Zwischen den Fronten: Verteidiger, Richter und Bundesanwälte im Spannungsfeld von Justiz, Politik, APO und RAF. Gespräche [1 ed.] 9783428538058, 9783428138050

Wie erinnern Anwälte, Richter und Bundesanwälte die Situation im Gerichtssaal während der APO- und RAF-Prozesse? Wie kom

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Zwischen den Fronten: Verteidiger, Richter und Bundesanwälte im Spannungsfeld von Justiz, Politik, APO und RAF. Gespräche [1 ed.]
 9783428538058, 9783428138050

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Zwischen den Fronten

Zwischen den Fronten Verteidiger, Richter und Bundesanwälte im Spannungsfeld von Justiz, Politik, APO und RAF Gespräche

Herausgegeben von Gisela Diewald-Kerkmann und Ingrid Holtey

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagbild: Justizvollzugsanstalt und Gerichtsgebäude des Oberlandesgerichts Stuttgart – Stammheim © ullstein bild – JOKER / Erich Haefele Alle Rechte vorbehalten

© 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Textforma(r)t Daniela Weiland, Göttingen Umschlaggestaltung: Heike Frank Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-428-13805-0 (Print) ISBN 978-3-428-53805-8 (E-Book) ISBN 978-3-428-83805-9 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhalt Einleitung. Von Ingrid Holtey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

I. Perspektive der Verteidiger Klaus Eschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Armin Golzem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Kurt Groenewold . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Heinrich Hannover . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Rupert von Plottnitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Ulrich K. Preuß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Hans-Christian Ströbele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

II. Perspektive der Richter Kurt Breucker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Eberhard Foth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Klaus Pflieger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

III. Perspektive der Bundesanwälte Joachim Lampe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Peter Morré . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228

IV. Perspektive eines Politikers Gerhart Baum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257

Ein Resümee. Von Gisela Diewald-Kerkmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 Zu den Herausgeberinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311

Einleitung Von Ingrid Holtey „Na ja, wenn’s der Wahrheitsfindung dient“, erklärte der Kommunarde Fritz Teufel am 29. November 1967 und erhob sich, der Aufforderung des Richters folgend, langsam von seinem Platz. Gesprochen mit einer inszenierten Naivität, die selbst Theaterregisseure wie Hans Neuenfels in ihren Bann zog, wirkten die Worte wie ein Fanal.1 Sie ließen die Autoritätsstrukturen sichtbar werden, die in einem Ritual des Gerichtsalltags stecken, und transferierten zugleich die Botschaft der Neuen Linken, Macht- und Autoritätsstrukturen in Staat und Gesellschaft abzubauen. Der Gerichtssaal avancierte zu einem Forum der Außerparlamentarischen Opposition (APO). Die Mitglieder der Kommune I, die sich vor Gericht zu verantworten hatten, bevor im Verlauf des Jahres 1968 eine Prozesslawine gegen Demonstranten einsetzte, nutzten die Räume der Justiz zu Demonstrationen gegen die Justiz. Durch spektakuläre Auftritte in extravaganter Kleidung und betont lässiger Haltung forderten sie Richter und Staatsanwälte heraus. Ihre Aktionen zielten darauf, in den Reaktionen der Richter und Staatsanwälte den Habitus obrigkeitsstaatlichen Denkens und damit das Politische in einem vermeintlich unpolitischen Raum sichtbar werden zu lassen. Die Strategie der begrenzten Regelverletzung auf die Normen von Gerichtsprozessen anwendend, verknüpften sie, an Avantgardetechniken geschult, die Protestdemonstration auf der Straße mit denen im Gericht. Sie brachen die Aura des Gerichts durch „Störung“ seiner Verfahrensweisen. Ihr Beispiel machte Schule. So berichtete der Spiegel 1969 in seiner Titelgeschichte „Studenten vor Gericht“ von einem Münchner Studenten, der sein Schlusswort vor Gericht mit dem Satz endete: „Wenn wir uns im Folgenden erheben, so tun wir dies im Andenken und zu Ehren von Che Guevara.“2 Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS), die zentrale Trägergruppe der Studentenbewegung, entschied im September 1968, die von der Kommune I begonnene (Anti-)Justizkampagne aufzugreifen und fortzusetzen. Als Ziel der Kampagne definierte die 23. Delegiertenkonferenz, durch provokative Aktionen die Justiz als „Klassenins 1 Vgl. Joachim Scharloth, 1968. Eine Kommunikationsgeschichte, München 2001, S. 152; Hans Neuenfels, Das Bastardbuch. Autobiografische Stationen, München 2013, S.141–142 sowie den Nachweis des Zitats, in: Marco Carini/Fritz Teufel, Wenn’s der Wahrheitsfindung dient, Hamburg 2003, S. 84, und in der Liste der geflügelten Worte unter: de.academic.ru/dic. nsf/dewiki. de.academic.ru/dic.nsf/dewiki/869513#Wenn.E2.80.99s_der_Wahrheitsfindung_ dient. 2 „Bloße Flanken“ [Demonstranten-Prozesse], in: Der Spiegel 45 (1969), S. 102, http:// www.spiegel.de/spiegel/print/d-45464953.html.

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trument zur Stabilisierung bestehender Herrschaftsverhältnisse“ zu enthüllen.3 Die Spiegel-Reportage zitierte Slogans aus Flugblättern gegen die Justiz wie: „Brennt, Gerichte, brennt“, „Nieder mit der Klassenjustiz“, „Richter laßt die Roben runter, es sind noch braune Hosen drunter“, „BRD und Drittes Reich – Deutsches Recht bleibt immer gleich“, „Deutsche Richter sind keine großen Lichter“, „Deutsche Staatsanwälte verprügeln wir in Bälte“, „Die Justiz ist eine Hure, bespringt sie“.4 Die Vorschriften über Aufruhr, Auflauf und Landfriedensbruch, die auf die Demonstranten angewandt wurden, stammten aus dem Jahr 1871. Noch geprägt vom Misstrauen des Obrigkeitsstaates gegenüber Bürgerinnen und Bürgern, die sich versammelten und demonstrierten, standen sie mit dem Grundgesetz in Konflikt. Sie fanden aufgrund dieses Spannungsverhältnisses je nach Bundesland, Gericht und Kammer höchst unterschiedliche Auslegungen, so dass der Spiegel in einem Interview mit Bundesjustizminister Gerhard Jahn, SPD, argwöhnte, der Ausgang vieler Demonstrationsverfahren hänge „offensichtlich vom ideologischen Standort des jeweiligen Richters ab“. Der Minister räumte ein, dass sich die Richterschaft in einer schwierigen Lage befinde, verwies aber darauf, dass etwa die Mehrzahl der Richter erst nach dem Krieg ausgebildet und die Hälfte noch keine 45 Jahre alt sei.5 Der obrigkeitsstaatliche Habitus hatte sich, wie die Urteile in den Demonstranten-Prozessen zeigten, generationsübergreifend in der Justiz tradiert. Eine Reform des Demonstrationsstrafrechts erfolgte erst 1970. Veränderungen im Gerichtssaal gingen Ende der 1960er Jahre auch von einer Gruppe von Anwälten aus, die in den APO-Prozessen ein neues Selbstverständnis als Verteidiger demonstrierten. Ein neuer Typus des Anwalts trat hervor, der dem Richter die leitende Rolle im Verfahren streitig zu machen versuchte durch Widerspruch und Kritik am Gericht, Befangenheitsanträge sowie die Einbindung von Sachverständigen in das Verfahren. Letztere sollten den politischen Kontext der angeklagten Handlungen erläutern und das Verfahren politisieren durch die Darstellung handlungsmotivierender politischer Sachverhalte. Die neue Strategie der „Konfliktverteidigung“ führte zu Spannungen zwischen Gericht und Strafverteidigung und löste zahlreiche Ehrengerichtsverfahren gegen Anwälte aus.6 Den Versuch, den politischen Kontext der Protestbewegung in die Verfahren einzubeziehen, hatten zuvor auch zahlreiche angeklagte Demonstranten unternommen. 3 Jürgen Miermeister/Jochen Staadt, Provokationen. Die Studenten- und Jugendrevolte 1965–1971, Darmstadt/Neuwied 1980, S. 195. 4 „Bloße Flanken“ (Fußnote 2). 5 Die Richter sind in einer schwierigen Lage. Spiegel-Interview mit Bundesjustizminister Gerhard Jahn (SPD) über Demonstrantenprozesse, in: Der Spiegel 45 (1969), S. 108–110, hier S. 108. 6 Vgl. dazu die Perspektiven von Klaus Eschen/Juliane Huth/Margarethe Fabricius-Brand (Hg.), Linke Anwaltschaft von der APO bis heute. Chancen und Versäumnisse, Köln 1988; Heinrich Hannover, Die Republik vor Gericht 1954–1974. Erinnerungen eines unbequemen Anwalts, Berlin 21998; Hannes Breucker, Verteidigungsfremdes Verhalten: Anträge und Erklärungen im „Baader-Meinhof-Prozeß“, Berlin 1993; Matthias Jahn, ‚Konfliktverteidigung‘ und Inquisitionsmaxime, Baden-Baden 1998.

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Fritz Teufel hatte zu Beginn seines Prozesses 40 Minuten lang seine politische Weltsicht erläutert und versucht, den Gerichtssaal zum Forum einer Gegenöffentlichkeit zu machen. Als er im Gericht seine Stimme erhob, saß er seit einem halben Jahr in Untersuchungshaft, angeklagt wegen Landfriedensbruchs. Ihm wurde zur Last gelegt, anlässlich der Demonstration gegen den Schah von Persien am 2. Juni 1967 einen Stein gegen Polizisten geworfen zu haben. Polizeimeister Karl-Heinz Kurras, der am 2. Juni 1967 nahe der Deutschen Oper den Studenten Benno Ohnesorg erschossen hatte, war, ohne einen Tag in Untersuchungshaft verbracht zu haben, acht Tage vor Eröffnung des Prozesses gegen Teufel vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen worden. Die Moabiter Strafkammer hatte zur Begründung des Freispruchs die ungewöhnliche dogmatische Figur des Putativ-Notwehrexzesses herangezogen. Während der Prozess gegen Teufel noch lief, wurde am 6. Dezember 1968 auch der ehemalige Richter am Volksgerichtshof und Beisitzer Freislers, Hans-Joachim Rehse, freigesprochen. Die zwei Freisprüche bestärkten die Demonstranten in ihrem Verdacht, in der Justiz werde mit zweierlei Maß gemessen, und heizten, so Ingo Müller, die Stimmung vor allem in Berlin gewaltig auf.7 Die alte Debatte über das Verhältnis von Justiz und Politik sowie die Existenz einer „politischen Justiz“, engagiert geführt bereits in der Weimarer Republik, entbrannte innerhalb der Rechtswissenschaft aufs Neue. Der unpolitische Richter wurde in Frage gestellt.8 Bernd Rüthers legte 1968 eine Habilitationsschrift mit dem Titel Die unbegrenzte Auslegung vor, in der er aufzeigte, wie Richter unter dem NS-Regime unter Berufung auf das BGB streng juristisch argumentiert und dennoch politisch geurteilt hatten.9 Rudolf Wiethölter, Professor für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht an der Universität Frankfurt, sah nicht nur den Richter, sondern das gesamte Rechtssystem als politisch an. „Die Rechtswelt als Machtwelt“, schrieb er 1969, halte „die politische Welt buchstäblich in Schach, genauer: Die Inhaber sozialer, ökonomischer und politischer Herrschaft transformieren ihre Gewalt über Recht in Rechtsmacht“. Die Folgerung, die er daraus für die Gegenwartsgesellschaft zog, lautete: „Klassengesellschaft mit Klassengesetzgebung, Klassenverwaltung und Klassenjustiz“. Er mahnte eine Demokratisierung des gesamten Rechtssystems an.10 Alexander von Brünneck, ein Schüler Wiethölters, 7 Ingo Müller, Zeitgeschichte und Strafprozessrecht, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 92 (2009), H. 2, S. 193–201, hier S. 194. Vgl. zur Wirkung des Freispruchs von Rehse auch den Roman von Friedrich Christian Delius, Mein Jahr als Mörder, Berlin 2004. 8 Vgl. Jörg Requate, Der Kampf um die Demokratisierung der Justiz. Richter, Politik und Öffentlichkeit in der Bundesrepublik, Frankfurt a. M. 2008, S. 281 ff. 9 Bernd Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung: Zum Wandel der Privatrechtsordnung unter dem Nationalsozialismus, Tübingen 72012. 10 Rudolf Wiethölter, Anforderungen an Juristen heute, in: Rudolf Wassermann (Hg.), Erziehung zum Establishment. Juristenausbildung in kritischer Sicht, Karlsruhe 1969, S. 1–31, hier S. 18. Vgl. zur Position Wiethölters auch den Band, der zum „Klassiker“ der Achtundsechziger avancierte: Rudolf Wiethölter, Rechtswissenschaft, Frankfurt a. M., Hamburg 1968.

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untersuchte die politische Justiz gegenüber Mitgliedern der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) 1949–1968.11 Das Verhältnis von Recht und Gesellschaft aufzudecken, setzte sich auch die 1968 gegründete Zeitschrift Kritische Justiz zum Ziel, deren Redaktion sich aus Studierenden der Rechtswissenschaft zusammensetzte, die sich als Mitglieder des SDS die marxistische Rechtstheorie erschlossen hatten, sowie aus Vertretern „jener hauchdünnen juristischen Gegenelite der Bundesrepublik, die im politischen Widerstand bzw. in der Emigration das NS-Regime bekämpft hatten“ wie Wolfgang Abendroth und Fritz Bauer.12 Themenschwerpunkte bildeten u. a. die Auseinandersetzung mit dem juristischen Erbe des Nationalsozialismus sowie die Akzentuierung des Reform- und Demokratisierungsbedarfs des Rechts sowie der Justiz. Andere Zeitschriftengründungen folgten: Demokratie und Recht (1973– 1993), Rote Robe (1970–1976, 1981–1984)13, Der Strafverteidiger (seit 1981). Das juristische Feld differenzierte sich aus. Es wurde pluralistischer. Die Vision des ersten BGH-Präsidenten, Hermann Weinkauff, der „die pluralistische Gesellschaft“ sowie den „Pluralismus der Weltanschauungen“ als „bedrohlich“ und „widerwärtig“ ansah und 1968 einen „geschlossenen Richterstand, ja einen wirklichen Rechtsstand“ beschwor, erfüllte sich nicht.14 Die Frage, ob man unter Rückgriff auf die Chiffre „1968“ von einer Bewegung sprechen kann, die die Rechtskultur beeinflusste, stand 40 Jahre nach dem Mobilisierungshöhepunkt der Außerparlamentarischen Opposition im Zentrum einer Debatte, die in der Kritischen Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft publiziert wurde. Im Editorial „1968 und das Recht“ konstatieren Thomas Pierson und Michael Rockmann, dass jüngere Generationen mit „1968“ eine „Veränderung von ‚Tonlage‘, ‚Tonart‘, ‚Stimmung‘, ‚Stil‘, ‚starren Umgangsformen durch das Aufbrechen von Autorität‘“ verbinden. Offen bleibe jedoch der spezifische Zusammenhang zwischen diesen Veränderungen und den Studierendenprotesten und damit „die Frage, ob zu den Wandlungen nicht vielmehr allgemeine gesellschaftliche Veränderungen geführt haben könnten, ‚ein die ganze Gesellschaft erfassender, mit ‚68‘ nicht identischer evolutionärer Zeitgeist‘“. Sie verweisen in diesem Zusammenhang auf Zeitzeugen, die aussagen, den einsetzenden Wandel bereits Anfang bis Mitte der 60er Jahre beobachtet zu haben, und da 11 Alexander von Brünneck, Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1968, Frankfurt a. M. 1978. 12 Joachim Perels, Kritische Theorie und Frankfurter Schule, in: Detlef Clausen/­Oskar Negt/Michael Werz (Hg.), Philosophie und Empirie. Hannoversche Schriften 4, Hannover 2001, S. 146–166, hier 166. Vgl. auch Sonja Buckel/Andreas Fischer-Lescano/Felix Haschmann, Die Geburt der Kritischen Justiz aus der Praxis des Widerständigen, in: Kritische Justiz 41 (2008) H. 3, S. 235–242. 13 Vgl. dazu Freia Anders, Juristische Gegenöffentlichkeit zwischen Standespolitik, linksradikaler Bewegung und Repression: Die Rote Robe (1970–1976), in: Sozial.Geschichte Online 8 (2012), S. 9–46 (http://www.stiftung-sozialgeschichte.de). 14 Hermann Weinkauff, Die deutsche Justiz und der Nationalsozialismus. Ein Überblick, Stuttgart 1969, S. 180, S. 188. Vgl. dazu Müller, S. 201.

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her die Studentenproteste lediglich in der Rolle eines „Verstärkers“ sehen. Pierson und Rockmann betonen demgegenüber die grundsätzliche methodische Schwierigkeit, die Folgen einer Protestbewegung zu erfassen. Erschwerend komme im konkreten Fall hinzu, dass die „68er“ jung gewesen seien und erst viele Jahre später die Möglichkeit erlangten, „ihre Vorstellungen umzusetzen“, so dass es fraglich sei, „in welchem Zusammenhang auch immer diese dann noch zu ‚1968‘ standen“. Drei Leitideen der „68er“, an denen die Wirkungen ihrer Arbeit zu messen wären, machen sie aber dennoch aus: „Basisarbeit, Rechtskritik und Selbstorganisation“.15 Die drei Leitideen fügen sich nahtlos in die kognitive Orientierung der New Left, Neuen Linken, die die zentralen Trägergruppen der 68er Bewegungen in den westlichen Industrieländern stellte und auch die Mobilisierungsstrategie der APO in der Bundesrepublik prägte. Die Neue Linke vermittelte ein neues Verständnis von Politik. Es implizierte, Missstände nicht einfach in die etablierten Kanäle der Politik abzuleiten, sondern sich ihrer anzunehmen, sie zu artikulieren, auf sie aufmerksam zu machen, Wege und Mittel zu ihrer Lösung zu reflektieren und Lösungsmodelle experimentell zu erproben. Die Neue Linke setzte auf eine Politisierung und Demokratisierung der Gesellschaft „von unten“. Ihr Politikverständnis überschnitt sich mit dem der Bürgerbewegung in Prag, die Praktiken einer „societas civilis“, Zivilgesellschaft, gegen den Etatismus und demokratischen Zentralismus des realen Sozialismus setzten. Sozialismus konnte und sollte sich nicht erschöpfen in der Eroberung der politischen Macht und der Verstaat­lichung der Produktionsmittel, sondern die Machtbeziehungen, Autoritätsstrukturen und Hierarchien in allen gesellschaftlichen Bereichen aufheben. Veränderungen im kulturellen Bereich, so die Prämisse, mussten der sozialen und politischen Transformation vorausgehen, neue Kommunikations- und Lebensformen antizipatorisch und experimentell entfaltet werden durch die Schaffung von neuen Kulturidealen und deren Umsetzung in Subkulturen sowie Erprobung als Gegenmacht innerhalb der bestehenden Institutionen. Die Neue Linke war antiautoritär und antihierarchisch, antiinstitutionell und antibürokratisch. Provokativ und spielerisch beschritt sie den Weg, Machtverhältnisse in Staat und Gesellschaft zu verändern durch die Veränderung der Denk- und Wahrnehmungsschemata, der Sicht- und Teilungskriterien der sozialen Welt. Die Herstellung von „Gegenöffentlichkeit“ vor Gericht und in der Rechtswissenschaft war Teil dieser Strategie.16 Soziale Bewegungen sind ein fluides Phänomen. Sie können nicht dauerhaft in Bewegung sein. Sie zerfallen nach einer Phase der Mobilisierung, werden überführt 15 Alle Zitate: Thomas Pierson/Michael Rockmann, Editorial 1968 und das Recht, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 92 (2009) H. 2, S. 111–114. 16 Vgl. dazu Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.) 1968 – Eine Wahrnehmungsrevolution? HorizontVerschiebungen des Politischen in den 1960er und 1970er Jahren, München 2013; dies., 1968 – Eine Zeitreise, Frankfurt a. M. 2008, dies., Die 68er Bewegung. Deutschland, West­ europa, USA, München 42008.

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in Organisationen (Parteien, Sekten) oder Nachfolgebewegungen, oder sie werden von bestehenden Parteien aufgesogen. Die APO, zusammengesetzt aus drei Teilbewegungen – Studentenbewegung, Opposition gegen die Notstands­gesetze und Kampagne für Demokratie und Abrüstung – war eine „negative Koalition“ zur Abwehr der Bedrohung der Demokratie durch die Notstandsgesetze. Sie hatte kein politisch fixiertes, entscheidungsfähiges Ziel und zerfiel, als die Notstandsgesetze Ende Mai 1968 vom Parlament angenommen wurden. Zum Zerfall der Bewegung trugen Kontroversen über die Organisations- und Gewaltfrage bei. Diese Kontroversen wurden nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch in Frankreich, Italien und den USA geführt. Überall waren im Verlauf des von der antiautoritären Linken angefachten Mobilisierungsprozesses der Protestbewegungen Gruppen erstarkt, die sich an Leitideen der alten Linken orientierten und damit auf Aktion durch Organisation sowie die Arbeiterklasse als zentrales historisches Subjekt im Prozess des Wandels von Gesellschaften setzten. Der Einfluss des antiautoritären Flügels innerhalb des SDS und der Studentenbewegung wurde dadurch zugunsten der Deutungsmacht rivalisierender, neu entstandener trotzkistischer, marxistischleninistischer oder maoistischer Kadergruppen gebrochen. Diese griffen die vom SDS kurz vor seiner Auflösung beschlossene (Anti-)Justizkampagne auf, bot sie doch nach dem Zerfall der APO die Chance, die Studentenbewegung nicht zuletzt unter dem Druck von circa 10.000 anhängenden Strafverfahren weiterzuführen.17 Einer dieser Prozesse war der sog. Kaufhausbrandstifter-Prozess in Frankfurt, der am 31. Oktober 1968 mit einer Freiheitsstrafe von drei Jahren Zuchthaus endete. Wegen schwerer Brandstiftung angeklagt waren Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Thorwald Proll und Hans Söhnlein. Ihnen wurde zur Last gelegt, in der Nacht zum 3. April 1968 in der Geschäftsetage eines Frankfurter Kaufhauses einen Brandsatz gelegt zu haben. Als die Revision gegen das Urteil erfolglos ­ ndreas blieb, tauchten drei der Angeklagten im Juni 1969 unter. Zwei von ihnen – A ­Baader und Gudrun Ensslin – wurden 1970 Mitbegründer der Roten-ArmeeFraktion (RAF). Dieser ging es nicht darum, Macht- und Autoritätsstrukturen in Frage zu stellen, sondern den Umsturz des Staates einzuleiten. Dem Konzept der Stadtguerilla Carlos Marighellas folgend, entschied sie sich für den bewaffneten Kampf, um dieses Ziel zu erreichen. Die RAF stellte mit ihren gewaltsamen Aktionen das staatliche Gewaltmonopol in Frage und versuchte, die Verbundenheit der Bevölkerung mit dem Staat aufzubrechen.18 Nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in Italien, Frankreich und den USA bildeten sich im Zerfall der 68er Bewegung Untergrundgruppen. Der Über 17 Vgl. dazu Katja Nagel, Die Provinz in Bewegung. Studentenunruhen in Heidelberg 1­ 967–1973, Heidelberg 2009, S. 157 ff.; Dietrich Hildebrandt, „Justizkampagne“, in: Karin Buselmeier/Dietrich Harth/Christian Jansen (Hg.), Auch eine Geschichte der Universität Heidelberg, Mannheim 1985, S. 425–429. 18 Vgl. Gisela Diewald-Kerkmann, Frauen, Terrorismus und Justiz, Prozesse gegen weibliche Mitglieder der RAF und der Bewegung 2. Juni, Düsseldorf 2009, S. 33 f.; Willi Winkler, Die Geschichte der RAF, Berlin 2007.

Einleitung

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gang zum bewaffneten Kampf, der Gewalt gegen Menschen zur Handlungs­ maxime der Untergrundgruppen machte, wurde nur in Italien und der Bundes­ republik vollzogen. Im Kontext der Prozesse gegen Mitglieder der RAF wurden in der Bundesrepublik zahlreiche Änderungen des Strafrechts und der Strafprozessordnung vorgenommen.19 Die Rechte der Verteidiger wurden begrenzt. Die Anwälte in den RAF-Prozessen sahen sich dem Generalverdacht ausgesetzt, Sympathisanten und Mitglieder der terroristischen Vereinigung zu sein.20 Die Konflikte im Gerichtssaal verschärften sich im Verlauf des Stammheimer RAF-Prozesses.21 Wie erinnern Verteidiger, Richter und Bundesanwälte die Situation im Gerichtssaal während der APO- und RAF-Prozesse? Wie kommentieren sie rückblickend das Prozess- und Zeitgeschehen zwischen der Formierung der APO und dem Deutschen Herbst? Welche langfristigen Wirkungen schreiben sie der 68er Bewegung auf die Rechtskultur zu? Wie beurteilen sie rückblickend das Stammheim-Verfahren? Diese und andere Fragen stehen im Zentrum der dreizehn Interviews des vorliegenden Bandes, der, um das Spannungsverhältnis im Gerichtssaal in den Jahren 1967–1977 zu rekonstruieren, erstmals die Perspektiven von Verteidigern, Richtern und Bundesanwälten versammelt, neben- und gegeneinanderstellt und die Stimme eines politischen Beobachters, Gerhart Baum, einbezieht. Die Zeitdiagnosen der in ihren Rollen und Interessen divergierenden Akteure wurden in Form narrativer Interviews erhoben, die den Interviewpartnern die Möglichkeit einräumten, ihre Reaktionen, Positionen und Handlungsweisen in einzelnen Konfliktsituationen darzulegen und zu erläutern. Die Interviews wurden gefilmt und auf Band gespeichert. Für die Transkription der Bandaufnahmen danken wir Lars Frederic Koch und Carmen Platonina, für das Korrekturlesen von Teilen des Manuskripts Henning H. Damberg. Für die Unterstützung bei den Aufnahmen gilt unser besonderer Dank dem Regisseur und Filmemacher Bernd Liebner (Hamburg). Bedanken möchten wir uns last but not least bei allen Interview-Partnern, dass sie sich unseren Fragen vor laufender Kamera gestellt haben.

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Vgl. dazu Christopher Tenfelde, Die Rote Armee Fraktion und die Strafjustiz. AntiTerror-Gesetze und ihre Umsetzung am Beispiel des Stammheim-Prozesses, Osnabrück 2009. 20 Vgl. Heinrich Hannover, Terroristenprozesse. Erfahrungen und Erkenntnisse eines Strafverteidigers, Terroristen & Richter 1, Hamburg 1991. 21 Andreas Mehlich, Der Verteidiger in den Strafprozessen gegen die Rote Armee Fraktion: Politische Justiz und politische Strafverteidigung im Lichte der Freiheit der Advokatur, Berlin 2012; Volker Friedrich Drecktrah (Hg.), Die RAF und die Justiz. Nachwirkungen des „Deutschen Herbstes“, München 2010; Hellmut Brunn/Thomas Kirn, Rechtsanwälte – Linksanwälte. 1971 bis 1981 – das Rote Jahrzehnt vor Gericht, Frankfurt a. M. 2004.

I. Perspektive der Verteidiger

Klaus Eschen

Foto: privat

Geboren im Jahre 1939 1958–1962 Studium der Rechtswissenschaften an der FU Berlin 1964–1970 hauptsächlich als Photojournalist tätig 1967 Assessorexamen, dann als Anwalt in Berlin tätig 1969 Gründung des Sozialistischen Anwaltskollektivs mit Hans-Christian Ströbele und Horst Mahler Nach Auflösung 1979 weiter als Anwalt und ab 1982 auch als Notar in Berlin tätig Gründungsmitglied des Republikanischen Anwaltsvereins, 1987 bis 1991 Vorsitz 1993–2002 Notar in Brandenburg 1992–2000 Richter am Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin

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I. Perspektive der Verteidiger

Gisela Diewald-Kerkmann (DK): 1967 haben Sie das Studium abgeschlossen. Erinnern Sie sich noch an Ihre ersten Prozesse als Anwalt? Klaus Eschen (E): Es waren wenige Prozesse, die ich 1967 als Anwalt führte, weil ich noch als Bild-Journalist tätig war. Erinnern kann ich mich nur an einige Prozesse aus dem Bereich der Schah-Demonstration am 2. Juni 1967. Aber in erster Linie war es natürlich Horst Mahler, der die Prozesse geführt hat. Ich war erst ein Anfänger. Ingrid Holtey (H): Wenn ich Sie als Achtundsechziger bezeichnete, könnten Sie dem zustimmen oder wäre es präziser, Anwalt der Achtundsechziger zu sagen? E: Ich empfinde mich als Achtundsechziger und bin auch ein Anwalt der Achtundsechziger. Das gehört zusammen. H: Wie kamen Sie zur 68er Bewegung? E: Ich kam zur 68er Bewegung dadurch, dass ich Horst Mahler aus meiner Schulzeit kannte. Wir besuchten die gleiche Schule in Berlin. Da ich nach meinem Assessor-Examen 1967 vorhatte, mich als Anwalt niederzulassen, aber in erster Linie als Journalist zu arbeiten, habe ich ihn gebeten, mein Anwaltsschild bei ihm aufzuhängen. Es ergab sich jedoch aus der Entwicklung der Zeit, dass ich plötzlich viel mehr Freude und ein größeres Interesse an der anwaltlichen Tätigkeit hatte, während die journalistische Tätigkeit mich immer mehr langweilte. H: Sie haben den 2. Juni erwähnt. Sind Sie durch die Ereignisse des 2. Juni in Berlin politisiert worden, oder waren Sie das schon zuvor? E: Ich war das schon zu meiner Schulzeit. Die Juristenausbildung hatte mich allerdings in meiner Politisierung bestärkt, denn die Referendarzeit war im Grunde ein Desaster an Erfahrungen mit der Berliner Justiz. H: Waren Sie als Student Mitglied einer studentischen Gruppe, beispielsweise des SDS? E: Nein, Mitglied einer studentischen Gruppe war ich nicht. H: Oder des Republikanischen Clubs? E: Später, nach 1967. H: War diese Politisierung im Elternhaus vorgeprägt oder eine Politisierung gegen das Elternhaus? E: Die Politisierung war im Elternhaus vorgeprägt. Mein Vater war Jude, hat als Jude die Nazizeit überlebt. Meine Mutter war keine Jüdin. Sie war, wie man sagte, Arierin, gehörte zu den Frauen, die in der Rosenstraße demonstriert haben. Also, es war ein politisches Elternhaus, in dem ich aufgewachsen bin. H: Ging Ihre Kritik an der Gesellschaft über die Kritik am Justizsystem hinaus?

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E: Die Justiz ist Ausdruck der gesellschaftlichen Verhältnisse. Wir waren der Meinung, dass die Justiz sich nur ändert, wenn sich auch die gesellschaftlichen Verhältnisse und das Bewusstsein der Bevölkerung ändern. H: Standen Sie in Kontakt zu Repräsentanten der Außerparlamentarischen Opposition wie Rudi Dutschke oder Hans Magnus Enzensberger? E: Ja. Ich hatte Kontakt zu den Studenten und den damaligen universitären Auto­ritäten, dem SDS und ähnlichen Gruppen. Die Literaten waren nicht so mein Fall. H: Ihr Kollege Heinrich Hannover hat den Ausdruck „neuer Typus des Anwalts“ geprägt. Könnten Sie für Ihre Tätigkeit ab 1967/1968 diesen Begriff übernehmen? E: Wenn Heinrich Hannover sagte, dass wir einen neuen Typus als Anwalt repräsentierten, ist das auf jeden Fall richtig. Die Anwaltschaft in Deutschland, soweit sie konservativ geprägt war, lebte immer noch in der Vorstellung als Organ der Rechtspflege mit den Richtern und den Staatsanwälten „Kameraden in einer Rechtsfront“, wie sie in der Nazizeit geprägt worden war, zu sein. Wir waren der Meinung, dass wir als Anwälte zwar Organe der Rechtspflege sind, aber unsere Aufgabe gerade darin besteht, einseitig gebundene Interessenvertreter unserer Mandanten zu sein, also die Gegenmacht gegen die staatlichen Institutionen zu realisieren, im Interesse des Bürgers, der vor Gericht steht. H: Hatten Sie Vorbilder für diese Definition der Rolle des Anwalts und wenn ja, welche? E: Ja, es gab Vorbilder für diese Rolle: zum Beispiel Hans Litten. Er war einer der Verteidiger, der während der Weimarer Republik stark und engagiert gegen die Naziverbrecher, die Nazikriminalität aufgetreten ist. Er hat Hitler in den Zeugenstand rufen lassen und hat dafür nach 1933 auch entsprechend leiden ­müssen. H: Waren Personen wie Litten bereits 1967 in ihrem Kopf? E: Das kann ich nicht mehr sagen. Wir lebten sehr stark in der aktuellen Situation und haben im Grunde nichts anderes getan, als die Strafprozessordnung von vorne nach hinten zu lesen und die Rechte unserer Mandanten unter Umständen auch gegen den Konsens im Gerichtssaal und gegen das einvernehmliche Klima im Gerichtssaal ins Feld zu führen. Das führte zu enormen Konflikten mit den Richtern und den Staatsanwälten, aber wir haben für unsere Mandanten gefochten. H: Hat die Studentenbewegung dazu beigetragen, dass Sie diese neue Rolle entwickelt haben? E: Die hat uns den Rückenwind gegeben. Als Referendar war ich mit meinem Bewusstsein in Berlin-Moabit ein Alleinkämpfer. Ich konnte nicht damit rechnen, dass irgendjemand dort Verständnis für mich hatte oder, wenn er es hatte, dieses

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auch zeigte, weil jeder, der sozusagen aus der Reihe tanzte, eigene Repressionen – und sei es nur sozialer Art in der Kantine oder sonst wo – zu befürchten hatte. H: Aber die Idee, eine neue Rolle des Anwalts vor Gericht zu prägen, ist un­ abhängig von der Studentenbewegung entstanden? E: Nein. Es war gerade die Studentenbewegung, eine Klientel, eine Mandantschaft, die auch gegen die Institutionen gerichtet war, die es uns ermöglichte, vor Gericht entsprechend aufzutreten. H: Sie haben 1969 mit Horst Mahler und Hans-Christian Ströbele das „Sozia­ listische Anwaltskollektiv“ gegründet. Worin unterschied sich diese Kanzlei von anderen Kanzleien? E: Als wir 1969 das „Sozialistische Anwaltskollektiv“ gründeten, hatten wir die Vorstellung, erstens, nur von unten gegen oben zu vertreten, sei es im Straf- oder Zivilprozess, also einen Mieter gegen einen Vermieter, Bürger gegen den Staat, Frauen gegen Männer, Kinder gegen Eltern, Arbeitnehmer gegen Arbeitgeber. Es war eine einseitige parteiliche Vertretung. Man muss dabei bedenken, dass zu jener Zeit im Bewusstsein der Bevölkerung die Möglichkeit, Rechte gegenüber milieunahen Bereichen, milieunahen Gegnern wahrzunehmen, unterentwickelt war. Die Garantie des Grundgesetzes war von vielen Bürgern noch nicht verinnerlicht und wahrgenommen worden, und wir waren der Meinung, dem Bürger Mut machen und ihm die Angstschwelle vor der Justiz oder vor der Beschreitung des Rechtsweges nehmen zu müssen. Deswegen fühlten wir uns gerade denen verpflichtet, die eben in dieser Weise ungeübt waren. H: Sahen Sie darin ein Stück Demokratisierung und Abbau von Herrschaft? E: Wir haben darin ein Stück von Demokratisierung gesehen. Wir waren von der Vorstellung getragen, dass wir die Grundrechte des Grundgesetzes in den Justizalltag überführen. Das war zu jener Zeit noch nicht gegeben, obwohl das Grundgesetz schon zwanzig Jahre galt. H: Bekamen – wie später bei der taz – innerhalb der Kanzlei alle dasselbe Gehalt? E: Wir verdienten alle dasselbe. Auch die Mitarbeiterinnen in der Registratur verdienten, was wir verdienten. Wir waren der Meinung, unsere Arbeit bedürfe deren Mithilfe und sie könnten nicht arbeiten, ohne dass wir tätig waren. Wir haben unsere Arbeit nicht hierarchisch, sondern arbeitsteilig gesehen, mit der Folge, dass wir auch die Einkünfte geteilt haben. H: Warum haben Sie diese Kanzlei aufgelöst? E: Wir haben das Kollektiv 1979 aufgelöst, weil wir nach den Erfahrungen, die wir gemacht hatten, einfach unterschiedliche Wege gegangen sind. Der Weg von Horst Mahler ist bekannt. Ströbele ging zu den Grünen, zuerst zur Alternativen Liste (AL) in Berlin und dann zu Bündnis 90/Die Grünen. Ich bin am Tag, als

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Helmut Kohl seinen ersten Amtseid geleistet hat, in die SPD eingetreten, bin mithin wiederum einen ganz anderen Weg gegangen. H: Sie sind zum Verfassungsgerichtshof gekommen. Belegt ihr Lebensweg die These vom „Marsch durch die Institutionen“? E: Ja, sicher. Mein Anliegen war, die Grundrechte des Grundgesetzes zu rezipieren in das Bewusstsein der Bevölkerung und vor allen Dingen der Justiz, damit sie alltägliche Anwendungen finden. Das ist schon der „Marsch durch die Institutionen“. Aber ich war auch immer der Meinung, dass die Verfassung, hier also das Grundgesetz, eine wertvolle Angelegenheit ist, die man erst einmal erproben sollte, bevor man eine revolutionäre Attitüde annimmt. Sicherlich hängt das mit meiner biographischen Herkunft zusammen. Man muss bedenken, Juden waren immer nur sicher, wenn ein Herrscher oder ein Gesetz sie geschützt hat. Die Gesellschaft, die Umgebung, die Nachbarn, die Institutionen haben sie nie wirksam geschützt. Sie konnten sich nie darauf verlassen. Deswegen war mir wahrscheinlich wichtig, dass das Grundgesetz höher gehalten wird als viele von meinen damaligen Genossen es geschätzt haben. H: Hat aus Ihrer Sicht die 68er Bewegung das Justizsystem verändert? E: Nach meiner Meinung hat die 68er Bewegung das Justizsystem gewaltig beeinflusst und zwar zum Positiven, im Sinne einer Demokratisierung. Das ist nicht nur eine Generationenfrage gewesen, sondern man muss bedenken, dass unsere Art engagiert zu verteidigen dazu geführt hat, dass die Mandanten auch von konservativen Anwälten erwarteten, dass diese nicht mit den Richtern und Staats­ anwälten „kungelten“, sondern auf Seiten der Mandanten standen. Das führte dazu, dass die konservativen Anwälte, die uns am liebsten zuvor ausgegrenzt und die Zulassung genommen hätten, plötzlich ihre „Fälle“ davon schwimmen sahen und selber aggressiver wurden. Dies hat zudem dazu geführt, dass die Rechte der Angeklagten vor Gericht sowie der Beschuldigten gegenüber der Staatsanwaltschaft stärker wurden und niemals so stark waren, wie sie es heute sind. Im Sinne eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens oder eines rechtsstaatlichen Verwaltungsgerichtsverfahrens ist das ein enormer Fortschritt. Es geht um diese Menschen, nicht darum, dass ein Richter Recht hat, sondern einem Bürger Recht geschieht. H: Hat sich dadurch das Verhältnis Anwalt – Richter verändert? E: Nach meiner Erfahrung hat sich das Verhältnis Anwalt – Richter insofern verändert, dass Richter gelassener geworden sind. Sie haben ein größeres Verständnis für die Konfliktsituation, ob im Zivil- oder Strafprozess. Und die Anwälte sind – das ist aber auch eine Qualitätsfrage – selbstbewusster geworden. Sie haben das Bewusstsein entwickelt, dass ihre Aufgabe vor Gericht unmittelbar aus dem Grundgesetz folgt, sie mithin nicht wegen der Zulassung da stehen, sondern aus dem Grundgesetz legitimiert sind, vor Gericht die Interessen ihrer Mandanten zu vertreten.

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DK: Sie haben davon gesprochen, dass die Berliner Justiz und mehr oder weniger die ganze Justiz ein Desaster gewesen sei. E: Die Justiz war, nach meinem Erleben, insofern ein Desaster als beispielsweise ein großer Teil der Richter in der Nazizeit beruflich sozialisiert worden war. Wir hatten einen Strafkammervorsitzenden, der im Zweiten Weltkrieg Panzer­ major gewesen war. Ein Vorsitzender Richter war Inhaber des Bandenkampfabzeichens aus dem Ostfeldzug. Ein weiterer Vorsitzender Richter war Mitglied der Reiter-SS gewesen, tat allerdings so als wäre das nur ein Reitverein gewesen. Aber das war nicht so. Dahinter stand natürlich ein Bekenntnis. Wir Anwälte, die Demonstranten vertraten, die ein Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit wahrgenommen hatten, hegten deshalb große Zweifel, ob solche Richter die Wahrnehmung demokratischer Rechte tatsächlich zu respektieren in der Lage waren. Das hat das ganze Klima auch im Bereich der sogenannten normalen Kriminalität bestimmt. Von kriminologischem oder psychologischem Verständnis für Angeklagte oder von der Frage, warum Menschen Straftaten begehen, waren diese Richter völlig unbeleckt. Sie verurteilten Leute zu Haftstrafen von mehreren Jahren, ohne je ein Gefängnis von innen gesehen zu haben. Sie hatten überhaupt keinen Maßstab für das Strafmaß außer ihren eigenen Projektionen. Wenn man als Referendar Zweifel äußerte, wurde einem über den Mund gefahren und die Kollegen Referendare, die vielleicht der gleichen Meinung waren, haben einem erst auf dem Flur gesagt, wie richtig sie das fanden. In der Beratung selber haben sie den Mund nicht aufgetan. Man konnte gar nicht die Erwartung hegen, dass die Kollegen aus der gleichen Generation einen neuen Wind in diese Flure bringen würden. Diese Vereinsamung, die man als denkender Jurist in Moabit erfuhr, hat dazu geführt, dass ich mich erst aus dem ganzen Apparat und aus der Justiz entfernen wollte, bis eben die Studentenbewegung den Rückenwind brachte. DK: Was fällt Ihnen ein, wenn Sie an die Befreiung von Andreas Baader im Mai 1970 denken? E: Mir fällt zur Befreiung von Andreas Baader – und ich rede ganz offen – ein, dass ich entsetzt war. Ich kann das heute sagen, weil ich mich selber äußere und nicht in der Rolle des Verteidigers spreche. Ich bin nicht durch eine Loyalitätspflicht gebunden. Ich war entsetzt, weil ich der Meinung war, dass das eine sehr ungute Aktion war, nicht zuletzt weil ein Mensch lebensgefährlich verletzt worden war. Es war aber auch ein Schlag gegen eine reformerische Bewegung im Strafvollzug. Baader hatte in Anspruch genommen ausgeführt zu werden, weil er ein Buch schreiben wollte. Das war für einen Zuchthäusler, der er damals war, eine enorme Vergünstigung. Es war ein Fortschritt im Strafvollzug, dass dem Gefangenen die Möglichkeit gegeben wurde, sich im Knast nicht nur Tüten klebend, sondern auch wissenschaftlich zu betätigen. Baaders Befreiung bewirkte, dass mit solchen Begünstigungen Schluss gemacht wurde. Es war für mich ein un­solidarischer Akt gegenüber Mitgefangenen, die die gleichen Möglichkeiten zu bekommen erhofften. Abgesehen davon habe ich die ganze Aktion für abenteuerlich gehalten.

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DK: Und als Sie das Fahndungsplakat von Ulrike Meinhof gesehen haben? E: Das Fahndungsplakat von Ulrike Meinhof hat mich kalt gelassen, weil es eine logische Folge der ganzen Geschichte war. Dass gefahndet und Ulrike Meinhof verdächtigt wurde, sich an der ganzen Aktion aktiv beteiligt zu haben, war doch logisch. DK: Wenn Sie das gesellschaftliche Klima 1970 mit dem nach den Sprengstoffanschlägen 1972 vergleichen, welche Unterschiede würden Sie hervorheben? E: Es gab zwischen 1970 und 1972 eine Klimaverschiebung, aber keine direkte Verschärfung. 1970 war das politische und gesellschaftliche Klima noch sehr stark gegen die gesamte Studentenbewegung gerichtet, deren Repräsentanten – gerade in Westberlin – als Außenseiter, Randalierer, bärtige Monster gesehen und dargestellt wurden. Der ordentliche Berliner sagte: „Geht doch rüber zu Ulbricht“. Der noch viel ordentlichere Berliner Bürgermeister Klaus Schütz sagte: „Man müsse diesen Typen ins Gesicht schauen“. Noch viel ordentlichere Gewerkschafter sagten: „Lasst Bauarbeiter ruhig schaffen, kein Geld für langbehaarte Affen“. Damit waren die Studenten gemeint. Dies alles bestimmte das Klima und erklärte, was manch einen dazu brachte, zu sagen, in dieser Gesellschaft können wir legal nichts mehr erreichen, sondern nur noch mit revolutionärer Gewalt, oder jedenfalls illegal was tun. Dieses Verständnis erschien auch uns als Verteidigern durchaus plausibel. Wir waren als Verteidiger nicht verzweifelt, sondern konnten die Standpunkte unserer Mandanten weitgehend in ihrem Sinne deutlich machen. 1972 ging es mehr um die Anschläge. Das Klima war insofern anders, als dass der gesamte Fahndungsdruck des Polizeiapparats und der Staatsanwaltschaften auf die gesamte Linke schärfer wurde. Da wurde nicht mehr differenziert, sondern wer „Baader-Meinhof-Gruppe“ statt „Baader-Meinhof-Bande“ sagte, galt schon als Sympathisant. Die Bereitschaft des sogenannten Establishments und vor allen Dingen von Justiz und Polizei, jemanden zum Sympathisanten zu stempeln, war sehr groß. Es ging ganz schnell. Wenn in Buchhandlungen Publikationen beschlagnahmt werden sollten, wurden bei der Durchsuchung erst die Personalien aller Anwesenden erfasst. Die Folge war in der Zeit der Berufsverbote, dass ein großer Teil der Leute Angst bekam, überhaupt in Buchhandlungen zu gehen, weil man sich immer der Kontrolle der entsprechenden Behörden, des Verfassungsschutzes oder der Polizei, vergegenwärtigen musste. Das war ein Schlag gegen alternative Projekte, weil diese von ihrer Klientel isoliert wurden. DK: Wie haben Sie diese Zeit wahrgenommen? E: Bedrückend! Ich habe die Zeit als bedrückend wahrgenommen. Wir hatten im Büro gelegentlich Durchsuchungen. Wir waren Außenseiter. Wir hatten in der Justiz und in der Öffentlichkeit wenig positive Resonanz. Wir mussten folglich unsere revolutionäre Energie von unseren Mandanten und aus unserem Bewusstsein herleiten. Das bestärkte uns wieder. Wir waren der Meinung, wir seien auf der richtigen Seite. Wir kämpften für das Richtige. Mit unserer Entschlossen-

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heit haben wir auch in der Bevölkerung und in den Publikationen einen gewissen Rückhalt gefunden. DK: Warum wurden die Kanzleiräume durchsucht? E: Zunächst ging es um Horst Mahler, der in den Untergrund gegangen war. Sodann ging es um Kollegen als beispielsweise Hans-Christian Ströbele der Unterstützung der RAF beschuldigt wurde. Man suchte nach Beweismitteln und war glücklich, in den Akten zu blättern, um zu lesen, was wir gemacht hatten. Diese ganzen Geschichten haben jedoch dazu geführt, dass wir in weiten Bereichen der Bevölkerung als eine Art letzte Rettung angesehen wurden. Viele Mandanten meinten, wenn einer helfen könne, seien wir das, weil wir entschlossen vorgingen und uns nicht von irgendwelchen Sympathien oder Opportunitäten ver­ einnahmen ließen. H: Wollten Sie den Gerichtssaal zu einem Tribunal der öffentlichen Meinung machen? E: Uns war es wichtig, im Gerichtssaal zum einen erst einmal Öffentlichkeit über den Saal und die Presseberichterstattung hinaus zu schaffen und zum anderen in einer Weise zu argumentieren, die über die Frage hinaus ging, ob der Tatvorwurf zutrifft oder nicht. Ein ‚normaler‘ Krimineller – ein Dieb, ein Betrüger, ein Mörder – stellt die Rechtsordnung nicht in Frage, sondern bricht sie nur. Für ihn steht die Rechtsordnung nicht zur Disposition. Während ein großer Teil unserer Mandanten und erst recht die RAF die Rechtsordnung nicht als Maßstab ihres Handelns ansahen, nahmen wir für unser Handeln Gerechtigkeit in Anspruch, legitimiert durch eine gerechte, revolutionäre Gesellschaft. Daraus folgte: Wenn man diese Mandanten verteidigte, musste man ihre Motivation auch im Gerichtssaal darstellen. Diese Darstellung verlangte, dass man die Verhältnisse, die zu ihrer revolutionären Haltung geführt hatten, aufzeigte, und das war zu jener Zeit die Verquickung der Bundesrepublik mit dem US-amerikanischen Vietnamkrieg: Die Lieferung von Agent Orange durch deutsche Chemiefirmen zur Entlaubung des Urwaldes in Vietnam an die USA, die Gewährung der Stützpunkte in Deutschland bis hin zur politischen Unterstützung dessen, was wir als Völkermord in Vietnam angesehen haben. Im Gerichtssaal haben wir entsprechende Beweisanträge gestellt, die alle abgelehnt wurden. Aber die Beweisanträge zu stellen, bedeutete schon, die Motivation und den politischen Anspruch der Mandanten in die Diskussion des Gerichts zu bringen. Wir haben nicht gehofft, die Richter zu überzeugen, aber im Zuschauerraum saßen nicht nur linke Sympathisanten, sondern auch Polizisten. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass, wenn wir Verhandlungspause hatten, manche Kollegen Verteidiger sagten: „Also mit den Bullen reden wir nicht“. Mir war immer wichtig, diese Menschen, die da saßen, auch wenn sie eine Uniform anhatten, ernst zu nehmen, und da gab es enorme Diskussionen. Da merkte man plötzlich, ein Polizist ist ein denkender Mensch, der selber in der Lage ist, seine Situation zu reflektieren und zu zweifeln. Das waren erstaunliche Erlebnisse, die man da gehabt hat.

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DK: In den Medien wurden die Anwälte als „Komplizen“ oder sogar „Bomben­ leger“ bezeichnet. E: Wir waren enttäuscht und verbittert darüber, dass intelligente, nachdenk­ liche, verständnisvolle Leute, als die wir Journalisten gesehen hatten, sich in einer Weise gleichschalten ließen und in ihren Publikationen vorauseilenden Gehorsam übten. Es gab auch Journalisten, die zu uns kamen und sich als Sympa­thisanten gerierten. Erst wenn sie geschrieben haben, merkte man, dass sie uns im Grunde nur „angezapft“ hatten. Vielfach haben wir es nicht für möglich gehalten, wozu Richter in ihren Entscheidungen fähig waren, zum einen was die Haftentscheidungen anbelangte und zum anderen konkret die Beschränkungen der Mandanten während der Untersuchungshaft, die krankmachende Isolation. Jeder weiß, wenn man zu lange in einem Krankenhaus ist, dass sich so etwas wie Hospitalismus einstellen kann. Mit anderen Worten: Psychische Veränderungen sind die Folge, die man wieder überwinden muss. Allein solche Banalitäten waren, bezogen auf die Haft und die Isolierung in der Haft, vielen Richtern nicht beizubringen. Sie zeigten sich stur und sagten: „Die sind gefährlich, die werden isoliert“. Es wurde gegen Staatsanwaltschaft oder Bundesanwaltschaft kaum entschieden. Es gab nur ein oder zwei Richter, die versucht haben dagegen zu halten. Sie wurden schnell durch höhere Instanzen oder auf anderem Wege aus diesem Bereich herausgenommen. Medizinische Kapazitäten von Weltgeltung, die keine Sympathisanten waren, sondern nach ihrem ärztlichen Ethos urteilten, wurden von irgend­einem Richter am Oberlandesgericht oder Kammergericht abgefertigt als wären sie Kurpfuscher in irgendeinem obskuren Heilbad. Dies zeigte, dass man im Grunde kaum Hoffnung haben konnte, in den Gerichten mit intellektueller Redlichkeit irgendetwas zu erreichen. DK: Wie haben Sie 1974 vom Tod von Holger Meins erfahren? E: Das weiß ich nicht mehr, kann ich heute nicht mehr sagen. Ob ich es über das Fernsehen erfahren habe oder über Nachrichten aus dem Bereich der Verteidiger, erinnere ich nicht mehr. DK: Wie haben Sie reagiert? E: Ich habe das als eine ganz tragische und empörende Angelegenheit erfahren. Wie die Verteidiger, wie meine Kollegen es geschildert haben, hätte Holger Meins gerettet werden können. Aber der zuständige Anstaltsarzt war verreist oder im Urlaub und Holger Meins in seinem Todeskampf praktisch ohne medizinische Hilfe. Es wurde auch keine medizinische Hilfe geholt, so dass man sich fragen konnte, wer ein Interesse an diesem Tod gehabt haben kann. Diese Frage kann man vielfach beantworten. DK: Wie wurde sie diskutiert? E: Man konnte das nicht diskutieren in der Öffentlichkeit. Intern wurde das natürlich diskutiert und zwar mit ganz unterschiedlichen Meinungen.

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DK: Einige Tage später wurde Günter von Drenkmann ermordet. E: Ich fand diese Ermordung bekloppt. Ich war immer der Meinung, man müsse diese Leute intellektuell oder satirisch oder sonst wie angreifen. Sie umzubringen, war eine Form von Radikalität, die nicht nur unmenschlich war, sondern – ich bin gegen die Todesstrafe, darum auch gegen die Vernichtung von Leben – politisch, menschlich saublöd. DK: Haben Sie bei den isolierten Haftbedingungen an Ulrike Meinhof in KölnOssendorf gedacht? E: Ja, in Köln-Ossendorf war Ulrike Meinhof isoliert und auch Astrid Proll. Es war ein toter Trakt. Ein ganzer Flügel des Gefängnisses wurde für zwei Gefangene leer geräumt, die den ganzen Tag keine anderen Menschen sehen sollten als die uniformierten Beamten. Als Kontakt zur Außenwelt bestand lediglich die Presse. Sie bekamen Zeitungen, konnten Radio hören, teilweise auch fernsehen, aber die menschliche Interaktion, die nicht durch irgendein Stück Papier oder ein Stück Technik repräsentiert wurde, war ihnen verschlossen. Mit den Beamten konnten sie nicht reden, das war ganz ausgeschlossen, jedenfalls nichts, was über „Danke“, „Bitte“ oder „Guten Tag“ hinausging. Das Ganze führte zu einer Verarmung in der Kommunikation, die starke psychosomatische Folgen hatte. Beide litten nach einiger Zeit an viel zu niedrigem Blutdruck, das heißt ihre Motivationsmöglichkeit sackte ab. Sie haben keine Initiative mehr gehabt. Es war ein sich selbst verstärkender Regelkreis. DK: Wie wurden diese Haftbedingungen begründet? E: Es wurde damit begründet, dass die RAF innerhalb des Gefängnisses nicht fortbestehen und unter den Mitgefangenen keine Sympathisanten bilden sollte. Es bestand immer die Gefahr, dass sie mit ihrer Eloquenz und ihrer politischen Überzeugungskraft, ihrem Charme unter Umständen unter den Mitgefangenen Sym­ pathisanten werben oder Sympathien erzeugen konnten, die innerhalb der Gefängnisse die Ziele der RAF hätten fortsetzen können. DK: Fanden Sie diese Begründung stichhaltig? E: Ich fand diese Begründung in mehrfacher Hinsicht nicht stichhaltig. Zum einen war das eine Fehleinschätzung der Verhältnisse und der Diskussionsmöglichkeiten im Gefängnis. Zum anderen war es Sache der Gefängnisse, diese Interaktion aufzufangen. Von den RAF-Gefangenen wurde gefordert, dass sie in interaktionsfähigen Gruppen zusammengelegt werden sollten. Das galt aber als Fortsetzung der Bandentätigkeit. Die Haftbedingungen erzeugten unter vielen jungen Leuten außerhalb der Gefängnisse eine solche Gegnerschaft gegen die staat­ lichen Institutionen, dass hieraus ein Rekrutierungspotential entstand. DK: Wurde dieses Problem der Rekrutierungsbasis in der öffentlichen Diskussion gesehen? E: Es wurde wahrgenommen, und dem versuchten die Medien und die staatlichen Institutionen durch entsprechende, sei es angstmachende, sei es aber auch re-

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pressive Handlungen zu begegnen. Sie wissen vielleicht, dass, wenn irgendwo an eine Hauswand „RAF lebt“ gesprüht wurde, das als Unterstützung einer kriminellen Vereinigung galt und den gesamten Apparat des Staates gegen ein Würstchen, einen Schüler oder eine Schülerin oder einen Studenten, in Gang setzen konnte. Es führte zu Hausdurchsuchungen, versetzte Familien, die Schule oder die Lehrstelle in Aufruhr und erzeugte ein enormes Angstpotential. Die Geister schieden sich an der Frage: „Folgt man dieser Angst und verhält man sich konform?“ Der Paragraph 129 StGB, der die Bildung und Unterstützung einer kriminellen Vereinigung betrifft, ist praktisch ein „Berührungsdelikt“. Danach ist strafbar, wer die Unterstützung eines Unterstützers unternimmt. Sie können eine völlig legale Handlung begehen: Sie kaufen ein Brötchen, geben dieses Brötchen einem Menschen, der Unterstützer ist, und unterstützen mit dieser Übergabe, die für sich nicht strafbar ist, die kriminelle Vereinigung. DK: Wie kam es zu dem riesigen Bau von Stammheim? E: Da kann ich nur spekulieren. Ich wehre mich immer ein bisschen dagegen, der damaligen Gegenseite allzu strategisches Denken zu unterstellen, aber dieser Bau war die Beton gewordene Vorverurteilung. So einen Bau gegen so eine „Bande“ zu errichten bedeutete, die können nicht mehr frei gesprochen werden, sie können auch nicht weniger als lebenslänglich kriegen. Alles andere würde diesen Bau ad absurdum führen. In dem Bau konnte man keinen ordentlichen Prozess mehr führen. DK: Uwe Wesel schreibt, die Auswahl des Gericht und des Vorsitzenden Richters sei kein Zufall gewesen. E: Ich halte Wesels Auffassung für wahrscheinlich. DK: Dass auch der Vorsitzende Richter bewusst gewählt wurde. E: Ich meine, sie müssten vom Teufel geritten gewesen sein, den Vorsitz in einem solchen Prozess nicht sorgfältig auszuwählen. Wenn ich politisch die Verantwortung gehabt hätte, hätte ich mir auch überlegt, ob dieser oder jener Richter geeignet ist. Dementsprechend kann man mit den Gremien in einem Gericht den Geschäftsverteilungsplan so gestalten, dass eine Person Vorsitzender Richter in dem Verfahren wird, der man die Führung dieses Prozesses zutraut. Das ist durchaus möglich. DK: Wie wurde der Stammheim-Prozess in den Medien dargestellt? E: Die Darstellung Stammheims in den Medien war ambivalent, weil sich die Absurdität der Verfahrensweise in den liberaleren oder etwas kritischeren Medien schon sehr bald bemerkbar machte. Dagegen gab es unter den Konservativen und insbesondere in der Springer-Presse eine ganz andere Auffassung. Die fanden es richtig, dass der Prozess mit aller Härte geführt wurde. Aber im Grunde begann mit dem gesamten Komplex Stammheim die Erosion des allgemeinen Bewusstseins, dass das, was der Staat macht, alles richtig sei. Es entwickelte sich in der

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Öffentlichkeit ein kritisches Bewusstsein gegenüber dem Gericht, auch gegenüber den Pannen, die vor allen Dingen Prinzing passiert sind. DK: Sie sagen „Pannen“? E: Als „Panne“ würde ich das Verhalten Prinzings bezeichnen, das später zu seiner Ablösung wegen Befangenheit geführt hat: Sich beim nächsthöheren Strafsenat des Bundesgerichtshofes nach einer bestimmten Auffassung zu erkundigen, wie er sich bei dem Verfahren verhalten soll. Das geht nicht. Das ist ein Bruch der Unabhängigkeit der Justiz und weckt Zweifel an seiner Unbefangenheit. DK: Er hat später in einem seiner wenigen Interviews formuliert, es seien neue Angeklagte und neue Verteidiger gewesen. Erklären sich daraus die Pannen? E: Dass er sich mit ganz neuen – für ihn und die deutsche Justizgeschichte – unerprobten Situationen konfrontiert sah, ist klar. Diese Art von entschlossenen Verteidigern, die die Herrschaft über das Verfahren angegriffen, die Verfahrens­ leitung in Zweifel gezogen haben, hatte es zuvor nicht gegeben. H: Sehen sie in diesem Punkt einen Unterschied zwischen den APO-Prozessen 1968 und den Prozessen der 1970er Jahre, insbesondere dem StammheimProzess? E: Den Unterschied zwischen Stammheim und den APO-Prozessen würde ich eher quantitativ sehen, nicht qualitativ. Die Entschlossenheit und Aggressivität in den Prozessen waren zuvor auch vorhanden, aber unter ganz anderen Gesichtspunkten. Da ging es meist nicht um Mord und um kriminelle Vereinigungen. Von einigen Ausnahmen abgesehen war es, verglichen mit Stammheim, eine kommunikativere Atmosphäre. DK: Als die drei Verteidiger – Hans-Christian Ströbele, Klaus Croissant und Kurt Groenewold – zu Beginn ausgeschlossen wurden, war dies ein Novum? E: Der Versuch, die drei Verteidiger auszuschließen, war der Versuch, die routinierten Verteidiger von der Seite der Mandanten zu entfernen. Es gab die sogenannten Offizialverteidiger, die nicht das Vertrauen der Mandanten, sondern des Gerichts hatten. Sie sollten das Verfahren sicherstellen. Es wurden nun eben jüngere Verteidiger bestellt, von denen sich möglicherweise der eine oder andere erhofft hatte, dass die gestandenen Bundesanwälte mit ihnen, wie man so schön sagt, Schlitten fahren, sie einschüchtern könnten. Indes, sie haben sich geirrt. Diese ganze Beschränkung der Verteidigung durch die damaligen Gesetze hat dazu geführt, dass eine jüngere Generation von Anwälten herangezogen wurde, die so stark wurden wie Strafverteidigung in Deutschland nie war. Die Anwaltschaft rekrutierte eine ganze Generation neuer Rechtsanwälte, entschlossener und kundiger Verteidiger, die mit Aktenkenntnissen in die Gerichtsverhandlung gingen und dem Gericht sowie der Staatsanwaltschaft unerschrocken Kontra gaben. Dies hat dazu geführt, dass die Strafverfahren einen enormen rechtsstaatlichen Schub bekommen haben.

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DK: Sie würden sagen, die Strafrechtsänderungen haben das Gegenteil bewirkt? E: Ja. Natürlich war es am Anfang so, dass den gestandenen Bundesanwälten, die in der Hierarchie der Ankläger das höchste sind, junge Anwälte von Ende zwanzig, Anfang dreißig, Mitte dreißig gegenüberstanden, die aber, vom Ehrgeiz gepackt, sich Aktenkenntnis verschafft haben und den älteren Kollegen nicht nachstehen wollten. Ein großer Teil dieser Anwälte gehört zur Anwaltselite. DK: Aber Andreas Baader stand zunächst ohne Verteidigung da. E: Für einen normalen Angeklagten ist das eine Katastrophe. Für einen Angeklagten wie Andreas Baader ist das eine Angelegenheit, die er argumentativ für sich nutzen kann und muss. In einem Verfahren ohne Verteidiger zu stehen, weil das Gericht die Verteidigerbank leer geräumt hat, ist für einen Angeklagten vom Schlage Andreas Baaders, die Möglichkeit zu beweisen, dass dieses ganze Verfahren mit Rechtsstaatlichkeit nichts zu tun hat. Es verschafft ihm argumentative Munition, die er in das Verfahren einbringen kann, wenn er es will. DK: Klaus Pflieger, der jetzige Generalstaatsanwalt von Stuttgart, argumentiert, die Gesetzesänderungen seien notwendig gewesen, weil Stammheim sonst nicht verhandelbar gewesen wäre. E: Er stellt, wenn er argumentiert, dass ohne die Beschränkung der Verteidigerzahl und der Verteidigerrechte der Stammheim-Prozess nicht verhandelbar ge­ wesen wäre, seinen Richterkollegen kein gutes Zeugnis aus. DK: Warum? E: Prinzing hat gesagt, es sei ein Verfahren ganz neuer Art gewesen. Ich meine, in diesem Fall musste sich ein Richter darauf einstellen und die Möglichkeit haben, aus seinem bisherigen Konzept herauszugehen und zu überlegen, wie das Verfahren geführt werden kann. Ich weiß nicht, ob Prinzing je versucht hat, mit den Verteidigern in Kontakt zu treten? Wahrscheinlich hätten die Verteidiger keine strategischen Absprachen getroffen, aber dass das Verfahren nicht zu führen gewesen wäre, bezweifele ich. Es wäre zu führen gewesen, wenn man Richter gehabt hätte, die souveräner gewesen wären, souveräner mit der ganzen Situation umgegangen wären. Der Richter hätte sich möglicherweise angreifbar gemacht in der Öffentlichkeit. Das gibt es immer mal wieder. Es gibt Richter, denen, wenn sie ihre rechtsstaatliche Aufgabe ernst nehmen, gesagt wird, sie seien weich oder sympathisierten mit den Beschuldigten oder mit den Angeklagten. Ich meine, ein Richter muss das aushalten. Er muss notfalls die Grundrechte auch denen zukommen lassen, denen die Öffentlichkeit sie nicht gönnen mag. DK: Gab es unter den Anwälten eine Diskussion darüber, ob dieses Verfahren scheitern könnte? E: Dazu kann ich nichts sagen, weil ich zu dieser Zeit nicht mehr Verteidiger war und mich auch um die ganze Aktenlage nicht mehr gekümmert habe. Ich war

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in unserem Büro im Grunde weitgehend zuständig für die sogenannte normale Kriminalität, für die Zivilprozesse und Verwaltungsgerichtsprozesse. Ich habe weniger politische Mandantschaft behandelt. Es war mir und uns damals wichtig, nicht nur als RAF-Verteidiger dazustehen. Wir wollten auch Anwälte der „normalen“ Bürger sein. Es war uns wichtig, dass der Mieter, von dem zu hohe Miete verlangt wurde, zu uns kam und sich bei uns vertreten fühlte sowie die Frau, die endlich den Mut fand, sich scheiden zu lassen. DK: Waren in das „Info-System“ alle Angeklagten eingebunden? E: Das kann ich nicht beantworten. Ich weiß zu wenig von diesem System. Sie wissen vielleicht, dass ich im Bereich der Mandanten den Namen „Ekelschwelle“ hatte. Ströbele wurde einmal von den Mandanten gefragt, warum ich immer so wenig über das Info-System informiert sei, wenn ich Besuche machte. Er antwortete, wie er mir geschildert hat, ich hätte eine „Ekelschwelle“, diese ganzen Geschichten zu lesen. Der Begriff zeigte meine praktizierte Interessenlage an der ganzen Geschichte. H: Warum wurde aus Ihrer Sicht das „Info-System“ kriminalisiert? E: Die Kriminalisierung des Info-Systems geschah, nach meiner Erinnerung, dadurch, dass die Strafverfolgungsbehörden bei Zellendurchsuchungen und Durchsuchungen in Anwaltspraxen Kenntnis von dem Inhalt der Information bekommen haben. Dass ein System von Kommunikation zwischen Anwälten und Mandanten existierte, war offenkundig, denn die Briefe gingen durch richterliche Hände sowie durch Strafvollzugshände. Den Anwälten wurde der Inhalt der Informationen zu Last gelegt. Man konnte als Anwalt den Mandanten nicht vorschreiben, was sie schreiben. Dass möglicherweise ein Mandant nicht nur Verteidigerstrategien, sondern auch politische Einschätzungen mitteilte, weckte bei den Verfolgungsbehörden den Verdacht, dass die Anwälte diese „kriminelle Vereinigung“ unterstützten. Das war bei Anwälten besonders schlimm, weil sie als Organe der Rechtspflege dem Recht besonders verpflichtet sind. So war die Argumentation. Wenn man die Urteilsbegründung des Bundesgerichtshofs gegen Ströbele sieht, wird deutlich, dass sie ihm unehrenhafte Motive nicht unterstellt haben, sondern eher eine Fehleinschätzung. Ich glaube, heute würde man wegen so etwas nicht mehr verurteilt werden. DK: Gab es diese „Ekelschwelle“ bei Ihnen? E: Ich glaube, dass Ströbele meine Auffassung gegenüber den Informationen und den Briefen durchaus richtig dargestellt hat. DK: Wann haben Sie erstmalig erfahren, dass die Verteidigergespräche abgehört wurden? E: Mich hat das ehrlich gesagt nicht besonders interessiert, ob Verteidiger­ gespräche abgehört wurden oder nicht, weil ich mich ohnehin verhalten habe, als würden sie abgehört. Ich wollte mich mit der Frage, ob wir abgehört werden oder

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nicht, gar nicht befassen. Ich habe mit dem Mandanten die Dinge besprochen, die auch mitgehört werden konnten, und wenn ich irgendwas hatte – ich bin mit Esspapier ins Gefängnis gegangen – habe ich das aufgeschrieben und anschließend aufgegessen. Das war eine Möglichkeit, weil ich dachte, Kameras haben sie noch nicht. Wenn es darum ging, Dinge deutlich zu machen, habe ich das auf diese Weise getan. DK: Demnach würde die These von Eberhard Foth zutreffen, dass die Verteidiger davon ausgegangen seien, die Gespräche würden abgehört. E: Ja. DK: Wie erfuhren Sie, dass einzelne Anwälte wichtige Gegenstände ins Gefängnis geschmuggelt haben? E: Ob Anwälte wichtige Gegenstände geschmuggelt haben, habe ich nur immer als Verdachtsmoment aus der Presse erfahren. DK: Wie wurde dieses Phänomen diskutiert? E: Ich habe immer gedacht, alles ist möglich. DK: Wie beurteilen Sie heute das „Kontaktsperregesetz“ von 1977? E: Ich halte nach wie vor das „Kontaktsperregesetz“ für ein juristisches Monstrum. Das geht nicht in einem Rechtsstaat. DK: Warum? E: Na, weil Gefangene immer Kontakt zu ihren Verteidigern haben müssen. Das geht nicht anders. So eine Kontaktsperre ist ein Armutszeugnis des Staates, weil er sicherstellen muss, dass dieser Kontakt vorhanden ist. Wenn er den Verdacht hat, dass Verteidiger diesen Kontakt missbrauchen oder Dinge gesagt werden, die neue Straftaten nach sich ziehen, muss ein Richter dazu gesetzt werden, der schweigepflichtig ist, aber eingreift, wenn Dinge gesagt werden, die gefährlich sind. Es hätte also mildere Mittel gegeben, um den Kontakt zwischen den Gefangenen und ihren Verteidigern nicht zu unterbinden. DK: Gab es noch eine kritische Öffentlichkeit, die das problematisiert hat? E: Die Öffentlichkeit stand bei der Schleyer-Entführung sowie bei der Landshut-Entführung unter einer Schockstarre. Da hätte sich der Bundestag alles er­ lauben können. Da war es im Grunde normal, nicht mehr zu argumentieren. DK: Es lag eine „Kriegserklärung“, eine „Kriegssituation“ vor? E: Ja. DK: Wie haben Sie vom Tod von Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe erfahren? E: Im Deutschlandfunk morgens, also in der Nacht eigentlich.

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DK: Wie war Ihre Reaktion? E: Es war die Erleichterung, dass die Landshut-Insassen gerettet waren, weil ich das Ganze für einen Irrsinn gehalten habe. Dass die Stammheimer tot waren, habe ich als konsequent empfunden. DK: Wenn Sie heute an Stammheim denken, was fällt Ihnen sofort ein? E: Der Tod von Baader, Ensslin und Jan-Carl Raspe ist für mich der Endpunkt. Gleichviel, ob man der einen oder anderen Version anhängt, dass sie getötet wurden oder Selbstmord begangen haben, beide Versionen lassen sich logisch aus der Vorgeschichte herleiten. DK: Hat sich durch die Kontroverse mit der RAF ein neues Selbstverständnis der Verteidiger entwickelt? E: Es haben sich ein neues Selbstbewusstsein und neue Verhaltensmuster bei den Verteidigern entwickelt, die aber schon angelegt waren in der Art und Weise wie nach 1967 verteidigt worden war. Es war der Höhepunkt dessen, was sich in den Jahren zuvor entwickelt hatte. H: Welcher Prozess ist für Sie im Rückblick der wichtigste, den Sie für beschuldigte Mitglieder der Außerparlamentarischen Opposition geführt haben? E: Um ehrlich zu sein, ist jeden Morgen, wenn ich aufstehe, der Prozess, der ansteht, der wichtigste. Ich denke nicht an andere Prozesse. Ich habe bis zu meinem letzten Prozess im Jahre 1993 immer wieder Lampenfieber gehabt, war immer wieder aufgeregt. Zwar stellte sich eine Routine ein, aber neben der Routine war auch immer diese Anspannung vorhanden.

