 1990, 4* Secc. pág. 5. Anläßlich des Habermas Aufenthalts in Buenos Aires: "Un filósofo de la comunicación", Carmen BALZER, in: La Nación, 15 de octubre de 1989, 4* Secc. pág. 6: "Habermas nos transmite la sospecha de que el pensamiento posmodemo, el neoconservadurismo o el anarquismo de inspiración estética, en nombre de una despedida de la modernidad, están en realidad intentando sólo unas de las tradicionales rebelliones contra ella". Zur Frage der Bedeutung der von Habermas geführten "Moderne - Postmoderne Debatte" für Lateinamerika siehe: Osvaldo GUARIGLIA, "Teoría crítica y posmodernismo", in: La Nación, Suplemento Literario, pág. 1, 1 de marzo de 1992. Guaiiglia hält es für wichtig, die Position von Habermas in die gegenwärtige lateinamerikanische historische Situation einzubringen: "[...] a mi juicio, la reconstrucción de una forma de universalismo de la razón, sea en su modelo comunicativo o sea en su versión constructivista, constituye una condición indispensable para que las sociedades de América latina ,[...], puedan culminar su proceso de modernización e integrarse como comunidades ética y políticamente maduras*. Vgl. dazu auch ders., Ideología, verdad y legitimación, Buenos Aires: Sudamericana, 1986. Zu verweisen ist auf eine literaturwissenschaftliche Untersuchung von José Amicola zum Werk von Roberto Arlt, in der die Kommunikationstheorie von Habermas analytisch angewandt wurde: Die Karikatur des Faschismus im Romanzyklus 'Los siete locos — Los lanzallamas' von Roberto Arlt, (Diss.) Göttingen 1982. 3. J. HABERMAS, Die nachholende Revolution, Frankfurt a. M. 1990, S. 32. 4. J. HABERMAS, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a. M. 1988, S. 361.

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5. M. WEBER, "Vom inneren Beruf zur Wissenschaft", in: Soziologie - Universalgeschichtliche Analysen-Politik, hrsg. von Johannes WINCKELMANN, Stuttgart 51973, S. 311-339, hierS. 330. Sowie ders., "Zwischen zwei Gesetzen", in: Gesammelte politische Schriften, Tübingen 41980, S. 142-145, hier S. 145. Webers Diagnose erzielte eine Breiten- und Tiefenwirkung, die bis heute ungebrochen anhält. Die postmodeme Radikalisierung des Pluralismus findet darin einen elementaren Bezugspunkt. Auch Daniel Beils Vorstellung der "nachindustriellen Gesellschaft" knüpft daran an. Seine crosscutting identities, die besagen, daß Individuen "mehrfache Anhänglichkeiten und Identitäten" haben, lassen sich auf Weber zurückführen. In: D. BELL, The Winding Passage. Essays and Sociological Joumeys 1960-1980, Cambridge, Mass. 1980, S. 329. 6. So der Titel der Rede bei der Hegel-Preis-Verleihung 1973. Der Anlaß war der denkbar geeignetste, um mil dem Identitätsbegriff die geziemende Dankbarkeit auszudrücken. Denn an Hegel scheiden sich die Geister. Er dachte selbst die Nicht-Identität in Kategorien der Identität. Dieses Denken wirkte bis Husserl und Heidegger. Adorno leitete den Vorzeichenwechsel ein, der mit der Abkehr von Hegel einen Wendepunkt der neueren Philosophie markiert. Vgl. dazu V. DESCOMBES, Das Selbe und das Andere. 45 Jahre Philosophie in Frankreich 1933-1978, Frankfurt a. M. 1981. 7. B. SCHMIDT in: Postmodeme — Strategien des Vergessens. Ein kritischer Bericht, Darmstadt 1986, S. 66. 8. Z.B. Michael STÜRMER, "Kein Eigentum der Deutschen: die deutsche Frage", in Werner WEIDENFELD, (Hg.), Die Identität der Deutschen, München 1983. 9. Th. W. ADORNO, Negative Dialektik, Frankfurt a.M., S. 108. 10. J. HABERMAS, "Das Zeitbewußtsein der Moderne und ihr Bedürfnis nach Selbstvergewisserung", in: Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a. M. 1985. 11. Dieses Modell durchläuft drei Stufen. Habermas unterscheidet 1. die Identität des Kindes (natürliche Identität "für sich"), 2. die des Heranwachsenden (In der Adoleszenz zerbricht die konventionelle Identität. Entwicklung der Fähigkeit, mit inkompatiblen Rollenerwartungen konsistent umzugehen: Rollenidentität) und 3. die des Erwachsenen (Verarbeitung und Integration von abgelegten Identitäten, sowie die Fähigkeit, neue Identitäten zu entwickeln und diese zu einer unverwechselbaren Lebensgeschichte zu organisieren). E. TUGENDHAT sah in diesem dreistufigen Modell einen Widerspruch zwischen numerischer und qualitativer Identität. Wir übergehen den rein philosophisch begründeten Einwand mit dem Hinweis, daß hier die dialogische Aspektierung der Identität im Vordergrund stehen soll. In: Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, Frankfurt a. M. 1979. Besonders: "12. Vorlesung, Mead II: das Selbst", und: "Anhang über den sozialpsychologischen Identitätsbegriff", S. 264-292. In Nachmetaphysisches Denken (1992: 192) präzisierte Habermas die Unterscheidung von numerischer (raumzeitlich bestimmter) und qualitativer (durch Genkombinationen, soziale Rollen, biographische Muster bestimmte) Identität. 12. "Diltheys Theorie des Ausdnicksverstehens: Ich-Identität und sprachliche Kommunikation", in: Erkenntnis und Interesse, Frankfurt a. M. 1970, S. 178-233.

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13. Ibid. S. 31, 32. Und: 1981, Bd.2: 47-68: "Der komplementäre Aufbau von sozialer und subjektiver Welt", "Meads Begründung einer Diskursethik. Exkurs zur Identität und Individuierung. Numerische, genetische und qualitative Identifizierung einer Person", 141 ff. 14. In die Reihen derer, die Identität entpersonalisierten, steht Niklas Luhmann. Er verneinte die Möglichkeit "vernünftiger" Identitätsbildung mit systemtheoretischen Argumenten. Aufgrund des hohen Komplexitätsgrades des sozialen Systems, könne die kollektive Identitätsbildung nicht mehr alle Mitglieder des Systems erreichen. Das sinn- und wertestiftende Konzept der Einheit des Individuums ist demnach auf ein politisches Steuerungssystem angewiesen, das über die Massenmedien Identitäten verordnet. Kollektive Identität ist demnach von den Organisationsprinzipien der Computergesellschaft vorgegeben. Bliebe zu fragen, ob Luhmann damit wirklich der Späher am Horizont der Gegenwart ist, als den er sich selbst sieht? LUHMANN, Soziale Systeme, Frankfurt a. M. 1984, dort besonders Kap. 7, "Die Individualität psychischer Systeme", S. 346376. 15. Marcel MAUSS, Oeuvres, Bd. II, S. 130. 16. In Juan Carlos Martinis La vida eruera erweisen sich die prophetischen Träume der agonisierenden Mutter als Indikatoren einer übergeordneten Ordnung, die das durch die Machtkämpfe verschiedener gesellschaftlichen Gruppen verursachte Chaos in ein anderes Licht stellen. Daraus jedoch eine Überlegenheit des Traumbewußtseins über das Tagesbewußtsein abzuleiten, würde allerdings zu weit führen und das Verhältnis von Bewußtem und Unbewußtem unzulässigerweise vereinfachen.

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3. Der argentinische Identitätsdiskurs in Geschichte und Literatur 3.1. Das Fehlen indianischer Hochkulturen und die negativen Auswirkungen der Conquista im Prozeß des mestizaje. 3.2. Die Ambivalenzen des nationalen Mythos: Zivilisation vs. Barbarei. 3.3. Die reziproke Enttäuschung der Migration. 3.4. Die Jahrhundertfeiern der Unabhängigkeit(1910). 3.S. Mit dem Pfeil ins Herz der Postmoderne oder Foucaults Lachen beim Lesen von Borges. 3.6. Politische und wirtschaftliche Instabilität. 3.7. Die Semantik der Pampa.

Es wurde vielfach behauptet, argentinische Identität definiere sich durch ihr Fehlen und durch die vergebliche Flucht vor dem daraus resultierenden horror vacui. Der unlängst verstorbene argentinische Schriftsteller Daniel Moyano, der die spanische Nationalität angenommen hatte, formulierte dies folgendermaßen: "Yo, por ejemplo, nací en el exilio de mis abuelos maternos, que eran italianos. Mi esquema apuntaba a que de una vez por todas hay que admitir que nuestra identidad puede ser la falta de ella. La conciencia de que no hay identidad puede ser uno de sus posibles sustitutos". Die Wurzel des Übels ist ñir Moyano klar zu erkennen: "La búsqueda de una identidad, tema clarísimo de toda nuestra literatura, proviene del desarraigo. Del desencuentro entre distintas culturas producido durante el llamado descubrimiento de América, surge el desarraigo" ("Escribir en el exilio", in Kohut, 1989: 147). Der Literaturwissenschaftler Antonio Pagés Larraya brachte es auf einen ähnlichen Nenner: "Sueños de sueños muchas veces han concluido por ofrecer a la Argentina su sostén más sólido, la revelación de una identidad que en gran parte se cimenta en la búsqueda anhelosa".1 Den Teufelskreis defizitärer Identität interpretierten viele Autoren wie Eduardo Mallea und Héctor A. Murena in Begriffen der traditionellen Seins-Opposition als Inauthentizität, Entfremdung oder falsche Identität: "La conciencia de que no somos y el deseo de querer ser nos lleva a ser falsamente" (zitiert nach G. Siebenmann, 1976: 72). Die Interpretation von Respiración artificial wird zeigen, wie Piglia die von Mallea artikulierte "nacionalidad intrínseca" parodiert.2 Über die Bedeutung und die Rolle der Literatur im argentinischen Identitätsdiskurs besteht weitgehend Einvernehmen. Paul Verdevoye sei stellvertretend für den Tenor der Forschung zitiert: "La problemática de una identidad nacional [...] tiene una repercusión de primera magnitud en la literatura de ficción,

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y asimismo constituye la preocupación esencial de los ensayistas".3 Freilich trifft diese Feststellung nicht nur auf den gesamten Raum des Río de la Plata — d.h. einschließlich Uruguay — und den Cono Sur — d.h. einschließlich Chile — zu, sondern für ganz Lateinamerika, wie Ferndando Alegría in der Einleitung zu Literatura chilena del siglo XX bemerkte: ¿Civilización y barbarie? ¿Viejo y nuevo mundo? No importan las denominaciones. El chileno lleva una pugna de culturas que no logra aún armonizar. Es el caso de todos los pueblos hispanoamericanos. En última instancia, creo que buscar la "chilenidad" es buscar lo que une a los hombres de todas partes, no aquello que los divide.4

Auch Alegrías chilenischer Schriftstellerkollege José Donoso definierte die gesamte neuere lateinamerikanische Literatur mit der Identitätsfrage: Nuestra literatura está últimamente marcada por varios interrogantes: ¿quiénes somos? ¿de dónde venimos? ¿hacia dónde vamos? Son obras de indagación de la identidad nacional, que generalizan, que a veces terminan pareciéndose a las enciclopedias, con una gran pretensión filosófica. Por desgracia, no poseemos una literatura como la de los países que tienen una seguridad en cuanto a su origen y, al mismo tiempo, una seguridad económica, como es el caso de Francia o de los Estados Unidos.1

Es ist insofern durchaus angemessen, ein literarisches Sujet von derartiger Reichweite im Bereich der zeitgenössischen Literatur zu untersuchen, obwohl Gustav Siebenmann schon vor Jahren die Fruchtlosigkeit der Identitätssuche feststellte: La búsqueda de una identidad — infructuosa casi siempre — es precisamente un tema frecuente en la Novela Nueva latinoamericana, desde Cortázar hasta Fuentes, pasando por Arguedas y Carpentier, Sábato y García Márquez. Pero la verbalización del dilema no puede ser eo ipso una solución. (Siebenmann, 1986: 128, 129).

Die aktuellen Romane geben Hinweise darauf, daß die Artikulation des Dilemmas in gewisser Weise doch zu dessen Lösung beiträgt, indem sie nämlich sowohl literaturimmanente als auch außerliterarische Funktionen, Manipulationen und Entstehungshintergründe der Identität zu ihrem Darstellungsgegenstand machen. Für Mario Benedetti, Adolfo Bioy Casares, Jorge Luis Borges, Julio Cortázar, Eduardo Mallea, Leopoldo Marechal, Ezequiel Martínez Estrada, Juan Carlos Onetti und Ernesto Sábato war es eine gebrochene, entwurzelte, entfremdete und nicht selten pathologische Identität des Einsamen, des Einwanderers oder Einwandererkindes, des Exilanten, des Marginalisierten, des Künstlers und des Unterdrückten. Die jüngeren Schriftsteller lassen einen Wandel in der Gestaltung der Identitätsproblematik

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erkennen. Das um die Jahrhundertwende mit dem Modernismus eingeleitete Aufbrechen intellektueller Selbstbewußtheit hat sich zu einer selbstverständlichen Haltung kultureller Autonomie gefestigt. Identität hat, um mit Alejandro Losado zu sprechen, in den Urbanen Metropolen Mexikos, Brasiliens und am Rfo de la Plata einen affirmativen, ja triumphierenden Charakter angenommen.6 Dort habe sich, so Losada, im Zuge der Loslösung von der kolonialen Vergangenheit eine autonome nationale Identität entwickelt. Das jüngste Kapitel der nationalen Identitätsgeschichte, das Losada zu erleben versagt war, zeichnet sich dadurch aus, daß die hier vorgestellten Autoren gemeinsam mit dem Großteil ihrer Zeitgenossen nach den nationalistischen Exzessen der Diktatur die nationalen Mythen und Klischees einer eingehenden Revision unterzogen. Zusammenfassend sei vorweggenommen, daß bei der literarischen Identitätssuche eine prinzipielle Enttotalisierung stattfindet. Es werden nicht nur die stereotypen Suchmuster der nationalen Identität aufgelöst, sondern die lange Zeit vorherrschenden totalisierenden Perspektiven an und für sich. Die Identitätssuche in nationalen Kategorien wirkt bestenfalls noch lächerlich. An deren Stelle tritt eine weniger klar zu definierende dynamische Auffassung im Zeichen des Fragmentarischen und Abweichenden, die in den identitätsstiftenden nationalen Mythen von ehedem kein Sinn- oder Lösungspotential für die Probleme der Gegenwart mehr findet, nachdem der letzmalige Versuch der Militärs während der "¿poca del proceso", die seit der Unabhängigkeit gepflegten patriotischmilitärischen Werte zu reaktivieren, gescheitert ist. Nach dieser Vorbemerkung zur argentinischen Identitätsproblematik kann die eingangs zitierte Feststellung von Weizsäckers, Identität sei Voraussetzung für den Selbsthilfeprozeß einer Gesellschaft, präzisiert werden. Eine der Grundlagen für die Entwicklung nationaler Identität sind autonome literarische Werke aus der eigenen Volkskultur, die man mit N. Shumway als guiding fictions bezeichnen kann: Even after separation from Spain, the Spanish American elite would remain more attuned to the latest fads from Europe than to the popular culture that was uniquely theirs, and regional distinctiveness that could have formed the basis for national identity went largely ignored. With few exceptions, it was not until the twentieth century that Spanish American intellectuals began considering the guiding fictions of national identity, peoplehood, and destiny in terms of their own popular culture.7

Die nach der Unabhängigkeit entstandenen argentinischen guiding fictions brachten mit dem literarischen Potential der Fiktion historische Konflikte in den identitätsstiftenden Diskurs ein. Umgekehrt dazu wurde Literatur vom Projekt der Gründung des Nationalstaats vereinnahmt. Im folgenden werden deshalb einige Etappen dieses Wechselverhältnisses skizziert und soweit wie möglich chronologisch geordnet mit Textstellen illustriert. Diese stereotypen Erklärungsmuster der Identitätsproblematik

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der Rio de la Plata-Länder werden zum Teil auch für ganz Lateinamerika herangezogen. Es sind dies die fehlenden indianischen Hochkulturen, die Conquista, der Konflikt zwischen der Hauptstadt und den Provinzen, Unitariern und Föderalisten, polemisch hochstilisiert als Gegensatz von Zivilisation und Barbarei, und die massiven Einwanderungsschübe. Diese Faktoren fließen in der argentinischtellurischen "Vakuum-Theorie" zusammen, wie ich es nennen möchte. Im Verlauf des argentinischen Identitätsdiskurses, so die Arbeitshypothese dieses Kapitels, fand in der Literatur eine Semantisierung des geographischen Raumes statt, die auf den historischen Raum projiziert wurde und deren Ambivalenzen bis heute Stoff für literarische Gestaltung bieten. 3.1. Das Fehlen indianischer Hochkulturen und die negativen Auswirkungen der Conquista im Prozeß des mestizaje Eine Faktor der Conquista, der im Laufe des Identitätsdiskurses vielfach negativ bewertet wurde, ist die Rassenmischung. Dieses Phänomen sollte jedoch nicht von der Wertebene aus diskutiert werden, denn schließlich ist jegliche menschliche Kultur ein Mischprodukt. Ein Beispiel dafür ist Spanien zur Zeit des Columbus. Die iberische Geschichte bis zu diesem Zeitpunkt bestand aus einer Abfolge von Invasionen, Conquistas und Vermischungen. Phönizier, Kelten, Römer, Germanen und unterschiedliche vom Islam gewaltsam vereinte arabische Stämme eroberten nacheinander das Land und hinterließen ihre Spuren in der Bevölkerung und in den verschiedenen Sprachen der Halbinsel. Das schließlich dominante Kastilisch war weit davon entfernt, "castizo" zu sein. Der Problemgehalt der Rassenmischung beruht nicht im wie auch immer bewerteten Resultat, sondern in der Violenz der Ursache. Dem mestizaje liegt die Vergewaltigung indianischer Frauen durch europäische Eroberer zugrunde. Aus der daraus interpretierten psychischen Deformation leitete man diskursübergreifend in Geschichtsschreibung und Literatur jene Minderwertigkeit ab, die das Wesen des Mestizen angeblich charakterisiere. Um dem Teufelskreis mangelnder Identität zu entkommen, ist die internalisierte Gespaltenheit der mestizischen Kulturen zu untersuchen, wie Darcy Ribeiro forderte. Die unterwürfige Haltung gegenüber der Vaterfigur Spanien und die Geringschätzung der Mutter Lateinamerika manifestiert sich in kultureller Selbstkasteiung. Der argentinische Arzt und Schriftsteller Marcos Aguinis (1935) beschrieb diesen Konflikt so: "Todo argentino tiene en su memoria histórica a un violador y a una mujer violada, a un ofensor y un ofendido".* Das äußert sich in der in Argentinien besonders prägnanten Ambivalenz, die darin besteht, Europa zu idealisieren und das Eigene abzuwerten, aber auch in der Rebellion gegen die europäische Vaterfigur. Die Auswirkungen der Conquista sind demnach für Argentinien auch ohne indianische Hochkulturen der Initialkonflikt. Abel Posse beschreibt in Los perros del

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paraíso neben der "guerra de los sexos" auch die "guerra de los Dioses", um dem "choque de culturas", den kulturellen und religiösen Folgen der Entdeckung für die Neue Welt, auf den Grund zu gehen. Die Entdeckung, so der Tenor der Kritiker des V. Centenario, war für Lateinamerika ein "cubrimiento" der eigenen Kulturen durch die europäische. Unterwerfung und Ausbeutung stigmatisierten den in erster Linie strategisch wichtigen Cono Sur insofern nicht minder als die altindianischen Hochkulturen im Norden. Das Schema der Inbesitznahme, die violente Mestizierung und ihre traumatische Verinnerlichung verliefen ähnlich. Die Auslöschung der indigenen Kulturen verursachte eine irreparable Bruchstelle in der für die Identität unabdingbaren Kontininuitätsbildung. Man sagt, in Ländern wie Mexiko oder Peru sei der Konflikt der nationalen Selbstfindung klarer definiert, weil die Wiederherstellung der identitàtsstiftenden historischen Kontinuität durch die Rückbesinnung auf das indigene Erbe einfacher sei. Diese Sichtweise ist Ausdruck von Geringschätzung gegenüber den indigenen Völkern Argentiniens, weil sie argentinische Identität einseitig als Fortsetzung des kulturellen Erbes Europas begreift. Der Gegensatz von mündlicher Volkskultur und offizieller Schriftkultur bildet den übergreifenden Rahmen dieser Problematik. Die besondere Beschaffenheit des Konfliktverhältnis zwischen Mündlichkeit und Hochkultur wirkt von der gauchesken Tradition im 19. Jahrhundert über José Hernández bis hin zu Leopoldo Lugones, El payador (1916), und Jorge Luis Borges ins 20. Jahrhundert fort. Auf argentinischem Boden entwickelte sich auch ohne "spektakuläre" indianische Hochkulturen ein Indigenismus, der sich gegenwärtig besonders in den Provinzen um die Pflege des indianischen Erbes bemüht.9 Die argentinische Literatur steht im Zeichen einer ausgeprägten Spannung zwischen der Hinwendung zur eigenen Tradition und der Orientierung an Europa. Domingo Faustino Sarmiento (1811-1888) traf im Facundo mit dem programmatischen Untertitel "civilización y barbarie" den Nerv dieses Konfliktverhältnisses.10 Die antithetische Denkweise des späteren Präsidenten der Republik war ein bahnbrechendes Ereignis in der Entwicklung des nationalen Identitätsdiskurses, dessen ausgesprochen aufschlußreiche Widersprüche noch auszuführen sind. Der Literaturwissenschaftler Antonio Pagés Larraya stellte die wichtigsten literarischen Texte von der Kolonialzeit bis in die Gegenwart zusammen, die die Entwicklung der Darstellung von Identität in der argentinischen Literatur markieren. Er wies nach, wie eng die beiden Traditionslinien bei vielen argentinischen Autoren nebeneinander liegen (1987: 83-125). Die Beachtung der kreolischgauchesken Tradition, so ist aus Pagés Larrayas Ausführungen zu schließen, vermischte sich entweder mit dem Interesse am indianischen Erbe oder sie verdeckte es. Aus der zeitgenössischen Literatur sei hier nur Adolfo Colombres erwähnt, der in seinem Roman Karai, el héroe (1988) indianische Mythen, Geschichte und Anthropologie kombiniert, wobei er die indigen-tellurische Tradition pikaresk

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gestaltet." Die Tendenz, sich auf autochthone kulturelle Traditionen zu berufen, äußert sich heute in den Provinzen in einem steigenden Interesse an den eigenen musikalischen, oralen und handwerklichen Überlieferungen. Die damit verbundene Integration der "sprachlosen" Bevölkerungsgruppen in den politischen Entscheidungsprozeß ist eine der wesentlichen Herausforderungen und Aufgaben der nationalen Selbstfmdung, wie Darcy Ribeiro mit Nachdruck betonte. Um dies zu erreichen, ist es unabdingbar zu untersuchen: [...] cómo se conformó el pueblo argentino; cómo fue relegado y cómo empieza a surgir con el peronismo. No hay ningún sentimiento de identificación con el cabecita negra. Ese es un tema muy importante como para que la Argentina encuentre su identidad. No se puede negar a la gente que vino de Europa con los barcos, es evidente. Pero los argentinos niegan a los cabecitas. En la conciencia argentina Martín Fierro es como si fuera nieto o hijo de polacos. [...] Esta nación se construyó con el cabecita negra y con la gente que fue expulsada de Europa como ganado humano, porque era excedente.12

Ribeiro weist damit auf den innerargentinischen Rassismus hin, der eine Lösung der ethnischen Identitätsprobleme blockiert. Die letzten indianischen Bevölkerungsgruppen wurden während der Präsidentschaft Rocas' im Zuge der Eroberung des Südens, der "campaña del desierto" (1880) systematisch eliminiert. Auf Ruhm und Heldentum bedachte Generäle handelten im Namen jener zivilisatorischen Kräfte, welchen ein von barbarisch-farbigen Elementen freies europäisches Argentinien als Ideal vorschwebte. José Pablo Feinmann (1943) beschrieb den Wahnsinn und die Absurdität der mythifizierten Vaterlandshelden in dem Roman El ejército de ceniza, (Buenos Aires 1988). Der Wüstenfeldzug versinnbildlicht in diesem Text die Sinnlosigkeit soldatischer Ruhmessucht in einer grotesken Mischung aus Realismus und Phantastik. 3.2. Die Ambivalenzen des nationalen Mythos: Zivilisation vs. Barbarei Spanien stieß im südlichsten Teil des Subkontinents weder auf verwertbare Bodenschätze noch auf nennenswerte indianische Arbeitskräfte. Vereinzelte Siedlungen, nomadisierende Gauchos, autonome estancieros, noch nicht eroberte Indiostämme beherrschten das demographische Bild des 17. Jahrhunderts. Ein kollektives Nationalbewußtsein war nicht vorhanden. Während der Kolonialzeit traten noch vor den großen Einwanderungswellen des 19. und 20. Jahrhunderts interne Widersprüche hervor: Der Antagonismus Zentrum — Peripherie wird gemeinhin auf die Gründung des Virreinato del Río de la Plata (das vierte und letzte der Vizekönigtümer, 4. Juli 1776) zurückgeführt, ein Ereignis, das als Grundsteinlegung argentinischer Nationalität gewertet wird. Das Vizekönigtum umfaßte Bolivien, Paraguay und Uruguay, die mit der Unabhängigkeit zu autonomen Staaten wurden

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(1825, 1811 und 1814/28 in genannter Reihenfolge). Die zur Hauptstadt ernannte Residenz des Vizekönigs, Santa Maria de los Buenos Ayres, entwickelte sich zum politischen Zentrum, mit einer den Provinzen überlegenen Infrastruktur. Die Bevölkerung dieser Siedlung an den Rändern der Pampa war bereits auf 25.000 Personen angewachsen. Der überwiegend illegale Handel war die Haupteinnahmequelle (Shumway, 1991: 13). Die Ereignisse, die zur Unabhängigkeit führten, bildeten die Grundlage für die Bildung des politischen Selbstbewußtseins. England befand sich seit 1804 im Krieg mit Spanien. 1806 überfiel Comodore Sir Home Pophan die beuteversprechende Hafenstadt Buenos Aires. Am 12. August brachte ihm die kreolische Miliz eine vernichtende Niederlage bei. Piglias Historikerfigur Marcelo Maggi aus Respiración artificial dient die Niederlage der englischen Krone als Beispiel, um seine Philosophie des Scheiterns mit dem prototypischen Nationalhelden Sir Pophan zu illustrieren." Ein weiterer Angriff unter Generalleutnant John Whitelocke wurde ebenfalls abgeblockt. Der militärische Erfolg gegen die als überlegen eingeschätzten englischen Einheiten festigte das Selbstbewußtsein der porteños derart, daß sie sich gegen die spanischen Besetzer erhoben. Begünstigt durch den Umstand, daß la madre patria seit 1810 von napoleonischen Truppen besetzt war, setzte eine kreolische Junta am 25. Mai 1810 den spanischen Vizekönig ab. An der autonomen Regierung waren allerdings keine Vertreter der Provinzen beteiligt. General José San Martin sicherte die argentinische Unabhängigkeit und befreite Chile und Bolivien. Am 9. Juli 1816 verkündete der Kongreß von Tucumán auch für die restlichen Provinzen des Landes die formelle Unabhängigkeit der "Vereinigten Provinzen des Rfo de la Plata". Mit der Unabhängigkeit entstanden in der vom Geist der Unabhängigkeitskämpfe geprägten Literatur die ersten Identitätsklischees. Juan Cruz Varela (17941839) gebrauchte im Jahre 1823 erstmals den Ausdruck "literatura nacional".14 Das Bewußtsein einer eigenen Ausdrucksweise bekundeten Vicente López y Planes (17851856)15, Esteban de Luca (1786-1824), Cayetano Rodríguez (1761-1823) und Juan Crisòstomo Lafinur (1797-1824) in Form heroischer Oden.16 Die argentinische Literatur, so Bernardo Verbitsky, "entstand im Zeichen der Freiheit", von daher rühre ihr "Kampfgeist", der die repräsentativsten Werke wie den Martín Fierro kennzeichne.17 Es entstanden aber auch neue wirtschaftliche Abhängigkeiten, die politische Selbstbestimmung stockte, und die Rivalität zwischen Hauptstadt und Provinzen eskalierte durch den Wegfall des äußeren Feindes Spanien zum Bürgerkrieg zwischen Föderalisten und Unitariern. Der Föderalist Juan Manuel de Rosas entschied 1825 diese Auseinandersetzung für sich, setzte die Provinzcaudillos ab und regierte ab 1835 uneingeschränkt als Alleinherrscher. Rosas' literarische Attraktivität ist ungebrochen, wie Piglias Respiración artificial und Enrique Molinas historischer

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Roman Una sombra donde sueña Camila O'Gorman (1973) beweisen. Letzterer hat die Romane Daimón und Los perros del paraíso von Abel Posses nach dessen eigenen Aussagen stark beeinflußt. Die Mitglieder der 37er Generation Juan Bautista Alberdi, Esteban Echeverría, Juan María Gutiérrez, José Hernández, Bartolomé Mitre, Domingo Faustino Sarmiento und Vicente Fidel López — alle zugleich Schriftsteller und Politiker — arbeiteten an der praktischen Umsetzung dreier grundlegender Ideen Alberdis, die durch den proyecto liberal de construcción nacional gefordert werden sollten: 1. Förderung der Einwanderer und ihrer Einschmelzung 2. Gemeinsames und allgemeines Erziehungswesen 3. Förderung sozialer Mobilität Sarmiento reduzierte das soziale Problemgeflecht literarisch auf die Dichotomie von Zivilisation und Barbarei, wobei er die ländliche Bevölkerung als Barbaren begriff. Die Leere der Pampa metaphorisierte die Geschichtslosigkeit, die es zu überwinden galt." Mit der durch die Wüste versinnbildlichte Leere der barbarisch unzivilisierten Pampa rückte Sarmiento, der soziale Aufsteiger aus dem einfachen Volk, fasziniert die Unbekannten im eigenen Land ins Blickfeld des Lesepublikums — und disqualifizierte sie gleichzeitig. Aus einer zwischen der archaischen Landbevölkerung auf der einen und der Modernisierungsidee auf der anderen Seite schwankenden Faszination wechselte er die Perspektive: Argentinien war nicht mehr mit Buenos Aires und der oligarchischen Oberschicht gleichzusetzen. Er bündelte die Sorgen der Intellektuellen des "Salón Literario" in den Eingangssätzen von Civilización y barbarie: Sombra terrible de Facundo, voy a evocarte, para que, sacudiendo el ensangrentado polvo que cubre tus cenizas, te levantes a explicarnos la vida secreta y las convulsiones internas que desganan las entrañas de un noble pueblo (Sarmiento, 1986: 5).

Mit dem von Krämpfen geschüttelten Innersten eines noblen Volkes ist nichts anderes gemeint als die Kolonialgeschichte und die Schwierigkeiten der Unabhängigkeit. Sarmientos Gebrauch der Krankheitsmetapher hat bis heute paradigmatischen Stellenwert. Der Rekurs auf den medizinisch-biologischen Diskurs in der Identitätsdiskussion kommt in der Rede vom "mal argentino" nach wie vor zur Geltung. Das Hauptanliegen der Intellektuellen des von Echeverría gegründeten "Salón Literario" war die Entwicklung eines Geschichtsbewußtseins, mit dem sich das unabhängige Land in die vom Fortschritt geleitete Geschichte der sogenannten zivilisierten Welt einreihen konnte. Mit diesem Bewußtsein wollte man die Basis für eine eigene kulturelle Tradition schaffen, welche das Vakuum füllen, sprich die Barbarei beseitigen sollte.

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Zunächst verschärften sich die inneren Probleme des jungen Staates. Der aufkeimende Bürgerkrieg, in Gestalt der sich weitenden Kluft zwischen dem europaorientierten Buenos Aires und den feudalistischen Provinzen, bedrohte die Ideale der Mairevolution. Das von Spanien hinterlassene Machtvakuum mußte mit Inhalten gefüllt werden, die die Nation zusammenhalten und erstmals aus freien Stücken als solche konstituieren konnten. Der Wille zur Zusammenzugehörigkeit ist zwar prinzipiell ein konstituives Element kollektiver Identität, jedoch dieses allen Befreiungsbewegungen innewohnende voluntaristische Moment genügte nicht zur Bildung der Nation. Die dreißigjährige Alleinherrschaft des Föderalisten Rosas hatte erheblichen literarischen Widerstand ausgelöst. Esteban Echeverrfas Erzählung El matador dokumentierte mit drastischen Bildern die Opposition des Schriftstellers gegen die Unterdrückung durch den caudillo und der ihm willfährig ergebenen barbarischen Volksmassen. Für das krasse Auseinanderklaffen von übersteigerten Erwartungen und ernüchternder Realität hatte man in Argentinien und in anderen lateinamerikanischen Staaten eine Patentlösung gefunden: den caudillismo, die Flucht in einen irrationalen Glauben an charismatische Führerfiguren. Die Entstehungsperiode des argentinischen Romans ist gekennzeichnet von einem tiefgreifenden Spannungsverhältnis zwischen Politik und Fiktion.19 Ein zentraler Ausgangspunkt des nationalen Identitätsdiskurs ist das Werk Sarmientos. Jener beklagte 1849 in einem Artikel über die "Biblioteca Americana" die Invasion nutzloser(!) europäischer Romane und 1883 rief er fragend aus: Es acaso ésta la vez primera que vamos a preguntarnos quiénes éramos cuando nos llamaron americanos, y quiénes somos cuando argentinos nos llamamos. ¿Somos europeos? ¡Tantas caras cobrizas nos desmienten! ¿Somos indígenas? Sonrisas de desdén de nuestras blondas damas nos dan acaso la única respuesta. I Mixtos? Nadie quiere serlo, y hay millares que ni americanos ni argentinos querrían ser llamados. "¿Somos nación? ¿Nación sin amalgama de materiales acumulados, sin ajuste ni cimiento? ¿Argentinos? Hasta dónde y desde cuándo, bueno es darse cuenta de ello (Hervorhebungen von mir).

Diese Passage ist in mehrfacher Hinsicht aufschlußreich. Zunächst die "caras cobrizas", der "cabecitas negras", die sich nicht wunschgemäß nordeuropäisch "aufhellen" lassen! "Mixto" zu sein ist nicht attraktiv, "niemand will es sein". Diese zeitlose Problematik, wird heute weltweit unter dem Schlagwort der multikulturellen Gesellschaft geführt. Der Immigrationspolitiker Sarmiento akzeptiert nur jene ethnisch-kulturellen mixta composita, die hellhäutig sind. Dies ist der Konflikt der gesamten 37er Generation. Die Absicht, ein zweites Europa b.z.w. eine zweite USA im Cono Sur zu schaffen, blockierte die Entwicklung einer Mischkultur, die das Eigene gleichberechtigt einbringt. Das Eigene konnte Sarmiento nicht einbringen,

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weil er mit europäischen Konzepten denkend vom Kriterium der Rasse ausging: "Reconocemos el árbol por sus frutos; son malos, amargos a veces, escasos siempre. La América del Sur se queda atrás y perderá su misión providencial de sucursal de la civilización moderna. No detengamos a los Estados Unidos en su marcha; que es lo que en definitiva proponen algunos. Alcancemos a los Estados Unidos. Seamos la América, como el mar es el océano. Seamos Estados Unidos" (In: Conflicto y armonía de las razas en América; zitiert nach L. Zea, 1976: 147, 148). Ein ähnlicher innerer Widerspruch kennzeichnet Sarmientos Einstellung zur Literatur. Er setzte den zivilisierten Gebrauch der Literatur mit deren utilitaristischer Funktion gleich. Dem stand die europäische Tendenz der Autonomisierung der Literatur diametral entgegen. Die aufkommende zweckfreie Kunst — Flauberts Plan ein Buch über nichts zu schreiben — stand in Opposition zur utilitaristischen Ökonomie: Kunst versus Kapitalismus. Sarmientos Konflikt bestand darin, kapitalistische Modernisierung, Fortschritt und Effizienz zu wollen, nicht aber die damit einhergehende Autonomisierung der Kunst. Der Warencharakter der europäischen Kunst ermöglichte künstlerische Unabhängigkeit durch kapitalistische Abhängigkeit. Flaubert hätte in Argentinien Höllenqualen gelitten, denn: "Esta literatura está totalmente acosada por la necesidad de constituir la Nación desde la letra, que pone a la literatura en el lugar mismo de la nación, porque decir 'literatura nacional' en el siglo XIX es un pleonasmo".20 Wo blieb für eine Literatur mit dieser Verantwortung Raum für Fiktion? In Sarmientos Sicht war die Fiktion ein Übel: überflüssiger Luxus und pure Zeitverschwendung. Aber das "Böse" wühlte in Sarmiento, in Echeverría und in Mansilla. Sarmiento, der auch den Zuflüsterungen der politischen Macht Gehör schenkte, situierte sein Werk gattungsgeschichtlich in einem Zwischenreich: "El Facundo es expresión de esa propia situación de incertidumbre genérica que tiene la literatura argentina en su momento de constitución" (¿Cómo leer..., I). Sarmiento wies den von Diderot stammenden Epigraph "On ne tue point les idées" Fortoul zu und übersetzt ihn im Buchinneren mit: "Bárbaros, las ideas no se desgüellan". Diese Initialszene markiere, so Piglia, als falsches Zitat und verändernde Übersetzung den Ursprung der argentinischen Literatur. Sarmiento schrieb den Satz, weil er gegen Rosas kämpfte. Sein Buch sollte ja bekanntlich ein gegen das Haupt des Tyrannen geschleuderter Felsbrocken sein. Es entspinnt sich ein Kampf zwischen der Literatur Sarmientos und der politischen Macht Rosas', bis die Literatur den Platz der Macht einnimmt, bis sich Sarmiento im Arbeitszimmer Rosas an dessen Schreibtisch niederläßt, die Feder des Diktators ergreift und zu schreiben beginnt. Tatsächlich schrieb er mit Rosas' Feder über die Schlacht von Caseros.21 Sarmiento begann die Niederschrift des Facundo mit der eigenen Biographie. Der Vorspann schildert, wie er malträtiert von der "Mazorka" Rosas' ins chilenische Exil floh:

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A fines del año 1840 salía yo de mi patria, desterrado por lástima, estropeado, lleno de cardenales, puntazos y golpes recibidos el día anterior en una de esas bacanales sangrientas de la soldadesca y mazorqueros. Al pasar por los baños de Zonda, bajo las armas de la patria que en días alegres había pintado en una sala escribí con carbón estas palabras: Onne tue poiru les idées. (1986: 4)

Echeverría hatte den Konflikt zwischen einem kultivierten Unitarier und dem föderalistischen Proletariat bereits in El matadero als mörderischen Kampf zwischen Zivilisation und Barbarei allegorisiert. Echeverría integrierte die entsprechenden Sprachebenen: die kultivierte Hochsprache der Unitarier und die einfache Volkssprache der Föderalisten. Während Echeverría fiktionale Formen benutzte, um sich den anderen, den Indios, Gauchos und Immigranten, zu nähern, ist der Facundo autobiographisch angelegt. Beide Texte prägten die Archetypen der Marginalität, die die argentinische Literatur bis heute bevölkern. Während Echeverría in romantischer Ablehnung der als barbarisch denunzierten anderen verharrt, ist das fiktive Moment im autobiographisch angelegten Facundo bereits ein Versuch, die anderen — die Barbarei, das nicht-europäische Argentinien — zu verstehen, denn darin vermutet Sarmiento die Lösung der argentinischen Identitätsproblematik: [...] que nos propone el enigma de la organización política de la República. Un día vendrá, al fin, que lo resuelvan; y la esñnge Argentina, mitad mujer, por lo cobarde, mitad tigre, por lo sanguinario, morirá a sus plantas, dando a la Tebas del Plata el rango elevado que le toca entre las naciones del Nuevo Mundo. Necesítase, empero, para desatar este nudo que no ha podido cortar la espada, estudiar prolijamente las vueltas y revueltas de los hilos que nos forman, y buscar en los antecedentes nacionales, en la fisonomía del suelo, en las costumbres y tradiciones populares, los puntos en que están pegados. (Sarmiento, 1986: 6, Hervorhebungen von mir).