Armin Golzem

Foto: privat

Geboren im Jahre 1939 Studium der Rechtswissenschaft in Marburg, Freiburg und Bonn Referendariat u. a. in Lyon/Frankreich Seit 1968 Rechtsanwalt in Frankfurt, Schwerpunkt zunächst Nebenklagevertretung in NSVerfahren 1970 Gründung des Frankfurter Anwaltskollektivs mit Rupert von Plottnitz und drei weiteren Kollegen 1972 kurze Zeit Verteidiger von Andreas Baader, dann von Holger Meins bis wenige Monate vor seinem Tod (1974) Verteidiger von Wolfgang Grundmann im sog. kleinen Baader-Meinhof-Prozess (Kaiserslautern) Vorsitzender der Vereinigung Hessischer Strafverteidiger

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Gisela Diewald-Kerkmann (DK): Seit 1968 sind Sie als Anwalt tätig, und wie verlief Ihr erster Prozess? Armin Golzem (G): Mein erster Prozess war ein Naziverfahren, hier in Frankfurt beim Landgericht. Ich habe damals als Nebenklägervertreter im Prozess mitgewirkt, neben Professor Friedrich Kaul, der als einziger Anwalt aus der DDR ausreisen und in solchen Prozessen als Nebenklägervertreter auftreten durfte. Er hat in einem Verfahren wegen eines Vorwurfs der Teilnahme an Euthanasie, Stichwort ‚T4‘, und außerdem in einem Verfahren gegen Mitglieder von Einsatztruppen der SS in Polen in dortigen KZs mitgewirkt. DK: Wissen Sie noch die Urteile? G: Die Verurteilung ist in beiden Fällen erfolgt, aber ich kann Ihnen heute nicht mehr sagen, welche genauen Strafen ausgesprochen wurden. Ingrid Holtey (H): Könnten Sie es akzeptieren, wenn ich Sie einen „Achtundsechziger“ nennen würde? G: Die Bezeichnung als „Achtundsechziger“ kann ich akzeptieren. Ich habe vor kurzem meinen 68. Geburtstag unter dem Motto „Alt-68er wird Jung-68er“ gefeiert. Ich habe das durchaus nochmals aufgegriffen. Und während dieser Geburtstagsfeier wurde für mich sogar eine „Demonstration“ veranstaltet. H: Was bedeutete „68“ für Sie, für welche Ziele stand es? G: Diese Frage ist schwer zu beantworten, da sie eigentlich alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ergriffen hatte. Vieles von dem, was damals weltweit diskutiert wurde, ist inzwischen auch in Vergessenheit geraten. Zum Teil, weil in der Rückschau die politischen Dinge überbewertet werden, zum Teil, weil sich die Ziele der 68er Bewegung gesellschaftlich durchgesetzt haben und heute sozusagen zum Normalbestand des gesellschaftlichen Umgangs und gesellschaftlicher Einstellung gehören. Es fällt nicht mehr auf, wie sehr diese gesellschaftlichen Ver­ änderungen auf diese 68er Bewegung zurückzuführen sind. H: Wie kamen Sie zur 68er Bewegung? G: Ich war von Hause aus eigentlich niemand, der explizit an Politik interessiert oder dorthin orientiert war, überhaupt nicht. Die Ereignisse kamen im Zusammenhang mit dem Studentenstreik an der Universität Bonn, an dem ich damals – obgleich ich schon Referendar war, sogar schon das zweite Examen hatte – teilnahm. Während des Streiks habe ich mich engagiert und versucht, die studentischen Streikbrecher durch Ansprache zu überzeugen, sich solidarisch zu den anderen Studierenden zu verhalten und für zwei Tage auf ihre Karriere und auf den Bibliotheksbesuch zu verzichten, um sich den Streikenden anzuschließen. H: Erinnern Sie sich an andere Aktionen? G: Ich habe an zahlreichen Demonstrationen in Bonn, im Rahmen des SDS auch an der Organisation des damaligen Sternmarsches 1968, Ende Mai, teilge-

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nommen und auch am Sternmarsch selbst. Und dann kam ich alsbald nach Frankfurt und war hier Anwalt, sozusagen in einem linken Milieu. H: Anwalt der Achtundsechziger? G: Anwalt der Achtundsechziger in dem Sinne wurde ich erst später. Ich bin zwar explizit damals zu einem Anwalt gegangen, der auch in Demonstrationsprozessen verteidigt hat. Das war also durchaus mein Wunsch, mich dort zu engagieren. Ich kam dann in dieses Büro, in dem ich als Nebenklagevertreter in Naziprozessen auftrat. Aber „68er Anwalt“ wurde ich eigentlich erst durch die Gründung des Frankfurter Anwaltskollektivs zusammen mit dem Kollegen von Plottnitz und weiteren Kollegen im Jahre 1970. Am 15. Juni 1970 haben wir das Frankfurter Anwaltskollektiv gegründet, das sich alsbald nicht mehr so nennen durfte. Nach Ansicht der Anwaltskammer behaupteten wir, wenn wir uns „Anwaltskollektiv“ nannten, billiger zu sein und besser für den Mandanten zu arbeiten. Das wurde als unzulässige Werbung angesehen, die Bezeichnung „Anwaltskollektiv“ wurde verboten. H: Hat die 68er Bewegung Ihre Rolle als Anwalt verändert? G: Ich will das nicht so nennen. Ich war damals ein sehr junger Anwalt. Man kann gar nicht davon sprechen, dass ich irgendwelche Einstellungen hatte. Ich war gänzlich unerfahren und vorher schon politisch interessiert. Die Arbeit beispielsweise in diesem Nebenklageverfahren, die sah natürlich anders aus als die Arbeit in Demonstrationsprozessen. Diese war weniger durch Aktivität geprägt als später in den Demonstrationsprozessen. Aber das anwaltliche Verständnis oder die anwaltliche Praxis hat sich dadurch nicht wirklich verändert. Wir hatten ein spezifisches Verständnis von unserer Arbeit. Es gab damals für uns – unter dem heute sehr pathetisch klingenden Wort von der revolutionären Berufsperspektive – durchaus ein Selbstverständnis, das über traditionelle Anwaltsrollen weit hinaus ging, das ist gar keine Frage! H: Könnten Sie dieses Selbstverständnis charakterisieren? G: Ja, wir empfanden uns als Teil dieser die Gesellschaftsveränderung anstrebenden Bewegung. Wir wollten die alte Bundesrepublik verändern und einen freiheitlichen, im sexuellen Bereich libertären, im politischen Bereich demokratischen, im justiziellen Bereich möglichst wenig repressiven Staat und auch eine möglichst wenig repressive Gesellschaft haben. In diesem Kontext wurden eigentlich alle Lebensbereiche ergriffen. Auch unsere berufliche Praxis wurde davon erfasst. Wir waren damals ein Kollektiv und waren es nicht nur, weil wir uns so nannten, sondern weil wir auch so arbeiteten. Wir hatten einen kollegialen Umgang, der weit über das hinausging, was normalerweise Anwaltskollegen miteinander haben. Unsere Angestellten kriegten genauso viel ausbezahlt wie wir, sie waren grundsätzlich und prinzipiell gleichgestellt. Nur in strikt juristischen und anwaltlichen Rechtsfragen waren wir sozusagen als Anwälte privilegiert, wenn Sie so wollen, aber auch aufgrund unserer Ausbildung. Aber ansonsten waren in

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unseren Büros sämtliche Mitarbeiter und die Anwälte gleichgestellt, ökonomisch und auch was die sonstige Organisation des Büros anging. H: Und Ihre Rolle vor Gericht? G: Wie gesagt, damals hatte ich keinen präzisen Einblick in die anwaltliche Praxis. Ich habe die anwaltliche Praxis von der traditionellen Seite her kennengelernt, aber das war bei uns ganz anders. Wir hatten Möbel, die von allen mög­ lichen Seiten zusammengewürfelt worden waren. Wir hatten keine repräsentativen Büros, obwohl wir in einer schönen Altbauwohnung waren. Natürlich war unser Selbstverständnis, aber auch unser Auftreten bei Gericht anders als das der normalen Anwälte. Das ist keine Frage. Sie müssen bedenken, als das Ganze anfing, gab es wenige Vorbilder – Diether Posser, Heinrich Hannover und natürlich Max ­Alsberg als Verteidiger in der Weimarer Republik, die damals schon politische Verteidigung gemacht haben. Aber in der konkreten Ausgestaltung unseres anwaltlichen Auftretens und unserer anwaltlichen Arbeit gingen wir viel weiter und verließen auch dieses traditionelle Rollenbild. Wir fingen damit an, dass wir die Roben ablegten. Wenn wir auf der Anklagebank mit den Angeklagten zusammensaßen, legten wir nicht nur die Roben ab, sondern nahmen insbesondere in Demonstrationsprozessen weitere Personen hinzu, die dann mit den Angeklagten und uns zusammen ein großes Kollektiv bildeten. Schon rein optisch wich dieses ganze Auftreten total ab von dem, was die Justiz gewohnt war. H: Hat dieses neue Verhalten Konsequenzen gehabt und Sanktionen des Gerichts nach sich gezogen? G: Zunächst nicht. Wir waren ganz nette Kerle. Wir wurden erst unangenehm im Zusammenhang mit diesen RAF-Prozessen. Zwar hat unser Auftreten bei Gericht auch schon bei Demonstrationsprozessen zu heftigen Konflikten geführt, aber wir nahmen das Ganze mehr von der humorvollen Seite. Sehen Sie, beispielsweise vertraten wir jemanden, der auf der Haschwiese neben unserem alten Büro einen Joint gezogen hatte und ein paar Gramm Haschisch in der Tasche hatte. Der ging dann auf den Staatsanwalt zu, um ihm während der Gerichtsverhandlung einen Joint anzubieten. Wir standen herum und amüsierten uns. Das war eine Atmosphäre, die war von großer Friedlichkeit geprägt und hat bei der Justiz eine gewisse Verlegenheit hervorgerufen. Wir waren in der Art und Weise, wie wir auftraten, kommunikativ. In gewisser Weise waren wir „wild“, wir gaben nicht dieses Bild des ordentlichen Anwalts ab. Aber man konnte mit uns reden. Wir waren diskussionsbereit, aber auch diskussionswütend. Das war gerade unser – wie soll ich sagen – Affront gegenüber der Justiz, gegen diesen herrschaftlichen Kommunikationsprozess, den der Strafprozess traditionell darstellte: Vorne sitzt der Vorsitzende, führt die Verhandlung und gewährt hin und wieder einem der Beteiligten, beispielsweise im Rahmen von Zeugenbefragungen, das Wort, damit er brav eine Frage stellen kann. So lief das bei uns nicht ab, sondern wir intervenierten in das prozessuale Geschehen andauernd durch Erklärungen, Kritiken, Befangenheitsanträge und so weiter. Der Prozess wurde demokratisiert, aufgebrochen, indem wir

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alte Formen der Strafprozessordnung wiederbelebten, die völlig in Vergessenheit geraten waren, wie z. B. den Befangenheitsantrag. Alles das veränderte die Situation in den Gerichtsälen erheblich, gar keine Frage. H: Hatten Sie in dieser ersten Phase ein Ehrengerichtsverfahren? G: Nicht dass ich wüsste. Wir hatten keine Ehrengerichtsverfahren, weil wir auch in einer äußerst toleranten Stadt lebten. In Frankfurt gab es niemanden, der auf die Idee gekommen wäre. Vielleicht gab es die Idee bei einzelnen Personen, aber in der ersten Zeit hatten wir keine Ehrengerichtsverfahren. Zur Ehrenrettung unserer Ehrengerichtsbarkeit muss ich sagen, dass auch in späteren Zeiten die Ehrengerichtsverfahren in Frankfurt immer irgendwie schief liefen. Die Bemühung, die RAF-Anwälte durch anwaltliche Ehrengerichtsrechtsprechung zu disziplinieren, hat in Frankfurt nicht funktioniert. H: Wo waren Sie politisch engagiert? G: Politisch engagiert war ich dadurch, dass ich mich 1968 in Bonn dem SDS anschloss. Ich bin nie eingetreten. Ich bin einfach nur dahin gegangen und habe an den Veranstaltungen, den Demonstrationen und den Vorbereitungen teilgenommen. Ich bin nie Mitglied geworden oder etwas derartiges. DK: Wurde der Staat durch den Terrorismus der Roten-Armee-Fraktion überrascht? G: Das ging alles blitzschnell. Sie müssen bedenken, zwei Jahre vorher hatten der Kollege von Plottnitz und ich einen Prozess gegen Jugendliche in Kassel. Ein sehr langes Verfahren. Die hatten einen Erzieher überfallen und waren dann abgehauen. Da hatten wir Ulrike Meinhof als Sachverständige für Fragen der Jugenderziehung benannt. Zwei Jahre später hat sie, denke ich, an dem Programm für die RAF mitgeschrieben, und da stand plötzlich der Satz „Natürlich kann auf Bullen geschossen werden“ oder so ähnlich. Das ist schon eine rasante Entwicklung gewesen, zumal Frau Meinhof vorher als Journalistin für die bundesrepublikanische Öffentlichkeit eine wichtige Person war. Ich war überrascht, als ich dann plötzlich hörte, dass die den Baader mit Schusswaffen aus dieser Bibliothek rausgeholt haben. DK: Wie haben Sie die Aktionen der RAF wahrgenommen? G: Die Aktionen waren für mich nicht akzeptabel, das muss ich in aller Deutlichkeit sagen. Ich bin einer von den Anwälten, der sich gegenüber der RAF immer politisch verhalten hat. Ich habe nie ein Blatt vor den Mund genommen und mich auf meine bloße Rolle als Verteidiger zurückgezogen. Deswegen wurde ich von der RAF auch zwei Jahre „exkommuniziert“ und aus dem Kreis der Verteidiger gestrichen, weil ich im Knast eine heftige Diskussion mit Baader über die politischen Praktiken der RAF und überhaupt deren Zielvorstellungen hatte. Ich wurde als Verräter gegeißelt, das kann man alles nachlesen, und werde auch heutzutage noch in Büchern als Sozialdemokrat beschimpft. Jedenfalls war ich zwei Jahre lang wegen dieser Kontroversen über diesen – sagen wir es ruhig so, wie ich das damals gesagt

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habe – Verrat der RAF an der 68er Bewegung aus dem Kreis der Verteidiger ausgeschlossen. Als dann die Prozesse näher kamen, durfte ich wieder tätig werden. DK: Was bedeutete der Tod von Holger Meins für Sie? G: Der Tod von Holger Meins war für mich ein extrem traumatisches Erlebnis. Ich war damals sein Verteidiger. Ich bin einige Monate vor seinem Tod aus der Verteidigung ausgeschieden, will ich ganz neutral sagen. Für mich war das, was in diesem Tod zum Ausdruck kam, absolut inakzeptabel in jeder Hinsicht und zwar sowohl was die Seite der RAF angeht als auch was die staatliche Seite anging. Für uns in Frankfurt hat das beispielsweise dazu geführt, dass wir einen Gesprächskreis von Intellektuellen gegründet haben, der sich über Jahre als sogenannter „Montagskreis“ getroffen und die politische Lage und die Interventionsmöglichkeiten in den politischen Raum hinein diskutiert hat. Das waren Intellektuelle aus unterschiedlichsten Berufsgruppen, die sich beim Verlag „Neue Kritik“ trafen. Der Auslöser war der Tod von Holger Meins. Es war eine absolut traumatische Erfahrung, sowohl hinsichtlich der staatlichen Seite, die Holger Meins nicht ausreichend ernährt und diesen Tod möglich gemacht hat, als auch bezüglich der RAF, dass sie ihren Widerstand gegen den Staat so weit trieb, dass sie den eigenen Tod in Kauf genommen hat. DK: Haben Sie diese Entwicklung bei Meins vermutet? G: Ich kannte ihn nicht vor seiner Inhaftierung. Ich wusste von ihm über Freunde, er war Filmemacher. Deswegen war er mir indirekt aus Erzählungen bekannt. Ich wusste, dass er ein sehr ernsthafter und verschlossener junger Mann war. Das war mir bekannt, und so habe ich ihn auch erfahren, als ich ihn im Knast besucht habe. Aber dieser existentielle Wahnsinn, dieser übertriebene Manichäismus, der auch in seinen letzten Briefen zum Ausdruck kommt, wo er zwischen Menschen und Schweinen unterscheidet, war so aberwitzig, dass ich mich dazu nicht mehr verhalten konnte. Die Kategorie Mensch hat sich nur noch auf die Kämpfer im Kontext der RAF reduziert, alle anderen wurden der Kategorie der Schweine subsumiert. DK: Man kann von einer systematischen Radikalisierung sprechen? G: Ja, das war eine pathologische Folge dessen, was es in der gesamten Bewegung gab. Die 68er Bewegung wird heute – wie soll ich sagen – immer ein bisschen auf die sexuelle Befreiung und Laisser-faire in dieser ganzen permissiven Gesellschaft zurückgeführt. Die „Achtundsechziger“ waren in gewisser Weise in ihrem Entwurf sehr radikal. Die These von der revolutionären Berufspraxis beispielsweise oder der Spruch: „Alles ist Politik, auch das Private“, hatten ganz konkrete Auswirkungen auf die individuelle Lebensgestaltung. Wir waren der Auffassung, dass wir persönlich von unseren Vätern abwichen, die bei den Nazis im Wesentlichen durch Nichtstun, unpolitisches sich abwenden, nichts wissen wollen und so weiter, aus den gesellschaftlichen Prozessen sich verabschiedet hatten, als sie unerträglich wurden. Genau das wollten wir nicht. Das heißt, unsere Lebens-

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weise sollte völlig identisch sein mit unserem gesellschaftlichen, privaten, politischen und beruflichen Sein. Diese Art der Selbstradikalisierung, wie ich das nennen will, hat bei der RAF so pathologische Züge angenommen, dass solche Dinge herauskamen bis hin zum Tod von Stammheim. DK: Hatte das Folgen für ihre Prozessstrategie? G: Die Anwälte und die Strategie. Weder gibt es die Kategorie „der“ Strategie für die Anwälte, noch gibt es „die“ Anwälte. Innerhalb der Anwälte gab es ab einem bestimmten Punkt ein Schisma zwischen denen, die wir damals ironisch die „Freunde des bewaffneten Kampfes“ nannten, und uns linken Verteidigern. Ich will jetzt nicht genau beschreiben, zwischen welchen Personen dieser Graben verlief. Aber dieser Graben hat sich bereits im Laufe der Vorbereitungen der RAFProzesse aufgetan. Also, es gab nicht „die“ Anwälte. Das gab es nicht, sondern vielmehr Leute, die in der Bewegung verwurzelt waren, ein politisches Verhältnis zu den Strafverfahren hatten und die Angeklagten, wie soll ich sagen, politisch als Verteidiger begleiteten. Aber es gab eben auch die „Freunde des bewaffneten Kampfes“, die in der Regel aus Ecken kamen, wo es vorher kein politisches Engagement gab. Sie waren der Radikalität der RAF so verfallen, dass sie keine Distanz mehr wahren und auch kein kritisches Potenzial aufbauen konnten. Sie verfügten einfach nicht über die theoretischen und praktischen Möglichkeiten sowohl in ihrer Lebensgestaltung als auch in ihrer Vorbildung. So gab es eben nicht „die“ Anwälte, sondern Leute mit divergierenden Selbstverständnissen. Ich glaube, dass das, was ich über mein Selbstverständnis als Anwalt sage, schon divergiert von dem, was Kollegen sagen, denen ich bis heute sehr nahe stehe. DK: War die Antiterrorismusgesetzgebung unabdingbar, um der Herausforderung des Terrorismus gerecht zu werden? G: Die Gesetze, die gemacht wurden, in Reaktion auf die sich nähernden Terrorismusprozesse und auch noch während dieser Prozesse, bis hin zum Kontaktsperregesetz im deutschen Herbst, haben den Rechtsstaat erheblich in Gefahr gebracht. Das wirkt bis heute nach. Der Kampf gegen diese Reduktion der Rechte der Angeklagten, das war auch ein Kampf um die Aufrechterhaltung der demokratischen Tugenden im Strafprozess. Das haben die gar nicht verstanden da oben an der Staatsspitze, und dass wir uns um den Rechtsstaat verdient gemacht haben, indem wir gegen diese Gesetzesprojekte aufgetreten sind, und dass wir die gesellschaftliche Diskussion hierüber am Laufen hielten. Unsere Arbeit in den siebziger Jahren bestand zum großen Teil darin, wie die Wanderprediger durch Europa zu fahren und auf Veranstaltungen gegen diese Gesetze zu sprechen. Wie oft war ich in Frankreich und in Belgien, um dort Abende zu bestreiten und über Isolationshaft und Einschränkung der Rechte des Angeklagten zu referieren! DK: Wie haben Sie in Frankreich diese Gesetze erklärt? G: Wir haben die Gesetze ganz strikt im Kontext eines demokratischen Strafverfahrens kritisiert. Die Hauptkritik war, dass diese Gesetze dafür da waren, die

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Rechte des Angeklagten zu beschneiden. Diese offensichtlich durch Angst oder Präventionssucht entstandenen Gesetze, die waren überhaupt nicht notwendig. Wenn diese Gesellschaft so sicher gewesen wäre, wie sie immer gegenüber der RAF aufgetreten ist, und wenn sie wirklich davon überzeugt gewesen wäre, eine starke Position gegenüber den politischen Ansprüchen der RAF zu haben, dann hätte es dieser Gesetze nicht bedurft. Die politischen Strafverfahren, die wir zweifellos führen wollten, hätte man ohne weiteres mit den vorhandenen Möglichkeiten des Strafprozesses führen können. Warum hätte man die Politik der Bundesrepublik Deutschland in einem politischen Strafverfahren nicht zur Diskussion stellen können? Warum musste man unbedingt die RAF damit bekämpfen, dass man Gesetze speziell für sie schuf und damit Verrat an den eigenen demokra­ tischen Prinzipien übte? DK: Nach Auffassung des Generalstaatsanwalts in Stuttgart waren die Gesetze notwendig, um die Prozesse zu ermöglichen? G: Herr Pflieger ist ein ehrenwerter Mann. Und er ist auch ein kluger Mann. Aber in dem Punkt irrt er sich. Er hat nach wie vor die Position, die er auch schon damals hatte. Wir haben ihn als Person sehr geschätzt, da er immer gesprächs­bereit war und keine Angst vor Diskussionen hatte. Aber in dieser Einschätzung liegt er völlig falsch. Das Debakel von Stammheim war nicht nur verschuldet durch das Personal, das auf der Gerichtsseite oder auf Seiten der Bundesanwaltschaft auftrat. Das Debakel war ein Debakel des Gesetzgebers in der Umsetzung dessen, was der Gesetzgeber hinsichtlich der Faktizität der Räumlichkeiten, der Haftbedingungen und des dortigen Umgangs wollte. Natürlich haben wir im Zuge dieser Prozesse Umgangsformen angenommen, die wir nicht besonders schön finden können, die wir aber auch noch heute manchmal im Strafprozess praktizieren müssen. Man muss auch heute im Strafprozess den Gang der Dinge lautstark unterbrechen, wenn es eine falsche Richtung nimmt. Das war damals in Stammheim ganz gewiss so. Der Staat hat immer die Kritik an der Legitimität des eigenen Vorgehens für eine Legitimation der RAF gehalten. In dieser Konfrontation waren wir Verteidiger alle Verbrecher. DK: Das Stichwort, das häufig fiel, war „Staatsnotstand“. G: Ich glaube nicht, dass diese Politiker nur – wie soll ich sagen – zynische Machtmenschen waren. Ich glaube, dass die Gesamtatmosphäre damals so war, dass die wirklich Angst hatten. Ich muss zugeben, es gab auch eine ganze Reihe von Ereignissen, die einem Angst machen konnten. Das ist überhaupt keine Frage! Diese Ereignisse haben Angst gemacht, etwa der Mord an Siegfried Buback, so dass auch uns diese Angst ergriff, als Verteidiger, aber wir mussten sie verteidigen. Ich meine nicht, weil wir dazu getrieben worden wären oder so. Wir mussten sie verteidigen, weil die RAF etwas machte, was wir nicht billigten, aber für das wir in gewisser Weise historisch verantwortlich waren als „Achtundsechziger“. Die waren sozusagen Fleisch von unserem Fleische, wenn auch völlig aufs falsche Gleis geraten, in eine unmenschliche Praxis geraten. Damit waren sie auch Ver­

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räter an den Zielen der Bewegung, die für eine menschliche Gesellschaft kämpfte. Diese einseitige Orientierung am Kampf der Völker der Dritten Welt und diese Art des mörderischen Vorgehens in unserer Gesellschaft, das konnten wir in keiner Weise billigen. Das haben wir auch nicht gebilligt. Das muss man mit aller Einschränkung sagen, aber ich rede jetzt von unserem, meinem und dem Selbstverständnis der Kollegen, die in diesen Prozessen dann letztendlich aufgetreten sind. H: Wenn Sie ‚wir‘ sagen, sprechen Sie für das Anwaltskollektiv und für die ‚Spontiszene‘ um ‚Pflasterstrand‘ in Frankfurt in den siebziger Jahren? G: Ja, das kann man so sagen. Ich gehörte dazu. DK: Wie beurteilen Sie die Strafrechtsänderungen? G: Bei den Gesetzen ging es darum, den Verteidigern Handhaben im Prozess zu nehmen, Instrumente wegzunehmen, die ihnen das ermöglichen sollten, was die Strafprozessordnung für erforderlich hielt, damit der Anwalt seine Aufgabe erfüllen konnte, nämlich den staatlichen Strafanspruch durch die Verteidigung zu behindern. Diese Instrumente sollten reduziert werden, soweit es im politischen Kontext möglich war. Das wirkt bis heute fort. Den Verfall von prozessualen Rechten von Angeklagten haben wir bis heute zu beklagen. DK: Die Medien haben die Anwälte angegriffen. G: Die Beschimpfungen in den Medien waren extrem. Aber Sie müssen bedenken, es gibt ein Selbstbewusstsein, das wir hatten, das war die eine Seite, und die andere Seite war unsere öffentliche Rolle. In dieser öffentlichen Rolle fühlten wir uns sicher. Denn unser Tun lag auf der Hand. Alles war bekannt, was wir machten. Alle Behauptungen, wir würden irgendetwas tun, was nicht an die Öffentlichkeit dringt, von anwaltlichen Geheimnissen abgesehen, mussten wir uns nicht anziehen. Ich bin damals bei Fahrten in die Knäste über hunderte von Kilometern von Polizeibeamten in Autos verfolgt worden. Das hat mich überhaupt nicht gestört, das hat mich amüsiert. Das war eine unzulässige Überwachung. Sie haben mich sogar bis hin zu meiner Mutter verfolgt, die ich danach besucht habe, und sind insofern auch in meinen privaten Lebensbereich eingedrungen. Sie haben, was mich und den näheren Umkreis etwa des Frankfurter Anwaltskollektivs angeht, de facto bespitzelt, wenn sich bei uns die Anwälte trafen, um im Zusammenhang mit den RAF-Prozessen die Prozessvorbereitung zu treffen. Sie waren immer in den gegenüberliegenden Wohnungen. Sie richteten ihre Kameras, deren Objektive sich auf den Gardinen abzeichneten, auf unsere gardinenlosen Büroräume, um uns auszuspionieren. Aber uns war das egal, wir hatten nichts zu verbergen, nur, dass wir nichts zu verbergen hatten, das wurde der Öffentlichkeit gegenüber verborgen. Ausnahmen hat es gegeben, davon will ich überhaupt nicht reden. Keine Frage! DK: Wie würden Sie heute das Stammheim-Verfahren bewerten? G: Das Stammheim-Verfahren war eine gesamtgesellschaftliche Katharsis. So verrückt und unerträglich es ablief, hat es auf die bundesrepublikanische Justiz

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Auswirkungen gehabt, die überhaupt nicht zu hoch eingeschätzt werden können. Sehen Sie, allein an der Tatsache, dass wir heute nach 33 Jahren hier sitzen und darüber reden, sieht man die gesellschaftliche Relevanz dieses Verfahrens. Nach wie vor ist Stammheim ein Synonym für – jetzt sage ich es ganz einfach und fast in den Worten eines Strafverfolgers – für ein rechtswidriges Verhalten und für eine missratene Form des Strafprozesses. Die Tatsache, dass wir damals verfolgt wurden, gehörte mit zu dieser Delegitimierungsstrategie der staatlichen Seite, die meines Erachtens der RAF zu viel „Ehre“ angetan hat. Das war gar nicht nötig. Sie haben sich so furchtbar angestrengt, uns schlecht zu machen. Sie hätten einfach nur einen richtigen, offenen und politischen Strafprozess führen müssen, dann hätte man ihnen keinerlei Vorwürfe machen können. Die Angeklagten hätten sich politisch äußern können, hätten den Staat auch beschimpfen dürfen. Es wäre dadurch nichts passiert. Wenn dieses Selbstbewusstsein auf staatlicher Seite dagewesen wäre, dann hätte man diese Angriffe gelassen und unter Hinweis auf die Offenheit des Verfahrens und die demokratischen Umgangsformen effizienter kontern können, als alles das, was dann von staatlicher Seite geschehen ist. Das wäre ein wahrer Sieg gewesen! Sie hätten uns den Wind aus den Segeln genommen! Aber so mussten wir gegen schwerste See ankämpfen. DK: Aber das Podium wurde den Angeklagten vielfach übergeben? G: Die haben das Podium nicht gegeben, das stimmt nicht. In dem Kommunikationsprozess „Strafprozess“ sind gewalttätige Elemente enthalten, die aber nicht in der Form gewalttätig sind, dass da geschossen oder geschlagen wird, sondern die Gewalt findet verbal statt. Diese Gewalttätigkeit, die verbal stattfand und die von den damals auftretenden Verteidigern sehr wortreich insbesondere gegenüber der Bundesanwaltschaft problematisiert wurde, diese Gewalttätigkeit hat es ge­ geben. Aufgrund des auch verbal gewalttätigen Auftretens auf Seiten der Verteidigung kam es dazu, dass die Anträge auch gegen den Widerstand der anderen Seite gestellt wurden. Die Anträge häuften sich, weil die andere Seite so furchtbare Anstrengungen machte, sie zu unterdrücken und gar nicht erst zu Wort kommen zu lassen. Dann gab es immer wieder Befangenheitsanträge, da konnten sie nichts machen. Am Ende hatten sie über 80 Anträge auf dem Tisch liegen, die das Verfahren enorm verzögern haben. Diese Befangenheitsanträge waren nicht die Folge der besonderen Bösartigkeit der Verteidiger. DK: Wurden Sie kontrolliert? G: Ich war nur einen einzigen Tag in der Hauptverhandlung in Stammheim. Aber ich habe vorher zahlreiche Besuche dort gemacht. Natürlich gab es jedes Mal Krach, wenn wir dahin gingen und die mit ihren peinlichen Untersuchungen anfingen. Ich habe diese Dinge meistens – wie soll ich sagen – auf die lockere, humorvolle Art und Weise genommen und etwas kumpelhaft gekontert, indem ich gesagt habe: „Leute, es hat alles seine Grenzen, hört jetzt endlich auf, uns andauernd zu verdächtigen, und zwingt uns nicht, uns hier auch noch auszuziehen“. Auf der anderen Seite muss ich sagen, hat es auch seltsame Geschehnisse in Stamm-

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heim ge­geben, die der Gegenseite fast Recht gegeben haben. Der berühmte Spruch des Strafverteidigers Hans Heinz Heldmann: „Ich bin nicht bereit, in Ausübung meines Berufes meine Hose runterzulassen“, den habe ich auch für mich in Anspruch genommen. Ich habe mich dagegen gewehrt, war aber am Ende auch überrascht, dass die mit manchen repressiven Maßnahmen gegen die Anwälte nicht so ganz falsch lagen. Das muss man auch ehrlicherweise sagen. Es sind schreckliche Sachen passiert. DK: Sie meinen das Reinschmuggeln der Waffen? G: Angesichts der Art und Weise, wie wir durchsucht wurden, kann ich nur sagen: Chapeau! Ich weiß es nicht, wie die das hingekriegt haben, ich hätte es nicht geschafft. Bei mir wurden die Akten immer durchgeblättert und, wenn da irgendwo 500 Seiten zusammen gepappt gewesen wären, um darin eine Pistole zu verstecken, bei mir hätten sie es entdeckt. Ich kann es mir bis heute nicht erklären. DK: Im Zusammenhang mit Stammheim wurde von einem Gesinnungsstrafrecht gesprochen. G: Ja, das war ein Ausdruck in Stammheim. Ich würde sagen, in der Art und Weise, wie der Prozess von Seiten des Gerichts geführt wurde, kam eine gewisse Gesinnung zum Ausdruck. Aber ansonsten kann man schlecht behaupten, die RAF sei nur wegen ihrer Gesinnung angeklagt worden. Das Problem bei der Geschichte war wohl eher, dass die Gesinnung nicht zum Tragen kommen konnte, denn die Gefangenen wurden dabei immer wieder unterbrochen. Das waren die empörendsten Geschichten, dass immer neue Instrumente geschaffen wurden, um innerhalb des prozessualen Geschehens die Angeklagten domestizieren zu können. Wenn sie bestimmte Erklärungen zu politischen Grundsatzfragen abgaben, ließ man sie nicht ausreden. Das wäre das Einfachste gewesen, statt sich in zeitraubende Konflikte mit der Verteidigung einzulassen, die dann zur Folge hatten, dass die Angeklagten abgeführt wurden, weil sie nicht reden durften. Dann wollten sie nicht mehr teilnehmen und diese ganze „Verhackstückerei“, die stattgefunden hat, das war ein absolut unwürdiges Schauspiel. Es ist klar, dass das Personal da vorne absolut überfordert war. DK: Aber war das Problem nicht vor allem der Widerspruch, einerseits „Staatsfeinde“, andererseits gewöhnliche Kriminelle? G: Dieser Widerspruch, der darin bestand, sie einmal als Staatsfeind Nr. 1 zu betrachten, auf der anderen Seite zu gemeinen Mördern zu deklarieren, dieser Wider­spruch, der hat zweifelslos bestanden. Der war da, um zu begründen, dass die sich im Prozess nicht politisch erklären durften. Auf der anderen Seite war der Widerspruch dazu da, den gesamtgesellschaftlichen Angstprozess heftig anzureizen und anzuheizen. Das war völlig verrückt. DK: Wie sind die Verteidiger damit umgegangen? G: Die Verteidiger haben sich dagegen gewehrt. Das kann man nicht anders sagen. Es hat auch genügend Konflikte gegeben. Die Verteidiger haben sich den

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Schneid nicht abkaufen lassen und haben immer wieder versucht, dem Verfahren auch eine politische Dimension zu geben. Es gibt verschiedene, heute schon fast – wie soll ich sagen – zu stehenden Wortwendungen gewordene Äußerungen in diesem Prozess. Ich denke nur an das „Stammheimer Landrecht“ und andere Dinge, die dort gefallen sind. Der Prozess hat in aller Kontroversität stattgefunden und wurde deshalb eine Veranstaltung, die dann später auch politisch genutzt werden konnte. An der Art und Weise, wie er geführt wurde, hat sich eine systematische und bis heute nicht abgeklungene gesellschaftliche Kritik am Stammheimer Verfahren entfaltet, was möglicherweise zur Kultivierung des Strafverfahrens überhaupt beigetragen hat. Es sind in der Folgezeit vermehrt engagierte Strafverteidiger aufgetreten, die durch die damaligen Kontroversen der Strafverteidigung gesehen haben, dass man im Strafprozess und wenn man einseitig zur Vertretung des Angeklagten berufen ist, engagiert auftreten muss. Es reicht nicht aus, dass man um eine milde Strafe bittet, sondern man muss um die Rechte des Angeklagten kämpfen und mit allen in der Strafprozessordnung vorgesehenen Mitteln, wenn diese sich vernünftigerweise anbieten, auch gegen den staatlichen Straf­ anspruch vorgehen. Das ist die Aufgabe des Anwalts. Der Strafprozess hat diesen elementaren Konflikt zwischen dem staatlichen Strafanspruch und der Freiheit des Einzelnen nicht einseitig gelöst, sondern sagt: „Tragt den Konflikt im Strafprozess aus und geht aufeinander los. Nicht mit Waffen, sondern mit Worten“. Irgendwann ist dann Schluss, und dann entscheidet das Gericht. Das Ergebnis ist das Ende dieses konfliktreichen Kommunikationsprozesses im Strafprozess. DK: War diese Konfliktstrategie neu in den siebziger Jahren? G: Nein, das ist kein neues Phänomen. Das hat sich in der Art und Weise, wie ich es geschildert habe, gesellschaftlich verbreitet. Wir können sagen, die Strafverteidigung hat sich sozusagen auch praktisch auf den Begriff gebracht. Die Rechtsprechung erfindet natürlich den neuen pejorativen Begriff „Konfliktverteidigung“. Dabei ist das ein Pleonasmus. Die Verteidigung, die das Wort als Verteidigung verdient, ist Konflikt. Alle, auch die alten Bücher über den Strafprozess, sagen: der Strafprozess ist Kampf. H: Wäre es angebrachter, von der Demokratisierung des Verfahrens zu sprechen? G: Demokratisierung des Strafverfahrens, indem man die Kommunikationsprozesse aufbricht und die Kommunikation im Strafprozess lebendig gestaltet. Das heißt, indem man sich über die Schuldfrage und über die Tatsachenfragen, also die Frage des Nachweises der Straftat, in einer Art und Weise auseinandersetzt, dass Kommunikation entsteht und nicht nur ritualisierte Formen der Wahrnehmung von strafprozessualen Rechten. Das heißt, eine Auseinandersetzung, bei der sich auch der Richter und der Staatsanwalt auf die Auseinandersetzung mit dem Verteidiger einlassen und am Ende des Kommunikationsprozesses, in diesem Widerstreit der Worte, ein vernünftiges Ergebnis herauskommt als Ergebnis dieser Kampfsituation. Das ist sozusagen das Vertrauen, das wir in den Straf­

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prozess haben, dass – wenn ein solcher Prozess so geführt wird – er auch zu dem bestmöglichen Ergebnis führt. Das wird aber häufig von Richterseite nicht so gesehen. Das Selbstverständnis der Richter, das finden Sie in vielen Entscheidungen und fließt oft so nebenbei ein. Demnach ist eigentlich der Verteidiger überflüssig und die Staatsanwaltschaft die objektivste Behörde der Welt. Von dieser allenfalls als Ironie hinzunehmenden Charakterisierung sind die Staatsanwälte bis heute nicht weg, und die Richter halten sich sowieso für neutral. Die Verteidigung – so meint man dort – haben wir nur deshalb im Verfahren, weil die Strafprozessordnung es so vorsieht und wir sie nicht liquidieren können. So ist häufig das Selbstverständnis. Dass wir aber ein integraler Teil des Rechtsfindungsprozesses und die Garantie dafür sind, dass Recht gesprochen wird und nicht Unrecht, das ist immer noch nicht richtig angekommen. Das nimmt sich vielleicht einseitig und sogar ungerecht aus, als wären wir die Leute mit dem großen Durchblick, die sich um das Recht bemühen, und auf der anderen Seite diejenigen, die nicht erkennen wollen, wie wichtig die Verteidigung ist, ist aber weitgehend die Realität. In den 68er Jahren gab es die Justizkampagne. Es war ein sich über Jahre hinziehendes Phänomen, das die Justiz und uns alle ergriffen hatte, uns als Akteure. Wir waren nicht nur diejenigen, die beanspruchten, an diesem Prozess der Rechtsfindung beteiligt zu werden, sondern waren auch gefährlich für die Justiz. Nicht in einem unmittelbaren Sinne waren wir gefährlich, sondern weil wir einen anderen Begriff vom Sinn der Strafe bzw. vom Unsinn der Strafe hatten. Wir wollten die Strafe abschaffen. Dieses Ziel vertritt man heute in dieser Gesellschaft überhaupt nicht mehr, weil diese – wie es heute schön in der Süddeutschen Zeitung stand – „Empörungsdemokratie“ andauernd von allen Seiten befeuert wird, von Strafbedürfnissen, die von durchaus ehrenwerten Leuten, aber eben auch von Heuchlern und von allen möglichen Seiten kommen. Diese Befeuerungen mit Strafbedürfnissen der Öffentlichkeit, der Gesellschaft, der Justiz, der gesamtgesellschaftlichen Wirklichkeit hat sehr zugenommen. Das, was wir damals vertreten haben, nämlich eine Gesellschaft zu schaffen, in der tendenziell Strafe unnötig wird, hat uns die RAF so schrecklich kaputt gemacht mit ihrer falschen politischen Praxis, will ich ganz vorsichtig sagen. Wir wollten, dass Strafe überflüssig wird. Der Strafprozess sollte so gestaltet sein, dass derjenige, der darin verwoben wird, sich künftig so verhält, dass es der Strafe nicht mehr bedarf. Es sollten Methoden gefunden werden, die unter Absehen von Strafe den Strafprozess überflüssig machen. Das war ein großer Affront. Da lag möglicherweise die eigentliche Gefahr, die von uns ausging. Wir haben später gesehen, dass sich die gesellschaftliche Entwicklung für dieses Projekt als ungeeignet erwiesen hat. Wir können diese modernen Gesellschaften, so wie wir sie heute haben, nicht ohne Strafrecht und nicht ohne Gefängnisse einigermaßen friedlich halten, das geht nicht, das ist gar keine Frage. Die Gefährdungen von allen Seiten sind viel zu groß, Stichworte wie Terrorismus, organisierte Kriminalität und weiß der Teufel, welche Phänomene da kommen. Viele von diesen sind als Vorwand für den Abbau von Angeklagtenrechten benutzt worden. Aber die Phänomene als solche sind vorhan-

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den. Wir wollen nicht so tun, als hätten die Auflösung des sozialistischen Blocks und der Fall des Eisernen Vorhangs die Welt friedlicher gemacht. Ganz und gar nicht, weil im Osten Kräfte frei gesetzt wurden, für die es sozusagen keine gesellschaftliche Bändigung mehr gibt und die in unsere Gesellschaft hineinwirken. Das können wir nicht übersehen. Wir haben keine anderen Instrumente als das Strafrecht, diese Konflikte zu bewältigen, und deswegen war das ein idealistisches Projekt, das wir damals hatten. Aber wir waren äußerst gefährlich für das Selbstverständnis des justiziellen Bereiches. DK: In welcher Weise wurde die nicht vorhandene Waffengleichheit deutlich? G: Ich habe Probleme, das so negativ zu beschreiben, weil ich in einem anderen RAF-Prozess war, in dem die Waffengleichheit von uns durch Verweigerungs­ gewalt wieder hergestellt wurde. Wir hatten in Kaiserslautern auch einen Gerichtssaal, der sogar noch mehr nach türkischem Militärgericht aussah als Stammheim. Da saßen nämlich die Angeklagten mit dem Rücken zum Publikum mit ihren Verteidigern, dem Gericht gegenüber, mit dem Publikum im Nacken, und die Zeugen schauten auf die Bundesanwaltschaft, um keine Fehler zu machen. Wir haben es damals erzwungen, dass wir bei den ersten Zeugenvernehmungen mit den Angeklagten hinter die Bundesanwaltschaft traten, um den Zeugen ebenfalls ins Gesicht schauen zu können. Die Angeklagten mussten dann bald mit Stühlen versehen werden, weil sie durch den Hungerstreik so sehr geschwächt waren. Wir standen tagelang mit unsern Notizblöcken in der Hand hinter der Bundesanwaltschaft bis denen das so unangenehm wurde, dass wir ihnen immer im Nacken saßen, vor allen Dingen die Angeklagten, dass sie empört sagten, so geht das nicht weiter, das muss sich unbedingt ändern. Dann wurde eine zehntägige Pause eingelegt und der gesamte Gerichtssaal umgebaut. Die Zeugen kamen gegenüber dem Gericht in die Mitte des Saales, so dass sowohl die Staatsanwaltschaft, also die Bundesanwaltschaft, als auch wir an den Seiten saßen und einen Blick auf die Zeugen hatten. So hatten wir eine Waffengleichheit auf faktischer, baulicher Ebene erst hergestellt. Eine andere Waffengleichheit wurde durch besonders energisches Verteidigen hergestellt. Das wurde aber nicht bei allen Angeklagten hergestellt, was sehr bedauerlich war. Aber ich habe es für meinen Mandanten damals durchgesetzt, deswegen wurde Wolfgang Grundmann – der damalige Angeklagte – von zwei Vorwürfen der Teilnahme an Banküberfällen frei gesprochen. Der eine mit Todesfolge, bei dem anderen war versuchter Mord mit im Spiel, weil mit Waffen begangen. Er wurde nach dem Prozess aus der Haft entlassen. Die Waffengleichheit ließ sich herstellen. Aber das war nicht einfach. DK: Man kann Wolfgang Grundmann nicht mit Andreas Baader vergleichen? G: Das will ich auch nicht. DK: Die Bundesanwaltschaft ging wahrscheinlich anders vor? G: Das Auftreten der Bundesanwälte in Stammheim war sicher anders als in Kaiserslautern. Zu Anfang war das ähnlich, hat sich aber zunehmend zivilisiert.

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Es gab einen kontroversen, aber kultivierten, engagierten und vernünftigen Prozess der Auseinandersetzung. DK: Gab es zwischen Verteidigung und Mandanten eine Übereinstimmung? G: Ach Unsinn! Was denn für eine Übereinstimmung? Es gab eine Übereinstimmung insoweit, als die Verteidiger die Angeklagten verteidigten. Natürlich wurde das mit den Angeklagten besprochen, die Verteidigungsstrategie und Verteidigungstaktik war das Ergebnis dieses Prozesses der Besprechung mit dem Mandanten. DK: Es gab Kontroversen mit einzelnen Angeklagten? G: Ich habe meinen Konflikt mit Andreas Baader ganz am Anfang ausgestanden. Ich habe den auch mal verteidigt. Ich war – glaube ich – der erste, der ihn in Düsseldorf in der Klinik besucht hat, als er dort angeschossen lag. Ich war auch der erste, der dann wieder herausgeflogen ist. Dann war ich aus diesem Kommuni­ kationsprozess heraus. DK: In dem Film von Klaus Stern berichten Sie über Ihre Besuche bei Baader? G: Das war lange vor dem Prozess und vor meiner „Exkommunizierung“, die nach einem Besuch in Schwalmstadt stattfand. DK: Wie haben Sie die Haftbedingungen in Stammheim wahrgenommen? G: Ja, wir haben damals an dem Kampf gegen die Isolationshaft teilgenommen und zwar, weil wir davon überzeugt waren, dass das in der Tat Methode war, die sozusagen niederzumachen, psychisch. Das haben wir auch ins Ausland getragen, diese Auseinandersetzung und Kritik, gar keine Frage. Was über die Aufenthalte in Köln-Ossendorf von Ulrike Meinhof und auch von Astrid Proll geschrieben wurde, das waren keine politischen Phantasiegebilde, um den Staat sozusagen ins schlechte Licht zu rücken. Das war die Realität der Isolationshaft. Ich habe es kürzlich noch einmal erfahren, was sensorische Deprivation ist. Ich war in einem alten Stasi-Knast in Gera. Da hatten sie Sichtblenden aus Milchglas, und ich stand in einem Wartezimmer, guckte aus dem Fenster heraus, sah nur Milch und war völlig orientierungslos. Ich sah, dass sich meine Augen an die Situation nicht gewöhnen konnten. Ich wusste nicht, in welcher Entfernung die Welt zu Ende war. Es war ein ganz spätes und elementares Erlebnis, diese Sichtblenden nochmal zu erleben. Ganz furchtbar! DK: Der Justizvollzugsangestellter Horst Bubeck schreibt, dass in Stammheim Luxusbedingungen herrschten. G: Es waren ganz normale Knastbedingungen, nicht insgesamt, sondern was die Ausstattung angeht. Wenn man Luxus hört, dann denkt man an Sanatorium, die hatten ganz normale Zellen. Da war auch keine Badewanne mit Goldhähnen, um jetzt ins andere Extrem zu fallen. Da gab es keinen Luxus. Und wenn Andreas Baader einen Plattenspieler hatte, um die eine oder andere kleine Schallplatte abzuspielen, mein Gott, das haben die Gefangenen heute in der Strafhaft auch.

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DK: Könnte ein Prozess wie in Stammheim heute geführt werden? G: Ich denke nicht in absehbarer Zeit. Was wissen wir denn, was in 200 ­Jahren sein wird. Vielleicht haben wir da eine Welt, in der das alles völlig normal ist. Ich weiß nicht, ob ich den Optimismus aufbringen kann zu sagen, so etwas darf nie mehr, kann nie wieder passieren. Vielleicht kann man sagen, wir werden keine ­Hexen mehr verbrennen, aber wissen Sie wirklich, dass das der Fall sein wird? Heute hören wir, dass Frauen gesteinigt werden. Können wir ausschließen, dass das wieder über uns kommt, wenn das Strafbedürfnis weiterhin so wächst und sich verselbstständigt, der Mensch die größte Rechtfertigung für sich selbst daraus gewinnt, dass er andere Menschen quält und erniedrigt, um sich selbst zu erhöhen und zu legitimieren?

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Foto: privat

Geboren im Jahre 1937 Rechtsanwalt seit 1965 1967 Geschäftsführender Gesellschafter eines Immobilienunternehmens der Familie Verteidiger in Strafsachen, insbesondere in politischen Strafsachen (Erich Fried, BaaderMeinhof RAF, Hitler-Tagebuch-Fälschung) Ab 1972 verteidigt er alle Angeklagten der RAF (Andreas Bader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof, Holger Meins, Jan-Carl Raspe) im Stammheim-Prozess 1975 Ausschluss aus der Verteidigung 1975–1981: Berufsverbot, ab 1979 wurde das Berufsverbot auf Strafsachen beschränkt Mitgründer  der Arbeitsgemeinschaft Hamburger Strafverteidiger 1973 und des Republikanischen Anwaltsvereins 1979 1980 Gründer der Zeitschrift „Strafverteidiger“ 1989 Mitglied des Präsidiums der Erich Fried Gesellschaft, 1999 Mitglied des Präsidiums der Hanns Eisler Gesellschaft, 2007 Vorsitzender des Vorstands der Hans Platschek ­Stiftung

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Gisela Diewald-Kerkmann (DK): Sie sind seit 1965 als Rechtsanwalt tätig. Können Sie sich noch an ihren ersten Prozess erinnern? Kurt Groenewold (G): An meinen ersten Prozess kann ich mich nur vage erinnern. Es ging um Einbruch und Diebstahl: Ich war noch schüchtern, der Richter eine Person, die einen zurückdrängen konnte. Wie wir später erfuhren, war er Wehrmachtsrichter gewesen. Ingrid Holtey (H): Herr Groenewold, wenn ich Sie einen Achtundsechziger nenne, könnten Sie das akzeptieren? Oder sollte ich sagen Anwalt der Achtundsechziger? K: Wenn Sie mich einen Achtundsechziger nennen, kann ich das so nicht akzep­tieren. Ich gehöre in die Zeit, weil ich ein Anwalt der Achtundsechziger war und weil ich über die literarische und intellektuelle Szene die Bewegung begleitet habe. Ich war nie auf der Straße und habe mir keine direkten Aktionsformen überlegt. Wie ein Historiker habe ich Prozesse aufgearbeitet und ab und zu eine Rede über grundsätzliche Fragen gehalten. H: Sie waren also kein Mitglied der Außerparlamentarischen Opposition? ­Haben Sie an konkreten Demonstrationen teilgenommen? G: Ich habe an keiner Demonstration teilgenommen, außer an einer: 1973 versammelten sich die Anwälte vor dem Bundesgerichtshof, um öffentlich gegen die Haftbedingungen ihrer Mandanten zu protestieren. Allerdings kam ich erst am letzten Tag, weil ich in Hamburg noch die Verteidigung von Margrit Schiller bis zum Urteil führte. H: Wie standen Sie zu der 68er Bewegung und ihren Forderungen? Was hielten Sie von der Außerparlamentarischen Opposition aus Studentenbewegung, Op­ position gegen die Notstandsgesetze und Ostermarschbewegung/Kampagne für Demokratie und Abrüstung? G: „68“ ist zum Kennzeichen der Zeit geworden. Die politische Kritik begann allerdings schon früher, z. B. mit den Filmen von Alexander Kluge und dem politischen Kabarett von Wolfgang Neuss. Neuss war der Mann meiner Schwes­ isela Groenewold. Schon damals änderte sich das allgemeine Bewusstsein. ter G Wenn man die politische Szene betrachtet, ließ der Antikommunismus nach. Es gab neue offizielle Verbindungen zwischen West- und Ostdeutschland. Das war eine andere Zeit als die, in der ich groß geworden bin. H: Die Opposition gegen die Notstandsgesetze wurde von zahlreichen Juristen getragen. Haben Sie das zur Kenntnis genommen, auch wenn Sie selbst nicht teilgenommen haben? G: Ich war nicht Teil der Bewegung gegen die Notstandsgesetze. Ich habe am 28. April 1968, kurz bevor die Gesetze verabschiedet wurden, im Audimax der Universität Hamburg, auf einer Veranstaltung gegen die Notstandsgesetze gespro-

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chen. Mein Thema war das Demonstrationsrecht als Freiheitsrecht, als Meinungsfreiheitsrecht. H: Die Ereignisse am 2. Juni 1967 in Berlin, der Tod des Studenten Benno Ohne­sorg durch die Kugel eines Polizisten: Haben diese Ereignisse Sie verändert, als Rechtsanwalt politisiert? G: Das habe ich beobachtet. Ich befand mich oft als Besucher in Berlin in der Szene um Wolfgang Neuss, Horst Mahler, Klaus Wagenbach. H: War Ihr Elternhaus politisch? G: Die Familie war eher historisch interessiert und damit allgemein politisch. Ich glaube, das Politische hat sich in mir während der Schulzeit entwickelt. Die Nürnberger Prozesse und die stalinistischen Prozesse waren Gegenstand des Interesses in der Schule und der Eichmann-Prozess in Jerusalem und der AuschwitzProzess in Frankfurt während der Zeit der juristischen Ausbildung. H: Ist die Tatsache, dass an den Universitäten viele ehemalige Mitglieder der NSDAP tätig waren ebenso wie unter Richtern und Staatsanwälten, auch ein Faktor Ihrer Politisierung? G: Wir wussten damals, dass es in der Justiz viele Richter und Staatsanwälte gab, aber auch viele Anwälte, die in der NS-Zeit eine Rolle gespielt haben. Die justizkritische Politisierung ist aber erst nach dem Studium entstanden. Ich habe in Heidelberg noch bei Ernst Forsthoff studiert und in Hamburg bei Herbert Krüger. Ich bin von Georg Dahm, der mit Friedrich Schaffstein das sogenannte Täterstrafrecht 1933 begründet hat, im ersten Staatsexamen geprüft worden. Diese Professoren waren freundlich und beeindruckend, vor allem Herbert Krüger, der Völkerrecht und Staatswissenschaft lehrte. Gerade er hatte vor 1945 gesagt: Alles, was der Führer sage, sei Gesetz, in welcher Form auch immer. Gegenstand der Diskussion wurde diese Haltung erst in der Zeit nach meinem Studium. H: Während des Studiums haben Sie von diesen Positionen Ihrer Professoren nichts gewusst? G: Nein. Damals habe ich ihre aktuellen Veröffentlichungen gelesen. Völkerrecht interessiert mich bis heute. H: Hatten Sie 1965, als Sie Ihre Kanzlei gründeten, die Absicht, einen anderen Akzent innerhalb des Justizsystems zu setzen, ein anderer Anwalt als die anderen zu sein? G: Nein. Mit der Kanzleigründung hatte ich nicht vor, einen anderen Akzent zu setzen. Ich komme aus einer kaufmännischen Familie, war damals schon Leiter der Immobiliengesellschaft der Familie. Das war eigentlich meine Haupttätigkeit. Ich habe allerdings von Anfang an eine interessante Anwaltstätigkeit entfalten wollen, interessant im Rahmen dessen, was man mit Menschenrechten, vor allem mit dem Grundgesetz und mit dem Verfassungsrecht erreichen konnte. Das

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Gegenbild oder das Gegenprogramm war die Justiz in der Sowjetunion und in der DDR, als Beispiel die Moskauer Prozesse. DK: Bereits 1967/68 haben Sie in Prozessen der APO die Verteidigung übernommen? Hat sich Ihr Selbstverständnis durch diese Prozesse verändert? G: Das Grundverständnis ist geblieben. Ich wollte Anwalt sein und war überzeugt, dass ich etwas erreichen könnte, wenn ich Prozesse gut führe. Schon damals war es eine wichtige Forderung, Prozessinhalte öffentlich zu machen, offenzulegen, nicht nur was der Richter entschieden hat, sondern was eigentlich Anlass des Tuns der Angeklagten, besonders der Studenten, war. Ich bin zur politischen Verteidigung über die literarische Szene und in diese vor allem über Wolfgang Neuss gekommen. Er war ein wichtiger Vorreiter und Sprecher der damaligen Protestbewegung. Er konnte Sachverhalte gut erklären und die politischen Motive darlegen. Er war ein Sprachverbinder zwischen Studenten einerseits, die soziologisch sprachen oder undurchsichtig, und den Literaten wie Enzensberger und Lettau, die auf andere Weise sprachen, oft undurchsichtig sprachen. Er war eine Schlüsselfigur. H: Wolfgang Neuss nahm gemeinsam mit Hans Werner Henze und Hans ­Magnus Enzensberger nach dem Attentat auf Rudi Dutschke die Rolle des Sprechers der APO vor dem Gebäude des Senders Freies Berlin (SFB) wahr, das besetzt werden sollte, um eine Stunde Sendezeit für die APO zu erwirken. G: Sie wollten die öffentlichen Instrumente für ihre Politik in Anspruch ­nehmen. H: Führten die Demonstrationen nach dem Attentat auf Rudi Dutschke zu Prozessen, in denen Sie als Anwalt tätig waren? G: Ich war in erster Linie an den Hamburger Prozessen beteiligt. Ich habe also Personen verteidigt, die vor dem Verlagshaus Axel Springer demonstriert haben. In Berlin habe ich nur Ulrike Meinhof verteidigt. Sie wurde angeklagt, Land­ friedensbruch begangen zu haben, weil sie ihr Auto in der Nähe der Demonstration abgestellt hatte. Die Anwesenheit war durch ihre Tätigkeit als Journalistin gerechtfertigt und führte deshalb zu einem Freispruch. Außerdem habe ich zusammen mit Otto Schily Horst Mahler verteidigt, der an den beiden großen Demonstrationen gegen das Verlagshaus Axel Springer beteiligt war, nach Ansicht der Staatsanwaltschaft als Rädelsführer. Mahler spielte damals eine große Rolle, weil er ein guter Organisator und Redner war. Er hatte ein Jahr zuvor den Untersuchungsausschuss zum Tod des Studenten Benno Ohnesorg eingerichtet. H: Sind Sie 1967/68 häufig von Berlin nach Hamburg gefahren? G: Ich bin damals fast jeden Monat in Berlin gewesen. Meine Kinder waren oft bei meiner Schwester, die mit Neuss in Berlin lebte. Damals hatte meine Schwester eine Wohnung von ca. 300 qm in einem Dachgeschoss. Diese Wohnung war der Hof von Neuss und Gisela Groenewold und dorthin kamen alle, die Studenten, die Künstler, die Intellektuellen. Dort traf ich auch auf den italienischen Verleger

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Feltrinelli und den Komponisten Hans Werner Henze. Auch Intellektuelle aus der DDR kamen: Wolf Biermann, Hans Bunge, Käthe Reichel. H: Gaston Salvatore beschreibt in seiner Neuss-Biographie den Ort. Er war Gast im Hause Neuss und zugleich einer der engsten Begleiter und Weggefährten von Rudi Dutschke. Haben Sie ihn und andere Sprecher der Außerparlamentarischen Opposition in Berlin kennen gelernt? G: Ja, ich habe alle kennen gelernt. H: Wer waren Ihre Bezugspersonen neben Neuss, Enzensberger und Reinhard Lettau, mithin Mitglieder der Gruppe 47, die zehn Jahre älter waren als die protestierenden Studenten? G: Ja, sie waren deutlich älter. H: Hatten Sie andere Werte und Vorstellungen von der Bundesrepublik? Unterschied sich Ihre Kritik von derjenigen der Studenten? G: Ich habe mich mit den soziologischen oder politischen Texten der Studenten nicht auseinandergesetzt und sie selten gelesen. Eine gute Orientierung für die Studenten, aber auch für die Intellektuellen, waren die Bände des „Kursbuch“. Dort konnte man alles lesen, was man damals insbesondere über die Dritte Welt wissen musste. Das „Kursbuch“ war radikal geschrieben, aber in einer auch von Bürgern lesbaren Sprache. Ich habe das „Kursbuch“ gelesen. Ich verstand mich als Bürger, der als solcher und als Anwalt hinzugetreten war. H: Das „Kursbuch“ akzentuierte den Nord-Süd-Konflikt, nicht nur den OstWest-Konflikt. Es unterstrich die Bedeutung der Befreiungsbewegungen. Kamen Sie über die Nachbarschaft von Neuss und Enzensberger zum „Kursbuch“? G: Natürlich. 1968 habe ich als Rechtsanwalt die Verträge zwischen Klaus Wagenbach und Hans Magnus Enzensberger über den Kursbuch Verlag gemacht. Ich habe die Verlage Wagenbach und Kursbuch bis zur Teilung von Wagenbach und Rotbuch im Jahre 1973 begleitet. Ich war auch an dem Vertrag über das WagenbachKollektiv beteiligt. Damals gab es nur wenige Juristen in der sogenannten „linken Szene“. Aufgrund meiner kaufmännischen Erfahrungen und Tätigkeit war ich in der Lage, die Auswirkungen solcher Verträge und die Organisationsprobleme zu bearbeiten. Horst Mahler in Berlin dagegen wollte eher politisch tätig sein. DK: Es gab nur wenige Anwälte, die diese Mandate übernahmen. Wollten Sie damals nicht Teil der Protestbewegung sein? G: Ich wollte nicht Teil der Studentenbewegung sein. DK: Aber Sie verfügten über ein spezifisches Selbstverständnis von Ihrer Rolle als Anwalt? G: Natürlich war ich politisch in dem Sinne, dass ich die Anträge zum VietnamKrieg in den Prozessen stellte. Ich war bereits 1970 internationaler Prozess­

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beobachter in Griechenland. Eine solche Reise macht man nicht aus Spaß, sondern mit einer Vorstellung von sich selbst. Und zum Selbstverständnis gehörte, dass Griechenland das Justizsystem für Zwecke der Diktatur so einsetzte wie andere Staaten in Lateinamerika. Das wollte ich damals bekämpfen und zwar in öffentlicher Weise. H: Entstand 1968, wie Heinrich Hannover argumentiert, ein neuer Typus des Anwaltes? G: Das sehe ich auch so. Es entstand ein neuer Typus. Denn die politischen Prozesse nach 1945 waren Prozesse gegen Mitglieder oder Unterstützer der Kommunistischen Partei, in denen Heinrich Hannover Hervorragendes als Verteidiger geleistet hatte. Die Anwälte haben damals, vor allen Dingen, wenn sie der Kommunistischen Partei nahe standen, die Justiz als Klassenjustiz eingeschätzt und bezeichnet. Sie vertraten die These: „Diese Richter sind Teil der Klassenjustiz und tun ihre Pflicht. Wir sind deshalb zu ihnen höflich. Wir müssen ihnen erklären, dass es ein Klassenkampf ist und dass sie auf der anderen Seite stehen.“ Die damaligen Angeklagten, von denen ich später einige persönlich kennen gelernt habe, erduldeten ihre Behandlung und die Freiheitsstrafen als Ausdruck des Klassenkampfes. Für sie war das die Folge ihres politischen Einsatzes für die kommunistische Idee. Wir hingegen blieben in der Regel bürgerlichen Überzeugungen verhaftet. Wir haben uns auf die Verfassung berufen und am liebsten auf den Wortlaut der Gesetze, insbesondere der Strafprozessordnung. Das waren unsere Instrumente, dazu die Rechtsprinzipien des internationalen Rechts, die in der ganzen Welt gelten. Wir führten die Auseinandersetzung mit den Begriffen, die für alle Juristen gelten. H: Heinrich Hannover schreibt, es gebe einen neuen Typus des Anwalts, aber er charakterisiert ihn nicht. Sie haben das soeben getan. G: Heinrich Hannover gehörte nicht zu diesem neuen Typus von Verteidigern. Er hatte ein etwas anderes Selbstverständnis. Er war ein hervorragender Verteidiger der KPD-Bewegung, ohne selbst in der Kommunistischen Partei zu sein. DK: … ähnlich wie Diether Posser. Beide hatten ein anderes Verständnis, weil sie in den 50er Jahren die Prozesse gegen KPD-Mitglieder geführt hatten. G: … und sie hatten in anderer Weise Respekt vor Richtern. Wir hatten vor Richtern nur einen funktionalen Respekt. Wir sahen sie oben sitzen und entscheiden, aber sie waren für uns keine übergeordneten Menschen. Wir argumentierten und bauten auf der Rechtstradition auf und interpretieren diese nur anders als die Richter oder andere am Staat orientierten Juristen. Es ist manchmal das Wesen einer Revolution oder einer Veränderung, dass sie das Alte reinigen und wiederherstellen will. Das war unser Ziel: Rückkehr zu den Menschenrechten und den Verfassungsrechten. H: Wie konnte das Selbstverständnis eines Verteidigers entstehen, der sich (a) von dem typischen Links-Anwalt abgrenzte, und (b) zugleich von dem bürgerlichen Lager, das immer schon engagierte Anwälte hervorgebracht hat?

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G: Ich bin immer für den Schutz der Menschen und die Souveränität des Einzelnen, also für die Freiheitsidee eingetreten. Das unterscheidet mich und die von mir 1980 gegründete Zeitschrift „Strafverteidiger“ von anderen Projekten. Die 1968 gegründete Zeitschrift „Kritische Justiz“ zum Beispiel, deren Verleger ich einige Zeit war, verfolgte nicht dasselbe, was ich mit der Gründung der Zeitschrift „Strafverteidiger“ verfolgte. Die KJ-Herausgeber versuchten, durch Veränderung der sozialen Umstände, durch Entgegenkommen und durch Verstehen die Menschen zu bessern. Das habe ich nicht als meine Aufgabe angesehen und sehe es auch heute nicht als solche. Die KJ-Herausgeber waren vielleicht politisch oder moralischpolitisch engagierter als ich. Aber es gibt einen Unterschied: Sie dachten ähnlich wie Jugendrichter, die oft durch Besserwissen, wenn ich mit diesem Begriff einmal übertreibe, dem Jugendlichen eine Stütze geben wollen. Sie haben gute Absichten, aber Freiheit ist nicht das erste Wort, was mir dazu einfällt. DK: Sie waren in den Vereinigten Staaten. Haben Sie dort wichtige Anregungen bekommen? Oder gab es auf der internationalen Ebene wichtige Prozesse, die Einfluss auf das Selbstverständnis der bundesdeutschen Anwälte hatten? G: Die politischen Prozesse der 50er und frühen 60er Jahre sind nicht durch die Verteidiger bestimmt. Denkt man zum Beispiel an den Auschwitz-Prozess, so war es Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der den Prozess fast alleine gestaltet hat. Bauer hat in diesem Verfahren, in dem sprachlose Angeklagte saßen, mit einem Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte gearbeitet. Wir haben diese Praxis aufgenommen. Wir haben mit Gutachten von Sachverständigen gearbeitet, um die politische Geschichte oder um politische Zustände zu erklären, die die Richter traditionell nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Ein Richter will nur wissen, ob geschlagen, ob ein Stein geworfen wurde, ob jemand dabei war. Wir haben zum Beispiel in dem Verfahren gegen Horst Mahler wegen der Demonstration gegen das Verlagshaus Axel Springer Peter Brückner, Professor für politische Psychologie, als Sachverständigen geladen. Er hat die Kampagne des Springer-Konzerns gegen die Studenten, also die Hetzkampagne, dargestellt. Das half den Verteidigern und dem Angeklagten Mahler, die Demonstration gegen das Verlagshaus nach dem Mordanschlag auf Rudi Dutschke zu erklären. Wir hofften, dass auch die Richter dies verstehen. Ich war schon damals der Meinung, dass die Verteidigung durch den Anwalt und den Angeklagten gestaltet werden darf. Das bedeutet, dass nicht nur die Wertungen des Staatsanwalts und des Gerichts zu Gehör kommen, sondern auch die der anderen Seite. Ein Anwalt ist keine Randfigur in einem Prozess. Er steht nicht herum und hat nur darauf zu warten, ob der Richter gut oder schlecht arbeitet. H: Demnach unterscheidet sich der neue Typus vom traditionellen Anwalt ebenso wie vom kommunistisch inspirierten Anwalt durch vier Faktoren: (a) sein Verhältnis zum Richter, (b) seinen Bezug zum Justizsystem, (c) sein Verhältnis zum Mandanten und schließlich (d) durch die aktive Rolle, die er für sich im Gerichtssaal konzipiert.

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G: Unsere Vorstellung war: „Wir haben eine öffentliche Aufgabe und eine öffentliche Rolle.“ Verteidigung ist auch ein Gestaltungsrecht. Wir haben in Deutschland den so genannten reformierten Inquisitionsprozess. Im Mittelpunkt eines Prozesses steht der Richter, der zugleich Inquisitor und Verhandlungsleiter ist. Er trägt den Sachverhalt zusammen auf der Grundlage der Anklage und mit den ihm von der Staatsanwaltschaft bezeichneten Beweismitteln. Als Verhandlungsleiter versucht er, „störungsfrei“ zu arbeiten. In der Praxis sagt er oft nur: „Herr Verteidiger, haben Sie Fragen?“ Am liebsten greift er auch noch ein, wenn der Anwalt „falsch“ fragt, oder er fragt selbst erneut, wenn die Antwort ihm Anlass gibt, nach einer anderen als der vom Anwalt erfragten Antwort zu forschen. Oft unterbricht er nur und hat selbst eigentlich kein Fragerecht. Der Anwalt kann dies nur beanstanden, sozusagen nach der Strafprozessordnung verbieten. Nur wagt nicht jeder Anwalt den Konflikt. Man muss den Konflikt wagen. Wir haben die Strafprozessordnung wirklich benutzt und dem Richter manchmal das Fragen oder informelle Reden verboten. Dazu gibt es § 138 der Strafprozessordnung. Dies sind die Instrumente, dem Angeklagten und der Verteidigung einen Handlungsraum zu schaffen. In diesem Sinne bin ich durch eine ähnliche Praxis, die in politischen Prozessen in den Vereinigten Staaten üblich war, beeinflusst worden. DK: Wie geht man als Anwalt mit dem Strafanspruch des Staates um? G: Gegenüber dem Strafanspruch des Staates sind die Verteidiger in erster Linie dafür da, die Rechte des Angeklagten zu schützen. Es geht in jedem Prozess um Freiheit und um Anerkennung. Der Angeklagte will als Mensch oder als politischer Mensch anerkannt werden, selbst wenn er verurteilt wird. Das habe ich in Beschwerden an den BGH oder in Verfassungsbeschwerden oft dargelegt, vielleicht naiv die Richter belehrend, dass sie eigentlich in der Mitte zwischen dem staatlichen Strafanspruch und den Freiheitsrechten eines Angeklagten stünden. Ihre Aufgabe sei es, Übergriffe des staatlichen Strafanspruchs zurückzuweisen. Den Richtern falle eine Schutzfunktion zu. Den staatlichen Strafanspruch habe ich grundsätzlich nie in Frage gestellt. H: Ausgehend von der Vorstellung, dass nicht nur der Richter, sondern auch der Verteidiger dazu beiträgt, den Sachverhalt zu entwickeln, haben Sie Materialien in den Prozess eingebracht, die vom Richter nicht angefordert wurden. Haben diese dazu beigetragen, die Tat als politische erscheinen zu lassen? G: Ich habe nichts dagegen, wenn man das politisch nennt. Der Rahmen meiner Verteidigung war immer die Legalität. Ich habe sie mit anderen Inhalten ausgefüllt, als die Justiz es wünschte. H: … mit Inhalten, die die Wahrnehmung des Falls verändern konnten und darin lag das Politische? G: Es gab in Deutschland bereits in den 20er Jahren die sehr berühmte Strafverteidigervereinigung in Berlin, zu deren Mitgliedern kompetente und berühmte Anwälte wie Max Alsberg gehörten, der sich nach 1933 selbst umgebracht hat. Die

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Arbeitsgemeinschaft Hamburger Strafverteidiger wurde 1973 gegründet, zu den Gründern gehörten ich selbst und andere Anwälte der Protestbewegung, aber auch traditionelle exzellente Anwälte, Wolf-Dieter Reinhardt und mein erster Sozius Franz Josef Degenhardt, berühmt als Liedermacher und Schriftsteller, der eine Zeit lang auch als Strafverteidiger tätig war. Unsere Tätigkeit hatte Auswirkungen auf andere Strafverteidiger. Sie wurden selbstbewusster, aber nicht in unserem Sinne politischer. Sie arbeiteten aber gerne mit uns zusammen. Viele, wie zum Beispiel Erik von Bagge, der mich später in meinem eigenen Prozess verteidigte, hatten eine eigene Vergangenheit. Erik von Bagge war durch den Volks­gerichtshof inhaftiert, wurde aber freigelassen. Andere hatten heftige Auseinandersetzungen mit der Justiz geführt, wenn sie Mandanten vom Kiez verteidigten, die durch die Medien und im Verständnis der Ankläger oft schon verurteilt waren, obwohl die Beweise nicht ausreichten. Ich war im Gründungsvorstand und trat zurück, als ich Berufsverbot erhielt. Ein Teil der Anwälte meinte, ich solle aus dem Verein ausscheiden. Die meisten waren dagegen. Ich habe damals einen Mittelweg gewählt und bin aus dem Vorstand zurückgetreten. DK: Was waren die ausschlaggebenden Gründe 1973 für die Gründung der Hamburger Arbeitsgemeinschaft für Strafverteidiger? G: Strafverteidigung und Strafprozesse sind immer ein Gegenstand des Streits. 1968 war die Strafprozessordnung durch den damaligen Bundesjustizminister Gustav Heinemann in liberaler Weise und zugunsten der Strafverteidigung geändert worden. Die grundsätzlichen Fragen der Strafverteidigung drangen in den 70er Jahren verstärkt ins Bewusstsein, weil wir ab 1972 schon Gegenstand der öffentlichen Kampagne der Bundesregierung und damit Gegenstand der Diskussion wurden. DK: War der zentrale Gegenstand der Streitigkeiten nicht die Verteidigung der Roten Armee Fraktion (RAF)? Eine häufig in der öffentlichen Debatte vorgetragene These lautete, dass die Instrumente der Justiz im Kampf gegen den bundesdeutschen Terrorismus nicht ausreichten. G: Die Instrumente der Justiz reichten vollständig aus. Die Justiz hätte sich nur an die Prozessordnung halten müssen, dann wäre alles sehr viel einfacher ge­ wesen. Man hätte den Prozess 1973 führen sollen, dann wären die Angeklagten mit 6 oder 7 Jahren Gefängnis herausgekommen. Denn einiges konnte ihnen nicht bewiesen werden. Man hätte dann nicht den großen Wirbel gehabt. Der Wirbel diente anderen Zwecken, einer Aufrüstung des Sicherheitsapparats sowie der Auseinandersetzung zwischen der Opposition und der damaligen Regierung. Die damalige SPD-Regierung wollte beweisen, dass sie verlässlich in Fragen der Sicherheit und der politischen Strafjustiz war. DK: Vielfach wurde argumentiert, der Staat sei in einer Notlage. Die neuen Gesetzgebungsverfahren und Strafrechtsänderungen seien notwendig. G: Dem stimme ich nicht zu.

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DK: Der Staat hätte also, aus Ihrer Sicht, anders reagieren können? G: Die Reaktionen waren nicht erforderlich. Ich wüsste auch nicht, welche der Reaktionen innerhalb des Justizsystems wirklich geholfen hat, illegal handelnde Personen zu fassen. DK: Der Tod von Holger Meins markierte auch für die Verteidigung einen wichtigen Punkt. Wie sahen Sie den Tod von Meins und die Ermordung des Richters Günter von Drenkmann? G: Die Ermordung des Richters von Drenkmann delegitimierte den Einsatz für eine Verbesserung der Haftbedingungen und damit auch der Verteidiger. Wir sind damals der Meinung gewesen, wir hätten den Prozess mit der Strafprozessordnung führen können. Ich habe innerhalb der Gruppe der Verteidiger darauf gedrängt, mit dem Vorsitzenden Richter Theodor Prinzing über die gemeinschaftliche Verteidigung zu sprechen. Das haben wir auch im Oktober 1974 getan. Das Gespräch hatte das Ziel, eine kollektive Beiordnung, d. h. eine Beiordnung aller Verteidiger für alle Angeklagten zu erreichen. Das Gespräch war erfolgreich. Wir haben dargestellt, dass die Angeklagten als Gruppe angeklagt seien, sich als Gruppe verteidigen wollten, und nur als Gruppe verteidigt werden könnten. Theodor Prinzing hat alle Verteidiger zu Pflichtverteidigern aller Angeklagten bestellt. Er kündigte an, dass er zusätzlich von ihm ausgesuchte Rechtsanwälte zu Pflichtverteidigern bestellen werde. Diese Anwälte haben wir später Zwangsverteidiger genannt. Sie hatten keinen Kontakt zu den Angeklagten und haben sich auch in der Haupt­verhandlung verhalten, als seien sie nur auf der Reservebank. H: 1973 wurde gegen Sie ein strafrechtliches Verfahren eröffnet. G: Tatsächlich wurde gegen einige der Anwälte 1973 ein Verfahren wegen Unterstützung einer kriminellen Vereinigung eröffnet. Uns selbst wurde dies nie mitgeteilt, man konnte diese Tatsache nur in der Presse lesen. Akteneinsicht wurde verweigert, da der Stand der Ermittlungen dies nicht zuließe. Öffentlich wurde als Vorwurf die Unterstützung des Hungerstreiks genannt und der Austausch von Informationen zwischen den Mandanten. In der Presse tauchte auch der Vorwurf auf, über „die Anwälte“, ohne einen Namen zu nennen, würden Sprengstoff­ anschläge und ähnliche Straftaten vermittelt. Die Akteneinsicht im Jahre 1976 hat ergeben, dass bis zu dem ersten Antiterror-Gesetz keine Ermittlungen geführt wurden. In der späteren Anklageschrift gegen mich hieß es, ich sei an den Taten der RAF nicht beteiligt, hätte aber durch den Austausch von Papieren, also durch das Informationssystem dafür gesorgt, dass das Selbstverständnis der Angeklagten als Stadtguerilla ungebrochen blieb. Nach dem Verständnis der Bundesanwaltschaft bestand meine Aufgabe wohl eigentlich darin, das Selbstverständnis der Angeklagten zu brechen.

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DK: In der öffentlichen Diskussion wurden etliche Anwälte unter Kriminalverdacht gestellt. Es wurde versucht, zwischen den Verteidigern genau zu unterscheiden. G: Ich würde das Wort „genau“ nicht einsetzen. Die Bundesanwälte stellten Verdächtigungen immer pauschal auf, d. h. gegen die Anwälte. Die „­K riminalität“ der Anwälte wurde mit der Mandatsübernahme angesetzt. Ausdrücklich hatte Siegfried Buback als Pressesprecher bereits vor Festnahme der Beschuldigten die Übernahme der Mandate als rechtswidrig und standeswidrig bezeichnet. Allerdings gab es auch den Fall von Eberhard Becker, der nicht wohltuend für das Image der Anwälte war. Becker wurde Anfang 1974 verhaftet und war plötzlich Mitglied der RAF. Danach gab es keine weiteren Fälle in Bezug auf die Anwälte, die öffentlich bis zum Prozessbeginn auftraten und das Konzept der Verteidi­ gung entwickelten. Diese Anwälte waren Otto Schily, Rupert von Plottnitz, Klaus Croissant, Christian Ströbele, Marielouise Becker und ich. Es war eine durch die Arbeit zusammengewachsene Gruppe. DK: Eine Konfliktlinie war, wie Sie schon ausgeführt haben, das Info-System. G: Das Info-System haben die Anwälte begründet. Ich hatte Erfahrungen aus den USA im Kopf. Bereits vorher hatten einige Anwälte, darunter Ströbele und ich, den Mandanten Interviews, Schriftsätze anderer Anwälte und Material gegeben, damit sie sich damit für ihre Verteidigung und politischen Erklärungen auseinandersetzen konnten. Dazu gehörten Materialien zum VietnamKrieg, zu Palästina und Israel oder zu Griechenland. Auf diese Papiere hatten sie einen Anspruch, um ihre Verteidigung als Gruppe politisch vorzubereiten. Im Laufe der Monate weitete sich die Verteilung der Materialien zum Info-­System, um die gemeinschaftliche Verteidigung zu ermöglichen. Wir sahen uns nicht als Einzelverteidiger, sondern als gemeinschaftliche. Die Mandanten haben zusätzlich zu den Informations­materialien Selbstverständnispapiere produziert, die wir in Umlauf gebracht haben, weil wir sie ebenfalls als Teil der Verteidigung ansahen. DK: Können Sie konkret das neue Selbstverständnis der Anwälte anhand eines Prozesses beschreiben? G: Ich könnte den Hamburger Hausbesetzer-Prozess Ekhofstraße, den ich 1973 geführt habe, als Beispiel nennen. Die Ekhofstraße liegt in einem Viertel, in dem das gewerkschaftseigene Wohnungsunternehmen Neue Heimat alte Häuser abreißen lassen wollte, um neue zu bauen, die anderen Ansprüchen genügten. Im Prozess ging es nicht nur um die Frage, ob ein Polizist oder ein Hausbesetzer geschlagen wurde, ob Gewalt angewendet oder von Widerstand gesprochen werden konnte, ob Hausfriedensbruch oder gar Landfriedensbruch vorlag. Denn die Angeklagten und ihre Verteidiger haben die Wohnungsbaupolitik in Hamburg thema­ tisiert. Es war einer der ersten Kämpfe gegen den Abriss von Altbauwohnungen. Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit war groß. Wir setzten Zeugen und Gut­

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achten ein, um die Wohnungsbaupolitik zu thematisieren, statt den Widerstand gegen die Staatsgewalt bei der Verhaftung. DK: Sie haben versucht, den politischen Kontext zu thematisieren? G: Wir haben in der Tat versucht, den politischen Kontext zu thematisieren. Wir wollten Wohnungsbaupolitik als Abrisspolitik thematisieren, in der Überzeugung, dass man für die Thesen der Hausbesetzer in der Bevölkerung Unterstützung finden konnte. H: Um den Angeklagten zu helfen oder die Wohnungsbaupolitik zu verdeut­lichen? G: Mein Rahmen war der Prozess. Im Verfahren gab es Angeklagte, die sich kritisch mit der Wohnungsbaupolitik beschäftigten und sich im Gegensatz zur Regierung der Stadt Hamburg gesetzt hatten. Das wollte ich befördern. Ich sah einen öffentlichen Prozess als geeignetes Mittel dafür an. DK: Würden Sie in diesem Zusammenhang von einer Konfrontationsstrategie sprechen? G: Es war Konfrontation, weil es sich um ein unerwünschtes Thema in einem traditionell geführten Prozess handelte. DK: Kann dies als Indiz für eine Übereinstimmung zwischen Verteidiger und Angeklagten interpretiert werden? G: Das ist schwierig für mich zu sagen, da ich im Immobilienbereich tätig bin. Ich habe mich als Verteidiger verstanden, der politische Konflikte in die Öffentlichkeit trägt und konkret das Anliegen der Mandanten deutlich macht. DK: Gab es eine inhaltliche Übereinstimmung oder nicht? G: Wir hatten keine identischen Rollen. Deswegen kann ich auch nicht sagen, dass es eine inhaltliche Übereinstimmung gab. Ich stimmte mit dem, was die Angeklagten vortrugen, insoweit überein, als ich es zum Gegenstand der Verteidigung gemacht habe. Ich war nicht der Vordenker der Hausbesetzerszene. DK: Halten Sie den Vorwurf einer inhaltlichen Übereinstimmung zwischen Verteidigern und Mitgliedern der RAF für gerechtfertigt? G: Der Vorwurf ist nicht berechtigt, und dazu habe ich mich oft und in meiner eigenen Verteidigung geäußert. Es gab Übereinstimmungen in Bezug auf den Vietnam-Krieg. Es gab Übereinstimmungen hinsichtlich der Auseinandersetzung mit der Justiz, insbesondere über die Haftbedingungen, die ich aber eher als eine Auseinandersetzung zwischen den Verteidigern und der Bundesanwaltschaft und dem Bundeskriminalamt sehe. Insoweit gab es keine Übereinstimmung mit der RAF, nicht einmal eine Zustimmung. Die RAF-Mitglieder haben in ihren Papie­ren oft darauf verwiesen, sie hätten mit den Anträgen der Anwälte nichts zu tun, und sie seien von ihnen nicht gewollt. Die unterstellte Identifizierung ist ein Kampfbegriff der Bundesregierung unter Helmut Schmidt.

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DK: … der extreme Folgen hatte? G: … der extreme Folgen hatte, weil sich der Mensch gerne an den Wertungen der Regierung orientiert und diese für bare Münze nimmt. Die Justiz und die Presse waren nicht an der kritischen Aufklärung von Sachverhalten interessiert, sondern beugten sich der orientierenden Politik. DK: Die Anwälte haben die Öffentlichkeit eingesetzt für ihre Arbeit, das war relativ neu. Sie haben Hungerstreikaktionen unterstützt und selbst demonstriert. G: Die Anwälte haben damals mit Öffentlichkeit gearbeitet. Das haben Bundesregierung, Bundesanwaltschaft und Bundeskriminalamt in einem viel stärkeren Maß auch getan. Oft beobachten wir auch in normalen Strafprozessen, dass die Polizei durch ihre ersten Presseerklärungen die Öffentlichkeit strukturiert, also die Erwartungen in der Öffentlichkeit in eine bestimmte Richtung drängt, die die Presse in der Regel aufnimmt. Die Journalisten schreiben alles oft mit, was die Polizei sagt. Die Polizei behauptet oft viel, auch bei Tätern, die später zum Teil oder ganz freigesprochen werden. Zur Politik der Polizei gehört immer Pressearbeit. Die Festnahme wird oft als Erfolg gefeiert in dem Sinne, dass das Urteil praktisch vorweggenommen und der Täter klassifiziert wird. In dem Prozess gegen die Mitglieder der RAF ist die Bundesanwaltschaft von Anfang an an die Öffentlichkeit gegangen. Sie hat einerseits die Politik der Täter angegriffen, das Ziel der Täter, das darin bestanden hätte, das politische System in der Bundes­ republik umzustürzen, andererseits hat sie sie als bloße Kriminelle bezeichnet. In dem Konzept des Bundeskriminalamtes, dem die Bundesregierung und die Bundesanwaltschaft folgten, wurde oft die Äußerung von Horst Herold, dem Präsidenten des Bundeskriminalamtes, zitiert, der erklärte, man müsse jede Festnahme nutzen, „um die Feinde der Demokratie zu delegitimieren“. Ähnlich haben sich auch Bundeskanzler Helmut Schmidt und Bundesjustizminister Hans-Jochen ­Vogel geäußert. Für uns stand fest, dass der Prozess nicht nur im Gerichtssaal stattfand, sondern auch in der Öffentlichkeit und dass um die Deutung der Maßnahmen der Justiz gekämpft wird. H: Könnte man das Wort Gegenöffentlichkeit in diesem Kontext gebrauchen? G: Der Begriff Gegenöffentlichkeit wird eher von Wissenschaftlern wie Theodor Adorno gebraucht. Öffentlichkeit ist für mich eine Einheit, die von verschiedenen Personen beeinflusst und hergestellt wird, zu denen ich auch die Verteidiger zähle. Ich würde nicht von Gegenöffentlichkeit sprechen. Wir haben auch keine Gegengesellschaft. DK: Mehrere Politiker haben Ihnen Rechtsmissbrauch vorgeworfen. G: Zunächst muss ich auf das Wort „Missbrauch“ eingehen. Hans-Jochen Vogel hat es ein Vierteljahr vor Beginn der Hauptverhandlung gegen mich in der „Neuen Juristischen Wochenschrift“ (NJW) benutzt. Er erklärte: „Diese Anwälte haben die Rechte, die sie haben, missbraucht.“ Was bedeutet Missbrauch in die-

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sem Kontext? Es bedeutet, dass Rechte, die gesetzlich zulässig sind, zu einem politisch unerwünschten Zweck genutzt werden. Die Wertung sei Sache der Regierung und nicht des Nutzers. Dass diese Nutzung strafrechtlich sanktioniert wurde, liegt außerhalb unseres Systems, aber es hat unter der damaligen Regierung stattgefunden. Zum Info-System: Es diente der Stützung der Verteidigung. Die Verteidigung wurde von den Angeklagten und von den Anwälten organisiert. Das heißt, wir brauchten in erster Linie Informationen und Informationsaustausch. Zweitens diente das Info dem Ziel, die einzelnen Angeklagten darüber zu informieren, wie die anderen dachten, wie sie sich ihre Verteidigung vorstellten. Auch die politischen Analysen bezogen sich aus unserer Sicht auf den Prozess und auf den politischen Inhalt der Verteidigung. Die Frage war für mich nicht, wie sich die Mandanten mit ihrer politischen Ideologie verteidigen, sondern dass sie das Recht hatten, ihre politischen Konzepte und ihre Sicht auf die Politik zum Gegenstand von Erklärungen im Prozess zu machen. So hat an der Prozesserklärung von Astrid Proll Ulrike Meinhof mitgearbeitet. Die Auseinandersetzung innerhalb der Gefangenen ging um den dort gebrauchten Begriff des „Antifaschismus“, der sich eher dem der Kommunistischen Partei annäherte. Die Interpretation wollten die meisten Mitglieder der RAF nicht anerkennen. Was im Prozess eine Erklärung von Astrid Proll war, war auch ein Ergebnis von Diskussionen, von Ablehnung und von Zustimmung. Das war und ist nicht verboten. Verboten sind kriminelle und strafbare Handlungen, die Teilnahme daran oder die konkrete Unterstützung. Nicht verboten sind Ideen, auch wenn sie unerwünscht sind, auch wenn sie staatsfeindlich sind oder eine andere Sicht der Welt enthalten. Darauf war das Info-System ausgerichtet. DK: Können Sie etwas zum Verteilerschlüssel des Info-Systems sagen? G: Das habe ich entschieden, soweit die Papiere über mein Büro liefen. Die Mandanten, die angeklagt waren wegen Zugehörigkeit zur RAF, bekamen die Materialien ebenso wie die Anwälte. DK: Das Info-System reichte in die Gefängnisse? G: Es ging zu den Gefangenen und zu den Anwälten. H: Woher kam die Idee zu dem Info-System? G: Die Ideen kamen aus der Praxis. Wir Anwälte hatten vorher damit an­ gefangen, Materialien zu verbreiten. Wenn Sie sich die Briefe der Anwälte an­ sehen, enthielten diese von Anfang an viele Informationen, sowohl bei Ströbele als auch meine eigenen. Wir waren die Aktivsten auf diesem Gebiet. In den Vereinigten Staaten hatte ich die politischen Prozesse gegen die Black Panther und gegen Anti-Vietnam-Protestler gesehen, in denen Prozesserklärungen der Angeklagten gemeinsam vorbereitet wurden. Ich weiß, dass die Bundesanwaltschaft gerne behauptet, Andreas Baader habe das Info-System entwickelt. Das kann ich nicht bestätigen, auch wenn naturgemäß die Mandanten Meinungen dazu äußerten. Eine Reaktion auf den Plan hat Christian Ströbele in seinem oft zitierten Brief vom Juni 1973 wiedergegeben.

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DK: Hat Andreas Baader nicht den Verteilerschlüssel festgelegt? G: Ich habe in meiner Prozesserklärung und dem Buch über meine Verteidigung beschrieben, in welcher Weise die Verteilung organisiert war und aus welchen Gründen. Die Verteilung wurde inhaltlich festgelegt, nicht nach Personen. Dazu bestand auch keine Notwendigkeit. DK: Sie reklamieren eine zentrale Rolle im Info-System. G: Ich hatte eine zentrale Rolle, obwohl ich nicht alle Mandanten vertrat. Für einige Mandanten waren andere Rechtsanwälte Kontaktperson. DK: War Ihre Prozessstrategie mit den Angeklagten abgesprochen? G: Nein, wenn damit gemeint ist, wie es die Bundesanwaltschaft und die Regierung formuliert, dass die Mandanten uns die Prozessstrategie vorgeschrieben hätten. Das ist Unsinn. Die Mandanten wollten die politischen Verhältnisse ana­ lysieren und die Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes darstellen. Das war nicht unsere Linie und findet sich auch nicht in den Anträgen der Anwälte wieder. Diese bezogen sich in erster Linie auf das Fehlverhalten der Justiz und auf die Motivation der Angeklagten. DK: Sie haben Ihr Vorgehen nicht mit einzelnen Angeklagten diskutiert? G: Einzelne Anträge natürlich. Sie müssen bedenken, dass sich der Prozess gegen Mitglieder der RAF dadurch auszeichnete, dass die Schuldfrage, um die sich die Richter sonst bemühen, keine Rolle spielte. Es gab eine politische Anklage. Es gab kein Geständnis, und es sollte kein Geständnis geben. Die wichtigste Strategie betraf das Recht der Mandanten, sich politisch zu erklären. Außerdem wollten die Anwälte Gutachten und Zeugen holen. Darin bestand sicher Übereinstimmung, andererseits sagten die Angeklagten: „Was ihr da rechtstechnisch macht, damit haben wir nichts zu tun. Das ist euer Programm.“ Sie können diese Haltung in vielen Briefen nachlesen. DK: Es gab Konflikte. Heinrich Hannovers Verteidigung von Ulrike Meinhof ist ein Beispiel dafür. G: Natürlich gab es Konflikte. Hannover ist von seinem Mandat sogar ent­ bunden worden. Man kann nicht sagen, er habe Meinhof aufgegeben. Ich glaube, er wurde entlassen und hat das Mandat später wieder aufgenommen. Konflikte und Kritik entstanden, weil die Mandanten nicht genügend oder nicht schnell genug Informationen, Reden oder Zeitungsausschnitte erhielten. Es gab Konflikte, weil die Anwälte etwas angeblich Falsches zur Presse gesagt hatten. Ich halte das für Arbeitskonflikte. Konflikte über die Politik der RAF gab es nicht, und ich habe es auch nicht als meine Aufgabe betrachtet, die Politik der RAF mit den Mandanten zu diskutieren. DK: In den Zellenzirkularen wurden Sie als Anwälte heftig attackiert. Waren das keine Konflikte?

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G: Doch. Aber es waren keine Konflikte, die mich erschüttert haben. Sie müssen bedenken, dass ein Anwalt entscheidet, wie er auf Konflikte reagiert und wann er wieder in die Haftanstalt kommt. Die Kommunikation wurde von beiden Seiten jeweils im eigenen Interesse bestimmt. DK: Waren die Strafrechtsänderungen 1974 und 1976/77, etwa das Verbot der Mehrfachverteidigung, ein Schlag für Sie? G: Die Gesetze wurden mit falschen Behauptungen begründet. Die falsche Begründung bestand darin zu sagen, ohne die Gesetzesänderungen hätte der Prozess nicht geführt werden können. Außerdem wurde die falsche Behauptung aufgestellt, jeder Mandant habe 26 oder 30 Anwälte. Jeder Insider wusste, dass dies eine falsche Behauptung war. Damals hatten die Büros oft vier oder sechs Anwälte und die Vollmacht wurde immer auf alle Anwälte ausgestellt, sozusagen auf die Firma. Tatsächlich waren aber nur einzelne Anwälte der Büros als Verteidiger tätig und haben die Gefangenen besucht. In der öffentlichen Propaganda wurden nicht nur die Anwälte gezählt, die aktiv tätig waren, die also Besuche machten und Schriftsätze unterzeichneten, sondern alle, die zum jeweiligen Büro gehörten. DK: Ging die Justiz von falschen Zahlen aus? G: Ja. Sie haben die Zahlen vom BKA zugespielt bekommen, die objektiv falsch waren. Die hohen Zahlen waren Propaganda. Man möge sich in den Akten der Gefängnisse und der Bundesanwaltschaft die Personen ansehen, die Besuche machten. Nur wenige machten die Schriftsätze und Beschwerden. DK: Welches waren aus Ihrer Sicht die zentralen Maßnahmen, die von der Bundesregierung ergriffen wurden? G: Ende 1974 wurde in Eillesung das erste Antiterror-Gesetz beschlossen. Der wichtigste Punkt: Das Erklärungsrecht des Anwalts wurde abgeschafft. Ein Staatsanwalt eröffnet das Verfahren mit der Anklageschrift, die Täter und Taten beschreibt und die böse Gesinnung und Motivation darstellt. Der Anwalt erwidert darauf und stellt gleichzeitig seine Strategie dar. Das wurde abgeschafft. Man wollte das Rederecht der Verteidigung weitgehend beseitigen, insbesondere das Recht, „auf Verlangen“ das Wort zu ergreifen. Man wollte also die Kritik der Anwälte zum Verfahren ausschalten. Eine weitere Einschränkung war das Verbot, in einem Organisationsdelikt mehrere Mandanten zu verteidigen, man wollte die gemeinschaftliche Verteidigung einer angeklagten Gruppe verhindern. Auch hier geht es um das Verteidigungsrecht, zugleich um das Grundrecht auf Meinungsfreiheit. Denken Sie an andere Verfahren wie den Contergan-Prozess oder den Prozess gegen Josef Ackermann im Zusammenhang mit Mannesmann. In solchen Verfahren können die Angeklagten sich nur als Gruppe und in Koordination mit den Verteidigern verteidigen. Noch mehr gilt dies in einem politischen Prozess wie im Prozess gegen die RAF-Mitglieder, wenn die Mandanten inhaftiert und von der öffentlichen Meinung vorverurteilt sind. Eine dritte Einschränkung war: Man durfte nicht hintereinander Angeklagte verteidigen, wenn ein Sachzusammenhang

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zu früheren Mandaten oder Mandanten bestand. Das bedeutet, dass in den politischen Verfahren gegen andere RAF-Mitglieder erfahrene Verteidiger ausgeschaltet wurden. In Stammheim tauchten später oft neue Anwälte auf, die gerade drei Jahre, ja manchmal nur ein Jahr eine Zulassung hatten, die sich den Sachzusammenhang völlig neu erarbeiten mussten. Gegenüber den erfahrenen Bundesanwälten waren sie weit unterlegen. H: War die Körperkontrolle beim Besuch der Gefängnisse für die Anwälte entwürdigend? G: Die Körperkontrolle, die gegen Anwälte ausgeübt wurde, war eine entscheidende Einschränkung der freien Verteidigung. Diese Durchsuchungen waren nicht vom Gesetzgeber beschlossen. Die Justiz, die Bundesanwaltschaft und die Gerichte verlangten dies und waren sozusagen Verstärker der politischen Stimmung. DK: Wie haben Sie auf die Abhörmaßnahmen reagiert? G: Zu diesem Zeitpunkt war ich nicht mehr Verteidiger der RAF-Gefangenen. Ich habe in öffentlichen Vorträgen darüber gesprochen, aber selbst keine Anträge gestellt. DK: Glauben Sie, dass die Bundesanwaltschaft und die Richter von den Abhörmaßnahmen nichts wussten? G: In dem Strafprozess gegen mich hat das Gericht gesagt, der angeklagte Anwalt habe geglaubt, alles, was er tat, sei Verteidigung; er hätte aber wissen müssen, dass zwar das meiste Verteidigung sei, aber eben nicht alles. Das Gericht hat deshalb von Verbotsirrtum gesprochen, aber von einem vermeidbaren. Vielleicht war es ähnlich bei den Richtern. Eigentlich hätten sie wissen müssen, was offi­ziell hinter ihrem Rücken geschah. Sie konnten nicht glauben, dass dieser Prozess so gehandhabt wurde wie andere Prozesse. Sie selbst haben damals besondere, vielleicht abartige Beschlüsse gefasst, die in einem sogenannten normalen Prozess nicht gefasst worden wären. DK: Hat dies Ihr Selbstverständnis erschüttert? G: Das hat das Selbstverständnis nicht erschüttert, eher gestärkt. Denn es stärkte die Bereitschaft, gegen solche Stimmungen und die Einschränkung der Verteidigung zu kämpfen. DK: Wurde nach Ihrer Auffassung die Verhandlungsunfähigkeit der Angeklagten bewusst hergestellt? G: Nein. Die Angeklagten wollten nicht ihre Verhandlungsunfähigkeit erreichen. Sie verlangten bessere Haftbedingungen. Solange ich mit ihnen zu tun hatte, ging es um die Haftbedingungen und um das Recht, sich politisch zu verteidigen. Es ging nicht um Verhandlungsunfähigkeit. Sie wollten den Prozess und sie wollten ihn nutzen. Die Anwälte haben sehr früh die sensorische Deprivation durch Geräuschisolierung beschrieben und in Anträgen den Richtern mitgeteilt. Die An-

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wälte hatten Forschungsunterlagen von Professor Jan Gross, Hamburg, vorliegen, die sich mit Geräuschisolierung, mit sensorischer Deprivation, beschäftigten. Es hieß darin, dass im Falle von Geräuschisolierung Gefangene nach ihren Häschern schreien. Von diesen Häschern, die eigentlich ihre Feinde sind, hängen Erleichterung und die Lebensfähigkeit ab. Seit dem Korea-Krieg war in der ganzen Welt bekannt, dass man auf diese Weise durch „Gehirnwäsche“ Gefangene für einen Prozess vorbereitet. Der Konflikt mit der Regierung und der Justiz bestand darin, dass es nach den internationalen Regeln in der Bundesrepublik sozusagen nicht erlaubt war, so etwas von der deutschen Regierung zu denken. Indes, wir haben es gedacht, festgestellt und ausgesprochen. DK: Es war ein Novum? G: Ja, aber das Novum waren die Haftbedingungen, nicht das Denken und die Beschwerden darüber. Ich habe viele Schreiben und Gutachten von Psychiatern der Justizvollzugsanstalt Köln-Ossendorf gelesen, die besagten, würden Astrid Proll oder Ulrike Meinhof länger in Isolation gehalten, kämen sie um den Verstand. Wir hatten diese Unterlagen. Warum sollte ich sie nicht ernst nehmen? Wir waren auf Seiten der Mandanten und nicht der Bundesregierung und der Bundesanwaltschaft. DK: Bestimmt kennen Sie das Buch des Justizvollzugsangestellten Horst Bubeck, der der Haftbedingungen in Stuttgart-Stammheim als ideal und privilegiert beschreibt. G: Ich kenne das Buch. Es bezieht sich auf Stammheim und nicht auf Köln-­ Ossendorf und andere Gefängnisse. In den Haftanstalten, in denen sich die Gefangenen vor Ende 1974 befanden, wurden sie durch Isolation kleingemacht, als Mensch vernichtet, egal, wie man diese Maßnahmen nennen möchte. In Stammheim war es anders. Man kann die Haftbedingungen in Stammheim auch als einen Erfolg der Hungerstreiks ansehen. Andererseits lag es damals im Interesse der Bundesregierung und der Justiz, äußerlich kommunikative Haftbedingungen vorzuweisen. Man wollte den Umstand verbergen, dass die Mandanten in den Monaten und Jahren davor durch Isolation in ihrer Persönlichkeit und in ihrer Gesundheit angeschlagen und mehr oder weniger zerstört waren. Die Zustände in Stammheim waren kein Privileg. Es gibt kein Gesetz, das besagt, dass Beschuldigte, die nicht verurteilt sind, schlechter als normale Bürger zu stellen seien. Sie dürfen alle Zeitungen lesen. Wieso sollte Fernsehen ein Privileg sein? Mit Hilfe des Strafgesetzbuches und der Grundrechte lassen sich die den Gefangenen in Stammheim zugestandenen Rechte nicht als Privileg erklären. Die Behauptung, häufige Anwaltsbesuche seien ein Privileg, ist auch mit der Rechtsordnung nicht vereinbar, ebenso wenig wie die Beschränkung von Besuchen der Familienangehörigen. Der häufige Besuch der Anwälte beruhte auch darauf, dass die Mandanten so viele Einschränkungen erfahren mussten, dass es Repressalien gegen sie gab und dass sie innerhalb der Haftanstalten in einem übermäßigen Ausmaß von der üblichen sozialen Struktur und oft von den üblichen Geräuschen isoliert wurden.

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DK: Der Umschluss war kein Privileg? G: Der Umschluss war kein Privileg. Der findet auch in normalen Haftanstalten statt. Durch den Zweck der Untersuchungshaft, Verdunklung oder Flucht zu verhindern, wird er nicht gehindert. DK: Auch zwischen Männern und Frauen? G: Das war in der Tat eine Besonderheit. Da haben Sie natürlich Recht, wenn Sie auf die Praxis sehen. Aber das sehe ich nicht als Privileg an. Sie müssen bedenken, dass die Justiz in Stammheim auf Vorwürfe der jahrelangen Isolation reagierte und die Hauptverhandlung möglich machen wollte. Keineswegs war es das Ziel der Bundesanwaltschaft, des Gerichts und des Bundeskriminalamtes, etwas Gutes für die Mandanten zu tun. DK: Waren die privilegierten Bedingungen das Ergebnis der Verteidiger? G: Das könnte man sagen. Kein Mensch hätte ohne öffentliche Diskussion der Haftbedingungen etwas zugunsten der Gefangenen in einem politischen Prozess unternommen. DK: Markierte der Tod von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe einen Einschnitt für die Verteidiger? G: Ich war zu diesem Zeitpunkt kein Verteidiger mehr. Schily hat darüber gesprochen, wie erschütternd es war, die Mandanten, die er noch vor kurzem gesehen und gesprochen hatte, auf dem Seziertisch zu sehen. Das wäre mir wahrscheinlich auch so gegangen. Ein Einschnitt, was mich selbst betraf, war es nicht. Ich bin zu keiner Beerdigung gegangen, weil ich meine Rolle als Anwalt anders sah. Ich bin auch nicht zur Beerdigung von Holger Meins gegangen. DK: Sie haben sich mehr mit Ihrem eigenen Prozess beschäftigt? G: 1977 habe ich mich nicht nur mit meinem eigenen Prozess beschäftigt, sondern auch mit dem Justizsystem der Bundesrepublik. Ich habe vor der franzö­ sischen Richtervereinigung und der französischen Anwaltsvereinigung gesprochen. Ich habe auch vor Anwaltsvereinigungen in anderen Ländern, wie in England und Italien, gesprochen. Ich war in Amerika und suchte nach Unterstützung für die Position der Verteidiger. Ich habe viele Reisen zu juristisch für mich wichtigen Institutionen gemacht. DK: Worum ging es in Ihrem Prozess? G: Es ging um die Freiheit der Verteidigung oder, von der anderen Seite gesehen, um die Begrenzung der Verteidigung. DK: Können Sie das ausführen? G: Ich habe mich verteidigt, indem ich die Tradition von Strafprozessen in der Geschichte zurückverfolgt habe und internationale Grundsätze und Prinzipien, die

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sich in der Europäischen Menschenrechtskonvention wiederfinden, vorgetragen. Es ging immer um das Recht des Angeklagten, sich mit eigenen Ideen und Konzepten zu verteidigen. Eine solche Verteidigung war bei einem Organisationsdelikt auch in anderen Staaten immer nur als kollektive Verteidigung denkbar. Dazu gehörte das Info-System, weil ein politischer Prozess auf der Grundlage eines Austausches von Informationen und Standpunkten geführt werden muss. Dazu hatte ich einen wichtigen Zeugen: Ramsey Clark, den früheren Justizminister der Vereinigten Staaten unter Kennedy und Johnson. Er hatte in dem Prozess gegen die katholische Linke, gegen den Priester Berrigan, verteidigt. Der Vorwurf bestand darin, die katholischen Priester hätten die Heizungsanlage des Weißen Hauses in die Luft sprengen wollen. Nach der Anklage war das ein Sprengstoffdelikt. In diesem Prozess hat man allen Verteidigern und allen Angeklagten gemeinsame Gespräche eingeräumt. Denn in Amerika gibt es zwar eine Tradition der Conspiracy oder des Vorwurfes der Verschwörung. Das entspricht der kriminellen Vereinigung. Aber es gibt auch eine starke Tradition der Verteidigung. Das starke Verständnis von Verteidigung ergibt sich auch aus dem grundlegenden Unterschied zum europäischen und deutschen System. Auf diese internationalen Prinzipien habe ich mich berufen und beispielsweise auf Konstruktionen wie im Eichmann-Prozess in Jerusalem, in dem die Anklage bemerkenswert war. Es ging dem Ankläger nicht um die Schuld oder Unschuld von Eichmann, das Urteil war das technische Ziel. Die israelische Regierung und der Ankläger wollten der Welt vorführen, was während des Holocaust in Deutschland passiert war. Das war ihr Ziel, darauf habe ich mich berufen. Die Freiheit der Verteidigung besteht darin, die Verteidigung zu gestalten. Deshalb habe ich versucht, alles mit den Gesetzen und historisch zu rechtfertigen. Ich denke, das ist bei diesem Gericht in gewisser Weise gelungen. Das Gericht hat mich nicht freigesprochen. Ich denke, ein Freispruch war politisch damals nicht opportun. Das Oberlandesgericht Hamburg, der politische Strafsenat, vor dem ich angeklagt war, hat deshalb über die Grenzen der Verteidigung gesprochen. Zum Info-System hat das Gericht gesagt, es sei bei einer gemeinschaftlichen oder kollektiven Verteidigung legal. Von den 2000 Schriftstücken, die ich verteilt habe, hat das Gericht nur 11 als nicht verteidigungsbezogen eingestuft. Sie seien deshalb rechtswidrig und als Unterstützung des Selbstverständnisses der Gefangenen anzusehen. Das Gericht befand, dass die Übernahme der Verteidigung und der Einsatz anerkennenswert und ehrenwert waren. Es läge ein vermeidbarer Verbotsirrtum vor und der Angeklagte habe in grober Fahrlässigkeit die Verteidigungsbezogenheit gesehen und die Verbotswidrigkeit nicht erkannt. Anders gesagt: Ich hätte besser nachdenken sollen. Die der Anklage zugrundeliegende Konstruktion beruht im Sinne der Bundesanwaltschaft darauf, die Angeklagten in der Haft als kriminelle Vereinigung anzusehen, obwohl sie weit entfernt von irgendwelchen Taten waren und obwohl der von mir verantwortete Austausch von Informationen nur im Rahmen der Verteidigung einzuordnen ist. Man sieht, dass diese Konstruktion auch für das Gericht ambivalent war. Jedenfalls ist die Bundesanwaltschaft mit ihrer Idee, die Unter-

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stützung des Hungerstreiks sei illegal, nicht durchgekommen, ebenso wenig auch nicht mit der Qualifizierung, das Info-System sei an sich illegal. Im Gegenteil. H: Lag das an Richter Helmut Plambeck? Verkörperte er einen neuen Typus des Richters? G: Nein, Richter Plambeck war ein Mann, der nicht prinzipiell dachte, wie ich auch bei meinen Anträgen zur Löschung der Telefonüberwachungsprotokolle gesehen habe, die im Prozess nicht benutzt wurden. Aber er war beeindruckbar, wie sich auch aus der Begründung des Urteils ergibt. In der juristischen Kritik wurde gesagt, dass die Argumentation des Gerichts eigentlich zu einem Freispruch hätte führen müssen. Die Atmosphäre war insoweit liberal, als er dem Angeklagten ein Forum für die Verteidigung gegeben hat. Ich denke, er musste in der damaligen Situation das Urteil fällen, mit juristischen Festlegungen, die die Verteidigung einschränken, aber er kam zu dem Ergebnis meine Tätigkeit als Verteidiger der RAF zu loben. Zu meinen Verteidigern gehörten damals nicht nur Erik von Bagge und Reinhard Zimmermann aus Bochum, sondern auch der Staatsrechtler Professor Ulrich K. Preuss und Roland Houver, ein französischer Advokat. DK: Wie wurde der Prozess in der Öffentlichkeit dargestellt? G: Die Bundesanwaltschaft machte den Versuch, das Verfahren als Terrorismus­ prozess darzustellen. Entsprechend wurde der Zugang zu der Verhandlung mit Sondermaßnahmen garniert. Sogar Professoren wie der damalige Direktor der Hamburger Kunsthalle, Werner Hofmann, oder Richter, die Zuschauer sein wollten, mussten die Schuhe ausziehen. Einige Richter haben sich deshalb bei dem Vorsitzenden Plambeck beschwert. Dieser antwortete, ihm selbst würde es nichts ausmachen, die Schuhe auszuziehen. In dem Prozess spielte natürlich eine Rolle, dass das Bild, das die Bundesregierung und die Bundesanwaltschaft von mir gezeichnet hatten, sich nicht bestätigte. Man kannte mich in Hamburg über die literarische Szene ebenso wie über die kaufmännische und war irritiert. Dabei spielten der bürgerliche Hintergrund und die Anwaltstätigkeit für Literaten und die Gründung eines Verlags mit politischen Titeln eine Rolle. Nach meiner Erklärung zur Person veränderte sich die Stimmung in der Hauptverhandlung und in der Öffentlichkeit. Außerdem hatte ich nicht die Revolution zu verteidigen, sondern das Recht auf Verteidigung, das von der Bundesanwaltschaft in Frage gestellt wurde. DK: Haben Sie mit diesem Prozessverlauf gerechnet? G: Nein. Als Gutachter hatte ich Winfried Hassemer, Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie, den späteren Verfassungsrichter, und Jürgen Welp, den renommierten Professor für Strafrecht, gebeten, schriftliche Gutachten zur Frage zu verfassen, ob die in der Anklageschrift beschriebene Tätigkeit als Unterstützung einer kriminellen Vereinigung anzusehen sei oder nicht. Diese für mich günstigen Gutachten habe ich dem Gericht vorgelegt. Nach der Strafprozessordnung sind die Gutachter nicht direkt in der Hauptverhandlung zu hören, da das Gericht „das Recht kennt“. Insgesamt wurden die Papiere erörtert, und ich selbst war alleine die

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Person, die diese Papiere erklärte. Außerdem gab es nur drei Zeugen, nämlich den früheren US-Justizminister Ramsey Clark, den qualifizierten Anwalt für internationales Recht, Peter Weiss aus New York, und einen gaullistischen Anwalt, der in Frankreich Prozesse während des Algerien-Krieges geführt hatte. Auch er bestätigte, dass die Angeklagten das Recht und die Verteidiger dazu das Recht vertreten hatten, eine gemeinschaftliche und politische Verteidigung zu führen. Durch diese Zeugen und durch die Prozessbeobachter wurde der Prozess internationalisiert, d. h. er fand international eine Aufmerksamkeit. Von Amnesty International war Professor Christiaan F. Rüter, der Sammler der NS-Urteile, vertreten bzw. er schickte als Vertreter einen deutschen Anwalt. Ebenso gab es Delegierte aus Großbritannien, Frankreich, Italien und den USA. Ich glaube, dass die Konzeption eines öffentlichen Prozesses erfolgreich war. Der Erfolg bestand darin, dass die Öffentlichkeit am Ende auf meiner Seite war und ich schon bald wieder als Strafverteidiger auftreten konnte, so als Verteidiger von Konrad Kujau, dem Fälscher der im „Stern“ veröffentlichten Hitler-Tagebücher. Das Urteil des Gerichts lautete auf zwei Jahre Freiheitsstrafe auf Bewährung und die Auflage, 75.000,00 DM an die Witwen und Waisen der Polizei zu zahlen, in Raten von 5.000,00 DM monatlich. Meinen Antrag, die Gelder Amnesty International zukommen zu lassen, hat der Vorsitzende Richter Plambeck abgelehnt. DK: Wie haben Sie auf das Berufsverbot reagiert? G: Das Oberlandesgericht hatte ein Berufsverbot ausdrücklich abgelehnt. Das befristete begrenzte Berufsverbot der Anwaltschaft war ein großer Eingriff, weil es meine Tätigkeit als Anwalt zeitweilig beseitigte. DK: Es bestand fünf Jahre? G: Nein, das ist nicht ganz richtig. Das Berufsverbot wurde nach etwa einem Jahr wieder aufgehoben. Es war ausgesprochen worden, weil ich angeblich dem Ansehen der Anwaltschaft geschadet hätte. Das Bundesverfassungsgericht hat in anderer Sache entschieden, dass das Ansehen der Anwaltschaft eine ständische Floskel sei und ein Berufsverbot (Suspension) nur bei Gefährdung der Rechtspflege zulässig. Darauf wurde das Berufsverbot gegen mich aufgehoben. In der Berufung hat der Ehrengerichtshof gesagt, ich sei auch eine Gefahr für die Rechtspflege. Das Gericht bezog sich auf ein Interview, das ich dem NDR gegeben hatte, und auf die Unterstützung des Hungerstreiks. Es gab erneut ein vorläufiges Berufsverbot. Das bedeutete: Ich wurde suspendiert bis zum Strafverfahren, das 1978 stattfand. Kurz vor Beginn der Hauptverhandlung bekam der Vorsitzende Richter, der sich bereits gegen die politische Verteidigung exponiert hatte, einen Herzinfarkt. Tatsächlich wurde der Prozess dann unter dem Vorsitz des Richters Helmut Plambeck geführt. DK: Wie sind Sie aus dem Prozess herausgegangen? G: Durch den Prozess wurde ich darin bestärkt, über die Grundsätze des Berufs historisch und konzeptionell nachzudenken und diese Grundsätze in der Ver-

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teidigung dem Gericht und der Öffentlichkeit vorzutragen. Den Prozess habe ich mit einem starken Selbstbewusstsein durchgestanden. Ich bekam Anerkennung von vielen Seiten, so von Otto Schily. Der Prozess hat im Ausland viel Wirbel gemacht und Widerspruch herausgefordert. Das stärkt bekanntlich ebenfalls das Selbstbewusstsein. Danach schloss sich noch ein formelles ehrengericht­ liches Verfahren an. Es endete mit fünf Jahren Berufsverbot nur für Strafsachen. Da das vorläufige Berufsverbot schon vier Jahre lief, gab es nur ein Jahr, in dem ich in Strafsachen nicht tätig sein durfte, sonst in allen Gebieten, insbesondere in Zivilsachen. DK: War die Gründung der Zeitschrift „Strafverteidiger“ 1980 ein Resultat der Entwicklung? G: Man kann es so sagen. Aber ich denke, ich habe auch innerhalb der RAFVerteidigung versucht, die Erklärungen der Anwälte auf Pressekonferenzen aufzubewahren und die Manuskripte einzusammeln. Es war nicht immer ganz einfach, weil einige Anwälte lieber sprechen als schreiben. Seit 1976 habe ich Anwaltstreffen organisiert, etwa alle sechs bis acht Wochen. Bei den Treffen erschienen alle Anwälte, die in linken oder in politischen Prozessen tätig waren. Auch dafür gab es ein Info-System. Damals begannen auch die ersten Strafverteidigertage, an deren Grundorganisation ich beteiligt war. Im Bereich Rechtspolitik folgte die Gründung der Zeitschrift „Strafverteidiger“ in der Europäischen Verlagsanstalt, deren Gesellschafter ich war. Sie sollte nur von Anwälten gemacht werden und nicht von Jura-Professoren. Das Eintreten von Professor Klaus Lüderssen in die Redaktion war später ein Glücksfall. H: War die Zeitschrift die Institutionalisierung der Idee des neuen Typus des Anwalts? G: Nein und ja. Sie ist nicht mit dieser Intention gegründet. Sie ist nicht verbunden mit dem Begriff „neuer Typus“ des Anwalts. Aber ihr Ziel war eine neue Wertigkeit der Strafverteidigung insgesamt. Sie ist im Beginn, genau wie die Strafverteidigertage, vom Deutschen Anwaltsverein bekämpft und öffentlich als links oder gar terroristisch eingeordnet worden. H: War es Ihnen letztlich nur aufgrund ihres zweiten Berufes möglich, das neue Selbstverständnis des Anwalts zu verteidigen? G: Natürlich spielt das eine Rolle. Ich habe innerhalb der vier Jahre des Berufsverbots viele Reisen unternommen und Vorträge gehalten und Zeitungsinterviews gegeben. Ich habe nicht aufgrund des Vermögens etwas Ideelles verteidigt, ich habe den Beruf verteidigt, und meine weitere Tätigkeit war auch immer der Anwaltsberuf. DK: Wie steht es jetzt, 30 Jahre später, um das Selbstverständnis der Anwälte? G: Ich glaube, dass das Selbstverständnis der Strafverteidiger mit der Zeit gewachsen ist und dass Anwälte ihre Rolle anders begreifen als vorher. Sie nehmen

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eine aktive Rolle wahr. Eine andere Frage ist, wie die Realität in der Justiz ist. Meine Wahrnehmung ist, dass das System des Deals – das 50 Prozent aller Strafprozesse zur Verhandlung hinter den Kulissen macht – die öffentliche Funktion von Strafprozessen entleert. H: Hat sich die Rollenverteilung zwischen Richtern und Anwälten und damit das Justizsystem verändert? G: Das Selbstbewusstsein der Anwälte hat sich verändert und damit auch ihre Rolle. Sie sind stärker geworden. Die Richter hören anders zu. Es sind Richter, die durch die Zeit oder durch das Selbstbewusstsein der Strafverteidiger beeinflusst sind. Vielleicht haben sie auch anders studiert. Aber auch auf Seiten der Richter hat sich einiges verändert. Oft sind sie sich ihrer Macht mehr bewusst als früher. Der dritte Punkt der Veränderung ist der Deal. Er führt dazu, dass Strafprozesse nicht oder in vielen Fällen nicht mehr vollständig stattfinden. Im Deal verbinden sich die Interessen von Richtern und Verteidigern, ein Verfahren schnell zu beenden. Das ist ein beruflich verständlicher Wunsch, der prinzipiell nicht gut ist. Das ist ein Ablasshandel. H: Was ist für Sie ein politischer Prozess? G: Ein politischer Prozess ist erstens immer dann gegeben, wenn es um Machtverhältnisse geht. Das ist der entscheidende Punkt, die Ausübung von Macht und von Diskriminierung und Delegitimierung von Macht. Ein politischer Prozess ist zweitens gegeben, wenn es um die Mentalitätsgeschichte oder das öffentliche Bewusstsein geht, wenn über den Prozess etwas in Frage gestellt oder kritisiert wird. Es sind nicht die Regeln der Strafprozessordnung oder einer anderen Ordnung, die den politischen Prozess ausmachen, sondern es geht um den Inhalt. Aber ein Prozess – und deswegen ist das Wort Prozess auch wichtig – wird mit den Mitteln der Strafprozessordnung auf der Grundlage der Verfassung oder der internationalen Prinzipien geführt. DK: War der Prozess gegen Wolfgang Huber und das Sozialistische Patientenkollektiv (SPK) ein politischer Prozess? G: Ich war auch Verteidiger in den Prozessen gegen Mitglieder des Sozia­ listischen Patientenkollektivs. Zentraler Anwalt war Eberhard Becker, der später Mitglieder der RAF verteidigt hat und 1973 selbst in den Untergrund ging. 1974 wurde er verhaftet. Das Sozialistische Patientenkollektiv war angetreten, um die psychiatrische Behandlung zu verändern mit dem Ziel, mehr Patienten wieder in die Gesellschaft zu entlassen. Das ist ein politisches Anliegen. Die Feindschaft gegenüber der traditionellen Psychiatrie ist auch politisch. Es gibt interessante Gutachten darüber von Professor Horst Eberhard Richter und von Professor Peter Brückner. Die Mitglieder des SPK wurden verfolgt und haben eines Tages aus der Verfolgung heraus gemeint, sie müssten sich bewaffnen und sich der RAF-Ideologie anschließen. Vor diesem Hintergrund war es ein politischer Prozess.

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DK: Das gilt auch für das Stammheim-Verfahren? G: Stammheim ist eo ipso ein politischer Prozess, weil die Angeklagten in Stammheim, wie es in der Anklageschrift und in vielen Erklärungen der Bundes­ regierung und der Bundesanwaltschaft heißt, das System der Bundesrepublik ändern wollten. Ihnen wurde vorgeworfen, sie wollten das politische und wirtschaftliche System verändern mit Instrumenten, die kein Staat in der Welt zulassen kann, nämlich mit Gewalt, mit Sprengstoffattentaten. Wenn solche Personen in die Fänge der Justiz geraten, müssen sie angeklagt werden. Der Prozess als solcher bleibt politisch, weil er sich mit den Menschen, ihren Absichten und mit dem Zusammenhang ihrer Taten befassen muss. Das war in Stammheim z. B. der ­Vietnam-Krieg, ein starkes Motiv für die Angeklagten. H: Würden Sie auch in Bezug auf die Justiz Ende der 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre von politischer Justiz sprechen? G: Ja. Das ist doch gar nicht streitig. Wir haben nach dem Korea-Krieg 1950/1953 in der Bundesrepublik Institutionen der politischen Justiz eingerichtet, besondere Abteilungen bei der Bundesanwaltschaft und bei den Gerichten. In der Begründung heißt es ausdrücklich, die Wiedereinführung der Gesetze, die 1945 verboten worden waren, und die Neueinrichtung von politischen Abteilungen der Gerichte und bei der Bundesanwaltschaft sei notwendig, um erfahrene Juristen einzusetzen, die sich der Politik der Bundesregierung verpflichtet fühlen. Das zeigt, dass hier eine bewusste Entscheidung der Regierung vorliegt und der Begriff nicht etwa nur von Kritikern der politischen Justiz benutzt wird. Ich meine nicht, dass die Richter, die in politischen Senaten tätig sind, sich wie Politiker verhalten. Diese Meinung möchte ich nicht bejahen. Aber die Politik gibt die Orientierung. Das zeigt sich in den Begründungen von Anklagen der Bundesanwaltschaft wie denen von Gerichtsentscheidungen. DK: Aber in Bezug auf die 1970er Jahre wurde immer wieder angeführt, dass die Verfahren gegen RAF-Mitglieder normale Strafprozesse gewesen seien. G: Zunächst einmal sind es, institutionell betrachtet, zwar Gerichte, aber sie sind als „Sondergerichte“ oder Staatsschutzabteilungen eingerichtet. Auch die politische Abteilung der Bundesanwaltschaft wurde eingerichtet mit der Begründung, man brauche dort Personen, die loyal zum Staat seien. In der Hauptsache erhob die Bundesanwaltschaft in dem RAF-Prozess den Vorwurf, die Angeklagten wollten das demokratische System in der Bundesrepublik Deutschland zerstören. In der Anklageschrift werden viele Seiten auf die Darstellung der politischen Absichten der Angeklagten verwendet. Ähnliches stand auch in Anklageschriften gegen sogenannte Sympathisanten der RAF und früher gegen Unterstützer der kommunistischen Bewegung. Oft wurden nur Personen wegen Unterstützung angeklagt, die z. B. Plakate hochgehalten oder an Autobahnbrücken angeheftet hatten. Das heißt, es wurde nicht ein Tatbeitrag gefordert zu Sprengstoffattentaten, sondern die gesinnungsmäßige Unterstützung wurde als Straftat verfolgt. Diese

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Tendenz richtete sich früher gegen Personen, die der KPD nahe standen, und später gegen Personen, die sich nur gegen Haftbedingungen aussprachen. DK: Hätte man die Prozesse in den 1970er Jahren anders führen können? G: Ja. Ich glaube, wäre Heinemann noch Justizminister gewesen, hätte er nicht so hysterisch reagiert und die Aufregung heruntergesetzt. Wir erinnern uns: Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke appellierte er an die Demonstranten mit den Worten: „Wer mit einem Finger auf andere zeigt, zeigt mit den anderen Fingern auch immer auf sich selbst.“ Das war ein anderer Typus Politiker als die Personen, die die Anti-Terror-Gesetze gemacht haben und die die Aufregung im Deutschen Bundestag befördert haben: Franz Josef Strauß, Karl Carstens auf der einen Seite, Hans-Jochen Vogel, Helmut Schmidt auf der anderen Seite. DK: Die Liberalisierungstendenzen im Strafrecht in den 1960er Jahren wurden in den siebziger Jahren abgebrochen. In welcher Phase befinden wir uns jetzt? G: Alle Einschränkungen der Verteidigung bestehen weiterhin. Keine einzige wurde aufgehoben. Hans-Christian Ströbele als Abgeordneter des Deutschen Bundestages hat mehrfach Anträge auf Aufhebung der Gesetze gestellt. Wenn man ernsthaft der Freiheitsidee folgen möchte, könnte man die Gesetze durchforsten und das meiste streichen. Warum man das nicht tut, hat auch symbolischen Charakter, weil sich keine Regierung mit dem Sicherheitsapparat anlegen möchte. Es ist eine politische Haltung.

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Foto: privat

Geboren im Jahre 1925 Studium der Rechtswissenschaft in Göttingen seit 1954 als Rechtsanwalt in Bremen tätig Als Verteidiger auch in politischen Strafsachen tätig: In den 50er/60er Jahren bei Verfahren gegen Kommunisten und andere Oppositionelle, in den 60er/70er Jahren in Prozessen gegen Angehörige der Studentenbewegung, in den 70er/80er Jahren in Prozessen gegen RAF-Mitglieder In den 90er Jahren Verteidigung von ehemaligen DDR-Bürgern (z. B. Hans Modrow) 1986 Ehrendoktor der Humboldt-Universität Berlin 1996 Ehrendoktor der Universität Bremen

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Gisela Diewald-Kerkmann (DK): Seit 1954 sind Sie als Anwalt tätig? Heinrich Hannover (H): An meinen ersten Prozess kann ich mich erinnern. Ich war als Pflichtverteidiger einem Kommunisten beigeordnet, der bei einer Demonstration mit der Polizei in Konflikt geraten war und den die Polizei so geschlagen hatte, dass er auf einem Auge fast blind geworden war. Die Polizisten haben, wie ich das später noch häufig erlebt habe, die Sache umgedreht. Sie haben behauptet, er hätte Gewalt angewendet und versucht, einen Gefangenen zu befreien und so weiter. Er wurde verurteilt. Das hat mich – auch als Anfänger auf diesem Sektor – empört, weil ich sofort spürte, hier wird nicht Gerechtigkeit geübt, sondern hier spielen antikommunistische Vorurteile eine Rolle. DK: Wissen Sie das Urteil noch? H: Er ist zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden, die nicht einmal zur Bewährung ausgesetzt wurde. Erst auf ein Gnadengesuch meines Mandanten hin, erfolgte eine Strafaussetzung zur Bewährung. Ingrid Holtey (H): Herr Hannover, wenn ich Sie einen „Achtundsechziger“ nennen würde, könnten Sie dem zustimmen, oder wäre es präziser zu sagen „Anwalt der Achtundsechziger“? H: Naja, ich war damals schon 14 Jahre als Anwalt tätig. Ich habe mich aber mit den jungen Leuten solidarisiert, durchaus Sympathien für diese Bewegung gehabt und auch viele von ihnen anwaltlich vertreten. H: Haben Sie an bestimmten Aktionen der Außerparlamentarischen Opposition teilgenommen? H: Ich erinnere mich vor allen Dingen an eine Demonstration in Frankfurt am Main. Da waren mehrere tausend Gewerkschafter versammelt vor dem Römer und haben gegen die Notstandsgesetze demonstriert. Da habe ich als Redner mitgewirkt und bin auch mitgelaufen in Richtung Universität. Da versandete das Ganze, man wusste plötzlich nicht, was man jetzt machen sollte. Also, Revolution war im Augenblick nicht drin, man ging etwas frustriert nach Hause. Das war eine der Demonstrationen, an die ich mich erinnere. H: Wie kamen Sie zu dieser Bewegung, oder kam die Bewegung zu Ihnen? H: Die Bewegung kam zu mir. Es kamen junge Leute, die verteidigt werden wollten und verteidigt werden mussten. Allerdings fand auch vor den Fenstern meines Büros allerlei statt. Da gab es Zusammenstöße zwischen Polizei und Demonstranten. Ich konnte also, wenn ich aus dem Fenster blickte, schon sehen, was da draußen los war. H: Wurden Sie durch die Außerparlamentarische Opposition und Ihre Erfahrungen als Anwalt der APO politisiert? H: Nein, das war ich schon. Schon seit dem ersten Mandat hatte ich gespürt, dass politisches Strafrecht eine Besonderheit ist. Ganz anders als das normale Kri-

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minalrecht. Dass man plötzlich mit Menschen zu tun hat, die sich für eine Sache engagieren, die ich damals weitgehend mittragen konnte. Es ging damals um die Wiederbewaffnung unter Adenauer, um die Reaktivierung alter Nazis im Staatsapparat und in der Wirtschaft. Dagegen wurde demonstriert, und diese Demonstranten hatten auch meine Sympathien. H: Haben Sie sich einer Bewegung in den fünfziger Jahren angeschlossen? H: Ich habe Ostermärsche mitgemacht. H: Sie haben in Ihrem Buch „Die Republik vor Gericht“ geschrieben, dass in den Prozessen gegen Repräsentanten der Außerparlamentarischen Opposition ein neuer Typus des Anwaltes entstanden ist. H: Ich erinnere mich gar nicht, dass ich das so formuliert habe, dass ein neuer Typus entstanden sei. Es war eher eine neue Art von Prozessführung, indem man den Konflikt mit dem Gericht mit ausbaden musste, in den der Angeklagte kam. Und man spürte, dass das Publikum sich beteiligte. Es war anders als in den Kommunistenprozessen, wo man meistens das Gefühl hatte, die fanden ohne Interesse der Öffentlichkeit statt. Jetzt war plötzlich Öffentlichkeit da, plötzlich waren die Säle voller junger Leute, die mit den Angeklagten und auch mit dem Verteidiger sympathisierten. Das war schon ein ganz neuer Stil. H: Haben das Geschehen außerhalb des Gerichtssaales und die Mobilisierung der Öffentlichkeit dazu beigetragen, dass sich innerhalb des Gerichtssaales ­etwas verändert hat? H: Wenn man das Gericht betrat, kam man durch eine Polizeiabsperrung, und man merkte, dass da irgendwie von allen Seiten Dampf abgelassen wurde. Man erfuhr, dass auch Drohungen ausgesprochen, Richter und Schöffen bedroht wurden, ­ euten ausund hatte die nicht ganz unzutreffende Vermutung, dass das nicht von L ging, die den Angeklagten einen fairen Prozess sichern wollten. Wir vermuteten immer, dass wahrscheinlich irgendein Behördeninteresse dahinter stand. H: Welche Erfahrung haben Sie als Anwalt gemacht in diesen Prozessen? H: Ich habe in diesen Prozessen die Erfahrung gemacht, dass man in der Öffentlichkeit mit den Mandanten identifiziert wurde. Auch dann, wenn es durchaus Vorbehalte gab, und die gab es bei bestimmten Prozessen. In der 68er Bewegung bestand zwar weitgehend Solidarität zwischen Anwalt und Mandant, aber es gab dann die sogenannten Terroristenprozesse. Das war eine Materie, wo ich durchaus anderer Meinung als die Mandanten war, wenn es um die Sache selbst ging. Diese Mandanten konnte ich nur verteidigen, wenn es um die klassische Verteidigeraufgabe ging, sie vor falschen Zeugenaussagen, insbesondere vor falschen Aussagen von Polizisten zu schützen. DK: Der Tod von Holger Meins im Jahre 1974 stellte eine Zäsur dar. Welche Auswirkungen ergaben sich hieraus für die Verteidiger?

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H: Ob diese Aktionen Auswirkungen hatten auf das Verhalten der Verteidiger, kann ich so allgemein nicht beantworten. Ich kann immer nur sagen, ob sie auf mein Verhalten Einfluss hatten, und das war absolut nicht der Fall. Für mich war die Verteidigeraufgabe, die Mandanten davor zu schützen, zu Unrecht verurteilt zu werden. Das war eine Aufgabe, die unabhängig davon war, was in der Außenwelt passierte. DK: Sie haben sich mit den Haftbedingungen von Ulrike Meinhof auseinander­ gesetzt? H: Ich kannte Ulrike Meinhof aus der Zeit, als sie noch Kolumnistin für die Zeitschrift „konkret“ war. Daraus ergab sich, dass sie mich beauftragte, als sie einen Anwalt brauchte. Es war sehr schwierig, zu ihr zu gelangen, weil die Polizei und der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs zunächst versuchten, meine Vollmacht anzuzweifeln. Es hat jedenfalls mehrere Tage gedauert, bis ich überhaupt zu ihr kam. Dann erfuhr ich, dass sie in ganz ungeheuerlicher Weise der polizei­lichen Gewalt ausgesetzt gewesen war. Man hatte sie beispielsweise gegen ihren Willen entkleidet, gewaltsam, mit der Begründung, man müsse feststellen, ob sie eine Kaiserschnittnarbe habe, was sicher ein ungeeignetes Mittel war, sie zu identifizieren. Denn Frauen mit Kaiserschnittnarben gibt es viele. Man hat sie gewaltsam geröntgt, um festzustellen, ob an ihrem Schädel Spuren einer bestimmten Operation vorhanden waren. Unglaubliche Sachen sind mit ihr gemacht worden in der Zeit, in der sie noch keinen anwaltlichen Schutz hatte. Das zeigte mir, dass sie wirklich anwaltlichen Schutz brauchte. So war es auch in der Justizvollzugsanstalt Köln-Ossendorf, wo sie in einem „toten Trakt“ untergebracht wurde, in einem Zellentrakt, der von allen anderen Gefangenen geräumt worden war, so dass sie von jeder Geräuschverbindung abgeschottet war. Es kam nur drei Mal am Tag jemand, der mit Schlüsselgeräuschen sich bemerkbar machte und das Essen brachte. In der Zwischenzeit war sie von jeglichen Geräuschen isoliert. Das hält kein Mensch aus. Auch in der Zelle selber waren die optischen Eindrücke reduziert. Sie durfte zum Beispiel keine Bilder an die Wand hängen. Die Wände waren weiß getüncht. Das war ein Zustand, für den die Wissenschaft den Ausdruck „sensorische De­privation“ gefunden hat. Das ist eine Behandlung, die einen Menschen schlicht kaputtmacht und man hat sie kaputtgemacht. Sie hat sich später im Prozess auch für prozessunfähig erklärt. Eine Folge der Haftbedingungen, die auch von mehreren Sachverständigen bestätigt worden ist. DK: Waren solche Haftbedingungen nicht auffallend? H: Ja, es war vor allen Dingen deswegen für mich erschütternd, weil wir diese Haftbedingungen vergeblich reklamiert haben. Zwar gab es in Nordrhein-Westfalen sogar einen Justizminister, den ich als Kollegen kennengelernt hatte, Diether Posser. Es war ganz schwer, ihm klar zu machen, dass diese Haftbedingungen schlicht menschenunwürdig und krankmachend seien. Er hat allerdings nach einiger Zeit reagiert und hat meinen Wunsch erfüllt, Ulrike mit einer anderen Gefangenen, nämlich mit Astrid Proll, in eine Zelle zusammen zu legen. Das war natür­ lich eine Erlösung für beide Frauen. Astrid Proll war auch meine Mandantin und

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von ihr hatte ich erfahren, wie unerträglich diese totale Isolation sei, der Ulrike ausgesetzt war. Sie hatte die auch erlebt und mir gesagt: „Das ist die Hölle. Du musst die Ulrike da rausholen“. DK: Wie hat die Justizverwaltung reagiert? H: Obwohl wir die Zustimmung des Gerichtspsychologen hatten, der auch sagte, dass dieser Zustand unerträglich sei, hat es Monate gedauert, bis die Verwaltung reagiert hat, bis tatsächlich diese Bedingungen aufgehoben wurden. Ich habe diese Bedingungen damals als Folter bezeichnet mit der Folge, dass ein Ehrengerichtsverfahren gegen mich durchgeführt wurde. Ich hätte angeblich nicht „Folter“ sagen dürfen, denn Folter sei nur die Erzwingung einer Aussage durch Gewaltanwendung, aber mir fällt kein anderer Ausdruck ein für das, was da wirklich gemacht worden ist. DK: Sie wurden kontrolliert, wenn Sie in die Justizvollzugsanstalt kamen? H: Es war für mich eine ganz neue, erschreckende Erfahrung, dass man als Anwalt dem Verdacht ausgesetzt war, eine Waffe in die Justizvollzugsanstalt zu bringen. Das war für mich ungeheuerlich, dass man so etwas unterstellen konnte. Ich habe mich beim ersten Mal zunächst geweigert, und dann hat man mir gesagt: „Na gut, dann können Sie wieder nach Hause fahren, wenn Sie sich nicht durchsuchen lassen wollen“. Ich war echt gezwungen, das über mich ergehen zu lassen, dass man meine Kleidung untersuchte, ob ich Waffen bei mir hatte. Das setzte sich später während des Prozesses fort. Ich habe in Stammheim auch einen Prozess geführt, nicht für Ulrike Meinhof, sondern für einen anderen Mandanten. Da habe ich einmal bei der Durchsuchung, weil ich unter großer Spannung stand, angefangen laut zu singen. Ich habe dann in dieser engen Zelle so laut wie ich konnte gesungen „Gern hab ich die Frauen geküsst“. Der Beamte, für den das offenbar eine ungewohnte Form des gewaltlosen Widerstandes war, hat dann mit seiner Durchsuchung etwas schneller gemacht. Das stand wohl nicht in seinen Vorschriften, wie er sich da verhalten sollte. Aber Sie sehen daraus, ich brauchte irgendeine Abfuhr, um diese Spannung und diese Empörung loszuwerden, um dem Kerl nicht eins in die Fresse zu schlagen. DK: Sie haben dagegen protestiert? H: Alle Proteste, die liefen irgendwie gegen Watte, man hatte nicht das Gefühl, dass das ernst genommen wurde. Es ging tatsächlich darum, uns Verteidiger nicht nur öffentlich zu verdächtigen und zu entwürdigen, sondern uns auch wirklich kaputt zu machen. Das wäre bei einigen Kollegen wirklich fast gelungen. Es gibt einen Kollegen, der sich schließlich das Leben genommen hat, der Kollege Heldmann. Ich vermute, dass der fix und fertig war von dem, was ihm als sogenannter Terroristenverteidiger zugemutet wurde. DK: Hing die Strategie, die Verteidiger anzugreifen, mit einem neuen Selbstverständnis der Anwälte zusammen?

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H: Ob man ein neues Selbstverständnis der Verteidiger bekämpfen wollte, kann ich eigentlich nicht beantworten. Es ist für mich immer schwierig, die Vorstellungen derer einzuschätzen, die uns so behandelt haben. Es war ein Verhalten, das eingebettet war in eine Medienkampagne, die uns Verteidiger generell in den Verdacht brachte, dass wir ganz schlimme Sachen machten. So hatte in der Bild-Zeitung gestanden, dass wir Waffen in den Knast geschmuggelt hätten und Komplizen der RAF seien, dass wir mit denen gewissermaßen gemeinsame Sache machten und ihre Taten billigten. Alles Sachen, die jedenfalls für meine Person und ganz sicher für die meisten anderen Kollegen auch absolut unzutreffend waren. Das ist jahrelang in der Öffentlichkeit verbreitet worden. Ich spüre noch heute, dass es Leute gibt, die von dieser Pressekampagne Nachwirkungen zeigen. H: Aber ein Konflikt entstand vor Gericht, weil die Verteidiger historische Fakten klären wollten? H: Es war immer ein Konflikt, wenn man den Gerichten klar machen wollte, dass es für bestimmte Meinungsäußerungen, die immer wieder angeklagt wurden, durchaus tatsächliche Gründe gab. Wenn beispielsweise ein Mandant, ich denke jetzt an einen bestimmten Fall, den ich verteidigt habe, die Bundesrepublik als Staat der Kapitalisten bezeichnet hat, dann war das nach der Anklage eine Staatsverleumdung. Aus der Sicht des Verteidigers musste ich jetzt die Möglichkeit haben, Fakten heranzuziehen, die diese Meinungsäußerung rechtfertigten. Das wurde von den Gerichten grundsätzlich abgeblockt, indem man den in der höchstrichterlichen Rechtsprechung seit jeher festgeschriebenen Grundsatz ignorierte, dass auch bei ehrenkränkenden Werturteilen die zugrundeliegenden Tat­sachen aufgeklärt werden müssen. H: Schon in den fünfziger Jahren versuchten Sie, sich gegen das Etikett „kommunistische Friedensbewegung“ zu wehren. H: Ich habe das zum ersten Mal sehr drastisch kennengelernt im Prozess gegen führende Persönlichkeiten des Friedenskomitees, 1959/60 im Düsseldorfer Prozess, wo ich zusammen mit Kollegen wie Diether Posser, Walter Amann und Friedrich Karl Kaul verteidigt habe. Das Gericht hat einen Beweisantrag nach dem anderen abgelehnt, mit dem wir beweisen wollten, dass die Friedensbewegung bestimmte Aktionen unternommen hat, weil es dafür durchaus einen Anlass in der Politik der Bundesregierung gab. Damals ging es um die Wiederbewaffnung und die Behauptung, dass von der Sowjetunion ein Krieg vorbereitet würde. Alle Beweisanträge wurden abgelehnt, sodass Diether Posser, der an sich ein sehr gemäßigter Mann war – derselbe Posser, der später Landesjustizminister in NRW wurde – einen Ausspruch getan hat, den ich nie vergessen werde. Er hat den Richtern ins Gesicht gesagt: „Wenn Sie alle unsere Beweisanträge ablehnen, würde ich es ehrlicher finden, die Angeklagten durch Verwaltungsakt ins Konzentrationslager einzuweisen, als uns Anwälte hier als rechtsstaatliches Dekor zu missbrauchen“. Ja, das hat Posser denen ins Gesicht gesagt, und daran sehen Sie, unter welchem Druck wir standen und zu welcher Empörung wir auch fähig waren, weil

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wir und unsere Mandanten so behandelt wurden. Da war eine Verteidigung überhaupt nicht möglich. DK: War die Medienkampagne in den siebziger Jahren mit einem Abbau von Verteidigerrechten verknüpft? H: Ich habe den Abbau von Verteidigerrechten immer an konkreten Fällen kennengelernt. Wenn ich z. B. plötzlich gezwungen war, mit dem Mandanten nur noch durch eine Glasscheibe zu sprechen. Oder wenn ich beim Betreten des Sitzungssaals auf Waffen durchsucht wurde. Ich empfand das als ungeheuerliche Verdächtigung und Entwürdigung. DK: Haben Sie Unterstützung erfahren, z. B. durch anwaltliche ­Organisationen? H: An einer Unterstützung durch die Kollegen hat es damals generell gefehlt. Das sind in der überwiegenden Anzahl unpolitische Kollegen, die den politischen Prozess und dessen Besonderheiten aus eigener Erfahrung nicht kannten. DK: Sie haben mit der Unterstützung gerechnet? H: Ja, wir haben wegen Unterstützung an die Kollegenschaft wiederholt appel­ liert, aber sie blieb aus. Man hat erst sehr spät begriffen, dass im politischen Prozess mit harten Bandagen gekämpft wird. Während Kollegen zunächst in den Ehrengerichtsverfahren glaubten, mich belehren zu müssen, wie die anwaltliche Redefreiheit eingegrenzt werden müsse, hat man mich in den achtziger Jahren, als die Bundesanwaltschaft mir wegen meiner Prozessführung in Stammheim auch ein Ehrengerichtsverfahren anhängen wollte, in Schutz genommen. Man hatte endlich erkannt, dass das was ich gesagt hatte, im Rahmen der anwaltlichen Rede­ freiheit lag. DK: Vielfach wird angeführt, dass in Stammheim ein Gesinnungsstrafrecht praktiziert worden sei. H: In Stammheim ging es um Gewalttaten. Von Gesinnungsstrafrecht würde ich nur in den Fällen sprechen, in denen gewaltloses politisches Handeln angeklagt wurde. Insbesondere in den Kommunistenprozessen ging es immer um die Gesinnung, und zwar um die linke Gesinnung. Leute von rechts hatten bei dieser Justiz immer gute Karten. Da hat die Justiz differenziert, wie sie es schon in der Weimarer Republik getan hatte, und erst recht natürlich in der Nazizeit. Diese Einseitigkeit der Justiz, die haben wir zur Genüge kennen gelernt. DK: Gab es eine Kontinuität? H: Es gab eine Kontinuität, die sich historisch sehr weit zurückverfolgen lässt. DK: Obwohl das öffentliche Bewusstsein in den siebziger Jahren schon anders war und es kritische Verteidiger gab? H: Kritische Verteidiger hat es gegeben. Unter den Verteidigern war man sich einig, dass die Justiz einseitig ist. Ich habe beide Seiten der Justiz kennengelernt.