Die Passage enthält eine Reihe literarisch folgenreicher Denkbilder und Argumentationsweisen. Der gesamte Abschnitt folgt dem Bild des Rätsels, Argentinien erscheint als Sphinx, womit das in der ersten Zeile angesprochene Problem der politischen Organisation Argentiniens keineswegs gelöst wird. Die Definition der Argentinität als Rätsel ist eine Konstante der Identitätsdiskussion, die sich quer durch alle Lager bis zu Ricardo Piglia fortsetzt. Die Gleichsetzung von Frau und Feigheit kann als frauenfeindlicher Chauvinismus betrachtet werden und bedarf in unserem Zusammenhang keiner weiteren Erläuterung. Der "tigre", gemeint ist der in ländlichen Gegenden Argentiniens vorkommende Jaguar, gehört zu den Topoi argentinischer Literatur bis hin zu den Texten von Bioy Casares, Borges, Cortázar, Posse und Rabanal.22 Hier vervollständigt er antithetisch zur Feigheit der Frau die metaphori-

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sehe Charakterisierung Argentiniens. Ist diese fatale Wesensopposition einmal überwunden, wird Argentinien den Führungsanspruch in Lateinamerika wahrnehmen. Das Überlegenheitsgeñihl gegenüber dem Rest Lateinamerikas, eine weitere Konstante des Identitätsdiskurses, wurde schon bei Mariano Moreno und den Rivadaviaanhängern zum Klischee, das die 37er Generation weiterverbreitete. Sarmiento bekräftigte in Argirópolis (1850) die Führungsrolle Argentiniens: aufgrund des größten europäischen Bevölkerungsanteils, sei Argentinien unter Einschluß Uruguays und Paraguays dazu bestimmt, die USA Südamerikas zu sein (OC, 13: 3137). Die Hauptstadt sollte nach dem Vorbild Washingtons an einen zentralen Ort verlegt werden, auf die am Zusammenfluß des Paraná und des Uruguay gelegene Insel Martín García, auf der später ein berüchtigtes Gefängnis für politische Gefangene errichtet werden sollte. Nach dem Wechsel der klassischen Metaphorik zum gordischen Knoten, folgen die Lösungsvorschläge für das Rätsel Argentinien. Sarmiento sieht sie im Studium des — vermenschlicht dargestellten — Erdbodens (die Gesichtszüge des Bodens) und das der Sitten und Gebräuche des Volkes. Der Facundo steht somit einerseits im Banne der Faszination des rätselhaften und unerklärlichen Wesens Argentiniens andererseits sollte er als Katalog argentinischer Archetypen einen Grundstein der Argentinität legen. Er steht damit auf der tellurisch ethnologischen Stufe des argentinischen Identitätsdiskurses, die Nationalität mit präpolitischer Faktoren entwickeln wollte. Dieser Widerspruch, der durch importierte Modernisierungsprogramme nicht zu lösen ist, wird ergänzt durch einen weiteren, der darin besteht, daß das Volk, dessen Sitten und Gebräuche erforscht werden sollen, überwiegend aus den nicht identitätsfähigen Schichten der "cabecitas negras" bestand. Wir befinden uns noch in der Entstehungsphase des argentinischen Romans zwischen Echeverría und Macedonio Fernández (1874-1952), die weit bis ins 20. Jahrhundert hinein im Zeichen dieses doppelten nicht nur für Sarmiento typischen Diskursschemas stand, zu dessen Merkmalen die eben gezeigten Widersprüche und Ambivalenzen zählen. 3.3. Die reziproke Enttäuschung der Migration. 3.3.1. "Hacer la América": Fortschrittsglaube und Eurozentrismus Nach Rosas' Sturz 1852 wurde 1853 die von Juan Bautista Alberdi23 entworfene und bis heute gültige Verfassung ausgerufen. Diese beinhaltet die Gründung des "Argentinischen Bundes" (Federación Argentina), der die Vormachtstellung von Buenos Aires, d.h. die der "Unitarier", forderte. Mit dem Ende der Epoche Rosas' verlagerte sich die politische Macht zurück in die Hauptstadt, die Ausgangspunkt und Symbol der Modernisierung wurde. Mit den Slogans hacer la América und gobernar es poblar propagierte man — orientiert an den Zentren der industriellen Entwicklung — Einwanderung als Garant des Fortschritts. Immigration galt als Heilmittel fiir alle

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argentinischen Übel. Freilich setzte Juan Bautista Alberdi mit der Parole "regieren ist bevölkern" auf nordeuropäische Einwanderer, die ihre Zivilisation und Kultur einbringen sollten, um Argentinien ethnisch aufzubessern (Shumway, 1991: 147). Sarmiento reformierte unter dem Eindruck seiner Europa- und Nordamerikareisen das Bildungswesen und die städtische Verwaltung. England setzte im Zuge der Industrialisierung und des damit verbundenen Expansionsstrebens eine Kolonialpolitik mit anderen Mitteln fort. Der Bau britischer Eisenbahnen hat symbolischen Charakter. Argentinien wurde vom europäischen Fortschrittsgeist überrollt. Der Bau von Eisenbahn, Dampfschiffen und Kühlhäusern zog weitreichende Konsequenzen (Fleischexport, Einwanderung) nach sich.24 Die Einwanderung brachte sozialen Sprengstoff in Form von Konkurrenz, Abgrenzung, Unterdrückung, Rivalität und Anpassungszwängen.25 Argentinien hat, wie die vergleichbaren Einwanderungsländer Australien und Kanada, die Fähigkeit, Fremde zu integrieren, hoch entwickelt. Andererseits wurden die Neuankömmlinge mit konfliktiven Anpassungsprozessen konfrontiert, die sich z.B. im öffentlichen Verzicht auf die Muttersprache äußerten. Schon die erste im Land geborene Generation italienischer Nachfahren beherrschte die Sprache der Eltern oft nur noch mangelhaft, weil sie nur im privaten Kreis der Familie Akzeptanz fand. Wie man jedoch weiß, förderte die Integration der Immigranten neben den Anpassungstendenzen zugleich die Besinnung auf das europäische Erbe, einschließlich des anarcho-syndikalistischen Gedankenguts, das in Argentinien auf fruchtbaren Boden fiel. Aus dem im argentinischen Wortschatz wuchernden Italienisch entstand das Cocoliche der Jahrhundertwende. Die Bindung an die Kultur der Ahnen bot besonders den Bewohnern von Buenos Aires den Nährboden für ein Überlegenheitsgefuhl gegenüber anderen, weniger europäischen Ländern des Subkontinents. Der porteño zog sein Selbstwertgefühl zu einem beachtlichen Teil aus der Identifikation mit den europäischen Wurzeln. Identität fragt auch genealogisch nach dem Ursprung. Die Frage: "Woher kommen wir?", beantwortet der Volksmund mit: "Von den Schiffen". Die DominionGesellschaften der La Plata Staaten26 rekrutieren sich aus überwiegend mediterranen Einwanderern. Die drei massiven Immigrationschübe um die Jahrhundertwende verstärkten Europaorientiertheit, innere Spannungen und Überfremdung. Die Initiatoren distanzierten sich angesichts der nicht vorhergesehenen sozialen Konflikte von der Immigrationspolitik. Diese Entwicklung läßt sich bereits in Sarmientos Spätwerk stellvertretend für die 37er Generation beobachten. Die parallel verlaufende Pädagogisierung schien durch die Italianisierung bedroht. Italienisch als Unterrichtssprache und das Cocoliche in großen Teilen des öffentlichen Lebens standen nicht im Lehrplan der Reformer. Insgesamt kamen in den Perioden der intensivsten Immigration 3.400.000 Einwanderer. Zu Beginn des Jahrhunderts lebten in Buenos

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Aires 50 % "Ausländer".21 Das explosive Wachstum der Metropole Buenos Aires verschärfte den Kontrast zu den Provinzen. 3.3.2. Die wechselseitige Enttäuschung der Migration: Auswanderung mit falschen Erwartungen Die Frustrationsquote potenzierte sich dadurch, daß die Illusionen vom "Silberland" und verheißungsvollen Utopia der meist besitzlosen Emigranten an einer Wirklichkeit zerschellten, die sich als ernüchternde Anti-Utopie entpuppte, denn die Hoffnung auf Landbesitz wurde enttäuscht. Die Oberschicht hatte das Land bereits latifiindistisch unter sich aufgeteilt. Viele kehrten verbittert in die Herkunftsländer zurück. Zu hohe Ziele und enttäuschte Erwartungen, sowohl auf der Seite der Einwanderer als auch auf argentinisch-kreolischer Seite führten zu einem Klima der Resignation, Desillusionierung und Anarchie. Die zentrifugalen Kräfte der melting pot-Prozesse schraubten das Bedürfnis nach Zusammenhalt hoch und verstärkten den Anpassungs- und Eingliederungsdruck der Argentinisierung. Freilich verflüchtigten sich solche immigrationsbedingten multi-ethnischen ingroup — outgroup Konflikte und die damit verbundenen Probleme wie gegenseitige soziale Anerkennung, Selbstwert und Bilinguismus im Laufe der Generationen. Wie unberechenbar der gesellschaftliche Wandel dennoch bleibt, konnte man Ende der achtziger Jahren beobachten als Argentinien von der Massenauswanderung aus wirtschaftlichen Gründen bedroht schien. 3.4. Die Jahrhundertfeiern der Unabhängigkeit (1910) Die Autoren um die Zeit der Jahrhundertfeiern der Unabhängigkeit knüpften an Sarmientos Vorarbeiten an. Manuel Gälvez (1882-1962),2S Leopoldo Lugones (1874-1938)2' und Ricardo Rojas (1882-1957)30 korrigierten die Debatte ideologisch, indem sie einen "kulturellen Nationalismus" ins Leben riefen. Rojas und Lugones gelang der Geniestreich, den in elitären Kreisen geächteten Martin Fierro zum argentinischen Nationalepos hochzustilisieren. Die argentinische Ilias sollte es sein, oder wenigstens der gaucheske Cid Campeador der Pampa. Mit europäischen Paradigmata als Epos klassifiziert, war dem Werk auch der sozialkritische Stachel genommen. Dererlei Weihen machten das viel gelesene Gaucho-Gedicht salonfähig. Überdies konstruierte Rojas unter dem Begriff der argentinidad erstmals ein Nationalkonzept, das nicht ausschließlich auf dem militärischen Heldentum der pröceres oder auf wirtschaftlichen Faktoren basierte. Rojas wollte, wie er im Vorwort zu La argentinidad bemerkte, den "psychologischen Faktor" berücksichtigen, um jene "Synthese spiritueller Kräfte" zu beschreiben, die er mit Argentinität gleichsetzte. Die inneren Widersprüche dieser Argumentation manifestieren sich im Wechsel von der intellektuellen Analyse zur emotionalen Inspiration. Sarmiento stellt

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sich auf die Seite derjenigen, die aufgrund einer von der Vorsehung geleiteten Eingebung ("por intuición providencial") die patria ñihlten, während er auf der Gegenseite diejenigen ausmacht, die sie von fremden Diskursen geleitet theoretisch abhandelten. Rojas* Argumentation nimmt am Ende des Vorworts religiöse Züge an, sodaß die patria zum Gegenstand der "providencia" wird. Der apotheotische Abschluß mit metaphysischer Lichtmetaphorik definiert jene essentielle und unveränderliche Identität, welcher Autoren ganz anderer Denkrichtung anheim fallen sollten, wie etwa Martínez Estrada und der Deutschargentinier Rodolfo Kusch (19221979). Rojas konnotierte sie in Opposition zu den falschen und vergänglichen Werten seiner Zeit positiv als "numen imperecedero de la argentinidad". Spätere Autoren werden vom "mal metaffsico" sprechen.31 Er und Lugones strebten danach, die identitätsstiftende Wirkung der europäischen nationalen Epen auf argentinische Verhältnisse zu übertragen. Schon Pierre de Ronsard (1524-1585) nutzte in Illustration de Gaule et singularitez de Troye antike Epik, um Franzosen und Deutsche im Kampf gegen die Türken zu stützen, indem er eine trojanische Abstammung der beiden bedrohten Völker erdichtete. Die national-patriotische Aufwertung gehört zu den gattungskonstituierenden Merkmalen der Epen, weshalb sie sich zu historischer Funktionalisierung eignen, besonders, wenn politische oder religiöse Identitäten als bedroht empfunden werden. Vom philologischen Standpunkt betrachtet, waren allerdings erhebliche Kunstgriffe nötig, um den Martín Fierro auf eine Linie mit der Ilias und der Odyssee zu bringen. Borges deckte in El escritor argentino y la tradición die Ungereimtheiten dieser Klassifizierung auf, wir werden darauf zurückkommen.32 Was jedoch den repräsentativen Charakter der epischen Helden betrifft, eignete sich der Gaucho Martín Fierro offensichtlich am besten als nationale Identifikationsfigur. Rojas' argentinische Literaturgeschichte, die erste überhaupt, akzentuierte mit der Aufwertung des Martín Fierro die nationalen Aspekte von Literatur und Kultur (Vgl. dazu: Payá; Cárdenas, 1978). In Ermangelung eigener epischer Helden, stärkte man mit dem Gaucho das nationale Selbstwertgefühl. Die Aufwertung des Martin Fierro zum argentinischen Nationalepos war ein vergangenheitsorientierter Versuch der Festigung der als bedroht empfundenen Identität. Die anachronistische Figur des Gaucho bot alteingesessenen Kreolen mit elitärem Führungsbewußtsein neue Identifikationsmöglichkeiten. Der unzivilisierte Viehhüter diente nun letztendlich der Abgrenzung von der Barbarei, die er selbst vor nicht allzu langer Zeit repräsentierte. Diese Funktion übernahmen die identitätsbedrohenden Massen der Einwander. Aus Angst vor Überfremdung und angesichts des befürchteten Untergangs nationaler und moralischer Werte, berief man sich auf die Tradition, auf den espíritu nacional, um sozialen Konflikten aus einer historischen Perspektive zu begegnen. Ziel war die nationalistische Restauration, wie ein programmatischer Titel von Ricardo Rojas

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verkündete: La restauración nacionalista, (1909). Ein wichtiger sozialer Aspekt der Nationalisierung der Kultur war das mit der Einwanderung erblühende anarchistische, sozialistische und anarcho-syndikalistische Gedankengut. Nur unter Berücksichtigung der zunehmenden Spannung zwischen dem kräftiger auf seine Rechte pochenden Proletariat auf der einen und der auf Wahrung ihrer Privilegien bedachten Oligarchie auf der anderen Seite, läßt sich die Auseinandersetzung um die nationale Identität verstehen. Einige Autoren jener Zeit propagierten die Wiederbelebung des hispanischen Erbes. Hispanidad und Rasse wurden zu den Konzepten der Stunde. "Pero ha llegado ya el momento de sentirnos argentinos, de sentirnos americanos y sentirnos en último término españoles puesto que a la raza pertenecemos", so erfaßte Manuel Gálvez die drei Grundpfeiler der Argentinität.33 Die Betonung der hispanoamerikanischen Komponente setzte schon vor der Rezeption von Rodós Ariel ein. Joaquín V. González (1863-1923), mehrfacher Minister und Gründer der Universität von La Plata, sprach bereits 1888, dem Todesjahr Sarmientos, in La tradición nacional davon, das Land zu hispanoamerikanisieren.34 Der aus La Rioja stammende Abkömmling einer alteingesessenen Familie berief sich dabei auf das indigene Substrat, was ihm harte Repressalien von Seiten des Präsidenten Mitre einbrachte.35 Die Jahrhundertfeiern der Mairevolution waren ein Ausgangspunkt für die politische und kulturelle Programmatik des aufstrebenden Liberalismus. Hierauf stützte sich Antonio Aita als er 1930 noch etwas zögernd die Existenz eines literarischen Nationalbewußtseins konstatierte: "En los últimos años nuestra literatura ha venido acentuando su carácter nacional, y sin que yo sostenga la necesidad de una literatura lugareña o criollista, me parece que por ahora al menos, nuestra producción debe ir reflejando nuestras costumbres, nuestro paisaje, nuestro carácter". Aita grenzte diese ethnozentrierte Erforschung eigener Traditionen von früheren romantisierenden Tendenzen ab: "Pero nada de cuadros pintorescos, sino la realidad de nuestra vida, el alma de nuestro pueblo" (Aita: 1930). Diese Art der Hinwendung zur populären Kultur und der Selbstbesinnung entspricht in Frantz Fanons dreiphasigem Modell der Emanzipation kolonialer Staaten, der zweiten Stufe, die Fanon zufolge der Unabhängigkeit vorausginge. Nationale Kategorisierungen mit Akzent auf der "Volkseele" ziehen sich wie ein roter Faden durch die Einleitungen zahlreicher argentinischer Literaturgeschichten. Diese ursprünglich romantische Grundlegung — sie könnte von Johann Gottfried Herder (1744-1803) oder Friedrich Schlegel (1772-1829) stammen — hält an bis in die jüngste Vergangenheit. Ein Blick in Guillermo Aras Literaturgeschichte (1966: 9ff.) mag dies verdeutlichen: "Nuestra filosofía, nuestra poesía, nuestro teatro o nuestra novela, igual que nuestro ensayo [...] han sido siempre un sondeo angustioso, una meditación desvelada y torturante del «yo» evasivo de la «argentinidad»". Auch Ara definiert Argentinität geographisch, national, mit der staatsbürgerlichen

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Verfassung und symbolisch mit "un himno, una bandera, una escarapela". Doch das "ser nacional" erschöpfe sich nicht in emotionaler und bewußtseinsmäßiger Identifikation, sondern es handle sich um eine "fatale Determination", zumindest für Ara, der dem bekannten tellurischen Argumentationsschema folgend behauptet: "el argentino no puede concebir su ser universal más que en función de su ser nacional, de hombre fatalmente determinado por su origen histórico y territorial". 3.5. Mit dem Pfeil ins Herz der Postmoderne oder Foucaults Lachen beim Lesen von Borges Mit einem Sprung zu Jorge Luis Borges kommen wir zum literarisch einflußreichsten argentinischen Schriftsteller dieses Jahrhunderts, der ein neues Verständnis von Nation und Literatur entwickelte. Er prägte, wie die Textanalysen zeigen werden, auch die hier ausgewählten Romanciers thematisch, erzähltechnisch und stilistisch. Dies eröffnet der traditionellen Quellen- oder Einflußforschung und der Rezeptionsgeschichte bzw. der neueren Dialogizitäts- und Intertextualitätsforschung ein weites Feld. Bahnbrechend war vor allem Borges' originelle Verwendung bestehender Texte. Er stellte den statischen Textbegriff als konstante überzeitliche Sinneinheit radikal in Frage (vgl. "Pierre Menard, autor del Quijote", in: Ficciones, 1944). Damit wies er einerseits den "Post-" bewegungen sowohl in der künstlerischen Kreation als auch in deren theoretischer Modellbildung den Weg. Andererseits werden die Borgestexte aufgrund ihrer ironisch-kreativen Intertextualität grenz- und gattungsüberschreitend als literarischer Bezugspunkt geschätzt. Auch die argentinische Romanproduktion der achtziger Jahre steht im Zeichen der produktiven Rezeption. Das Verfahren der Texterzeugung via Intertext erfährt größte Beliebtheit, die wie sich abzuzeichnen beginnt nachhaltig bis in die neunziger Jahre hineinwirkt. Die hier ausgewählten Schriftsteller stehen auf je eigene Weise im Dialog mit den Prätexten von Borges. Die Unerkennbarkeit der Wirklichkeit, die Individualitätsproblematik und das Verhältnis von Wirklichkeit und Literatur sind einige von Borges' Hauptthemen, die sich in jedem der fünf hier ausgewählten Romanen leitmotivisch wiederfinden.36 Wie Bioy Casares im Vorwort der Antología de la literatura fantástica (1940) beobachtete, schuf Borges durch die Mischung von Essay und Fiktion ein neues Genre, in dem Literatur und abstraktes Denken thematisiert werden können. Die von Piglia praktizierte Fiktionalisierung der Literaturkritik und die gezielte Errichtung einer eigenen literarischen Tradition verweist auf Borges. Bezeichnenderweise ordnet Piglia Borges als Endpunkt der beiden großen Traditionen des 19. Jahrhunderts (europäisierende und argentinisierende Literatur) ein und stellt ihn gewissermaßen außer Konkurrenz im 20. Das Verfahren des Spiels mit falschen und echten Quellen in Abel Posses Los perros del paraíso hatte Borges als ironische "retorica della citazione" popularisiert (vgl. Kap. 4). Dabei wird bereits in dem von

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Posse als Vorlage benutzten Roman Alejo Carpentiers El arpa y la sombra ein den die Zitiertechnik am Beispiel des Columbus ins Lächerliche gezogen. Diese Spielart der Intertextualität bildet ein Element der Transkulturation. Die Argentinisierung von Textfragmenten und Quellen bis hin zu literarischen Gattungen anderer Kulturen, die von wissenschaftlicher Akribie bis hin zur freien imaginativen Variation alle Schattierungen annehmen kann, weist eine grundsätzliche Tendenz zur Parodie auf, wie neben den hier ausgewählten auch die Texte zahlreicher anderer zeitgenössischer Schriftsteller unterschiedlichster Richtung und Provenienz erkennen lassen. Das markanteste Beispiel hierfür ist das kontinuierlich wachsende Werk César Airas. Abschließend ist auf die zwei bestimmenden Tendenzen der produktiven BorgesRezeption hinzuweisen, die sich in in der Textanalyse abzeichneten: Erstens das originelle und kreative Experimentieren mit typischen erzählerischen Verfahrensweisen von Borges. Zweitens die Anwendung dekonstruktivistischer Verfahrensweisen im Zuge der Entwicklung einer kritisch-ironischen Distanz zum Vorbild. Zunächst soll jedoch Borges' Einstellung zur Argentinität in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit rücken, weil sie eine völlig neue Sichtweise der argentinischen Identitätsproblematik ermöglichte, die ins Herz der Postmoderne zielen sollte. Die Ordnung der Dinge (1966) entstand im Zeichen jenes Unbehagens, das nicht nur Foucault lachen ließ, wenn er Borges las.37 Foucault lachte, weil Borges vertraute Denkgewohnheiten aufrüttelte. Er fand in den Texten des Argentiniers jene von ihm angestrebten beunruhigenden Heteropien, die Identitäten zerstreuen, indem sie die Basis der Diskurse zerstören, im Gegensatz zu den trostspendenden Utopien, die "permettent les fables et les discours" (Foucault, 1990: 9). Borges erschloß das mythische Terrain, das Michel Foucault vor der Ordnung der sprachlich geordneten Dinge vermutet. P. Bürger, der dem Hinweis Foucaults auf den Einfluß von Borges nachgegangen ist, stellte fest, daß Foucaults Buch versuche "die Bewegung, die Borges vorfuhrt, am modernen Denken nachzuvollziehen und dieses im vollen Wortsinne als bodenlos zu erweisen".3* Bürger definiert in der Folge die Postmoderne mit dem Lachen von Borges und Foucault: "Postmodernes Denken wäre dann zunächst das Gelächter über die Bodenlosigkeit der nachkantianischen Philosophie, die Verabschiedung des historischen und transzendentalen Denkens" (Bürger a.a.O.). In der Tat verspottete Borges jene oben ausgeführte Tradition des Identitätsdiskurses in der argentinischen Literatur, die in positivistischer Manier mit tellurischen, ethnischen und ideologischen Kriterien eine nationale Ordnung der Literatur stützte, die der seinen entgegengesetzt ist. Borges' entschiedene Ablehnung realistischer und psychologischer Schreibformen kommt auf vielfältige Weise zum Ausdruck. Ein wichtiges Verfahren der Erneuerung mimetischer Formen ist die Parodie. So setzt er z.B. das die reine Vernunft kultivierende Detektivschema zur Vernunftkritik ein, indem er den Detektiv hilflos in einem Universum falscher Fährten herumirren läßt.