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Ich habe auch den Thälmann Mord-Prozess geführt, als Nebenklägervertreter, und dabei die Erfahrung bestätigt gefunden, dass Leute von rechts bei Gericht kaum etwas zu befürchten haben. Obwohl es eine sehr eindeutige Beweislage gab, ist in dem Fall des Thälmannmordes der angeklagte SS-Funktionär, gegen den sich meine Nebenklage richtete, letztlich freigesprochen worden. DK: Waren die Auffassungen von Emil Julius Gumbel – bezogen auf die Weimarer Republik, dass die Justiz auf dem rechten Auge blind sei – für die siebziger Jahre bedeutsam? H: Gumbels Erfahrungen habe ich im Prinzip bestätigt gefunden, natürlich nicht mit der Schärfe, mit der es noch in der Weimarer Republik der Fall war. Gumbel hat damals als Mathematiker die Zahlen gegeneinander gestellt, wie viele Taten von rechts mit milden Strafen oder Freisprüchen bedient wurden, während die relativ wenigen Straftaten, die es auf der Linken gab, sehr hart bestraft wurden. Ich habe Gumbel übrigens persönlich kennengelernt. Als ich das zusammen mit Elisabeth Hannover-Drück verfasste, 1966 erschienene Buch „Politische ­Justiz 1918 bis 1933“ schrieb, habe ich Kontakt mit Gumbel aufgenommen und auch aus seinen Veröffentlichungen geschöpft. Er hat mich danach in Deutschland besucht, wir haben miteinander gesprochen. Er hat auch das Manuskript meines Buches gelesen und mir wertvolle Hinweise gegeben. DK: Nach Meinung von etlichen Juristen geht es nicht um politische Prozesse, sondern um konkrete Straftatbestände. H: Es gehört zur konservativen Rhetorik, dass beamtete Juristen behaupten, politische Justiz gäbe es überhaupt nicht, es sei alles schlichte Kriminalität. Das ist einfach unwahr. DK: Was ist nach Ihrer Auffassung ein politischer Prozess? H: Es gibt ein klassisches Werk von Otto Kirchheimer, das heißt „Politische Justiz“. Wenn es keine politische Justiz geben würde, hätte er dieses Buch nicht zu schreiben brauchen. Er hat auf mehreren hundert Seiten dargelegt, dass die politischen Motive immer wieder maßgeblich waren für die Verurteilung, und zwar für die einseitige Verurteilung. Auch er hat die Erfahrung gemacht, dass Leute von links verurteilt, Leute von rechts frei gesprochen wurden. Das ist eine durchgängige Erfahrung, die offenbar nicht nur für Deutschland und nicht nur für die Nazizeit gilt, sondern auch für die Weimarer Republik. Das hat Gumbel dokumentiert. Es ist leider so geblieben in der Bundesrepublik. H: Hat sich die Rolle des Anwalts verändert? Ihr Kollege Groenewold hatte ein Info-System mit dem Ziel errichtet, politisches Kontextwissen in den Prozess einzuführen. H: Was die Kollegen Groenewold und Ströbele damals getan haben, war aus meiner Sicht absolut zulässig. Sie haben dafür gesorgt, dass ihre Mandanten über politische Hintergründe, die sie für die Prozessführung, für die Verteidigung

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brauchten, informiert waren. Sie haben an Informationsvermittlung das getan, was – wenn die Mandanten nicht in Haft gesessen hätten – sich diese durch Zeitungslektüre oder Bücherlektüre selbst hätten erarbeiten können. Da sie in Haft waren, musste irgendjemand dafür sorgen, dass sie dieses Material zugeleitet bekamen. Ich selber habe mich der Gefahr nicht ausgesetzt, wegen Information der Mandanten bestraft zu werden, indem ich alles Material, das ich meinen Mandanten schickte, über den Richter geleitet habe. Das war auch der von der Justiz vorgesehene zulässige Weg. Da konnte mir niemand an den Wagen fahren. Es haben aber, soviel ich weiß, in den Fällen Groenewold und Ströbele Materialien nachher eine Rolle gespielt, die auch über den Richter gegangen waren. Obwohl diese geprüft worden waren, wurde ihnen vorgeworfen, sie hätten die Arbeit der RAF inhaltlich unterstützt. Meines Erachtens ein grandioses Fehlurteil, was ich auch dem Richter Helmut Plambeck, dessen Senat damals Kurt Groenewold verurteilt hat, ins Gesicht gesagt habe. Der war ein bisschen betroffen, dass ich das so sah, aber dabei bleibe ich. DK: Der Abbau von Verteidigerrechten wird häufig mit dem Argument be­ gründet, es sei notwendig gewesen, um Prozesse gegen RAF-Mitglieder führen zu können. H: Das ist völlig absurd. Selbstverständlich hätte man die Prozesse führen können. Was für eine Begründung gibt man dafür an? DK: Beispielsweise die Anzahl der Anwälte. H: Ach, das hätte sich alles von selbst eingependelt. Ich glaube, das ist über­ trieben. Nein, es ging damals konkret darum, bestimmte Anwälte aus den Verfahren herauszuboxen. Das war das politische Motiv, das ist in ganz rigoroser Weise gemacht worden. So in dem großen Stammheim-Prozess, an dem ich wohlgemerkt nicht beteiligt war. Ich habe mich geweigert, Ulrike Meinhof in Stammheim zu verteidigen, da ich ihr Konzept des bewaffneten Widerstands nicht mitverteidigen konnte. Aber ich habe es dann nachträglich erfahren und nachgelesen, wie mit den Angeklagten und ihren Verteidigern umgegangen worden ist. Die Angeklagten sind unmittelbar vor dem Prozess von ihren Anwälten getrennt worden. Es haben Anwälte die Verteidigung übernehmen müssen, die sich erst in die Akte einarbeiten mussten. Beispielsweise hat der Kollege Heldmann nur wenige Tage gehabt, um sich in einen Riesen-Aktenberg einzuarbeiten. Eine rechtstaatliche Verteidigung war unter diesen Umständen überhaupt nicht möglich. DK: War der Ausschluss eine bewusste Strategie? H: Ich glaube schon, dass es darum ging, besonders befähigte Anwälte, die die Materie, die Akten und die Mandanten kannten, aus dem Verfahren herauszuhalten, um sie möglichst durch Anwälte zu ersetzen, mit denen die Bundesanwaltschaft und die Gerichte leichter fertig zu werden glaubten. DK: Wie haben Sie die Debatte um die „Kollektivitätsthese“ wahrgenommen?

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H: Das war eine ganz schlimme These, die praktisch darauf hinaus lief, dass jeder, der in der Gruppe war, für Taten mitverantwortlich gemacht werden konnte, an denen er überhaupt nicht beteiligt war. Diese Kollektivitätsthese fand ich umso empörender, als man sie bei den Naziverbrechern abgewiesen hatte, obwohl sie da viel näher gelegen hätte. Da hätte es nahe gelegen, die Auffassung von Fritz Bauer zu übernehmen, der die Ansicht vertrat, dass jeder, der in einem Vernichtungslager tätig gewesen sei, für die Mordtaten, die dort begangen wurden, mit verantwortlich gemacht werden muss. Dies gelte auch, wenn der Beweis nicht zu führen sei, dass er konkret eine bestimmte Person getötet habe. Das hat die Justiz immer zurückgewiesen, aber plötzlich bei der RAF, da war das eine sehr bequeme Methode, um Menschen für das zu bestrafen, was sie in Wirklichkeit nicht mitgetragen hatten. DK: Die Kollektivitätsthese wurde auch in anderen Strafverfahren an­gewendet? H: Ja, diese hat, wie man jetzt weiß, auch zu erheblichen Fehlurteilen geführt. Also z. B. wer den Generalbundesanwalt Siegfried Buback umgebracht hat, das ist heute noch immer umstritten. Es wird in Zweifel gezogen, obwohl es Angeklagte gibt, die dafür verurteilt worden sind, dass sie ihn erschossen haben sollen. Nachträglich erfährt man, dass einige von denen überhaupt nicht am Tatort waren. DK: Das Bundeskriminalamt hat eine wichtige Rolle gespielt? H: Nicht nur das BKA, sondern überhaupt die Polizei. Ich habe z. B. im Prozess gegen Karl-Heinz Roth erlebt, dass die Polizei Fotos zurückgehalten hat, aus denen sich ergab, dass der von mir verteidigte Angeklagte nicht – wie mehrere Polizisten es gesehen haben wollten – eine Pistole in der Hand hatte. Dass diese Fotos dem Gericht zur Kenntnis kamen, das war überhaupt nur der Verteidigung zu verdanken. Wir erfuhren auch, dass diese Polizeibeamten, das galt nicht nur für den Roth-Prozess, sondern auch für andere Prozesse, auf ihre Aussagen vorbereitet waren. Es hatten Zusammenkünfte stattgefunden, und sie waren gemeinsam an den Tatort geführt worden. Bei der Vorbesprechung wurden die Aussagen aufeinander abgestimmt, so dass es möglichst keine Widersprüche gab. Die schriftlich niedergelegten Aussagen wurden nochmal von irgendeinem Vorgesetzten korrigiert. Das waren dann Zeugenaussagen, die in hohem Grade zweifelhaft waren. Aber darauf sind hohe Strafen in den Urteilen ausgesprochen worden. DK: Veränderte sich die Rolle der Polizei? H: Ich habe mehrfach erlebt, dass die Aussagen von Polizeibeamten das Urteil maßgeblich beeinflusst haben und das Verfahren von vornherein so geführt worden ist, als ob alle Polizeiaussagen zutreffend seien. Besonders eklatant und sichtbar ist dieser, ich muss schon sagen, ‚polizeiliche Lügenvorsprung‘, der den Gerichten verpasst wurde, in der Sache Astrid Proll geworden. Erst während des Verfahrens wurde bekannt, dass es einen Augenzeugen gab, der bekunden konnte, dass Astrid Proll weder geschossen noch überhaupt eine Pistole bei

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sich gehabt hatte. Aber sie war wegen mehrfachen versuchten Mordes angeklagt. Dieser Zeuge, der zurückgehalten und erst von dem damaligen Minister Gerhart Baum freigegeben wurde, war ein Mitarbeiter des Bundesverfassungsschutzamtes, ein ganz seriöser Zeuge, auch aus der Sicht der Gerichts und der Anklagebehörde. Es stellte sich heraus, dass er am Tatort gewesen war und als Zeuge bekunden konnte: „Nein, die Astrid Proll hat nicht geschossen, die hatte auch gar keine Waffe!“. Das war ein sensationeller Freispruch, der daraufhin erfolgte. Aber es ist doch schlimm, dass ein solcher Zeuge zurückgehalten werden konnte, dass dem keine Aussagegenehmigung erteilt worden war. Wir verdanken es wirklich der Liberalität von Gerhart Baum, dass dieser Zeuge freigegeben wurde und die Wahrheit vor Gericht sagen durfte. DK: Der erste Prozess gegen Astrid Proll fand 1974, der zweite Prozess Anfang der achtziger Jahre statt? H: Den ersten Prozess habe ich als Verteidiger nicht miterlebt. Ich war nur an dem zweiten Prozess zusammen mit den Kollegen Johannes Riemann und Ulrich K. Preuss beteiligt. Als Vorsitzende amtierte eine ganz souveräne, liberale Vorsitzende, eine Frau, die wirklich sehr kritisch die Polizeiaussagen hinterfragte. Sie hat sich auch nicht gescheut, nachher ins Urteil zu schreiben, dass bestimmte Polizeizeugen schlicht gelogen haben. Das haben wir nicht immer so erlebt. Leider! Der Ausgang oder auch die Art der Durchführung eines Prozesses hängen sehr von der Persönlichkeit der beteiligten Richter ab. Da haben wir einmal eine wirklich liberale Richterin kennengelernt, die in der Wahrheitsfindung neue Wege gegangen ist. DK: Das Klima in der Gesellschaft war anders? H: Ich glaube, man kann es nicht generell sagen. Ich habe auch danach noch Prozesse erlebt, in denen in einem anderen Prozessklima verhandelt worden ist. Nein, es hängt wirklich sehr viel von der Persönlichkeit der jeweils beteiligten Richter ab. Natürlich, ganz unabhängig von der öffentlichen Meinung und von dem öffentlichen Klima können solche Prozesse nicht verlaufen, aber es gibt durchaus bemerkenswerte Unterschiede. Ich habe in meinen Büchern, in denen ich mich mit meinen Prozesserfahrungen als Verteidiger beschäftigt habe, sowohl Prozesse dargestellt, in denen ich schlechte Erfahrungen mit den Richtern gemacht habe, als auch solche, wo ich den Richtern das höchste Lob aussprechen konnte. DK: Auf der einen Seite gab es Ansätze von Liberalität – etwa die Bemühungen von Diether Posser oder Gustav Heinemann – und auf der anderen Seite Strafrechtsverschärfungen? H: Ich glaube, dieser Widerspruch erklärt sich darin, dass es in unserer Gesellschaft auch sehr unterschiedliche Bewusstseinshaltungen gibt. Die Justiz ist ein Spiegelbild der Bevölkerung, und diese ist überwiegend konservativ, im Juristenberuf finden sich nicht die fortschrittlichsten Leute. Da ist vielleicht das Bild sogar noch rechtslastiger als in der Bevölkerung.

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H: Aber haben Sie nicht mit Ihrem Beitrag für die „Kritische Justiz“ einen Versuch gemacht, ein anderes Denken hineinzutragen? H: Aber die „Kritische Justiz“ ist eine Zeitschrift für eine juristische Minderheit. Die juristische Mehrheit liest konservative Fachzeitschriften. Ich glaube nicht, dass die „Kritische Justiz“ das Bewusstsein der Mehrheit repräsentiert. H: An der Gründung der „Kritischen Justiz“ haben Fritz Bauer und Wolfgang Abendroth mitgewirkt. H: Juristen wie Fritz Bauer und Wolfgang Abendroth repräsentierten eine Minderheit bei den Juristen. Von Fritz Bauer gibt es Äußerungen, die zeigen, dass er auch innerhalb seiner Behörde ziemlich vereinsamt war und gegen Feinde in seinem Apparat kämpfte, als er den Auschwitz-Prozess durchsetzen wollte. Er hat es geschafft, aufgrund seines Ranges und seiner internationalen Reputation. Aber er hat sehr zu leiden gehabt unter der Anfeindung innerhalb des Apparats. H: War er für Sie ein Vorbild? H: Ja, Fritz Bauer war für mich ein Vorbild, den habe ich sehr geschätzt. Ich habe sein 1957 erschienenes Buch „Das Verbrechen und die Gesellschaft“ gelesen und habe daraus für meine Tätigkeit als Verteidiger ganz wichtige Lehren ge­zogen. Beispielsweise die, dass Strafrecht überhaupt in Frage gestellt werden muss als eine Reaktion der Gesellschaft auf Verbrechen. Fritz Bauer vertritt die Theorie der sozialen Verteidigung, die als Ziel der strafrechtlichen Reaktion auf das Verbrechen nur die Resozialisierung des Täters und den Schutz der Gesellschaft gelten lässt. Die Praxis lässt ganz andere Motive gelten. Da geht es um Vergeltung für Schuld, da spielen Dinge eine Rolle, die man volkstümlich als Rachebedürfnis bezeichnen würde. Das sind alles irrationale Motive, die Fritz Bauer als Reaktionen der Gesellschaft auf das Verbrechen ablehnt. Er hat allerdings bei den Verfahren gegen Naziverbrecher mit diesem Prinzip gebrochen. So war er der Meinung, die Öffentlichkeit müsse über das, was in der Nazizeit an Verbrechen geschehen ist, aufgeklärt werden. Da ging es ihm also insbesondere um die Information der Öffentlichkeit. H: Herr Golzem hat das, was Sie uns gerade erklärt haben, als eine Idee der 68er Bewegung dargestellt. H: Naja, eine Idee der 68er Bewegung war es nicht. Vielleicht ist es damals aufgegriffen worden, aber das Buch von Bauer ist von 1957, und Bauer fußte auch schon auf noch früheren Forschungen. Zum Beispiel gab es in Frankreich eine Wissenschaftlergruppe, die die soziale Verteidigung, also „défense sociale“, vertreten hat, und das war schon eine Schule, die älter ist als die Achtundsechziger. DK: Wie haben Sie in den siebziger Jahren das Strafbedürfnis der Bevölkerung erlebt? H: Das Strafbedürfnis der Bevölkerung ist zur Zeit der Terroristenprozesse sehr durch die Medienkampagnen mobilisiert worden. Ich habe ein kollektives Straf-

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bedürfnis vermisst, als es darum ging, Naziverbrecher zu verurteilen. Da war die Mehrheit der Bevölkerung dafür, diese Leute laufen zu lassen: „Nun lasst sie doch endlich, die tun doch keiner Fliege mehr was“. Da gab es eine ganz gegensätzliche Haltung der Bevölkerungsmehrheit. DK: Haben die Medien es forciert? H: Ja, die Bevölkerung wurde damals durch Medien in einer ganz bestimmten Richtung beeinflusst. Das gilt sowohl für die Aktivierung des Strafbedürfnisses, wenn es um sogenannte Terroristen oder Leute von links ging als auch um moderate Abwieglung, wenn es Naziverbrecher und Leute von rechts waren. DK: Das Freund-Feind-Denken war die Basis? H: Das Freund-Feind-Denken hat einen juristischen Wegbereiter, nämlich den Nazijuristen Carl Schmitt, der das Freund-Feind-Denken als Grundprinzip der Politik gekennzeichnet hat. Das ist leider immer noch virulent. DK: Es gibt die Diskussion um das Feindstrafrecht. H: Richtig, Feindstrafrecht ist so ein Begriff, der auf diesem Denken fußt. DK: Gingen die Prozesse in den siebziger Jahren von einem Feindstrafrecht aus? H: Ja, das würde ich sagen. Ich habe auch ein Buch über Terroristenprozesse geschrieben, wo ich diese These ausdrücklich vertreten habe, dass es im politischen Prozess um die Unterscheidung von Freund und Feind geht. Dass die Freunde, eben Naziverbrecher und Leute von rechts, nichts zu befürchten haben, während die als Feind behandelten Leute von links mit schwersten Strafen rechnen müssen. DK: Warum haben Sie die Verteidigung von Ulrike Meinhof abgegeben? H: Ich hielt Ulrike Meinhof für eine der begabtesten und intelligentesten Sprecherinnen der deutschen Linken und habe es sehr bedauert, dass sie in den Untergrund ging und sich in der RAF betätigte. Das habe ich für einen grandiosen Fehler gehalten. Das habe ich auch ihr gegenüber im Gespräch nachdrücklich zum Ausdruck gebracht. Wir verstanden uns beide als Sozialisten, und darum war es für mich ganz schwer nachzuvollziehen, dass sie glaubte, die Gesellschaft durch individuellen Terror verändern zu können. Das ist ein ganz falsches Prinzip, das eigentlich ein Sozialist nicht vertreten kann. Aber das war das Prinzip, nach dem diese Guerilla-Bewegung kämpfte. Die Geschichte hat bewiesen, dass es falsch war. Die Bevölkerung hat sich nicht aktivieren lassen durch diesen Terror, sondern sie hat – unter dem Einfluss der Medien, aber sicher auch aufgrund von gesundem Menschenverstand – gesagt, so kann man die Gesellschaft nicht verändern. DK: Wie kam es zum Bruch? H: Zum Bruch kam es dadurch, dass sie erwartete, auch in Stammheim auf der Basis der RAF-Ideologie verteidigt zu werden. Und das war etwas, was ich nicht

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mitvollziehen konnte. Ich bin als Pazifist aus dem Krieg zurückgekehrt. Ich war noch Soldat in der Hitler-Armee und habe Kriegserlebnisse gehabt, die mich für mein ganzes Leben zum Kriegs- und Gewaltgegner gemacht haben. Das war für mich völlig unverständlich, wie man jetzt glaubte, in unserer Gesellschaft mit Gewalt etwas verändern zu können und zu dürfen. Das war ein Prinzip, das ich als Anwalt nicht vertreten konnte. DK: Meinhof kannte Ihre Position? H: Sie wusste es, aber sie hat nicht aufgehört, mit mir darüber zu diskutieren. Sie hat wohl geglaubt, mich überzeugen zu können. Es endete auch in Beschimpfungen, dann in einem Stil, den ich mir auch nicht mehr gefallen lassen konnte. Nein, irgendwann habe ich dann die Nase voll gehabt und gesagt: „Nein, unter diesen Bedingungen verteidige ich dich nicht“. DK: Es gab Konflikte zwischen Anwalt und Mandantin? H: Ja, es gab zwischen Ulrike und mir sehr erhebliche Konflikte. Wir haben uns bei den Besuchen – ich habe sie oft besuchen müssen in der Zeit, wo ich sie als Untersuchungshäftling gegen unerträgliche Haftbedingungen zu schützen versuchte – so heftig und lautstark in der Zelle gestritten, dass immer wieder die Wärterinnen kamen und durch das Fensterchen guckten, ob wir uns nicht gegenseitig was antun. War schon heftig! DK: War Ulrike Meinhofs Fenstersprung bewusst gewählt oder mehr aus ­Panik? H: Ich habe sie nicht gefragt, ob dieser Fenstersprung bewusst oder unbewusst war. Meine Vermutung ist, dass es für sie eine spontane falsche Reaktion war und sie dann plötzlich in der Situation war, wo sie nicht mehr zurückkonnte. Sofort hingen an den Litfaßsäulen die Plakate, die sie als Mörderin verdächtigten. Sie hat den falschen Weg eingeschlagen und nicht mehr rechtzeitig zurückgefunden. H: Die Geschichte der Bundesrepublik wird häufig als ein Demokratisierungserfolg dargestellt; muss man den Justizbereich ausnehmen? H: Es ist immer ganz schwierig, Kollektivurteile über die Justiz abzugeben. Ich habe die Justiz sehr unterschiedlich erlebt. Ich habe Richter erlebt, die wirklich vorbildlich und rechtstaatlich judiziert haben, denen ich nur das höchste Lob zollen kann, und ich habe Richter erlebt, die wirklich im alten Geiste geurteilt haben. Ich kann kein Kollektivurteil abgeben. Ich kann höchstens sagen, statistisch gesehen überwiegen die Leute, die konservativ geblieben sind, auch in der Justiz. H: Eine Veränderung, die sich mit der 68er Bewegung verbindet, sehen Sie nicht? H: Kleine Veränderungen hat es schon gegeben, schon weil der Gesetzgeber etwas geändert hat. Damals war Gustav Heinemann Justizminister, und da hat es einige Liberalisierungen gegeben, die sich auch auf die Justiz und deren Praxis

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ausgewirkt haben. Aber an dem Bewusstsein von Richtern ändert sich erst in Generationen etwas, nicht in Jahren. DK: Wenn man Verteidiger – etwa Anwälte in der Weimarer Republik oder in der späteren Bundesrepublik Deutschland – vergleicht, können dann ähnliche Strukturen festgestellt werden? H: Es hat immer Verteidiger gegeben, die demokratische und linke Positionen vertreten haben. In der Weimarer Republik gab es einige Anwälte, die noch heute als hohes Vorbild, jedenfalls für mich, gelten, wenn ich an Paul Levi, Max Hirschberg, Rudolf Olden, Hans Litten oder auch Max Alsberg denke, um nur einige zu nennen. Es gab Verteidiger, die schon damals eine auch heute noch vorbildliche Funktion ausgeübt haben. DK: Verdeutlichen die „Strafverteidigertage“ eine Entwicklung hin zu einer kritischen Anwaltschaft? H: Ja, ich habe sehr erfreuliche Erfahrungen mit jüngeren Kollegen gemacht.

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Foto: privat

Geboren im Jahre 1940 Jurastudium in Grenoble, Frankfurt/Main und Berlin Ab 1969 als Rechtsanwalt tätig, im Stammheim-Prozess verteidigte er Jan-Carl Raspe 1983–1987 ehrenamtliches Mitglied im Magistrat der Stadt Frankfurt/Main 1987–1994 Mitglied im hessischen Landtag 1995 legte er sein Landtagsmandat nieder 1999–2003 Mitglied des Landtages 1994 Hessischer Staatsminister für Umwelt, Energie und Bundesangelegenheiten und Stellvertretender Ministerpräsident 1995–1998 Hessischer Landesminister für Justiz und Europaangelegenheiten Mitglied des Hessischen Staatsgerichtshofes

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Gisela Diewald-Kerkmann (DK): Sie sind bereits seit 1969 als Anwalt tätig. Rupert von Plottnitz (P): Der erste Strafprozess fand für mich als Straf­ verteidiger im Herbst 1969 statt. Ich musste einen Kollegen vertreten, der sehr plötzlich verhindert war. Es war eine für damalige Zeiten ziemlich typische Sache, eine Demonstrationsstrafsache, in der meinem Mandanten Landfriedensbruch zur Last gelegt wurde. DK: Das Urteil wissen Sie noch? P: Das Urteil erinnere ich im Einzelnen nicht mehr, aber es ging – so glaube ich – ganz glimpflich aus, auch deswegen, weil wir uns ziemlich aggressiv gegen die Vorwürfe wehrten, die erhoben worden waren, vor allen Dingen soweit es um Polizeiaussagen ging. Es war aber alles ziemlich typisch, auch für spätere Verfahren. In Frankfurt gab es viele Demonstrationsstrafsachen, in denen es relativ häufig konflikthafte Auseinandersetzungen mit den einschlägigen Polizeizeugen gab. Ingrid Holtey (H): Herr von Plottnitz, wenn ich Sie als „Achtundsechziger“ bezeichne, könnten Sie dem zustimmen, oder fänden Sie die Bezeichnung „Anwalt der Achtundsechziger“ präziser? P: Ich fände beides gleich präzise. Ich würde mich sehr wohl als Achtundsechziger verstehen, ich bin in der zweiten Hälfte der 60er Jahre Mitglied des SDS geworden. Ich habe mich selbst an einer Vielzahl von Aktivitäten der damaligen Außerparlamentarischen Opposition in Frankfurt beteiligt. Nicht zuletzt auch deshalb bin ich Anwalt geworden, um mit den beruflichen Mitteln des Rechtsanwaltes dazu beizutragen, dass die damaligen Ziele der Außerparlamentarischen Opposition auch verwirklicht werden konnten. H: Wie kamen Sie zur 68er Bewegung und zum SDS? P: Das war bei mir nicht sonderlich originell im Vergleich zu vielen anderen. Auch ich gehöre zu denen, die in besonderer Weise empört waren über die Geschehnisse des 2. Juni 1967 in Berlin. Deswegen wird oft zu Recht gesagt, dass die Achtundsechziger keine Achtundsechziger, sondern Siebenundsechziger waren. Damit ist genau dieses Ereignis gemeint. Das hat mich damals, wie viele andere auch besonders empört, dass friedliche Demonstranten auf so rüde Art und Weise bis hin zur Erschießung eines Demonstranten verfolgt und misshandelt wurden. Das war ein wesentlicher Grund. H: War das politische Engagement in ihrem Elternhaus angelegt? P: Mitnichten! Im Gegenteil, im Elternhaus ging es bürgerlich konservativ zu. Der Vater war Banker. Ich hatte wenig Gelegenheit mit ihm darüber zu sprechen, weil er sehr früh verstorben ist, aber ich gehe davon aus, dass er ein solider Wähler von Parteien wie der CDU oder der FDP war. Die Mutter war jemand, die Politik eher für eine verächtliche Angelegenheit hielt, zur Wahl ging und wahrscheinlich so wählte wie der Papa auch. Es war aber kein Elternhaus, in dem über politische Angelegenheiten diskutiert wurde.

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H: An welchen Aktionen haben Sie sich beteiligt? P: An Demonstrationen in Frankfurt, z. B. im Anschluss an den 2. Juni 1967 in Berlin, vor allen Dingen im Frühjahr 1968, etwa Ostern an Demonstrationen im Zusammenhang mit dem Attentat auf Rudi Dutschke. Es gab zahllose demons­ trative Aktivitäten, gerade in Frankfurt, sodass ich mich an alle Einzelheiten nicht mehr erinnern kann. Man ging viel demonstrieren. H: Entstand in den Prozessen gegen die APO ein „neuer Typus“ des Anwalts? P: Ob in diesen Prozessen ein neuer Typus entstanden ist, das weiß ich jetzt nicht. Sicherlich richtig ist, dass es einen neuen Typus von Rechtsanwalt und ein anderes Verständnis von der Rolle des Rechtsanwaltes gab als sie bis dahin tradiert war. Das gilt gerade für die Rolle des Strafverteidigers, der innerhalb der Anwaltsberufe zur damaligen Zeit noch ein ziemliches Nischendasein führte. Wer ein zünftiger Anwalt werden und sein wollte, der spezialisierte sich schon im Studium möglichst auf Wirtschaft- und Handelsrecht. Dann versuchte er in eine Kanzlei zu gehen, in der er möglichst wirtschaftlich potente Unternehmensinteressen anwaltlich vertreten konnte und zu vertreten hatte. Von diesem Bild des Anwaltes hielten wir relativ wenig. Wir fanden es richtig, für ein anderes Verständnis von Strafverteidigung zu sorgen. Der klassische Strafverteidiger, soweit er damals eine Rolle spielte, legte keinerlei Wert auf wie auch immer geartete Konflikte mit dem Gericht. Nicht selten war er der Typus, der sich darauf beschränkte, am Ende zu sagen, ich bitte doch um ein sehr nachsichtiges und mildes Urteil für meinen armen Mandanten. Das war natürlich nicht unser Ding, im Gegenteil. Wir haben Mandanten vertreten, die sich selbst sehr kritisch mit dem damaligen zum Teil noch sehr vordemokratischen Verhältnissen in Gesellschaft und Gerichtssaal auseinandergesetzt haben, die selbstbewusst agierten, die argumentativ in der Lage waren, ihren Standpunkt zum Ausdruck zu bringen. Insofern ist damals wahrscheinlich die Wurzel für das gelegt worden, was man später ganz generell zum Teil mit kritischem Unterton als „Konfliktverteidigung“ bezeichnete. Dabei ist das bis heute für mich insofern ein falscher Begriff, als zur Verteidigung im Zweifelsfall eben auch Konfliktbereitschaft gehört, wenn es um die Verteidigung der Rechte der Mandanten und Mandantinnen geht. H: Hat aus Ihrer Sicht die 68er Bewegung das Justizsystem verändert? P: Die 68er Bewegung hat in ihren Konsequenzen für ein sehr viel demokratischeres Verständnis von Strafverteidigung geführt. Wie gesagt, gab es in der Rechtsgeschichte immer schon den berühmten Satz – ich glaube von Rudolf ­Jhering – aus dem 19. Jahrhundert: „Der Kampf ums Recht“. Aber ums Recht im Rahmen von Strafverteidigung wurde in der Zeit bis Mitte der sechziger Jahre wenig gefochten und gestritten. Es gab Ausnahmen, etwa den hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der gegen heftige Widerstände für die Durchführung des Auschwitzprozesses in Frankfurt Anfang der sechziger Jahre sorgte. Aber das waren Inseln, und das war nicht die Regel. Die Gruppe von Strafverteidigern, zu

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denen ich mich damals gezählt habe und bis heute auch noch zählen würde, versuchte das, was bis dahin Ausnahme war, mehr zur Regel zu machen. H: Was war für Sie die 68er Bewegung? P: Für mich stand und steht Achtundsechzig für mehr Demokratie und für mehr Rechtsstaatlichkeit. H: Wurde das erreicht? P: Die Bundesrepublik stünde schlechter da in ihrer Gegenwart, wenn es diese Achtundsechziger mit ihrer Aufmüpfigkeit und ihrem republikanischen Geist nicht gegeben hätte. DK: Wenn wir vor diesem Hintergrund die siebziger Jahre betrachten, würden Sie sagen, dass der bundesdeutsche Staat durch den Terrorismus überrascht wurde? P: Die Heftigkeit dessen, was im Zusammenhang mit den Aktionen der RAF wahrnehmbar wurde, mag ein Überraschungsmoment gewesen sein. Andererseits darf man nicht vergessen, es gab schon in der Zeit vor 1970 heftige Auseinandersetzungen. Es gab Debatten über die Frage: Kann Gewalt unter bestimmten Bedingungen für politische Fortschritte sorgen oder nicht? Darf Gewalt sich nur gegen Sachen richten oder darf sie sich gar nicht gegen irgendwas richten? Insofern gab es schon einen Hintergrund für die Militanz, wie sie bei der RAF oder vergleichbaren Gruppierungen eine Rolle spielte. Aber richtig ist sicherlich, dass vor allem der Schusswaffengebrauch entscheidend war, und dieser möglicherweise große Teile der staatlichen Institutionen auf dem „falschen Fuß erwischt“ hat. Andererseits denke ich auch, dass es gerade in Berlin Mitarbeiter der damaligen Verfassungsschutzbehörden gewesen zu scheinen, die die einschlägigen Gruppierungen und Personen mit Waffen versorgt haben. Da gab es einen, der inzwischen schon rechtshistorisch ist: Peter Urban. Ob alle überrascht waren oder Anlass zur Überraschung hatten, wie man das im Rückblick annehmen könnte, das weiß ich nicht. Möglicherweise gab es auf Seiten dessen, was man heute Sicherheitsbehörden nennt, die eine oder andere Seite, die sehr wohl ein Interesse an der Schürung bestimmter Konflikte hatte und auch der Meinung war, dass man sie mit Waffen ausrüsten und gewähren lassen müsse, um zu zeigen, wie verwerflich das alles ist. Wenn es so war, dann hätte es zumindest auf dieser Seite des Spektrums kein besonders großes Überraschungsmoment geben können. DK: Dass der Tod des RAF-Mitglieds Holger Meins im Jahre 1974 zur Radikalisierung führte, ist unbestritten. Hatte das Konsequenzen für die Verteidigung? P: Natürlich hatte so ein Vorgang Konsequenzen, zumal ich selbst an der Verteidigung des Herrn Meins damals noch beteiligt war. Das war aus damaliger wie auch aus heutiger Sicht ein Vorgang, in dem doch sehr schändlich mit den Rechten von Untersuchungsgefangenen – in dem Fall des Untersuchungsgefangenen Meins – umgegangen worden ist. Das ist für mich ein Vorgang, der heute eigent-

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lich nicht mehr vorstellbar ist. Dass jemand, der sich in einem Hungerstreik befindet, was sicherlich immer eine Belastung für den Vollzug und die Justiz insgesamt darstellt, immer schwächer und schwächer wird. Dann ist trotzdem an dem Tag, an dem er sich gleichsam schon im Koma befindet und kurze Zeit später verstirbt, noch nicht mal ein Anstaltsarzt verfügbar, um für ärztliche Hilfeleistung zu sorgen. Geschweige denn jemand kommt auf den doch unbedingt notwendigen Gedanken, im Zweifel auch mit intensivmedizinischen Maßnahmen den Versuch zu unternehmen, das Leben eines solchen Gefangenen zu retten. Das ist schon ein nach wie vor gravierender Vorgang gewesen, der zu Recht zu heftigsten Diskussionen geführt hat. DK: Wie hat die Justizvollzugsanstalt auf ihre Vorwürfe reagiert? P: Es gab damals Strafanzeigen im Zusammenhang mit diesem Tod von Holger Meins. Diese wurden samt und sonders von den Staatsanwaltschaften zurückgewiesen. DK: Die Antiterrorismusgesetze wurden vom Staat als berechtigte Antwort auf die Herausforderung der RAF definiert. P: Ich glaube, ein Großteil dieser Gesetze hat nicht das geleistet und zu leisten vermocht, was ihnen von den jeweiligen Urhebern zugesprochen worden ist. Es war damals so: Willy Brandt hat 1972 eigentlich einen wunderbaren Satz gesagt in diesen damals beginnenden Auseinandersetzungen, was sind die angemessenen staatlichen Reaktionen auf solche Gruppierungen und was nicht. Er hat sinngemäß gesagt, man solle sich doch auf die ruhige Gelassenheit des Rechtsstaates verlassen und dieser ruhigen Gelassenheit auch vertrauen. In der Praxis sah die Reaktion dann völlig anders aus. Da jagte ein neues Gesetz das nächste, immer mit dem Versprechen, mit Hilfe solcher Gesetze könne man den Aktivitäten dieser damaligen Gruppierungen und ihren Anschlägen besser vorbeugen. Das genau konnte nicht eingelöst werden, weil vor allen Dingen im Zusammenhang mit dieser Gesetzgebung alles, was sich kritisch mit dem Anlass und der Angemessenheit solcher Gesetze auseinandersetzte, gleich in den Status eines Sympathisanten versetzt wurde und selbst in den einschlägigen Registern der Sicherheitsbehörden landete. Insofern glaube ich, war diese Gesetzgebung mehr durch Hektik und falschen Symbolismus gekennzeichnet als durch Funktionalität. DK: Sollte mit den Strafrechtsänderungen das neue Verständnis der Anwälte bekämpft werden? P: Ob das direkt auf das Selbstverständnis der Anwälte zielte, das weiß ich nicht. Allerdings ist klar, dass es um Einschränkungen der Rechte von Beschuldigten und Angeklagten und letztlich unmittelbar auch um die Rechte von Strafverteidigerinnen und Strafverteidigern ging. Darauf zielte eine ganze Reihe von einschlägigen Gesetzgebungen. Denken Sie etwa an das Verbot der gemeinschaftlichen Verteidigung. Das war früher ein Recht, das Verteidigern wie auch den zu Verteidigenden zustand. Denken Sie an die Beschränkungen der Zahl möglicher

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Wahlverteidiger. Es gab eine ganze Reihe von Gesetzen, die zielten auf Verteidigungsrechte, sowohl von Angeklagten als auch von Rechtsanwälten selbst. Insofern ist der Zusammenhang offenkundig. Und insofern war auch die Berufsgruppe der Verteidiger betroffen. H: Was war dieses neue Selbstverständnis, der neue Typus? P: Ich glaube, was neu an dem Typus war, wenn man überhaupt von einem Typus sprechen will, dass im Zweifelsfall – auch um den Preis heftiger Konflikte mit den Anklägern und den zuständigen Richterinnen und Richtern – auf der Verteidigung von Rechten der Angeklagten beharrt wurde, auch und gerade dort, wo es als missliebig, als nicht angemessen oder sogar als sozusagen verdächtig galt. Das ist, so glaube ich, der wichtigste Punkt gewesen. Die staatlichen Instanzen hofften und erwarteten eine Verteidigung, die gleichsam in Sinne der Strafverfolgungs­ interessen funktionierte. Auf dieses Verständnis sich einzulassen waren Leute wie unsereins damals nicht bereit. Das galt als verdächtig, Stichwort „Komplizen­ stellung“. Das war der Hintergrund der Gesetzgebung, die versuchte, die Vertei­ digungsrechte von Angeklagten und Verteidigern einzuschränken. DK: Dieser Vorwurf, der in den Medien und teilweise von Staatsanwälten erhoben wurde, war ein klassischer Vorwurf? P: Weil wir klargestellt haben, dass wir nichts missbrauchen, sondern wir uns für die Rechte, die der Rechtsstaat in solchen Situationen auch Angeklagten, Untersuchungsgefangenen oder Beschuldigten zur Verfügung stellt, engagieren, und zwar je mehr und je dringlicher sie von der anderen Seite in Frage gestellt wurden. H: Gab es Ehrengerichtsverfahren gegen Ihre Person? P: Reichlich, selbstverständlich. Ich glaube, es gibt keinen, der an dem Prozess in Stammheim beteiligt und nicht in großen Umfang von Ehrengerichtsverfahren betroffen war. Ich genauso wie andere. Ich erinnere mich, in meinem Fall fand das in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre statt. Es gab eine Anschuldigungsschrift von fast 200 Seiten, wenn ich mich recht entsinne. Da ist ungefähr alles an Äußerungen aufgezeichnet gewesen, was aus Sicht der damaligen Staatsanwaltschaft in Frankfurt am Main anrüchig gewesen sein soll. Man muss aber sagen, die damals zuständigen Ehrengerichte, gerade in Frankfurt, aber auch später in Berlin, haben dafür gesorgt, dass die Konsequenzen, die von der Bundesanwaltschaft erhofft wurden, nicht eintraten. So etwa die Folge, dass die Betroffenen aus dem Beruf entfernt wurden. In meinem Fall war es so, dass das zuständige Ehrengericht einen Verweis im Hinblick auf bestimmte Äußerungen ausgesprochen hat, die als unangemessen und nicht mit der anwaltlichen Würde vereinbar betrachtet wurden. Aber in zwei Drittel aller Fälle haben die Ehrengerichte freigesprochen. Das kann man an der Kostenentscheidung ersehen, die darauf verwies, dass auch die übrigen Verfahrensbeteiligten – insbesondere der Vorsitzende und die Bundesanwaltschaft – in so einer rüden Art und Weise agierten, dass gleichsam die Verteidigung mit einem groben Keil antworten musste.

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DK: Haben Sie Unterstützung vom Anwaltsverein erfahren? P: Wie bereits gesagt, haben die Ehrengerichte in Berlin und Frankfurt, vor allen Dingen das in Frankfurt, weil das zuerst damit befasst war, durchaus Augenmerk bewiesen. Diese haben die Rechte der Verteidigung und der anwaltlichen Berufstätigkeit mit ihren Entscheidungen im Großen und Ganzen verteidigt und gestärkt. Ganz anders sah es allerdings in der ersten Hälfte der siebziger Jahre aus. Da haben die anwaltlichen Berufsorganisationen in der Debatte um die „bösen Anwälte“ immer wieder darauf hingewiesen, das sind die paar schwarzen Schafe, die es in unseren Reihen gibt, und deswegen kann uns der Vorwurf nicht treffen. Sie gingen deutlich auf Abstand. Ganz anders sah es mit anwaltlichen Berufsorganisationen im Ausland aus. Wir hatten viel Unterstützung von französischen Anwälten und von Vertretern französischer berufsrechtlicher Organisationen. Wir hatten sogar Unterstützung von US-amerikanischen Anwälten, die uns geholfen und öffentlich unterstützt haben, je mehr wir unter Druck und Kritik standen. Es gab mehr berufsorganisatorische Unterstützung von außen als von innen. DK: Haben die ausländischen Anwälte Ihr Konzept mehr getragen? P: Gerade die US-amerikanischen Anwälte, für die war das, was wir gemacht hatten, gar nicht neu. Für die war das Alltag, aber ein Alltag, der in der bundesrepublikanischen Rechtswirklichkeit noch nicht verbreitet war und als anrüchig galt. Ich glaube, deswegen ist es kein Wunder, dass sich US-amerikanische Anwälte sehr kritisch mit den öffentlichen Reaktionen auf unsere anwaltlichen Aktivitäten hier in der Bundesrepublik beschäftigt haben. DK: Der Generalstaatsanwalt in Stuttgart hat vor kurzem gesagt, dass die RAF-Prozesse nicht verhandelbar gewesen seien, wenn man die Rechte der Verteidiger nicht abgebaut hätte. P: Die Behauptung, dass man ohne die Gesetzesverschärfungen, die damals vom Gesetzgeber realisiert worden sind, Prozesse wie den in Stammheim nicht hätte realisieren und zum Abschluss bringen können, halte ich für eine Chimäre. Das halte ich für völlig verkehrt. Selbstverständlich wären die Prozesse auch mit dem tradierten Bestand an rechtsstaatlichen Strafverfahrensregelungen zu bewältigen gewesen. Möglicherweise hätten sie länger gedauert, möglicherweise wäre es für die Strafverfolgungsbehörden und die Gerichte komplizierter geworden, möglicherweise hätte es auch in dem einen oder anderen Fall Freisprüche oder geringere Verurteilungen gegeben als das, was Gerichte und Staatsanwaltschaft für notwendig gehalten haben. Das ändert nichts daran, dass auch ein Strafprozess, in dem es nicht zu einer Verurteilung kommt, nicht von vornherein etwas ist, was sich nicht gehört. DK: Das Stichwort „Staatsnotstand“ war ein viel benutztes Wort. P: Ja, der „Staatsnotstand“ wurde immer bemüht, um auch ziemlich eindeutige Rechtsbrüche durch die damaligen staatlichen Instanzen zu rechtfertigen. Ich erin-

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nere mich, dass es z. B. eine Veröffentlichung des damaligen Bundesinnenministeriums gab, in der entgegen einem ausdrücklichen im Strafgesetzbuch verankerten Verbot Unterlagen aus den Ermittlungsakten, nämlich Korrespondenzen zwischen Verteidigern und Beschuldigten oder Angeklagten in den damaligen Verfahren, veröffentlicht wurden. Das erfolgte sogar in Form eines Weißbuches, das, wenn ich mich recht entsinne, zur Aufklärung an den Schulen bestimmt war. In den Ermittlungsverfahren, die damals auf unsere Anzeigen hin in Gang gebracht worden sind, haben die Verantwortlichen mit dem „Staatsnotstand“ argumentiert. Sie haben gesagt, bei der Not, in der sich die damalige Bundesrepublik befände, könne man nicht als Staat immer auf die Einhaltung von Gesetzen achten. Vielmehr müsse man diese auch mal brechen, um der guten Sache der Aufklärung vor den Risiken des Terrorismus zu dienen. DK: Hängen die Reaktionen des Staates mit der Rolle der Sicherheitskräfte zusammen? P: Die Sicherheitsbehörden, insbesondere das Bundeskriminalamt, aber nicht nur das BKA, wurden in ihrer Rolle ungeheuer gestärkt durch das, was an Anschlägen von Gruppierungen wie der RAF stattgefunden hat. Sie wurden mit erheblichen finanziellen Mitteln ausgebaut. Insofern gab es sicherlich ein be­ sonderes Interesse, mit den eigenen Möglichkeiten die eigene Existenzberechtigung nachweisen zu können. Ich halte aber auch für plausibel, was später im Rückblick, gerade in Bezug auf die Rolle der Sozialdemokratie, gesagt worden ist. Demnach hatte die Ostpolitik ein derartiges Gewicht für die Beteiligten, und sie mussten sich in diesem Zusammenhang gegen starke Kritik wehren, dass man sich nicht noch den Vorwurf aussetzen konnte, man gehe mit militanten linksextremistischen oder terroristischen Kräften nicht hart genug um. Diese These besagt, dass man zur Absicherung der Ostpolitik und dessen, was sie bewirken sollte, Härte im Inneren gegen links demonstrieren musste. Das halte ich für plausibel. DK: Waren mit dem Prozess in Stammheim neue Verhaltensmuster der Anwälte verbunden? P: Neue Prozessstrategien auf Seiten der Verteidigung würde ich im Zusammenhang mit Stammheim gar nicht sehen. Man darf nicht vergessen, es gab auch vorher schon Verfahren, in denen es von allen Seiten ziemlich konflikthaft zuging. Insofern würde ich sagen, dass in der Zeit vor diesem Prozess schon in einer Vielzahl von Verfahren das Insistieren auf Verteidigungsrechten auch gegen massive Interessen der Staatsanwaltschaft und der Gerichte nicht selten war. Ich erinnere mich an ein Verfahren in Zweibrücken. Es ging um zwei Angeklagte, denen im Zusammenhang mit den „Black Panthers“ in der Bundesrepublik Straftaten zur Last gelegt wurden. Da ging es ziemlich heftig her. Ich würde sagen, in Stammheim war die Notwendigkeit, sich sozusagen prozessual mit den übrigen Verfahrensbeteiligten ordentlich zu schlagen, besonders heftig ausgeprägt. Aber ganz neu war das, was da geschah, nicht.

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DK: Ihr Kollege Otto Schily sprach von einem Gesinnungsstrafrecht. P: Gesinnungsstrafrecht als Vorwurf ist sicherlich dort begründet gewesen, wo allein der Versuch, z. B. Anschläge auf US-amerikanische Militäreinrichtungen in der Bundesrepublik mit Erörterungen über die Völkerrechtswidrigkeit des USamerikanischen Krieges in Vietnam zu begründen oder zu rechtfertigen, schon als verdächtig galt. Es gab ziemlich massive Versuche, so etwas von vornerein nicht mehr als Bestandteil einer legitimen Verteidigungsargumentation zu akzeptieren. Ich würde sagen, es gab den Geruch von Gesinnungsstrafrecht, gerade wenn es um die Verteidigung der betroffenen Angeklagten selbst ging. Aber insgesamt muss man sagen, dass in Stammheim nicht die Theorie des bewaffneten Kampfes – wie sie die RAF für richtig gehalten hat – zur Anklage stand, sondern konkrete Anschläge und deren Konsequenzen. DK: Auf der einen Seite handelte es sich bei den RAF-Mitgliedern um „Staatsfeinde“, auf der anderen Seite um gemeingefährliche Verbrecher? P: Die Widersprüchlichkeit, die Sie gerade ansprechen, auf der einen Seite der Vorwurf: „Staatsfeind Nummer 1“, auf der anderen Seite, wie das der Vorsitzende im Vorfeld des Prozesses genannt hatte, ein ganz normaler Straffall, war quasi an jedem Prozesstag mit Händen zu greifen. Es wurde immer wieder darauf verwiesen, es gehe nur um ganz ordinäres Strafrecht. Andererseits waren die Angeklagten mit Haftbedingungen konfrontiert, wie sie in dieser Besonderheit, Stichwort „Gefängnis im Gefängnis“ im siebten Stock in Stammheim, nirgendwo anders praktiziert worden sind. Es gab ein Haftstatut, das es in dieser Form auch nirgendwo anders gab. Aus Anlass dieser Prozesse gab es Gesetze, die in anderen Verfahren nie eine maßgebliche Rolle spielten. Also, der Widerspruch lag auf der Hand und konnte nicht aufgelöst werden. DK: Der Vorwurf, dass es zwischen Verteidigern und Angeklagten eine Übereinstimmung gegeben hätte, wurde oft erhoben. P: Ich habe immer versucht, deutlich zu machen, dass ich Verteidiger und nicht Komplize derjenigen bin, die ich zu verteidigen hatte. Zumal es eine Unschuldsvermutung gibt, die es verbietet, bevor ein Urteil gesprochen worden ist, diejenigen, die man verteidigt, schon sozusagen zum Täter zu machen. Das gehört zu der prekären Seite dieses „Komplizenvorwurfs“. Aber machen wir uns nichts vor. Es gab auch Verteidiger, die es für richtig hielten, statt zu verteidigen, sich der RAF anzuschließen. Solche Fälle gab es, und die machten das Geschäft für diejenigen, die es für richtig hielten zu verteidigen statt sich der RAF anzuschließen, nicht leichter. DK: In Zellenzirkularen wurde geäußert, dass die Verteidigung nicht effektiv gewesen sei. P: Dazu würde ich zunächst mal sagen: Konflikte zwischen Mandanten und Verteidigung gibt es in vielen, nicht nur in solchen Verfahren. Zweitens würde ich sagen, zu der Krux des Problems damals gehörte, dass das Verteidigungsgeheim-

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nis nicht mehr gewahrt war. In regelmäßigen Abständen wurden Zellendurch­ suchungen realisiert, Unterlagen beschlagnahmt und später auch veröffentlicht, die eindeutig Verteidigungscharakter hatten und eigentlich Tabu waren. Das sind die beiden Punkte, die mir dazu einfallen. Aber wie gesagt, ich habe auch in vielen anderen Verfahren Situationen erlebt, in denen es im Innenverhältnis reichlich konflikthaft zuging. Da muss man sehen, kann man das lösen oder kann man das nicht lösen? Wenn man das nicht lösen kann, muss man das Mandat niederlegen. Dann trennt man sich, das ist auch nicht sonderlich originell. DK: Kennen Sie die Tondokumente des Stammheim-Verfahrens? P: Ja, ich hatte Gelegenheit, diese zu hören. Das ist auf irgendeiner CD ver­ öffentlicht worden. Beim Wiederanhören – das liegt nun alles schon sehr, sehr lange zurück – gestehe ich, dass ich über die Metallik der eigenen Stimme in den Auseinandersetzungen, aber nicht nur der eigenen Stimme, sondern auch der anderen Stimmen in den Auseinandersetzungen, wie sie dort eine Rolle spielten, im Rückblick etwas verwundert war. Da gab es eine Sprache und eine Metallik in der Sprachgestaltung, die einem aus heutiger Sicht doch etwas fremd vorkommt. Nicht inhaltlich! Das würde ich allerdings hinzufügen, also soweit ich Gelegenheit hatte, das zu hören. Der Form nach gibt es an der einen oder anderen Formulierung etwas zu kritisieren. Aber ob es inhaltlich um die Kritik an diesem besonderen Prozessgebäude, um Anträge zur Frage der Verhandlungsfähigkeit oder um sonstige Fragen (Verteidigungsrechte etc.) ging, das ist auch im Rückblick alles noch nachvollziehbar. Wenn man von der sprachlichen Besonderheit in dem einen oder anderen Fall absieht. DK: Wie erklären Sie sich die aggressive Situation im Gerichtssaal? P: Ich glaube, für die damalige Prozessatmosphäre waren im Wesentlichen zwei Punkte verantwortlich: Zum einen die Tatsache, dass das, was man im Rechtsstaat als Unschuldsvermutung bezeichnet, die immer mit der Tatsache verbunden ist, dass es möglicherweise einen Freispruch geben kann, reichlich fern war. Es gab selten ein Verfahren, in dem dieses Prinzip eine so geringe Bedeutung hatte. Alle Beteiligten, insbesondere die betroffenen Angeklagten und ihre Verteidiger, hatten den Eindruck, hier gehe es vor allen Dingen auf Biegen und Brechen darum, eine Verurteilung zur lebenslangen Freiheitsstrafe sicherzustellen. Und zwar galt dies für alle Ebenen: Gesetzgebung, Exekutive und rechtsprechende Gewalt. Wenn Sie mit so einer Situation konfrontiert sind, wo alles unter dem Eindruck steht, hier geht es darum, zu einer möglichst hohen Höchststrafe zu verurteilen, dann hat das keine guten Konsequenzen für die Prozessatmosphäre. Entscheidend für die Prozessatmosphäre war zum anderen, dass ein allgemeines Klima der Feindseligkeit herrschte. Teile der Bundesanwaltschaft und wahrscheinlich auch der Vorsitzende Richter, betrachteten nicht nur die Angeklagten als Feinde, sondern auch ihre Verteidigung. Die Angeklagten betrachteten ihrerseits die übrigen Verfahrensbeteiligten als Feinde. Insofern waren die Grundlagen für ein Klima der Feindseligkeit gelegt.

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H: Was von 68 konnten Sie verteidigen in diesen Prozessen? P: Das Wesentliche, was im Zusammenhang der 68er Traditionen in diesen Prozessen zu verteidigen war, war das Verteidigungsrecht der Angeklagten in einer Situation, in der es einen großen öffentlichen, politischen und rechtlichen Druck gab, ihnen diese Rechte zu bestreiten. Das ist das wesentliche Moment der 68er Zeit gewesen, was bei der Verteidigung in dieser Situation eine Rolle spielte. DK: Sie wurden nach sieben Monaten entpflichtet. P: Für den Angeklagten hatte es zur Folge, dass er sich jemand anderes als Wahlpflichtverteidiger besorgen musste, das ist wohl auch geschehen. Ich selbst war wahrscheinlich noch ein oder zwei Mal als Wahlverteidiger in der Hauptverhandlung. Ohne Beiordnung als Wahlpflichtverteidiger war die Verteidigung schon wirtschaftlich nicht mehr machbar. DK: War Ihre Strategie als Vertrauensanwalt mit den Angeklagten abgestimmt? P: Was besprochen oder nicht besprochen worden ist, das kann ich mit Rücksicht auf die anwaltliche Schweigepflicht nicht sagen. Aber es ist klar: Ein Angeklagter, der bei Gericht beantragt oder beantragen lässt, einen bestimmten Anwalt als Vertrauensanwalt zum Pflichtverteidiger zu bestellen, der tut das nicht, weil er sich dazu gezwungen fühlt, sondern weil er von dem verteidigt werden will. Insofern kann man davon ausgehen, dass es in der grundsätzlichen Frage, von wem will ich verteidigt werden, zwischen Verteidigung und Angeklagten Konsens gab. DK: Ging das Gericht davon aus, dass die Entscheidungen in der RAF kollektiv getroffen wurden? P: Das gehörte zu den Problemen dieser Art von Strafrecht und dieser Art von Strafverteidigung. Dazu gehörte, dass aus der Sicht der Strafverfolgungsorgane die Schuldfrage – polemisch gesehen, könnte man sagen – beurteilt wurde nach Maßgabe aktienrechtlicher Haftungstatbestände. Es wurde gefolgert, dass man bei einem RAF-Mitglied mit Fug und Recht und legitimerweise auch davon ausgehen könne, dass er an jedem einzelnen Anschlag als Mitttäter beteiligt gewesen sei. Das machte es der Justiz bei den Verurteilungen relativ einfach. Aber im Rückblick stellt es sich doch als komplizierter heraus. Man stelle sich vor, dass jetzt im Jahre 2010 jemand vor Gericht gestellt wird, bei dem früher offensichtlich auch aktienrechtlich in der Schuldfrage vorgegangen worden ist und sich kein Mensch dafür interessiert hat, an welchem einzelnen Anschlag eine solche Person vielleicht beteiligt oder nicht beteiligt gewesen war. DK: Sie sprechen von dem Prozess gegen Verena Becker? P: Becker, ja! Genau! DK: Halten Sie eine ähnliche Prozessdynamik für möglich?

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P: Prognosen sind in so einem Verfahren, jetzt in Sachen Becker, schwierig. Aber ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass dieses Verfahren mit der Härte, formal wie inhaltlich, abgehandelt werden wird wie das früher der Fall war. DK: Würde sich die Justiz heute anders verhalten? P: Ich glaube schon, dass es heute gerade in sogenannten Staatsschutzangelegenheiten wesentlich ziviler zugeht. Bei der Strafverfolgung, in den Gerichten und in Folge dessen wahrscheinlich auch auf Seiten der Verteidigung läuft es heute weniger metallisch hart ab. Wenn ich daran denke, dass es in der Bundesrepublik Verfahren gegen Islamismus-verdächtige Attentäter gegeben hat und in diesen Verfahren – was in den siebziger Jahren in Sachen RAF völlig undenkbar war – in einem Fall der Bundesgerichtshof eine Verurteilung aufgehoben hat, mit deutlicher Kritik an rechtstaatlichen Mängeln bei der Beweisführung, dann ist das ein Vorgang, der in den siebziger Jahren nicht denkbar gewesen wäre. Da gab es strikteste Konvergenz zwischen Bundesanwaltschaft, Tatgericht und später dem Bundesgerichthof als Revisionsgericht. Das nehme ich als Beispiel dafür, dass es heute offensichtlich ein zivileres Klima im Umgang mit solchen Verfahren gibt. Zumindest hoffe ich, dass das keine Fehlprognose oder Fehleinschätzung ist.

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Geboren im Jahre 1939 1960–1964 Jurastudium in Kiel und Berlin 1968 Promotion an der Universität Gießen 1968 Referendariat in Paris und im Anwaltsbüro Horst Mahlers, später Mitglied des Sozia­ listischen Anwaltskollektivs 1966–1972 Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin 1972–1996 Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bremen 1979–1980 Mit Heinrich Hannover und Johannes Riemann als Verteidiger im Prozess gegen Astrid Proll 1996–2005 Professor für Öffentliches Recht an der FU Berlin, Emeritierung 1992–2011 Mitglied des Bremischen Staatsgerichtshofs 2005–2010: Professor für Staatstheorie an der Hertie School of Governance in Berlin

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Gisela Diewald-Kerkmann (DK): Sie haben als Anwalt gearbeitet. Erinnern Sie sich an Ihren ersten Prozess? Ulrich K. Preuß (P): Mein erster Prozess als Anwalt war mein erster Prozess als Referendar. Ich war Strafverteidiger im Kaufhaus-Brandstifter-Prozess in Frankfurt 1968. Horst Mahler, mein Ausbilder, war auf der Suche nach Verteidigern für die vier Angeklagten – Gudrun Ensslin, Andreas Baader, Horst Söhnlein und Thorwald Proll. Mahler war derjenige, der die Zusammenstellung der Verteidigerbank betrieb. Sie fanden in Frankfurt einfach nicht genügend Anwälte, von denen sie glaubten, dass die das richtig machen würden. Jedenfalls musste ich also als Referendar einspringen. Mahler sagte, Du musst dich jetzt einfach da hinsetzen und verteidigen. Ich habe eingewandt, dass ich das doch noch gar nicht gemacht habe. Und gleich mit einem solchen Prozess zu beginnen, ich meine, mit einer so großen Öffentlichkeit, davor hatte ich natürlich wahnsinnigen Bammel. Aber Mahler sagte, das machen wir schon. Otto Schily ist ja noch dabei als Verteidiger, und wir sind erfahrene Kollegen. Also mach dir mal keine Sorgen. Und so war das dann auch. Das war mein erster Auftritt als Anwalt, Strafverteidiger. Beinahe hätte er mir übrigens auch gleich das erste Disziplinarverfahren eingebracht, weil ich mich irgendwie etwas zu keck zuweilen in dieses Verfahren durch irgendwelche Fragen oder Bemerkungen eingemischt habe, die sofort weitergeleitet wurden an das Kammergericht Berlin, meine Ausbildungsbehörde. Sie wurde davon in Kenntnis gesetzt, dass ein Referendar namens Preuß durch unbotmäßige oder sonst wie unpassende Bemerkungen sich eines Disziplinarvergehens schuldig gemacht habe. Das ist meine Erinnerung an mein erstes Auftreten als Strafverteidiger. Ingrid Holtey (H): Herr Preuß, wenn ich Sie als Achtundsechziger bezeichne, würden Sie dem zustimmen, oder wäre es präziser zu sagen, Anwalt der Achtundsechziger? P: Nein, Anwalt der Achtundsechziger war ich nicht. Ich war während der Zeit der 68er Bewegung Anwalt, aber das erschöpfte keineswegs meine politische Identität. Ich war in erster Linie eigentlich ein Achtundsechziger, das ist richtig. Ich war zwar kein Student mehr, aber doch einer, der gleichsam noch mit dem studentischen Milieu verhaftet war, weil ich immer noch im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) war. Ich habe schon wissenschaftlich gearbeitet und nebenher zeitweise auch als Anwalt. Indes, Anwalt der Achtundsechziger war ich sicher­ lich nicht. H: Sie kamen zur 68er Bewegung. Die Frage ist, wie kamen Sie zum SDS? P: Also, dass ich über den SDS zur 68er Bewegung kam, ist eine fragwürdige Formulierung, weil der SDS am Anfang die 68er Bewegung war, und ich war im Kern des SDS. Ich brauchte nicht die Brücke des SDS, um zu 68 zu kommen, sondern die Achtundsechziger brauchten den SDS, um Achtundsechziger zu werden, um es einmal so auszudrücken. H: Bleibt die Frage, wie kamen Sie zum SDS?

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P: Ich fing an zu studieren in Kiel. Eigentlich wollte ich Soziologie, Jura und auch ein bisschen Ethnologie studieren, aber mein Vater beharrte darauf, dass ich auf jeden Fall in erster Linie ein Brotstudium studieren sollte, also wurde Jura mein erstes Fach. Nach Kiel kam ich, weil da meine Schwester vorher studiert hatte, deren Zimmer ich übernahm. Es war also eigentlich ein Zufall, dass ich nach Kiel geriet, aber auch eine Art Vorahnung war dabei. Denn Kiel war im Dritten Reich der Ort der „Edelnazis“ unter den Juristen, der nationalsozialistischen Vorreiter im Bereich der Jurisprudenz. Und einige saßen da immer noch, Karl Larenz zum Beispiel, bei dem ich auch gehört habe. Aber ich wusste das gar nicht. Ich war vollkommen ahnungslos und auch desorientiert an der Universität und habe mich ein bisschen umgeguckt, bis ich auf eine Gruppe stieß, die Marx las, „Das Kapital“, und sich SDS nannte. Ich habe gesagt, das kann doch wohl nicht wahr sein, ist das denn überhaupt erlaubt, dass man das lesen darf? Das war 1960/61. Ich war richtig schockiert, dass es so etwas gab, und habe gedacht, das musst du dir einfach mal angucken, was da losgeht. Kiel war eine kleine Universität, man kannte sich, und so habe ich jemanden gefragt, ob ich da mal abends hinkommen kann. Ja komm, war die Antwort. Es war ein etwas düsterer Raum, in dem gelesen und diskutiert wurde. Ich habe zugehört und war verwirrt, aber auch irgendwie schockiert. Ich habe dann in der nächsten Nummer der Studentenzeitung einen Artikel darüber geschrieben und zwar einen ganz negativen. Ich überlege, mir fallen jetzt nicht die Formulierungen ein, aber jedenfalls war es in dem Sinne, dass diese Leute mit ihren schmutzigen Schuhen die saubere Stube unserer Republik beschmutzen. Irgendwie so eine Metapher war da drin, das weiß ich noch genau. Ich habe mich hinterher immer furchtbar dafür geschämt. Diese Leute waren ja alle meine Genossen später. Das also war meine erste Begegnung mit dem SDS. Dass ich über sie so etwas geschrieben hatte, war mir schon bald richtig unan­genehm, richtig peinlich, und ich habe ein bisschen die Nähe zu diesen Leuten gesucht. Sie waren ganz freundlich und haben gar nicht gemerkt, dass ich vollkommen naiv war und gar nicht richtig ernst zu nehmen. Nach zwei Semestern, zum Wintersemester 1961/62, bin ich nach Berlin gewechselt und habe den Kontakt zu Kiel verloren. In Berlin bin ich gleich zum SDS marschiert und habe gesagt, ich möchte Mitglied werden. Das war auch so eine Art Wiedergutmachung für meinen etwas blamablen damaligen Auftritt in Kiel. Ich bin dann in den SDS reingekommen, der damals natürlich noch relativ klein war, aber einen gewissen Reiz ausstrahlte, weil die Mitglieder dieser Gruppe intellektuelle, anspruchsvolle Studenten waren. Das war eine lange Antwort auf eine kurze Frage. H: War der Eintritt in den SDS Ausdruck einer Politisierung, oder war diese bereits im Elternhaus angelegt? P: Nein, im Elternhaus war die Politisierung überhaupt nicht angelegt. Ob es schon eine Politisierung im strengen Sinne des Wortes war, kann man auch bezweifeln. Es war mehr intellektuelle Neugierde. Es war eigentlich mehr das Gefühl, das

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sind Leute, die sich mit Sachen beschäftigen, von denen ich nie zuvor etwas gehört hatte, und die mich irgendwie faszinierten, die mich elektrisierten. Und daraus entstand dann, so glaube ich, so etwas wie eine Politisierung. Aus dem Elternhaus kam diese Bewegung nicht. Wir waren ein vollkommen unpolitisches Elternhaus. Ich wusste, dass mein Vater in der Partei gewesen war, aber ein ganz kleines Licht, und auch bei der Wehrmacht war er irgendwie. Aber er hatte sich nie irgendwie hervorgetan. Ich hatte gar keinen Anlass, in irgendeiner Form wegen seiner Vergangenheit Konflikte in der Familie zu haben. Allenfalls war da etwas, was meine Mutter ab und zu erzählte vom Bruder meines Vaters, ihrem Schwager, meinem Onkel. Es kam ganz selten mal am Tisch vor, dass sie erzählte, Onkel Ernst, der als Handlungsreisender viel herumgekommen war und mit vielen Leuten geredet hatte, habe erfahren und berichtet, was für schreckliche Sachen die Nazis machten, dass sie die Leute einsperrten und so. Das wurde irgendwie immer so erwähnt, aber das wurde nicht weiter kommentiert. Das wurde auch gar nicht in irgendeinen Kontext gestellt. Das wurde einfach so als Familiengeschichte weitererzählt. Und von daher würde ich sagen, hat die Familie keinen Beitrag zur Politisierung geleistet. H: An welchen Aktionen des SDS in Berlin haben Sie teilgenommen? P: Ich kann mich in diesem Moment nur sehr selektiv an einige erinnern, zum Beispiel an die Tschombé-Demonstration. Also Tschombé, der abtrünnige Chef der abtrünnigen Provinz Katanga im Kongo. Kongo war gerade selbstständig geworden 1960. Und da ging es darum, dass Tschombé die kupferreiche Provinz Katanga gleichsam abtrennen wollte vom Hauptland Kongo. Sein Gegenspieler war Lumumba. Tschombé kam irgendwie zu Besuch nach Berlin. Das war sowieso, in Parenthese gesprochen, damals die Zeit, wo Berlin der Vorposten der Freiheit war und regelmäßig alle Besucher, die nach Deutschland kamen, irgendwie auch nach Berlin kamen, wenn sie in Bonn die Regierung besuchten. So kamen also alle möglichen Potentaten, die eigentlich mit der Freiheit gar nichts am Hute hatten. Aber sie waren als Stärkung für das Selbstbewusstsein und das Durchhaltevermögen der Berliner immer sehr willkommen. Tschombé war so einer, da kann ich mich sehr gut erinnern. Das war… H: 1964. P: 64? Das war sehr spät! H: Ja, mich überrascht, dass Sie mit Tschombé beginnen. Ich hätte erwartet, dass Sie mit der Hochschuldenkschrift beginnen. P: Aber das war keine politische Aktion. H: Aber sie hatte eine große politische Wirkung! P: Ja, natürlich, also das war eine studentische Aktivität, da haben wir dran geschrieben … H: Die Hochschuldenkschrift war der Ausdruck einer Neuen Linken.

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P: Ja, das ist im Rückblick gesehen richtig. Damals waren wir eigentlich der Auffassung, dass diese Universität irgendwie verknöchert war und man die Dinge ändern musste. Wir hatten also durchaus auch ein hochschulpolitisches Engagement. Und da hat es natürlich immer wieder Veranstaltungen gegeben, auf denen wir als SDS aufgetreten sind und diskutiert haben. Aber ich dachte jetzt, Sie meinen Aktionen, Demonstrationen in der Stadt, durch die man eine weitere Öffentlichkeit erreichte? Ich weiß, das müsste sicherlich vor 1964 gewesen sein und nach 1961. Der Mauerbau spielte eine große Rolle. Stets hat es am 1. Mai Demonstrationen gegeben vor dem damals noch zerstörten Reichstag, wo Hundertausende von Berlinern sich versammelten. Es waren jedoch im Grunde keine 1. Mai-Veranstaltungen, sondern Freiheitsveranstaltungen. Und wir als SDS, wir fanden, der 1. Mai ist der Tag der Arbeiterklasse oder der Arbeiterbewegung. Damals waren wir noch ganz orthodox und wollten auch zeigen, dass dieser Tag irgendwie missbraucht wurde, in dem man ihn einfach zu einer allgemeinen Freiheitskundgebung machte. Wir sind also als kleine Gruppe oder besser als Grüppchen mit roten Luftballons dahin gezogen. Das war immer etwas zum Schlottern, weil die Berliner doch ganz schön aggressiv waren. Und wenn wir da ankamen als Sozialisten, haben sie nicht unterschieden zwischen Sozialisten im Westen und denen im Osten, sondern wir wurden im Grunde genommen als eine Art fünfte Kolonne des Ostens angesehen. Da musste man schon ein bisschen Mut beweisen, muss ich sagen, ja, Mut, Courage, Zivilcourage, um dahin zu gehen und von Hunderttausenden missmutig und misstrauisch beäugt und fast schon physisch angegriffen zu werden. Das war auch so eine der Aktionen, die wir als SDS gemacht haben. H: Haben die Ereignisse des 2. Juni 1967 Ihre Weltsicht verändert? P: Ja, der 2. Juni hat erschüttert. Das sagen ja im Grunde fast alle, die zu dieser Zeit gelebt, dieses Ereignis erlebt haben. Ich habe es an Ort und Stelle erlebt, also ich war richtig dabei vor der Oper. Indes, man musste nicht dabei sein, um derartig erschüttert zu sein von der Tatsache, dass ein Polizist einen Studenten erschießt, was man immer nur von Südkorea oder von Südafrika oder von irgendwelchen Ländern weit weg gehört hatte, dass Polizei mit scharfer Munition schießt und einen Studenten erschießt. Es war ein derartiger Schock, der, obwohl ich in der Tat damals durchaus schon politisiert war, meine Wahrnehmung erheblich geprägt hat. Ich gehörte nicht zu den Kaltschnäuzigen, die sagten, wir haben es schon immer gewusst, das ist ein faschistisches Land, natürlich schießen die Studenten tot. Solche Leute hat es gegeben. Ich fand das wirklich einfach abwegig. Es entsprach gar nicht der Wahrnehmung, die wir im SDS hatten, nicht unserer Interpretation der Geschichte. Natürlich ließen wir kein gutes Haar an der Bundesrepublik, sondern übten Kritik, sprachen von Klassenherrschaft und allem Möglichen. Aber dass die Polizei Studenten erschießt, hat keiner als Teil der Normalität dieses Landes wahrgenommen oder erklärt. Es herrschte schließlich nicht der Faschismus, soweit waren wir schon noch, wie soll ich sagen, aufgeklärt von uns selbst und nicht ideologisch verbohrt. Indes, es hat solche Leute schon ge­geben. Aber ich sah das anders.

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H: 1968 waren Sie in Paris. War das eine neue politische Erfahrung für Sie? P: Ja, ich war in Paris. Ich war beruflich dort während meines Referendariats bei einem Anwalt, der mich allerdings selten gesehen hat. Es gab in Paris einen Pariser SDS, einen Zweig des SDS, gebildet von Studenten, die in Paris, genau wie ich, studierten oder irgendwie tätig waren. Wir haben uns regelmäßig getroffen und diskutiert. Die neue Erfahrung, nach der Sie gefragt haben, war die Erfahrung der immensen Zersplitterung der französischen Linken. Wir repräsentierten als SDS 1967/68 die deutsche Linke. Deswegen hatten wir auch ein großes Ansehen dort, was gar nicht an unseren eigenen Verdiensten lag, sondern einfach daran, dass wir Mitglieder des SDS waren, die Firma sozusagen repräsentierten. Wir waren Firmenrepräsentanten der deutschen Linken, weil der SDS der Kern und das Herz der 68er Bewegung oder der Außerparlamentarischen Opposition war. Und jetzt sahen wir also die Franzosen dort mit den verschiedensten „groupescules“. Es gab die Trotzkisten und zwar mehrere Trotzkisten, es gab Maoisten, es gab die Stalinisten, es gab auch, in Nanterre, die Anarchisten. Und es gab von jeder Gruppe meistens auch noch irgendwie konkurrierende, also keineswegs immer nur eine. Es war erstaunlich. Nachträglich hatte es für mich den Vorteil, dass ich all die Größen der französischen Politik persönlich kennenlernte: André Glucksmann und Alain Krivine und natürlich die Brüder Gabriel und Daniel Cohn-Bendit. Wir standen als SDS irgendwie alle mit denen in Beziehung und haben teilweise auch gemeinsame Aktionen durchgeführt. Aber immer haben wir gesagt, wieso können die nicht eine einheitliche Linie vereinbaren: Die Zersplitterung macht sie so machtlos, während wir inzwischen doch in Deutschland ein Faktor geworden waren. Also das war die Erfahrung, die ich in Paris gemacht habe. H: Sie haben als Verteidiger vor Gericht Kritik hervorgerufen. Lag dies an ­ ypus einer spezifischen Rolle des Anwalts, die Ihr Kollege Heinrich Hannover als T des „neuen Anwalts“ bezeichnet hat? P: Ja, die neue Rolle des Anwalts, das ist ein sehr treffender Ausdruck von Heinrich Hannover. In der Tat muss man, um die Rolle der Anwälte richtig zu ver­stehen, den neuen Typus des Anwalts, den wir schon merkten, ohne ihn, wie Sie das jetzt, anknüpfend an Heinrich Hannover, tun, auf den Begriff bringen zu können, vom alten Anwaltstypus unterscheiden. Wir hatten ihn alle im Grunde als Referendare erlebt, ich auch. Man erlebte entweder Pflichtverteidiger, die irgendwie untätig herumsaßen und am Ende sagten, ich bitte um ein mildes Urteil, oder Wahlverteidiger, die bezahlt wurden und doch, nach unserer Erfahrung, eher daran interessiert schienen, sich sozusagen mit dem Richter gut zu stellen. Was wir sahen war, dass sie alle an dem Wohlwollen des Richters sehr interessiert waren und deswegen jede Schärfe in der Interaktion mit dem Gericht vermieden oder doch zu vermeiden trachteten. Von daher hatten wir als Referendare das Gefühl, im Grunde genommen setzen die sich nicht richtig für ihre Mandanten ein oder verraten ihre Mandanten eigentlich ständig, weil sie nicht wirklich für die Rechte ihres Mandanten kämpfen.