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Die Ablehung des Realismus impliziert die Negation der traditionellen nationalen Symbole. Borges verschrieb sich wie kaum ein anderer argentinischer Schriftsteller vor ihm dem "kosmopolites eimi" des Diogenes. In den zwanziger Jahren begann er, mit der Ästhetik des Ultraismus nationalstaatliche Limitationen in Frage zu stellen,39 während er gleichzeitig im Aufwind der Europaerfahrung die Reize der Regionalkultur entdeckte. Es handelte sich auch dabei nicht um naive, sondern um eine "intentionierte Mimesis", im Dienste der Parodie.40 Die von Borges praktizierte Universalität, ermöglicht eine gleichzeitig europäische und nicht-europäische Sichtweise, die jene epistemologische Revision des europäischen Wissens vollzieht, die Foucault interessierte, weil sie aus rein europäischer Sicht nicht durchzuführen ist. Angel Rama bezeichnete diese von Borges eingeführte Sichtweise als "tercer grado de modernización" und wies auf die daraufhin sofort einsetzende "polifurcación del proceso literario continental" hin (Rama, 1986: 140). Die ironische Distanz dieser universellen Sicht, die mit europäischer und gauchesker Tradition spielt, ist in "El escritor argentino y la tradición" zusammenfaßt (OC: 272). Der als "Versión taquigráfica de una clase dictada en el Colegio Libre de Estudios Superiores" ausgegebene Text verdient es, eingehender berücksichtigt zu werden, zumal er auch in Piglias Text eine wesentliche Rolle spielt. Interessant ist die Annäherungsweise Borges' an unser Thema: "Quiero formular y justificar algunas proposiciones escépticas sobre el problema del escritor argentino y la tradición. Mi escepticismo no se refiere a la dificultad o imposibilidad de resolverlo, sino a la existencia misma del problema". Mit dem Kunstgriff, sein Thema erst einmal grundsätzlich in Frage zu stellen, erweckt Borges die Neugierde des Lesers und schafft gleichzeitig eine Position, von der aus er die von Lugones und Rojas kanonisierte Tradition mit der poesía gauchesca als Ursprung widerlegt. Borges wendet sich nicht direkt gegen Rojas, sondern er spielt Rojas gegen Rojas aus, indem er ihn seine Widersprüche selbst aufdecken läßt: "Ricardo Rojas hace de Hidalgo un payador: sin embargo, según la misma Historia de la literatura argentina, este supuesto payador empezó componiendo versos endecasílabos, metro naturalmente vedado a los payadores, que no percibían su armonía como no percibieron la armonía del endecasílabo los lectores españoles cuando Garcilaso lo importó de Italia". Jetzt, "por eliminación de los percances tradicionales", nachdem Borges die Widersprüche der etablierten Standpunkte offengelegt hat, fragt er abermals: "¿cuál es la tradición argentina?". Die abschließenden Worte des Aufsatzes enthalten Borges' schriftstellerisches Credo, das den Universalismus der Literatur über die argentinische Schickalsgemeinschaft stellt: Creo que nuestra tradición es toda la cultura occidental, y creo también que tenemos derecho a esta tradición, mayor que el que pueden tener los habitantes de una u otra nación occidental [...] ensayar todos los temas, y no podemos concretarnos a lo argentino para ser argentinos: porque o ser argentino es una fatalidad y en ese caso

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lo seremos de cualquier modo, o ser argentino es una mera afectación, una máscara" (OC: 273, 74). Das Identitätsverständnis von Borges beinhaltet eine Ästhetik, für die Kriterien wie Rasse, Volk, Abstämmlings- oder Schicksalsgemeinschaft nur insofern relevant sind, als sie ihrer eigenen Relativierung dienen. Lediglich das besondere Verhältnis zum Staat unterscheide für ihn den Argentinier von anderen Staatsbürgern. Die Spannung zwischen Universalkultur und lokaler Tradition kennzeichnet den argentinischen Identitätsdiskurs in der Literatur seit Echeverría und Sarmiento. Barrio, tango, compadre, gaucho, payador und pampa bilden in Borges* Werk das Personal und das Ambiente für die Inszenierung traditioneller Motive wie Mannesmut, Messerstecherei, Todesverachtung, Rivalität um Frauen; obwohl Borges dazu keinen persönlichen Bezug habe, geschweige denn je auf einem Pferd gesessen sei, wie Ernesto Sábato einmal spöttelte. Borges' Umgang mit dieser zentralen symbolischen Tradition der argentinischen Literatur ist kritisch und subversiv, dabei nicht respektlos, jedoch frei von Berührungsängsten. Dies veranschaulichen beispielhaft drei Erzählungen, "El fin" (in: Artificios, 1944), "Historia del guerrero y de la cautiva" und "Biografía de Tadeo Isidoro Cruz (1829-1874)" (beide in: El Aleph, 1949), die Sarmiento und Hernández als alternative Lösungsmodelle der Identitätsproblematik vorstellen. In "Historia del guerrero y de la cautiva" variiert Borges die sarmientinische Dichotomie auf seine ureigene Weise, ausgehend von dessen semantischen Basisoppositionen: Auf der Zeitachse: Fortschritt

Rückschritt

Im Bereich der kulturellen Werte: Zivilisation Europa Stadt Sanftheit

Barbarei Amerika Land/ Wüste Wildheit

Die erzählerische Entfaltung dieser Gegensätze verläuft zweigleisig. Borges referiert die Geschichte eines lombardischen Kriegers aus Croces La poesia (Bari 1942) und die einer englischen Gefangenen, aus seiner eigenen Familiengeschichte. Beide sind Überläufer, der Krieger vom Land in die Stadt, die Gefangene zieht umgekehrt dazu das Leben bei den barbarischen Indios einer Rückkehr in die städtische Zivilisation vor. Freilich erfüllen die beiden durch "trescientos aiios y el mar" (OC: 559)

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getrennten Schicksale die Funktion der gegenseitigen Spiegelung. Ebenso wie aus Sarmientos Dichotomie macht Borges zwei Seiten einer Medaille daraus: La figura del bárbaro que abraza la causa de Ravena, la figura de la mujer europea que opta por el desierto, pueden parecer antagónicos. Sin embargo, a los dos los arrebató un ímpetu secreto, un ímpetu más hondo que la razón, y los dos acataron ese ímpetu que no hubieran sabido justificar. Acaso las historias que he referido son una sola historia. El anverso y el reverso de esta moneda son, para Dios, iguales"

(OC: 560).

Identität entsteht aus der coincidentia oppositorum, wobei "Gott" nicht notwendigerweise mit dem christlichen gleichzusetzen ist (vgl. "La escritura del Dios", 1949). Von den beiden auf den Martín Fierro Tradition bezogenen Erzählungen soll uns hier nur die des Tadeo Isidoro Cruz interessieren. Die aus dem Martín Fierro genommene, mithin intertextuell gebildete, Figur des Isidoro Cruz zeigt mit dem impliziten Schicksalbegriff, dem Glauben an eine "wahre" Identität und mit der Aufhebung der Gegensätze im Hinblick auf Gott (coincidentia oppositorum) drei typische Elemente der Darstellungsweise der Identität bei Borges.41 Der als Soldat und später bei der "policía rural" tätige Ex-Gaucho Isidoro erkennt seine echte Identität nach dem Prinzip der coincidentia oppositorum: "Comprendió su íntimo destino de lobo y no de perro gregario; comprendió que el otro era él" (OC: 563). Infolgedessen schlägt er sich auf die Seite Martín Fierros: "Cruz arrojó por tierra el quepis, gritó que no iba a consentir el delito de que se matara a un valiente y se puso a pelear contra los soldados, junto al desertor Martín Fierro" (OC: 563). Diese Erkenntis basiert mithin auf dem Glauben an eine "echte Identät", der mit dem Schicksalsbegriff korreliert: "Cualquier destino, por largo y complicado que sea, consta en realidad de un solo momento: el momento en que el hombre sabe para siempre quién es" (OC: 562). Das menschliche Schicksal ist hier synekdochisch komprimiert auf den Augenblick der Identitätsfindung. Dem Analphabeten Isidoro ist der privilegierte Zugang zur Selbsterkenntnis via Buch versagt, deshalb sieht er sich selbst im Mitmenschen. Seine Desertation aus den Reihen der Polizei ist ein Akt der freien Selbstbestimmung. Estela Cédola faßte die dadurch vollzogene Abkehr vom traditionellen Schicksalsbegriff folgendermaßen zusammen "El destino no es sinónimo de fatalidad incontrolable sino de asunción de la identidad, en el sentido más amplio" (Cédola, 1987: 210). Man könnte die ästhetische Akzentuierung von Identität bei Borges als Praxis eines anarchischen Individualismus bezeichnen. Die literarische Gestaltung vielfältigster Kulturtraditionen wirkt aufgrund des ironischen Potentials intertextueller Möglichkeiten der Texterzeugung ungebrochen bis in die Gegenwart fort.42 Die Frage "¿cuál es la tradición argentina?" mit "toda la cultura occidental" zu

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beantworten, schließt allerdings den Teufelskreis der "vacio-Theorie" erneut, wenn der Bezug auf andere Kulturen über die eigenen Traditionen dominiert. Abschließend noch ein Zitat, in dem sich Borges augenzwinkernd zum argentinischen, und vermutlich besonders zu seinem eigenen, anarchischen Individualismus bekennt: "El argentino, a diferencia de los americanos del norte y de casi todos los europeos, no se identifica con el Estado. [...] en este país, los gobiernos suelen ser pésimos o al hecho general de que el Estado es una inconcebible abstracción". Aus diesem Grunde sei ein Argentinier vor allem Individualist und kein Staatsbürger. Deshalb erschienen ihm Statements wie: "Der Staat ist die Verwirklichung einer moralischen Idee" (Hegel) als "bromas siniestras". Borges sah in der ideologischen Einmischung des Staates in die Individualsphäre eines der dringlichsten Probleme seiner Zeit: "en la lucha con ese mal, cuyos nombres son comunismo y nazismo, el individualismo argentino, acaso inútil o perjudicial hasta ahora, encontrará justificación y deberes".43 Er schlug damit einen dritten Weg zwischen Kommunismus und Faschismus vor. Anders als Perón, der Borges vom Bibliothekar zum Aufseher der öffentlichen Hühner- und Kaninchenmärkte befördern ließ,44 sah er diesen Weg im anarchischen Individualismus, aufgrund dessen er sich politische Stellungnahmen erlaubte, die bestenfalls zwischen "bromas siniestras" und politischer Ignoranz anzusiedeln sind. In Anbetracht des peronistischen Nationalismus ist Borges radikales Mißtrauen gegenüber jeglichen Totalitarismus jedoch ein Ausdruck von Zivilcourage. Die historische Relevanz der Aussage liegt darin, daß Borges den 400jährigen Prozeß der Akkulturation neu bewertet. Borges entschärfte die Ambivalenz des Mestizen, der alles Europäische und Fremde idealisiert und die eigene Kultur verachtet, indem er die Universal- und Regionalkultur auf eine Weise literarisch verarbeitete, die abendländische Vernunftkritik zum Lachen verführen kann. 3.6. Politische und wirtschaftliche Instabilität Die jüngste Militärregierung inszenierte ein perfektes Nationaldrama in drei Akten, das von den wachsenden innenpolitischen Schwierigkeiten ablenken und die lauter werdende Opposition zum Schweigen bringen sollte: 1. 1976/77 führte der Streit um die von Chile reklamierten Inseln Lennox, Nueva und Picton am südöstlichen Ausgang des Beagle-Kanals Argentinien und Chile an den Rand eines Krieges. 2. Durch die Veranstaltung der Fußballweltmeisterschaft ("mundialito") gelang es der Junta 1978, eine Waffenruhe mit der Guerrilla auszuhandeln und weltweit den innenpolitischen Terror zu überspielen.45

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3. Der Malvinenkrieg (2.4.1982) sollte die an die Öffentlichkeit dringenden Menschrechtsverletzungen kaschieren, nachdem die innenpolitische Spannung ständig angestiegen war. Trotz dieser Bemühungen brach die Legende der strahlenden Nation in sich zusammen, nachdem sich die Militärs mit Patriotismus und neoliberaler Wirtschaftspolitik überreizt hatten. 1979 hatte Pérez Esquive! den Friedensnobelpreis erhalten und sich mit den Müttern der Plaza de Mayo unter Führung von Hebe Bonafini zusammengetan. Am 30. März 1982 traten die Massen in den Generalstreik. Unmittelbar darauf begann die Besetzung der Malvinas. Wider Erwarten kam der britischen Premierministerin Margaret Thatcher die für das gut geschulte englische Militär nicht eben furchterregende Herausforderung sehr gelegen. Sie ließ mit vollem militärischem Einsatz zurückschlagen, um von eigenen innenpolitischen Schwächen abzulenken. Die Junta kapitulierte nach 74 Tagen bedingungslos. Der Versuch, das wankende politische Regime nationalpatriotisch zu stabilisieren, war gescheitert. Am 30. Oktober gewann Raúl Alfonsin mit 52% der Wählerstimmen die absolute Mehrheit. In zivilen Strafverfahren wurde über die Vergehen einer Militärregierung judiziert. Neun Mitglieder der Junta und 600 höhere Offiziere saßen wegen Verletzungen der Menschenrechte auf der zivilen Anklagebank. Wie entwickelte sich die erneut stigmatisierte Argentinität in den achtziger Jahren? Rückblickend zeigt sich erwartungsgemäß, daß der Bewältigung der Wirtschaftskrise Priorität zukam. Die wirtschaftlichen Probleme trieben den Selbstfindungsprozeß in die nüchternen Bahnen eines von ungebremster Inflation bestimmten Denkens. Es scheint, als ob mit der bloßen Verurteilung von drei Generälen die Diktatur als abgeschlossen gelten soll und nurmehr die harten wirtschaftlichen Fakten das nationale Bewußtsein steuern. Eine Aufarbeitung der Diktatur, die die permanent von galoppierender Inflation bedrohte Demokratie langfristig hätte stabilisieren können, fand in Argentinien nicht statt. Die Straferlaßpolitik ("indulto") des peronistischen Präsidenten Carlos Menem machte deutlichere Zugeständnisse den Militärs gegenüber (punto final, ley de la obediencia debida) als sein Amtsvorgänger Raúl Alfonsin.46 Ethische Konsequenzen werden nicht gezogen. Dabei begann Alfonsfns Vorgehen gegen die Militärregierung geradezu sensationell. Erstmals in der Geschichte Lateinamerikas hatten sich Mitglieder einer Militärregierung vor Zivilgerichten zu verantworten! Kann auf der Basis der Verdrängung der Folterungen und des Verschwindens von ca. 30.000 Menschen eine konsensfähige Identität entstehen? Eine Demokratisierung, die ein Zivilisationsprozeß der politischen Kultur sein soll, erfordert die Einübung rechtsstaatlich-demokratischer Strukturen und Verhaltensweisen sowie den Aufbau einer soliden Menschenrechtspolitik. Die Orientierung an solchen Aufgaben würde eine widerstandsfähige kollektive Identität ermöglichen. Hier ist der Leistungsbegriff aus dem Konzept von Habermas

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angesprochen. Dieser definiert sozialen Wandel als Resultat einer Identität, die in intersubjektiven Prozessen politischer Partizipation und Willensbildung entsteht. Die Demokratie bietet die Chance, politische Entscheidungsprozesse transparenter zu machen und damit neue Identifizierungsmöglichkeiten zu schaffen, die weder auf "aufgeblähtem Gruppennarzißmus"47 beruhen, noch soziale Unzufriedenheit in blindem Nationalstolz abreagieren. Diese qualitativ neue Identität müßte allerdings eigene Tradierungs- und Entstehungsprozesse hinterfragen. Die in der Anfälligkeit für den caudillismo enthaltenen affektiven Energien an "vernünftige" Identitäten zu binden, wäre, folgt man Habermas, eine Voraussetzung, um über regionale und nationale Identitäten hinaus eine weltweit legitimierte Identität aus Verfassungspatriotismen zu konstituieren. "Vernünftig" ist eine Identität, die unter Beteiligung möglichst vieler Gesellschaftsmitglieder entsteht. Zu den von Habermas genannten Voraussetzungen vernünftiger Identitätsbildung zählen die gleichen Zugangschancen aller zu den Kommunikationsprozessen und die in kontinuierlichen Lernprozessen gewährleistete prinzipielle Offenheit, d.h. die Abwesenheit von präjudiziellen (ideologischen, rassistischen, nationalen) Vorgaben bestimmter Gruppeninteressen. Mustergültige Gegenbeispiele zu "vernünftiger" Identitätsbildung liefert der autoritäre oben beschriebene Diskurs der Miltärregierung. 3.6.1. Diktatur und Demokratisierung in der Literatur Die letzte argentinische Junta schickte sich an, auch den "Symbolproduzenten" Literatur unter ihre Kontrolle zu bekommen. Die Zensur von Sprache und Literatur sollte die kollektive Symbolik des Volkes reglementieren. Der kriminelle Staatsapparat versuchte, die heterogenen Erscheinungsformen der Kunst zu uniformieren, um den demokratischen Dissens gewaltsam zu ersticken. Literatur, die sich mit politischer Gewalt befaßt, thematisiert direkt oder indirekt Identität. Argentinische Literatur tat dies bereits im Untergrund und sie verschaffte sich, indem sie die Überwachungsmechanismen der Zensur ausspielte, Glaubwürdigkeit. Die Gegenwartsliteratur folgt mit dem Aufgreifen der Gewaltproblematik der Tradition von Echeverrías El matadero, Sarmientos Facundo und Mármols Amalia, die dies in der Zivilisation vs. Barbarei-Tradition versuchten. Juan Carlos Martini beschrieb das Problem der Demokratisierung in La vida entera am Beispiel der blutigen Konflikte bei der Nachfolgefrage der charismatischen Führerfigur Peróns. Der Großteil der Literatur der achtziger Jahre erfüllt mit der Darstellung der Gewaltproblematik eine Artikulationsfunktion. Es schien zunächst, als ob viele Autoren zur engagiert realistischen literatura testimonial zurückkehren würden. Inneres und äußeres Exil, Folter, Konzentrationslager und Widerstand wurden ohne weitschweifige Literaturreflexionen nach dem Vorbild von David Viñas* Los dueños de la tierra (1958) dargestellt. Miguel Bonasso stützte sich in Recuerdo

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de la muerte (Bs. As. 1984) auf die anklagende Kraft der Fakten. In Antonio Marimóns El antiguo alimento de los héroes (Bs. As. 1988), ein Werk mit offensichtlichen formalen Neuerungen, finden sich Töne, Verfahrensweisen und Ausschnitte, die an die Literatur der 60er Jahre erinnern. Daneben gibt es Autoren, die dem realistischen Kanon folgen, wie etwa Carlos Domínguez in Bicicletas negras (Bs. As. 1988), einer Geschichte über inneres Exil und Repression, jedoch unterbrochen von phantastischen Einschöben. Die postdiktatoriale Identität braucht auch diese Art der Auseinandersetzung mit der historischen Leidensgeschichte, deren viele überdrüssig. Literatur kann beim demokratischen Neuentwurf von Identität eine ethisch-moralische Funktion erfüllen. Ernesto Sábato setzte als Leiter des Untersuchungsausschusses über das Schicksal der Verschwundenen (CONADEP) ein herausragendes Beispiel für die gesellschaftliche Verantwortung des Schriftstellers. Martínez, Martini, Piglia, Posse und Rabanal erfassen die nationalistischen Exzesse aus unterschiedlichen Perspektiven. Martínez entlarvt Perón als gerissenen Manipulator des subjektiven und des kollektiven Identitätsdiskurses. Piglia versucht, in Respiración artificial, totalitäre Systeme aus der Position des "exilio interior" historisch und philosophisch zu analysieren, indem er den deutschen Faschismus als Abschluß der Aufklärung betrachtet. Posse illustriert in Los perros del paraíso die Wurzeln des Kulturschocks Conquista. Er parodiert die Tradition geistlicher, militärischer und weltlicher Herrschaft Spaniens in der Neuen Welt von den Anfängen her. Rabanal offenbart in En otra parte mit stilistischer Raffinesse die gesellschaftliche Bedingtheit der intimsten Bereiche des Bewußtseins, ohne sich in den Elfenbeinturm narzißtischer Innerlichkeit einzuschließen. Die Militärdiktatur beeinflußte die persönlichen Lebensgeschichten aller Beteiligten. Deshalb ist die Verknüpfung des sozialen Wandels mit der individuellen Lebensgeschichte zu berücksichtigen. Der brüske Wechsel politischer Systeme ist in Argentinien ebenso die Regel wie die Änderungen der Währung seit der Regierung Onganfas 1969-1970.48 Die letzte Diktatur und die daran anschließende Demokratisierung wirkten sich unmittelbar auf die Biographien der Autoren aus. Martini schrieb fünf Jahre in Barcelona. Piglia verharrte in Buenos Aires in der Isolation des inneren Exils. Daß der Berufsdiplomat Posse in Venedig, Paris, Moskau, Lima und Tel Aviv im auswärtigen Dienst tätig war erklärt sich von selbst, daß er seinen Dienst nicht quittierte, brachte ihm in Argentinien heftige Kritik ein. Rabanal lebte mehrere Jahre in Frankreich und den USA. Die durch die Demokratie aufgeworfenen Fragen, wie und ob eine ethische und juristische Aufarbeitung der Diktatur möglich sei, betrifft argentinische Identität unmittelbar. Kann Literatur zur Bewältigung der wohl perfidesten Diktatur der argentinischen Geschichte beitragen? Die Frage der historischen Integration beherrschte die Literatur bis weit in die 80er Jahre hinein. Neben Martini, Piglia, Posse und Rabanal sind Autoren wie Carlos Dámaso Martínez,49 Hugo Foguet,