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Die Vorstellung einer stärkeren Betonung der agonalen Struktur der Beziehungen im Gericht entstand. Das Agonale wurde wichtig und ist vielleicht auch das Neue, nicht nur zur Staatsanwaltschaft, da war es im Grunde genommen quasi durch die Struktur vorgegeben, der Staatsanwalt ist der Ankläger, wir sind die Verteidiger. Eine agonale oder streitige Beziehung auch zum Gericht herzustellen, war das wirklich Neue, wahrscheinlich im Kern das Neue. Der Richter, der normalerweise als derjenige angesehen wird, der neutral und sozusagen wohlwollend dem Rechte dienend, desinteressiert, ohne Emotionen, mithin neutral und unparteiisch dort sitzt, wurde von uns in Frage gestellt, weil wir häufig genug erlebt hatten, dass das nicht der Fall war. Wir waren ja auch bei den Beratungen der Gerichte teilweise dabei und konnten merken, wie da eigentlich über die Leute geredet wurde, ja, über die Verteidiger, über die Angeklagten und so weiter. Also es hat uns alles immens beschäftigt und angetrieben, uns, also ich spreche von mir, aber ich glaube, das war eine Erfahrung, die uns doch gemeinsam war, sonst hätten wir, die Anwälte, uns vielleicht auch nicht so untereinander verstanden. Mit anderen Worten, dass der Richter selber, ich will nicht gerade sagen als Gegner, aber doch als potentieller Adressat von recht militanten Interventionen von unserer Seite angesehen wurde, das hat natürlich erst einmal schockiert. Das hat die Richter schockiert, und das hat natürlich auch die Presse schockiert, die Gerichtsberichterstatter, die nur das gewöhnliche Bild gewöhnt waren und sich gar nicht vorstellen konnten, dass da Anwälte kommen, die mit Schärfe den Richter adressieren, das Gericht adressieren. Also das war die neue Erfahrung, jedenfalls von dieser Generation. H: Gab es eine Verbindung zwischen der 68er Bewegung und den Ideen, die den SDS leiteten, einerseits und der Rollenumkehr im Gerichtssaal andererseits? P: Naja, die Verbindung gab es natürlich schon alleine deswegen, weil diese neuen Verteidiger im Grunde genommen seit 1967, vielleicht schon seit 1966 oder 1967 überwiegend Mandanten verteidigten, die aufgrund irgendwelcher politischer Vergehen, Demonstrationsvergehen oder ähnliches, angeklagt waren. Das heißt also, der Typ der Verteidigung, den ich gerade geschildert habe, und den Sie jetzt als „Konfliktverteidigung“ ganz richtig auf den Begriff gebracht haben, der war natürlich zunächst einmal unabhängig von der Art des Mandanten, den wir hatten. Aber das ging ineinander über, weil im Grunde genommen das neue Bewusstsein, das sich bei uns so allmählich entwickelte, insbesondere in Prozessen, in denen Linke angeklagt waren, sich schärfen konnte. Horst Mahler, mein Ausbilder, hat, um ein Beispiel zu nennen, eine glänzende, ganz normale bürgerliche Praxis gehabt und dementsprechend also auch ganz normale bürgerliche Mandanten, und zwar nicht nur im Zivilrecht, sondern auch im Strafrecht. Ich habe ihn in Prozessen erlebt, in denen er völlig unpolitische Angeklagte verteidigt hat, die wegen Betrugs, Hehlerei oder Wirtschafsverbrechen angeklagt waren. Da hat er natürlich, weil er einfach ein glänzender Verteidiger war, präzise, klar und auf den Punkt hin verteidigt, aber er nahm sich dennoch mehr zurück als in den Prozessen, in denen Linke angeklagt waren. Es gab also durch-

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aus diese Facetten, die durch die „Konfliktverteidigung“ nochmal verstärkt wurden, allein aus der Tatsache, dass man eben jemanden verteidigte, der gleichsam zur eigenen politischen Welt und zur eigenen politischen Gemeinschaft im weitesten Sinne – damals waren das ja doch noch relativ undifferenzierte politische Gruppierungen – gehörte. Das hat sich wechselseitig beflügelt. Man muss jedoch im Grunde genommen drei Dimensionen unterscheiden, wenn man diese „Konfliktverteidigung“ und die Verteidiger verstehen will. Nicht alle sind übrigens sehr schmeichelhaft für die Anwälte. Ich sag das jetzt in aller Offenheit, weil ich das längst hinter mir gelassen habe. Das Erste und das Tragende war die neue Erfahrung, dass man, um seinen Mandanten richtig gut zu verteidigen, dem Gericht gegenüber konfliktfähig auftreten musste. Das Zweite war das Politische. Der neue Typus des Verteidigers wurde durch die Mandantschaft mitgeprägt. Es gab so etwas wie eine Grundsolidarität mit Personen, auch wenn man sich nicht mit deren schweren Taten solidarisierte. Wenn jemand einen Stein auf einer Demonstration geworfen hat, dann hat man das, offen gesagt, nicht als ein schweres Delikt angesehen. Aus der Situation heraus war man sehr nachsichtig, um es mal so zu sagen, obwohl wir natürlich als Juristen nicht übersehen konnten, dass es etwas Strafbares war. Aber dennoch gab es diese Grundsolidarität. Und da gab es schließlich, drittens, auch noch etwas anderes, und das ist nicht so schmeichelhaft: Die Anwälte fingen, da die Prozesse in der Regel eine erhebliche Publizität hatten, an, sich darzustellen, also gleichsam das Gericht als eine Bühne anzusehen, auf der sie sich produzieren konnten. Dies brachte natürlich einen Zungenschlag in die Verteidigung hinein, der nicht mehr ganz sachgerecht war. Deswegen haben manche Anwälte – und ich nehme mich davon gar nicht aus – auch ein gewisses Maß an Eitelkeit produziert, die, rückblickend gesehen, nicht immer sehr sympathisch war. H: Könnte das auch der Versuch gewesen sein, im Gerichtssaal eine Gegen­ öffentlichkeit herzustellen? P: Also Gegenöffentlichkeit auf jeden Fall. Gerichte sind nach dem Gerichtsverfassungsgesetz ohnehin öffentlich. Und das war der Ansatzpunkt, dass wir dann sozusagen eine Öffentlichkeit für uns, gleichsam für unsere Mandanten, aber, wie ich eben sagte, auch für uns als Verteidiger herstellen wollten. Das war ganz selbstverständlich, und das hat natürlich die Dynamik in diesen Prozessen auch hervorgebracht. Die Gegenöffentlichkeit sollte den Zusammenhalt und den Glauben an die richtige Sache stärken, wenn ich es mal etwas abstrakter ausdrücken darf. Und das ging nur, wenn man gleichsam den Gegner, also die Staatsanwaltschaft sowieso, aber eben auch das Gericht, möglichst hart angriff. Das schmiedete gewissermaßen die eigene Gruppe zusammen. In diesem Sinne waren die Gerichte, war die Gerichtsbarkeit eine, ich will nicht sagen strategische, aber doch eine taktische Ressource in dem breit gefächerten politischen Kampf, in dem wir uns damals gesehen haben. Die Universität war ein Forum des politischen Kampfes, die Gerichte ein anderes. Es hat auch verschiedene Gruppen gegeben, die vor die

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Tore der Fabriken, die es damals in Berlin noch gab, gezogen sind, um die Arbeiter zu agitieren. Das war eine weitere Baustelle, wie man heute sagen würde, also ein weiteres Feld, in dem wir agierten. Aber die Gerichtsbarkeit war sicherlich für uns Anwälte ein Hauptschlachtfeld. H: Das Engagement auf diesem Feld wurde flankiert von der Gründung sozialistischer Anwaltskollektive? P: Ja. H: Haben Sie in einem solchen gearbeitet? P: Ja. H: Können Sie das Besondere dieser Anwaltskollektive charakterisieren? P: Ich glaube, wir waren sogar das erste sozialistische Anwaltskollektiv. Da waren drin: Horst Mahler, solange er noch Anwalt war, Hans-Christian Ströbele, Klaus Eschen, Henning Spangenberg und ich, wenn ich es richtig sehe. Wir nannten uns – wir haben noch das Schild – „Sozialistisches Anwaltskollektiv“. Also das war eigentlich ein bisschen Rhetorik, obwohl es auch einen Kern hatte. Es hat aber unsere Arbeit als Anwälte, die ja berufsrechtlich und gerichtsverfassungsrechtlich ist, nicht sehr geprägt, denke ich. Es hat höchstens einen Anspruch ausgedrückt, der irgendwie eine gewisse Realität hatte, insofern wir doch alle immer bedroht waren und nicht nur bedroht, sondern wirklich überzogen mit Ehren­ gerichtsverfahren, dem Disziplinarrecht der Anwälte. Die berufsrechtlichen Regeln und Pflichten waren natürlich engere als die, die allgemein von der Prozessordnung vorgeschrieben waren. „Sozialistisches Anwaltskollektiv“ brachte demgegenüber zum Ausdruck, dass wir Kollegen waren, die einander beistehen und solidarisch miteinander waren. H: Bestand die Solidarität nicht auch darin, dass Mitarbeiter und Anwälte das gleiche Gehalt bezogen? P: Ich glaube eher nicht, aber ich weiß es nicht. Ich bestreite mit Nichtwissen. H: Denken Sie heute, dass die 68er Bewegung das Justizsystem verändert hat? P: Sie hat das Justizsystem verändert, insofern man heute in den Gerichten ganz andere Richter findet: vom Typus her offener, reflektierter, selbstkritischer, auch gesellschaftlich gebildeter, dadurch auch weniger autoritär. Geändert haben sich auch die Regeln der Prozessordnung sowie die Struktur der Justiz als dritte Gewalt im Staate. Ich glaube, dass die Legitimität des Justizsystems zugenommen hat in letzter Zeit. Auch die Methoden der Jurisprudenz haben sich ja geändert. Das ist natürlich nicht unser Thema, aber das ist sehr interessant und ein Exportschlager der deutschen Jurisprudenz. Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit, des Abwägens konfligierender Interessen, hat das Subsumieren von Sachverhalten unter die Norm, das klassische juristische Subsumieren, ersetzt. Es hat sich viel geändert: Es haben sich die Personen geändert, es hat sich die Methodik geändert und es hat

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sich auch das Vertrauen in die Justiz als Folge davon geändert. Und ich glaube, das Justizsystem ist eine wichtige Quelle demokratischer Legitimität in unserem Lande geworden. H: Hat der „neue Typus“ des Anwalts zu einer Demokratisierung im Gerichtsaal beigetragen? P: Naja, die Verteidiger, das haben wir gesehen, haben sich geändert. Aber auch der Richter ist ein „neuer Typus“, und das gilt auch für die Staatsanwälte. Insofern haben sich die Interaktionsformen geändert. Ich glaube, dass die Richter heute besser verstehen, wenn Anwälte mal offensiv werden, wie umgekehrt die Anwälte häufig gar nicht offensiv werden müssen, weil sie gleichsam mit ihren Argumenten auf Richter stoßen, die verstehen, was sie sagen, so dass man in einem streitigen Gespräch, wie es in der Wissenschaft möglich ist, auch im Gerichtssaal einen Prozess führen kann. Insofern würde ich schon sagen, die Interaktion im Gerichtssaal hat sich verändert. Eine Einschränkung muss ich allerdings machen: Ich bin nicht mehr täglich im Gerichtssaal, ich bin nicht mehr aktiver Anwalt. H: Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Forderung in der SDS-Hochschuldenkschrift nach Demokratisierung und diesen Demokratisierungsansätzen im Gericht? P: In meinem Bewusstsein nicht. Die Denkschrift Hochschule in der Demokratie zielte auf eine Institution, in der Menschen in großer Anzahl Lernprozesse durchmachen und zwar im Medium von Freiheit von Lehre und Forschung sowie der von uns besonders betonten Freiheit des Lernens. Die Universität ist eine ganz andere soziale Institution als die Justiz, wo von vornherein einem Angeklagten Staatsgewalt gegenübertritt, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Da herrscht eine agonale Situation, weil der Herrschaftsanspruch des Staates zum Ausdruck kommt, während an den Universitäten, nach unserer Vorstellung, die Herrschaftsfunktion des Staates im Grunde gar keine Rolle spielen sollte und auch weniger gespielt hat als in der Justiz. Die Institutionen sind so grundverschieden, dass ich keine Verbindung herstellen kann. H: Sie waren und Sie sind Richter am Staatsgerichtshof in Bremen. Ist das Ihr „Marsch durch die Institutionen?“ P: Ich bin immer noch Mitglied des Staatsgerichtshofes in Bremen, aber diese Phase endet. Das konnte nur passieren, weil in Bremen etwas andere Verhältnisse herrschten. Heute würde das gar nichts Ungewöhnliches mehr sein. Lediglich vom Alter her sind wir aus den Institutionen herausgewachsen, mit anderen Worten: „68“ ist in den Institutionen angekommen, aber gleichsam im Pensionsalter. DK: Wie haben Sie damals im Mai 1970 die Befreiung von Andreas Baader eingeschätzt? P: Zwei Wochen vorher war ich, so glaube ich, gerade als Anwalt zugelassen worden. Ich hatte ein Strafverfahren zusammen mit Horst Mahler in Moabit. Wir

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fuhren gemeinsam dahin, von Wilmersdorf, der Meierottostraße, wo unsere Praxis war, nach Moabit. Wir fuhren über die Lietzenburger Straße, an der Urania vorbei. Überall war immens viel Polizei, Blaulicht, überall Polizeiwagen. Ich sagte zu Horst Mahler, was ist denn hier los, was machen denn die Bullen hier? Damals redete ich noch von „Bullen“, die Sprache war ziemlich brutal. Er antwortete, er wisse nicht, was los sei. Wir haben dann nicht weiter darüber geredet, sondern unsere Verteidigung gemacht. Ins Büro zurückgekehrt, erfuhr ich, was geschehen war. Ich unterstelle Mahler, dass er schon früher von der Aktion wusste. Ich will nicht sagen, dass ich schockiert war, aber ich sagte, wie kann man nur so eine Dummheit begehen? Jemanden zu befreien, bedeutete, dass man in den Untergrund gehen muss. Das war jetzt keine Katastrophe in dem Sinne, wie mich der 2. Juni aufgeregt, erschrocken hatte, das überhaupt nicht, aber ich fand es schlimm. Ich erfuhr dann, dass jemand angeschossen worden war, das fand ich natürlich nochmals verschärfend schlimm. Aber es war, Gott sei Dank, kein Toter auf der Strecke geblieben. Zwar hat es bald in der Fahndung Tote gegeben. Petra Schelm wurde erschossen bei der Fahndung, so dass es durchaus schon eine gewisse blutige Spur, eine Blutspur gegeben hat. Aber das war eben zunächst nicht der Fall. Es war jemand angeschossen worden, Näheres wusste man nicht. Und ich fand das eine durch und durch unsinnige und politisch dumme Aktion. Ich habe mir aber, offen gestanden, auch nicht so viele Gedanken gemacht, weil das nicht Leute waren, die sozusagen mit uns was zu tun hatten. Da waren also ­Baader – ich wusste natürlich, wer Baader war, schließlich war ich auf ihn ja im Kaufhaus-Brandstifter-Prozess getroffen – und Gudrun Ensslin. Aber gerade weil ich sie kannte und sehr sehr unsympathisch fand, so unernst – die und Thorwald Proll haben immer gekichert in Frankfurt, aus Verlegenheit ständig immer gekichert – fand ich diese ganze Gruppierung einfach irgendwie jenseits meiner politischen Welt, die beim SDS und im Republikanischen Club, der 1967 gegründet worden war, lag. Ich glaube, zu der Zeit wusste ich noch nicht, dass Ulrike Meinhof bei der Befreiung Baaders mit dabei war, oder vielleicht doch, ich weiß es nicht mehr so genau. Jedenfalls fand ich, das war jenseits dieser Welt. Insofern berührte mich das sozusagen nicht so stark, weil es eigentlich nicht den Kern meiner eigenen politischen Überzeugung betraf. DK: Sie haben Baader nicht wirklich ernst genommen? P: Ich muss erst mal sagen, ich hatte ihn vorher nicht gekannt. Es hieß zwar – und es gibt wohl auch Belege dafür –, dass er im SDS mal aufgetaucht sei, ich bin ihm da aber nie begegnet, jedenfalls nicht bewusst, und so habe ich ihn dann also kennengelernt über diesen Kaufhaus-Brandstifter-Prozess in Frankfurt 1968. Ich fand, er war nicht sehr diskursiv. Er hat nicht groß argumentiert. Weder ­Baader noch Gudrun Ensslin, weder Proll noch der Söhnlein waren sehr artikuliert. Ich glaube, die beiden letzteren haben sich überhaupt nicht geäußert. Und Baader sowie Ensslin als Hauptakteure haben, wenn überhaupt, mit Schimpfworten um sich geworfen, aber nicht argumentiert. Intellektuell habe ich Baader nicht ernst genommen. Er war einfach, wie soll ich sagen, wahrscheinlich ist das eine nachträg-

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liche Deutung und nicht unbedingt mein Urteil zu der Zeit, aber er wirkte auf mich immer so ein bisschen halbseiden, irgendwie so ein bisschen „demi-monde“. Ich muss aber hinzufügen, ich habe ihn dann noch einmal gesehen, ich greife jetzt voraus, in Stammheim, als ich ihn für einen anderen Kollegen besucht habe, ich war nicht sein Anwalt. Damals hatten wir ein längeres Gespräch, da habe ich durchaus einen gewissen Respekt empfunden. Ich fand ihn nach wie vor politisch. Wie er argumentierte, fand ich abwegig, jenseits meiner eigenen Welt, aber er argumentierte immerhin. Aber ich hatte das Gefühl, er argumentierte ständig nur in militärischen Kategorien, inhaltlich war das für mich keine Basis. Anders war es mit Ulrike Meinhof. Mit der habe ich in der Zelle über Herbert Marcuse diskutiert, und ich habe ihr auch das Buch mitgebracht. Zwischen Baader und ihr lagen Welten. DK: Wenn Sie das Klima in der Gesellschaft zwischen Mai 1970 und nach den Sprengstoffanschlägen 1972 vergleichen müssten, welche Unterschiede würden Sie herausstellen? P: Die Zäsur war in der Tat 1970, die Befreiung, danach kamen ja schon die Banküberfälle, auch in Berlin. Und dann kamen diese verschiedenen Aktionen, die ich so genau gar nicht mehr im Kopf habe, 1972, wo auch Ulrike Meinhof schon verhaftet wurde. Also, das war eine Zeit, die das Klima schon erheblich veränderte, und zwar in der Hinsicht, dass sozusagen die Gewalttätigkeit als Element nicht der politischen Kultur, aber sozusagen der politischen Kontroversen ständig präsent war. Und es wurde, das muss ich sagen, einem selber auch irgendwie immer selbstverständlicher. Wenn ich das vergleiche mit dem Schock vom 2. Juni 1967, dem ersten Toten, wenn man das mal in einen Zusammenhang denkt – obwohl der 2. Juni nichts mit dem Terrorismus zu tun hatte, aber immerhin hat sich später eine Gruppe nach ihm benannt – dann hat sich in den fünf Jahren bis 1972 die Wahrnehmung dessen, was Politik ist, wie Politik stattfindet, verändert. 1972 waren Waffen, von denen Gebrauch gemacht wurde, dabei. Vor allen Dingen hat es eine Polarisierung gegeben. Man konnte jetzt nicht mehr sagen, naja, das ist alles Teil der Linken und man müsse mit allen solidarisch sein, weil diese Gruppen eben auch Teil der Linken seien. Das waren sie nicht, und als solche sind sie von mir nie angesehen worden. Aber ich muss das korrigieren. Es gab doch immer das Gefühl, wir sind politisch irgendwie, auch als Anwälte, als politische Menschen, mitverantwortlich. Nicht in dem Sinne, dass wir mit ursächlich waren, aber mitverantwortlich. Wir konnten nicht einfach sagen, naja, das sind Verrückte oder das sind einfach nur Kriminelle und mit denen haben wir als Linke gar nichts zu tun. DK: Wie haben Sie diese Polarisierung erlebt? P: Man hat sie im Gerichtssaal erlebt. Obwohl das vielleicht ein bisschen später als 1972 war. Ich weiß nicht, warum Sie diese Zäsur gewählt haben. Für mich ist das alles eher ein bisschen später eingetreten, dass man auch im Gericht als Verteidiger fast schon feindselig behandelt wurde.

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DK: Können Sie Ihre Situation im Strafverfahren gegen Astrid Proll schildern? P: Normalerweise ist es, wenn man zu einer Sitzung zu spät kommt, so, dass man ganz leise, um niemanden zu stören, an seinen Platz geht, sich hinsetzt und interveniert, wenn es soweit ist. So hatte ich mir das in diesem Fall auch vorgenommen. Um nicht zu stören und weil es schon ein bisschen eng war, bin ich zur Verteidigerbank gegangen, ohne meine Robe angezogen zu haben, weil ich dachte, die Robe ziehst du an, wenn ein bisschen mehr Platz ist. Es war als ein Akt der Rücksichtnahme gedacht von meiner Seite. Der Vorsitzende sah das anders. Er unterbrach die Befragung eines Zeugen und sagte zur Protokollantin, schreiben Sie bitte auf, Rechtsanwalt Dr. Preuß tritt ohne Robe auf. Er unterstellte, dass ich ihn provozieren wollte, und er wollte natürlich diese Provokation im Protokoll haben. Das Beispiel zeigt die Atmosphäre. Es war eine feindselige Atmosphäre. Von unserer Seite war das natürlich nicht anders. Ich würde also keineswegs irgendwie dem Richter die Schuld in die Schuhe schieben. Die Pointe der Geschichte ist, dass das Verfahren eingestellt und Astrid Proll entlassen werden musste, weil sie gesundheitlich das Verfahren nicht durchstehen konnte. Ich erinnere mich, dass danach der Vorsitzende Richter im umgebauten Gesellschaftshaus in Frankfurt auf der Bühne auf und ab ging und mir ein bisschen verdruckst in einem hessischen Dialekt erklärte: Wissen Sie Herr Preuß, ich habe immer gedacht, dass diese Verteidiger eigentlich ganz schreckliche Menschen sind, die man sich möglichst vom Leibe halten sollte. Das, was die Verteidigerbank in diesem Prozess getan habe, habe ihn aber beeindruckt. Das war ein kleines und auch großes Kompliment rückwirkend. Hatte er am Anfang doch die Vorstellung gehabt, wir seien Feinde, was wir in diesem Verfahren jedoch nie waren. Es hängt natürlich auch mit dem Verfahren Proll zusammen. In diesem Verfahren 1979/80 ging es um einiges, und da habe ich auch keine Spielereien gemacht. Wir haben wirklich ernsthaft verteidigt, mit Erfolg. Gegen sie lag immerhin eine Anklage wegen versuchten Mordes vor, aus der eine lebenslängliche Haftstrafe folgen konnte. DK: In den Jahren 1973/74 wurden die Strafverteidiger in den Medien teilweise als Bombenleger diffamiert. P: Ich habe das, offen gestanden, eigentlich nie auf mich bezogen. Es gab einige Anwälte, die in ihrer Verteidigung sehr weit gegangen sind, bei denen der Verdacht einer Identifizierung nicht nur mit den Angeklagten, sondern auch mit deren Taten schon manchmal aufkommen konnte. Ich selbst habe den Verdacht wahrgenommen, aber nicht persönlich genommen, obwohl er auch mir anhing. Noch zwanzig Jahre später wurde ich mit dieser Begründung als Kandidat für das Bundesverfassungsgericht abgelehnt. Ich habe mich streng an die Regeln gehalten. Ich war auch einer der wenigen, die nie ein Ehrengerichtsverfahren hatten. Die meisten waren davon betroffen, obwohl sie nicht immer verurteilt wurden, Gott sei Dank, aber die Verfahren waren massenhaft. Dabei habe ich keineswegs opportunistisch verteidigt, im Sinn des Anschmeichelns an einen Richter, sondern durch-

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aus offensiv, vielleicht sogar aggressiv. Aber ich kannte die Regeln und war auch unter den Anwälten immer der Intellektuelle. Ich hatte in allem, was ich tat, eine Art Reflexionsschleife mit dabei. Ich war ja im Grunde genommen kein originärer Anwalt. Ich war ein Anwalt, der seine Habilitation schreiben wollte und auch beim Max-Planck-Institut beschäftigt war. Mit anderen Worten, ich war ein bisschen atypisch. DK: Ihre Mandantin Astrid Proll war wie Meinhof in Köln-Ossendorf in­ haftiert. P: Ich habe den ersten Schriftsatz geschrieben, der das Phänomen der sensorischen Deprivation in die Diskussion eingeführt hat. Und das war solch eine Situation, in die man als normaler Anwalt gar nicht kam, weil der nicht weiß, wie man wissenschaftliche Literatur auswertet, um eine solche Sache aufzuarbeiten. Das war meine Aufgabe. Ich hatte dabei nie Einblick in die unmittelbare Wahrnehmung meiner Mandantin, weil ich sie nie in ihrer Zelle besucht habe. Ich habe sie immer nur in der Besuchszelle gesehen, genauso wie Ulrike Meinhof auch. Ich kannte nur die Beschreibungen, die sie gegeben hatte, und ich sah vor allen Dingen ihren Verfall. Sie war ständig an der Grenze des Zusammenbruchs, war immer vollkommen bleich, brach in Schweiß aus und erzählte mir von dieser total weißgetünchten Zelle ohne jede Geräuscheinwirkung. Sie bekam von der sozialen Welt um sie herum nicht mit, was man normalerweise im Knast häufig mitbekommt: kein Schlüsselklappern, keine Rufe auf dem Gang, nichts. Deswegen nannte sich das auch toter Trakt, und Ulrike Meinhof hat es später auch so geschrieben. Aber all das habe ich selber nicht erlebt. Wahrscheinlich habe ich darum gebeten, mir die Zelle mal zu zeigen, aber es ist wohl abgelehnt worden. Die Beschreibung findet sich bei Ulrike Meinhof, die eine wirklich begnadete Schreiberin war. So präzise, wie sie als Journalistin es beschrieben hat, hätte ich als Anwalt das wahrscheinlich gar nicht gekonnt. DK: Und der Tod von Holger Meins 1974. P: Holger Meins habe ich nur ganz, ganz flüchtig kennengelernt, und zwar als er noch Student an der Filmhochschule in Berlin war, irgendwie in einem Zusammenhang mit dem SDS. In seiner Anstalt habe ich ihn nie besucht, als Gefangenen nie verteidigt und weiß also dazu gar nichts. DK: Wurden Sie in den Justizvollzugsanstalten kontrolliert? P: Genaue Erinnerungen habe ich daran nicht. Ob sich das so sehr unterschieden hat von dem, was man heute an jedem Flughafen erlebt, bezweifele ich. Ich erinnere nicht, dass die Justizbeamten eine besonders feindselige Haltung hatten. Die haben ihren Job gemacht und haben einen abgeklopft. Empfindlich reagierten wir immer erst, wenn sie in die Akten reinguckten. Da hat es immer wieder Konflikte gegeben, immer wieder Auseinandersetzungen. Ich weiß das von den Kollegen, die heftige Diskussionen und Auseinandersetzungen hatten.

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DK: Sie haben geschrieben, dass der Stammheim-Prozess die Funktion gehabt habe, die Angeklagten zu entpolitisieren und es die Aufgabe der Justiz sei, poli­ tische und gesellschaftliche Konflikte zu zerkleinern. P: Das war an sich keine besonders originelle These. Ich halte an ihr nach wie vor fest. Im Grunde genommen ist es ein linksgewirkter Luhmann. Argumentiert Luhmann doch nicht anders als dass juristische Verfahren und Verfahren generell dem Konflikt seine Schärfe nehmen sollen, in dem sie ihn gewissermaßen zerkleinern, die Beteiligten mit Verfahrenspflichten beladen, durch die sie mehr und mehr involviert werden. Es ist Luhmanns These von der Legitimität durch Verfahren. Ich bin nicht sicher, ob ich Luhmann damals schon kannte oder er das schon geschrieben hatte. Aber ein jeder aufgeklärter Jurist wird ihnen das, was damals als skandalös empfunden wurde, heute zugestehen. Natürlich haben juristische Verfahren den Sinn, den Konflikt aus dem politischen in einen Zustand zu versetzen, der irgendwie verfahrensrechtlich bearbeitbar ist und in zivilisierter Form zu einer Verfahrenslösung kommen kann. Ich glaube, dass ich das damals in der Tat mit so einem kritischen Unterton auch gesagt habe, und ich stehe noch dazu, dass diese Entpolitisierung nicht unbedingt dazu dient, den Konflikt zu lösen, sondern eigentlich dazu dient, die Angeklagten zu demütigen, ihnen also sozusagen ihre politische Identität zu nehmen. Das war, so glaube ich, meine Argumentation. Es wurde ja immer gesagt, das sind ganz gemeine Kriminelle, also werden sie auch wie ordentliche Kriminelle behandelt. Was die Person ausmachte, die politische Überzeugung und Identifizierung, kann man jedoch respektieren und dennoch sagen, dass eine Tat strafwürdig ist, wie es später übrigens in der ganzen Diskussion um zivilen Ungehorsam zur Regel wurde. DK: Waren die Anwälte in Stammheim bemüht, die politische Identität der Angeklagten sichtbar zu machen? P: Wenn sie ganz präzise dieses Ziel verfolgt hätten, hätten sie wahrscheinlich in mancher Hinsicht anders agieren müssen. Es kann sein, dass sie diffus ahnten, dass das im Grunde genommen die einzige Aufgabe sein konnte. Ich war an dem Verfahren nicht beteiligt, aber so viel wusste man schon, dass die Beweise für eine Verurteilung ausreichend waren. Ich glaube, dass teilweise die Strategie darin bestand, das Gericht bloßzustellen und nachzuweisen, dass das Verfahren nicht rechtsstaatlich verlief. Die Schikane der Verteidiger war mehr so ein KleinKlein. Ob dahinter ein strategisches Ziel lag, weiß ich nicht. Man müsste mal Otto Schily fragen, denn er war im Grunde genommen von all diesen Verteidigern dort doch der intellektuell überlegenste. Er war auch derjenige, der am wenigsten mit der Sache irgendwie sympathisierte. DK: Was war die konkrete Zielsetzung der Strafverteidiger? P: Es ist unklar, was die Zielsetzung der konkreten Verteidiger war. Ich glaube nicht, dass es realistisch gewesen wäre, sich vorzunehmen, wir wollen einen Freispruch für alle. Es wäre sicherlich sinnvoll gewesen, für die Öffentlichkeit, für die

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Gerichtsprozesse auch geführt werden, herauszuarbeiten, dass diese Menschen ehrenwerte Motive hatten, aber ihre Taten als Taten natürlich strafbar waren. Das hätte man zugeben können, obwohl das vielleicht schon nahe am Parteiverrat gewesen wäre. Das hätte man aber mit dem Mandanten besprechen können. Die Herausarbeitung ihrer Motivation hätte ein Motiv sein können. Ich habe damals geschrieben, aber selbst schon damals in Zweifel gezogen und tue das heute noch viel mehr, dass sie wie Kriegsgefangene hätten behandelt werden müssen, denen ja auch, wenn sie sich ans Kriegsrecht halten, nicht unterstellt wird, dass sie Kriminelle sind, sondern politische Gegner, die Respekt verdienen. Es wäre eine sehr radikale Konsequenz des Grundgedankens gewesen, den man dort hätte verfolgen können. DK: In den Medien wurde von einer „Kriegssituation“ gesprochen. P: Ja. DK: Erfolgte auch von staatlicher Seite eine Radikalisierung im Umgang mit der terroristischen Herausforderung? P: Es hat eine Radikalisierung in dem Sinne gegeben, dass bestimmte rechtsstaatliche Prinzipien, die bis dahin gegolten hatten, verändert, modifiziert oder verlassen worden sind zu Gunsten einer Verantwortlichkeitszuschreibung jenseits des Strafrechts. Ich denke zum Beispiel an den Paragraphen 129a StGB, der durch die Mitgliedschaft in einer Vereinigung den Nachweis des Tatbeitrags des Einzelnen ersetzt. Michael Buback weiß noch nach 30 Jahren nicht, wer eigentlich seinen Vater ermordet hat, obwohl es mehrere Leute gibt, die wegen Mordes an seinem Vater verurteilt worden sind. Die Kollektivierung der Verantwortlichkeit kam der RAF entgegen. Insofern gibt es etwas Spiegelbildliches. Kollektivierung der Verantwortlichkeit wurde auf Seiten des Staates dadurch betrieben, dass die Anforderungen an einen rechtsstaatlich präzisen täterbezogenen Beweis und die Zuschreibung der Tatbeiträge zu einzelnen Personen aufgegeben wurden zu Gunsten einer Art pauschaler Zuschreibung. Wenn man Mitglied dieser Gruppe ist, ist man gleichsam verantwortlich für alles, was die Gruppe getan hat, und das ist in der Tat nicht nur sprachlich, von der Semantik her, sondern das ist auch von der Logik her etwas Kriegerisches. Die Kriegslogik kennt nur kollektive Verantwortlichkeiten. Das ist den wenigsten bewusst gewesen, obwohl sich Krieg gegen den Terror immens überzeugend anhört. DK: Hatte der Staat damals andere Möglichkeiten? P: Wenn man die Strafgefangenen bereits hat, und das ist die Situation, mit der wir es als Verteidiger zu tun hatten, besteht keine Notwendigkeit, diese Straf­ gefangenen anders zu behandeln als normale Strafgefangene. Natürlich gab es immer die Situation, dass jede Gefangennahme die Nachfolgeproblematik aufwarf. Angenommen wurde, dass sie befreit werden sollten. Aber auch in diesem Fall spricht alles dafür, sie zu behandeln wie jeden Strafgefangenen, um nicht Anlass zu geben, sie als Opfer ungerechter Behandlung anzusehen. Mich wundert also, dass die Bundesanwälte so argumentieren. Wenn dies Herr Herold und seine Poli-

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zisten vom Bundeskriminalamt gesagt hätten, würde ich das eher verstehen. Aber für Strafjustiztätige macht das überhaupt keinen Sinn. Man hat sozusagen eine Kombination gemacht, man hat einerseits gesagt, das sind ganz normale Kriminelle, gleichzeitig aber hat man sie behandelt als wären sie Kriegsgegner gewesen. Man hat sie behandelt wie die Gefangenen 30 oder 40 Jahre später in Guantanamo: als illegale Kombattanten, die rechtlich gesprochen überhaupt nichts sind, die weder rechtsstaatliche Strafgefangene sind noch Kriegsgefangene, die immerhin nach den Genfer Konventionen gewisse Grundrechte haben. Sie waren irgendwie dazwischen. Ich überspitze, aber es war eine Vorwegnahme in Richtung Guantanamo. DK: Gab es unter den Anwälten Diskussionen über die Verteidigungsstrategien? P: Im Verfahren Astrid Proll wurde eine solche Diskussion nicht geführt. Sie musste auch nicht geführt werden, weil es ein Verfahren mit klassischen Tat­ vorwürfen war: ein schwerer Mordversuch und ein Banküberfall, letzterer war aber im Grunde genommen unstreitig. Der Mordversuch jedoch war, wir haben es nachgewiesen, konstruiert mit Fälschungen von Akten und so weiter. Das hat viel Arbeit gekostet. DK: Wie wurden die Selbstmorde von Baader, Meinhof, Ensslin und Raspe besprochen? P: Es gab zunächst einmal die Behauptung, sie seien ermordet worden. Das fand ich von vornherein abwegig. Das gleiche ist übrigens bei Ulrike Meinhof gesagt worden. Fand ich auch abwegig. Bei Ulrike Meinhof konnte ich das persönlich beurteilen. Sie wurde immer depressiver. Ich habe sie damals häufiger besucht, und für mich war das vollkommen klar, sie hatte erkannt, dass sie in einer Sackgasse gelandet war, abgesehen davon, dass sie in der Gruppe isoliert war und beschimpft wurde. Was Jan-Carl Raspe anbetrifft, so war er der Einzige, wo ich gewisse persönliche Betroffenheit empfunden habe, weil das ein ganz Stiller, eigentlich ein ganz Lieber war, den ich als Student kennengelernt hatte. Bei den anderen hat mir das nicht weiter zugesetzt. Bereits nach der Befreiung der Maschine in Mogadischu war mir schon irgendwie klar, dass die erkannt hatten, dass für sie jetzt eigentlich nur die Alternative bestand, ein Leben lang hinter Mauern langsam vergessen zu werden oder mit einem signalhaften Handeln unterzugehen. Das hat mich intellektuell nicht sehr beschäftigt. Theoretisch fand ich das alles abwegig. Es gab natürlich Enttäuschungen, als Mahler plötzlich da irgendwie auftauchte, also dort, wo ich eine persönliche Brücke zu den Schicksalen hatte. Aber zur Gruppe selber und ihrer Politik und all dem hatte ich nie eine innere Beziehung, wo ich irgendwie erschüttert werden konnte, wenn spektakuläre Handlungen stattfanden. DK: Können Sie Mahlers Veränderungen erklären? P: Ich habe einen Kollegen, seinen Namen möchte ich nicht nennen, der lange mit Mahler zusammen gearbeitet hat. Er hat einmal gesagt, der Mahler habe es

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einfach nicht ertragen, dass der Schily so eine Karriere gemacht hat. Mahler litt, so glaube ich, immer an der Diskrepanz zwischen seinen intellektuellen Fähigkeiten und dem, was er erstrebte. Er hat sich, der Film „Die Anwälte“, in dem er mit Hegel herumbrilliert, zeigt es deutlich, als großen Theoretiker gesehen. Immer hatte er wieder die neueste Theorie, irgendwas gelesen und kam damit an, um groß anzugeben. Er hatte große Talente als Anwalt, das steht außer Frage, aber ein Theoretiker, wie er sich selbst immer verstanden hat, war er überhaupt nicht. Vielleicht ist es diese Diskrepanz, unter der er auch gelitten hat, die seine Veränderungen erklärt. H: Gehörte das Info-System zum „neuen Typus“ des Anwalts, zu seiner Rolle, Politik in den Gerichtssaal zu bringen? P: Ich würde das nicht so sehen. Ich glaube, es ist eher eine Konsequenz der Tatsache, die wir zuvor kurz besprochen haben, dass der Einzelne in dem ganzen System der Anklage immer als Gruppenmitglied definiert wurde. Nicht nur die Angeklagten hatten sich als Gruppe definiert, sondern auch die Justiz fasste sie nach 129, 129a StGB als terroristische Vereinigung. Es wäre aus Sicht der Verteidiger daher irgendwie unrationell und auch ein bisschen blind gewesen, wenn nun jeder Verteidiger seinen Mandanten vollkommen isoliert individuell verteidigt hätte. Er musste vielmehr Kontakt zu den anderen Kollegen halten und natürlich auch zu den Informationen, die gleichsam die anderen Angeklagten oder Inhaftierten hatten, um auf den Stand der Informationen zu kommen, der notwendig war, um effektiv zu verteidigen. Das Info-System war schon ein Instrument der Verteidigung, im Ursprung. Später verändert es sich. Das lag daran, dass die Anwälte, aus welchen Gründen auch immer, vielleicht aus Arbeitsersparnis, die Informationen, die sie aus den Zellen bekamen, nicht mehr filterten, sondern nur kopierten und weiterschickten. Das war leichtsinnig, aber angesichts dieser Papiermasse verständlich. Man konnte nicht wie ein Redakteur agieren, der Meldungen aus aller Welt bekommt und diese irgendwie ordnet, systematisiert, um daraus eine Information zu machen. Zwar wäre das die Aufgabe eines Anwalts gewesen, aber es war häufig aus Überlastung und zeitlichen Gründen gar nicht möglich, sie durchzuführen. Indes, der Hintergrund ist eindeutig gewesen. Wer als Gruppe angeklagt wird, muss auch als Gruppe verteidigt werden. Ich selbst habe an diesem System nicht teilgenommen, weil meine Mandantin, Astrid Proll, von diesem System ausgeschlossen war. Ich habe dennoch von dem Info-System etwas mitbekommen, weil ich teilweise formal, bevor es vom Gesetzgeber abgeschafft wurde, dass ein Verteidiger mehr als einen Mandanten im selben Verfahren vertreten kann, Verteidiger war und zum Beispiel Andreas Baader und Gudrun Ensslin in Stammheim besucht habe. Ich weiß also, was drinstand in den Pamphleten voller fäkalischer Beschimpfungen und angeblichen politischen Stellungnahmen. Das war nicht hilfreich, ich habe es immer gelangweilt weggelegt. H: Die Bundesanwaltschaft leitet aus dieser zweiten Stufe des Info-Systems ab, dass sie der Verbindung zwischen Inhaftieren und Sympathisanten gedient habe.

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P: Das ist abwegig. Ich kann natürlich nur von dem Anwaltsbüro sprechen, in dem ich Mitglied war, also dem Büro von Christian Ströbele. Wir haben nie Sachen nach außen gegeben. An wen auch? Diejenigen, die außen irgendwie die Gruppe waren, waren ja selbst illegal. Wir hatten keine Beziehung zu denen, und dieser Transmissionsriemen von innen nach außen lässt sich meines Erachtens auch empirisch widerlegen. Nach meiner Erinnerung war es anders. Die Gefangenen waren, das war Teil des Verfahrens, psychisch und politisch isoliert. Der Informationsring stellte einen Zusammenhalt her. Natürlich hat es diesen Effekt gehabt. Die Frage war nur, war es erlaubt, oder war es nicht erlaubt. Darüber hat es Streit gegeben. Bis zu einem gewissen Zeitpunkt war es auf jeden Fall erlaubt. Später gab es Schwierigkeiten. Ich kann nicht mehr genau sagen, wie das rechtlich gewesen ist. Ich meine, Ströbele ist verurteilt worden. DK: War das Info-System eine Notwendigkeit der Verteidigung, um der Blockanklage eine Blockverteidigung entgegenzusetzen? P: Ja. Das war meine These. Ich weiß, dass ich fest davon überzeugt war, dass dieses System ein Mittel der Verteidigung war. Ob es notwendig war? Es war jeden Fall eines. Und es hatte Folgen, die man nicht leugnen konnte. Eine Folge war, dass die Verbindung zwischen den Angeklagten aufrechterhalten wurde. Aber wir waren der Auffassung, und ich bin es immer noch, dass jemand, der als Untersuchungsgefangener inhaftiert ist, nicht von Informationen ferngehalten werden darf, es sei denn, dass diese das Verfahren vereiteln – zum Beispiel Vernichtung von Beweismitteln oder Fluchtpläne. Niemand hat jedoch behauptet, dass die darin gewesen seien. Es waren ideologische Phrasen, die da abgedroschen wurden, und das ist, auch aus meiner heutigen Sicht, nichts, was irgendwie ein Verfahren behindert. Also, das war die Argumentation. Ich weiß nicht, ob bei Klaus Croissant andere Motive dahinter gestanden haben. Er war ein ganz netter Mann. Ich mochte ihn persönlich wirklich sehr gerne, aber er war aus meiner Sicht politisch auf vollkommenem Irrwege. Zu diesem Fall will und kann ich nichts sagen. Groenewold war der große Organisator, der hat sich vielleicht eher in die Arbeit verliebt, das Info-System zu organisieren und effektiv zu machen. Er ist ein richtiger Macher. Da kommen die unterschiedlichsten Motive herein. Ströbele hat sich gesagt, bei meinen vielen Mandanten ist das ganz praktisch.

Hans-Christian Ströbele

Foto: Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen

Geboren im Jahre 1939 1960 Studium der Rechtswissenschaft und Politologie in Heidelberg Ab 1961 Jura und Politik an der Freien Universität Berlin, 1967 Rechtsreferendar im Anwaltsbüro Horst Mahler 1969 Gründung des Sozialistischen Anwaltskollektivs Ab 1970 Verteidiger in Prozessen gegen RAF-Mitglieder, 1975 Ausschluss von der Verteidigung 1979 Auflösung des Sozialistischen Anwaltskollektivs 1980 Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von 10 Monaten auf Bewährung wegen des Einsatzes als Verteidiger für die RAF-Mitglieder 1985 Mitglied des Deutschen Bundestages auf der Landesliste der Alternativen Liste 1990 Sprecher der Bundespartei Die Grünen 1998 Mitglied im Deutschen Bundestag, u. a. Mitglied im Rechtsausschuss und im Parlamentarischen Kontrollgremium für Geheimdienste 2002 Direktmandat im Berliner Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg, stellvertretender Fraktionsvorsitzender 2009 Drittes Direktmandat in Folge für den Wahlkreis

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Gisela Diewald-Kerkmann (DK): Sie haben 1969 die Zulassung zum Rechtsanwalt bekommen. Können Sie sich noch an ihren ersten Prozess erinnern? Hans-Christian Ströbele (S): Nein, weil ich schon während meiner Referendarzeit an Gerichtsverfahren als Verteidiger teilgenommen hatte. Da machte es keinen Unterschied, wenn ich nochmal mit den Ehren des Rechtsanwalts versehen war. Ich hatte auch vorher schon eine Robe getragen. Ingrid Holtey (H): Herr Ströbele, wenn ich Sie als Achtundsechziger bezeichnete, könnten Sie dem zustimmen oder wäre es präziser, Anwalt der Achtundsechziger zu sagen? S: Wenn Sie mich als Achtundsechziger bezeichnen, würde ich sagen, Sie liegen richtig. Ich war auch Rechtsbeistand und Anwalt der Achtundsechziger. H: Wie und wann kamen Sie zur 68er Bewegung? S: Am 3. Juni 1967, als ich mich, aufgewühlt durch die Ereignisse des 2. Juni – den Schah-Besuch in Berlin, die Demonstrationen, die Erschießung von Benno Ohnesorg – in meiner grenzenlosen Empörung über das Unrecht, das den Demonstranten zugefügt worden war, bei Horst Mahler meldete und ihm sagte, ich möchte in seinem Büro – er war der berühmte APO-Anwalt damals – bei der juristischen Bewältigung dieser vielen Verfahren helfen. Mit mir kamen noch zwei andere Referendare, und er war froh, dass wir dazukamen. Von da ab war ich täglich in diesem Anwaltsbüro tätig und habe für dieses Büro viele Gerichtsverfahren, vor allen Dingen Strafverfahren, durchgeführt. H: Ihr Kollege Heinrich Hannover spricht davon, dass in den Jahren 1967 und 1968 ein „neuer Typus“ des Anwaltes vor Gericht entstanden sei. Wie charakte­ risieren Sie diesen neuen Typus? S: Wir haben unsere Aufgabe als Rechtsanwalt, vor allen Dingen als Strafverteidiger, anders begriffen als das herkömmlich die Rechtsanwaltschaft damals gemacht hat. Ich hatte vorher schon viele Verfahren im Anwaltsbüro eines Verkehrsrechtsanwalts gemacht, kannte mich also ein bisschen aus. Das Neue war, dass wir, herausgefordert durch unsere Mandanten, durch die Situation, die gespürte Gegnerschaft zu den Gerichten und nicht nur zur Staatsanwaltschaft, die Strafprozessordnung neu entdeckten und ihre Möglichkeiten ausschöpften. Vorher war das Bild des Strafverteidigers sehr stark dadurch bestimmt, dass er Urteile oder Entscheidungen der Gerichte gemeinsam mit der Staatsanwaltschaft und dem Gericht mehr oder weniger aushandelte. Die besten Anwälte waren eigentlich die, die die mildesten Strafen für ihre Mandanten herausholten. Uns ging es aber – auch mir – nicht nur um mildere Strafen oder Freisprüche, sondern darum, den Angeklagten – es waren zumeist Studenten – zum Subjekt des Verfahrens zu machen. Die Angeklagten sollten die Möglichkeiten haben, sich vor Gericht zu artikulieren und ihre politischen Auffassungen und Hintergründe der Öffentlichkeit deutlich zu machen.

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H: Entstand unter dem Einfluss der Studentenbewegung nach dem 2. Juni die Vorstellung, den „neuen Typus“ des Anwaltes zu erproben? Hatten Sie Vorbilder, die auf die Weimarer Republik zurückgingen? S: Nein, überhaupt nicht. Also, ich zumindest nicht. Das war eine Forderung der Studenten. Das waren alles Persönlichkeiten, häufig sehr eigenwillige Persönlichkeiten, die dem Anwalt zwar dankbar waren, wenn er sie unterstützte, von uns aber auch verlangten, dass wir so ein bisschen die Ausputzer rechts und links waren und den juristischen Weg ebneten, damit sie die Hauptrolle im Prozess spielen konnten. Eigentlich war das von der Strafprozessordnung vorgesehen, aber es war damals zumeist so, dass der Angeklagte irgendwo auf einem Bänkchen saß und sich die anderen mit seinen tatsächlichen oder möglichen Straftaten beschäftigten. Wir sahen die Möglichkeit einer ganz anderen Rolle. Die Vorstellungen eines Rollenwandels gingen so weit, dass unsere Tätigkeit insgesamt in der Außerparlamentarischen Opposition von einer Reihe von Leuten in Frage gestellt wurde. Wenn ihr Genossen seid, sagten sie, also Teil der Außerparlamentarischen Opposition (APO), dürft Ihr eigentlich gar keine Anwälte mehr sein, weil ihr damit Teil des Staates und damit der Ordnung seid, die wir bekämpfen und revolutionär verändern wollen. Immer wieder hatten wir Diskussionen, ob unsere Arbeit als Anwälte noch sinnvoll sei. H: Wurde durch die Außerparlamentarische Opposition die Idee geprägt, einen anderen Typus von Kanzlei, ein „Sozialistisches Anwaltskollektiv“, zu ­gründen? S: Ja, natürlich! Das Sozialistische Anwaltskollektiv war in der APO als eine neue Form der Zusammenarbeit nichts Außergewöhnliches. Um uns herum entstanden Buchladenkollektive, Kneipenkollektive, Kinderladenkollektive etc. Da war es für uns selbstverständlich, dass wir ein Kollektiv gründen, wenn wir ein APO-Anwaltsbüro gründen. Wir haben es „Sozialistisches Anwaltskollektiv“ genannt, weil wir uns von anderen Kanzleien nicht nur in der internen Konstruktion und der Organisation der Arbeitsverhältnisse, sondern auch in der Zielrichtung unterscheiden wollten. Die Frage war: Für wen werden wir tätig und für wen nicht? Es gab die zwei Seiten. Kollektiv hieß, dass von Anfang an alle, von der Sekretärin bis zu den Anwälten, das Gleiche verdienten. Wir waren zeitweise zehn Leute. Zur Kollektivstruktur gehörte auch, dass grundsätzlich alle gleich viel zu sagen hatten. Wir trafen uns einmal in der Woche, mittwochnachmittags, in der Küche und diskutierten alle Probleme, die am Arbeitsplatz anfielen: Vom Putzen bis zur Frage, ob wir dieses oder jenes Mandat übernehmen sollten oder nicht. Nach außen gab es für unsere Arbeit zudem noch einige Grundregeln. Dazu gehörte, dass wir niemals Arbeitgeber gegen Arbeitnehmer oder Hausbesitzer gegen Mieter vertraten, sondern immer die Schwächeren, also die im sozialen Gefüge Schwächeren, gegen die Stärkeren. Das war ein Grundsatz, den wir zehn Jahre durchgehalten haben. Ich habe danach noch viele Jahrzehnte allein ein Anwaltsbüro gehabt, in dem ich das auch weiterhin so gemacht habe.

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H: Welche Erfahrung haben Sie mit der Konzeption des neuen Anwaltstypus vor Gericht gemacht? S: Über das Sozialistische Anwaltskollektiv wurde in der Zeitung berichtet, vor Gericht wurden wir jedoch nicht als „Genossen“ tituliert. Wir sind in den Gerichtssälen aufgetreten wie andere Anwälte auch. Einen Unterschied machte, dass ein Teil der Kollegen keine Robe getragen hat. Ich habe immer eine getragen! Aber ich trug nie einen Schlips und hatte dadurch meine Kleiderprobleme. Wir nahmen Platz, wo die Anwälte im Gericht Platz nehmen, haben uns verhalten wie andere auch, nur inhaltlich eben in vielen Punkten die Herausforderung angenommen, so würde ich das heute sehen. H: Hat die Außerparlamentarische Opposition mit dem „neuen Typus“ der Anwalts­kanzlei das Justizsystem verändert? S: Wir blieben nicht allein. Es entstanden in mehreren Städten der Bundesrepublik Kanzlei-Kollektive oder gemeinsame Büros, nicht alle haben sich Kollektiv genannt. Wir hatten zudem immer relativ viele Referendare, die irgendwann selbstständig wurden, und so verbreitete sich das, was wir in der Justizlandschaft angestoßen hatten. Was wir verändert haben, konzentrierte sich stark auf den Bereich der Strafverteidigung. Aber nicht nur in Strafprozessen, auch in Zivilprozessen haben wir die Herausforderung angenommen, nur wurde dort nicht alles so förmlich behandelt. In Strafsachen haben wir völlig neue Entdeckungen gemacht: Man kann einen Richter auch ablehnen, wenn man ihn für befangen oder nicht neutral hält. Wir waren nicht überall willkommen. Die Rechtsanwaltskammer hat sich mit uns befasst, hat gegen uns ein Verfahren durchgeführt und uns letztlich verboten, das Schild „Sozialistisches Anwaltskollektiv“ draußen an unserer Kanzlei anzubringen. Es sei unerlaubte Werbung, hat die Rechtsanwaltskammer behauptet, wobei „sozialistisch“ in Westberlin damals eher ein Schimpfwort war. Ich habe immer darauf hingewiesen, dass die Kanzleien im Osten nicht Kollektiv, sondern Kollegium hießen. Eine Verwechslung mit Ostberliner Anwaltskollegen oder Organisationen konnte es somit nicht geben. Es gab aber einen „militanten Gegner“ unter der Anwaltschaft, der angefangen hat, die Schilder abzumachen, weil es so etwas, wie er sagte, in Westberlin nicht geben durfte. H: Ein Kollege? S: Ja, der hat das erste Schild, das wir angebracht hatten, heimlich abgeschraubt, und damit letztlich eine Straftat begangen. Wir haben uns aber drei, vier oder fünf neue Schilder bestellt und immer neue Schilder draußen angebracht, bis es uns von der Anwaltskammer verboten wurde. Das ist die Geschichte des Anwaltskollektivs. DK: Was meinen sie, wenn Sie sagen, der Angeklagte wird zum Subjekt? S: Ich erkläre das heute einmal als Politiker. Der Angeklagte bestimmt die Richtlinien der Verteidigung. Wir haben den Angeklagten oder die Angeklagte

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beraten, ihnen Möglichkeiten aufgezeigt und anschließend gefragt: „So, und wie machen wir es jetzt?“ Der eine oder andere hat keinen großen Wert darauf gelegt, aber viele haben gesagt, wir machen das so und so. Nehmen Sie einmal eine Persönlichkeit wie Rudi Dutschke. Er hat von Anfang an das Gerichtsverfahren auch als wichtige politische Aktion begriffen und gestaltet. Die Anwälte waren die Unterstützer dabei, die Helfer. DK: Welche Erinnerung haben Sie an die Befreiung von Andreas Baader im Mai 1970? S: Da geht die Erinnerung durcheinander. Es gibt das, was ich inzwischen im Film gesehen und das, was ich gelesen habe, und es gibt meine tatsächliche Erinnerung an die damaligen Ereignisse. Ich erinnere, dass wir im Büro wussten – Horst Mahler war bei uns der wichtige Anwalt –, dass eine Ausführung an diesem Tag stattfinden sollte. Mahler wollte, so glaube ich, da auch hingehen und dabei sein, wenn Baader sich in der Bibliothek informierte und mit Frau Meinhof, der Journalistin, zusammenkam. Das wusste ich damals. Wir hatten sehr viel zu tun – zehn oder zwölf Stunden am Tag mindestens – und deshalb war es nicht so, dass wir tage- und wochenlang dachten, es kommt dieses Ereignis, mal sehen, was passiert. Es war ein Prozess unter vielen. Wir bekamen zunächst aus dem Radio mit, dass etwas passiert war. Horst Mahler kam nicht wieder an diesem Tag. Wir konnten uns schon denken, warum. Wir hörten, dass etwas passiert und auch ein Schuss gefallen war, dass Baader geflohen war und die anderen alle mit ihm und dass die nicht mehr zu finden waren. In diesem Moment sind wir ein wenig in Deckung gegangen. DK: Wie haben Sie das Fahndungsplakat von Ulrike Meinhof wahrgenommen? S: Das kam nicht am selben Tag. Es kam später. Die Fahndungsplakate machten uns klar, nicht nur Ulrike Meinhof, sondern auch Kollege Mahler ist weg. Ganz außergewöhnlich war das nicht. Außergewöhnlich war lediglich, dass es uns direkt betraf, weil unser wichtigster Kollege plötzlich fehlte. Wir hatten viele Mandanten, die irgendwann mal untertauchten oder nicht mehr da waren. Das hatte mit der Roten-Armee-Fraktion nichts zu tun, die gab es noch gar nicht. Die Mandanten gingen in den Untergrund, weil sie gesucht wurden oder weil sie meinten, gesucht zu werden. Also, das war nicht so singulär. Es wurde singulär, als die ersten Gerüchte und Verlautbarungen kamen, dass eine besondere Art von Stadt­guerilla entstanden sei. DK: Unterschied sich das gesellschaftliche Klima von 1970 von demjenigen nach den Sprengstoffanschlägen 1972? S: In den zwei Jahren hatte sich die Situation sehr dramatisch dahingehend verändert, dass, infolge der zweijährigen Fahndung in den Medien, wir alle erst einmal abkriegten, was auf diejenigen gemünzt war, die nicht zu erreichen waren. Die ersten Festnahmen waren schon Ende Oktober 1970 erfolgt. Danach wurde einer nach dem anderen festgenommen. Wir besuchten sie im Gefängnis. Es gab De-

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monstrationen. Ich erinnere, dass die Situation zuvor eher diejenige war, dass wir in der Offensive waren, wir, die APO, und dass wir danach viel von den Anwürfen, Verdächtigungen und Beobachtungen abkriegten, die denen im Untergrund galten. Ich erinnere mich an eine Bedrohungssituation. Wir sind nicht nur als „Terroristenanwälte“ und „Anwälte des Terrors“ in den Medien bezeichnet worden, sondern ich habe auch mal eine scharfe Patrone, eine 9 mm-Patrone, nach Hause geschickt bekommen mit nur einem mit Schreibmaschine geschriebenen Satz: „Das ist Dein Todesurteil“. Das Verrückte war noch, dass dieses Kuvert von der Post zur Kontrolle geöffnet, danach aber an mich weitergeschickt worden war. Es war ein Vermerk darauf. Völlig unglaublich! Wir haben dann überall gesehen, dass wir ständig beobachtet wurden. Wir hatten in der Meierottostrasse im vierten Stock unser Büro mit mehreren Balkons und haben immer heruntergeschaut. Sind sie wieder da? Als bei mir einmal eine Geburtstagsfeier stattfand und die Gäste alle auf der Terrasse versammelt waren, habe ich gefragt, wollt ihr einmal unsere Beobachter vom Verfassungsschutz oder von der Polizei sehen? Wir wussten nicht, woher sie waren. Ich bin danach heruntergegangen. Es saßen wieder zwei in einem Auto. Ich habe mich in mein Auto gesetzt und bin ums Karree gefahren. Sie sind hinterhergekommen. Wir haben schließlich gefragt, ob wir ihnen Kuchen bringen sollen. Das alles war aber nicht nur witzig, sondern auch nervig, weil wir ständig bemerkten, dass wir beobachtet wurden und damit in unseren Möglichkeiten und unserer Bewegungsfreiheit eingeschränkt waren. DK: Die Verteidiger wurden in den Medien als „Komplizen“ und „Bomben­ leger“ etc. bezeichnet. S: Naja, das war nicht so wie das heute wäre. Es war eigentlich eine Fortschreibung, nur konzentrierter, dessen, was wir in den Jahren 1967 bis 1970 schon am eigenen Leib miterlebt hatten. Vor allem Horst Mahler galt auch vorher schon in den Schlagzeilen der Medien als der „böse Anwalt“. DK: Wann erfuhren Sie, dass Sie in Stammheim als Verteidiger auftreten ­sollten? S: Das war für mich völlig klar, weil ich, wie alle anderen auch seit den ersten Festnahmen, im Herbst 1970 laufend neue Mandanten bekommen hatte. Das fing mit Monika Berberich und Irene Goergens, die festgenommen worden waren, an und ging immer weiter. Wir haben die Mandanten zuerst bei uns im Büro verteilt, später auch auf andere Büros, bis Baader, Ensslin und Meinhof fest­genommen wurden. Für sie haben wir alle das Mandat übernommen. Es war, wenn irgendwo wieder eine Festnahme erfolgte, klar, dass die uns als Verteidiger wollten, zum Teil hatten wir auch bereits Vollmachten. Wir hatten das Prinzip: „Alle vertreten alle“, was damals rechtlich noch möglich war. Alle Anwälte hatten ein Mandat von allen, die damals der Roten Armee Fraktion zugerechnet wurden. Ich war, glaube ich, einer von denen, die am meisten Besuche gemacht haben. Gerade in der Zeit von 1970 bis 1972 habe ich manchmal die halbe Woche nur im Auto verbracht, um von Gefängnis zu Gefängnis zu fahren. Ich bin dann abends los­gefahren in

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Berlin und war morgens in Schwalmstadt, wo Andreas Baader saß. Ich habe im Auto übernachtet, an einem Bach, damit ich mich morgens ein bisschen waschen konnte. Ich bin ins Gefängnis gegangen bis mittags und am Mittag, da durfte man sowieso keine Besuche machen, mit dem Auto nach Wittlich gefahren. Das waren ungefähr 300 km. In Wittlich habe ich Holger Meins besucht. Abends bin ich schließlich nach Köln gefahren, da saßen Ulrike Meinhof und Gerhard Müller und so weiter. DK: 1974 starb Holger Meins. Welche Erinnerung haben Sie an dieses E ­ reignis? S: Das habe ich schon häufig erzählt. Ich kannte Holger Meins aus Berlin. Er wohnte in der Grunewaldstraße 88, damals auch eine Kommune, ein Kollektiv, eine Wohngemeinschaft. Es wohnten dort einige, die Verfahren hatten. Sie kamen mehr aus dem künstlerischen Bereich, von Film- und Fernseh-Akademien, die damals in Berlin neu waren. Da habe ich ihn kennengelernt als einen ganz ruhigen und zurückgezogenen Jungfilmer, der irgendwie ein bisschen „spinnert“ war, immer in seinen Filmprojekten drinnen und in der Filmhochschule sehr engagiert. Er ist eines Tages verhaftet worden, weil die Polizei in dieser Wohngemeinschaft war. Unter der Wohngemeinschaft gab es ein Röhrengeschäft, einen Klempner. Da irgendwo eine Rohrbombe aufgetaucht war, hatte man vermutet, diese sei da unten hergestellt worden. Holger Meins wurde festgenommen und ins Gefängnis gebracht. Ich bin zu ihm gegangen und habe ihn betreut. Er war drei Wochen in Berlin in Untersuchungshaft. Er wurde behandelt und vorgeführt wie ein Schwerverbrecher. Er war immer von einem Schwarm, von einem Dutzend Polizisten und Wachtmeistern umgeben, die ihn, rechts und links festhaltend, durch die Gerichtsflure brachten. Ich sehe das heute noch vor mir. Immer dachte ich, sind die verrückt geworden? Nach drei Wochen ist das Verfahren stiekum eingestellt worden. Es ist auch nie mehr etwas daraus geworden! Es war irgendwie eine Fehlgeschichte. Ich weiß, das hat ihn sehr mitgenommen und ihn sehr beeindruckt. In Wittlich habe ich ihn wieder getroffen als angebliches Mitglied der RAF und habe ihn dort relativ regelmäßig besucht. Das waren immer besonders erfreuliche Besuche, weil er sehr interessiert war, ganz aufgeschlossen. Er war ein völlig anderer Mensch geworden. Er hatte Interesse an den Verhältnissen in Berlin und wie man sie verbessern konnte. Er hatte immer auch irgendwelche Ideen, wie man die Öffentlichkeitsarbeit besser machen könnte. Über die habe ich mit ihm diskutiert und versucht, Schlussfolgerungen daraus zu ziehen, sie zu verwirklichen, bis die Geschichte mit dem Hungerstreik kam, in dem er gestorben ist. DK: Wurde Meins durch diese Erfahrung und durch die Haftbedingungen zuvor politisiert? S: Auf jeden Fall. Ich kenne eine ganze Reihe von Personen, die in ganz hohem Maße durch Erfahrungen, die sie mit dem Machtapparat des Staates, mit der Justiz, mit der Polizei gemacht hatten, radikalisiert, politisiert worden sind. Wenn sie diese Erfahrungen nicht gemacht hätten, wäre deren Leben wahrscheinlich völlig anders verlaufen.

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DK: Und als Sie von seinem Tod erfuhren, wie muss das…? S: Das ist eine viel längere Geschichte. Ich habe ihn, wie gesagt, regelmäßig besucht und war, so glaube ich, zwei oder drei Tage vor seinem Tod noch einmal bei ihm in der Haftanstalt. Ich wusste nicht, dass es das letzte Mal sein sollte. Andreas Baader und Ulrike Meinhof waren schon in Stammheim oben im siebten Stock untergebracht. Meins wartete darauf, dass er auch dorthin verlegt würde. Dadurch hätte sich seine Situation völlig verändert, weil die „da oben“ so ernährt wurden, dass sie überlebten. Auch durften sie zusammenkommen im siebten Stock. Ich kam also zu Meins in die Haftanstalt in eine Besprechungszelle und habe lange gewartet, bis er schließlich auf einer Trage herein gebracht wurde. Die Trage wurde vor mir auf den Boden gestellt. Und da sah ich ihn. Er war vorher schon immer sehr hager gewesen. Ich hatte ihn im Hungerstreik schon gesehen, durch den er noch magerer geworden war. Aber jetzt war er fast nur noch ein Skelett, konnte sich nicht mehr aufrichten, geschweige denn aufstehen, sondern lag auf dieser Bahre. Ich hab mich auf den Boden hingekniet und mein Ohr bei ihm an den Kopf gelegt. So haben wir uns verständigt. Es war kein langes Gespräch, sondern ein sehr kurzes, weil er mich dringend bat, bei dem am Oberlandesgericht Stuttgart tätigen Richter vorstellig zu werden, so dass er möglichst schnell nach Stammheim verlegt würde. Alle wurden damals mit Hubschraubern verlegt. Ich bin danach heraus, habe eine Telefonzelle aufgesucht – man hatte noch kein Handy – und versucht, den Richter zu erreichen. Das klappte nicht. So habe ich einen Kollegen in Stuttgart angerufen und ihn gebeten, zum Richter zu gehen und darauf zu bestehen, dass die Anordnung, die Gefangenen nach Stammheim zu verlegen, die das Gericht schon getroffen hatte, durchgeführt wurde. Das hat aber auch nicht geklappt. Noch ein dritter Kollege war bei ihm, einen Tag später, und hat eine ähnliche Erfahrung gemacht. Meins ist dann, es war ein Wochenende, gestorben. Das habe ich auf einer Veranstaltung in der TU Berlin erfahren. DK: Wie haben Sie das diskutiert? S: Das war ein ungeheurer Schlag für uns, weil wir der Meinung waren, und der bin ich immer noch: Wenn er rechtzeitig verlegt worden wäre, wäre das nicht passiert. Der Kollege, der ihn nach mir gesehen hat, ist in den Untergrund und zur RAF gegangen. DK: Stichwort Stammheim, wie erklären Sie sich den riesigen Bau in Stammheim? S: Zunächst war das ein modernes, neues Gefängnis, ein Betonbau, sieben Stockwerke. Erst nachdem sich dieser große Prozess anbahnte, der seit 1972 vorbereitet wurde, hat man nicht nur die Gesetze geändert, sondern auch den Schuldspruch schon in Beton gegossen. Da wurde ein Bunker ohne Fenster gebaut, in dem die Verhandlung stattfinden sollte, direkt neben dem eigentlichen Gefängnis, verbunden durch einen unterirdischen Gang. Wir haben das beobachtet. Wir sind häufig nach Stammheim gefahren und haben damals auch Besprechungen mit

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dem Gericht gehabt, vor allem mit dem Vorsitzenden. Darin haben wir darauf hingewiesen, dass das ganz unmöglich sei, extra ein Betongebäude, einen Bunker, für einen solchen Prozess zu erstellen. Da könne doch gar nichts Gutes heraus kommen. Damals war unser Verhältnis zu dem Vorsitzenden Richter noch relativ lockerer. Das veränderte sich, nachdem Holger Meins gestorben war. DK: Der Vorsitzende Richter war Theodor Prinzing? S: Ja, Prinzing! DK: War es, wie Uwe Wesel schreibt, kein Zufall, dass er eingesetzt wurde? S: Genau erinnere ich mich nicht. Ich weiß nur noch, dass er aus einem anderen Justizbereich kam und man ihn wohl dahin geschoben hatte, weil man seitens der Justiz der Meinung war, dass er dort besonders geeignet sei. Anfangs konnten wir, wie gesagt, Veränderungen der Haftbedingungen sowie Einzelheiten in der Vorbereitung des Prozesses aushandeln. Es gab immer Beschwerden, dass wir Akten nicht bekamen, so dass wir einen neuen Antrag dazu stellten etc. Es herrschte eine Atmosphäre, wie gegenüber Gerichten üblich, nicht freundschaftlich, aber auch nicht aufgeladen. DK: Ungewöhnlich war die lange Untersuchungsdauer … S: Genau, das Gesetz sah damals – und sieht noch heute – höchstens sechs Monate Untersuchungshaft vor, die unter besonderen Voraussetzungen nur vom Oberlandesgericht verlängert werden können. Aber wir kannten das alles schon. Das war nicht erst bei den Stammheimern so, sondern so wurden alle RAF-Mit­glieder behandelt. Einen Teil der Stammheimer Prozessmaterie hatten wir in vielfacher Weise vorher immer wieder in anderen Prozessen verhandelt. Ob in Berlin oder in Kaiserslautern, das waren dieselben Anklagepunkte. Baader, Meinhof und Ensslin wurden Sachen vorgeworfen, die auch anderen vorgeworfen wurden. Bei ihnen kamen nur ein paar Sachen hinzu, insbesondere die Attentate auf das US-Hauptquartier in Heidelberg und Frankfurt und noch ein paar weitere Anschläge. Die große Masse der Akten war eigentlich schon vorher angefallen. Sie waren auch schon vorher bearbeitet worden. Es gab schon Verurteilungen. DK: Sie wurden ausgeschlossen, direkt zu Prozessbeginn, wie Kurt ­Groenewold auch? S: Der Ausschluss kam nicht überraschend. Kurz vor Prozessbeginn hatte der Deutsche Bundestag an drei Tagen in drei Lesungen kurz vor Weihnachten 1974 ein ganzes Paket von Sondergesetzen, Veränderungen der Strafprozessordnung und anderer Gesetze verabschiedet – im Galopp und, so glaube ich, einstimmig. Darunter war auch die Möglichkeit, Strafverteidiger aus Strafprozessen auszuschließen. Bis dahin ging das nicht. Zwar hatten sie es bei Otto Schily einmal versucht, waren aber am Bundesverfassungsgericht gescheitert. Nun hatte der Deutsche Bundestag eine ganze Reihe von fundamentalen Änderungen der Strafprozessordnung eingeführt, darunter auch, dass ohne Angeklagte verhandelt

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werden konnte. Das war bis dahin ausgeschlossen – erinnern Sie sich an die NSVerfahren. Viele von diesen Verfahren konnten nie stattfinden oder nur ganz verzögert, weil die Angeklagten krank wurden. Angeklagte, die wegen Massenmordes angeklagt waren, bekamen Herzbeschwerden oder andere Krankheiten, so dass der Prozess nicht stattfinden konnte. Wann die neuen Gesetze angewandt und die ersten Verteidiger aus dem Verfahren ausgeschlossen würden, war eine Frage der Zeit. Für mich stand fest, das haben sie für uns gemacht. Es ging relativ schnell. Anfang des Jahres 1975 wurde als erster Klaus Croissant aus den Verfahren ausgeschlossen, als nächster Kurt Groenewold und danach als letzter ich, so dass Andreas Baader eine Woche vor Beginn des Prozesses ohne Verteidiger seines Vertrauens war. Zur Prozessvorbereitung musste man, das muss man wissen, 120 Aktenordner kennen und auch mit dem Mandanten gesprochen haben. Das heißt: Baader war praktisch ohne Verteidigung. Es gab zwar Pflichtverteidiger, wir haben immer „Zwangspflichtverteidiger“ gesagt, aber die haben nie mit ihm gesprochen und konnten deshalb auch gar keine Verteidigung führen. Wir haben gemeinsam nach einem neuen Verteidiger gesucht: Den Rechtsanwalt Heldmann, der als erstes eine Pause beantragt hat, damit er sich vorbereiten kann. DK: Wie hat Andreas Baader auf diesen Ausschluss reagiert? S: Baader hat mir immer gesagt: „Naja, Ihr seid die letzten, die an den Rechtsstaat glauben“. Für ihn und die anderen war das nicht besonders aufregend. Sie sahen die Justiz als Büttel der Herrschenden, und für sie war klar, dass auf diese Weise eine Verurteilung ohne ein rechtsstaatliches Verfahren, ohne ein faires Verfahren durchgezogen werden sollte. Das bestätigte ihre Weltsicht und ihre Sicht dieses Staates. Ich hingegen habe mich sehr geärgert. Wir drei gehörten zu denen, die am längsten eingearbeitet waren und vor allen Dingen aus vorherigen Prozessen die Prozessmaterie kannten. Wir kannten auch die Zeugen alle. Ich hatte den Kronzeugen, Karl-Heinz Ruhland, schon in vielen Prozessen tagelang befragt. Ich war auf die Verteidigung vorbereitet. Das alles konnte ich nicht mehr nutzen im Stammheimer Prozess. Die neuen Anwälte mussten die Grunderfahrungen erst machen. DK: Wurde die neue Form der Verteidigung von den Bundesanwälten und Richtern registriert? S: Ja, natürlich! Die Wiederentdeckung der Strafprozessordnung oder die neue Art der Verteidigung gab es schon 1967. Viele hatten sich 1975 bereits daran gewöhnt. In Berlin oder Frankfurt konnte man damit gar keinen großen Staat mehr machen. Es war klar, dass die Verteidiger sich vorher die Richter ganz genau anguckten und sie ablehnten, wenn sie eine NS-Vergangenheit hatten. Das war nicht mehr so sensationell, wie es am Anfang gewesen war, und natürlich hatten sich auch die Bundesanwälte, die Staatsanwälte und Richter darauf eingestellt. Die neue Art der Verteidigung hatte schon abgefärbt auf andere, auch auf solche, die nicht bei uns Referendare waren. Sie war inzwischen auch üblich in großen Wirtschaftsstrafverfahren.

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DK: Wählten Sie eine Konfliktstrategie? Nach Ansicht des Richters Kurt ­Breucker verstanden Sie sich nicht mehr als Organ der Rechtspflege. S: Die Konfliktstrategie war begründet, weil sie den Anwalt nicht vornehmlich als Organ der Rechtspflege sah, sondern als Vertreter der Interessen seiner Mandanten, des jeweiligen Mandanten oder der Mandantin. Wir hatten Aufgaben, die andere Anwälte nicht hatten und die ich auch in anderen Verfahren nicht hatte. Ich habe Jahre damit verbracht, die Gesundheit und das Leben meiner Mandanten zu verteidigen und nicht nur ihnen einen fairen Strafprozess zu ermöglichen. Ich stellte fest, dass sie durch die Behandlung in den Gefängnissen körperlich erheblich gelitten hatten. Es gab später Prozesse, in denen dies anerkannt wurde, beispielsweise im Prozess gegen Astrid Proll in Frankfurt, der abgebrochen werden musste. Es gab Gutachter, die wir nicht benannt hatten, die, aus Universitätskliniken kommend, die Verhandlungsunfähigkeit der Mandanten aufgrund der Haftverhältnisse, unter denen sie gelitten hatten, feststellten. Ich habe meine Aufgabe darin gesehen – und das war sicher neu und in der Strafprozessordnung nicht vorgesehen – viel präsent zu sein, mir viel Zeit für die Gespräche in den Gefängnissen zu nehmen. Waren wir doch zum Teil über Monate oder Jahre die einzigen Kontakte der Mandanten, mit denen sie normal reden konnten, weil kein BKA-Beamter oder andere anwesend waren. Viele haben gar keine Besuche von anderen mehr haben wollen, weil sie gesagt haben, jedes Wort wird gegen uns verwandt. Es wird daraus geschlossen, dass jemand schwankt oder nicht mehr so sicher sei usw. So kam es häufig vor, dass ich aus den Gefängnissen kam und zunächst einmal einen halben Tag damit verbrachte, Beschwerden zu schreiben und mit der Bundesanwaltschaft zu telefonieren, um zu sagen, das geht so nicht und ihr könnt diese Haftbedingungen nicht so weitermachen. Das war eine Tätigkeit, die von einem Strafverteidiger in einem normalen Verfahren nicht verlangt wird. Wenn das nicht die Aufgabe des Anwalts sein soll, so würde ich Herrn Breucker entgegnen, dann hätten Sie andere Haftverhältnisse anordnen müssen. DK: Wenn Sie auf die Haftbedingungen zurückblicken: Was war für Sie das entscheidende Erlebnis? S: Astrid Proll war eine der ersten, die wirklich in isolierenden Haftbedingungen oder in Isolationshaft gehalten wurde. Sie war in Köln-Ossendorf untergebracht. Das ist ein Gefängnis mit Flachbauten. Sie war in einem Trakt, der später von Ulrike Meinhof „der tote Trakt“ genannt wurde. Ich habe sie regelmäßig besucht und festgestellt, dass sie sich verändert hatte. Sie klagte über Leiden, die schwer erklärlich waren. Ich stellte fest, dass sie, wenn wir zusammensaßen, gegen fünf Uhr plötzlich anfing zu zittern. Später hat ein Gutachter erklärt, woher das kam. Ab fünf Uhr starb das Anstaltsleben, das sonst Geräusche machte, weil kein Betrieb mehr stattfand, so dass die Zeit der Isolation und des Schweigens um sie herum auf sie einbrach. Ich habe somit, immer wenn ich da war, eine Veränderung und ein Krankheitssymptom erlebt, das sie geschildert hatte. Da muss man doch etwas machen, war meine Reaktion. Wir haben Gutachter und Ärzte gesucht, was

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immer mit einem riesigen Theater verbunden war. Viel später, als Ulrike Meinhof auch nach Köln kam, erklärte sie, dass es ihr unter den Haftbedingungen ähnlich ergehe, sie die gleichen körperlichen Symptome habe. Das vergesse ich nicht! DK: Stichwort Info-System. S: Das ist ein Vortrag für sich. Ich will nur mal sagen: Ich habe das erfunden. Es kam eigentlich aus einer ganz netten Überlegung heraus und war überhaupt nicht so geplant, wie es später geworden ist. Ich war immer bemüht, die Mandanten in den Gefängnissen sinnvoll zu beschäftigen. Saßen sie doch nahezu ohne Außenkontakte da. Sie haben viel gelesen und hatten Kommunikation über ihre Anwälte. Oft erzählten sie mir bei Besuchen etwas, was ich dann mit anderen diskutierte: Was gelesen worden war oder was man für den Prozess gebrauchen könnte, auch gesundheitliche Sachen etc. Ich schrieb immer Briefe. Damit ich nicht fünf oder zehn Briefe nach den Besuchen schreiben musste, habe ich einen geschrieben, den ich kopierte und verschickte mit der Überschrift „Liebe Genossin, lieber Genosse“. Die Mandanten bekamen dann alle denselben Brief und beantworten ihn. Ich habe zurückgeschrieben. Irgendwann wurde mir das alles zu viel, weil die auch alle möglichen Materialien geschickt haben wollten: Einen Artikel aus dem Stern oder der Frankfurter Allgemeinen Zeitung oder irgendwelche solche Sachen. Das häufte sich immer mehr, so dass ich das schriftlich niederlegte in einem Brief. Ich entfaltete die Idee, ein Info-System zu schaffen, das heißt, an einer Stelle, in einem Anwaltsbüro die Sachen zu kopieren und in Paketen zu versenden, aber auch Wünsche entgegenzunehmen. Das Info-System wurde bei einem Kollegen in Hamburg installiert, weil der den besten und größten Kopierer hatte. Es wurden nach einer Weile dicke Pakete von Papier, die ich gar nicht mehr lesen konnte, weil es einfach zu viel war. Die Mandanten im Gefängnis fanden das sehr kommunikativ und haben so auch untereinander heftige Debatten ausgetragen. Ich habe nichts Bedenkliches darin gesehen, zumal es immer wieder vorkam, dass ein Richter diese Unterlagen – was er eigentlich nicht durfte, da es sich um Anwaltspost handelte – durchsah und weiterleitete. Für mich war dies nicht erstaunlich und nachträglich eine Bestätigung, dass auch der Richter nichts Böses daran fand. H: Korrespondierte die Erfindung des Info-Systems auch mit dem neuen Typus des Anwalts? Sie sind dafür verurteilt worden. S: Ich sage zunächst einmal, Sie haben Recht. Ich war nicht nur „Gesundheitspfleger“ oder so etwas, sondern ich war weiterhin Strafverteidiger, und meine eigentliche Aufgabe war es, für den Stammheim-Prozess die Verteidigung vorzubereiten. Da spielten Fragen wie zum Beispiel „counter insurgency“ eine Rolle, mit der Staaten sich darauf einstellen, die Kritischen in der Opposition auch mit Gewalt zu bekämpfen, aber auch Imperialismustheorien, Erklärungen des Vietnam­ krieges, Sicherheitsfragen oder auch Fragen danach, wie bestimmte Sprengkörper oder Bomben funktionieren. Nicht zuletzt zur Klärung der Frage, wie man beweisen konnte, dass die Personen, die wir verteidigten, sich zwar für bestimmte Anschläge verantwortlich erklärt hatten, aber nicht für die Bomben im Hamburger

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und Bremer Hauptbahnhof, die übrigens bis heute nicht aufgeklärt sind. Heute fragt man sich, warum musste man denen so etwas schicken? Aber die interessierte das alles, sie schnitten es aus den Zeitungen heraus, die sie auch bekamen. Wir kriegten von allen alles. Es war die Beschreibung einer Waffe, einer Bombe oder einer Guerillastrategie darunter. Die Guerilla spielte eine zentrale Rolle in Lateinamerika, auch die Stadtguerilla. Es waren unendlich viele derartige Themen. Das wurde immer breiter. Ich hatte das eigentlich so nicht vorgesehen und habe es auch nur zum Teil zur Kenntnis genommen. Ich habe das halt immer mal durchgeblättert. Verschickt habe ich es nicht. Es wurde aus dem anderen Büro verschickt und darunter waren – das habe ich später festgestellt, als mir das zum Vorwurf gemacht wurde – alle möglichen Sachen, die mir die Justiz in der Anklageschrift als über die Verteidigertätigkeit hinausgehend vorhielt. Es gab darunter auch Kommunikationen untereinander, in der der eine den anderen beschimpfte, über die Anwälte fürchterlich hergezogen wurde, über mich auch, etc. Daraus haben die Justiz, die Staatsanwaltschaft und später auch die Gerichte, den Vorwurf abgeleitet, dass in den Gefängnissen eine neue RAF entstanden sei, eine zusätzliche zu derjenigen, die es außen gab, und dass ich den Aufbau und den Unterhalt dieser in den Gefängnissen gebildeten kriminellen Vereinigungen durch meine Tätigkeit unterstützt hätte. Mir wurde noch vieles andere vorgeworfen, wie zum Beispiel, dass ich auf Pressekonferenzen die Forderung des Hungerstreiks unterstützt und fünfzig Mark für einen der Gefangenen im Gefängnis eingezahlt hätte etc. Meine Anklageschrift war doppelt so dick wie diejenige Andreas Baaders, 500 Seiten. DK: Hätten Sie 1973/75 ein solches Vorgehen gegen Ihre Person für möglich gehalten? S: Wir dachten, alles ist möglich, wobei ich immer gesagt habe, einen Prozess ohne Anwälte des Vertrauens der Angeklagten könne die Justiz sich nicht leisten. Wir sind Anwälte, und die Bundesrepublik Deutschland beansprucht, ein Rechtsstaat zu sein. Diesen Rechtsstaat müssen wir immer wieder einklagen. Deshalb warfen mir Mandanten auch schriftlich vor, dass ich an den Rechtsstaat glaube und dies doch völlig daneben sei. DK: Sind Sie davon ausgegangen, dass die Angeklagten nicht verurteilt werden könnten? S: Nein, ich habe das nicht als real angesehen und die Mandanten ebenfalls nicht. Für sie stand felsensicher die Verurteilung fest. Es ging nur noch darum, zu Wort zu kommen, ihre politischen Positionen darzustellen. Darum haben wir uns im Stammheim-Prozess sehr bemüht. Obwohl ich nicht mehr Verteidiger war, habe ich daran mitgewirkt, Anträge etwa zur Rolle der USA in Vietnam sowie zur Rechtfertigung und Erklärung des Angriffes auf US-Stützpunkte in Deutschland zur Unterstützung der Befreiungsbewegung in Vietnam zu formulieren. Es wurden Anträge gestellt, den damaligen US-Verteidigungsminister McNamara zu hören. Sie waren mit sehr langen politischen Ausführungen über den Völkermord in Vietnam verbunden.

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I. Perspektive der Verteidiger

DK: Wie haben Sie die Angeklagten wahrgenommen? S: Sie waren, als sie ins Gefängnis kamen, überzeugt, verurteilt zu werden und nur wieder herauszukommen, wenn entweder irgendeiner sie befreite oder die politischen Verhältnisse sich grundlegend änderten. Dass es irgendwann später einmal eine Amnestie oder ähnliches gäbe, war eher unwahrscheinlich. Sie sahen sich als politische Menschen, nicht als Mörder, sondern als Personen, die sich nicht an die geltenden Gesetze gehalten, den Staat bekämpft hatten und revolutionär verändern wollten. Sie sahen den Staat als faschistischen Staat, und für sie war es klar, dass er sie verfolgte. DK: Wer hat am Info-System mitgearbeitet? S: Die Infopakete bekamen anfangs grundsätzlich alle Gefangenen und Verteidiger. Es gab aber, das habe ich in der späteren Beschäftigung erst mitbekommen, auch Infoteile, die nicht an alle geschickt wurden, sondern nur an einige. Nicht wahr ist der Vorwurf, dass es über das Info eine Verbindung zwischen den Gefangenen „drinnen“ und der RAF „draußen“ gegeben haben soll. Ich kenne bis heute kein Schriftstück aus dem Untergrund, das so ins Gefängnis gelangt wäre. Es sind später in den Zellen Sachen gefunden worden, aber die sind nicht durchs Info-System gegangen; also auch nicht über unser Büro. DK: Erinnern Sie sich an ihre Reaktionen, als Sie vom Tod von Andreas ­Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe erfuhren? S: Nein, konkret nicht. Ich weiß nur, man kann diese Ereignisse nicht aus der jeweiligen Tages- und Zeitsituation herausnehmen. Die Zeit der Schleyer-Entführung war eine Zeit zunehmender Repression. Kollegen und Professoren wurden verfolgt, weil sie einen Göttinger Studentenaufruf unterschrieben hatten. Es war eine gespenstische Atmosphäre; der Deutsche Herbst 1977 eben. Die Situation verschärfte sich durch die Flugzeugentführung. Sie widersprach dem, was die RAF immer gesagt hatte, dass es keinen Terror gegen das Volk, gegen die Bevölkerung geben werde. Terror gegen die Leute, die im Flugzeug waren, konnte nicht im Interesse der Mandanten sein. Ich habe mich da mit anderen bemüht, eine Lösung zu finden. Ich war dauernd engagiert. Ich bekam zunächst die Nachricht der Erstürmung des Flugzeuges und im Laufe des Morgens die Nachricht, dass die Stammheimer tot aufgefunden worden seien. Ich war entsetzt und habe mich an den Satz von Andreas Baader erinnert: „Wenn es mal heißt, ich sei auf der Flucht erschossen worden, glaubt es nicht!“ DK: Wie würden Sie insgesamt den Stammheim-Prozess bewerten? S: Der Stammheimer Prozess war, wie auch andere Verfahren gegen Angeklagte der RAF, im engen juristischen Sinne kein faires Verfahren, aber auch im politischen Sinne gab es eine Vorverurteilung, wie es sie nach meiner Erinnerung nie zuvor gegeben hatte. Schon vorher war in anderen Prozessen damit angefangen worden. Ich habe das „Beweisvereinfachungstheorie“ genannt. Dies ist besonders

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drastisch beispielsweise im Mahler-Urteil zu sehen, in dem nicht gesagt wurde, wir weisen dir nach, dass du in dieser Bank, bei dem und dem Überfall dabei warst und das und das gemacht hast, sondern argumentiert wurde, es gab Überfälle, die RAF hat sich dazu bekannt, du warst zu diesem Zeitpunkt ein Mitglied der RAF und zwar ein führendes, deshalb ist es ausgeschlossen anzunehmen, dass du nicht dabei gewesen bist. So kam es – ich habe das gerade unjuristischer formuliert – zu Verurteilungen, von denen ich sage, dass die ihnen zugrundeliegende Beweisführung nicht in Ordnung ist. Ich weiß heute, dass auch Angeklagte für Taten verurteilt wurden, mit denen sie nichts zu tun hatten. Erinnern Sie sich mal – und daran haben wir uns damals erinnert – an die Prozessführung in Verfahren gegen NSTäter. In diesen musste wirklich jedem Angeklagten nachgewiesen werden, dass er den oder den Häftling zu Tode gequält hatte, ansonsten wurde er für die Mordtaten nicht verurteilt. In Stammheim hat man es sich nicht so schwer gemacht und so nicht argumentiert. Wir haben uns mit dem Stammheim-Prozess nachträglich nicht mehr weiter auseinandergesetzt, weil die Ereignisse des Deutschen Herbstes alles überholt hatten. Aber schon formal ist dieser Prozess nicht als fairer Prozess geführt worden, bis hin zu dem, was Otto Schily, ich und andere damals eingewandt haben: Dass ein Prozess in den USA oder in England nicht mehr hätte stattfinden können, wenn rauskommt, dass die Verteidiger in ihren Gesprächen mit den Mandanten vom Staat heimlich überwacht worden sind. Unter diesen Bedingungen ist kein faires Verfahren mehr möglich, weil man immer von dem Verdacht ausgehen muss, dass das, was aus diesen Verteidigergesprächen, wenn nicht noch viel mehr abgehört worden ist, irgendwie bekannt geworden ist, auch an die Ermittlungsbehörden gegangen und da eingeflossen ist. Als das heimliche Abhören während des Prozesses bekannt wurde, sind die Verteidiger deshalb dem Gerichtsverfahren ferngeblieben und haben ihre Schlussvorträge in einer Gaststätte in Stuttgart-Stammheim gehalten.

II. Perspektive der Richter

Kurt Breucker

Foto: privat

Geboren im Jahre 1934 Studium der Rechtswissenschaft in Tübingen und Hamburg Promotion an der Universität Tübingen im Strafrecht 1963 Eintritt in den Justizdienst von Baden-Württembergs, erst Staatsanwalt, dann Zivilrichter, 30 Jahre Strafrichter 1974 Mitglied des Staatsschutzsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart 1975–1977 Richter im Baader-Meinhof-Prozess 1989 Vorsitzender des Senats und weitere RAF-Prozesse 1996–2000 Präsident des Landgerichts Heilbronn 1996–2011 ehrenamtlicher Richter am Landesberufsgericht für Ärzte in Stuttgart

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Gisela Diewald-Kerkmann (DK): Ich habe gelesen, dass sie seit 1963 im Justiz­dienst gewesen sind. Begonnen haben Sie als Staatsanwalt. Kurt Breucker (B): An die ersten Prozesse als Staatsanwalt habe ich keine Erinnerung mehr. Ingrid Holtey (H): Nur kurze Zeit nachdem Sie in den Justizdienst eingetreten waren, begann die Studentenbewegung und formierte sich die Außerparlamentarische Opposition. Wie standen Sie zu dieser Protestbewegung? B: Ich sah Protest in einer Demokratie als legitim an. Als aber die Proteste in Gewalt umschlugen, hatte ich große Sorge um unseren Staat und seine demokratischen Strukturen. H: Aber zunächst waren die Proteste nicht gewaltsam. Zur Außerparlamentarischen Opposition gehörten neben der Studentenbewegung die Ostermarschbewegung sowie die Opposition gegen die Notstandsgesetze. Viele Juristen haben sich gegen die Notstandsgesetze engagiert. B: Nicht zu allen Themen der Protestbewegung hatte ich eine dezidierte Meinung. Aber zum Beispiel der Notstandsgesetzgebung stand ich aufgeschlossen gegenüber. Ich teilte nicht die Meinung der Protestierenden, dass wir damit in einen faschistischen Staat oder in einen Polizeistaat umgewandelt würden. Es hat sich gezeigt, dass wir seit über 30 Jahren die Notstandsgesetze haben und nach wie vor eine freiheitliche, demokratische Republik sind. H: Markierten die Ereignisse des 2. Juni 1967 in Berlin einen Einschnitt? B: Der 2. Juni war eines der markanten Daten auf dem Weg in die Radikalität. Zunächst zu den Ereignissen. Benno Ohnesorg hatte unbewaffnet an der AntiSchah-Demonstration teilgenommen und er war von einem Polizisten erschossen worden. Damals sagte man zunächst, es handele sich um einen übereifrigen und vielleicht psychisch überforderten Polizisten. Inzwischen weiß man aber, dass Karl-Heinz Kurras – der Pistolenschütze – ein Stasispitzel und SED-Mitglied war. Was das zu bedeuten hat, mögen andere beurteilen. Jedenfalls galt Benno Ohnesorg der RAF immer als ein gewisses Alibi, indem sie sagten: „Der Staat hat zuerst geschossen“. Das schien lange Zeit plausibel. In der Tat hat der Tod des Benno Ohnesorg die Radikalität gewaltig beflügelt. H: Waren Sie in der Zeit zwischen 1967 und 1969 an Prozessen beteiligt, in deren Zentrum Studenten oder Vertreter der Außerparlamentarischen Opposition standen? B: Ich war damals Amtsrichter in Bad Cannstatt, dort wurden Prozesse nach der Auslieferungsblockade der „Bild“-Druckerei in Esslingen geführt. Wir haben uns sehr intensiv im Kollegenkreis über diese Probleme unterhalten. Es war hoch umstritten, ob Straßenblockaden strafbare Nötigung sind oder nicht. Die Frage hat sogar mehrfach das Bundesverfassungsgericht beschäftigt.

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H: In diesen Prozessen trat, so die These von Heinrich Hannover, ein „neuer Typus“ des Anwalts auf. B: Es war überhaupt nicht zu übersehen, dass hier ein Typus Anwalt auftrat, der nicht mehr im herkömmlichen Sinn deutscher Rechtstradition, sondern p­ olitisch verteidigt hat und mehr auf der Seite einer, ich sage mal übertrieben, Revolution stand. H: Was verstehen Sie unter politisch verteidigt? Heinrich Hannover würde argumentieren, er habe sich nicht mit seinem Mandanten identifiziert, sondern versucht, Informationen über politische Zusammenhänge in den Gerichtssaal zu bringen. B: Diese Anwälte haben versucht, politische Inhalte im Prozess deutlich zu ­ achen. Sie haben Anträge gestellt und die Angeklagten haben dann zur angeb­ m lichen Begründung ihre politischen und gesellschaftskritischen Vorstellungen vorgetragen. Aber nach herkömmlicher Auffassung hat der Strafprozess nicht die Funktion, der Gesellschaftskritik ein Forum zu bieten, sondern exakt zu prüfen, ob der Angeklagte die angeklagte Tat begangen hat oder nicht. H: Man sprach von Konfliktverteidigung. Waren Sie zwischen 1967 und 1968 Richter oder Staatsanwalt? B: Zwischen 1967 und 1969 war ich Richter, und Konfliktverteidigung in dieser Form war etwas Neues. Das haben die Richter nicht begrüßt. Es gab dadurch enorme strafprozessuale Probleme, die Prozesse wurden deutlich länger, be­ lastender, und auch die Atmosphäre im Gerichtssaal wurde dadurch manchmal sogar vergiftet. H: Sehen Sie, wenn Sie die Prozesse zwischen 1967 und 1969 mit denen in den siebziger Jahren vergleichen, einen Unterschied in der Art der Verteidigung? B: Die Entwicklung von den Studentenprozessen zu den RAF-Prozessen war eine stetige Entwicklung mit einer negativen Tendenz. Was ursprünglich euphemistisch als „Konfliktverteidigung“ bezeichnet wurde, war später so, dass es sich nahezu als Freund-Feind-Verhältnis im Gerichtssaal ausgewirkt hat. Die Verteidiger in den Terroristenprozessen waren häufig dieselben, die früher die Studentenprozesse geführt hatten. Sie waren dem Gericht gegenüber sehr aggressiv und sehr feindselig eingestellt. H: Hat die 68er Protestbewegung das Justizsystem verändert? B: Ich bin überzeugt, die Protestbewegung hat auch bei der Justiz manches bewirkt und viele Richter und Staatsanwälte neu nachdenken lassen. Denken Sie nur an den inzwischen klassischen Satz von Fritz Teufel „ … wenn es der Wahrheitsfindung dient“. H: Fällt Ihnen noch etwas Positives in Bezug auf die 68er Bewegung ein? B: Es gab zweifellos positive Züge und Ergebnisse der Achtundsechziger, auch bei der Justiz. Ich erinnere mich, in meiner Anfangszeit gab es noch Richter, die

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aus dem alten System stammten. Da hieß es: „Angeklagter, stehen Sie auf“, da wurde der Angeklagte nicht mit Namen genannt. Das hat sich nachher sehr verbessert. Ich selbst bin an der Universität in einer neuen Generation erzogen und ausgebildet worden. Für mich war es undenkbar, dass der Angeklagte – der einzige, der am stärksten belastet ist von den Verfahrensbeteiligten – stehen soll, während alle anderen bequem sitzen. Auch habe ich die Angeklagten immer mit Herr so und so oder Frau so und so angesprochen, nie mit „Angeklagter“. H: Wo haben Sie studiert? B: Ich habe in Tübingen und in Hamburg studiert. Gut, es gab noch Hochschullehrer, die im „Dritten Reich“ ihre Prägung erfahren hatten, aber es gab auch sehr viele fortschrittliche, die habe ich mir zum Vorbild genommen. H: Haben Sie, als Sie in den Justizdienst traten, bereits ein anderes Bild des Richters mitgebracht? B: Als ich in den Justizdienst ging, war die ältere Generation noch von der Ausbildung im „Dritten Reich“ geprägt. Wir Jüngeren haben uns bemüht, diesem Bild nicht zu entsprechen, sondern im Sinne unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung auch den Angeklagten oder die anderen Prozessbeteiligten ernst zu nehmen und sie entsprechend zu behandeln. H: Entstanden dadurch Konflikte zwischen den jüngeren und den älteren R ­ ichtern? B: Es gab Konflikte zwischen den jüngeren Richtern und den älteren. Ich erinnere mich noch an Vorsitzende von Großen Strafkammern, die die Angeklagten niedergemacht haben, ganz schlimm, in einer autoritären, obrigkeitsstaatlichen Art und Weise. Das hat mich sehr abgeschreckt, und ich habe versucht, mein Verhalten anders einzurichten. H: Welcher Professor war ihr Vorbild? B: Einer der Professoren, die mir Vorbild waren, war mein Doktorvater Horst Schröder in Tübingen, ein anderer Günter Dürig, der große Kommentator des Grundgesetzes. H: Waren Personen wie Fritz Bauer prägend für Sie? B: Ich habe Fritz Bauer nie persönlich kennengelernt. Ich habe nur seine Bemühungen und seine Verdienste in Vorbereitung des Auschwitz-Prozesses miterlebt und fand das sehr gut. DK: Mai 1970, die Befreiung von Andreas Baader. Hätten Sie es bei dieser Aktion für möglich gehalten, dass daraus die Rote-Armee-Fraktion entsteht? B: Es war bei der Befreiung von Baader nicht erkennbar, dass dies die Geburtsstunde der Baader-Meinhof-Gruppe, die sich später Rote-Armee-Fraktion nannte, sein würde. Das hat sich erst im Laufe der Zeit und der späteren Erkenntnisse herausgestellt.

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DK: Wenn Sie das gesellschaftliche Klima 1970 mit demjenigen nach den Sprengstoffanschlägen 1972 vergleichen, was war anders? B: 1972 war eine große Zäsur. Da hatte plötzlich die Bevölkerung Angst. Sechs Sprengstoffanschläge innerhalb von 14 Tagen haben die Bevölkerung, wie beabsichtigt, in Angst und Schrecken versetzt. Daraufhin hat sich unsere ganze politische Situation verändert, denn die Polizei hat eine Ermittlungs- und Fahndungskampagne gestartet, wie wir sie in Deutschland vorher und nachher nie wieder erlebt haben. DK: Hatten Sie Angst? B: Ich war damals, 1972, Amtsrichter in Bad Cannstatt. Ich hatte keine Angst. Ich war mit den Dingen nicht unmittelbar befasst. Ich erinnere mich aber, als wir einmal mittags in die Kantine gingen und für diesen Tag Sprengstoffanschläge in Stuttgart angekündigt waren, dass die Straßen menschenleer waren. Die Bevölkerung hat damals sehr auf diese Anschläge reagiert. DK: Welche Rolle haben in dieser Zeit die Medien gespielt? B: Die Medien haben bei der ganzen Entwicklung des Terrorismus eine sehr unrühmliche Rolle gespielt. Sie haben in Ihrem Sensationsbedürfnis die Protest­ bewegung und den Terrorismus populär gemacht. DK: Populär gemacht? B: Durch die intensive Berichterstattung haben die Sprengstoffanschläge eine ungeheure publizistische Breitenwirkung gehabt. Hinzu kam, was die Sache auch populär gemacht hat, dass alle Täter hatten entkommen können. Das war für die RAF zunächst ein Riesenerfolg. Allerdings – nach dem Erfolg des Mai 1972 – kam kurze Zeit später eine vernichtende Niederlage für die RAF. Innerhalb von 14 Tagen wurde die gesamte Führungscrew der RAF verhaftet. DK: Es gab nach der Verhaftung der Gründungsmitglieder Stimmen, auch im Bundeskriminalamt, die sagten, dass die Rote-Armee-Fraktion am Ende sei. B: Viele Bürger dachten, mit der Verhaftung der Führungskräfte der ersten Generation sei der Terror überwunden. Sie haben sich geirrt. Eine neue RAF-Generation rüstete sich zum Angriff und beging eine ganze Serie weiterer Verbrechen. DK: Hätten Sie das für möglich gehalten? B: Zu Beginn habe ich nicht für möglich gehalten, dass die Gewalt weiterhin eskaliert. DK: Eine wichtige Zäsur war der Tod von Holger Meins 1974. B: Als Holger Meins am 9. November 1974 im Hungerstreik starb, war ich schon mit der Sache befasst. Das hat uns tief bewegt, und wir kennen alle die Folgen. Als Racheakt für Meins wurde am nächsten Tag der Berliner Kammergerichts­

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präsident Günter von Drenkmann erschossen. Das war ein Riesenschock. Jetzt komme ich nochmal auf die Medien zurück. Der „Stern“ hat das Bild des toten Holger Meins veröffentlicht und damit insbesondere bei vielen jungen Menschen Entsetzen ausgelöst und Sympathie für diesen „Märtyrer“ provoziert. Das war einer der schlimmsten Katalysatoren für die terroristische Bewegung. DK: Wie haben Sie die Vorwürfe in den Medien, dass man sich nicht richtig um Holger Meins gekümmert habe, aufgenommen? B: Die Vorwürfe gegen die Justiz nach dem Tod von Holger Meins waren enorm. Sie haben später im Baader-Meinhof-Prozess zu erheblichen Turbulenzen geführt. Die Angeklagten und einige ihrer gewählten Verteidiger haben unseren ersten Gerichtsvorsitzenden des Mordes an Holger Meins geziehen. Es war für uns Richter eine sehr belastende Situation. In Wahrheit haben wir das so gesehen, dass Holger Meins sich bewusst zu Tode gehungert hat. Dafür gibt es Belege in Schreiben von Baader und Meins, dass er sich bewusst als Opfer zu Tode gehungert hat. DK: Hätte es eine Möglichkeit gegeben, ihn zu retten? B: Das war damals eine ganz schwierige Situation, einen Hungerstreikenden zu retten. Denn es galt das Prinzip, dass man einen Menschen, solange er im Besitz seiner freien Willensentscheidungen und Willenskräfte ist, nicht gegen seinen Willen ernähren darf. Wenn er aber einmal ins Koma gefallen ist und seine Kräfte geschwunden sind, so dass er nicht mehr verantwortlich entscheiden kann, dann kann es für eine künstliche Ernährung zu spät sein. Es war eine unlösbare Konfliktsituation. DK: Es war eine schwierige Konstellation? B: Natürlich. Man hat ewig diskutiert, beraten und sich Gedanken gemacht, was man tun kann. Gerade bei Holger Meins muss man sehen, er hat nicht nur die Nahrung, sondern auch die künstliche Ernährung verweigert. Als man ihn gegen seinen Willen ernährt hat, hat er dies als Folter bezeichnet. Man konnte machen, was man wollte, der Staat hat immer alles falsch gemacht. DK: Der Foltervorwurf wurde häufig erhoben von Mitgliedern der RotenArmee-Fraktion und von den Verteidigern. B: Der Vorwurf der Folter und des Mordes an Holger Meins traf insbesondere den Gerichtsvorsitzenden. Für ihn war das ungeheuer belastend. Wir übrigen Richter mussten dann über seine Befangenheit entscheiden, denn er war wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt worden. Wir mussten darüber entscheiden, ob er ausscheidet oder nicht. Wir haben den Beschluss dahin gefasst, dass er weiter das Verfahren führen konnte. DK: Sie waren der jüngste Richter im Stammheim-Verfahren. B: Ich werde oft gefragt, wie ich in den Baader-Meinhof-Prozess kam. Bereits im Frühjahr 1973, als noch überhaupt nicht die Rede davon war, dass der Baader-

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Meinhof-Prozess nach Stuttgart kommen sollte, hat mich der Personalreferent des Justizministeriums darauf angesprochen, dass er mich in einem Jahr ans Oberlandesgericht abordnen könnte, wenn ich einverstanden sei. Ich war einverstanden, denn das ist als sogenanntes „Drittes Staatsexamen“ für jeden jungen Richter eine Chance. Tatsächlich hat er mich auch abgeordnet. Am Oberlandesgericht ist dann ein Kollege altershalber ausgeschieden. Die Stellte musste also neu besetzt werden und ich habe mich beworben, wie andere Kollegen auch. In einem normalen Bewerbungs- und Auswahlverfahren wurde ich ernannt, und das Präsidium des Oberlandesgerichts hat mich dem Zweiten Strafsenat zugewiesen, bei dem der Baader-Meinhof-Prozess anhängig war. DK: Als Sie sich um diese Stelle beworben haben, wussten Sie noch nicht, dass dort der Baader-Meinhof-Prozess stattfinden würde? B: Doch, das wusste ich. DK: Das wussten Sie? B: Ja. Aber ich wusste nicht, in welchen Senat ich komme. Ich habe mich nur ans Oberlandesgericht beworben, und da gab es damals fünf Strafsenate. Wohin mich das Präsidium einweist, lag nicht in meiner Hand. DK: Welche Reaktion löste es bei Ihnen aus, als Sie erfuhren, dass Sie im Stammheim-Verfahren eingesetzt würden? B: Ich weiß noch genau, wie ich reagiert habe. Der Oberlandesgerichtspräsident sagte mir: „Sie kommen in den Staatsschutzsenat, was halten Sie davon?“ Daraufhin habe ich gesagt: „Davon bin ich nicht begeistert“. Darauf sagte er nur: „Das wird auch nicht verlangt“. DK: Warum waren Sie nicht begeistert? B: Ich wusste von Anfang an, dass der Baader-Meinhof-Prozess die größte Herausforderung in meinem Berufsleben sein würde, und so war es auch. Eine große Herausforderung mit Risiken und mit Chancen. Mit Risiko meine ich aber nicht die Gefährdung für Leib oder Leben, sondern vor allem das Risiko, dass man mit diesem Prozess nicht fertig wird, denn es war das erklärte Ziel der Angeklagten und ihrer Verteidiger, diesen Prozess zum Platzen zu bringen. Die Angeklagten und auch ihre gewählten Verteidiger wussten genau, dass dieser Prozess eine Öffentlichkeit hat, wie sie noch kein anderer Prozess in Deutschland erlebt hat. Es war nicht nur die gesamte deutsche Presse, es war die europäische und sogar die Weltpresse anwesend. Man hat mit großem Aufwand auch von Seiten der RAF diesen Prozess als Pilotprozess durchführen wollen. Hier wollte man den Rechtsstaat ad absurdum führen. DK: War Ihnen vorher deutlich, dass es diese Konfliktlinien geben würde? B: Das war deutlich. Man hatte einen Vorgeschmack durch andere Prozesse von den Studentenunruhen bis zu den ersten Prozessen gegen die Baader-Mein-

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hof-Gruppe. In Berlin war bereits der Mahler-Prozess gelaufen. Man kannte die Situation vom Brandstifterprozess in Frankfurt, in dem Baader, Ensslin, Thorwald Proll und Horst Söhnlein angeklagt waren, da hatte man schon einen Vor­ geschmack bekommen. DK: Welches Bild hatten Sie von den Angeklagten? B: Im Vorfeld kannte ich die Bilder der Angeklagten und hatte als politisch bewusster Staatsbürger viel gelesen, darunter einige der Artikel von Ulrike Meinhof in „konkret“. Da hatte sich schon ein Bild entwickelt, insbesondere von Frau Meinhof und Frau Ensslin als sehr intellektuellen Frauen und von Andreas Baader als einem Desperado, einem Mann der Tat und der „action“. Von den anderen beiden hatte ich keine so große Vorstellung, also von Raspe und Meins. DK: Bestätigten sich diese Bilder später im Strafverfahren? B: Das Bild der Angeklagten hat sich etwas verändert. War Baader zum Beispiel früher nur ein Haudegen und ein „Hau drauf“, so hatte er in der Haft eine Menge, natürlich einseitig, Revolutionsliteratur und über Terrorismus gelesen. Man merkte, dass dieser junge Mann, der zwar keine formale Bildung hatte, aber ein intelligenter junger Mann war, sich viel angelesen hatte. DK: Das hat man direkt im Prozess gesehen? B: Andreas Baader zeigte insofern interessante Reaktionen, als dass er viele prozessuale Dinge sofort durchschaute und sehr schlagfertig darauf reagierte. H: Kam es in den Prozesspausen zu einem Gespräch zwischen Richtern und Verteidigern? B: Gespräche zwischen Richtern und Verteidigern gab es während des Prozesses nur im Gerichtssaal, denn die gewählten Verteidiger hatten eine klare Weisung von den Angeklagten, dass man mit den Vertretern des Staates, mit den „Klassenfeinden“ nicht spricht. DK: Welches Bild hatten Sie von den Verteidigern? B: Im Vorfeld war mir das Agieren von einigen der Angeklagten und auch ihren Verteidigern genau bewusst. Zum Beispiel Otto Schily hatte schon im Kaufhausbrandstifter-Prozess verteidigt und war auch im Mahler-Prozess beteiligt gewesen. Da wusste ich einiges aus der Presse. DK: Hat sich das Bild bestätigt? B: Das Bild hat sich nicht nur bestätigt, sondern die gewählten Verteidiger sind noch weit aggressiver und konfliktfreudiger aufgetreten als zuvor. DK: Worin zeigte sich das aggressive Vorgehen der Verteidigung? B: Das aggressive Vorgehen der gewählten Verteidiger zeigte sich nicht nur in der Schärfe ihres Ausdrucks, sondern auch in ihrer sachlichen Argumentation, die

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manchmal, aus unserer Sicht, nicht in erster Linie dem Recht, sondern der politischen Agitation diente. Es dient nicht dem Recht, die Richter und Bundesanwälte faschistischer Methoden zu bezichtigen, wie es zum Beispiel Otto Schily und Dr. Hans Heldmann taten. Rechtsanwalt von Plottnitz brachte den FaschismusVorwurf auf den Punkt, als er dem Gerichtsvorsitzenden nach Verkündung eines Beschlusses zurief: „Heil Dr. Prinzing“. DK: Wir haben Sie darauf reagiert? B: Man konnte nicht anders darauf reagieren als die Äußerung zu rügen und im Übrigen hinzunehmen, denn die Prozessordnung sieht in solchen Fällen keine Sanktionen gegen Verteidiger vor. DK: Die Verteidiger haben das damit begründet, dass mehrere Strafrechts­ änderungen vorgenommen und ihre Rechte abgebaut worden seien. B: In der Tat wurden gewisse Rechte der Verteidigung beschnitten, aber noch nicht so, dass das die Angeklagten unzulässig behindert hätte. Ich denke daran, dass zum Beispiel ein Angeklagter nur drei Wahlverteidiger haben durfte. Da ihm außerdem noch Pflichtverteidiger beigeordnet wurden, war jeder Angeklagte ausreichend verteidigt. Natürlich kenne ich den Vorwurf, der Staat habe ad hoc Gesetze beschlossen, aber man darf nicht vergessen, alle diese Gesetze haben eine breite, überwältigende, parlamentarische Mehrheit gefunden und waren dadurch demokratisch legitimiert. Auch sind alle diese Gesetze auf die verfassungsrechtlich vorgeschriebene Weise zustande gekommen und hatten später vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand. DK: Die Gesetze wurden im Dezember 1974 beschlossen und der Baader-Meinhof-Prozess begann einige Monate später. Gab es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen diesen Gesetzen und dem Prozessbeginn? B: Das ist eine politische Frage, ob diese neuen Gesetze und der Baader-Meinhof-Prozess zusammenhingen. Es war jedenfalls klar, dass eine Reihe solcher Prozesse auf den Staat zukommt. Der Gesetzgeber hätte seine Pflichten versäumt, wenn er nicht das Notwendige für diese Prozesse getan hätte. Es ging also nicht nur um ­einen Prozess, sondern um Prozesse dieser Art. Ohne diese neuen Gesetze hätten die späteren Prozesse nicht stattfinden können. Ich will das an einem Beispiel erläutern. Unsere Angeklagten – Baader, Meinhof, Ensslin, Raspe – hatten sich durch mehrere langdauernde Hungerstreiks in einen sehr geschwächten Gesundheitszustand versetzt. Dafür waren die Hungerstreiks zumindest mit ursächlich. Ohne den neuen Paragraphen 231 a der Strafprozessordnung wäre der Prozess geplatzt. Diese Vorschrift erlaubt, gegen Angeklagte auch in deren Ab­wesenheit weiter zu verhandeln, wenn sie sich schuldhaft selbst in den Zustand der Verhandlungsunfähigkeit versetzt haben. So war es hier. DK: Aber durch diesen Paragraphen wurde es möglich, eine Verhandlung in Abwesenheit der Angeklagten zu führen.

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B: Das ist richtig, aber wie hätte man sonst einen solchen Prozess durchführen können, wenn die Angeklagten es jederzeit in der Hand gehabt hätten, sich durch Hungerstreiks verhandlungsunfähig zu machen und damit den Prozess zum Platzen zu bringen? DK: Sie sagen, dass die Angeklagten diesen Hungerstreik durchgeführt hätten, um eine Verhandlungsunfähigkeit zu erreichen. Die Verteidigung hat dagegen gehalten, dass es darum gegangen sei, die Haftbedingungen zu verbessern. B: Im Baader-Meinhof-Prozess wurde immer wieder behauptet, die Hungerstreiks hätten nur den Sinn, die angeblich unmenschlichen Haftbedingungen zu verbessern. Das war eine Kampagne damals, die ebenso raffiniert wie erfolgreich war. Die Angeklagten und ihre gewählten Verteidiger haben sich zunächst nicht zu den angeklagten Taten geäußert, sondern machten die Haftbedingungen zum zentralen Thema ihrer Verteidigung. Sie behaupteten, die Haft sei unmenschlich und grausam, die Angeklagten würden isoliert, gefoltert und sollten gar liquidiert werden. An dieser Kampagne haben sich auch die gewählten Verteidiger beteiligt. Otto Schily sprach wörtlich von „Vernichtungshaft“. Das war eine eklatante Propagandalüge, die zum Ziel hatte, Mitleid mit den Gefangenen zu erwecken und so Sympathisanten und Unterstützer für die RAF zu werben. In Wahrheit entsprachen die Haftbedingungen dem Gesetz. Das haben auf die Beschwerden der Angeklagten sowohl der Bundesgerichtshof als auch das Bundesverfassungsgericht und die Europäische Kommission für Menschenrechte wiederholt entschieden. DK: Wie würden Sie die Haftbedingungen in Stammheim und diejenigen in Köln-Ossendorf beschreiben? B: Ich kenne die Haftbedingungen in Köln-Ossendorf aus eigener Anschauung nicht. Ich kenne aber die Haftbedingungen, die während des Baader-Meinhof-Prozesses in Stammheim geherrscht haben, wo immer noch von den Angeklagten und ihren gewählten Verteidigern behauptet wurde, sie seien isoliert und würden unmenschlich, grausam behandelt. Es gibt ein Buch, das der Vollzugsbeamte Horst Bubeck zusammen mit dem Schriftsteller Kurt Oesterle geschrieben hat, in dem die wahren Haftbedingungen realistisch und überzeugend dargestellt werden; die waren komfortabel und weit besser als für jeden anderen Häftling. Der Folter­ vorwurf war wirklich eine reine Propagandabehauptung. DK: Gegen die Darstellung Bubecks hat der Gutachter Wilfried Rasch darauf hingewiesen, dass die fehlenden Kommunikationsmöglichkeiten problematisch gewesen seien. B: Für die Stammheimer Zeit, die ich unmittelbar beobachtet und zum Teil, was die Anordnung der Haftbedingungen anbetrifft, mitgestaltet habe, kann von Isolation überhaupt keine Rede sein. Ich spreche davon, dass sich die Angeklagten untereinander treffen konnten, nicht nur während der Hauptverhandlungen im Gerichtssaal, sondern auch an den prozessfreien Tagen konnten sie jederzeit mit-

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einander kommunizieren. Sie hatten unbegrenzten Besuch ihrer Verteidiger, und sie konnten auch, wenn sie wollten, andere Besucher empfangen. DK: Wurden die Probleme der Haftbedingungen bewusst in den Medien als „Isolationsfolter“ propagiert? B: Die Anwälte kannten die wirklichen Haftbedingungen genau. Wenn das als Isolationshaft und als Folter dargestellt wurde, dann war das eine bewusste Verzerrung der Realität. DK: Direkt zu Beginn des Prozesses wurden die Verteidiger Hans-Christian Ströbele, Klaus Croissant und Kurt Groenewold ausgeschlossen. B: Sie wurden vor Prozessbeginn aufgrund des neuen Instrumentariums ausgeschlossen, weil sie nachweislich – sie sind alle drei später strafrechtlich dafür verurteilt worden – am Aufbau eines illegalen Kommunikations- und Informa­ tionsnetzes mitgewirkt haben. Dieses Kommunikationssystem sollte u. a. den Informationsfluss von dem in Stammheim einsitzenden Führungskader Baader, Ensslin und Meinhof zu den im Untergrund kämpfenden, illegalen, bewaffneten Kämpfern gewährleisten. Die Mitwirkung der Anwälte erfüllte einen Straftat­ bestand, der es nicht möglich erscheinen ließ, dass diese Verteidiger noch weiter als Verteidiger tätig waren. DK: Sie sprechen von dem Info-System? B: Das haben wir zunächst gar nicht wahrgenommen. Das kam erst später heraus, als sich herausstellte, dass nicht nur laufend Kassiber geschmuggelt, sondern auch verbotene Gegenstände in die Haftanstalt und aus der Haftanstalt hin und her geschmuggelt wurden. Das erste war eine Minox-Kamera, die über das Rechtsanwaltsbüro Croissant, Müller, Newerla nach Stammheim kam. Diese Kamera wurde nachher in Stammheim aufgefunden, und Bilder, die damit entstanden sind, wurden später sogar veröffentlicht. Aber der Höhepunkt dieser illegalen Tätigkeit war, dass Rechtsanwalt Arndt Müller zwei Pistolen nach Stammheim geschmuggelt hat, mit denen sich später Baader und Raspe erschossen haben. DK: Müssen wir nicht, wenn wir vom Info-System sprechen, unterscheiden zwischen Hans-Christian Ströbele und Kurt Groenewold auf der einen und Klaus Croissant auf der anderen Seite? B: Das Info- und Kommunikationssystem ist nicht zu trennen von dem Schmuggeln der verbotenen Gegenstände und der Waffen. Es hat einen ständigen Informationsfluss gegeben, von den Häftlingen, also von den Führungskadern in Stammheim, zu den im Untergrund kämpfenden „Illegalen“. Es ist durch Kassiber der Rechtsanwälte hin und her geschmuggelt worden. Damit waren insbesondere die Rechtsanwälte Arndt Müller und Armin Newerla ständig befasst. Arndt Müller war zum Beispiel als Verteidiger von Gudrun Ensslin nur an einem der 192 Sitzungstage in der Hauptverhandlung erschienen. Im Wesentlichen war er der Kurier

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vom Rechtsanwaltsbüro zur Haftanstalt und umgekehrt. Vom Büro wurden die Nachrichten dann weiter gebracht zu den im Untergrund kämpfenden „Illegalen“. DK: Die Anwälte argumentieren, dass das Info-System die Funktion gehabt habe, einen gleichen Informationsstand bei den Angeklagten herzustellen. B: Das Info-System diente auch zur Verständigung der in unterschiedlichen Haftanstalten sitzenden RAF-Mitglieder. Darin sahen die Verteidiger eine gewisse Legitimation dieses Systems, das sie aufgebaut und genutzt haben. Man kann das einigermaßen nachvollziehen damit, dass es ursprünglich eine Blockverteidigung gab. Durch die neuen Gesetze war es nicht mehr möglich, dass ein Anwalt mehrere Angeklagte vertreten konnte. Aber die andere Seite des Informationssystems war eben dieser Informationsfluss von den Stammheimer Führungskräften zu den „Illegalen“. DK: Die Strafen gegen Ströbele, Groenewold und Croissant wurden auf Bewährung ausgesetzt. B: Croissant wurde zu zweieinhalb Jahren ohne Bewährung verurteilt, Groene­ wold zu zwei Jahren mit Bewährung und Ströbele zu zehn Monaten mit ­Bewährung. H: Aber Ströbele bestreitet, dass es Informationen gab, die aus dem Info-System in Kreise des Untergrunds gelangt seien. B: Während des Baader-Meinhof-Prozesses war dieses Informations- und Kommunikationssystem noch nicht in der Form bekannt wie später. Aber in einem weiteren Prozess, an dem ich auch als Berichterstatter mitgewirkt habe, gegen die Rechtsanwälte Arndt Müller und Armin Newerla, wurde das Informations- und Kommunikationssystem eingehend aufgeklärt. Es gab klare Geständnisse von Leuten, die diesen Informationsfluss vom Büro zu den „Illegalen“ garantiert haben. Das waren die sogenannten Kuriere. Geständnisse über dieses Informationsund Kommunikationssystem haben die Zeugen, aber auch Angeklagte wie Volker Speitel und Hans-Joachim Dellwo gegeben. Es gab Funde im Büro Croissant, die eindeutig bewiesen, dass Kommunikation stattgefunden hatte. DK: Bei Hans-Joachim Dellwo und Volker Speitel handelte es sich um Kronzeugen, die, um Strafmilderung zu erhalten, solche Informationen lieferten? B: Ich weiß, dass man die damaligen Zeugen, die ihr Wissen offenbart haben, Volker Speitel und Hans-Joachim Dellwo, als die „Meistersinger“ diffamiert hat. Wir haben aber nicht allein diesen Zeugen im Prozess zum Beispiel gegen Müller und Newerla geglaubt, sondern es gab auch Funde im Büro. Zum Beispiel hat Speitel gesagt, er habe die Pistolen in Einzelteile zerlegt und Müller mit nach Stammheim gegeben, verpackt in Aktenordnern. Tatsächlich wurden die Waffen in Stammheim gefunden. Die Pistole, mit der sich Raspe erschossen hat, hatte keine Griffschalen in Stammheim, und Speitel konnte die Stelle im Büro der Rechtsanwälte zeigen, wo die Griffschalen versteckt waren. Man hat diese gefunden und sie passten zu der Pistole. Das war einer der vielen Sachbeweise, die seine Glaubwürdigkeit gestützt haben.

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DK: Informationen haben Sie nicht nur über Kronzeugen, sondern auch durch Zellendurchsuchungen bekommen? B: Es hat im Laufe der Zeit zahlreiche Zellendurchsuchungen gegeben. Das kann ich rückblickend zeitlich nicht mehr genau einordnen. DK: Man fand wichtige Beweisstücke bei diesen Zellendurchsuchungen? B: Natürlich, das waren wichtige Beweisstücke. DK: Stichwort Kassiber. Otto Schily bestreitet, Kassiber übermittelt zu haben. B: Der sogenannte Ensslin-Kassiber war ein wichtiges Beweisstück. Fest steht, dass er von Ensslin verfasst wurde. Eine Woche nach ihrer Verhaftung war dieser Kassiber im Besitz von Meinhof. Der Text war umgeschrieben worden auf einer Schreibmaschine, die man aber nie entdeckt hat. Einziger Besucher bei Frau Ensslin in dieser Woche war Rechtsanwalt Schily. Deshalb stand er unter h­ ohem Verdacht, und dieser Verdacht war damals so stark begründet, dass der Bundesgerichtshof ihn von der Verteidigung ausgeschlossen hat. Dieser Beschluss wurde später vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben, aber nicht etwa weil das Bundesverfassungsgericht Schily nicht für schuldig gehalten hätte, sondern aus Rechtsgründen. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, für einen solchen Ausschluss genüge das anwaltliche Standesrecht nicht, dafür bedürfe es eines Gesetzes. Dieses Gesetz hat der Bundestag alsbald beschlossen. Aber das konnte wegen des rechtsstaatlichen Rückwirkungsverbots nicht auf Rechtsanwalt Schily angewandt werden. Schily ist wegen des Kassiber-Schmuggels nie bestraft worden. Das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren wurde eingestellt. In der Einstellungsverfügung hieß es meines Wissens, es bestehe kein Zweifel, dass Schily diesen Kassiber geschmuggelt habe. Es sei aber nicht sicher, ob er vom Inhalt Kenntnis gehabt habe oder den Kassiber ohne Kenntnis des Inhalts auf jeden Fall geschmuggelt hätte. DK: Hielten Sie diesen Kassiber-Schmuggel für möglich? B: Bezüglich des Kassiber-Schmuggels waren die Fakten, die Otto Schily belasteten, damals bekannt. Daran hat sich meines Erachtens nichts geändert. Wenn Herr Schily es weiterhin bestreitet, dann mag er das tun. DK: Können Sie sich noch an den ersten Verhandlungstag in Stammheim erinnern? B: Einen solchen Verhandlungstag wie den ersten im Stammheimer BaaderMeinhof-Prozess kann man nicht vergessen. DK: Warum? B: Die ganze Republik schaute voll Spannung auf diesen Prozess. Wir mussten auf alles gefasst sein, und somit standen wir Richter und ebenso die Bundesanwälte unter einer enormen Spannung.

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DK: Sie selbst auch? R: Natürlich ich auch! Ich war als jüngstes Mitglied des Senats zunächst einer der Unerfahrensten. DK: Haben Sie eine Waffe getragen? B: Während des Baader-Meinhof-Prozesses galt ein absolutes Waffenverbot im Saale. DK: Und außerhalb? B: Außerhalb war ich bewaffnet. DK: Haben Sie sich persönlich gefährdet gefühlt? B: Ich habe mich persönlich nicht gefährdet gefühlt, aus mehreren Gründen. Während des ganzen Befasstseins mit Terroristen-Prozessen standen wir Richter unter Personenschutz. Die jungen Personenschützer haben das gut gemacht. Sie waren einsatzbereit, und so sah ich keinen Anlass, mich zu fürchten. Im Übrigen ist Furcht immer eine heikle Geschichte. Wir alle wissen, es gibt unterschiedliche Menschen; in ein und derselben „Gefahrensituation“ hat der eine Angst, der andere hat keine Angst. DK: Wie viel Personenschützer hatten Sie? B: Der Personenschutz war nicht einheitlich. Der schwankte je nach Gefährdungslage. Diese Lage hat das Innenministerium eingeschätzt in Zusammenarbeit mit den Geheimdiensten. In aufgeregten Zeiten wurde der Personenschutz hochgefahren, in ruhigeren Zeiten war er weniger intensiv. Als sich Holger Meins im Jahre 1974 zu Tode gehungert hatte und der Kammergerichtspräsident Günter von Drenkmann erschossen worden war, wurde der Personenschutz hochgefahren. Das galt auch bei anderen Anschlägen, zu Beginn des Prozesses, in der Zeit, als wir das Urteil verkündeten oder nach dem Mord an Siegfried Buback und seinen Begleitern, ebenso während der Hanns Martin Schleyer-Entführung. DK: Sie haben von Aufregung in der Gesellschaft gesprochen. B: Natürlich war die Bevölkerung durch die Anschläge der RAF sehr stark bewegt. Dass es zu Hysterie und Hektik kam, ist verständlich. DK: War diese Hysterie massiv? B: Diese Hysterie wurde durch die exzessive und sensationslüsterne Berichterstattung der Medien geschürt. DK: Würden Sie sagen, dass die Anwälte das forciert haben? B: Die Anwälte haben die Medien unwahrscheinlich gefüttert. In jeder Prozesspause haben die gewählten Verteidiger sich willig der Presse gegenüber geäußert, und die Presse hat das begierig aufgenommen. Leider war damals in der Justiz das

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Pressereferat weit unterbesetzt. Man hat damals nicht erkannt, wie groß die Bedeutung der Presse ist, dass man auch von Seiten der Justiz die Presse informiert. Es galt eher Zurückhaltung gegenüber Journalisten. DK: War das neu an der Verteidigungsstrategie, dass die Anwälte die Öffentlichkeit bewusst einsetzten? B: Das war neu. Es bestand ein großes Interesse bei den Medien. Wenn das Gericht nur karge, kurze Beschlüsse fasste, die Anwälte dagegen die Dinge aus ihrer Sicht ausführlich schilderten, war die Presse sehr dankbar. DK: Auf der anderen Seite wurden die Anwälte in den Medien als Rechts­ brecher und als Komplizen diffamiert. B: Man sollte nicht von den Medien schlechthin sprechen, es gab unterschiedliche Richtungen. Die Springer-Presse stand sowohl der Außerparlamentarischen Opposition als auch später dem Terrorismus sehr feindlich und sehr kritisch gegenüber. Auf der anderen Seite muss man sehen, die „Bild-Zeitung“ erreicht zwar die meisten Menschen, aber die Entscheidungsträger lesen nicht „Bild-Zeitung“, sondern die etwas intellektuelleren Blätter. Ich denke an die „Zeit“, an den „Spiegel“, an den „Stern“, an die „Süddeutsche“, an die „Frankfurter Rundschau“. Die haben mit sehr viel mehr Wohlwollen für die Angeklagten und über deren Belange berichtet. DK: Wurden die Anwälte in diesen seriösen Blättern positiver dargestellt? B: Ja. Die Anwälte wurden in den liberalen und linksliberalen Blättern sehr viel schonender und besser dargestellt. H: Können wir überhaupt von den Anwälten sprechen, müssen wir nicht vielmehr zwischen den Kanzleien ebenso wie innerhalb der Presse differenzieren? B: Man muss selbstverständlich unter den Anwälten differenzieren. Ich habe deshalb häufig von den gewählten Anwälten gesprochen. Demgegenüber gab es auch die Pflichtverteidiger, die von Seiten des Gerichts zur Sicherung des Verfahrens bestellt wurden. Die haben sich an diesen Kampagnen, zum Beispiel an der Isolationsfolter-Kampagne und solchen Dingen, nicht beteiligt. Natürlich muss man zwischen einzelnen Anwaltsbüros unterscheiden. Es gab bei den Anwälten ganz unterschiedliche Typen. Denken Sie nur daran, dass einige der Rechtsanwälte sich so sehr mit den Zielen und Methoden der RAF identifizierten, dass sie selbst ihre bisherige bürgerliche Existenz radikal abgebrochen haben, um sich dem „bewaffneten Kampf“ anzuschließen. Dazu gehörte Horst Mahler, einer der Gründungsväter der RAF. Mahler wurde wegen Beteiligung an mehreren Banküberfällen und wegen seiner Beteiligung an der Baader-Befreiung, die mit Waffengewalt durchgeführt worden war, zu 14 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Zu diesen Anwälten gehörten auch die Rechtsanwälte Eberhard Becker und Siegfried Haag. Beide wurden zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt, Haag zu 15 Jahren. Er hatte unter anderem den Stockholm-Attentätern die Waffen besorgt, mit denen sie die deutsche Botschaft überfallen haben.

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DK: Welchen Eindruck machten die Angeklagten zu Beginn des Prozesses? B: Auch hier kann man nicht von „den“ Angeklagten sprechen. Es waren vier Individuen. Meins war nicht mehr dabei, er hatte sich im Hungerstreik zu Tode gehungert. Baader war von Anfang an hellwach, ebenso wie Ensslin und Meinhof. Raspe war zurückhaltender. Baader, Ensslin und Meinhof haben sehr lebhaft das Geschehen im Prozess verfolgt. Sie haben ihre Anträge gestellt, ihre Begründungen vorgelesen, die sie sorgfältig ausgearbeitet hatten. Sie waren recht eloquent und stilsicher, auch Baader, er hatte inzwischen im Knast sehr viel an Bildung oder an Wissen angehäuft. Sie haben am Anfang sehr lebendig an der Verhandlung teilgenommen. DK: Änderte sich dieses Verhalten im Laufe des Verfahrens? B: Das Verhalten der Angeklagten veränderte sich im Laufe des Verfahrens. Sie waren nicht mehr mit dem gleichen Schwung und mit der gleichen Anteilnahme dabei. Sie sind am Ende weitgehend ausgezogen, als der Beschluss gefasst worden war, dass sie nicht zwingend am Verfahren teilnehmen mussten. Sie konnten also gehen, wann sie wollten. DK: War das für Sie ein Zeichen von Resignation? B: Dazu hatten wir zu wenig Kontakt zu den Angeklagten. In einem normalen Strafprozess kommt es zum Dialog der Richter mit den Angeklagten. Das war hier nicht möglich. Die Angeklagten haben, wenn sie sich zu Wort meldeten, ihre vorbereiteten, politischen Erklärungen verlesen oder vorgetragen. Aber ein wirkliches Gespräch war mit ihnen nicht möglich. Sie wollten mit dem „Klassenfeind“ nicht sprechen. DK: Bestand zu Beginn des Prozesses die Sorge, dass dieses Verfahren an mangelnden Beweisen scheitern könnte? B: Das hielt ich für nahezu ausgeschlossen. Die Beweislage war dicht und gut. Zwar gab es wenig unmittelbare Tatzeugen, beispielsweise gab es für die sechs bei uns angeklagten Sprengstoffanschläge keine unmittelbaren Tatzeugen. Aber man hatte in konspirativen Wohnungen Fingerabdrücke der Angeklagten gefunden, zusammen mit Sprengbomben, die man dort hinterlassen hatte, sowie Material zur Herstellung von Sprengstoff. Es gab so viele Sachindizien, die uns durch Sach­verständige erläutert wurden, so dass die Beweislage erdrückend war. DK: Aber das waren Indizien einer Gruppe. Konnte dadurch der subjektive Tatbeitrag des Einzelnen bewiesen werden? B: Der individuelle Tatbeitrag der Angeklagten konnte im Einzelnen nicht bewiesen werden, aber da man die Gruppenstruktur feststellen konnte, wusste man, dass alle Mitglieder der Führungscrew die Taten gemeinsam geplant und beschlossen hatten.

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DK: Einzelne Gutachter haben ausgeführt, dass es diese Kollektivität nicht gegeben habe. B: Wir haben damals am Ende gegen drei Angeklagte verhandelt, und diese hielten wir nach dem Gesamteindruck der Hauptverhandlung für schuldig, gemeinsam diese Sprengstoffanschläge beschlossen und durchgeführt zu haben. Hinzu kamen noch weitere versuchte Morde, derentwegen wir sie verurteilt haben. Zum Beispiel bei der Festnahmesituation haben Baader, Meins und Raspe in Frankfurt mit Pistolen auf Polizeibeamte geschossen, freilich ohne zu treffen. Man hat sie damals festnehmen und die Waffen sicherstellen können, mit denen sie auf die Polizisten geschossen haben. Das waren individuelle Schuldfeststellungen. Ähnliches gilt für die Festnahmesituation bei Ensslin. H: In den NS-Prozessen galt der Grundsatz der kriminellen Vereinigung nicht, sondern es musste der individuelle Tatbeitrag festgestellt werden. B: Zu diesem Vergleich kann ich nichts sagen. Ich habe nie an einem NS-Verfahren teilgenommen, und ich weiß im Augenblick auch nicht, wie damals die Beweisführung und die Beweislage war. DK: Eine wichtige Rolle im Prozess spielten die Kronzeugen. Nach Ansicht der Verteidiger seien diese Kronzeugen, überspitzt gesagt, „gekauft“ worden, beispielsweise Gerhard Müller. B: Es ist eine klare Sache, dass es zur Verteidigung eines Angeklagten gehört, den Kronzeugen sehr misstrauisch zu begegnen und ihre Unglaubwürdigkeit zu behaupten. Es gab nicht nur den Gerhard Müller als Kronzeuge. Es gab auch Dierk Hoff, den Bombenbastler. Er hatte eine Werkstatt, die es ermöglichte, die Materialien, mit denen die Bomben gebaut worden waren, zu vergleichen. Über die Bomben verfügte man, die waren nicht alle detoniert. Deshalb konnte man die Glaubwürdigkeit des Dierk Hoff mit Sachbeweisen untermauern. DK: Hielten Sie es für möglich, dass Verteidigergespräche abgehört wurden? B: Die Abhöraktion in Stammheim zwischen Angeklagten und Verteidigern war die größte Konfliktsituation, die wir im Baader-Meinhof-Prozess erlebt haben. Da drohte der Prozess wirklich zu platzen, weil sogar die Pflichtverteidiger, die wir zur Sicherung des Verfahrens bestellt hatten, erwogen haben, auszuziehen. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass man Verteidigergespräche mit den Angeklagten abhört. Schon gar nicht in Stammheim. Das Gericht wusste von dieser Abhöraktion nichts. Wir wussten nicht, dass abgehört wurde und erst recht nichts über die Inhalte. Als wir das erfahren haben, hat Eberhard Foth, der damalige Vorsitzende, sofort das Justizministerium und das Innenministerium angeschrieben und volle Aufklärung verlangt. In seinem Anschreiben hat er formuliert, er wolle volle Aufklärung, aber, falls noch Texte dieser Abhörprotokolle vorhanden seien, über den Inhalt nichts wissen. Der Laie denkt immer, wenn er hört, da sind Verteidigungsgespräche abgehört worden mit den Angeklagten, dass

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man Beweise gegen die Angeklagten sammeln wollte. Das war nicht die Stoßrichtung der Abhöraktion, und diese Inhalte sind überhaupt nie in den Prozess eingeflossen. Auch die Bundesanwälte haben versichert, von der Abhöraktion nichts gewusst zu haben. Die Abhöraktion diente allein präventiven Zwecken. Man hat die ersten Abhörungen gemacht nach dem Überfall von Terroristen auf die deutsche Botschaft in Stockholm und hat später nochmal abgehört, nachdem Siegfried Haag verhaftet worden war und man in seinem Besitz ein weiteres terroristisches Programm gefunden hatte, verschlüsselt dargestellt. Wir Richter haben von der Abhöraktion nichts gewusst und haben alles getan, um die Sache aufzuklären. DK: Was haben Sie über diese Abhöraktion gedacht? B: Wir waren entsetzt, denn das war nach fast zwei Jahren hochgekommen, und wir sahen uns schon um die Früchte unserer Arbeit betrogen, dass der Prozess möglicherweise platzen werde. H: Hans-Christian Ströbele sagt, die Abhöraktion hebelte das rechtsstaat­liche Verfahren aus. B: Das wäre richtig, wenn es darum gegangen wäre, diese Informationen in den Prozess einzuführen. DK: Schily hatte in diesem Kontext von Gesinnungsstrafrecht gesprochen. B: Wir haben in Deutschland kein Gesinnungsstrafrecht. Wir haben nicht die Gesinnung von Angeklagten bestraft, sondern ihre konkreten Taten. Hier hatte man es mit sechs Sprengstoffanschlägen zu tun, mit vier Toten, vielen Verletzten und weiteren versuchten Morden im Zusammenhang mit den Festnahmeaktionen. DK: War die Vorverurteilung so massiv, dass das Urteil schon vorher feststand? B: Dass es eine Vorverurteilung gab und das Urteil schon zu Beginn des Pro­ zesses feststand – das sind Propagandabehauptungen, die treffen nicht zu. DK: Der Richter Theodor Prinzing wurde in den Medien heftig angegriffen. B: Natürlich steht bei allen Strafprozessen der Vorsitzende stärker im Fokus als die Beisitzer. Im Stammheimer Verfahren, in dem die Angeklagten und ihre gewählten Verteidiger es ohnehin als ihr höchstes Ziel ansahen, den Prozess zum Platzen zu bringen, hat sich die ganze Zuspitzung der Konfrontation auf Prinzing gerichtet. Das hatte so absurde Formen, dass man den Vorsitzenden selbst für die Beschlüsse abgelehnt hat, die wir zu fünft gefasst haben. Durch die vielen Ablehnungsanträge, vielleicht 70 an der Zahl – ich habe sie nicht gezählt, aber es sollen 86 gewesen sein – hat man am Nervenkostüm des Vorsitzenden gezielt gearbeitet. Wenn er am Ende seiner Mitwirkung einen Fehler gemacht hat, mag das auch darauf zurückzuführen sein. DK: Der frühere Richter Prinzing führt aus, dass er in 31 Berufsjahren lediglich einen Ablehnungsantrag erfahren habe, in Stammheim dagegen über 85.

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B: Das rechtliche Instrument der Richterablehnung hat während des Stammheimer Prozesses eine inflationäre Dimension angenommen. Ständig wurden Ablehnungsanträge gestellt. Mir ging es ähnlich wie Dr. Prinzing, dass ich bis dahin vielleicht zwei oder drei Ablehnungsanträge bekommen hatte und im BaaderMeinhof- Prozess eine ganze Menge. Das war eine neue Strategie. Aber seither hat sich das leider in vielen Prozessen fortgesetzt. DK: Andere Verteidiger haben es übernommen? B: Ja, andere Verteidiger haben diese Konfliktstrategie, zu der ganz besonders auch der Ablehnungsantrag gehört, übernommen. DK: Wie war Ihre Reaktion, als sie vom Tod der Inhaftierten erfuhren? B: Als ich von den Selbstmorden von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und JanCarl Raspe gehört habe, war ich entsetzt. Ich war entsetzt, denn das konnte dieses Freund-Feind-Verhältnis der Terroristen zur Justiz nur verstärken. Außerdem hatte ich die Befürchtung, dass es wieder zu Racheakten kommen könnte, wie damals, als sich Holger Meins zu Tode gehungert hatte und einen Tag später Günter von Drenkmann erschossen wurde. DK: Würde die Justiz heute anders reagieren? B: Ich denke, in der Sache würde die Justiz heute nicht anders reagieren als damals. Vielleicht subjektiv mit etwas größerer Gelassenheit, vielleicht könnte man auch heute damit leichter umgehen, weil auch der Einfallsreichtum fantasie­ begabter Anwälte nicht unbegrenzt ist. Diese fantasiebegabten Anwälte haben damals sehr viele Rechtsprobleme neu aufgeworfen, und der Senat hat durch seine Beschlüsse darauf reagiert. Auf diese Erfahrungen können heute Richter zurückgreifen.

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Geboren im Jahre 1930 1950–1954 Studium der Rechtswissenschaft an der Universität Tübingen 1956 Promotion zum Dr. iur. 1954–1958 Referendar in Hechingen, Tübingen, Speyer, Hamburg 1958–1960 Rechtsanwalt in Balingen 1960–1962 Gerichtsassessor am Landgericht Tübingen 1962–1970 Richter am Landgericht Rottweil 1970–1977 Richter am Oberlandesgericht Stuttgart, dabei 1977 Vorsitzender des 2. Strafsenats im Stammheim-Prozess gegen Andreas Baader u. a. 1977–1980 Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht Stuttgart 1980–1995 Richter am Bundesgerichtshof

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Gisela Diewald-Kerkmann (DK): Können Sie sich noch an Ihren ersten Prozess erinnern? Eberhard Foth (F): Mein erster Prozess war ein Prozess noch als Referendar in Hamburg. Ich kam damals von der Schwäbischen Alb, einer ziemlich biederen Gegend, und wurde am ersten Prozesstag bei der Strafkammer in Hamburg gleich mit einer Tagdirne, die ihre Nachtdirne bestohlen hatte, konfrontiert. Das war für mich etwas völlig Neues, aber für die Richter dort, es war in Sankt Pauli passiert, keineswegs. Der Vorsitzende sagte – in der Ausdrucksweise noch vom Kriege her beeinflusst – es sei eine Art Kameradendiebstahl gewesen. Ingrid Holtey (H): Herr Foth, Sie sind 1930 geboren. Ich glaube, einen „Achtundsechziger“ kann ich Sie nicht nennen? F: Nein, sicher nicht. Ich war 1968 38 Jahre alt und in Rottweil am Landgericht. Von den Achtundsechzigern hat man dort nicht viel bemerkt. Ich habe die Proteste als interessierter Zeitgenosse mitbekommen. Was mich damals betroffen gemacht hat, war, dass jetzt wieder Politik zur Gewalt auf der Straße führte. Ich entsann mich, dass am Ende meines Studiums in Tübingen sehr heftig über die Wiederbewaffnung diskutiert worden war, auch in der Mensa. Überall haben wir diskutiert, aber kein Mensch hat Gewalt angewendet. Da waren alle noch hinreichend bedacht. Geärgert habe ich mich auch über die vielen, die sich aufrechte Demokraten nannten und von der „wehrhaften Demokratie“ sprachen, sich dann aber überhaupt nicht entsprechend eingesetzt haben. Sie haben sich alle verkrochen und es zugelassen, dass auch altgediente Professoren (keineswegs NS-Leute) übel beschimpft wurden und dergleichen. Ich war alles andere als ein Freund der 68er Bewegung. H: Wie standen Sie zur Kritik der Außerparlamentarischen Opposition an den Notstandsgesetzen oder zu ihrer Forderung nach sozialer Demokratie? F: Über diese Forderungen musste man natürlich reden. Wir haben uns schon während des Studiums und auch später über vieles geärgert, zum Beispiel, dass Herr Adenauer gerade Herrn Globke als seinen Staatssekretär hatte. Aber das alles musste auf demokratischem Wege ausgetragen werden und durfte zu keiner Gewalt auf der Straße führen. H: Haben Sie sich während ihres Studiums in Tübingen politisch engagiert? F: Nicht engagiert, nur miterlebt, gerade in Tübingen. Niemöller hat gesprochen in der Stiftskirche, daran entsinne ich mich noch gut, ebenso an andere Professoren und Persönlichkeiten. Man hat lebhaft diskutiert. H: Waren Sie als Richter mit Prozessen beschäftigt, die im Kontext der APO standen? F: Nur ganz am Rande. 1969 war ich zur Erprobung an das Oberlandesgericht Stuttgart abgeordnet. Da waren einige Verfahren in der Revisionsinstanz anhängig von Achtundsechzigern, die sich irgendwie in Gerichten oder sonst nicht so ordent-

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lich benommen hatten. Sie wurden interessanterweise, das weiß ich noch, zum Teil von Herrn Martin Bangemann vertreten, der damals noch als linksliberal galt. Aber ich habe die Prozesse nicht mehr im Kopf, das war offenbar nichts Bedeutendes. H: Und der 2. Juni 1967: Haben Sie Erinnerungen an die Erschießung des Studenten Ohnesorg? F: Das habe ich miterlebt, wie ein interessierter Bürger es mitkriegt, diese Sache in Berlin. Aber sonst habe ich mich nicht so sehr darum gekümmert. H: Denken Sie, dass die 68er Bewegung das Justizsystem verändert hat? F: Die direkte Folge habe ich als schlimm empfunden. Gerade Anfang der Siebziger war in der Justiz durchgedrungen, dass man sich etwas offener ver­halten sollte und auch konnte. Das hörte infolge des ordnungswidrigen und auch gewalttätigen Verhaltens plötzlich auf. Plötzlich standen überall Wachen vor den Gerichten und vor den Behörden. Im Prozess durfte man kein Wort mehr wagen, weil man sofort abgelehnt wurde. Das alles hat mich sehr gestört, das hat sich sehr negativ auf die Justiz ausgewirkt. H: Haben Sie die Kritik und das Unbehagen an der Justiz in den Sechzigern gespürt? F: Ich habe es als angenehm empfunden, dass man sich im Prozess zunehmend nicht mehr hinsetzte wie ein „Ölgötze“, sondern auch mal offen sagte, was man dachte. Später konnte man kein offenes Wort mehr wagen, weil man sogleich abgelehnt wurde. Die Empfindung, dass ich so unverbindlich rede, hat mich sehr gestört. Man hat nicht mehr gesagt, die Sache ist so oder so, sondern, die Sache könnte so sein, und es ist zu erwägen, dass sie auch so sein könnte. Es hat mich kolossal gestört, dass man direkte Worte nicht mehr gebrauchen konnte. H: Heinrich Hannover spricht davon, dass es einen „neuen Typus“ von Anwalt gegeben habe, der zu einer neuen Form der Verteidigung gegriffen habe, die man auch Konfliktverteidigung nennen kann. F: Diese Konfliktverteidigung ist mir erst in Stammheim begegnet. Eine gewisse Vorstufe davon habe ich nur dann erlebt, wenn Anwälte aus Frankfurt, Hamburg oder aus großen Kanzleien nach Rottweil kamen. Die dachten offenbar, diesen Bauern müssen wir ordentlich die Prozessordnung beibringen, und so haben sie alle diese Späße gebracht mit Beanstandungen, wörtlicher Protokollierung etc., denen hat man in der Regel den Zahn ziemlich schnell gezogen. Indes, politisch motivierte Verteidigung habe ich nie erlebt bis zu Stammheim. DK: Wissen Sie noch, wie Sie von Baaders „Befreiung“ erfahren haben? F: Ich habe es erfahren wie jeder interessierte Zeitgenosse. Damals hatte ich keine Ahnung, dass ich später mit dieser Sache strafrechtlich irgendwie in Verbindung kommen könnte. In Berlin wird ein Häftling befreit, naja, was geht das mich an, wenn ich da in meinem Württemberg sitze?