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Daniel Moyano, Juan José Saer, Osvaldo Soriano und Héctor Tizón zu erwähnen. Sie alle erinnerten daran, daß die argentinischen Identitätsprobleme nicht allein aus wirtschaftlicher Instabilität und Diktatur resultierten, sondern daß sie auch eine Ursache von wirtschaftlicher Labilität und militärischen Allmachtsvisionen waren. 3.7. Die Semantik der Pampa Aus all diese Argumente wurden zur Erklärung mangelnder Identität im Rahmen einer Art von "Vakuum-Theorie" vorgebracht, die in einer Raumsemantik zum Ausdruck kam, die dieses Kapitel abschließen soll. Die geographischen Gegebenheiten Argentiniens, die weite Leere eines weltabgeschnittenen Landes zwischen Pampa und Ozean, eignete sich vorzüglich zur literarischen Modellierung. Im Zuge des Identitätsdiskurses entstand daraus eine Semantik der leeren Räume, die die Leere des Landes auf die Geschichte übertrug. Die Literatur unterstützte die Transposition dieser Leere mit den Mitteln der fiktionalen Raummodellierung. Der "vacío original" der argentinischen Literatur verweist auf den Kausalzusammenhang der Trias von Literatur, Geschichte und Freiheit. Juan Bautista Alberdi, Estéban Echeverría, Juan María Gutiérrez,50 Vicente López,51 José Marmol," Bartolomé Mitre, 53 Domingo Faustino Sarmiento allegorisierten die Leere des Landes aus einem horror vacui heraus, der viele Gesichter hatte: die fehlende eigene Geschichte, die nach der Unabhängigkeit erst zu schreiben war ("hacer la América"), die Leere des Landes, das noch zu bevölkern war ("gobernar es poblar"), die fehlende Kultur, die angesichts der Barbarei zu errichten war. Das Vakuum dieses Niemandslandes, das Onettis Titel beschreibt (Tierra de nadie, 1941), sollte mit europäischen und US-amerikanischen Modellen gefüllt werden. Die Bildung eigener Identität mit fremden Konzepten konnte nur scheitern, die ohnehin vorhandenen Minderwertigkeitsgefühle noch verstärken ebenso wie die Hegemonie der Machtzentren, die sie hervorgebracht hatten (Zea, 1976: 523). Der argentinische Identitätsdiskurs wurde mit Begriffen geführt wie alma nacional, ser nacional, carácter, esencia, espíritu prístino de la tierra, especifidad cultural, idiosincrasia, ipseidad, mismidad, die auf ein "argentinisches Wesen" pochten. Dieses wurde dann mit den tellurischen Kräften der Pampa versehen als unüberwindbares Schicksal aufgefaßt. Echeverrías La Cautiva (1837) verlieh der geographischen Leere erstmals die Bedeutung von Barbarei und Geschichtslosigkeit.54 Sarmientos Bestätigung von Echeverrías Semantisierung der Leere war, wie gesehen, ein bahnbrechendes Ereignis in der argentinischen Literatur. Der durchschlagende Erfolg ist wohl nicht zuletzt auf die Eingängigkeit des aus der griechischen Antike stammenden Opposition zurückzuführen. Die als zivilisationsfeindlich deklarierte Pampa symbolisierte die Antipode argentinischer und lateinamerikanischer Leere zur europäischen Fülle. Die Wüstenmetapher trat oft in Kombination auf mit der medizinisch-biologischen

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Variante des "mal argentino". Die Basisdichotomie "Zivilisation vs. Barbarei" implizierte eine Reihe von rhetorischen Oppositionen, Gleichsetzungen und Substitutionen, die den identitätssiftenden Diskurs des 19. Jahrhunderts weitgehend bestimmten und die bei den verschiedenen Autoren in einem je eigenen Spannungsverhältnis zueinander standen: Zivilisation Stadt Küstenbewohner weiße Rasse aufgeklärtes Christentum Frankreich Fortschritt Vernunft Demokratie "celeste"

Barbarei Provinz Inlandsbewohner dunkle Rasse katholische Gegenreformation Spanien Rückständigkeit Unvernunft "caudillaje" "rojo"

Die Inbezugsetzung der jeweiligen Pole wurde problematisch, weil sie fatalistisch verstanden wurde. Ezequiel Martínez Estradas Werke Radiografía de la Pampa (1933) und La cabeza de Goliat (1940), die spätere Generationen nachhaltig beeinflußten, enthalten eine stark ahistorische und essenzialistische Sichtweise. Die Argentinier seien unfähig zu echter Kommunikation, deshalb werde ihre existentielle Befindlichkeit von der "soledad" bestimmt. Martfnez Estradas brilliante Analysen der "Geschichtslosigkeit" erläutern allerdings weder das Wie noch das Warum. Er verdeutlicht die Ursachen der Geschichtslosigkeit mit der bekannten Raumsemantik: die Leere der Pampa symbolisiert die Geschichtslosigkeit. Auf die in diesem Zusammenhang einflußreiche Rezeption von G.W.F. Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes. Umriß einer Morphologie der Weltgeschichte (1918) und Freudscher Texte hat W. Matzat hingewiesen.53 Die Auseinandersetzung mit europäischen Geschichtsmodellen führte zu einer Gegenüberstellung von europäischer Geschichtlichkeit und argentinischer bzw. lateinamerikanischer Geschichtslosigkeit, die vorhandene Minderwertigsgefuhle noch steigerte. Estrada argumentiert metaphysisch und übersieht, daß Metaphysik aus einer sozialen Praxis, aus diskursiven Traditionen und aus historischen Umständen resultiert. Zudem reduziert er die "Essenz der Argentinität" auf Buenos Aires. Héctor A. Murena mit El pecado original de América (1954), Rodolfo Kusch mit La seducción de la barbarie. Análisis herético de un continente mestizo (1953) und viele andere Autoren folgten Martfnez Estradas Argumentation und dessen Determinismus, der sich durch den geographischen Zufall

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legitimiert. Der Rückgriff auf den biologisch-medizinischen Diskurs verstärkt die fatalistische Komponente. "Der Argentinier" leide an einer Krankheit, die, psychoanalytisch diagnostiziert, einen ahistorischen Seelenzustand festschreibt. Victor Massuhs Argumentation ist beispielhaft für dieses Diskursschema. Nach einer Katalogisierung der Merkmale des "mal argentino" folgerte er, dieses Übel "no es un hecho histórico sino un estado de alma: es la falta de fe, el vacfo del descreimiento".' 6 Die quer durch alle Bevölkerungsschichten verbreiteten Qualifizierungen und Disqualifizierungen der mutmaßlichen Argentinität wie: Argentinier sind gerissen (vivo), gebildet, offen, eigenbrötlerisch, faul, überheblich, arrogant, irrational, anarchisch, unberechenbar, spontan, improvisationsbegabt, risikofreudig etc., spekulieren alle auf eine unveränderliche Wesensart, die es so weder in Argentinien noch anderswo gibt.37 Identität ist ein kontinuierlicher Lernprozeß zwischen Utopie und Aporie, der in der Dialektik von Gesellschaft und Individuum entsteht. Die Texte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts greifen die Traditionen dieser Denkbilder auf und setzen wie Piglia in Respiración artificial einen parodistischen Schlußpunkt. Die Darstellung des "vacío" löste sich allmählich zumindest teilweise vom konkreten Pampabezug und führte zu anderen literarischen Transfigurationen der Identitätslosigkeit. Julio Cortázars wählte in Los premios (1961) das leere Heck eines Schiffes, dessen Bedeutung ausgehend von der gefiirchteten Leerstelle Argentinität" zum "descenso a la noche primordial des destino americano" fuhrt, womit der historische Ursprung der lateinamerikanischen Identität gemeint ist. Die Problematik der nationalen Selbstfindung weist im 20. Jahrhundert eine deutliche Tendenz zur Parodie auf. Diesbezüglich ist neben den hier präsentierten Romanen von Martínez, Piglia und Posse besonders auf César Airas Roman Erna la cautiva (1981) hinzuweisen. Das intertextuelle Spiel mit der titelgebenden Protagonistin aus Esteban Echeverrías Poem La cautiva (1837) und Gustav Flauberts Emma Bovary setzt den parodistischen Schlußpunkt des Topos Zivilisation vs. Barbarei. Unter Bezugnahme auf weitere Prätexte aus der Reiseliteratur wie Alfred Ebelots Récits de la frontière (1876 und 1880 in: Revue de deux mondes) kehrt Aira mittels ironischer Verfahren wie der Hyperbolik die traditionellen Topoi der "literatura de frontera" um. Wir werden am Beispiel von Posses Roman auf diesen parodistischen Umgang mit der Tradition zurückkommen. Auch dort werden die utopischen Mythen (locus amoenus, Eden) aufgelöst, oder um mit Foucault zu sprechen: Heterotopie und Heterochronie treten an die Stelle der Utopie.

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Anmerkungen:

1. A. PAGES LARRA YA, "Identidad de la literatura argentina", in: Boletín de la Academia argentina, 1986, S. 83-125, hier: S. 124. Pagés Larraya erweiterte damit Martin S. Stabbs These zum Essay: "El profesor M. S. Stabb señala como rasgo caracterizador de nuestros ensayos contemporáneos la búsqueda de identidad. Ese rasgo vale también para caracterizar a la totalidad de nuestra literatura". S. 119. 2. E. MALLEA unterschied in Historia de una pasión argentina (1937) zwischen einer unsichtbaren, inneren und authentischen Argentinität und einer sichtbar, äußerlichen und falschen. Allerdings gelingt es Malleas Protagonisten nicht, die repräsentative Falschheit zu durchbrechen. Ihnen bleibt bestenfalls Hoffnung auf echte Kommunikation und Authentizität, mit Sicherheit aber Einsamkeit. 3. P. VERDEVOYE, Identidad, y literatura en los países hispanoamericanos, Buenos Aires 1984, S. 33. 4. F. ALEGRIA, Literatura chilena del siglo XX, Santiago de Chile 1970: 14. 5. "La escritura sin límites", Entrevista de Felipe Navarro a J. Donoso, in: Crisis, 59, April 1988, 5. 15. 6. "En estos casos, cada uno de los momentos decisivos está planteado como una progresiva superación del pasado colonial, y una mayor constitución de la identidad nacional." (BREMER; LOSADA, 1984: 66). 7. Nicolas SHUMWAY, The Inveruion of Argentina, Berkeley 1991, S. 5. 8. Aguinis war unter der Regierung Alfonsin als "Secretario de Cultura de la Nación" tätig. Das Zitat stammt aus einem Vortragszyklus der Psychoanalytischen Gesellschaft in Buenos Aires mit dem Titel "La problemática de la identidad nacional" am 22.8.1988. Der Autor von La cruz invertida (1970) und Un país de novela (1988) veröffentlichte unlängst einen historischen Roman mit dem Titel La gesta del marrano (1991), der sich mit der Thema der Conquista auseinandersetzt. Die Familiensaga des Maldonado da Silva spielt in der Neuen Welt zur Zeit der Judenverfolgungen in Spanien. 9. In Argentinien leben heute vierzehn eingeborene Stämme, die Mapuches, Tehuelches, Wichis, Tobas, Pilagas, Mocovis, Bya-Guaranfs, Chorotes, Chulupis, Chiriguanos, Chanés, Calchaquis sowie zwei Gruppen die Aymara und Quechua sprechen. Quelle: HERNANDEZ, Isabel, Le génocide des indiens dans le cone sud, in: Sol ä Sol, 23, (Paris 1992), S. 10. 10. Die Erstausgabe von 1845 trug den Titel: Civilización y barbarie. Vida de Juan Facundo Quiroga y aspecto flsico, costumbres y hábitos de la República Argentina. Ab der dritten Ausgabe im Jahr 1868 lautete der Titel: Facundo. Gvilización y barbarie en las pampas argentinas. In der Gegenwart dominiert Civilización y barbarie: Vida de Juan Facundo Quiroga.

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11. Colombres' Roman trägt den ironischen Untertitel: Mitopopeya de un zafío que fue en busca de la Tierra Sin Mal, Buenos Aires: Ediciones del Sol, [Col.: Los Nuestros S] 1988. Colombres mischt die populär-indigene mit der quijotesken Tradition der Ritterroman-Parodie. Er hat Essays und folgende thematisch ähnliche Romane veröffentlicht: Viejo camino del maíz, 1979; Sol que regresa, 1981; Portal del paraíso, 1984. Vgl. dazu Pedro ORGAMBIDE, "Karaí, carnavalismo y mestizaje", in: Clarín, 22 de setiembre de 1988, pág. 8. 12. D. RIBEIRO in: Página 12, Buenos Aires 31 de marzo de 1988. 13. Im ersten Brief Maggis an Renzi heißt es: "En cuanto a mí: he perdido los escrúpulos en relación con mi vida, pero supongo que deben existir otros temas más instructivos. Por ejemplo: las invasiones inglesas; Pophan, un caballero irlandés al servicio de la reina. Let not the land once proud of him insult him now. El comodoro Pophan hechizado por la plata del Alto Perú o los paisanos despavorizados huyendo en las chacras de Perdríel. Primera derrota de las armas de la patria. Hay que hacer la historia de las derrotas. [...]", S. 18. 14. Varela ging nach Lavalles Niederlage gegen Rosas ins lebenslängliche Exil nach Montevideo. Dort nahm er jenen literarischen Widerstand gegen den Diktator auf, der ihn zur Heldenfigur der Romantikergeneration machte. 15. López y Planes folgte Rivadavia 1827 als Präsident der Republik. Er verfaßte unter dem Eindruck des Triumphes über die englischen Invasionseinheiten im Alter von 23 Jahren enthusiastisch-patriotische Stücke, die an klassischen Vorbildern orientiert waren, wie El triunfo argentino (1808) und später (1813) die nicht minder emphatische Marcha patriótica, die im gleichen Jahr zur Nationalhymne erklärt wurde. Menéndez Pelayo vermutete in Historia y antología de la poesía hispanoamericana (1893-1895; 1911-1913), daß sich López, dessen asturianische Abstammung ihm bekannt war, an Jovellanos' Marcha para los astures inspiriert hatte (Berenguer Carisomo, 1970: 22). 16. Bernardo VERBITSKY, Literatura y conciencia nacional, Bs. As. 1975, (S. 11), nennt sie deshalb die Dichter der Revolution. Um auf die enge Verbindung von Literatur und Unabhängigkeit hinzuweisen, zitiert er Rafael Alberto Arrieta: "Desde la batalla de Suipacha en 1810 hasta la batalla de Ituzaingó en 1827; desde la apertura de la Sociedad Patriótica, fundada por don Bernardo de Monteagudo en 1812, hasta las distintas creaciones sociales del ministro Rivadavia, todos los hechos civiles de importancia tienen su elogio lírico". 17. A.a.O. S. 11, 12. 18. Blas MATAMORO formulierte dies folgendermaßen: "El desierto es una metonomia de Utopía, el país donde no ha ocurrido la historia". "La (regeneración del 37", in: Punto de Vista, 9 , Nr. 28, Nov. 1986, S. 40. 19. Piglia im Vortragszyklus "¿Cómo leer la novela argentina?", Juli/Aug. 1988, Centro Cultural Ricardo Rojas, Buenos Aires. 20. PIGLIA, "¿Cómo leer la novela argentina?", I, Buenos Aires 28.7.1988.

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21. Unter dem Titel Las ciento y una (18S3) polemisierte er gegen Alberdi über das Auftreten General Urquizas nach dem Sieg über Rosas in Caseros. 22. Der Grund, weshalb Sarmiento das in der ägyptischen und in der griechischen Mythologie ursprünglich mit einem Löwenleib ausgestattete Fabelwesen in einen Tiger verwandelte, ist so rätselhaft wie die gewählte Figur selbst. Rabanal variiert die Semantik der Tigermetapher durch die Kombination von Frau und Stadt (New York); vgl. Kap. S.S. Bioy Casares ließ in der Erzählung "Un león en el bosque de Palermo" (in: El lado de la sombra Buenos Aires 1962) einen Löwen frei, um die barbarische Antipode der Zivilisation zu symbolisieren. Julio Cortázar dagegen demaskiert in der Titelgeschichte von Bestiario (1951) wesentlich unkonventioneller die Inauthentizität einer "falschen" Ordnung des Alltags. 23. Zentrale Figur des unitarischen Maibundes (1810-1884). Die Bases dienten als Grundlage der Verfassung. 24. Im Jahr 1876 transportierte das Frachtschiff «Frigorifique» tiefgefrorenes Fleisch aus Argentinien nach Europa. Sechs Jahre später wurde das erste Kühlhaus gebaut. Die Expansion des Fleischexports konnte ihren Lauf nehmen. Im Jahre 1905 führte England erstmals mehr Fleisch aus Argentinien als aus den Vereinigten Staaten ein. Quelle: Robin A. HUMPHREYS, The Evolution of Modem Latin America, New York 1973, S. 102. 25. Immigration und Emigration provozieren Identitätskrisen. Der Gründer der Identitätspsychologie Erik H. Erikson diagnostizierte dies am Beispiel der USA: "So hat es sich ergeben, daß wir uns gerade zu einem geschichtlichen Zeitpunkt mit der Identität beschäftigen, da diese problematisch geworden ist. Und zwar beginnen wir damit in einem Lande, in dem sich eben aus allen durch die Einwanderer importierten Identitäten eine Super-Identität bilden will; und der Zeitpunkt unseres Unternehmens ist der der rasch wachsenden Mechanisierung, welche die im wesentlichen bäuerlichen und patriarchalischen Identitäten auch in den Ursprungsländern aller dieser Einwanderer zu vernichten droht. Das Studium der Identität wird daher in unserer Zeit zu einer genauso strategischen Frage, wie es das Studium der Sexualität zu Freuds Zeiten war" (Erikson, 1965:255). "[...] Im Hinblick auf das, was in der alten Heimat aufgegeben und in der neuen abverlangt wird, kann die Emigration hart und grausam sein. Auch im Hinblick auf die Identität ist die Emigration ein Kampf ums Überleben [...]" (Erikson, 1982: 44). 26. Darcy Ribeiro prägte den Begriff in einer Typologie der lateinamerikanischen Bevölkerung. Dominion-Gesellschaften sind aus europäischer Einwanderung enstanden: Australien, Neuseeland, Südafrika und Nordamerika. 27. Quelle: Virgilio R. BELTRÁN, Estructura política y democracia en la Argentina, in: Contribuciones, 2, abril-junio 1984, Buenos Aires, S. 68. 28. BERENGUER CARISOMO (1970: 156) verglich Gálvez mit den Schriftstellern der spanischen 98er Generation, weil er in den Essays El solar de la raza, (1911), Este pueblo necesita ..., (1933) und España y algunos españoles, (1945) wie jene nach den wahren geistigen Wurzeln des Volkes suchte. Andere bekannte Prosatitel sind: El mal metaflsico, (1916), Nacha Regules, (1919), La pampa y su pasión, (1926) und Hombres en soledad, (1938).

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29. Im Zusammenhang mit der Nationalthematik sind besonders die anläßlich der Jahrhundertfeiern entstandenen Odas seculares, (1910), zu erwähnen, sowie La grande Argentina, (1930), und La patria fiterte, (1930). 30. Der Gründer der "Facultad de Filosofía y Letras" an der Universität Buenos Aires verfaßte neben der Historia de la literatura argentina (1917-1922) die Werke El país de la selva, (1904) und Eurindia, (1924) sowie die oben zitierte Abhandlung Ober Wesen und Schicksal der Nation: La argentinidad, (1916). 31. ROJAS (1916: 7, 8): "Me he esforzado también por dar a este libro una novedad más íntima: lo cordial de sus sentimientos regionales y lo impersonal de su doctrina política. No me circunscribo al factor militar y sus héroes, como lo hicieron ya nuestros historiadores clásicos; ni al factor económico, según comienzan a hacerlo, con laborioso empeño, nuestros jóvenes historiadores. Sin desdeñar uno ni otro, antes por el contrario ponderándolos en mi meditación, procuro describir las pasiones e ideas del héroe o la muchedumbre en medio de la convulsión política, trayendo a primer término el factor psicológico, vale decir el factor humano por excelencia. A la síntesis de tales fuerzas espirituales, en cuanto caracteriza la conciencia y el ideal de un pueblo nuevo, es lo que llamo la «argentinidad». [...] Mostrar que nuestra soberanía y nuestro liberalismo se salvaron por acción conjunta de todos los pueblos argentinos, y más por intuición providencial de quienes sentían la patria propia, que no por discurso claudicante de quienes teorizaban la doctrina extranjera, tal es el sentimiento inspirador de este libro." Und weiter zum Zusammenhang von Unabhängigkeit und Demokratie, 11: "Demuestro en este libro cómo la democracia fué genuino fruto de la argentinidad". 13: "Si hubo monárquicos en nuestra revolución, el pueblo los eliminó deliberadamente. La democracia no fué para los argentinos un azar o merces de sus patriarcas, sino una opción voluntaria". Und pathetisch der Schluß des Vorwortes: "Si los valores se trasmutan con ello [d.h. durch sein Buch, Anm. von mir] si algunos falsos ídolos se derrumban, si nombres inesperados surgen como gloriosos, nada temáis por ello, porque sobre los héroes discutibles y los nombres transitorios, veréis resplandecer entre los dioses inmortales. perenne como una estrella más allá de esas nubes, el numen imperecedero de la argentinidad. R.R., B.A., 9 de Julio de 1916." [Hervorhebungen von mir]. 32. Borges wendet sich dort scharf gegen das Scheuklappendenken des Lokalpatriotismus: "Quiero señalar otra contradicción: los nacionalistas simulan venerar las capacidades de la mente argentina, pero quieren limitar el ejercicio poético de esa mente a algunos pobres temas locales, como si los argentinos sólo pudiéramos hablar de orillas y estancias y no del universo". In: Discusión, Bs. As. 1932, (OC: 271). 33. Manuel GÁLVEZ in: El solar de la raza, Buenos Aires 41916, S. 53. 34. Der gelernte Jurist führte als Justizminister das bis heute geltende "Aufenthaltsgesetz" (Ley de residencia) ein. González eröffnete die umfangreiche Sonderausgabe der bonaerenser Zeitung La Nación zur Jahrhundertfeier der Unabhängigkeit mit dem Artikel "El juicio del siglo o cien años de historia argentina", (1913; 1910 erschienen als Essay). Der Essay La tradición nacional (1888), wurde schon früh als weiterer Versuch gewertet, mit antiquierter Rhetorik die Kennzeichen von Argentinität in literarischer Form zu katalogisieren.

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35. Jorge MITRE, "Prólogo a Joaquín V. González", La tradición nacional, Obras completas. Bd. 8, Universidad Nacional de la Plata, 1936. Mitre bezieht sich dort auf den zweiten Teil des Textes von González: "Puede decirse que casi toda ella [der 2. Teil] gira alrededor de la idea de que los hispanoamericanos somos los descendientes de los americanos de la época precolombina. Protesto contra esta idea [...] Por la obra y la voluntad de los criollos que la hicieron [Mitre bezieht sich hier auf Hispanoamerika, Anm. des Vf.], la dirigieron y la hicieron triunfar, dándole después su organización política, fue americana, republicana y civilizada. Este es el nudo de la tradición que el historiador y el filósofo deben desatar", S. 24-25. 36. W. B. BERG analysierte die Haupthemen in Borges' Erzählungen. In: "Der Realismus des Phantastischen", in: Ibero-romania, 5, S. 49-80. 37. Foucault beginnt das Vorwort zu Les mots et les choses mit dem Hinweis auf eine Erzählung von Borges: "Ce livre a son lieu de naissance dans un texte de Borges" (S. 7; Der gemeinte Text ist "El lenguaje analítico de John Wilkins", in: Otras inquisiciones, 1952). Weiter heißt es bei Foucault: "La gêne qui fait rire quand on lit Borges est apparentée sans doute au profond malaise de ceux dont le langage est ruiné: avoir perdu le "commun" du lieu et du "nom" (S. 10). 38. Peter BÜRGER, "Die Wiederkehr der Analogie. Ästhetik als Fluchtpunkt in Foucaults Die Ordnung der Dinge", in: Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, hrsg. von J. Fohrmann und H. Müller, Frankfurt a.M. 1988, S. 45-52. 39. In "El tamaño de mi esperanza" durchbrach er Lugones' Projekt radikal, indem er die neue avantgardistische Ästhetik einführte. Siehe dazu F. SCHOPF, Del vanguardismo a la antipoesía, Rom: Bulzoni, 1986. H. VERANI, (Hg.), Las vanguardias literarias en Hispanoamérica (manifiestos, proclamas y otros escritos), Rom: Bulzoni, 1986. Zum Verständnis von Borges' Auffassung von Regional- und Weltkultur fundamental ist der Text: "El escritor argentino y la tradición", in: OC 1974: 267-274. 40. Vgl. dazu die Studie Noemi Ullas Identidad rioplatense, 1930. La escritura coloquial (Borges, Arlt, Hernández, Onetti), Buenos Aires 1990. Ulla zeigt die Tendenz zur parodistisehen Mimesis durch eine Analyse auf der rhetorischen Ebene in "Hombre de la esquina rosada". Dort stelle die Sprechweise des compadre "la mimesis de un habla ingenua en parodia de un habla ingenua" (S. 130) dar, im Sinne der "intentionierten Mimesis" von Michael Riffaterre. 41. Vgl. E. Cédola, Borges o la coincidencia de los opuestos, Buenos Aires 1987. Die an Lucien Goldmanns Ansatz orientierte Dissertation der argentinischen Autorin versucht, literatursoziologische und strukturalistische Vorgehensweisen zu kombinieren. 42. J. ISAACSON, La Argentina como pensamiento, reklamierte in dieser Tradition den Anspruch auf die Quartette Beethovens für jeden Menschen, unabhängig von der Nationalität, (1983: 13). Er insistiert auf dieser Forderung und kommt mit dem Beispiel Leonardo da Vincis noch einmal darauf zurück (95, 96). 43. BORGES, "Nuestro pobre individualismo", in: Otras inquisiciones, (1946), zitiert aus: OC: 658.

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44. Der Grund dafür war, wie in den Memorias vermerkt, Borges' Parteinahme für die Alliierten während des Zweiten Weltkriegs: "En 1946 se me honró con la noticia de que había sido "ascendido", fuera de la biblioteca, a la inspección de aves y conejos en los mercados públicos. Me presenté a la Municipalidad a fin de averiguar qué había ocurrido. "Vea usted — dije — me resulta más bien extraño que entre tantos empleados como hay en la biblioteca me hayan elegido precisamente a mí para ese puesto. Bueno — respondió el empleado —, usted estaba por los aliados ¿no?, entonces ¿qué se esperaba? Su argumento no admitía réplicas. Al día siguiente presenté mi renuncia". 45. Vgl. dazu die Einschätzung der Bedeutung der Fußballweltmeisterschaft von David Viñas in einem Interview auf die Frage nach der Möglichkeit einer frühzeitigen Rückkehr aus dem Exil: "[...] te diría que el vaivén te dura un cierto tiempo, te diría hasta el campeonato de fútbol, en el '78, donde uno se entera de la respuesta del Mundial de fútbol de Buenos Aires. Entonces dice [sie], borremos todo, no vuelvo más, porque eso fue vivido como un triunfo fenomenal de la dictadura". S. 18 in: "De Sarmiento a Viñas por Viñas. Entrevista de Carlos Dámaso Martínez, in: Espacios, 8/9, 1990/1991: 18-21. 46. Der "Decreto 1002" beschloß die Begnadigung von 64 Mitgliedern der Streitkräfte, die angeklagt waren, während der letzten Militärdiktatur die Menschenrechte verletzt zu haben. 47. E. FROMM, 1983: 23. 48. Die Regierung General Juan Carlos Onganias mit dem Wirtschaftsminister Adalbert Sully Krieger Vasena strich dem seit 1895 gültigen peso moneda nacional zwei Nullen und machte den peso ley daraus. Nach 13 Jahren ersetzte 1983 der nächste General den peso ley durch den peso argentino. Der 1985 von der Regierung Alfonsin eingeführte austral überstand trotz fortschreitender Inflation (im Juni 1985 war das Verhältnis zum Dollar 1 : 0,80 im September 1989 1 : 50.000) immerhin den ersten demokratischen Regierungswechsel seit 40 Jahren. Aus: Carlos SCAVO, "La economía dolarizada", in: Uno, Sept. 1989, S. 12-15. 49. Der 1944 in Córdoba geborene Schriftsteller, Journalist und LiteraturwissenschafUer veröffentlichte 1982 den Roman Hay cenizas en el viento, (Buenos Aires: Centro Editor de América Latina), und 1989 Erzählungen unter dem Titel: Hasta que todo arda, (Buenos Aires: Puntosur). 50. GUTIÉRREZ (1809-1878) gründete die Bibliothek von Buenos Aires. BERENGUER CARISOMO (1970:147) hielt Gutiérrez, dessen spanienfeindliche Haltung das Mißfallen Menéndez Pelayos erregte, für den Begründer argentinischer Literaturkritik. 51. Autor der inzwischen klassischen Historia de la República Argentina: su origen, su revolución, su desarrollo político, 10 Bd. [1883-1893], Buenos Aires: Kraft, 1913. 52. Marmol ging als erbitterter Gegner Rosas' nach Montevideo ins Exil und kehrte erst 1852 nach dem Sturz des Diktators nach Buenos Aires zurück. Sein historischer Roman Amalia, (1851-1854) wurde in mehrere Sprachen übersetzt und fand als erster argentinischer Roman in Europa Anerkennung.

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53. Mitre (1821-1906) war vor Sarmiento Präsident (1862-68). Der Danteübersetzer, Poet (Rimas, 1834) und Autor von Prosatexten (Soledad, La Paz 1847; Memorias de un botón de rosa, dt. Übs.: Geschichte einer Rosenknospe; Beide mehrfach neu herausgegeben: 1907, 1928, 1930) erreichte jedoch nicht die literarische Qualität seines Amtsnachfolgers. Dagegen gelangen ihm von späteren Historikern heftig diskutierte historische Standardwerke wie Historia de Belgrano y de la independencia argentina, (1858-1887) und Historia de San Martin y de la emancipación americana, (1887, 1888, 1890). 54. Vgl. dazu G. MONTALDO, "La invención del artificio. La aventura de la historia", in: SPILLER, 1991: 255. 55. W. MATZAT, "Conquista und diskontinuierliche Geschichte", in: Kolumbus und die lateinamerikanische Identität, W. MATZAT, M. GRAF, M. ROESSNER, (Hrsg.), Kassel 1992, S. 9-20. 56. V. MASSUH, La Argentina como sentimiento, Buenos Aires: Sudamericana, 1982. 57. Zu den "tópicos típicos" gehört die "viveza criolla". Der Mythos vom "argentino vivo" (vivo entspräche etwa dem deutschen gerissen, aufgeweckt) verklärt die Realität in einer nebulössentimentalen Zone, die nicht eben zur Bewältigung von Problemen beiträgt. 58. "Oh, Argentina, ¿por qué ése miedo al miedo, ése vacío para disimular el vacío?" Los premios, Barcelona 41984: 246.

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4. Die literarischen Detektive des Río de la Plata1 Es beginnt mit einem Rätsel und einem, der es lösen will. Die Protagonisten von Martínez' La novela de Perón, Martinis Composición de lugar, Piglias Respiración artificial und Rabanals En otra parte sind alle hommes de lettres, die sich dem Problem der literarischen Darstellung der Wirklichkeit oder der Geschichte stellen. Ihre literarischen Ermittlungen oder erzählerischen Untersuchungen ("investigaciones narrativas") wie Martini und Piglia sagen, erkunden die Familiengeschichte, die persönliche Geschichte oder die einer historischen Persönlichkeit. Alle vier Autoren stoßen dabei auf Verbindungen von privater und argentinischer Geschichte. Mit dem Begriff "literarischer Detektiv" soll die erzählerische Erforschung der Identität eines Subjekts bezeichnet werden, das wirklich, imaginär oder eine fiktive Mischung aus Wahrheit und literarischer Erfindung sein kann. Der literarische Detektiv konfiguriert das Verhältnis von Realität und Fiktion. Allein in den Werken der hier behandelten Autoren lassen sich weitere Beispiele für literarische Detektivarbeit finden: El fantasma imperfecto (Buenos Aires 1986), von Juan Carlos Martini und El pasajero (Buenos Aires 1984), von Rodolfo Rabanal kommen ebenfalls in Betracht, um die in ihnen enthaltene erzählerische Untersuchung zu analysieren. Die Kategorie des literarischen Detektivs steht in einer Kausalverbindung mit der Identitätsthematik. Von daher wäre es möglich, damit auch andere literarische Werke zu analysieren. Dabei ist zuerst an Jorge Luis Borges zu denken, der den Begriff der Detektivliteratur sehr freizügig handhabte.2 Neben wirklichen Detektivgeschichten,3 verfaßte er eine Reihe von Erzählungen, in denen neben der Lösung eines Kriminalfalles besonders die erzählerische Ermittlung interessiert.4 Man könnte ferner sogar, um ein klassisches Beispiel aus der argentinischen Literatur zu nennen, an Sarmientos Facundo denken, wo die Identitätsproblematik bereits als detaillierte Untersuchung Argentiniens erscheint, die an den Fällen der Caudillos Facundo und Rosas ihren historischen Aufhänger fand. Sarmientos Werk demonstriert exemplarisch die eigentümliche Verknüpfung von Geschichte und Fiktion mit der expliziten Zielsetzung, eine Gegengeschichte zu schreiben, die eindeutige politische Positionen bezieht. Überdies ließe sich auch Ernesto Sábatos El túnel (1948) als ein an unsere Definition angrenzendes Beispiel anführen. Die erzählerische Ermittlung verläuft dort mit Hilfe der Psychoanalyse, wobei Detektiv und Mörder ein und dieselbe Person sind. Der Roman erstellt damit eine doppelte mise en abyme, die sowohl die

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kriminalistische als auch die psychoanalytische Leseweise bestätigt. Bezieht man andere Literaturen mit ein, wäre an Alejo Carpentiers pikaresken Detektiv namens Colón in El arpa y la sombra (1979) zu denken, der eigene Aufzeichnungen im Hinblick auf einen hagiographischen Identitätsentwurf revidiert. Ebenso an Elena Garros La casa junto al río (México 1983), wo die Protagonistin Consuelo als "detective del pasado" auftritt.5 Ferner sollte Umberto Ecos II nome della rosa (1980) erwähnt werden. Dort ermittelt der Protagonist, der Züge von Arthur Conan Doyles Romanfigur Sherlock Holmes und des historischen William von Ockhams aufweist, nach den Regeln der Semiotik. William deutet Zeichen und Texte — ein Verfahren, das er seinem Schüler Adso lehrt: "ti insegno a riconoscere le trace con cui il mondo ci parla come un grande libro" —, sodaß man von einem historischen Detektivroman im weitesten Sinn sprechen kann. Die Aufklärung der Morde vollzieht sich als Ermittlung und Interpretation von Texten im Bibliotheks-Labyrinth des Klosters mit der Apokalypse als Deutungsmuster und mit der aristotelischen "Poetik der Komödie" als fiktivem Textbezug. Auch Leonardo Sciascia kombinierte in II giorno della civetta (1961) kriminalistische Fahndung mit hermeneutischer Textuntersuchung. Der "capitano" als Philologe studiert die mafiose Sprechweise, er entziffert kryptische Texte und stellt im Zuge der Untersuchung Texte her.' Schließlich ist noch an Sciascias "racconto-inchiesta" La scomparsa di Majorana, (Turin 1975) zu erinnern, wo der Autor einen authentischen Fall ermittelt. Die Italiener Eco und Sciascia geben in ihren Texten (und nicht nur dort) den Argentinier Borges als Vorbild zu erkennen.7 Beide gestalten ihre Detektivfiguren als literarische Detektive, die kriminalistische und philologische Ermittlung mit philosophischen Fragestellungen verknüpfen, wie wir es von Borges kennen. Damit folgen sie der literarischen Vorgehensweise des Argentiniers, aber auch dessen mit der "retorica della citazione" verbundener Zielsetzung der Infragestellung der Gattungskonventionen und der eigenen Ermittlungsarbeit, sprich des eigenen Textes. In unserem Kontext entzieht sich einzig Abel Posses Los perros del paraíso diesem analytischen Zugriff. In Posses Roman geht es bei der Ermittlung von Identitäten bestimmter Personen, weniger um die Darstellung der Auseinandersetzung mit anderen Texten, als vielmehr um die Typisierung der historischen Ursachen der lateinamerikanischen Identitätsproblematik. Insofern als Posses Text nur reduziert seine eigene Vorgehensweise reflektiert, stellt er im engeren Rahmen dieser Arbeit einen Sonderfall dar, innerhalb des literarischen Identitäsdiskurses erfüllt er dagegen eine exemplarische Funktion. Die literarische Typisierung des Columbus ist ein repräsentatives Beispiel für die Auseinandersetzung des dekolonisierenden Diskurses im Roman mit den Heldenbildern historischer Personen, die auf die Zerrspiegel der Identitätsdiskussion projiziert wurden, um Image-Bildung zu betreiben.' Die Texte sollen nicht als Detektiv- oder Kriminalromane definiert werden; sie

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sind es nicht. Das Schema des multiperspektivischen Archivromans eignet sich, wie die Romane Tomás Eloy Martínez' und Ricardo Piglias demonstrieren, besonders zur Funktionalisierung literarischer Identitätsermittlung. Die Frage des Genres ist jedoch ein Thema für sich.9 Im Falle von Respiración artificial handelt es sich um eine hybride Form des multiperspektivischen Archivromans, in der sich Elemente der Biographie, des Brief-, des Bildungs-, des Kriminalromans kreuzen. Übergehen wir deshalb zunächst die Frage der Gattungszugehörigkeit und lesen die Texte als Detektivromane in dem weiter gefaßten Sinn, daß ein fiktives, ein wirkliches, oder ein halbwahres-halbfiktives Subjekt einen Fall zu lösen versucht, der in einem bestimmten sozialen Kontext situiert ist und der, von Fall zu Fall mehr oder weniger intensiv, historisch vertieft wird. Man kann die Darstellung des Konflikts zwischen Individuum und Gesellschaft, der diesen Fällen zugrunde liegt, als Leistung zur Entwicklung kultureller Identität verstehen. Die Texte problematisieren die Art' und Weise, in der sich Individualisation und Sozialisation, verstanden als Prozesse der Bildung von persönlicher und sozialer Identität, ineinander verschränken. Die erzählerischen Ermittlungen im Koordinatensytem der horizontal-intersubjektiven und der biographisch-historischen Identitätsbildungsprozesse auf der vertikalen Achse tragen durch die Darstellung von Identitätsverlust und Identitätskrisen ex negativo zur Identitätsbildung bei. Damit praktizieren die Autoren ästhetische Vernunft, die im Sinne von Habermas, einerseits Identität selbstreflexiv herstellt und andererseits die vorausgehenden identitätsstiftenden Prozesse und Verfahrensweisen kritisch durchleuchtet. So gelesen, ermitteln die Romane die Identität von Personen, deren Leben von den Wechselfallen der argentinischen Geschichte geprägt wurde und zwar in der Art, in der es in Detektivromanen darum geht, ein Verbrechen aufzuklären. Der literarische Detektiv erforscht die eigene Identität oder die von dritten. Es handelt sich dabei stets um eine Auseinandersetzung zwischen sozialen Akteuren. Der Staat wurde in Argentinien von der letzten Militärdiktatur kriminalisiert. Der Schriftsteller ermittelt gegen diesen verbrecherischen Staat. Als literarischer Detektiv untersucht er die näheren Umstände der Kriminalisierung der Politik. Dabei greift er natürlich auch auf Fiktionen zurück; und zwar nicht allein als Option, sondern auch aus Selbstschutz und um die Zensur auszuspielen. Die Romane von Eloy Martínez und Piglia behandeln Geschichte und ihr Verhältnis zur Fiktion am intensivsten. Der Journalist Zamora in Tomás Eloy Martínez' La novela de Perón erforscht die Identität Peröns, indem er dessen autobiographische Selbstdarstellung im Gegenlicht anderer Perónbiographien relativiert. Die diskursive Identitätsdarstellung wird durch die multiperspektivische Erzählweise zum zentralen Thema, das zusammen mit den erzählten historischen Ereignissen ins Bewußtsein des Lesers gebracht wird. López Rega erscheint wie Arocena, der Zensor aus Respiración artificial, als paranoider

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literarischer Detektiv. Beide personifizieren die Kriminalisierung des nationalen Identitätsdiskurses. Arocena entschlüsselt alles. Er sieht überall Chiffren und liest alles als Zeichen. Er ist entfesselter Semiotiker und impliziter paranoider Leser, eine karikatureske Typisierung eines inquisitorischen Textinterpreten. Auch die anderen Hauptfiguren Piglias agieren als literarische Detektive par excellence. Sie betreiben geradezu obsessiv diskursive Ermittlungen. Indem sie fremde Texte dechiffrieren und überlesen, entdecken sie, manchmal mit Hilfe des Komissars Zufall, überraschende Sinnzusammenhänge, die ihnen als Fundamente für die eigenen Texte dienen, in denen sie neue Bedeutungsketten bilden. Aber auch Juan Carlos Martinis unsympathischer Antiheld Minelli in Composición de lugar arbeitet als Identitätsdetektiv, der seine eigene Biographie im Rahmen der Familiengeschichte rekonstruiert und zugleich die Fragwürdigkeit dieses Unterfangens thematisiert. Rabanals Manuel aus En otra parte, der bezeichnenderweise den Namen Marlow erhält, ermittelt eigene und andere Identitäten, wobei er mit der literarischen Umsetzung dieser erzählerischen Nachforschungen experimentiert. Beide gehen von einer strikt individuellen Problematik aus und stoßen dabei auf deren historische Bedingtheit. Um die Komplexität des Verhältnisses von Geschichte und Fiktion zu reduzieren, sei daran erinnert, was die jeweiligen Diskurse unterscheidet. Hier ist die Rede von Fiktionen, in denen erstens eine fiktive Stimme über wirkliche oder erfundene Ereignisse spricht, während die Geschichte von realen Personen und nachprüfbaren Ereignissen erzählt. Zweitens kann die erfundene Stimme der Fiktion so tun, als ob sie wahr wäre, und sie kann zwischen Wahrheit und Lüge schwanken. Drittens ist zu beachten, daß ein Text nicht ausschließlich von der Intention des Autors abhängt, sondern auch von der des Lesers. Fiktionen stützen sich auf den Glauben des Lesers. Da Fiktion ein Spiel mit Wahrheit und Lüge ist, das den rezeptiven Willen des Lesers erfordert, ist zu prüfen, wie die literarischen Detektive den Leser an ihren Ermittlungen beteiligen.10 Liest man die Texte unter dem Aspekt des Detektivromans, verstanden als narrative Suchbewegungen, so zeigt sich, daß die Ermittlungen fragmentierte und offene Strukturen aufweisen. Wegen ihres prozessualen und unabgeschlossenen Charakters erfordern sie einen Leser, der an den Nachforschungen teilnimmt, d.h. einen Leserkomplizen, der eigenständig Sinn herstellt, der die Fragmente koordiniert, um Kohärenz herzustellen und um den diskursiven Fall zu lösen. Denn der Erzähler spricht — sich seiner selbst unsicher — mit leiser Stimme im Bewußtsein der eigenen Gebrochenheit. Die Identitäten, die es zu rekonstruieren gilt, sind offen, sie verändern sich ständig. Identität erscheint nie als eine Essenz oder als unveränderliche Einheit, sondern sie bleibt fragmentarisch und entzieht sich deshalb einer abgeschlossenen literarischen Konfiguration. Die literarischen Detektive können bei dem Versuch, eine geschlossene Komposition (wie Martinis Titel Composición de