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DK:. Ab wann hatte der Name Andreas Baader für Sie eine Bedeutung? F: Wahrscheinlich war das erst, als die Anklage da war und ich zu dem zuständigen Senat trat. Ich hatte im Fernsehen die Festnahme von Baader und Raspe und Meins in Frankfurt verfolgt. DK: Wann war Ihnen deutlich, dass der Prozess in Stammheim ein schwieriges Verfahren werden könnte? F: Ich bin von einem anderen Senat zu diesem Senat gekommen. Die Senate der Oberlandesgerichte, auch in Stuttgart, waren meist von vier Richtern besetzt. Normalerweise hatte das Oberlandesgericht in Dreierbesetzung zu entscheiden. In erstinstanzlichen Sachen mussten es aber fünf Richter sein. Erstinstanzliche Sachen beim Oberlandesgericht waren sehr selten. Das waren fast alles Staatsschutzgeschichten mit der DDR, wenn irgendetwas über die Grenze geschmuggelt worden war. Es waren meistens kleine Sachen. Weil ich in dem Senat, in dem ich mich befand, der jüngste Richter war, musste ich, so sah es der Geschäftsverteilungsplan vor, als fünfter Richter in erstinstanzlichen Sachen bei dem anderen Senat mitwirken, der dann für die Strafsache gegen Baader u. a. zuständig wurde. Das war irgendwann im Herbst 1974, die Anklage war vom Oktober. Zunächst habe ich noch gedacht, gut, da setze ich mich halt mit herein und halte mich möglichst zurück. Ich wollte auch nicht stellvertretender Vorsitzender werden, aber das ist dann die unerbittliche Konsequenz: Ich war nach Herrn Theodor Prinzing der dienstälteste Richter und wurde deshalb stellvertretender Vorsitzender. So bin ich also zu der Sache gekommen, nur weil ich als Vertreter bei diesem Senat das Quorum von fünf Richtern voll machen musste. DK: Wissen Sie noch, wie der erste Verhandlungstag aussah? F: Da darf ich vielleicht vorausschicken, wir hatten uns mit den Angeklagten vorher schon einmal getroffen, und zwar in der Haftanstalt. Kurz vorher war die neue Regelung geschaffen worden, dass man bei verschuldeter Verhandlungs­ unfähigkeit ohne die Angeklagten verhandeln kann, aber das hatte zur Voraussetzung, dass die entweder zur Anklage schon gehört worden waren oder ihnen vorher schon Gelegenheit gegeben worden war, sich zu äußern. Unter diesem Gesichtspunkt hatten wir schon kurz vor der Hauptverhandlung oder einige Wochen vorher – ich weiß es nicht mehr genau – einen Termin in der Haftanstalt. Da hat sich der Senat hinbegeben und die Angeklagten und die Verteidiger gefragt, ob sie zur Anklage etwas sagen wollten. Sie wollten erwartungsgemäß nichts sagen, und so ist man wieder abgezogen. Also, wir kannten sie schon. Da ist es zu keinen großen Streitigkeiten oder dergleichen gekommen, wenn ich mich recht entsinne. DK: Haben die Angeklagten auf Ihre Fragen bei diesem Gespräch in der JVA geantwortet? F: Ich glaube nicht, höchstens, dass sie nichts sagen wollten. Aber es wurden keine großen Erklärungen abgegeben, nach meiner Erinnerung.

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DK: War dieses Verhalten der Angeklagten neu für Sie? F: Ja. Das hatte ich in meinen bisherigen Strafverfahren noch nicht erlebt, da hatten die Angeklagten sich immer geäußert und gegen die Vorwürfe verteidigt. Später haben sich die RAF-Angeklagten zwar allgemein geäußert, aber nicht direkt zu den Anklagevorwürfen. DK: Kann man sagen, dass die Angeklagten tatsächlich ein anderes Verhalten entwickelten? F: Das war völlig anders als das, was ich bisher gewohnt war. Neu war, dass man sich zur Sache selbst überhaupt nicht äußern wollte. In der Anklageschrift standen spezielle Vorwürfe, die Angeklagten seien für diesen und jenen Sprengstoffanschlag verantwortlich, doch hat man hierzu keine Stellungnahme bekommen. Es wurde zwar später gesagt, wir übernehmen die politische Verantwortung, aber zu den einzelnen Tatvorwürfen kam überhaupt nichts. Das war mir etwas völlig Neues. Die ersten Tage im Prozess hatten einen ganz anderen Inhalt. Da sprach man über Dinge, die mit der Sache selber noch nichts zu tun hatten. Da war zum einen die Verteidigungssituation, zum anderen die Verhandlungsfähigkeit, über die man sich erst einmal ein Vierteljahr Jahr lang unterhalten hat. Von den Tatvorwürfen selber war noch keine Rede, auch die Anklageschrift ist erst im August verlesen worden. DK: Zeigten die Verteidiger ein anderes Verhalten als das, was Sie normalerweise aus Strafprozessen kannten? F: Durchaus. Als erstes wurde jedes Wort, jedes Verhalten, das den Verteidigern nicht gefiel, als Grund für einen Ablehnungsantrag genommen. Ganz neu war auch die Gegenvorstellung. Wenn das Gericht oder der Vorsitzende eine Entscheidung getroffen hatte, wurden jedes Mal Gegenvorstellungen erhoben. Es wurden viele Anträge gestellt, man müsse unterbrechen, man müsse nach der Menschenrechtskonvention einstellen und das alles. Davon hatte ich bisher im Strafprozess noch nichts erfahren. DK: Vielfach hört man die Auffassung, die Verteidigung habe sich dadurch unter­schieden, weil sie die Strafprozessordnung richtig gelesen hätte. F: Von der Strafprozessordnung war in diesen ersten Tagen eigentlich weniger die Rede, es ging zunächst um die Verhandlungsfähigkeit und um die Verteidigungssituation. Es waren Anwälte ausgeschlossen worden oder weggefallen. Kurz zuvor war die Vorschrift eingeführt worden, dass man auch einen Verteidiger ausschließen konnte, wenn er der Mitwirkung an den dem Angeklagten vorgeworfenen Straftaten verdächtig war. Deswegen hatte ein anderer Senat Klaus Croissant von der Verteidigung Baaders ausgeschlossen. Dann gab es noch einen sogenannten Vertrauensverteidiger Baaders, das war Rechtsanwalt Siegfried Haag. Kurz vor Beginn der Hauptverhandlung, am 24. April 1975, war der Anschlag auf die Botschaft in Stockholm, und Haag wurde verdächtigt, er habe irgendwie daran

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teilgenommen. Daraufhin wurde er verhaftet, aber vom Ermittlungsrichter wieder freigelassen, woraufhin er sich sogleich in den Untergrund verabschiedete und ein Schreiben ans Gericht schickte, es sei jetzt wichtig und vordringlich, andere Aufgaben in die Hand zu nehmen. Damit konnte auch er nicht mehr verteidigen. Jetzt waren also Croissant und Haag weggefallen. Es war großes Theater. Herr Baader hatte jetzt nur noch zwei Verteidiger, die wir, das Gericht, ihm gegen seinen Willen bestellt hatten. DK: Aber war es nicht so, dass Andreas Baader bereits am ersten Tag keinen Verteidiger hatte? F: Ohne Verteidiger stand er nicht da. Er hatte zwei Verteidiger, die ihm bestellt worden waren. DK: Sie meinen jetzt Pflichtverteidiger? F: Pflichtverteidiger gibt es an sich nicht, es gibt gewählte und gerichtlich bestellte Verteidiger. Gerichtlich bestellt waren alle Verteidiger, auch Schily war gerichtlich bestellt. Alle wurden aus der Staatskasse besoldet. Aber die einen waren von den Angeklagten benannt worden und die anderen nur vom Gericht. Das war immer der große Streit, dass das Gericht von sich aus Verteidiger bestellt hatte. Das tat man deshalb, weil vorherige Prozesse gezeigt hatten, dass solche Verteidiger mitunter entsprechend dem Willen der Angeklagten der Hauptverhandlung fernblieben und so dem Gericht praktisch das Heft aus der Hand nahmen. Ohne Verteidiger zu prozessieren verbietet die Strafprozessordnung. Wenn also der Vertrauensverteidiger sagt, ich bleibe weg, weil der Angeklagte das so will, und tatsächlich wegbleibt, ist der Prozess geplatzt. Deswegen ging man dazu über, zusätzlich zu den von den Angeklagten benannten Verteidigern weitere Verteidiger zu bestellen. Deswegen hatte Baader schon zwei Verteidiger, die wollte er bloß nicht. DK: Das waren Verteidiger, von denen er sagte, sie hätten nicht sein Vertrauen. F: Ja, so ist es! DK: Was bedeuteten die zahlreichen Strafrechtsänderungen für Sie? F: Solche Änderungen waren natürlich für uns sehr schwierig. Es ist eine vertrackte Geschichte, in einem langdauernden Prozess erstmals solche wichtigen Vorschriften anzuwenden, zu denen es keinerlei Rechtsprechung und Literatur gab. Da kann man leicht einen Fehler machen und hat deshalb solche Änderungen nicht gern. Aber wenn man sieht, dass der Prozess nicht hätte stattfinden können ohne diese gerichtlich bestellten Verteidiger und ohne die Möglichkeit, in Ab­ wesenheit der Angeklagten zu verhandeln, sieht es anders aus. Ich weiß nicht, wie der Prozess sich sonst hätte abspielen sollen. H: Haben Sie mit den Verteidigern gesprochen während des Prozesses? F: Wenig nur, es haben ab und zu Besprechungen von irgendwelchen technischen Fragen stattgefunden, aber das waren ganz wenige.

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H: Und mit den vom Gericht bestellten? F: Mit denen auch nicht, was sollten wir mit denen besprechen? Wir haben mit den Verteidigern während des Prozesses geredet. DK: Den ausgeschlossenen Verteidigern wurde vorgeworfen, dass sie die RoteArmee-Fraktion unterstützt hätten. War das Info-System der Grund? F: Das Info-System wurde erst im Laufe der Zeit eingerichtet. Ich weiß nicht, ob es das zu dieser Zeit schon in diesem Ausmaß gab, das Info-System, das weitgehend von Hans-Christian Ströbele und Kurt Groenewold betrieben wurde. DK: Aber Fakt war, dass durch den Verteidiger-Ausschluss eine besondere ­Situation entstanden war. F: Es war Ströbele oder irgendein anderer Anwalt als Verteidiger für Frau ­ nsslin ausgeschlossen worden. Aber Ensslin hatte noch Herrn Schily. Da war das E nicht so empfindlich, will ich mal sagen. Baader hatte eben nur noch die zwei gerichtlich bestellten, weil sowohl Croissant als auch Haag weggefallen waren. Das ist natürlich eine Sache. Hätte man andererseits den Prozess deshalb unterbrochen und gesagt: „Jetzt sucht Euch neue Verteidiger“, wäre der Prozess für ein Jahr wieder auf der langen Bank gewesen. Die Akten bestanden aus mehr als hundert Leitz-Ordnern, und die durchzuarbeiten, war ein hartes Brot. Auch saßen die Angeklagten seit 1972 in Haft, der Beschleunigungsgrundsatz im Strafverfahren galt auch. Gerade für solche Fälle – dass die Vertrauensverteidiger wegfielen – hatte man noch zwei Verteidiger bestellt. Am dritten oder vierten Prozesstag hat sich Herr Hans Heinz Heldmann für Baader gemeldet und auch die Verteidigung übernommen. Heldmann beantragte, man solle zehn Tage unterbrechen, damit er sich mit den Akten vertraut machen könne. Das haben wir abgelehnt und viel Kritik erfahren; Kritik, die ich auch verstehe. Aber auch Herr Heldmann hätte sich nicht in zehn Tagen einarbeiten können, unmöglich, sondern er hätte sich nur mal einen Überblick verschafft (so hat er das auch gesagt). Dann hätte er ein halbes oder dreiviertel Jahr Pause beantragt, um die Akten durchzuarbeiten. Später hat Herr Heldmann das auch zugegeben. Er sagte, also ein halbes Jahr hätte er schon gebraucht. Wenn dann nach einem halben Jahr Baader gesagt hätte, also der Heldmann passt mir nicht, wäre man wieder in derselben Situation gewesen. DK: Die Strafrechtsänderungen wurden in der Öffentlichkeit teilweise als „Sondergesetze“ dargestellt. F: Das waren schon Gesetze, die speziell für solche Prozesse gedacht waren, das ist keine Frage. Aber wie gesagt, ich glaube, man hätte viele Prozesse nicht führen können, wenn man diese Gesetze nicht gehabt hätte. Gerade die Vorschrift, dass man auch ohne die Angeklagten verhandeln durfte, hat das Verfahren wesentlich ermöglicht. Durch die Hungerstreiks hatten sich die Angeklagten in einen gesundheitlich nicht gerade sehr guten Zustand versetzt. Jeder weitere Hungerstreik hätte die Verhandlung unterbrochen, wir hätten nicht verhandeln können.

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Der Rechtsstaat ist insofern arm dran, als er sich – was die Verteidigung und die An­wesenheit der Angeklagten in der Hauptverhandlung angeht – sozusagen in „Geiselhaft“ des Angeklagten begibt. Dadurch, dass man ohne Verteidiger keinen Strafprozess führen darf, ist man darauf angewiesen, dass ein Verteidiger da ist. Wenn der Verteidiger sich völlig dem Willen des Angeklagten unterordnet und wegbleibt, ist der Staat am Ende, der Prozess nicht mehr durchführbar. DK: Was bedeutete diese „Geiselhaft“? F: Ich will damit sagen, das begründet die Notwendigkeit, von Gerichts wegen Verteidiger zu bestellen, die die Garantie bieten, dass sie nicht davon laufen, sondern dass sie bei den Sitzungen dabei sind. Mit der Anwesenheit des Angeklagten ist es das gleiche. Dadurch, dass die Prozessordnung zu Recht verlangt, dass der Angeklagte in aller Regel da sein muss und dass man ohne ihn nicht verhandeln darf, begibt sich der Staat wieder in die Hand des Angeklagten. Wenn der sich schuldhaft verhandlungsunfähig macht, dann ist der Staat am Ende, sofern eben nicht die Möglichkeit besteht, in einem solchen Fall ohne ihn zu verhandeln. DK: Wurden die Hungerstreiks durchgeführt, um den Prozess platzen zu lassen oder um die Haftbedingungen zu verbessern? F: Das kann ich abschließend nicht beurteilen, weil ich nicht in die Seele dieser Leute hinein blicken kann. Ich weiß nur, dass die Hungerstreiks auch dazu dienen sollten – das hat, glaube ich, Frau Ensslin gesagt – die Verhandlungsunfähigkeit herbeizuführen. Irgendwann hat sie das einmal gesagt oder in einem Kassiber geschrieben. Sonst war immer die Rede davon, die Hungerstreiks sollten dazu führen, dass die Haftbedingungen geändert werden. Aber gerade eine solche Änderung der Haftbedingungen sollte laut wiederholter Äußerungen der Angeklagten „Revolten im Knast“ ermöglichen. Die Häftlinge sollten „aufgemischt“ werden. Ab und zu wurde den Angeklagten angeboten, mit anderen Leuten Hofgang zu machen, aber das wurde immer abgelehnt. Das waren dann irgendwelche Leute, die nicht „aufzumischen“ waren; an ihnen waren die Angeklagten nicht interessiert. DK: Hielten Sie eine Politisierung der Gefängnisse für möglich? F: Das fällt mir schwer zu beurteilen, da ich mich noch nie unter ein paar hundert Häftlingen in einer Anstalt befunden habe. Aber so, wie die Angeklagten geeicht waren, hätte ich Baader, Ensslin und auch Meinhof schon zugetraut, dass sie etliche Unruhe hätten stiften können. DK: Glauben Sie, dass sich normale Häftlinge von Andreas Baader etwas hätten sagen lassen? F: Ich weiß es nicht, ich kann es nicht sagen. H: Michel Foucault hat darauf gesetzt; es gibt das Beispiel von Attica, einer Gefängnisrevolte.

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F: Revolten gibt es immer wieder, ob das nun in Stammheim möglich gewesen wäre, kann ich nicht sagen. DK: Wie haben Sie als Richter die Häftlinge wahrgenommen? F: Ich habe die Häftlinge erst, wie gesagt, zur Zeit der Hauptverhandlung ge­ sehen. Da waren die Haftbedingungen wohl wesentlich anders als sie früher waren. Sie änderten sich auch ständig. Es wurden immer mehr Besucher zugelassen, und es wurde gegenseitiger Umschluss gestattet. Ich empfand die Angeklagten nicht als besonders hinfällig, muss ich sagen; mir kamen sie eigentlich ganz gut vor. Die stärkste Wandlung habe ich bei Frau Meinhof beobachtet. Sie war zum Schluss, so hatte ich den Eindruck, nur noch ein Häufchen Elend. Aber das hatte wohl nicht bloß körperliche Gründe, sondern das war wohl auch der Umgang mit den anderen Angeklagten. DK: Warum? F: Die Angeklagten hatten zum Schluss starken Streit miteinander. Frau Meinhof wurde von Baader und Ensslin sehr kritisiert und zurückgestoßen. DK: Wie hat man das bei Ulrike Meinhof bemerkt? F: So wie man das bei Bekannten auch wahrnimmt, bei anderen Leuten, dass man denkt, oh, der sieht aber schlecht aus. DK: Sie war nicht mehr so „kämpferisch“ wie vorher? F: Ich meine das rein körperlich, wie sie da saß. Man kann gesund dasitzen oder man kann auch so dasitzen, dass man denkt, oh Gott, wie geht es dem heute? DK: Bei Ulrike Meinhof fällt sofort das Stichwort JVA Köln-Ossendorf ein. F: Ich kenne Köln-Ossendorf überhaupt nicht und war zu dieser Zeit mit den ­ achen noch nicht befasst. Ich habe keine Ahnung, wie das da zuging. Vielleicht S hätte man etwas großzügiger sein können, aber es ist doch zu bedenken, dass die für die Haftbedingungen Zuständigen auch Verantwortung hatten. Die ganze ­Sache fing damit an, dass Baader mit Gewalt befreit wurde. Ihn hatte man, groß­ zügig wie man war, in dieses Institut ausgeführt, und was war das Ergebnis? Er war geflohen, Meinhof mit ihm, und der eine Institutsangestellte war halb totgeschossen. Das war schon ein starker Verstoß gegen Haftbedingungen, und Ähnliches hat sich wiederholt, ohne dass ich das jetzt zeitlich einordnen könnte. Bei einem Verteidiger, der in eine Haftanstalt wollte, hatte man entdeckt, dass er in seinen Handschuhen vorne drin Patronenhülsen hatte – das war ein Test! Dieser Verteidiger wurde von den Angeklagten zurückgezogen. Bei einer anderen Verteidigerin hat man auf dem Schreibtisch einen Lippenstift gefunden, der eine Patrone enthielt, eine Pistolenpatrone, die als Lippenstift getarnt war. So gab es immer wieder Indizien, dass die Haft durchbrochen werden sollte. Danach mussten sich die Haftbedingungen richten. Später hat sich bestätigt, dass trotz aller Vorsicht die Haft durchbrochen wurde. Als Frau Meinhof acht Tage nach Frau Ensslin

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festgenommen wurde, hatte sie einen Kassiber bei sich, den Ensslin in der Haft geschrieben hatte; so schnell war der aus der Haft heraus gekommen. DK: Dieser Kassiber soll von Otto Schily herausgeschmuggelt worden sein? F: Zunächst ging es um die Haftbedingungen, deren Gestaltung sich danach richten muss, welche Gefahren drohen. Wie Sie sagen, soll der genannte Kassiber von Rechtsanwalt Schily geschmuggelt worden sein, weswegen ihm zunächst die Verteidigung entzogen wurde. Das hat dann das Bundesverfassungsgericht aufgehoben, nicht mangels Tatverdacht, sondern weil es keine gesetzliche Regelung gab. Die Gerichte hatten einen solchen Ausschluss bis dahin auf allgemeine Anwaltsgrundsätze gestützt, während jetzt das Verfassungsgericht entschied, ein solcher Entzug der Verteidigung, der Verteidigungsmöglichkeit, müsse gesetzlich besonders geregelt sein. Diese Regeln wurden geschaffen. Das waren quasi die Regeln, die dazu geführten, dass man z. B. Klaus Croissant ausschloss. Man hätte wegen Schily das Verfahren noch einmal aufnehmen können, hat man aber nicht gemacht. Ich weiß auch nicht warum. DK: Hatten Sie den Eindruck, dass die Verteidiger eine Verfahrenseinstellung als Ziel verfolgten? F: Das Verfahren sollte entweder scheitern oder als Propagandaforum dienen. Wir Richter waren wahrscheinlich etwas tumb. Wir hatten schon gedacht, dass das einen schwierigen Prozess gibt, aber eben einen schwierigen Prozess wie andere Prozesse auch, dass man also um jedes Beweismittel ringen und kämpfen muss. Erst mit der Zeit, viel später, ist mir klar geworden, dass die Angeklagten überhaupt keinen Strafprozess wollten. Sie wollten den Prozess als Propagandaveranstaltung benutzen. Das war wohl die politische Verteidigung, von der die Herren Schily, Plottnitz und so weiter immer sprachen. DK: Welche Rolle haben die Medien gespielt? F: Journalisten sind häufig, will ich mal sagen, etwas links gestrickt. Mir fiel auf, dass viele Medien – aber das unterschied sie nicht von der Gesellschaft – mehr auf der Seite der Angeklagten und der Verteidiger standen. So war die Gesellschaft damals. Heute verstehe ich immer noch nicht, warum damals besonders in intellektuellen Kreisen so viel Verständnis für die RAF, ihre Taten und für die Verteidiger bestand. Andererseits kehrten sich in den Medien die Dinge oft auch sehr schnell um. An einem Tage waren die Medien für das Gericht und sagten, das ist unglaublich, was die Angeklagten zu essen kriegen und was sie alles in der Zelle haben dürfen; die gehören viel strenger bestraft! Am nächsten Tag wieder hieß es: „Ach, das geht doch nicht, dass man die Angeklagten so behandelt“. Oft war es sehr ruckartig. Wie mir ein Richter des Kammergerichts, Herr Zelle, sagte, der damals einen RAF-Prozess in Berlin führte, sei es oft ein reiner Zufall, ob am nächsten Tag in der Zeitung steht: „Vorsitzender rettet durch seine zurückhaltende Art den Prozess“ oder „Hilfloser Richter weiß sich nicht zu helfen und sitzt stumm auf der Richterbank“.

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DK: Haben nicht die Haftbedingungen dazu geführt, dass Teile der Bevölkerung Verständnis für diese Gruppe entwickelte? F: Mit den früheren Haftbedingungen habe ich mich nicht weiter befasst. Zu meiner Zeit war gegen sie nichts einzuwenden, aber auch da wurden die Haft­ bedingungen bewusst zur „Öffentlichkeitsarbeit“ benutzt. Es gab Forderungen, etwa von Andreas Baader, die Sympathisanten sollten jetzt endlich an Helmut Gollwitzer, Heinrich Böll und Bischof Kurt Scharf usw. herantreten, damit diese etwas unternähmen. Es wurde gewaltig Propaganda gemacht. Horst Mahler, der schließend ganz woanders landete, hat später öffentlich bekannt, dass diese Haftbedingungskampagne – es wurde der Begriff „Isolationsfolter“ geboren – nur geschah, um unter den Linken Stimmung zu machen. Ich fand das deswegen schlimm, weil dieser Isolationsfoltervorwurf, der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verschiedentlich zurückgewiesen wurde, dazu führte, dass viele junge Menschen sich verführen ließen. Selbst die Attentäter von Stockholm hatten sich verführen lassen. So hat diese Kampagne zu schlimmen Gewalttaten geführt. Von daher gesehen denkt man rückblickend, ob man nicht das eine oder andere hätte anders machen können, damit dieser vertrackte Kreislauf aufhört. H: Aber hat der Staat mit dem Umschluss in Stammheim möglicherweise auf den Vorwurf der Isolationsfolter reagiert? F: Diese Umschlüsse und dergleichen waren dazu gedacht, dass man den genannten Vorwürfen den Boden entzieht. Die Stellung des Richters hinsichtlich der Untersuchungshaft ist hauptsächlich die, dass er dafür zu sorgen hat, dass die Angeklagten nicht mehr, als es die Haft mit sich bringt, eingeschränkt werden. Wenn die Haftanstalt oder das Ministerium die Angeklagten besser stellen als es sein müsste, also gerade mit dem Zusammenschluss, dann ist der Richter nicht unbedingt gefordert. Später hat sich erwiesen, dieser Umschluss war nichts Gescheites. Er hat auch mit zu den hereingeschmuggelten und in den Zellen versteckten Waffen geführt, auch zu den Sprechverbindungen von Zelle zu Zelle. DK: Hat dieser Umschluss die Konflikte verschärft? F: Das will ich so nicht sagen. Hinsichtlich Frau Meinhof kann das schon sein. Aber ich glaube, die Kontakte nach außen, später auch die Selbstmorde wurden dadurch erleichtert. Vielleicht wären sie unterblieben, wenn man die strenge Einzelhaft beibehalten hätte. DK: Wie haben Sie es als Richter bewertet, dass Häftlinge über drei, vier Jahre in Untersuchungshaft saßen? F: Vier Jahre waren es mit der Zeit. Im Jahre 1972 waren sie in Haft genommen worden, bei Verhandlungsbeginn 1975 waren es schon fast drei Jahre. Das führte dazu, dass man den Prozess zu Ende führen wollte. Aber das wurde uns ziemlich schwer gemacht. Wir hätten den Prozess schneller geführt, wenn wir nicht mit

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so vielen Anträgen und Querschüssen und dergleichen immer wieder aufgehalten worden wären. DK: Eine Begründung dieser Untersuchungshaft waren die Ermittlungsschwierigkeiten. F: Die Bundesanwaltschaft hatte mit dem Bundeskriminalamt zusammen sehr sorgfältig gearbeitet. Der Zeitablauf hing damit zusammen, dass alle diese Anschläge zusammenhingen. In der Öffentlichkeit wurde teilweise gefragt, warum werden alle fünf oder sechs Sprengstoffanschläge angeklagt und verhandelt, warum begnügt ihr euch nicht mit einem? Das leuchtete auf den ersten Blick ein, stimmte aber nicht. Die Beweise mussten weithin mit Sachbeweisen geführt werden, weil bei den Tatausführungen keine Zeugen dabei waren und die Angeklagten nichts sagten. Man hat in den von den Angeklagten angelegten Depots viele Sachbeweisstücke gefunden. Beispielsweise hat man in einem Depot einen Fetzen von einem Geschirrtuch gefunden, in einer Bombe, und in einem anderen Depot den Rest dazu. Dann hat man das zusammengeführt. Zu dem betreffenden Anschlag hat man ferner einen Bekennerbrief gefunden, der auf einer Maschine geschrieben worden war, welche in der und der Wohnung gefunden wurde und auf der auch Bekennerbriefe zu anderen Anschlägen geschrieben worden waren. So bestanden unglaublich viele Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Anschlägen, und gerade diese Zusammenhänge haben den Tatbeweis im Einzelfall gestattet. Wenn man nur einen Fall angeklagt hätte, so hätte man bei der Beweiserhebung doch auch vieles aufklären müssen, was zugleich die anderen Fälle anlangte. Das habe ich gerade bei der Vorbereitung gemerkt. Als ich mal diese über einhundert LeitzOrdner betrachtete, die man mir ins Dienstzimmer schaffte, habe ich überlegt, wie ich deren Inhalt je unter den Nagel kriegen könnte. Dann habe ich einen Ordner nach dem anderen durchgelesen und habe bei jedem Ordner eine Art Inhaltsangabe gemacht. Zugleich habe ich noch einen Ordner „Zusammenhänge“ geführt. Wenn im Ordner „3“ etwas stand, was mit einer Stelle im Ordner „1“ korrespondierte und vielleicht noch mit einer Stelle im Ordner „5“, habe ich die Zusammenhänge notiert. Ohne diese Zusammenhänge hätte man die einzelnen Taten nicht oder kaum aufklären und nachweisen können, so dass es schon richtig war, dass man alle diese Taten angeklagt hat. DK: Sie haben von der Beweisnot gesprochen, den subjektiven Tatbeitrag festzustellen. F: Auf den subjektiven Tatbeitrag, also den Tatbeitrag des Einzelnen, konnte man teilweise aus schriftlichen Unterlagen Schlüsse herleiten. Wenn in einem Depot die Fingerabdrücke von verschiedenen Leuten an Bomben gefunden wurden, die in gleicher Weise woanders zu Explosion gebracht wurden, sprach auch insoweit vieles dafür, dass eine Beteiligung stattfand. Teilweise ergab sich die Beteiligung aus Kassibern, etwa im Zusammenhang des Anschlags auf den Springer Verlag hinsichtlich Ulrike Meinhof. Natürlich musste die Schuld individualisiert werden. Es gibt im Strafrecht keine gesamtschuldnerische Verantwortung wie im

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Zivilrecht, aber es gibt die Mittäterschaft, wonach Täter auch sein kann, wer nicht jedes Tatbestandsmerkmal eigenhändig verwirklicht hat. Aus sichergestellten Schreiben konnte in vielen Fällen festgestellt werden, wer die Leitung hatte oder wer dazu die Anweisung gab oder sonst mitwirkte. DK: Aber schwierig war die Frage, ob tatsächlich alle am Sprengstoffanschlag beteiligt waren. F: Ich kann Ihnen jetzt die Beweiswürdigung unseres Urteils nicht wiedergeben. Ich weiß nur, dass wir das Urteil außerordentlich gründlich beraten haben, dass jedes Indiz und alles mit großer Gewissenhaftigkeit erörtert wurde, auch hinsichtlich der individuellen Beteiligung der Angeklagten. DK: Sie haben von den Zellenzirkularen gesprochen, wurden diese bei Zellendurchsuchungen entdeckt? F: Die hat man bei Zellendurchsuchungen gefunden, die Zellen wurden immer wieder durchsucht. Bei einer Zellendurchsuchung hat man nach meiner Erinnerung einen Fotoapparat gefunden. Der war auf demselben Wege herein gekommen, wie auch dann später die Waffen, nur hatte man nicht geglaubt, dass man Waffen schmuggelt. DK: Was war für Sie als Richter die schwierigste Situation im StammheimProzess? F: Eine der schwierigsten Sachen war die Abhöreinrichtung in den Besucherzellen, mit deren Hilfe Verteidigergespräche abgehört wurden. Davon wussten wir nichts. Eines Tages plötzlich kam das hoch. Ich weiß jetzt nicht mehr, stand es zuerst in der Zeitung oder wurde es zuerst im Gerichtssaal vorgebracht? Jedenfalls wurde bekannt, dass Verteidigergespräche abgehört worden waren. Mich hat es fast umgehauen, als ich das hörte. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass die Innenverwaltung sich herausnimmt, Verteidigergespräche von Angeklagten abzuhören, die bei uns vor Gericht stehen. Verantwortlich war Innenminister Karl Schiess unter Mitwirkung von Justizminister Traugott Bender. Die Innenverwaltung war darauf gekommen. Sie hatte auch ihre Gründe. Nach dem Bomben­anschlag in Stockholm war Rechtsanwalt Siegfried Haag der Teilnahme beschuldigt worden. Dieser Anschlag hatte mit der Gefangenenbefreiung zu tun. Bei der jetzt erfolgten Festnahme von Rechtsanwalt Haag hatte man bei ihm gewisse wieder­um auf Gefangenenbefreiung hinweisende Anschlagspläne gefunden, die nicht zu deuten waren: „SB“ (eine Margarinesorte, viel später – zu spät – als „Siegfried Buback“ entschlüsselt) und „Big Raushole“. Da hatte man gedacht, man könne durch Ab­hören auf Näheres kommen. Begründet und entschuldigt wurde dieses Vorgehen mit dem Paragraphen 34 des Strafgesetzbuches, dem übergesetzlichen Notstand. Ich meinerseits war, als das bekannt wurde, völlig verärgert und hätte am liebsten den ganzen Bettel hingeschmissen. DK: Hätten Sie diese Abhöraktion für möglich gehalten?

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F: Ich hätte es für unmöglich gehalten, ich hätte gesagt, das gibt es doch in Deutschland nicht. DK: Warum nicht? F: Weil es verboten ist, weil es das nicht geben darf. § 148 StPO sagt ganz klar, dass Verteidigergespräche nicht überwacht werden dürfen, und ich hätte nie für möglich gehalten, dass eine deutsche Dienststelle sich darüber hinwegsetzt. DK: Wie haben Sie im Gericht reagiert, als Sie hiervon erfuhren? F: Ich habe dem Justizminister einen Brief geschrieben, habe um Klärung gebeten und um die Versicherung, dass das nicht mehr passiert. Dann hat der Justizminister mir geantwortet, ich habe ihm nochmal einen Brief mit erneuter Beantwortung geschickt, und wir haben weiter prozessiert. Aber die Abhöraffäre hatte zur Folge, dass die sogenannten Vertrauensverteidiger aus der Verhandlung auszogen und auch die anderen, die Nichtvertrauensverteidiger, ganz schön sauer waren, was ich verstand und verstehe; ich weiß nicht, was ich als Verteidiger gemacht hätte. Wenn diese Verteidiger auch noch ausgezogen wären, dann wäre der Prozess geplatzt. DK: Hing der Prozess wirklich an einzelnen Fäden? F: Der hing da schon am seidenen Faden. Die ganze Sache war noch nicht völlig überstanden, als dann das Buback-Attentat stattfand. Dieses Attentat hat die Abhöraffäre wieder ein bisschen zurückgedrängt, so dass jedenfalls die Nicht­ vertrauensverteidiger sagten, wir müssen jetzt den Prozess zu Ende führen, wir wollen nicht davonlaufen und die Sache weiterhin am Kochen halten. H: Christian Ströbele sagt, dass die Abhöraktion ein rechtsstaatliches ­Verfahren unmöglich gemacht habe. F: Ich weiß nicht, wie er das gemeint hat. Richtig ist, dass die Abhöraktion in meinen Augen rechtsstaatswidrig war. Allerdings wurde das deswegen anhängige Ermittlungsverfahren später eingestellt unter Hinweis auf Paragraph 34 Straf­ gesetzbuch, der übergesetzliche Notstand wurde anerkannt. Ich halte davon nichts. DK: Die Bundesanwälte haben von der Abhöraktion nichts gewusst? F: Ja, das glaube ich denen, dass sie nichts davon gewusst haben. DK: Sind die Angeklagten nicht davon ausgegangen, dass sie abgehört wurden? F: Das nehme ich fast an. Schon aus diesem Grund war das Abhören meines Erachtens ein nutzloses Unterfangen. Die Angeklagten haben nicht darauf vertraut, dass der Rechtsstaat seine Gesetze einhält, sie trauten dem Rechtsstaat alles zu. Dass bei Verteidigergesprächen große Geheimnisse mündlich ausgetauscht wurden, halte ich für ausgeschlossen. Es ist auch nichts herausgekommen. DK: Sie haben den übergesetzlichen Notstand angesprochen.

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F: Es ging nicht um Staatsnotwehr. Der Paragraph 34 des Strafgesetzbuches ist eine allgemeine Vorschrift, die Rechtsverstöße zulässt, wenn bei Gefahrenlagen keine anderen Mittel zur Verfügung stehen. Aber die Vorschrift gilt für jeden Bürger. Dass sie überhaupt auf den Staat angewendet wird, ist in der Literatur immer noch umstritten. Es wird zwar weitgehend bejaht, aber im Grundsatz gilt dieser Paragraph 34 für jedermann. So hätte etwa, um ein Beispiel zu nennen, bei der Schleyer-Entführung auch der Gefängniswärter sagen können, damit dem Schleyer nichts passiert, lasse ich lieber die Gefangenen frei und berufe mich dabei auf § 34. DK: Der Staat hat sich darauf berufen. F: Er sagte, zur Verhinderung schlimmer Verbrechen dürfen wir die Gesetzesverletzung begehen. Wir wollen Anschlagspläne erfahren und dadurch schlimme Verbrechen verhindern. So hat der Minister Schiess das formuliert. DK: Diese Position haben Sie nicht geteilt? F: Nein, ich teile sie nicht. Ich bin der Meinung, der Strafprozess verbietet das. Der Strafprozess ist so strukturiert, dass die Verteidigergespräche abhörsicher sein müssen und nicht abgehört werden dürfen. Ich will nicht gerade sagen „fiat i­ ustitia et pereat mundus“ („Es geschehe Gerechtigkeit, und wenn die Welt dabei zugrunde ginge“), aber ich kann mir keinen Fall vorstellen, in dem man Verteidigergespräche abhören darf. Das halte ich für verkehrt, der Meinung bin ich jetzt noch. H: Wäre ein Abbruch des Prozesses denkbar gewesen? F: Ja, wenn die Verteidiger alle davongelaufen wären, dann wäre der Prozess geplatzt. Dann hätte man die Häftlinge gehabt und jetzt was tun? Man hätte einen neuen Prozess anfangen müssen. Das hätte wieder lange gedauert, es wäre eine schlimme Sache gewesen. Ich will den Ministern zugestehen, dass sie gedacht hatten, sie könnten Verbrechen verhindern. Aber es gibt eben juristische Vorschriften, die sind nun mal da. DK: Hatten Sie selbst Polizeischutz oder auch eine Waffe? F: Naja, eine Waffe hatte ich schon. DK: Fühlten Sie sich bedroht? F: Eigentlich nicht so richtig. Man war halt vorsichtig. Jeden Morgen, wenn ich die Zeitung holte, habe ich erst um die Hausecke geguckt. Aber man gewöhnt sich kolossal daran. Ich hätte selbst nicht gedacht, dass man sich so daran gewöhnen kann. DK: Stand immer ein Polizeiauto vor Ihrer Haustür? F: Nicht immer, das war verschieden. Das änderte sich mit der Gefährdungslage. Die Polizei hatte immer irgendwelche Gefährdungslagen ermittelt. Ich habe mich nicht weiter darum gekümmert, habe gesagt, macht es, wie ihr es für richtig haltet. Ich habe keinen Schutz gefordert und keinen abgelehnt. Nur wenn ich mein Jogging gemacht habe, habe ich geschaut, dass ich niemanden dabei habe.

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DK: Sie fühlten sich kaum bedroht? F: Nicht so sehr. Eine Zeit lang wurden zwar sogar meine Kinder in die Schule und wieder heimgebracht, aber insgesamt? Wie gesagt, man gewöhnt sich daran und passt sich an. Beim Autofahren etwa hatte ich mich daran gewöhnt, den nachfolgenden Verkehr im Auge zu behalten. Wenn ein Fahrzeug lange hinter mir herfuhr, war das schon ein bisschen auffällig. DK: Richter wie auch Bundesanwälte wurden in den Medien teilweise heftig angegriffen? F: Man hat vieles einfach hingenommen. Aber mich hat schon geärgert, wenn z. B. Herr Schüler damals in der „Zeit“ den Senat mit dem Volksgerichtshof und mit Roland Freisler verglichen hat; das hat mich schon getroffen. Das war eine üble Sache, es bestand auch überhaupt kein Anlass dafür. Auch sonst wurde man beschimpft, aber man gewöhnt sich mit der Zeit an unglaublich viel. Das hätte ich selber nicht gedacht. DK: Sie wurden nicht so angegriffen wie der vorherige Vorsitzende Richter Theodor Prinzing? F: Es war schon die Luft heraus, als Herr Prinzing weg war. Da waren die Schützen vielleicht etwas müde geworden. H: Wollten Sie einen anderen Vorsitzenden-Stil prägen? F: Ich habe ab und zu Herrn Prinzing gesagt, sein Problem sei, dass er zu sehr an das Gute im Menschen glaube, weil er der Meinung sei, man müsse mit jedem Menschen vernünftig reden können. Es gebe nun einmal Leute, mit denen man das nicht könne. Etliche davon seien hier im Saal. Herr Prinzing hat oft gemeint, bestimmte Dinge, bestimmte Behauptungen könne man doch nicht im Raum stehen lassen. Ich habe geantwortet, lassen wir sie einfach stehen, morgen früh sind sie weg. Mit dieser Grundeinstellung habe ich den Prozess geführt. Es war gar nicht so schlecht, wie das gelaufen ist. DK: Wie haben Sie das „Kontaktsperregesetz“ bewertet? F: Kontaktsperregesetz – ich war daran gebunden. Zunächst wurde die Kontaktsperre aber vom Ministerium automatisch angeordnet. Der Zugang der Verteidiger zu den Angeklagten wurde unterbunden. Ich habe mich noch bemüht, dass das wegfällt, dass also der Verkehr weiterhin ungehindert ist. Ich hatte mit dem Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof telefonischen Kontakt, mit dem Herrn Kuhn, auch er war gegen die Kontaktsperre. Aber der dritte Strafsenat des BGH hat die Kontaktsperre angeordnet, also diese ministerielle Anordnung aufrechterhalten. Der Senat hat sich auf § 34 Strafgesetzbuch gestützt, wenn ich es recht im Kopf habe. Wenige Tage später war das Gesetz. Ich hielt es nicht für richtig und hätte die Kontaktsperre nicht zugelassen. DK: Dieses Gesetz ging innerhalb von zwei, drei Tagen durch alle Instanzen?

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F: Das erleben wir immer wieder. Wenn irgendeiner denkt, es eilt, dann geht es ganz schnell. Wie gesagt, ich hatte mich bemüht, das wegzubringen, aber nachdem der dritte Strafsenat des BGH entschieden hatte und das Kontaktsperregesetz kam, war das dann so. DK: Stellte der Selbstmord von Ulrike Meinhof im Mai 1976 eine Zäsur dar? F: Ja, das habe ich alsbald erfahren. Der Selbstmord hat mir schon leidgetan, gerade weil ich schon den Eindruck hatte, es geht ihr nicht gut. Aber dass ich in tiefe Trauer ausgebrochen wäre, das kann ich auch nicht sagen. Was sie bis dahin im Prozess geäußert hatte, war nicht besonders schön gewesen. Aber ich hätte ihr natürlich nicht den Tod gewünscht. DK: Es gibt Stimmen, die sagen, dass sie während des Prozesses Hilfssignale formuliert hätte. F: Das wurde später gesagt, und es gibt bestimmte Äußerungen, an denen das festgemacht wird, aber das habe ich damals nicht so empfunden. Das ist – glaube ich – nur im Wege nachträglicher Deutung möglich. DK: Wie hätte eine Hilfe aussehen können? F: Die Hilfe hätte so aussehen können, wie sie immer aussieht, wenn man bei einem Häftling annimmt, er sei suizidgefährdet. Dann wird er mehr überwacht, man schaut, dass er möglichst keine Gegenstände in der Zelle hat, mit denen er sich umbringen kann, so wird man einem suizidgefährdeten Häftling etwa die Krawatten abnehmen oder den Gürtel o.ä. So hätte man es wahrscheinlich gemacht, sonst hätte man nicht viel machen können. Da gibt es in den Anstalten Grundsätze, wie man sich verhält, wenn ein Häftling suizidgefährdet ist. DK: Die Anwälte haben formuliert, dass seitens des Gerichts eine negative Atmo­sphäre geschaffen worden sei. F: Wir hätten am allerliebsten einen ganz normalen Strafprozess geführt, wie wir das seit Jahrzehnten alle gemacht hatten. Wir hätten in aller Ruhe die Beweise erhoben und dergleichen. Was war gemeint mit der negativen Atmosphäre? DK: Zum Beispiel, dass im Falle einer Beweisnot Kronzeugen wie Gerhard Müller oder Karl-Heinz Ruhland eingesetzt wurden. F: Das Wort Beweisnot habe ich nicht benutzt. Ich habe nur die Zusammenhänge geschildert, dass die Ausdehnung des Stoffes erforderlich war, weil die Sachbeweise auf diese Weise zusammengeführt werden konnten, für einzelne Taten und auch speziell für eine Tat. Der Ausdruck „Beweisnot“ gefällt mir nicht so sehr. Gerhard Müller haben wir als Zeuge gehört, sehr sorgfältig, und wenn Sie das Urteil lesen, wie dessen Aussage abgehandelt wird, können Sie sehen, wie kritisch wir darangingen. Gerhard Müller war, wie man so sagt, ein Kronzeuge. Dieser Begriff wird in der Journalistik immer falsch verwendet, nämlich als ein besonders guter, zuverlässiger Zeuge. Das stimmt überhaupt nicht! Der Kronzeuge, der aus

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dem Englischen kommt, ist in der Regel ein schlechter Zeuge. Er ist ein Mittäter, ein Tatbeteiligter, der für sein Geständnis Strafmilderung oder Freispruch haben will. Der Kronzeuge ist also ein äußerst verdächtiger und in der Regel sehr vorsichtig anzufassender Zeuge, so war es auch bei Gerhard Müller. Deswegen haben wir den auch sorgfältig angehört. DK: Aber Gerhard Müller wurde beschuldigt, den Polizisten Norbert Schmidt erschossen zu haben? F: Festgestellt war das nicht. Aber wegen des bestehenden Verdachts früherer RAF-Tätigkeit hatten wir Müller sehr ausführlich und sorgfältig verhört, vernommen und gewürdigt. Man kann Zeugen nicht ausschließen. Selbst ein Zeuge, der als ausgemachter Flunkerer und Falschaussager bekannt ist, kann deswegen von der Vernehmung nicht ausgeschlossen werden. Ich kann nur seine Aussage entsprechend würdigen. Übrigens hat Müllers Aussage in vielem mit anderen Beweisergebnissen übereingestimmt. Ich will in diesem Zusammenhang etwas erwähnen, was mir imponiert hat, auch wenn es nicht Gerhard Müller betrifft. Wir haben einen Herrn Dierk Hoff vernommen. Er war derjenige, der die Rohrbombenhüllen hergestellt hat. Bevor man auf Hoff gekommen war, hatte ein Materialsachverständiger allein anhand der noch vorhandenen Bombenhüllen gesagt, derjenige, der diese Hüllen zersägt hat, müsse eine relativ kleine Metallsäge gehabt haben. Das Rohr müsse während des Sägens gedreht worden sein, das sehe man an dem Material. Als man Hoff später ermittelte und vernahm, sagte er, seine Säge habe diesen Rohrumfang nicht auf einmal bearbeiten können, er habe das Rohr drehen müssen, um weiter sägen zu können. Die Auskunft, die man vorher durch den Sachverständigen aufgrund der Sachspur hatte, und die Aussage des Zeugen haben hervorragend zusammengepasst. So gab es auch bei Müller und anderen Zeugen immer wieder Gelegenheit, ihre Aussagen an sachlichen Punkten zu überprüfen. DK: War zu diesem Zeitpunkt die Kronzeugenregelung legalisiert? F: Eine allgemeine Kronzeugenregelung gab es damals nicht. Die erste Kronzeugenregelung gab es im Betäubungsmittelrecht, bevor dann die allgemeine kam. Aber die kam erst viel später. Vieles, was später prozessual eingeführt worden ist, hatten wir noch nicht, auch im Ablehnungsrecht und im Verlesungsrecht. Das waren alles spätere Änderungen. Wir mussten noch alle Schriftstücke in der Hauptverhandlung verlesen, vom ersten bis zum letzten Buchstaben. Später kam die Möglichkeit, die Verlesung in der Hauptverhandlung durch Kenntnisnahme außerhalb der Verhandlung zu ersetzen. DK: Was war neu an diesen Verteidigern? F: Das Verhalten war so, dass sie selber sagten, wir wollen keinen Strafprozess. Schily sagte, das sei kein normaler Strafprozess, es sei eine Beleidigung, die Angeklagten als normale Kriminelle zu behandeln. Vielmehr sei das ein politischmilitärischer Kampf zwischen der RAF und dem Staat. Ein solcher Kampf unterliege nicht dem normalen Strafprozess. Das war der Grundsatz, davon gingen die

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Vertrauensverteidiger aus. Die politisch-militärische Auseinandersetzung zwischen RAF und Staat sei nicht justiziabel. Am weitesten ging Professor Axel ­Azzola, der ein bisschen wunderlich war. Er sagte in seinem bekannten Kriegsgefangenen-Antrag, die RAF-Leute führten Krieg gegen den Staat und hätten keine Handlungen begangen, die nach der Genfer-Konvention verboten seien. Sie hätten sich nicht gegen Kriegsrecht vergangen und gehörten deswegen nicht vor ein Gericht. Man soll sie sofort in Kriegsgefangenschaft überführen. Wir haben das abgelehnt. Ich hätte auch nicht gewusst – das hatte er wahrscheinlich nicht bedacht – wann denn dieser Krieg aufhören sollte, wann man also die Kriegsgefangenen wieder entlassen konnte. DK: Sollte in diesem Kontext Nixon als Zeuge geladen werden? F: Ja, da ging es hauptsächlich um den Vietnam-Krieg! Da sollten Nixon und alle möglichen Politiker gehört werden, Hans-Dietrich Genscher auch. DK: Sie haben diesen Antrag nicht akzeptiert? F: Was hätte es prozessual geholfen? Wir haben den Angeklagten schon geglaubt, dass für sie der Vietnam-Krieg ein wichtiger Anstoßpunkt war. Dazu mussten wir keinen Nixon hören. H: Aber den Anwälten ging es darum, Sachverhalte zu klären. F: Was für Sachverhalte denn? Man wusste doch eigentlich alles, und was sollte das für den Prozess bringen? Es ging um die Anschläge auf die amerika­ nischen Dienststellen in Heidelberg und Frankfurt. Die hatten nach Meinung der Angeklagten unmittelbar mit dem Vietnam-Krieg und deshalb auch mit dem Prozess zu tun, weil die RAF den USA den Krieg erklärt hatte. Dass es den ­Vietnam-Krieg gab und dass da schlimme Dinge passiert waren, das wusste jedermann. Da brauchte ich keinen Nixon. Mit der Schuldfrage, mit den Feststellungen zum Mordvorwurf hatte das nichts zu tun. Denn eine Berechtigung, deshalb in Deutschland Personen zu töten, ergab sich daraus nicht. DK: Wie reagierte das Gericht auf den Antrag der RAF, als Kriegsgefangene anerkannt zu werden. F: Offene Zeichen der Belustigung durfte man nicht zeigen. Aber so einen komischen Antrag hatten wir alle noch nicht gehört, und es hat mir doch immerhin hinsichtlich dieses Verteidigers zu denken gegeben. Man hat Schily gefragt, ob er sich dem Antrag anschließe. Er hat gesagt, jetzt noch nicht, er würde es noch bekannt geben. Er hat sich nicht angeschlossen. Wahrscheinlich hat auch er gedacht, irgendwo seien gewisse Grenzen überschritten. DK: Wurde das in der Richterschaft diskutiert? F: Viel diskutiert haben wir auch nicht darüber. Man hat es ab und zu wieder zitiert. Als ich den Anstaltsleiter das nächste Mal sah, habe ich gesagt, so, jetzt werden Sie wahrscheinlich Oberst oder General, weil Sie einem Kriegsgefangenen­

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lager vorstehen müssen. Ja, das waren so einige Scherze, die man da angebunden hatte. DK: Hielten Sie den Waffen-Schmuggel für möglich? F: Das hätte ich nicht für möglich gehalten. Ich weiß noch heute ziemlich genau, ich war morgens noch zu Hause, als mich Herr Horst Bubeck aus der Justizvollzugsanstalt anrief und sagte: „Heute Nacht hat sich Andreas Baader erschossen“. „Was, erschossen?“, sagte ich: „Haben Sie gesagt, Baader hat sich erschossen?“ „Ja“, sagte er. Ich war wirklich völlig sprachlos und hätte es nie für möglich gehalten, dass Waffen eingeschmuggelt werden konnten. DK: Dass er Selbstmord begangen hat, das war nicht der Punkt, sondern dass er sich erschossen hat? F: Ja, dass er sich erschossen hat! Ich meine, dass er Selbstmord begehen könnte, das wäre auch wieder genug gewesen, nachdem Frau Meinhof sich umgebracht hatte – Selbstmord ist immer drinnen. Aber dass er sich erschossen hatte, das hat mich dann doch fast vom Stuhl gerissen. DK: Wie war es möglich, die Waffen hereinzuschmuggeln? F: Die Kontrollen waren nicht so scharf, wie sie hätten sein können. Die An­ roissant, wälte hatten im Prozessgebäude Leitz-Ordner dabei. Im Büro von Klaus C wo auch Rechtsanwalt Arndt Müller war, gab es Herrn Volker Speitel, der eine Buchbinderlehre hinter sich hatte. Man hat dann zunächst die Pistole ausein­ander genommen, Griff und Lauf, und die Griffschalen abgeschraubt, damit das alles nicht so breit ist. Dann hat man diese Dinge in Vertiefungen eingebracht, die Speitel in die Papieransammlung eingeschnitten hatte, und hat das Papier gerade um die Pistolenteile herum verklebt. Die Untersuchungsbeamten, also die Schutzleute am Einlass, haben die strikte Weisung, die Verteidigerunterlagen zwar nicht gerade flüchtig, aber jedenfalls sehr vorsichtig zu behandeln, damit nicht der Eindruck entstehe, sie nähmen irgendwelche Kenntnis vom Textinhalt der Verteidigerakten. Deswegen haben die Untersuchungsbeamten die Leitz-Ordner nur mal so durchgeblättert. Das war trotz der Verklebungen möglich. So kamen die Waffen bei Verteidigerbesuchen zu den Anklagten. DK: Auch die anderen Sachen wurden so hereingeschmuggelt? F: Wie schon erwähnt, kam eine kleine Kamera herein und noch andere Dinge. Ich hätte nicht gedacht, dass so etwas möglich ist. DK: Andreas Baader soll angeboten haben, dass er bei einer Freilassung mit den anderen ins Ausland gehen und jegliche Gewalttaten unterlassen würde. F: Ich glaube es nicht. Die bei der Peter Lorenz-Entführung freigekommenen Häftlinge sind alle zurückgekommen und haben Straftaten begangen. Sie haben keine eidesstattliche Versicherung abgegeben, aber so eine Versicherung hätte wahrscheinlich nicht viel geholfen. Ich glaube nicht, dass man auf so eine Versi-

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cherung Baaders hätte viel geben können und dass die Angeklagten sich dann alsbald quasi in den Ruhestand begeben hätten. Das kann ich mir gerade bei Baader nicht vorstellen. DK: Wie wirkte er im Prozess? F: Baader war ein aufgeweckter Kopf. Er hat einen beschimpft, aber daran hat man sich gewöhnt. DK: Gekränkt hat Sie das nicht? F: Eigentlich nicht. Wir wurden „Nazischweine“ und alles Mögliche geheißen, aber auch daran gewöhnt man sich. Einen persönlichen Ehrverlust oder eine persönliche Kränkung habe ich nicht empfunden. DK: Und bei Gudrun Ensslin? F: Ich muss gestehen, ich habe mich um die Psychologie der einzelnen Angeklagten nicht sehr gekümmert. Sie haben ihre Erklärungen abgegeben und alles Mögliche vorgetragen. Ab und zu, irgendwann, hatte ich den Eindruck, mit Frau Ensslin einmal zu diskutieren, wäre vielleicht nicht schlecht. Das verschwand bald wieder unter dieser Kruste, unter der die Angeklagten steckten mit ihren vorgefassten Meinungen. Die Texte der RAF, die verlesen wurden, waren abscheulich. Sie zu verlesen, war eine schlimme Sache, da hätte man uns fast noch ein ExtraGehalt zahlen müssen. Ich habe einmal im Spaß gesagt, wenn ich es so machen würde, dass ich immer zunächst die erste, dann die dritte, dann die zweite, dann die vierte Zeile lese, würden es die meisten Leute nicht merken, weil es ohnedies ziemlich hanebüchen war. DK: Die Erklärungen wurden über Tage hinweg verlesen? F: Ja, das „Konzept Stadtguerilla“ etwa haben wir tagelang verlesen. DK: Haben Sie über den Selbstmord der RAF-Mitglieder diskutiert? F: Sobald ich im Radio und im Fernsehen hörte, die Sache in Mogadischu sei erfolgreich abgelaufen, habe ich gedacht, jetzt sieht es schlecht aus für Hanns ­Martin Schleyer, aber auch für die Angeklagten. Besonders Herr Schleyer, habe ich gedacht, ist jetzt in einer gefährlichen Situation, und hinsichtlich der drei Angeklagten war ich gespannt, was die machen. Sie hatten schon einmal so eine Äußerung getan, dann würden sie das Schicksal in die eigenen Hände nehmen, wenn ein Ausbruch oder eine Freiheit nicht gelinge. DK: Das Urteil haben Sie vor leeren Plätzen verlesen? F: Es waren noch Verteidiger da, für jeden Angeklagten saßen noch zwei Verteidiger da. Der Saal war voll, Leute waren genug da. Die Angeklagten hatte ich extra noch eingeladen zur Urteilsverkündung, aber sie sind nicht gekommen. DK: Otto Schily hat sein Abschlussplädoyer im Hotel gehalten.

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F: Ja, im Parkhotel. DK: Wenn Sie im Rückblick an Stammheim denken, was würden Sie anders machen? F: Mir fällt eigentlich nichts ein, was ich viel anders machen sollte. Ich hätte wieder dieselbe Aufgabe, nämlich das, was in der Anklageschrift den Angeklagten vorgeworfen wird, zu versuchen mit strafprozessualen Mitteln aufzuklären und abzuurteilen. DK: Hat der bundesdeutsche Terrorismus liberale Tendenzen in der Justiz zerstört? F: Ja, das muss ich sagen. Heute ist Praxis, dass jeder Prozess, der überlokal bekannt ist, erst mal mit vielen Einstellungs- und Ablehnungsanträgen beginnt. Das hat damals angefangen. DK: War ein Ergebnis eines neuen Selbstverständnisses der Verteidiger, die Rechte der Angeklagten massiver zu vertreten? F: Ich sehe das nicht so. Ich glaube eher, dass das eine unschöne Folge davon ist. Aber darüber kann man geteilter Meinung sein. DK: Kam man vorher besser mit den Anwälten klar? F: Man hat sich auch reichlich gestritten, aber man hat sich in der Sache gestritten. Gerade hier in Stammheim habe ich den Verteidigern mit Otto Schily an der Spitze richtig übel genommen, dass sie ihre Angeklagten im Grunde unverteidigt gelassen haben. Der Schuldvorwurf stützte sich auf bestimmte Indizien und Sachbeweise, dazu haben die Anwälte nichts gesagt. Das war auch bequemer, denn so ein Asservaten-Verzeichnis durchzuarbeiten, ist eine mühsame Geschichte. Stattdessen haben sie politische Reden gehalten, von denen eigentlich jedermann wusste, dass sie letztlich im Strafprozess keinen Wert hatten. Das wussten auch diese Verteidiger. Deshalb hätten sie die, wie sie sagten, kriminalistische Verteidigung auch mehr durchführen müssen. Ich weiß noch, als es einmal darum ging, am nächsten Tag wichtige Sachbeweise zu erheben, hat entweder Herr Schily oder ein anderer Vertrauensverteidiger gesagt, zu der „Schrottbesichtigung“ kommen wir nicht. Das hat mich gestört, das muss ich schon sagen. Ich dachte, dieser Mensch verletzt jetzt seine Pflicht. Seine Pflicht wäre es, bei dieser „Schrottbesichtigung“, bei dieser wichtigen Sachbeweiserhebung, dabei zu sein und nicht stattdessen eine politische Fensterrede zu halten. DK: Konnte man nach Ihrer Auffassung nicht von einer Verteidigung s­ prechen? F: Es war keine strafprozessuale Verteidigung, sondern eine Verteidigung, die sich zwar Verteidigung nannte, aber fast nur aus politischen Reden bestand. Jedem dieser Verteidiger – das waren keine Dummköpfe – war klar, dass man, wenn man über Mordvorwürfe verhandelt, mit solchen Sprüchen („es werde Krieg geführt“ usw.) keinen Erfolg haben kann. Ich habe diesen Anwälten übel genom-

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men, dass sie sich nicht auf die mühsame Arbeit des Strafprozesses eingelassen haben. DK: Was hätten Sie als Verteidiger gemacht? F: Ich hätte jedes Beweisstück in Frage gestellt. Es ist nämlich nicht so einfach, einen Sachbeweis zu führen. Es kommt kein Beweisstück von selber auf den Richtertisch. Der eine Polizist findet es, der andere übernimmt und registriert es, und so weiter. Da muss man sich viel Mühe machen, um alles nachzuvollziehen. Das ist eine mühsame Arbeit, aber die muss man auf sich nehmen. DK: Der Prozess wäre für die Angeklagten anders verlaufen? F: Wir haben es so gemacht. Wir sind jedem Beweisstück nachgegangen, aber ich kann nicht ausschließen, dass ein Verteidiger doch noch irgendeine kluge Idee gehabt hätte, die uns vielleicht auf einen anderen Weg geführt hätte. Ich glaube es zwar nicht und bin überzeugt, dass wir es richtig gemacht haben. Auch die Nichtvertrauensverteidiger haben darauf geachtet, haben sich immer mal wieder gemeldet, besonders wenn die Angeklagten nicht da waren. DK: Nach Auffassung von einzelnen Verteidigern habe es sich in Stammheim um einen politischen Prozess gehandelt? F: Es gibt keinen politischen Prozess. Es gibt politische Straftaten im Auslieferungsrecht, da kann bei politischen Straftaten die Auslieferung verweigert werden. Aber sonst gibt es keinen politischen Prozess, das ist kein Begriff der Strafprozessordnung. In der Strafprozessordnung und im Strafgesetzbuch gibt es nur Straf­ taten, deren Voraussetzungen bei einer Verurteilung erfüllt sein müssen. DK: Wäre der Begriff „politisch motivierte Straftaten“ passender? F: Damit kann man arbeiten, „politisch motivierte Straftaten“. Aber das sind dann wieder Straftaten, die aller Art sein können. Auch die Bankräubereien, die die RAF in reichem Maße begangen hat, waren politisch motiviert, denn das Geld brauchte man, um weiterhin im Untergrund leben zu können. Also, man fängt nicht viel damit an. DK: Und die Definitionen von Otto Kirchheimer? F: Ja, aber als Strafrichter fängt man nichts damit an, das liegt nicht im System.

Klaus Pflieger

Foto: privat

Geboren im Jahre 1947 1968–1972 Jurastudium in Tübingen 1973–1975 Rechtsreferendar 1975–1976 Richter beim Amtsgericht Stuttgart, u. a. Haftrichter in Stuttgart Stammheim 1976–1980 Dezernent  bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart, u. a. zuständig für das Verfahren gegen den Rechtsanwalt Dr. Klaus Croissant 1980–1985 Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Bundesanwaltschaft beim Bundesgerichtshof 1985–1987 Referatsleiter im baden-württembergischen Justizministerium 1987–1995 Oberstaatsanwalt bei der Bundesanwaltschaft beim Bundesgerichtshof 1995–2001 Leitender Oberstaatsanwalt der Staatsanwaltschaft Stuttgart Seit 2001 Generalstaatsanwalt Staatsanwaltschaft Stuttgart

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Gisela Diewald-Kerkmann (DK): Sie haben von 1968 bis 1972 Jura in Tübingen studiert. Können Sie sich noch an Ihren ersten Prozess erinnern? Klaus Pflieger (P): Ich war schon als Referendar in Sitzungen. Es ist für einen Studenten unheimlich aufregend, wenn er zum ersten Mal die Robe an hat und in aller Öffentlichkeit auftreten soll, teilweise noch mit „Bewachung“ durch einen älteren Kollegen, der weiterhilft, wenn er stocken bleibt. Es war im Amtsgericht Böblingen. Ich war unheimlich aufgeregt und habe dann gemerkt, dass ich es kann und wir vielleicht zu wenig im Studium für solche Auftritte gelernt hatten. Das machen wir in der Zwischenzeit besser. Unsere jungen Leute trainieren das früher. Aber das Spannende in der Referendarzeit ist, dass man das theoretisch Erlernte auch praktisch anwenden kann. Ingrid Holtey (H): Herr Pflieger, Sie haben 1968 mit dem Studium begonnen. Wenn ich Sie als Achtundsechziger bezeichnete, könnten Sie dem zustimmen? P: Ich würde mich nicht wehren. Es ist heute sogar manchmal eine Auszeichnung, wenn man sich brüsten kann, dieser Generation anzugehören. In der Tat habe ich diese Zeit und die ganzen brisanten Themen damals als Student hautnah erlebt. Ich bin hauptsächlich geprägt worden durch den Vietnamkrieg, auch durch die Verhinderung von Demonstrationen, also all die Dinge, die damals eine Rolle gespielt und die Studenten geprägt haben, etwa der Tod des Benno Ohnesorg. Ich bin auch auf die Straße gegangen, um gegen den Vietnamkrieg zu demonstrieren, der aus unserer Sicht – eine einhellige Meinung unter den Studenten – ein Unding war. Wenige Jahre später gab es keinen mehr, der den Vietnamkrieg auch nur annähernd für gerechtfertigt angesehen hat. H: Sie haben den 2. Juni 1967 erwähnt, damals waren Sie noch auf der Schule? P: Ich war Soldat. Ich hatte gerade das Abitur gemacht, war zur Bundeswehr gegangen, aber gleichwohl habe ich das alles hautnah verfolgt. H: Hat durch dieses Ereignis eine Politisierung eingesetzt? P: Weniger bei mir. Ich war schlicht und einfach entsetzt, dass es zu so etwas kommen konnte, Demonstrationen derartig eskalieren konnten. Das hat mich nachdenklich gemacht, aber auch kritisch diesem Staat gegenüber. Aber ich behaupte, dass ich nicht in dem Sinne politisiert worden bin. H: War mit der Teilnahme an Demonstrationen keine politische Einstellung verbunden? Welche Rolle spielte das Elternhaus im Prozess ihrer Politisierung? P: Eine politische Einstellung mit Sicherheit nicht. Ich glaube, wir gingen im Elternhaus schon kritisch miteinander um. Aber da hat noch das eher altehrwürdige System geherrscht, dass der Vater der Dominante war und man eher alles akzeptiert hat. Mein Vater war mit Sicherheit kein Rebell. Ich meine, dass ich durch die Bundeswehrzeit geprägt worden bin, mir nicht mehr alles gefallen zu lassen, sondern kritisch zu sein. Es war in der Bundeswehrzeit, als ich zum ersten Mal

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gemerkt habe, wenn ich mich wehre, dann lässt man mich gewähren, und man erreicht sogar auch etwas. Während der Studentenzeit kam der Vietnamkrieg dazu, für mich das schreiende Unrecht; das ist sicher durch Zeitungslektüre und Diskussionen verstärkt worden. Das war für mich so evident, dass ich gesagt habe, man könne nicht einfach erklären, das gehe uns nichts an, sei so weit weg, der Krieg habe vielmehr Auswirkungen auf uns. H: Gehörten Sie einer studentischen Gruppierung an ? P: Nein, ich habe mich dagegen gewehrt, in irgendeine Verbindung einbezogen zu werden. Es war während der Bundeswehrzeit, dass ich gesagt habe, ich will niemals jemanden haben, der mir Befehle gibt oder mich vereinnahmt. Zwar hatte mein Vater großes Interesse, dass ich eine Karriere über eine Verbindung zu Stande bringe. Aber ich habe mich standhaft gewehrt, mich irgendwo zu binden. H: War die Wahl des Jura-Studiums eine Berufsentscheidung? P: Das war eine nackte Berufsentscheidung. Ich war – aufgrund verschiedener Erfahrungen während der Schulzeit, aber auch während der Bundeswehrzeit – der Auffassung, dass ich ein Gespür für Gerechtigkeit habe und in der Lage bin, Leuten beizubringen, was Recht ist und was nicht. Es faszinierte mich bei Diskussionen, dass ich Leute überzeugen konnte, und so habe ich es als Berufsentscheidung genommen, dass ich derjenige war, der vermitteln wollte. Ich wollte deshalb zunächst auch nicht Strafrecht machen, geschweige denn Staatsanwalt werden, sondern Zivilrichter sein, Vermittler zwischen den Parteien, Vergleiche schaffen. H: Sie sind aber zunächst Staatsanwalt geworden? P: Nein, ich habe als Richter angefangen. Das war unmittelbar nach dem Examen. Interessanterweise in Stuttgart-Stammheim bin ich Haftrichter geworden. Heute sitzt der Haftrichter in Stuttgart beim Amtsgericht, damals saß er im Gefängnis. Ich war sozusagen im Gefängnis involviert in den ersten drei Monaten nach dem Examen, habe als Haftrichter meine Aufgabe erfüllt, die faszinierend war, auch weil ich die Haftbedingungen der RAF-Häftlinge mitbekam, in Stammheim erlebt habe, dass von Isolationsfolter keine Rede sein konnte. Die Gefangenen, die ich eingesperrt habe, hätten sich die Finger danach geleckt, solche Haftbedingungen zu bekommen. Das war damals ein wichtiges Thema: Sonder­ behandlungen bzw. Sonderbedingungen für bestimmte Gefangene. Ich bin bis heute ein Fan der Gleichbehandlung und gegen die Bevorzugung oder Benachteiligung von bestimmten Sorten von Gefangenen, etwa von Terroristen. Die sind wie jeder andere zu behandeln. H: Im Kontext der Prozesse gegen Mitglieder der außerparlamentarischen Opposition ist ein neuer Typus des Anwalts entstanden. Wurden Sie mit diesem ­Typus konfrontiert? P: Zunächst nur als Beobachter des Prozesses gegen Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe, in der Phase, als ich Haftrichter

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in Stammheim war. Ich habe als Beobachter gestaunt, was da ablief. Das hatte ich während meiner Ausbildungszeit nie so erlebt, ein vollkommen neues Terrain. H: Könnten Sie das präzisieren? P: Mein Eindruck war, dass da etwas geschehen ist, was ich nicht mehr unter Verteidigung subsumieren konnte, sondern man hat Stimmung gegen diesen Staat gemacht. Es ging nicht mehr darum, für den Mandanten einen Freispruch oder eine geringe Strafe herauszubekommen, indem man Werbung für ihn gemacht hat, indem man seine Position verteidigt hat und seine Entschuldigungselemente vorgetragen hat, sondern man hat den Strafprozess instrumentalisiert gegen diesen Staat. Ich habe das später auch in Papieren der RAF-Gefangenen gelesen, die wir als Kassiber entdeckt haben. Da stand, dass die Justiz der Feind sei. Die Formulierung der RAF war, dass der Staat die RAF-Leute einsperrt, sie foltert und sie letztlich bis zum Lebensende in Haft hält. H: Sollte nicht eine Art Gegenöffentlichkeit im Gerichtssaal geschaffen werden? Waren Sie davon angetan? P: Nein, es hat mich abgeschreckt, weil es nicht mehr das war, was ich selber gelernt hatte. Mein ursprüngliches Ziel war, Rechtsanwalt zu werden. Insofern konnte ich mich gut in die Position versetzen. Aber wie diese Verteidiger agiert haben, so hatte ich mir meine Aufgabe nicht vorgestellt. Das ging über das hinaus, was man als die Aufgabe eines Rechtsanwalts ansieht, der das Beste für den Mandanten herausholen soll und zwar im Sinne eines Freispruchs oder einer möglichst geringen Strafe. H: Sie waren auf der anderen Seite, zunächst Richter, später Staatsanwalt. Gab es eine Veränderung in ihrem Denken, die sich auf 68 zurückführen lässt? P: Teils ja, teils nein, würde ich sagen. Ja bezüglich der Studentenzeit, als wir gemeinsam registriert haben, wir erreichen mit unseren Demonstrationen nichts. Wir sind gegen eine Wand gelaufen; wir haben zwar Lärm gemacht, zu beeindrucken versucht, aber das Ergebnis war gleich Null. Damals habe ich Diskussionen miterlebt, in denen es darum ging, „eine Schippe draufzulegen“, im Sinne von „Gewalt gegen Sachen“ oder gar „Gewalt gegen Personen“. Also dieselbe Entwicklung, die die RAF später genommen hat, indem sie zunächst zu Gewalt gegen Sachen übergegangen ist, mit ihren Kaufhausbrandanschlägen, und schließlich 1972 zu Gewalt gegen Personen, indem man Anschläge gemacht hat, gezielt um Menschen zu verletzen, zu töten. Ich war damals schon der Auffassung, vielleicht schon geprägt durch das, was ich werden wollte, oder auch das Gerechtigkeitsgefühl, dass das unzulässig sein muss, dass wir mit demokratischen, legalen Mitteln alles versuchen müssen und alles, was Richtung Straftat geht – und wenn es nur eine Sachbeschädigung ist – unzulässig ist. Für mich war diese Weichenstellung schon während des Studiums gefallen. Daran hat sich später nichts geändert. Ich war geprägt durch die 68er Generation, die sich wenig hat gefallen lassen, die auf Widerstand gebürstet war. Was mich gefreut hat, war, dass ich das mit meinem

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Richterleben im ersten Jahr in Einklang bringen konnte. Man hat mir nicht hineingeredet. Das tut kein Präsident eines Gerichtes. Der Richter ist völlig unabhängig. Umso mehr war ich nachher überrascht, dass auch bei den Staatsanwaltschaften Vergleichbares herrschte, man eine richterähnliche Unabhängigkeit genoss, ich meinen eigenen Kopf durchsetzen konnte oder, wenn das nicht ging, gestritten wurde. Es ist momentan unser Credo bei den Staatsanwaltschaften, dass wir gemeinsam auch Widerworte produzieren, Dinge infrage stellen. Da macht sich die 68er Generation bei mir bis heute bemerkbar. Ich habe deshalb auch angefangen, die jungen Assessoren zu einem Besuch einzuladen, um ihnen mein Denken zu vermitteln und sie zu motivieren, Dinge in Frage zu stellen, die bei uns zweifelhaft sind. H: Auch die Praktiken der Einstellung von Richtern und Staatsanwälten sowie den Umgang mit Angeklagten? P: Auch den Umgang mit Angeklagten. Ich habe gemerkt, dass man eine Antenne für den Angeklagten haben muss. Ich bin momentan auch Vorsitzender der Straffälligenhilfe in Baden-Württemberg. Ihr Ziel ist es, einen Angeklagten auch als Menschen zu verstehen, dem man helfen kann. Das ist etwas, was ich bei früheren Generationen so nicht erlebt habe. DK: Im Mai 1970 wurde Andreas Baader in Berlin befreit. Können Sie sich noch daran erinnern, wie Sie diese Aktion aufgenommen haben? P: Das war für mich damals nur eine Zeitungsnotiz. Ich war mir der Dimension nicht bewusst, die ich aus heutiger Kenntnis damit verbinde. Damals war das ein bestimmter Bestandteil dessen, was sich langsam aufgebaut hatte, beginnend mit ersten RAF-Aktionen gegen diesen Staat. DK: Hätten Sie es für möglich gehalten, dass diese Aktion das Gründungs­ datum der Roten-Armee-Fraktion bilden könnte? P: Der 14. Mai 1970 ist für mich heute ein elementarer Zeitpunkt. Aber damals konnte das kein Mensch ahnen. Ich glaube, auch die Insider haben das damals nicht gedacht. Die RAF hat später, so jedenfalls interpretiere ich ihre Erklärungen, das Datum als ihr Geburtsdatum definiert, weil es, aus ihrer Sicht, ein Grundelement war und weil insbesondere Ulrike Meinhof in den Untergrund ging. Damit war klar, dass sie sich von ihren Zwillingen trennen musste – für mich etwas Elementares, wenn eine Mutter ihr Kind im Stich lässt, wie Gudrun Ensslin auch. Von daher ist der 14. Mai 1970 aus heutiger Sicht ein ganz elementares Datum, damals mit Sicherheit nicht. DK: Wenn Sie die gesellschaftliche Situation im Jahre 1970 und als Kontrast hierzu die Zeit 1972 nach den Sprengstoffanschlägen beschreiben müssten, welche Veränderungen wären für Sie wichtig? P: Die Gesellschaft hatte in der Entführung von Andreas Baader noch kein Gefahrenelement gesehen. Das war unerfreulich. Eine Justiz lässt es sich ungern bieten,

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dass man aus der Haft entweichen kann. Aber es lagen keine sensationellen Dinge vor, es ging lediglich um eine kleine Reststrafe. Der RAF ging es aber um Grundsätzliches, wie ich heute weiß. Natürlich ging es dann im Jahr 1972 ganz anders zu, als die RAF „ernst gemacht“ hat. Die Brandanschläge aus dem Jahr 1968 waren zwar bereits gegen diesen Staat gerichtet gewesen, aber 1972 ging die RAF gezielt gegen Menschen vor. Es war ein Sprung von der „Gewalt gegen Sachen“ hin zur „Gewalt gegen Personen“. Das hat Elementares mit sich gebracht, insbesondere bei einer Serie von sechs Anschlägen innerhalb von zwei Wochen im Mai 1972. Da hat man gemerkt: Eine Gruppe führt Krieg gegen diese Bundesrepublik. Die ersten Toten waren zu beklagen. DK: War der Staat bedroht? P: Objektiv war er nicht bedroht. Ich habe aber selber registriert, dass die Bedrohung subjektiv permanent angestiegen ist. Der Höhepunkt war dann der „Deutsche Herbst“ 1977, als man aufgrund der Reaktionen des Staates und der Öffentlichkeit den Eindruck haben musste, dass der Staat wackelte. Und besonders, nachdem man gemerkt hatte, dass der Staat erpressbar sein könnte. Er hatte ja bei der Entführung des CDU-Politikers Peter Lorenz nachgegeben – aus heutiger Sicht ein grober Fehler. Man war auf dem Weg, auf Dauer erpressbar zu werden. Das war mein subjektiver Eindruck damals: Eine Hysterie. Wenn man es nüchtern betrachtet hat, war zwar alles schrecklich, sehr schrecklich, die Schleyer- und auch die Landshut-Entführung. Aber auch mit einem solchen Ereignis muss ein Staat umgehen können, ohne dass er anfängt, in seinen Grundfesten zu wanken. DK: Welche Rolle haben hierbei die Medien gespielt? P: Mein Eindruck war, dass es in den Medien eine „klammheimliche Freude“ darüber gab, dass gegen diesen Staat etwas unternommen wurde. Von Anfang an empfand man eine gewisse Sympathie dafür, dass sich eine Gruppierung gefunden hatte, die diesen Staat, der fraglos Fehler hatte, frontal angriff. Das hat auch die Anzahl von Sympathisanten gezeigt. Es war ein großer Anteil gerade unter jungen Leuten, speziell Studenten, die durchaus bereit waren, der RAF Hilfe zu leisten, Wohnung zu geben. DK: Hing diese „klammheimliche Freude“ nicht teilweise auch mit den Reaktionen des Staates zusammen? P: Ja, ich erlebe das immer auch aktuell, wenn ich auf die heutige Zeit springen darf: Wenn ich über die Geschichte der RAF Vorträge halte, sind unter den Zuhörern zahlreiche Leute, die mir erzählen, damals haben wir Todesängste ausgestanden. Unser Staat war auf dem Weg zum Polizeistaat. Man musste bei Verkehrskontrollen immer wieder – wenn man mit langen Haare, Bärten oder einem wackeligen Auto daherkam – alsbald in ein Maschinengewehr schauen, weil man mit vorgehaltener Pistole kontrolliert wurde. Das war eine Reaktion, die mich rückblickend insofern fasziniert, weil sie genau das war, was die RAF erreichen wollte. Sie wollte dem Staat die Maske herunterreißen und ihn als diesen faschis-

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tischen Staat darstellen, den sie vermutet oder unterstellt hatte. Von daher ist man mit dieser Reaktion eigentlich der RAF auf den Leim gegangen. Aus heutiger Sicht fast eine Überreaktion. Ich sage das, weil ich in Vorträgen immer gefragt werde, wie wir künftig auf vergleichbaren Terror reagieren sollten. Wir werden nämlich, wenn es islamistische Anschläge gibt, ein Vielfaches an Toten bekommen im Vergleich zur RAF-Zeit. Der Staat hat durch seine Reaktion seinerzeit dazu beigetragen, dass Ängste produziert wurden und die RAF aufgewertet worden ist. Das sollten wir bei etwaigen Terroranschlägen in der Zukunft vermeiden. DK: Waren die Reaktionen in diesem Maße nicht gerechtfertigt? P: Das war alles schlimm, was die RAF gemacht hat. Aber das war kein Weltuntergangszenario in meinen Augen, das eine solche Reaktion – jetzt rück­ blickend – gerechtfertigt hätte. Man hat seinerzeit insgesamt Neuland betreten, wie wir es im Baader-Meinhof-Prozess erlebt haben, mit den Verteidigern und mit deren Konfliktstrategien. Der Staat war es nicht gewohnt, so angegriffen zu werden, und musste zunächst eine gewisse Souveränität gewinnen, um mit diesen Angriffen zurechtzukommen. DK: Die nächste Zäsur war der Tod von Holger Meins im Jahre 1974. P: Ich habe nur ein Bild vor Augen, und das ist Rechtsanwalt Klaus Croissant, den ich später strafrechtlich verfolgt habe. Es war mein erster RAF-Prozess in Stammheim. Dieses Bild, wo er am Podium steht, die Nachricht vom Tod von Holger Meins zugesteckt bekommt, dies dem Auditorium mitteilt, aufschreit, in die Ecke rennt, um sich weinend abzuwenden. Das hat mich damals beeindruckt. Ich kann heute nicht mehr sagen, ob ich es schrecklich fand, dass ein Hungertod geschehen ist, oder ob ich es schrecklich fand, wie Croissant reagiert hat. Das war das, was ich aus heutiger Sicht als Öffentlichkeitsarbeit bezeichnen würde, was Croissant damals gemacht hat, nämlich Stimmung zu machen. Er hat dazu beigetragen, dass die RAF Hungerstreiks organisiert und durchgeführt hat, wofür er nicht verurteilt worden ist. Das ist legale Verteidigerarbeit, solche elementaren Widerstandshandlungen wie einen Hungerstreik zu unterstützen. Für verwerflich halte ich aber, dann umgekehrt anzuprangern, dass jemand wie Meins zwangsernährt wird, und letztlich dem Staat vorzuwerfen, er habe Meins ermordet, obwohl es in meinen Augen durch Verweigerung der Nahrung ein purer Selbstmord war. Von daher fand ich diesen Auftritt von Klaus Croissant unerträglich. Ich habe später Personen vernommen, für die war Meins Tod das Startsignal, um zur RAF zu gehen. Sie sind deshalb Mitglied der RAF geworden, in den Untergrund gegangen, weil sie das geglaubt haben, was da vorgetragen wurde. In Wirklichkeit war es ein inszenierter Selbstmord. Wir fanden Hungerstreik-Papiere, gerade auch von Baader, dass man endlich einen Toten braucht, weil man dann weiter strategisch vorgehen konnte („wir brauchen eine leiche … und wir haben was in der hand“). DK: Würden Sie sagen, die Anwälte haben eine Zwangsernährung mehr oder weniger verhindert?