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lugar ankündigt) herzustellen, letztlich nur scheitern. Immerhin: die gescheiterten Detektive zelebrieren ihr Scheitern. Der einzige, der zu einem Schluß kommen könnte, ist der Leserkomplize.11 So gesehen, läßt sich die Form der Romane durch die erzählerische Untersuchung definieren. Diese ist je nachdem mehr oder weniger historisch ausgeprägt. Piglia charakterisierte deshalb die Protagonisten aus Respiración artificial als Geschichtsdetektive: El texto está tramado como una investigación multiplicada y atomizada. Todos los personajes están tratando de revelar algún secreto. Detrás de todo este secreto, están ciertos secretos y enigmas de la Historia argentina y también del presente en que esa historia estaba escrita. [...] Maggi es una especie de detective de la Historia y, por lo tanto, algo así como el estructurador de todo el texto.11

Im Extremfall kann man die Romanform als Suche nach einer Form defmieren, wie in Martinis Composición de lugar und in Piglias Respiración artificial. Die stets fragmentarische und polyphone Reflexion spiegelt die Andersheit des Subjekts, dessen Identität zu ermitteln ist und die sich nicht in monolithische figurative Strukturen fügt. Die zugrundeliegende Frage nach dem Verhältnis von Fiktion und (historischer) Wirklichkeit verweist auf den gesellschaftlichen Kontext der Romane. Der Prozeß der Wahrheitsfindung deckt zumindest falsche Fährten auf. Die erzählerische Ermittlung wird zum Gegengeschichte der offiziellen Geschichtsschreibung. Der literarische Detektiv wird zum engagierten Detektiv mit historischem Bewußtsein, der für demokratische Pluralität eintritt: Die Stimme des Dichters erhebt sich gegen Unterdrückung und Zensur. Um den Täter zu überführen, der auch ein Mörder sein kann — Hitler tötet Kafka in Respiración artificial mit seinem deliranten Machtmonolog —, muß der literarische Detektiv die kriminelle Fiktion, mit der autoritäre Regime die Wirklichkeit übertünchen, aufdecken.13 Tomás Eloy Martínez mischt echte und fiktive Variationen biographischen und autobiographischen Schreibens, um die Entstehung des Perön-Mythos zu dekonstruieren. Die eingesetzten Mittel sind Relativierung der Wahrheit durch multiperspektivische Divergenz, Problematiserung biographischer Ich-Entwürfe, die auf der Konstruktion falscher Selbstbilder beruhen. Ein zentrales Anliegen ist es, auf die Manipulation des biographischen Diskurses durch López Rega aufmerksam zu machen. Hierin besteht die Verbindung von literarischem Detektiv und Habermas' Identitätsentwurf. Die Betonung des literarischen Verfahrens entspricht der Vorstellung Habermas', daß zuerst das Procedere als demokratischer Prozeß gewährleistet sein muß, bevor über Inhalte zu entscheiden ist. Habermas legt die Ermittlung der Identität in die Hände der demokratischen Institutionen. In den

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Romanen sind die literarischen Detektive dafür zuständig, die ausgehend von Einzelschicksalen gegen den undemokratischen Staat ermitteln. Diese Vorgehensweise bedeutet eine Schwerpunktverlagerung im argentinischen Identitätsdiskurs von der Suche nach einer Essenz zur Erforschung der Entstehung und Veränderung von Identitäten. Der machtkritische Leitgedanke zielt wie bei Habermas auf die demokratischen Grundwerte: Pluralismus und Menschenwürde. Die Autoren bringen dies u.a. dadurch zum Ausdruck, daß sie die von der offiziellen Geschichte Ausgeschlossenen und Unterdrückten zu Protagonisten ihrer Romane machen. Dies bestätigen die Hauptfiguren Martinis, Piglias und Rabanals, aber auch Posses Columbus, der in diesem Kontext als Sonderfall erscheint. Die literarischen Identitätsermittlungen der Autoren erstellen dadurch eine Genealogie der von der Geschichte ausgeschlossenen Personen und Diskurse — im Foucaultschen Sinne.

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Anmerkungen:

1. Dieses Kapitel ist die erweiterte Version des Vortags "Tres detectives literarios de la nueva novela argentina", gehalten beim "Tercer Congreso Internacional. Centro de Estudios de Literaturas y de Civilizaciones del Río de la Plata", der vom 2.7.-5.7.1990 unter dem Motto: "Discurso historiográfíco y discurso fíccional en las literaturas del Río de la Plata" in Regensburg stattfand. 2. Eine erste Annäherung versuchte er in "Examen de la obra de Herbert Quain", (in: Ficciones, Buenos Aires 1944), wo er sich mit einem fiktiven Detektivroman The god ofthe labyrinth (1933) eines Herbert Quain beschäftigte. Borges' wohl bekannteste Detektiv-Erzählung "La muerte y la brújula" (in: Ficciones) parodiert die Regeln des klassischen Detetkivromans und verbindet die Aufklärung mit literarischer Detektion. Der scheiternde Detektiv Erik Lönnrot versucht die Mordfälle durch eine Textanalyse kabbalistischer Schriften zu lösen. 3. Zusammen mit Adolfo Bioy Casares veöffentlichte er unter dem Pseudonym H. Bustos Domeq Seis problemas para don Isidro Parodi, Buenos Aires 1942. 4. Vgl. dazu: Hinrich HUDDE, "Das Scheitern des Detektivs. Ein literarisches Thema bei Borges, Robbe-Grillet, Dürrenmatt und Sciascia", in: Romanistisches Jahrbuch, 29, (1978), S. 322-342. Angélica PRIETO INZUNZA, " L a muerte y la brújula'. Una lectura paródica del relato policial", in: Texto Crítico, 36-37, (1987), S. 79-91. Ulrich SCHULZ-BUSCHHAUS, "Das System und der Zufall. Zur Parodie des Detektivromans bei Jorge Luis Borges", in: Erna PFEIFFER, Hugo KUBARTH, (Hg.), Cantum Ibericum. Neuere spanische, portugiesische und lateinamerikanische Literatur im Spiegel von Interpretation und Übersetzung, Frankfurt a. M.: Vervuert, 1991, S. 382396. Volker ROLOFF, "Der Mörder als Erzähler: Existentialismus und Intertextualität bei Sartre, Camus, Cela und Sàbato", in: Romanische Zeitschrift für Literaturgeschichte, (1986): 197-218. 5. Vgl. dazu M. Patricia MOSIER, "Protagonista y lector como detectives: Punto de vista en 'La casa junto al río' de Elena Garro", S. 93, in: Texto Crítico, 36-37, (1987), S. 92-105. 6. Ich folge hier Norbert FRANZ und Kurt RINGGER, "Der Leser als Detektiv. Literatur und Kriminalistik in der italienischen Gegenwartsprosa", in: Italienische Studien, 10, (Wien 1987). Die Autoren untersuchten die Kombination von detektivischer Aufklärung und deutender Textlektüre in der italienischen Literatur, u.a. auch am Beispiel von Eco und Sciascia. 7. Jorge de Burgos der Bibliothekar Ecos ist unschwer als Jorge Luis Borges zu erkennen. Sciascia bezog sich in Todo modo, (Turin 1974), explizit auf Borges' "retorica della citazione": "per tutto il pranzo, tra lui e Don Gaetano, ci fu un rimbalzo di citazioni, come una partita di ping-pong. Alla fine, ero piuttosto interessato a origine, a Ireneo e allo Pseudo Dionigi, ma in senso del tutto eterodosso. Alla Borges, tanto per intenderci". S. 51. Sciascia zitiert in L'Affaire Moro (1978) Borges' "Pierre Menard, autor del Quijote" und beendet den Text mit einem Zitat aus "Examen de la obra de Herbert Quain" (beide in: Ficciones, 1944): "Il lettore, inquieto, rivede i capitoli sospetti, escopre un'altra soluzione, la vera" (Bei Borges hieß es: "El lector, distraído por la vanidad, cree haberlos inventado", in: Obras Completas, Buenos Aires 1974, S. 464). Diese

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Hinweise zum Verhältnis Sciascia - Borges sind entnommen aus: Hans T. SIEPE, "Literarische Tradition in der Literatur. Aspekte der Intertextualität bei Leonardo Sciascia", in: Italienische Studien, 10. Siepe betrachtet Sciascia als ersten italienischen Borges-Rezipienten, der wie jener Texte zur Voraussetzung seiner eigenen Texte und sein Schreiben zum "Simulacnim eines Simulacrums" mache. Siehe auch S. MORALDO, "Sciascias 'II contesto' und Jorge Luis Borges' 'La muerte y la brújula", in: Neophilologus, 68, (1984), S. 389-399. 8. Mit der These des literarischen Detektivs bewegen wir uns in einem Grenzbereich. Karl Ludwig Pfeiffer kam in einer Untersuchung über "echte" Detektivromane zu dem paradoxen Ergebnis, daß ein Detektivroman nur dann akzeptiert wird, wenn er kein echter Detektivroman mehr ist. Der Detektivroman des 20. Jahrhunderts, so Pfeiffer, ermittele Informationszusammenhänge und Zeichenstrukturen. Das Dechiffrieren von Informationen trete dabei an die Stelle der traditionellen Sinnstiftung. Vgl.: K. L. PFEIFFER in: Poética, Bd. 20, Heft 3-4, 1988. 9. Auf der anderen Seite finden sich bei Georges Simenon im Bereich des konventionellen Kriminalromans einige Beispiele für analoge Fälle der Identitätsermittlung, freilich ohne die Selbstspiegelung der literarischen Vorgehensweise (Z.B. M. Galtet, décédé; Maigret et l'homme du banc; Maigret et le clochard). 10. Die hier wiedergebene Definition präsentierte Piglia in der Vortragsreihe "¿Cómo leer la novela argentina?" im "Centro Cultural Ricardo Rojas" in Buenos Aires 1988. 11. H. HUDDE (1978: 323) wies E. Bloch zitierend darauf hin, daß der Leser schon bei Borges das "Wettrennen mit dem Detektiv" gewonnen habe. 12. Ricardo Piglia. Entrevista, in: El Socialista, (La Plata) März/ April 1987. 13. R. Piglia: "La dictadura militar construyó una ficción criminal para tratar de tapar la realidad", in: "¿Cómo leer la novela argentina?", I.

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Tomás Eloy Martínez

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5. Textanalyse 5.1. "La verdad dividida en cuatro mil pedazos". Tomás Eloy Martínez La novela de Perón

1. Der Autor, die Stoffgeschichte und die Entstehung des Romans. 2. Der historische Hintergrund. 3. Die Konstituierung der Erzählsituation und der semantischen Strukturen am Romananfang. 3.1. Die Erzählsituation im Kontext der erzählerischen Untersuchung. 3.2. Die grundlegenden Sinnstrukturen. 4. Die multiperspektivische Identitätsermittlung im Archiv: Los ojos de la mosca — la verdad dividida en cuatro mil pedazos. 4.1. Zamora, das literarische alter ego des fiktionalisierten Autors. 4.2. Der fiktionalisierte Autor ais mise en ábyme. 4.3. Perón in der Sicht Dritter. 4.4. El brujo — López Rega, der paranoide literarische Detektiv. 4.5. Perón als Selbstinterpret. 4.6. Das letzte Refugium der Identität. 4.7. Argentinität. 4.7.1. Die Identität von Volk und Führer. 5. Vom Mythos zur Postmoderne.

1. Der Autor, die Stoffgeschichte und die Entstehung des Romans Tomás Eloy Martínez, geboren 1934 in San Miguel de Tucumán, betätigte sich in verschiedenen Bereichen des literarischen Lebens. Seine frühen Gedichte und Erzählungen wurden mehrfach prämiert. Er wirkte aktiv an der Zeitschrift Primera Plana mit, schrieb Filmkritiken für La Nación, später gab er Panorama und La opinión cultural heraus. In Caracas, wo er seit 1975 im Exil lebte, gründete er El Diario de Caracas. Mit zahlreichen Aufsätzen und Artikeln über lateinamerikanische Literatur und als Gastprofessor an der Universität Maryland hat er sich als Literaturkritiker und -Wissenschaftler betätigt. Darüber hinaus zählen zehn Drehbücher, drei davon in Zusammenarbeit mit Augusto Roa Bastos, zu seinem künstlerischen Werk. Mit La novela de Perón, (Buenos Aires 1985), erfolgte der internationale literarische Durchbruch. 1991 erschien der bislang letzte Roman mit dem Titel La mano del amo. Der Perón-Román erhielt mit dem Wahlsieg der Peronisten 1989 gesellschaftspolitische Aktualität. Insofern nahm er das erneuerte Interesse am Peronismus und der mythischen Figur des Begründers der Volksbewegung vorweg. Dieses Informationsbedürfnis erscheint angesichts der Wahlkampfstrategie des späteren Präsidenten Carlos Menem nur allzu berechtigt. Dieser nutzte die ungebrochene Massenwirksamkeit der mythischen Symbolfiguren Juan

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Domingo Peróns und dessen zweiter Frau Evita gezielt zur populistischen Politpropaganda. Martínez ist bis zu La novela de Perón der Tradition der "journalistischen Schule" zuzuordnen. Deren bekannteste Vertreter sind Rodolfo Walsh und Osvaldo Soriano. Martínez steht in einer beachtlichen Reihe von argentinischen Autoren, die sich literarisch mit dem Peronismus befaßten. Zuerst ist an Rodolfo Walsh zu denken, der sich in Operación masacre, (Buenos Aires 1982), in ¿Quién mató a Rosendo?, (Buenos Aires 1985), und in Los oficios terrestres, (Buenos Aires 1987), ebenfalls auf der Basis journalistischer Recherchen kritisch dem Peronismus näherte. Des weiteren sind folgende Autoren zu erwähnen, die sich aus recht unterschiedlichen Perspektiven mit dem Peronismus literarisch auseinandersetzten: Jorge Asís, Los reventados, (Buenos Aires 1984), Martín Caparrós, No velas a tus muertos, (Buenos Aires 1986), José Pablo Feinmann, Ni el tiro del final, (Buenos Aires 1982) und La astucia de la razón, (Buenos Aires 1990), Beatriz Guido, Rojo sobre rojo, (Buenos Aires 1988), Héctor Lastra, La boca de la ballena, (Buenos Aires 1983), Juan Carlos Martini, El cerco, (Barcelona 1975) und La vida entera, (Barcelona 1981), Dalmiro Saénz; Sergio Joselovsky, El día que mataron a Cafiero, (Buenos Aires 1987), Osvaldo Soriano, No habrá más penas ni olvido, (Barcelona 1983), Mario Szichman, A las 20:25 la señora entró en la inmortalidad, (Buenos Aires 1981) und Horacio Verbitsky, Ezeiza, (Buenos Aires 1985). Letzterer nahm wie Martínez den Tag der Rückkehr Peróns nach Argentinien als Ausgangspunkt für eine journalistische Recherche, die eine historische Interpretation des Blutbades von Ezeiza zum Ziel hat. Neben den literarischen Abhandlungen entstanden eine Reihe von Filmen mit dem Schwerpunkt Peronismus. Die bekanntesten unter ihnen sind Fernando Solanas La hora de los hornos (1969) und Los hijos de Fierro (1974).' Die Rezeption von La novela de Perón warf bereits in Argentinien zahlreiche Fragen auf. Der Titel, der einen Roman ankündigt und den historischen Perón zum Gegenstand hat, verweist auf das Verhältnis von Fiktion und Geschichte. Wie das Wort "novela" signalisiert, hält der Leser keine historische Abhandlung und keine weitere Biographie über das Leben Peróns in Händen: "La palabra novela dice "no lea esto como historia", pero la palabra Perón opone "he aquí un personaje histórico" (Martínez: 1988). Im Gegensatz zur nordamerikanischen non-fictional-novel mit dem Wahrheitsanspruch des Tatsachenberichts, hält es auch Tomás Eloy Martínez mit Hayden White, indem er sich zur prinzipiellen Gebundenheit an den rhetorischen und den vermittelnden Charakter des Erzählens bekennt. Das Erzählen der Historie in Form einer Geschichte kann als Aufwertung der Funktion der Literatur als Mittel der Wahrheitsfindung gegenüber der traditionellen Geschichtsschreibung verstanden werden. Auch die Romane Piglias und Posses folgen — auf ganz unterschiedliche Weise — der Tendenz der bewußten literarischen Vermittlung historischer Inhalte.

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Der Roman revidiert die argentinische Geschichte des 20. Jahrhunderts bis zum Tode Peróns. Das Ende der Ära Yrigoyen durch den Putsch Uriburus, der Tod "Evitas" und das Blutbad in Ezeiza, allesamt Ereignisse, die im Roman eine wichtige Rolle spielen, gehören zu den Eckdaten der argentinischen Zeitgeschichte. Im authentischen Handlungsgerüst steckt jedoch ein hoher fiktionaler Anteil. Naive Leser waren verblüfft über die Kenntnisse des Autors aus dem Privatleben Peróns. Die Dialoge Peróns mit Eva, Isabelita, López Rega usw. sind freilich reine Fiktion. Die Frage nach der historischen Wahrheit stellte sich jedoch nicht erst bei der Rezeption. Als Motiv, das Tomás Eloy Martfnez dazu veranlaßte, einen Roman über Perón zu schreiben, ist sie das eigentliche Leitmotiv, zu dem die Gegenüberstellung der widersprüchlichen Perónbiographien führt. Eine Antwort auf die Frage nach der wahren Identität Peróns scheint es nicht zu geben. La novela de Perón entstand nach umfassenden Recherchen und nach zwölf ausführlichen Gesprächen mit Perón. Martínez begann die Vorarbeiten mit einer Reportage über den in Madrid exilierten Präsidenten, die der damals als Journalist tätige Autor im Auftrag einer Zeitschrift durchführte. Im Zuge der Nachforschungen stieß er auf widersprüchliche Versionen diverser Episoden aus dem Leben des Caudillos. Nachdem auch die Befragung von Augenzeugen kein Licht ins Dickicht der Versionen brachte, stellte sich heraus, daß die Wahrheit schlechterdings nicht zu ermitteln war. Der Roman reflektiert leitmotivisch das Dilemma der Wahrheitsfindung bei der biographischen Rekonstruktion. Das Verhältnis von privater und kollektiver Geschichte bildet einmal mehr das übergreifende Identitätsthema, das sich in der Romanstruktur niederschlägt: "Lo que me interesaba era acercar la lente lo más posible al personaje y su intimidad para comprender un proceso histórico general".2 Das historische Ereignis der Rückkehr Peróns nach Argentinien am 20. Juni 1973 wird aus den unterschiedlichen Blickwinkeln verschiedener politischer Gruppierungen beleuchtet, und es liefert zugleich den Ausgangspunkt für die Darstellung verschiedener authentischer Perónbiographien. Neben dieser ersten grundlegenden Parallele zu den Romanen Martinis und Piglias wird die Analyse von La novela de Perón noch weitere ans Licht bringen. Tomás Eloy Martfnez versieht die von Juan Carlos Martini in Composición de lugar thematisierten Fragwürdigkeiten der Erinnerung mit den konkreten Beispielen der Lügen und Manipulationen Peróns. Wie in Ricardo Piglias Respiración artificial wird das Verhältnis von Realität und Fiktion historisch vertieft. Während Piglia mit Enrique Ossorio eine fiktive historische Figur entwirft, geht Martínez von wirklichen Personen aus. Dennoch verfolgen sie dieselbe Absicht: sie versuchen, neue Perspektiven zu entscheidenden Kapiteln der argentinischen Geschichte zu entwerfen, die über das bloße Wiederkäuen der Stereotypen der offiziellen Geschichtsschreibung hinausgehen. Der Schriftsteller

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Fernando Alegría versuchte mit Mi vecino el Presidente (1989) ebenfalls in Romanform das Leben und Scheitern Salvador Allendes darzustellen, dessen politische Bedeutung in Chile mit der Peróns in Argentinien vergleichbar ist. Auch er teilt mit vielen anderen Schriftstellern die inzwischen zum Allgemeinplatz gewordene Überzeugung, daß die sogenannte Wirklichkeit von unzähligen Erzählungen und Fiktionen durchkreuzt und gebildet wird. 2. Der historische Hintergrund Um dem mit Argentinien weniger vertrauten Leser zu zeigen, in welchem Maße die historischen Fakten in den Roman eingearbeitet sind, sei ein kurzer Abriß der geschichtlichen Ereignisse vorangestellt. Als Juan Domingo Perón 1943 nach einem Putsch ultra-rechter Offiziere (GOU) mit dem Arbeits- und Sozialministerium betraut wurde, war er ein Unbekannter. Wenige Monate später war der 48jährige Oberst die bekannteste und umstrittenste Figur der Militärregierung, die ihn zum Vizepräsidenten und Kriegsminister ernannte. Perón hatte das Volk mobilisiert und war auf dessen Rücken mit Sozialreformen zur Macht gelangt. Als er unter dem Druck der USA am 9. Oktober 1945 auf die Insel Martín Garcia im Río de la Plata verbannt wurde, erzwangen die demonstrierenden Massen seine Freilassung. Vier Monate später, am 24. Februar 1946, wurde er mit 52,40% der Stimmen zum Präsidenten gewählt. In den folgenden fünf Jahren legte er den Grundstein für seinen Mythos als Retter des Volkes und Wegbereiter des "dritten Weges" zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Der Slogan des auch "Justicialismo" genannten Peronismus lautete: "Politische Souveränität, soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Unabhängigkeit". Der Peronismus entwickelte sich zum "movimiento nacional", zur nationalen Volksbewegung, deren innere Struktur wenig mit den Organisationsprinzipien europäischer Parteien gemein hat. Der in ganz Lateinamerika verbreitete Populismus gründet auf präpolitischen Formen der Meinungsbildung. Dahinter lauert der völkische Gedanke, der Ethnos an die Stelle des Demos als Basis der Identitätsbildung setzt und die kultische Verehrung charismatischer Führerfiguren, die sich diktatoriale Regimes zunutze machen. Die peronistischen Massenveranstaltungen sind mustergültige Beispiele für präpolitische Verfahrensweisen, denn sie zelebrieren Identitätsrituale, in denen die Gewalten politischer Emotionalität ausbrechen. Martínez greift die irrationale Identifikation der Massen mit der charismatischen Führerfigur Peróns auf, um die demagogische Identitätsmanipulation anzuprangern. Nicht zufällig ließ der demokratisch gewählte peronistische Präsident Carlos Menem 1989 die sterblichen Überreste des Diktators Rosas nach Argentinien überführen; ein Schritt, den nicht einmal Perón gewagt hatte, der aus seiner Bewunderung für Rosas keinen Hehl machte.3 In den Jahren 1951-54, als Peróns Stern zu sinken begann, wurde der

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Justizialismus zur "doctrina nacional" erklärt. Die publikumswirksame Verstaatlichung von Banken und der Ankauf ausländischer Schlüsselindustrien konnten tiefgreifende Strukturreformen nicht ersetzen. Nach dem Tod seiner 33jährigen Frau "Evita" (1952), die, von den Unterschichten als Heilige verehrt, das soziale Gewissen des Peronismus verkörperte, hielt sich Perón noch drei Jahre an der Macht, mußte aber immer härter gegen die lauter werdenden Stimmen der Opposition vorgehen. 1955, nachdem die Sozialreform gescheitert war und der Konflikt mit der Kirche eskalierte, kam es zur "Revolución Libertadora". Eine Gruppierung bestehend aus Katholiken, Oberschicht, Liberalen, Militärs und Vertretern des Auslandskapitals putschte. Perón mußte ins Exil. Militär und Antiperonisten versuchten, den Peronismus fortan von den Staatsgeschäften fernzuhalten. Die peronistische Partei wurde 1958 und 1963 von den Wahlen ausgeschlossen. Aufgrund der breiten Basis im Volk wurde diese Auschlußtaktik als "juego imposible" bezeichnet. Zu Recht, denn im März 1973 erreichte der peronistische Kandidat Héctor Cámpora mit 49,09% der Stimmen eine solide Mehrheit. Baibin, der Gegenkandidat der Radikalen Partei, mußte mit 21,22% eine vernichtende Niederlage hinnehmen. Der amtierende Staatschef General Alejandro Lanusse versicherte dem neugewählten Präsidenten seine Loyalität. Cámporas Wahlslogan war: "Cámpora an die Regierung — Perón an die Macht". Die Amtszeit des Statthalters währte dementsprechend nur 50 Tage. Er trat am 13. Juli zurück. Der triumphale Empfang Peróns am 20. Juli, den die Peronisten am Flughafen Ezeiza vorbereitet hatten, endete jedoch noch vor der Landung mit einem Blutbad. Der schwelende Streit zwischen linkem und rechtem Flügel, zwischen der peronistischen Guerillabewegung der Montoneros und dem Bewaffneten Revolutionären Volksheer (FAR) einerseits, und den Schlägerbrigaden der Gewerkschaften andererseits, entlud sich in einem blutigen Massaker. Die Absicht der Gewerkschaftstruppen, eine Begegnung Peróns mit den revolutionären Massenbewegungen zu verhindern, war zunächst geglückt, obwohl sie aufgrund der zahlenmäßigen Unterlegenheit nach stundenlangen Gefechten weichen mußten. Peróns Rückkehr wurde zur Auferstehung mythifiziert. Die peronistische Renaissance schien zunächst zu glücken. Am 23. September 1973 erhielten Perón und Isabelita (Maria Estela Martínez de Perón) 61,85% der Stimmen. Perón wurde am 12. Oktober zum zweiten Mal Präsident. Doch der, der zurückkam, war nicht mehr der, der weggegangen war. Die charismatische Austrahlung war erloschen. Alterschwach, in dritter Ehe verheiratet mit der drittklassigen Revuetänzerin "Isabelita", und seinem Privatsekretär López Rega, genannt "el brujo", hörig, betrat er das politische Parkett als Marionette des letzteren. Dieser setzte mit Hilfe esoterischer Astrologie skrupellos seine Machtinteressen durch und stieg in die Position des Sozialministers auf. Diese Stellung nutzte er u.a. dazu, seinem Schwiegersohn Lastiri die Präsidentschaft des Parlaments anzuvertrauen. Mit dem Wirtschaftsminister José Gelbard, der sich in

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erster Linie der eigenen Bereicherung widmete, mußte das Kabinett wie die Besetzung des Hofstaats eines "shakespearschen Königsdramas" wirken.4 Die innenpolitische Bedeutung der Ereignisse in Ezeiza manifestierte sich am 1. Mai 1974, als sich Perón in einer kurzen Rede von der peronistischen Jugend, dem aktivsten Teil der Bewegung, endgültig distanzierte. Die schon nach wenigen Minuten abrückenden ca. 80 000 Montoneros lieferten sich blutige Straßenschlachten mit ca. 40 000 anwesenden Arbeitern. Perón bezeichnete die linke Jugend, der er den Wahlsieg, den Abtritt der Militärregierung und seine Rückkehr aus dem 18jährigen Exil maßgeblich zu verdanken hatte, als "überhebliche Dummköpfe", deren Widerstand gegen seine inzwischen unternehmerfreundliche Politik gefährlicher sei als die Bedrohung aus dem Ausland. Der Bruch mit der Basis verursachte einen politischen Klimawechsel: er schwächte die peronistische Position gegenüber den anderen Parteien und den Militärs. Der von Perón angestrebte "Sozialpakt" erwies sich als gescheitert. Soziale Spannungen und wirtschaftliches Chaos brachten das Land an den Rand eines Bürgerkriegs. Perón starb am 1. Juli 1974. Isabelita folgte ihm im Amt und geriet mehr und mehr unter den Einfluß López Regas. Die Bewegung spaltete sich in einen linken und einen rechten Flügel.5 La novela de Perón unterstreicht die dubiose Erscheinung des "Hexer" ("el brujo") genannten López Rega. Dieser legte in Werken wie Esoterische Astrologie, einer Sammlung seiner Gespräche mit dem Erzengel Gabriel, Die Sprache der Sterne und in Polizeiliche Astrologie, einem 500seitigen Machwerk, erschienen im Polizeiverlag, schriftliches Zeugnis von seinen okkultistischen Neigungen ab. Er gründete aber auch die berüchtigte "Triple A", eine aus dem Wohlfahrtsbudget finanzierte Geheimorganisation, die mit brutaler Gewalt Andersdenkende als linksstehende Aktivisten terrorisierte. 1975 wurde er unter abenteuerlichsten Umständen der politischen Ämter enthoben und nach Panama abgeschoben, was ihn nicht hinderte, seinen Einfluß im neuen Parlament weiter auszubauen. Korruption und Mißwirtschaft nahmen kein Ende, so daß am 23. März 1976 "Isabelita" von den Militärs unter Hausarrest gestellt wurde. Am darauffolgenden Tag begann mit dem bislang letzten Militärputsch die "Epoca de la Reorganización Nacional". Die vielleicht perfideste, mit Sicherheit aber perfekteste Diktatur der argentinischen Geschichte nahm ihren Lauf. Der Wahlsieg des Kandidaten der Radikalen Partei, Raúl Alfonsin, am 30. Oktober 1983 mit 52% war eine politische Sensation. Erstmals wurden die Peronisten durch Wahlen geschlagen. Der Bann des "juego imposible" schien gebrochen, zumindest bis zu den Wahlen von 1989, die Carlos Menem als Kandidat des rechten Flügels der Peronisten für sich entscheiden konnte.

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3. Die Konstituierung der Erzählsituation und der semantischen Strukturen am Romananfang Der Roman ist untergliedert in zwanzig Kapitel und einen Epilog. Das erste und das zwanzigste Kapitel bilden die Klammer der Rahmenhandlung. Die darin erzählte Zeit beschränkt sich auf den 20. Juni 1973, als Perón aus dem Madrider Exil nach Buenos Aires zurückkehrte, um ein letztes Mal die Regierung zu übernehmen. Der Tag ging in die Geschichte ein. Am Flughafen Ezeiza versammelten sich circa drei Millionen Menschen aus allen Teilen Argentiniens, um den historischen Augenblick mitzuerleben. Im Roman wird ironisch der Superlativ eines Radiosprechers zitiert: "Jamás nadie, en toda la historia de la humanidad, consiguió recibir un homenaje asf. Ni Julio César, ni Alejandro Magno, ni Pedro de Mendoza cuando descubrió Buenos Aires. Nadie. Sólo Perón" (333)6. Der Romanbeginn enthält eine Reihe signifikanter Hinweise auf die Erzählsituation und auf die bestimmenden Sinnstrukturen: Una vez más, el general Juan Perón soñó que caminaba hasta la entrada del Polo Sur y que una jauría de mujeres no lo dejaba pasar. Cuando despertó, tuvo la sensación de no estar en ningún tiempo. Sabia que era el 20 de junio de 1973, pero eso nada significaba. Volaba en un avión que habla despegado de Madrid al amanecer del día más largo del año, e iba rumbo a la noche del día más corto, en Buenos Aires. El horóscopo le vaticinaba una adversidad desconocida. ¿De cuál podría tratarse, si ya la única que le faltaba vivir era la deseada adversidad de la muerte? (13, Hervorhebung von mir).

3.1. Die Erzählsituation im Kontext der erzählerischen Untersuchung Der erste Satz des zitierten Abschnitts gibt einen Erzähler mit Einblick in das Innenleben der Protagonisten zu erkennen, der sogar deren Träume kennt. Er signalisiert auch sogleich jene stark dosierte Ironie, die von der Spannung zwischen Intimität und Öffentlichkeit lebt, die diese Außensicht der Innenwelt charakterisiert. Martínez setzt die olympische Überlegenheit der Erzählerfigur im Zuge einer Entlarvungspsychologie ein, die die Absicht der ironischen Dekonstruktion des Mythos Perón verfolgt. Die Preisgabe der innersten Vorgänge Peróns, wie der Traum vom Frauenhelden und die Gedanken an das Sterben, gibt entscheidende Hinweise auf den Charakter und die Absichten des Erzählers. Der Wechsel des Darstellungsfokus zwischen Nähe und Distanz charakterisiert den Roman in mehrfacher Hinsicht. Die Gegenwartshandlung gewinnt durch die Darstellung widersprüchlicher Versionen der Vergangenheit an Tiefe und Dramatik. Die Ambivalenz der historischen Wahrheit wird dadurch verdoppelt, daß weder Vergangenheit noch Gegenwart eindeutig sind. Nachweisbar sind bestenfalls die Spuren der Spurenverwischung. Die besondere Bedeutung des Wechsels von Nähe und Distanz läßt sich am Beispiel der Erzählerfigur zeigen. In diesem Zusammenhang spielt die Romanfigur

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des Journalisten Zamora eine wichtige Rolle. Er ist ein alter ego des Autors, der wie Tomás Eloy Martínez den Auftrag erhielt, die wahre Geschichte Peróns zu schreiben. Im 14. Kapitel mit dem Titel Primera persona tritt der Autor als Reporter der Zeitung Opinión nach mehreren Andeutungen des Erzählers auf "Tomás Eloy Martínez" in persona auf.7 Seinem alter ego Zamora erläutert er die Ursachen hierfür: "He contado muchas veces esta historia pero nunca en primera persona, Zamora. No sé, qué oscuro instinto defensivo me ha hecho tomar distancia de mí, hablar de mí como si fuera otro" (305). Ein Grund dafür, die bisherige Distanz zu brechen, liegt in der steigenden Dramatik der erzählten Ereignisse. Während Perón gen Buenos Aires fliegt, spitzt sich die Situation in Ezeiza zu. Die Aufgabe der distanzierten dritten Person zugunsten der ersten forciert den dramatischen Effekt. Die Grenzüberschreitung des Autors in die erzählte Welt dynamisiert das Verhältnis von Geschichte und Fiktion. Das Auftreten des Autors in der erzählten Welt weist darauf hin, daß die Fiktionalisierung der Historie mehr ist als Fiktion. 3.2. Die grundlegenden Sinnstrukturen Die zitierten ersten Zeilen des Romans vereinen drei semantische Einheiten. Nach der Eröffnung mit einem Traum, die die Opposition (1) Traum — Wirklichkeit beinhaltet, folgt ein bedeutungsvoller Hinweis auf die Bedeutungslosigkeit der chronologischen Alltagszeit, die eine räumliche Dimension aufweist, weil sie die Gegenüberstellung (2) von Madrid und Buenos Aires beinhaltet, die eine weitere Basisopposition des Textes bildet. Schließlich verweist die Thematisierung des Todes auf die ablaufende Lebenszeit Peróns, wodurch die klassische Perspektive des Lebensrückblicks eingenommen wird. Das Leben aus der Sicht des Todes ist eine weitere semantische Basisopposition (3). Die finale Ausrichtung dieser Rückschau besteht in der schrittweisen und systematischen Dekonstruktion des Mythos Perón. Der gedoppelte Spannungsbogen verläuft indessen auf der Ebene der in den diversen flash backs erzählten Ereignisse sowie in deren sich parallel zur Handlungsdramatik entwickelnden multiperspektivischen Relativierung. Dem historischen 20. Juni 1973 kommt im Roman symbolische Bedeutung zu. Die Ereignisse während des Fluges von Madrid nach Buenos Aires am zugleich längsten (in Spanien) und kürzesten Tag des Jahres (in Argentinien) geschehen außerhalb der chronologisch meßbaren Zeit. Auf die doppelte Bedeutung der Zeitlosigkeit wird im Roman mehrmals hingewiesen. Die Überschrift des zwanzigsten und letzten Kapitels unterstreicht diesen Aspekt: "El día más corto del año". Wie die Ereignisse bei seiner Ankunft — und nach Übernahme der Regierungsgeschäfte — bestätigen werden, war Peróns Rückkehr zur Unzeit ein schlechtes Vorzeichen. Der letzte Satz des ersten Abschnitts erwähnt die ungünstige Prognose des Horoskopes.

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Der Astrologie kommt im weiteren Verlauf erhebliche Bedeutung zu. Sie ist durch die Bindung an die Gestalt des "Bösen", López Rega, negativ besetzt. Im Mittelpunkt der Gegenwartshandlung steht der Flug von Madrid nach Buenos Aires und die anschließenden Ereignisse bis zum Tode Peróns. Gleich zu Beginn während des Fluges fragt Perón nach der Uhrzeit, worauf López Rega auf die Zeitvcrschiebung anspielend antwortet: "Quién sabe. Tal vez las dos" (15). Die Landung findet nach endlosen Verzögerungen durch das Massaker in Ezeiza am 21. Juni um fünf Uhr nachmittags auf dem Militärflughafen Morón statt (411). Dennoch handelt es sich um einen "timeless flight" durch chronologisches Niemandsland, während dessen der Erzähler die Vergangenheit der Protagonisten einblendet. Die Rückblenden in die historische Zeit stehen im Gegensatz zur Zeitlosigkeit des Fluges. Sie bewirken die Diskrepanz zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit, die Peróns ganzes Leben erfaßt. Im übertragenen Sinne wird dadurch der zeitlose Mythos Perón mit den Fakten bombardiert, so daß der scheinbar über alle Widersprüchlichkeiten erhabene Mythos als Konstruktion enthüllt wird, an der Perón maßgeblich mitgewirkt hat. Der historische Kristallisationspunkt "20. Juni" steht im Zentrum der Rahmenhandlung, ohne sie dadurch jedoch hermetisch abzuschließen, dient er der multiperspektivischen Öffnung durch historische Rückblenden.

4. Die multiperspektivische Identitätsermittlung im Archiv: "Los ojos de la mosca — la verdad dividida en cuatro mil pedazos" Wie bei Piglia liegt den Nachforschungen des literarischen Detektivs das Archivmodell zugrunde. Der Roman stellt als multiperspektivischer Archivroman die Redaktion von Peróns Autobiographie im Gegenlicht mehrerer anderer Biographien dar.' Die allgemeine Funktion von Archiven besteht darin, Ereignisse über das individuelle Erinnerungsvermögen hinaus zu dokumentieren. Die dafür geschaffenen Aktenordner, Brief-, Protokoll- oder Dokumentensammlungen wurden "aus den verschiedensten Gründen beim Schreiben nachgeahmt", so Volker Neuhaus, dessen Definition des Archivromans zur Analyse dienen soll. Das Potential möglicher fiktiver Archive ermöglicht sehr unterschiedliche Romane. In Stevensons Treasure Island, dem wohl bekanntesten Archiv-Roman, rekonstruiert Jim Hawkins zusammen mit Dr. Livesey die Ereignisse unter Verwendung von Augenzeugenberichten. Ein anderes Beispiel ist Günter Grass' Roman Hundejahre (Neuhaus, 1971: 75).9 Archivromane weisen mithin eine vergleichsweise geringe Familienähnlichkeit auf. Die Einführung eines Herausgebers vergrößert das Formenpotential der Archivromane noch. Martínez' Protagonist Zamora recherchiert allerdings in einem Zeitungsarchiv mit echten Dokumenten. Die Besonderheit dieses Archivs besteht darin, daß mittels Fiktion die "Echtheit" des biographischen Schreibens in Frage gestellt wird. Die

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Herausgeberfunktion erfüllt der literarische Detektiv Zamora, der sich als kritischer Journalist nicht einfach mit der Publikation zufriedengeben kann, sondern der die abgedruckten Dokumente deutend und kommentierend begleitet und sie zur Basis seiner Darstellung macht (vgl. Neuhaus, 1971: 76). Zu diesem Zwecke werden verschiedene redaktionelle Phasen von Peróns Autobiographie detailliert geschildert. Während des Fluges nach Buenos Aires liest Perón in seinen Memoiren ("Las memorias" in den Kapiteln 4, 6, 9, 13 und 17). Die Verschränkung der verschiedenen Erzähl- und Leseebenen beinhaltet die Hinterfragung des Zusammenwirkens von Selbstbild — einschließlich der Schönheitskorrekturen von seiten Peróns — und den sozialen Zuschreibungen. Letztere findet der Leser en masse. Erstens in Form der Korrekturen von López Rega, zweitens durch die Abschrift anderer Biographien, die man unter der Überschrift des fünften Kapitels "Las Contramemorias" zusammenfassen könnte und schließlich drittens in Form des Mythos eines Volkes, das Perón vergötterte und ihn zum Nationalsymbol erhob. Betrachtet man mit Lotman den literarischen Text als sekundäres modellbildendes System, das unterschiedliche Weltbilder in einen komplexen Sinnzusammenhang stellen kann (Lotman, 1981: 67-88), so entfaltet dieser Roman durch die relativierende Gegenüberstellung verschiedener Weltbilder eine Pluralität von Sinnwelten und Sinnangeboten für den Leser, die — in einer ausgesprochen komplexen Vielschichtigkeit — auf das dialogische Prinzip Bachtins verweist, insofern als dieser Roman das autoritäre Weltbild Peróns durch die Konfrontation mit anderen Weltbildern im Sinne der Bachtinschen dialogischen Weltmodellierung in Frage stellt (vgl. dazu Kap. 5.4.). Am Beispiel der Genese der faschistoiden Ideologie des Peronismus hinterfragt Martínez durch die Einbringung kontroverser Ideologien den autoritären Geltungsanspruch des Peronismus und stellt darüber hinaus eine Vielfalt unterschiedlicher Geschichtsauffassungen zur Disposition des Lesers. 4.1. Zamora, das literarische alter ego des fiktionalisierten Autors Der Journalist Emiliano Zamora setzt die Identitätsdiskussion explizit in Gang. In einem Artikel über Héctor Cámpora, den Stellvertreter Peróns im Amt des Präsidenten, überlegt er, worin sich die Identität eines Menschen festmachen lasse. Der im Text wiedergegebene Artikel ist mit der süffisanten Bemerkung versehen, der Leser könne ihn überspringen, nicht so der Autor. Dieser erste Fingerzeig des Autors auf sich selbst, weist darauf hin, daß hier eine wichtige Aussage vorliegt. Die Passage sei hier vollständig zitiert, weil sie höchst bedeutsam für die Identitätsthematik ist: Todo ser, por vulgar que sea, por convencional que resulte su naturaleza, incurre alguna vez en una conducta imprevisible: una conducta que, al violentar el ser,

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también lo revela. Todos creemos saber quiénes somos. Ninguno de nosotros es capaz de adivinar lo que realmente hará. Pues lo que hacemos, aun contrariando la voluntad aparente de nuestra conciencia, es en definitiva lo que realmente somos. Somos, pues, lo que hacemos, más que lo que pensamos o decimos. De ahí que Cámpora está observando sus actos con asombro, para ver si se reconoce en ellos. El error de la filosofía consiste en explicar al hombre a través de lo que piensa o percibe. El hombre es lo que es: es el tortuoso y laberíntico impulso que lo induce a dibujar una vida que rara vez se parece a su proyecto de vida. Sólo viviendo nos conocemos. La vida nos delata. (115)

Zamora entwirft hier mit dem rhetorischen Mittel der Antithese von Schein und Sein eine Identität der Tat, die betont wird durch den Gegensatz "alle