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P: Sie haben sich mit allen Mitteln dagegen gewehrt. Das war in der Tat an der Grenze zur unmenschlichen Behandlung, einen fingerdicken Schlauch zwischen die Zähne geschoben zu bekommen. Holger Meins hat es beschrieben. So wurde es mir auch in Stammheim berichtet. DK: Wie wurde die Zwangsernährung ausgeführt? P: Das waren Leute, die die Nahrung verweigert haben und dementsprechend sich auch dagegen gewehrt haben, durch Zwang ernährt zu werden. Die mussten also „stillgelegt“ werden, d. h., sie wurden auf einer Trage festgebunden, dass sie sich dieser Prozedur nicht entziehen konnten. Dann wurde ihnen der Mund gewaltsam aufgemacht und ein fingerdicker Schlauch für die Zwangsernährung in den Rachen geschoben, um ihnen diese Nahrung zuführen zu können. Das ist, wenn man Zwangsernährung machen will, die einzig mögliche Prozedur. Das ist für den Betroffenen, der das über sich ergehen lassen muss, an der Grenze zum Unmenschlichen, aber auch für diejenigen, die es machen müssen. Von daher ist für mich die ganze Prozedur immer problematisch gewesen. Es ist rechtlich schwierig, wie weit man als Staat einen „Hungerstreiktod“ verhindern muss. Ich habe relativ früh eine sehr dezidierte Meinung gehabt. Wer sterben will, hat das Recht zu sterben. Der Staat muss erst dann eingreifen, wenn der Hungerstreikende nicht mehr Herr seiner Sinne ist. Das ist eine relativ harte Position. Aber das hätte jedenfalls diese Prozedur der gewaltsamen Zwangsernährung vermieden. DK: Als Holger Meins starb, sei – so die Ansicht einzelner Anwälte – kein Arzt erreichbar gewesen. P: Ich kenne den Vorwurf auch, aber der zeigt das unsinnige Vorgehen der Verteidiger. Was hätte der Arzt machen sollen? Eine Zwangsernährung durfte er nach Ansicht der Rechtsanwälte nicht durchführen; er hätte Meins vielleicht davon abbringen müssen, den Hungerstreik fortzusetzen. Meins war aber bis zum Schluss Herr seiner Sinne und wollte sterben. Das sind m. E. die Propaganda-Elemente, mit denen man das aufgebauscht hat, um den „Schwarzen Peter“ Richtung Staat zu schieben, er habe Hilfe verweigert oder gar unterbunden. Diese Argumentation ist für mich schizophren. Aber dies ist in der Öffentlichkeit nicht angekommen. Diese Öffentlichkeitsarbeit der RAF-Verteidiger war faszinierend. Das war für uns ein neues Terrain, dass sie sich der Medien bedient haben. Deshalb ist auch meine heutige Sichtweise, dass der Staat dagegen halten muss mit einer ähnlichen Öffentlichkeitsarbeit, um „die Möbel gerade zu rücken“. So sind seinerzeit viele Dinge, die die Verteidiger in den Raum gestellt haben, leider stehen geblieben, und vor allem junge Leute haben das geglaubt. DK: Wie wurde die Justiz in den Medien dargestellt? P: Wir wurden als unmenschlich, als radikal dargestellt, als Leute, die auf die Menschenwürde keine Rücksicht nehmen, über Leichen gehen, würde ich sagen. Das erinnert mich ein bisschen daran, wie die Polizei heute für die Sache „Stuttgart 21“ beurteilt wird, obwohl sie vom Grundsatz her auf Deeskalation aus ist.

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Dass es polizeiliche Übergriffe gegeben haben mag, das wird von uns untersucht. Aber wir dürfen nicht automatisch eine Seite von vornherein zum bösen Buben stempeln. Das hat mich damals unheimlich gestört, dass man der Justiz alles Böse zugetraut hat. DK: Hat Croissant die Haftbedingungen zur Inszenierung genutzt? P: Das ist eine sehr persönliche Einschätzung von mir. Ich habe Klaus Croissant ein gutes Jahr im Prozess erlebt. Er war ein Schauspieler, aus meiner Sicht. Wenn kein Zuhörer da war, konnte man mit ihm den Prozess voranzutreiben. Wenn nur ein einziger Zuhörer da war, hat er eine Show abgezogen, dass ich mich gefragt habe, was ist jetzt los? Als ob das zwei Menschen waren. DK: Handelte es sich vielleicht um ein neues Selbstverständnis des V ­ erteidigers? P: Das ist das, was zutiefst beeindruckend für mich war, dass die Rechtsanwälte uns in der Öffentlichkeitsarbeit voraus waren. Ich habe meinem Chef Rebmann ein paar Jahre später versucht zu vermitteln, dass wir als Sitzungsvertreter in Stammheim dagegenhalten, also ebenfalls mit den Medienvertretern reden müssen, einfach um ein Gleichgewicht zu erhalten. Wenn wir uns als Justiz zurückhalten, wird das Terrain den Verteidigern überlassen, und dementsprechend ist die Berichterstattung damals in den Medien ausgefallen: Vollkommen einseitig. Man hat mir aufgrund solcher Medienberichte teilweise von den Schulkameraden die Freundschaft aufgekündigt, was ich denn für ein Dreckspatz geworden sei. DK: Aber die Anwälte wurden bereits ab 1972 in den Medien als Komplizen und „Bombenleger“ diffamiert? P: Man muss vielleicht unterscheiden zwischen dem, was die Medien aufge­ sogen haben in dem Sinne, dass sie von Insidern Informationen bekommen haben. Das ist das, was ich gemeint habe, dass wir als Staatsanwälte gegenüber den Medien nicht Stimmung machen sollten, sondern schlicht und einfach Informa­tionen liefern sollten, auch um unsere Positionen darzustellen. Wir sollten den Medien letztlich die Möglichkeit eröffnen, sich ein objektives Bild zu verschaffen, indem man beide Seiten zu Wort kommen lässt. Man hat mit einzelnen Anwälten unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Das war vielleicht am Anfang durch Horst Mahler geprägt, der der Mitbegründer der RAF war. Anwälte haben immer wieder während der gesamten Geschichte der RAF eine wichtige Rolle gespielt, wenn man an Siegfried Haag oder an Eberhard Becker denkt. Mein Eindruck von den Anwälten war dadurch geprägt, dass man Straftaten von ihnen registriert hat, etwa von Mahler, der z. B. die Befreiung von Andreas Baader organisiert hat. DK: Einen Tag nach dem Tod von Holger Meins wurde der Richter Günter von Drenkmann ermordet. P: Das war nicht der allererste RAF-Angriff auf einen Richter. Ich habe es letztlich selber hautnah erlebt, dass die Justiz Angriffsziel war. Nicht nur im Prozess, da hat man den Staat angegriffen, indem man die Justiz versucht hat vorzuführen,

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mit den prozessualen Mitteln, teilweise über die prozessualen Möglichkeiten hinaus. Neu war aber, dass man Justizangehörige als Person angegriffen hat. So hatte die RAF schon im Jahre 1972 dem BGH-Ermittlungsrichter Buddenberg eine Bombe unter das Auto platziert und gezündet. Im Jahre 1974 wurde dann der höchste Richter des Berliner Kammergerichts ermordet. Für mich war es zunächst purer Mord. Mir ist erst später bewusst geworden, dass man ihn entführen wollte. Aber das hätte an der Tatsache nichts geändert, dass man einen Repräsentanten angreift, und zwar als Antwort auf den Tod von Holger Meins. Es war als Bestrafungsaktion definiert. Da sind die Konsequenzen des Todes von Holger Meins deutlich geworden, dass mit seinem Tod und dem, was die Anwälte daraus gemacht haben, nicht nur junge Leute für die RAF rekrutiert wurden, sondern dass nach außen hin jemand bestraft wurde, weil die Justiz angeblich Meins umgebracht hat. Das war die Message, die herüberkommen sollte, dass man als Bestrafungsaktion einen Richter liquidiert. DK: Fühlten Sie sich bedroht? P: Damals überhaupt nicht. Als ich als Haftrichter anfing, habe ich mit großen Augen verfolgt, wie die Richter und die Staatsanwälte geschützt wurden. Knapp zwei Jahre später habe ich selber Begleitschutz bekommen. Allerdings habe ich mich, weil Sie mich so direkt gefragt haben, nie gefährdet gefühlt. Ich war der Auffassung, es lohnt sich nicht, so einen Aufwand für ein „kleines Licht“ zu betreiben. Ein Vorgänger von mir hat gesagt, das will er weder sich noch seiner Verlobten antun, diese Gefährdungssituation, diese Belastung auch durch die Begleitschutzmaßnahmen. Man gibt schon einen Teil seiner persönlichen Freiheit preis. DK: Sie wurden 1975 Haftrichter. Waren Sie sofort bereit, diese Position zu übernehmen? P: Interessant ist, dass dies damals schon mit der RAF zusammenhing. Nach dem zweiten Examen habe ich mich damals bei der Justiz beworben und man hat mir angeboten, sofort anzufangen, wenn ich nach Stuttgart-Stammheim gehen würde. Dort sei der Anwalt Klaus Croissant inhaftiert, der mit seinen Anträgen nahezu allein einen Haftrichter beschäftigen würde. Für die Urlaubszeit müsse man einen zweiten Haftrichter haben, ob ich bereit sei. Ich bin ins Wasser gesprungen. Es war für mich beeindruckend, weil ich wenig praktische Ahnung hatte und damals demütig anerkennen musste, wie sehr ich an meiner Schreibkraft hing, die mir die ersten Gehversuche beigebracht hat. Stammheim mit Schlüssel, mit allem Drum und Dran; ich bin sozusagen ein Insasse des Gefängnisses gewesen. DK: Wie sahen die „Gehversuche“ aus? P: Ich habe jeden Tag die Festgenommenen vorgeführt bekommen, bei denen ich entscheiden musste: kommt in Haft oder kommt nicht in Haft. Das war schon eine gewichtige Entscheidung, jemandem die Freiheit zu nehmen. Das ist mit das Schlimmste, was einem Menschen passieren kann. Da war mir schon wichtig, die

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„Preisklasse“ von meiner Schreibkraft zu hören, ab welchen Straftaten man jemanden einsperrt und wann nicht. Relativ schnell bin ich durch sie eingeweiht worden, innerhalb weniger Tage habe ich das drauf gehabt. DK: Hatten Sie in der Justizvollzugsanstalt ein Büro? P: Im Gefängnis! Ich bin morgens hingegangen an der Wache vorbei in Stammheim, habe meine Schlüssel aus dem Schließfach geholt, mir den Weg aufgeschlossen, wie jeder „Schließer“ dort, und mein Zimmer neben dem Haftstaatsanwalt gehabt. Er hat die Anträge gestellt, ich habe darüber entschieden. DK: Im siebten Stock saßen die Gründungsmitglieder der Roten-Armee-Fraktion? Wie würden Sie ihre Haftbedingungen beschreiben? P: Ich habe das nur berichtet bekommen. Schon damals habe ich von „Isolations­ folter“ gehört und habe aus allem, was ich gehört habe, eindeutig schließen können, dass in Stammheim jedenfalls nicht gefoltert wurde. Dass im Gegenteil im siebten Stock Haftbedingungen geherrscht haben, ich habe es schon angedeutet, die für „meine Häftlinge“ einmalig gewesen wären. Damals habe ich gedacht, das darf nicht wahr sein. Das Gleichbehandlungselement, das mir heilig ist – keine Sonderbehandlung für irgendeine Gruppe von Inhaftierten –, wurde nicht umgesetzt. Die RAF-Gefangenen hatten im siebten Stock ungerechtfertigte Privilegien. DK: Meinen Sie damit das Fernsehen oder die Bücher? Von den Anwälten wurde kritisiert, dass die Kommunikationswege andere gewesen seien, beispielsweise hätten die RAF-Mitglieder nicht am offiziellen Hofgang teilnehmen können. P: Das ist eine Argumentation, die mir damals nicht geläufig war. Ich hätte auch eher unterstellt, dass man ihnen diese Möglichkeit geboten hat. Selbst wenn dem so gewesen wäre, Männlein und Weiblein zusammen zu lassen, ist für einen Vollzug ein absolutes Unding. Da stehen Leuten, die für die Gefängnisse verantwortlich sind, alle Nackenhaare hoch, nicht unter irgendwelchen geschlechtlichen Aspekten, obwohl auch das sicher Fragezeichen aufgeworfen hat. Aber jetzt speziell unter dem Aspekt, dass Mitbeschuldigte gemeinsam eingesperrt worden sind. Wir haben das für Gefängnisse typische Trennungsgebot bei Mittätern. Sie werden auseinander gehalten, dass sie eben nicht kommunizieren können, um sich zum Beispiel nicht für einen Prozess abstimmen zu können, der ins Haus steht. Gerade das Gegenteil von dem, was wir sonst an Dingen exerziert haben, ist den RAF-Gefangenen gewährt worden. Z. B. „Umschluss“, wie der tägliche Kontakt hieß, das ist bei anderen nicht möglich, die nur in ihrer Zelle sitzen dürfen. Das haben die RAF-Häftlinge aus meiner Sicht damals mit ihren Hungerstreiks erkämpft. DK: Warum kam es zu diesem Umschluss? P: Da hätten Sie sicher mit dem Richter Kurt Breucker den richtigen Mann gehabt. Ich habe immer gerätselt, warum diese Privilegien gewährt wurden. Die Richter waren wohl der Auffassung, dass man den Häftlingen gewisse Elemente zugestehen müsse, um den Prozess zu beruhigen.

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DK: Mehrere Gutachter hatten die Haftbedingungen vor allem in Köln-Ossendorf kritisiert. P: Ich kenne die Haftbedingungen in Köln-Ossendorf noch weniger als die im siebten Stock in Stuttgart-Stammheim, ich hatte mir nur davon erzählen lassen. Ich habe es jedenfalls so verstanden, dass man in Köln-Ossendorf mit einem Sondertrakt schon eher von Isolation sprechen konnte. In Stammheim war das nicht der Fall. Es gab in meinen Augen auch Gutachter, die „pro RAF“ gedacht haben, wo man den Eindruck hatte, das waren für die RAF wohlmeinende Gutachter. DK: Wie haben Sie die Strafrechtsänderungen Ende 1974 beurteilt? P: Ich habe im Jahre 1975 bei der Justiz angefangen und eigentlich nur registriert, dass es diese Veränderungen gab. Wenn Sie Stammheim an einem Sitzungstag erlebt und gesehen haben, wie die Verteidiger agieren, erschienen diese Änderungen logisch. Allein sich vorzustellen, dass die Zahl der Verteidiger nicht beschränkt worden wäre, dass darüber hinaus noch die Möglichkeit bestanden hätte, dass jeder jeden verteidigen kann, und dass es die Angeklagten in der Hand gehabt hätten, den Prozess per Hungerstreik und Verhandlungsunfähigkeit zu torpedieren, dann wäre dieser Prozess nicht durchführbar gewesen, ganz eindeutig. DK: Konnten Sie als kritischer Jurastudent akzeptieren, dass eine Verhandlungsführung in Abwesenheit der Angeklagten möglich ist? P: Da bin ich vielleicht damals schon zu staatstragend gewesen. Der Staat darf sich nicht aus der Hand nehmen lassen, einen Prozess zu führen. Es darf nicht von dem Willen der Angeklagten abhängen, ob der Prozess unterbrochen wird oder nicht. Die Häftlinge hatten es vor der Gesetzesänderung in der Hand: sie brauchten nur einige Tage Hungerstreik betreiben, dann war der Prozess wegen Verhandlungsunfähigkeit zu Ende. Diesen Spagat zwischen Wahrung der Beschuldigtenrechte und der Verhinderung einer Torpedierung des Prozesses hinzubekommen, ist schwierig. Das war fast „Notwehr“. Ich hoffe, Sie spüren, dass ich damals schon kritisch hinterfragt habe, ob man beispielsweise die Beschuldigtenrechte zu sehr beschneidet. Nur es gab keine Alternative dazu. Die sehe ich bis heute nicht. Es müssen aber gewisse Mindeststandards aufrechterhalten werden – etwa dass der Angeklagte die Gelegenheit haben muss, zur Sache auszusagen; außerdem muss er einen Verteidiger haben, der seine Interessen wahrnimmt. Das war für mich die einzige Möglichkeit, so einen Prozess überhaupt durchführen zu können. DK: Gab es tatsächlich einen „Staatsnotstand“? P: Ich habe vorher schon, hoffe ich, die Anführungszeichen bei Notwehr mitgesprochen. Natürlich war das keine Notwehrlage, sondern man hat reagiert, weil das sonst ein untragbarer Zustand gewesen wäre, ein Prozess mit so vielen Angeklagten und Sitzungstagen. Er hat fast zwei Jahre gedauert, ohne diese Gesetzesänderungen wäre er nicht durchführbar gewesen. Übergesetzlicher Notstand ist das Stichwort für andere Dinge, die aktuell eine Rolle spielen, z. B. ob es möglich

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sein soll, ein Flugzeug abzuschießen, etwa bei terroristischen Angriffen. Es geht dabei grundsätzlich um die Frage, ob hierdurch größerer Schaden verhindert werden kann. Ich bin aber der Auffassung, dass der Staat für sich den übergesetzlichen Notstand nicht reklamieren darf. Das ist eine sehr persönliche und harsche Position, die auf einen Aufsatz von Eberhard Foth zurückgeht, der meines Erachtens zu Recht geschrieben hat, dass ein Staat in einer solchen Situation Gesetze machen muss, um diesem Notstand Herr zu werden. Ein Beispiel ist das Abhören der Verteidigergespräche in Stammheim. Noch heute zucke ich zusammen, weil das elementare Dinge unseres Rechtsstaats sind. Der ungestörte Kontakt zwischen Verteidigung und Mandant ist mir heilig. Dafür nehme ich auch Dinge hin, die uns vielleicht Schwierigkeiten machen, etwa dass Anwälte teilweise zu Handlangern von Terroristen werden. Wir haben das nicht nur bei Terroristen, sondern auch bei normalen Verbrechern, dass sich Anwälte missbrauchen lassen oder erpressbar sind. Wenn ich versuche zu gewichten, dann ist es mir lieber, dass ich diese Gefahr ertrage, als dass ich Gesetze verletze und so dauerhaft Schaden verursache. Dieses Abhören von Verteidigergesprächen hat bis heute Spuren hinterlassen. DK: Zu Beginn des Stammheim-Verfahrens wurden drei Verteidiger ausgeschlossen. P: Diesen Verteidigerausschluss halte ich für ausgesprochen wichtig, wie ich der Auffassung bin, ein Verteidiger kann nicht mehrere Mitangeklagte vertreten, weil er hierdurch in Gewissenskonflikte kommt. Das ist zum Schutz des Angeklagten, aber auch des Verteidigers. Wenn er bei Mittätern zwei oder drei gemeinsam verteidigt, kommt es zu gewissen Konstellationen, in denen sich die Leute gegenseitig die Schuld zuschieben. In ähnlicher Form war dies bei dem Ausschluss der Verteidiger der Fall. Sie konnten nur ausgeschlossen werden, weil sie im Verdacht standen, sich an der Straftat der Mandanten beteiligt zu haben. So war es bei Croissant. Diese Anwälte sind einfach über das, was man an gesetzlichen Verteidigungsstrategien respektieren muss, hinausgeschossen und haben sich selber strafbar gemacht. DK: Einzelne Anwälte vertreten die Position, dass sie lediglich das Recht wahrgenommen hätten, allen Angeklagten Informationen zukommen zu lassen. P: Die Argumentation ist nicht neu für mich. Das war damals Bestandteil des gesamten Croissant-Prozesses. Tun sie etwas Rechtmäßiges? Sind sie im Sinne ihrer Mandanten verpflichtet, dieses Informations-System aufrechtzuerhalten, oder ist das strafbar? Wir haben damals differenziert. Hungerstreik, dessen Organisation und Durchführung wurden, was dieses Info-System betraf, außen vor gelassen, waren also nicht strafbar. Aber wer die Entwicklung dieses Info-Systems sieht, wie und auf wessen Wunsch es entstanden ist, welchen Zweck es hatte, dann wird deutlich, dass es im Übrigen zur Aufrechterhaltung der Kampfbereitschaft der RAF gedient hat. Das Info-System galt nicht nur zwischen den Häftlingen, sondern die Informationen wurden durch die Kuriere auch zu den im Untergrund lebenden Terroristen gebracht.

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DK: Auf wessen Wunsch ist das Info-System eingerichtet worden? P: Ich meine, es war ein Wunsch von Andreas Baader, der sich speziell an Ströbele gewandt hatte mit dem Argument, wir brauchen das, um uns austauschen zu können. Das, was zwischen Mittätern verboten ist, nämlich der Informationsaustausch, das gilt auch für den Schriftverkehr. Wenn sie die Papiere gesehen hätten, das war nicht nur ein Austausch, sondern eine Anleitung zur Fortsetzung des Kampfes. Da sind Papiere gewesen, wie verhält man sich als Guerilla, wie baut man Bomben und Ähnliches. Das war schlicht und einfach, um die Mannschaft fit zu halten für die geplante erzwungene Freilassung, um dann draußen den Kampf fortzusetzen. H: Nach Aussage von Herrn Groenewold und Herrn Ströbele sind Informationen ausgetauscht worden, die aus Presseerzeugnissen stammten. P: Ich habe das anders in Erinnerung. Man muss vielleicht folgendes sagen. Die erste Zentrale war in Hamburg bei Rechtsanwalt Groenewold. Die spätere Zentrale, die dazu übergegangen ist, nicht nur Papier, sondern auch Gegenstände bis hin zu Waffen zu schmuggeln, war das Croissant-Büro in Stuttgart. In allen Urteilen steht, dass vier Anwälte bereit waren, sich an diesen Papierverteilungen zu beteiligen. Es war nicht so, dass man diese Infos nur mit der Anwaltspost verschickt hat, sondern diese wurden auch bei Anwaltsbesuchen übergeben. Das waren mehrere Anwälte, um die Mandanten bedienen zu können. Neben Croissant, Ströbele und Groenewold war es auch noch Eberhard Becker aus Heidelberg, der die RAFInhaftierten versorgt hat. Sie haben das arbeitsteilig erledigt, deshalb möchte ich nicht groß differenzieren. Alle vier sind wegen dieser Vorgehensweise – m. E. zu Recht – verurteilt worden, geprüft bis zum BGH. Man kann vielleicht von der Intensität differenzieren. Aber alle haben dasselbe gemacht. Ströbele hat die geringste Strafe und Croissant die höchste bekommen. Ich würde eine große Differenzierung machen zu den Anwälten Arndt Müller und Armin Newerla, die in meinen Augen etwas getan haben, das mit Informationsaustausch überhaupt nicht mehr erklärbar ist. Sie haben Gegenstände bis hin zu Waffen transportiert. DK: Haben Sie Ihre Informationen durch die Zellendurchsuchungen erhalten? P: Das waren nicht ausschließlich Beschlagnahmungen in Zellen. Auch bei Durchsuchungen in den Kanzleien hat man teilweise Materialien gefunden. DK: War angesichts einer „Blockanklage“ eine Blockverteidigung notwendig gewesen? P: Der bereits schon früher und noch heute von den Verteidigern benutzte Begriff „Blockverteidigung“ ist ein falscher Ansatz. Es gab keine Blockanklage, sondern wir haben – damals und bis heute – jeden Angeklagten nicht wegen Beteiligung an einem RAF-Anschlag angeklagt, weil er Mitglied war und deshalb alles strafrechtlich mit zu verantworten hätte, sondern wir haben jedes Mal nach der persönlichen Schuld jedes einzelnen Angeklagten geschaut. Es gab keine Block­

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anklage gegen die RAF, und wir haben immer nur eine Verurteilung erreicht, wenn wir eine konkrete Spur zu einer konkreten einzelnen Tat hatten. Sie sehen es jetzt zum Beispiel aktuell an Verena Becker. Wir wussten, dass sie während des BubackAttentats Mitglied der RAF war. Wenn man die Blockanklage als gegeben ansehen würde, dann hätte Verena Becker schon damals nur deshalb wegen Be­teiligung am Buback-Attentat angeklagt und verurteilt werden müssen, weil sie Mitglied war. DK: Gab es etwa vor dem Hintergrund der konspirativen Bedingungen eine Beweisnot? P: Der subjektive Tatbeitrag kann letztlich fast nie positiv bewiesen werden. Wie wollen Sie erfahren, wie ein Angeklagter, der keine Angaben macht, etwas machen wollte oder wie er es aus seiner Sicht subjektiv gemacht hat? Entscheidend waren für uns – wie bei anderen Straftätern – die objektiven Tatbeiträge. War jemand überhaupt an einer Tat beteiligt? Hat er einen Fingerabdruck hinterlassen? War er von einem Zeugen im Zusammenhang mit der Tat gesehen worden? Hat er ein Tatfahrzeug angemietet? Hat er das Motorrad in Bezug auf das Buback-Attentat irgendwo bewegt? Das sind die Elemente, mit denen wir objektive Feststellungen treffen und sagen können, dieses Motorrad wurde drei Tage vor der Tat gekauft und derjenige, der mit dem Fahrzeug gesehen worden ist, ist Bestandteil des Täterkommandos. Ob er selber beim Schießen auf dem Motorrad saß oder das Motorrad gelenkt hat, ist dann schon zweitrangig. Das bedeutet, wir haben in jedem Einzelfall nur dann angeklagt, wenn wir eine konkrete Spur hatten. Ob jemand subjektiv eingebunden war, das war eine Selbstverständlichkeit. Bei einer Gruppierung, die Anschläge verübt, ist derjenige, der unmittelbar am Tatgeschehen beteiligt ist, auch in den Tatplan involviert. Das ist keine Sonderrechtsprechung für die Gruppe der RAF, sondern das ist bei uns Normalität. Darauf lege ich großen Wert, weil immer wieder die Behauptung auftaucht, dass wir in Bezug auf die RAF eine Sonderrechtsprechung gehabt hätten. Das trifft nicht zu. DK: Reichte demnach ein Fingerabdruck als Indiz für eine Mitgliedschaft in einer terroristischen Gruppe und für eine Tatbeteiligung aus? Wurde hierdurch die Tat nicht ins Vorfeld verlegt? P: Jetzt haben Sie mehrere Begriffe benutzt, die nicht kompatibel sind. Wir müssen die Mitgliedschaft unterscheiden von den Tatbeteiligungen an einem konkreten Anschlag. Wenn man zum Beispiel einen Fingerabdruck in einer konspirativen Wohnung gefunden hat, bei der nur RAF-Mitglieder Zugang hatten, dann ist der Fingerabdruck ein Beweis dafür, dass der Verursacher Mitglied ist. Dann ist er nach § 129 a StGB als Mitglied von uns verfolgt worden. Davon unterscheidet sich der Fingerabdruck, den man zum Beispiel von einem Peter-Jürgen Boock in einem Fluchtfahrzeug im Entführungsfall Schleyer gefunden hat. Es war ein Auto, das gezielt für die Entführung Schleyers vom Tatort weg benutzt worden war. Oder es gab einen Fingerabdruck von ihm auf einem Videoband, auf dem der Entführte Hanns-Martin Schleyer zu sehen war. Dann haben wir einen konkreten Beweis für eine konkrete Tat. Das genügt, und zwar nicht nur bei RAF-Leuten. Das ge-

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nügt bei uns genauso bei anderen Gruppierungen oder bei Mittäterschaften, etwa bei einer Bande von Räubern. DK: Einige Anwälte haben kritisiert, dass Sie von der Kollektivitätsthese ausgingen. P: Das ist etwas – ich will den Begriff Unsinn nicht benutzen –, wo ich mich immer wieder schwer tue. Der Begriff Kollektivität ist keiner, der von uns stammt. Das ist ein Begriff, den die RAF selber geboren hat. Wir wissen das seit der Verhaftung von Angelika Speitel im Jahr 1978. Kollektivität bedeutet, dass innerhalb der Gruppe so lange diskutiert wird, bis auch der allerletzte einverstanden ist mit dem, was man vorhat. So hat die Gruppe Kollektivität definiert. Das grenzt an Kollektivschuld. Da muss man sehr sauber unterscheiden. Wir haben aus dieser Kollektivität nicht gefolgert, dass alle RAF-Mitglieder an allen RAF-Taten beteiligt waren. Das versuchen zwar manche immer so darzustellen, aber das ist unfair, weil es objektiv nicht zutraf. Wir haben diese Kollektivität allenfalls dann als Argument eingesetzt, wenn wir gesagt haben, jemand hat eine Spur – etwa einen Fingerabdruck – in Bezug auf ein konkretes Attentat hinterlassen, dann war er in dieser engeren Gruppierung der RAF beteiligt, die das Attentat verübt hat. Die RAF hatte zu ihren Hochzeiten zum Beispiel 22 Leute im Untergrund gehabt. Wir wussten auch, dass die Taten selbst in der Regel von einem kleineren Kreis verübt worden waren, von sechs oder sieben Personen, während die anderen nicht beteiligt waren. Wenn wir bei dieser kleineren Gruppierung in Bezug auf einen Anschlag einen Fingerabdruck an einem Motorrad, in einem Kaufvertrag, am Tatort oder wo auch immer gefunden haben, dann haben wir gesagt, zu Recht meine ich, dass diese kleine Gruppe in sich geschlossen war, dass die Beteiligten über alles Bescheid wussten. Das ist das einzige Argument, das wir am Rande benutzt haben. Aber es ist mir heilig, aus der Kollektivität keine Kollektivschuld zu machen, das wäre absolut falsch. DK: Der Justiz wurde teilweise vorgeworfen, sie sei von einer Hierarchie innerhalb der RAF ausgegangen. P: Peter-Jürgen Boock hat in der letzten Zeit ausgesagt, dass innerhalb der Gruppe grundsätzlich so lange diskutiert worden ist, bis man sich einig war. Gleichwohl hat man nicht alle in dieses Wissen einbezogen, auch um Verrat zu verhindern. Die Gruppe, die unmittelbar eine Tat vorbereitet und ein Attentat ausgeführt hat, wurde möglichst klein gehalten. Aber innerhalb dieser kleinen Gruppe hat dann die Kollektivität gegolten. DK: Dass die Kronzeugen Volker Speitel und Hans-Joachim Dellwo ein spe­ zifisches Interesse hatten, bestimmte Phänomene darzulegen, erklärt sich aus ihrer Funktion. P: Man sollte nicht automatisch unterstellen, dass ein Kronzeuge sich nur Vorteile verschaffen will, indem er Unwahres behauptet. Meine Erfahrung ist eine gegenteilige. Das sind auch Leute, wenn sie anfangen zu reden, die dann schon sehr

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genau differenzieren und die eher noch mit angezogener Handbremse aussagen, jedenfalls nicht zu viel Belastendes aussagen. Das ist eine gängige Erfahrung, die ich auch bei allen Vernehmungen gemacht habe, dass die Leute eher zurückhaltend sind mit belastenden Aussagen. DK: Wäre der Stammheim-Prozess ohne Strafrechtsänderungen nicht möglich gewesen? P: Ohne die Gesetzesänderungen im Jahre 1974 wäre der Baader-Meinhof-Prozess nach meiner Überzeugung nicht durchführbar gewesen. Mit dieser „strei­tigen Konfliktverteidigung“, die darauf angelegt war, nicht zu verteidigen, sondern die Justiz, den Staat via Prozess anzugreifen, ihn möglichst zu instrumentalisieren, die Justiz lächerlich zu machen – so habe ich es zumindest subjektiv verstanden – hatte man alle Möglichkeiten prozessualer Art genutzt, um den Prozess zu torpedieren. Zum Beispiel wäre über einen Hungerstreik eine sofortige Sabotage des Prozesses möglich gewesen. Ich will noch eines aufgreifen: Die Briefzensur und den „Leserichter“. Die Info-System-Erfahrungen aus den Prozessen gegen Groene­wold, Ströbele und Croissant haben dazu geführt, dass der Staat reagiert hat, etwa mit der Trennscheibe bei den Verteidigerbesuchen. Er hat wieder reagiert, nachdem man herausbekommen hat, dass die späteren Mitglieder des Croissant-Büros Müller und Newerla sogar u. a. Waffen transportiert hatten. Dementsprechend hat man, um solche Übergaben zu verhindern bei der Anwaltspost, die eigentlich nicht gelesen werden darf, eine Kontrolle eingebaut, indem man die Verteidigerpost über einen so genannten Leserichter schickte, der nur bei Terroristen diese Post darauf überprüfen konnte, ob verbotene Mitteilungen gemacht wurden. Der „Leserichter“ war aber nicht im Strafverfahren eingebunden und konnte deshalb die Verteidigerstrategie nicht erkennen oder verwerten. Das ist etwas, wo man die Luft anhält, weil das eigentlich ein Verstoß gegen unser Prinzip ist: „Freier Verkehr zwischen Verteidiger und seinem Mandanten“. Aber das war nach den Erfahrungen, die wir mit dem Info-System gemacht haben, sozusagen eine „Notwehrreaktion“ des Staates, um dieser Sache Herr zu werden. Das gilt erst recht für die Trennscheibe, die zwar das Gespräch ermöglichte, aber keine unmittelbare Übergabe von Gegenständen. DK: Musste der „Leserichter“ alles lesen? P: Er musste sich vergewissern, dass die Post keine verbotenen Informationen enthält. Das konnte man kursorisch durchlesen. Er musste vor allem prüfen, dass keine verbotenen Gegenstände in dem Brief waren. Das waren letztlich die Sorgen, die dahinter gesteckt haben und die berechtigt waren, weil eben teilweise über die Verteidigerpost Infomaterial verteilt worden war. DK: Im Film von Reinhard Hauff gibt es die Szene, in der Jan-Carl Raspe per Post eine Schlinge erhalten hat. Ist dies durch die Zensur gegangen? P: Ich kenne die Geschichte nur aus Erzählungen. Ich halte das für denkbar. Ich wüsste nicht, wie ich das interpretieren sollte. Wenn der Richter den Strick nicht

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weitergeleitet hätte, was hätte man daraus wieder Negatives abgeleitet. Es wurde auch interpretiert, die Weitergabe sei sozusagen eine Unterstützung durch den Richter: „Bringe dich tatsächlich um“. Das würde ich so nicht stehen lassen und da kenne ich auch Theodor Prinzing viel zu gut. Das möchte ich glattweg ausschließen. DK: Zahlreiche Anwälte beanstandeten, dass man systematisch ihre Rechte abgebaut habe. P: Natürlich, ihre Rechte sind auch beschnitten worden. Etwa der un­kontrollierte Zugang zum Mandanten, sei es der persönliche Kontakt, der durch die Trennscheibe unterbrochen wurde, oder der ungestörte Kontakt via Post, der durch den „Leserichter“ unterbrochen wurde. Man muss aber die Vorgeschichte erklären. Wir waren vollkommen konsterniert, jedenfalls ich, denn immerhin ist der Anwalt auch ein Organ der Rechtspflege. Wer bis zum damaligen Zeitpunkt den Anwälten vertraut hat, dass sie sich keinen Missbrauch erlauben und sich auch nicht zu irgendwelchen Maßnahmen missbrauchen lassen, wurde enttäuscht. Es hat unter den Anwälten einige gegeben, die sich zum Instrument ihrer Mandanten haben missbrauchen lassen. Als man diesen Missbrauch erkannt hat und dieser auch in strafrechtlichen Verfahren durch Urteile festgestellt wurde, hat man versucht, Mechanismen zu schaffen, um diesen Missbrauch zu verhindern. DK: Insgesamt haben drei Anwälte den Weg in die Illegalität gewählt. Mitte 1975 liefen aber gegen 51 Anwälte Disziplinarverfahren. P: Da muss ich bei der Frage, wie die Anwälte im Einzelnen positioniert waren, etwas mehr differenzieren. Sie sagen nur, wer im Untergrund gewesen ist. Ich würde wahrscheinlich auch auf drei oder vier kommen, die tatsächlich aus dem Untergrund heraus agiert haben: Horst Mahler, Siegfried Haag, Eberhard Becker. Der Anwalt Jörg Lang ist in den Nahen Osten abgetaucht, so habe ich es verstanden, weil er sich einer strafrechtlichen Verfolgung à la Croissant entziehen wollte. Ich vermute, er ist genauso in das Info-System eingebunden gewesen. Wenn man dann versucht, zwischen den Anwälten weiter zu differenzieren, dann gab es welche, die lediglich agitiert haben, etwa in Bezug auf den Hungertod von Meins oder später in Bezug auf die Todesfälle in Stammheim am 18. Oktober 1977. Dann gab es solche, die angefangen haben, die RAF in strafbarer Weise zu unterstützen, die aber nicht in den Untergrund gegangen sind, sondern ihren Anwaltsjob missbraucht haben. Die anderen waren weg, sind nicht mehr Anwälte gewesen, sondern nur noch Terroristen. Aber problematisch waren für uns auch diejenigen, die Anwälte geblieben sind und ihre Position genutzt haben, um die RAF zu unterstützen, indem sie Kassiber geschoben und Waffen transportiert haben. Dabei gibt es verschiedene Stufen der strafbaren Hilfe für die RAF, wobei die Übergänge teilweise fließend sind. Es gibt zunächst den Übergang von den Unterstützern wie Croissant, Ströbele, Müller, Newerla hin zu Gehilfen der Täter. Wie Haag zum Beispiel beim Überfall auf die Botschaft in Stockholm, der als RAF-Anwalt gleichzeitig verteidigt, aber schon ein konkretes Attentat unterstützt hat. Er ist wegen Beihilfe

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zu diesem Attentat auch verurteilt worden. Dann die letzte Stufe, dass ein Anwalt Mitglied der RAF im Untergrund wird. H: Gibt es vielleicht noch eine Stufe vor A, und zwar diejenigen, die einen neuen Typus des Anwalts wollten? P: Die Agitation ist noch immer der legale Bereich, wo ich keine strafrecht­liche Situation erkennen kann. Das sind diejenigen, die aktiv verteidigen mit allen zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten. Dazu zähle ich das, was vielleicht früher Agitation genannt wurde und heute „Litigation-PR“ oder prozess­ begleitende Medienarbeit heißt; ein Beispiel war m. E. der Kachelmann-Prozess, wo man als Anwalt tätig wird, nicht um zu verteidigen, sondern um Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben. Das ist für mich alles legal. Das ist etwas, womit wir auch auf der Seite der Justiz umgehen müssen. Entweder mit dem bereits vorhandenen prozessualen Instrumentarium oder mit eigener Medienarbeit. DK: Der Strafverteidiger Hans Dahs hat in den siebziger Jahren die These aufgestellt, man müsse dem staatlichen Strafanspruch entgegenhalten. P: Wenn jemand die aktive Unterstützung für den Mandanten im Sinne von Verteidigung mit legalen Mitteln macht, wozu ich auch die Agitation zähle, im Sinne von „das ist zulässig“, dann müssen wir damit leben. DK: Haben die Anwälte in den RAF-Verfahren die Strafprozessordnung sorgfältiger als andere gelesen? P: Das trifft sicher teilweise zu, und zwar im Gegensatz zu anderen Verteidigern, die diese Möglichkeit bis dahin nicht erkannt hatten, dass man die Straf­ prozessordnung nutzen kann, um einen Prozess zu torpedieren, ein Gericht zu verunsichern, Druck auszuüben oder vielleicht um ein Gericht gefügig zu machen. Solche Elemente werden bis heute von Verteidigern eingesetzt, indem man ent­weder kooperativ ist, um für den Mandanten Optimales herauszuholen, oder konfrontativ ist, indem man Schwierigkeiten macht, um auch wieder etwas für den Mandanten herauszuholen. Das muss jeder Anwalt für sich selber ausmachen. Aber in der Tat, gerade die Verteidiger im Baader-Meinhof-Prozess haben die prozessualen Möglichkeiten genutzt, wie es früher andere Verteidiger nicht taten. Das, was heute unter „Konfliktverteidigung“ bei uns läuft, das ist damals entwickelt worden. DK: War das das Neue an diesen Verteidigern? P: Das war etwas, was ich mit großen Augen beobachtet habe, dass wir Neuland betreten haben. Nicht in dem Sinne, dass es Neuregelungen gegeben hätte, sondern dass bestehende Regelungen neu definiert und benutzt worden sind. Es hieß immer wieder, es würde „Stammheimer Landrecht“ gesprochen, weil man auf diese neue Vorgehensweise der Verteidiger erst auch eine neue Positionierung finden musste. DK: Erklärt sich das Selbstbewusstsein der Anwälte vor diesem Hintergrund?

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P: Sie haben sich m. E. gegenseitig „hoch gepusht“ und gemerkt, dass man mit dieser neuen Methode auch Dinge erreichen konnte, und das erhöht das Selbstbewusstsein, so wie wir auf staatlicher Seite im Laufe der Zeit wieder Boden unter die Füße bekommen haben, als wir gemerkt haben, wie der Hase läuft. Man läuft in der ersten Phase der Konfrontation Gefahr, dass man mit Reaktionen überzieht. Man muss sich zunächst selber positionieren, um herauszufinden, was vernünftig und verhältnismäßig ist. Eigenes Selbstbewusstsein haben wir dann auch relativ schnell wieder gefunden, indem wir wieder souveräner geworden sind. Das war sicherlich das Spannende im Baader-Meinhof-Prozess, dass die neue Vorgehensweise von Seiten der Verteidigung eine gewisse vernünftige Reaktion von Seiten der Staatsanwaltschaft und der Richter erfordert hat und wir das dann auch relativ schnell gefunden haben. DK: Bestand zu Beginn des Stammheim-Verfahrens die Sorge, dass der Prozess platzen könnte? P: Zwar bin ich nur Außenstehender gewesen, der das Verfahren mit großen Augen begleitet hat, aber Beweisnot war für mich zu keinem Zeitpunkt das Thema. Es ging im Prozess, soweit ich ihn beobachtet habe, weniger darum, die Beweissituation der Bundesanwaltschaft infrage zu stellen, sondern darum, eine Art W ­ iderstandsrecht für die RAF zu reklamieren – eben aufgrund der Vorkommnisse in Vietnam oder der Vorkommnisse in der NATO. Damit meinte man, sich in einer Art Kriegszustand zu befinden. DK: Hat die Justiz die Kriegserklärung der RAF angenommen? P: Ich hoffe und gehe davon aus, dass das nicht so war. Jedenfalls tue ich alles, dass wir der RAF das, was sie mit ihrer „Kriegserklärung“ im Jahr 1977 in Bezug auf den „Polizeistaat“ vielleicht vorübergehend erreicht hat, von Seiten der Justiz nicht zu ermöglichen, nämlich eine Sonderbehandlung. Ich glaube, wir hätten ihr auch zu viel Ehre angetan, sie auf diesen Sockel des Kriegsgegners zu stellen. Das hätte die RAF in einem Maß überhöht, wie es der Gruppe nicht zugestanden hätte. DK: Aber in den Medien wurden vielfach „Kriegserklärungen“ formuliert und die RAF-Mitglieder als „Staatsfeinde Nummer eins“ tituliert. P: Ob das von den Medien so gestaltet wurde, will ich nicht bewerten. Aber für mich ist klar, dass man sich als Staat bei solchen Angriffen zunächst selber positionieren muss und vielleicht dazu neigt, im ersten Augenblick mehr zu machen als zu wenig; dies zeigen m. E. auch die Reaktionen der Amerikaner nach dem 11. September 2001, etwa Guantanamo. Das ist der fast denknotwendige Effekt, dass man zunächst einmal überreagiert. Aber das war bei uns kein Dauerzustand. Schon damals hat sich relativ schnell eine Normalität, eine vernünftige Reaktion entwickelt, obwohl man den Eindruck hatte, der Staat hat vorübergehend ge­ wackelt, bis er sich wieder positionieren konnte. Der Staat war auf diese Angriffe nicht gefasst.

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DK: Wie haben Sie die Angeklagten zu Beginn des Stammheim-Verfahrens respektive am Ende gesehen? P: In der Phase, in der ich selber dort war, haben Sie eigentlich nie das Wort ergriffen. Sie waren nur anwesend, haben sich dann teilweise untereinander unterhalten. Ich hatte den Eindruck, ihnen ging es nicht um den Prozess, sondern nur um die Gelegenheit, Freunde in den Zuhörerreihen zu sehen oder den Kontakt zu den Verteidigern zu haben. DK: Traf das von den Medien gezeichnete Bild von Baader zu? P: Ich war durch die Berichte darauf programmiert, dass er weniger der geistige Führer sei, eher derjenige, der die Fakten geschaffen hat, der die Theorie in die Tat umgesetzt hat. Dieses Bild hatte ich jedenfalls im Prozess. Das hat er weder in die eine noch in die andere Richtung verändert. DK: Und Ulrike Meinhof als der theoretische Kopf? P: Ich kann Ihnen nur das wiedergeben, was ich damals in allgemeinen Berichten gelesen oder aufgrund von Aussagen von Leuten erfahren habe. Ich habe jede Menge Papiere gelesen, gerade im Croissant-Verfahren. Das hat mich schon zutiefst beeindruckt, wie Ulrike Meinhof die geistige Führerin war – neben der Tatsache, dass sie ihre Zwillinge im Stich gelassen hat –, die am Anfang die Grundsatzpapiere geschrieben hat. Sie war diejenige, die auch akzeptiert wurde. Und wie man sie später demontiert hat, das dokumentieren auch mehrere Papiere, die wir gefunden haben, die den Streit zwischen ihr und Ensslin zeigen, wie sie fertig gemacht wurde. Das hat mich dann schon mitgenommen, wie man letztlich auch den Selbstmord erklären könnte. Ich kann mich erinnern, dass sie von Gudrun ­Ensslin laufend beschimpft wurde: „Du bist immer noch das bourgeoise Schwein, du musst deine Vergangenheit hinter Dir lassen. Du begrüßt ja sogar das Gefängnispersonal, das ist nicht so wie wir uns verhalten, Du musst dazu lernen, für dich gibt es nur eins, RAF oder Tod“. Und sie hat dann zurückgeschrieben: „Du hast recht, ich bin immer noch dieses intellektuelle Schwein, ich muss lernen, wie Ihr zu sein, auch für mich gibt es nur eins: RAF oder Tod“. Wenn man dann hinterher den Tod bei ihr registriert, dann ist die Linie für mich klar gewesen. DK: Und bei ihrem Suizid? P: Bei jedem Tod habe ich die Luft angehalten. Beginnend mit dem Tod von Holger Meins. Ich habe relativ nah auch den Tod von Siegfried Hausner erlebt, der von Stockholm mit schweren Verbrennungen nach Deutschland gebracht wurde und verstorben ist. Ich habe auch gesehen, was aus so einem Todesfall gemacht wurde im Sinne von medialen Auftritten, man habe die RAF-Leute umgebracht. Das hat sich nach dem Suizid von Meinhof, gerade im Vergleich zu den späteren Fällen am 18. Oktober 1977, relativ schnell beruhigt. Ich habe später die Akten über ihren Tod gelesen, weil diese bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart für mich zugänglich waren. Da war für mich kein Zweifel an ihrem Selbstmord.

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II. Perspektive der Richter

DK: Und als Sie vom Tod der anderen RAF-Gründungsmitglieder im Oktober 1977 erfuhren? P: Ich hatte genau die gleiche Reaktion, nur viel intensiver. Zum einen gepaart mit der Freude, die ich damals als Normalbürger zunächst über Mogadischu empfunden habe, dass dieser Spuk ein Ende hatte. Und zum anderen das Erschreckende für mich, wirklich ein Erschrecken für mich, zu hören, dass die Stammheimer tot sind, weil ich fast geahnt habe, dass das Ärger gibt. Andere haben vielleicht sogar gesagt, sie haben es verdient. Ich war 1978 nach den Todesfällen von Stammheim im Urlaub in Frankreich. Da haben Franzosen mir auf die Schulter geklopft und gesagt: „Habt Ihr toll gemacht, wie Ihr die liquidiert habt.“ Das ist mir sehr an die Nieren gegangen, weil das einer der schlimmsten Vorwürfe ist, den man einem Staat, einem Staatsbediensteten gegenüber machen kann. Dass man jemanden – für dessen Wohl und Wohlergehen man Sorge zu tragen hat – umbringen soll, das war für mich geradezu unvorstellbar. Ich war dann relativ schnell in die Ermittlungen eingebunden – die Staatsanwaltschaft Stuttgart war dafür zuständig gewesen, immer die Staatsanwaltschaft am Ort des Gefängnisses. Wir haben eine Gruppe von sechs Staatsanwälten gehabt, ich war der jüngste und habe hauptsächlich kopiert. Aber ich habe mitbekommen, wie wir ermittelt haben, und es war beeindruckend, dass alle, auch die ausländischen Gerichtsmediziner einhellig der Meinung waren: es waren Selbstmorde und keine Tötung. DK: Baader und Ensslin sollen in den letzten Wochen der Bundesregierung ein Ende des Terrors angeboten haben. Warum ist man hierauf nicht eingegangen? P: Bereits zur Peter Lorenz-Entführung im Jahre 1978 habe ich gesagt, der Staat darf sich nicht erpressen lassen. Das ist zwar schlimm, schlimm für denjenigen, der geopfert wird, siehe Schleyer. Man muss es aber so brutal formulieren. Wenn ein Staat sich wie bei Lorenz erpressen lässt, signalisiert er, dass er erpressbar ist. Ich bin der sicheren Überzeugung, wir hätten keine Schleyer-Entführung gehabt, wenn der Staat bei Lorenz hart geblieben wäre. Das wäre zwar schlimm für Lorenz gewesen, fraglos. Aber das Übel ist ein größeres, wenn man sich einmal erpressen lässt. Und es ist schlimmer geworden. Die Schleyer-Entführung war schlimmer als die Lorenz-Entführung. Von daher gab es gar keine Alternative und das Versprechen der RAF-Mitglieder, wir setzen uns für das Ende des Terrors ein, das war Bestandteil der Strategie, um die Gefangenen frei zu bekommen. Wir versprechen alles, dass wir eben nicht noch Schlimmeres entstehen lassen, sondern sogar dämpfend wirken werden. Die Erfahrung der Vergangenheit war eine andere. Rolf Heißler, der damals bei Lorenz frei gepresst wurde, kam wieder zurück, hat weiter gemacht. Verena Becker ist zurückgekommen, hat weiter gemacht. Darauf konnte man sich nicht verlassen. DK: Wenn Sie jetzt an Stammheim denken, was fällt Ihnen ein? P: Dass der Staat es mit Schwierigkeiten – auch unter Opfern – geschafft hat, diesen Rechtsstaat aufrechtzuerhalten. Stammheim war lange Zeit ein Begriff da-

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für, dass der Staat „wackelt“. Der Staat hat damals Härte gezeigt und mit dieser Entscheidung, so schlimm sie für Schleyer fraglos war, meines Erachtens wieder Boden unter die Füße bekommen und hat gezeigt, dass er nicht erpressbar ist. Wir haben seither keine vergleichbare Erpressung mehr in Deutschland gehabt. DK: Die Justiz würde sich anders verhalten? P: Die Justiz würde sich anders verhalten, fraglos. Ich selber verhalte mich heute anders als ich damals teilweise reagiert und agiert habe. Wir sind souveräner geworden. Wir haben es auch geschafft, was ich vorher angedeutet habe, nicht zum Polizeistaat zu werden, nicht auf Dauer mit Maßnahmen überzureagieren, zum Beispiel mit Abhörmaßnahmen bei Verteidigergesprächen. Wir haben auch insofern eine Souveränität bekommen, dass wir RAF-Leute nicht mehr wie früher anders behandeln bei den Haftbedingungen. Sie haben es vielleicht mitbekommen, dass ich mich strikt dagegen ausgesprochen habe, dass Christian Klar begnadigt wird. Denn jeder andere Kriminelle, mit den gleichen Tatvorwürfen und dergleichen Verurteilung, wäre nicht begnadigt worden. Mir kam es genau darauf an, dass jeder RAF-Mann, jede RAF-Frau genauso behandelt wird wie jeder andere Kriminelle. Wir dürfen weder bei Haftbedingungen und Bestrafungen, noch bei Begnadigungen oder Haftentlassungen für Terroristen eine Sonderbehandlung zulassen. DK: Sie haben über die Rote-Armee-Fraktion ein Buch geschrieben und viele Vorträge gehalten. Ist die RAF Ihr Lebensthema geworden? P: Die Familie spottet schon und manche sagen, ich würde über die RAF reden wie Veteranen des Zweiten Weltkriegs über Stalingrad. Da muss ich auf­passen, in der Tat. Aber ich bin fasziniert, wie hauptsächlich bei jungen Leuten das Thema RAF ein Gewicht hat. Ich kann mir das nur so erklären, dass sie in ähnlichem Maße wie wir damals bei unseren Eltern interessiert waren, wie war es denn im Zweiten Weltkrieg. Dass sie merken, bei ihren eigenen Eltern gibt es etwas ähnliches, ein Schlüsselerlebnis, den „Deutschen Herbst“. Gerade bei Schulklassen ist ein Interesse auch durch Filme sehr groß. Es wäre schade, wenn wir uns – vielleicht wie früher – verweigern würden, Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben. Vielmehr müssen wir die Dinge erklären, auch, um nicht den Anwälten das Terrain zu überlassen.

III. Perspektive der Bundesanwälte

Joachim Lampe

Foto: privat

Geboren im Jahre 1941 1959 Abitur in Salzwedel (DDR) 1960–1964 Jura-Studium in Göttingen; erstes jur. Staatsexamen 1965–1967 Wehrdienst 1967–1970 Referendardienst; zweites jur. Staatsexamen 1970–1972 Richter in Hannover 1972–1974 Referent im Bundesjustizministerium; Mitarbeit an den Strafrechtsänderungen von 1975 Ab 1975 Staatsanwalt bei der Bundesanwaltschaft, zunächst wissenschaftlicher Mitarbeiter Ab 1977 Oberstaatsanwalt 1991–2006 Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe

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Gisela Diewald-Kerkmann (DK): Können Sie sich noch an Ihren ersten Prozess erinnern? Joachim Lampe (L): Mein erster Prozess richtete sich gegen Verena Becker. Sie hatte zusammen mit Günter Sonnenberg – mit der Waffe des Buback-Mordes im Gepäck – im Mai 1977 versucht, sich der Festnahme zu entziehen und dabei Polizisten niedergeschossen. Das Verfahren ist heute wieder aktuell. Verena Becker steht zur Zeit in Stuttgart vor Gericht; Tatvorwurf ist die Ermordung von Generalbundesanwalt Buback im April 1977. Ich hatte Verena Becker und Günter Sonnenberg wegen Mitgliedschaft in der RAF und versuchten Mordes an Polizeibeamten angeklagt. Sie ist wegen versuchten Mordes zur lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden. DK: Sie waren noch recht jung? L: Nein. Ich bin 1975 zur Bundesanwaltschaft gekommen als wissenschaft­ licher Mitarbeiter. Ich war zuvor Richter am Landgericht in Hannover und für drei Jahre abgeordnet. Es hat sich dann so ergeben, dass ich bei der ­Bundesanwaltschaft geblieben bin. DK: Sie waren an etlichen Strafverfahren gegen Mitglieder von terroristischen Gruppen beteiligt. L: Meine erste Anklage richtete sich gegen Brigitte Heinrich… DK: … die Frau von Klaus Croissant. L: Croissant hat sie später geheiratet. Sie hatte in der Schweiz Minen, Handgranaten und andere Waffen von einer Gruppe junger Leute beschafft, die dort in Militärdepots eingebrochen waren, und hat hier die RAF, konkret die Gruppe 4.2., mit diesen Waffen versorgt. Die Beweislage war sehr schwierig. Über Brigitte Heinrich zu reden lohnt sich. 1975 kam gerade der Film „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ ins Kino, und in allen Foyers prangte das Bild von Brigitte Heinrich – Brigitte Heinrich als Mitglied der 68er Bewegung, eine junge Wissenschaftlerin, die vom Staatsschutz, also von uns, im Gefängnis in Lebensgefahr gebracht wurde – so wurde es öffentlich dargestellt. Frau Heinrich wurde wegen der Unterstützung der RAF durch die Lieferung von Waffen verurteilt. Sie wurde später Europaabgeordnete bei den Grünen, damit sie ihre Strafe nicht verbüßen musste. Als Europaabgeordnete hat sie dann zusammen mit ihrem Ehemann Dr. Klaus Croissant, der als Fraktionsassistent der „Grünen“ firmierte, für das MfS der DDR ihre Fraktionskollegen bespitzelt. Das zweite Verfahren betraf Siegfried Haag. Haag war Rechtsanwalt, Verteidiger von Meins, Baader und anderen Terroristen. Nachdem im Jahre 1974 die RAFGruppe um Margrit Schiller festgenommen worden war, hat Siegfried Haag eine neue RAF-Gruppe aufgebaut, deren vordringliches Ziel die Befreiung der inhaftierten Terroristen war. In dieser Vorbereitungsphase haben wir ihn im Mai 1975 verhaftet. Ich habe einen Haftbefehl gegen ihn beantragt. Der Ermittlungsrichter

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hat ihn laufen lassen mit der Begründung, Rechtsanwalt Haag werde seinen Mandanten Andreas Baader nicht im Stich lassen. Am Tag darauf war er dann im terroristischen Untergrund. Ende 1976 wurde er wieder festgenommen. Er hatte bei seiner Festnahme Unterlagen und Notizen bei sich, die belegen, dass zu dieser Zeit die RAF-Gruppierung so weit konsolidiert war, dass sie Terroranschläge ausführen konnte, die dann 1977 als „Deutscher Herbst“ die Republik erschütterten. Wir haben Haag 1977 angeklagt; die Hauptverhandlung dauerte ein Jahr. DK: Können Sie etwas zum Verfahren gegen Sonnenberg und Becker sagen? L: Das Tatgeschehen war ein in sich geschlossener Komplex. Ich habe es vier Wochen nach der Festnahme zur Anklage gebracht. Seinerzeit war es ein Ärgernis, dass die Ermittlungsverfahren so endlos lange dauerten; ich wollte zeigen, dass es in geeigneten Fällen möglich ist, diese Verfahren schnell zur Anklage zu bringen. ­Verena Becker und Günter Sonnenberg waren bereits seinerzeit verdächtig, an der Ermordung Bubacks beteiligt gewesen zu sein. Ich habe insoweit Haftbefehle erwirkt. Die Verdachtslage war aber nicht so weit gefestigt, dass es damals für eine Anklage gereicht hätte. Deshalb wurde das überschaubare und ausermittelte Verfahren wegen der Schießerei in Singen vorgezogen. Verena Becker und Günter Sonnenberg wurden noch im Juni oder Juli 1977 angeklagt, und im Dezember desselben Jahres wurde Verena Becker zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Danach wurde die Hauptverhandlung gegen Günter Sonnenberg wegen desselben Tatvorwurfs durchgeführt. Wir wurden in der Öffentlichkeit massiv angegriffen. Sonnenberg war bei dem Schusswechsel mit der Polizei bei seiner Festnahme aus 90 Metern Entfernung in den Kopf getroffen worden. Uns wurde nicht nur von der RAF und ihren Sympathisanten, sondern von weiten Teilen der Öffentlichkeit vorgeworfen versucht zu haben, Sonnenberg umzubringen und nun einen Verhandlungsunfähigen vor Gericht zu zerren. Das tatsächliche Geschehen, das sich in der Öffentlichkeit abgespielt hatte und solche Vorwürfe widerlegte, sowie die optimale ärztliche Versorgung Sonnenbergs wurden ignoriert. Sonnenberg hat die Hauptverhandlung gut überstanden, seine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßt und lebt seit über 20 Jahren in Freiheit. DK: Wie haben Sie von der Baader-Befreiung 1970 erfahren? L: 1970 war ich Richter in Hannover und habe ganz normale Kriminalität bearbeitet. Ich war auch Zivilrichter. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass mich die Baader-Befreiung sonderlich umgetrieben hat. DK: Unterschied sich die Situation in der Gesellschaft 1970 wesentlich vom Klima 1972? L: Bemerkenswert war schon das Verhalten der RAF-Angehörigen im Kaufhausbrandstifter-Prozess 1968. Angeklagte und Verteidiger machten daraus ein Happening, und das kam in der Gesellschaft sehr gut an. Das führte dazu, dass die Verfahren zum Teil gar nicht führbar waren und die Republik darüber lachte. Das muss man schon so festhalten. Als die Sprengstoffanschläge mit den vielen

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Toten passierten, änderte sich an dieser Situation eigentlich kaum etwas. Die Verfahren waren kaum führbar. DK: Was war nach den Sprengstoffanschlägen 1972 anders? L: Ich kann beschreiben, wie die Justiz und das Bundesjustizministerium – ich war von 1972 bis 1974 im Strafprozessreferat des Bundesjustizministeriums – sich mit diesen Fragen beschäftigten. Da herrschte die Überzeugung vor, der Rechtsstaat könne sich eine solche Verhöhnung, wie sie in den KaufhausbrandstifterProzessen passiert war, nicht bieten lassen. Punkt 1. Punkt 2: Der Rechtsstaat müsse gewährleisten, dass Strafverfahren geführt werden können und nicht mit Hungerstreiks und Randale im Gerichtssaal ein Verhandeln unmöglich gemacht werde. Die Notwendigkeit, das normative Rüstzeug zu verändern – das, was man später Terroristengesetze nannte – war eine Reaktion auf die neue Situation. DK: Sie meinen die Strafrechtsänderungen Ende 1974? L: Daran habe ich auch mitgearbeitet: Zum Beispiel an der Möglichkeit, dass man gegen einen Angeklagten, der sich durch Hungerstreik oder einfach durch Randale der Verhandlung entzieht, notfalls auch eine gewisse Zeit in dessen Abwesenheit verhandeln kann. Das haben wir 1974 entworfen, und das wurde, wenn ich mich recht erinnere, mit Wirkung vom 1. Januar 1975 Gesetz. DK: War das nicht ein Novum, dass ein Prozess in Abwesenheit der Angeklagten geführt werden konnte? L: So dramatisch ist das durchaus nicht. „Abwesenheitsverfahren“ kennen alle Rechtsstaaten Westeuropas. Wir haben geprüft, ob das französische Abwesen­ heitsverfahren hilfreich sein kann. Ich habe das seinerzeit bearbeitet und bin zu dem Ergebnis gekommen, dass das französische Abwesenheitsverfahren nur ein Beweissicherungsverfahren ist, das in dieser Situation auch nicht weiterführt. Unser Gedanke war: Die Anwesenheitspflicht des Angeklagten ist letztlich nur eine ihm abverlangte Pflicht, sein Recht, sich zu verteidigen, auch wahrzunehmen. Das Gericht muss gewährleisten, dass der Angeklagte sich verteidigen kann, wenn er sich verteidigen will. Das ist der Sinn der Anwesenheitspflicht des Angeklagten. Der gedankliche Ansatz der Neuregelung war: Diese Überzeugung, dass der Angeklagte sich verteidigen kann, muss sich das Gericht nicht zwingend in der Hauptverhandlung verschaffen; das kann schon vorher geschehen. Die Neuregelung ermöglicht es, dass sich das Gericht nach Eröffnung des Hauptverfahrens in einer Anhörung des Angeklagten davon überzeugt, dass er sich verteidigen könnte, wenn er es denn wollte. Hat das Gericht diese Überzeugung gewonnen, kann es phasenweise auch ohne ihn verhandeln – in Phasen, in denen er randaliert oder sich z. B. durch einen Hungerstreik selbst verhandlungsunfähig gemacht hat. DK: Dahinter steckte die Annahme, dass die Angeklagten die Verhandlungs­ unfähigkeit selbst hergestellt hätten durch ihre Hungerstreiks.

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L: Es gibt viele Kassiber und Schreiben, in denen die RAF-Gefangenen die Ziele des Hungerstreiks formuliert haben. Ich kann sie nicht alle aus dem Kopf zitieren, aber dass der Hungerstreik die Fortsetzung des Kampfes der RAF, des bewaffneten Kampfes der RAF, aus den Haftanstalten ermöglichen sollte, ihre Kampfbedingungen verbessern sollte, das ist darin exakt so formuliert. Ulrike Meinhof schreibt, wenn sie die Isolation beklagt, es gehe um die Isolierung von den Genossen drinnen und draußen. Vielen ist die Integrierung in den Normalvollzug angeboten worden; das wurde immer abgelehnt. Es ging den RAF-Gefangenen nicht um einen humanen Vollzug, sondern es ging um die Verbesserungen der Kampfbedingungen durch den Hungerstreik. Das ist in vielen Schreiben, häufig in Kassibern, nachzulesen und wer etwas anderes behauptet, der belügt die Öffentlichkeit. Ich will nicht bestreiten, dass es gerade 1974 Haftbedingungen gab als Reaktionen auf Verhaltensweisen der RAF-Terroristen, die nicht angemessen waren. Ich denke an die Isolation von Frau Meinhof; das musste nicht so sein. Diese besonderen Haftbedingungen waren ausgelöst zum Beispiel durch den Enss­ lin-Kassiber, in dem Gudrun Ensslin die Genossen draußen 1972 aufrief, Befreiungsaktionen vorzubereiten. Ein weiteres Beispiel dieser Art war eine Kassette, die 1974 in einer konspirativen Wohnung gefunden wurde, auf der Andreas Baader vier Ausbruchsvarianten, vier Befreiungsvarianten vorschlug. Er schlug unter anderem vor, ihm Handgranaten und mehrere Kilo Sprengstoff zu beschaffen, die er verstecken wollte, dann wollte er Rechtsanwalt Augstein bitten, ihn zu besuchen und in dem Zusammenhang sollte die Befreiungsaktion gestartet werden. Das alles war bekannt, den Anwälten und auch der Öffentlichkeit bekannt, die Beweise wurden in Stuttgart-Stammheim in öffentlicher Hauptverhandlung erörtert. Auf diese Dinge hatte der Vollzug zu reagieren. Dass er das 1973, 1974 zum Teil auch unglücklich gemacht hat, das werde ich hier nicht bestreiten wollen; als ich 1975 zur Bundesanwaltschaft kam, da hat es Vollzugsbedingungen, die zu beanstanden wären, im Großen und Ganzen nicht gegeben. DK: Würden Sie sagen, dass in Köln-Ossendorf die Verhältnismäßigkeit gewahrt wurde? L: Nein, ich bin nicht der Meinung. Man muss aber in den Blick nehmen, dass inhumane Haftbedingungen zwangsläufig sind, wenn das Risiko von Durch­ stechereien und verbotenen Kontakten total und absolut verhindert werden soll. Baader und Raspe hatten Pistolen in ihren Zellen versteckt; sie hatten Hohlräume in den Putz hinter den Sockelleisten ihrer Zellen gekratzt und die Waffen darin versteckt. Ich kann mich noch an ein Gespräch mit einem Vollzugsbeamten im Jahr 1977 erinnern, der auf diese Situation bezogen meinte, man müsste die Zellenwände aus Stahlplatten machen, dann könne man nichts in die Wände kratzen und verstecken. Das Beispiel zeigte mir jedenfalls: Wir können uns nicht danach ausrichten, welche Maßnahmen einen Missbrauch absolut verhindern. Das ist nicht möglich. Wenn Sie sich mit erfahrenen Vollzugsbeamten unterhalten, dann wissen Sie, der Besitz verbotener Gegenstände in den Zellen, verbotener Transport von Gegenständen in die Anstalt und vergleichbare Durchstechereien in Gefängnissen

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sind nicht absolut zu verhindern. Ein gewisses Risiko bleibt immer, wenn der Vollzug nicht ins Unmenschliche abrutschen soll. Es ist sehr schwierig, die situationsbedingten Sicherungsnotwendigkeiten mit dem menschlich noch Vertretbaren in Übereinstimmung zu bringen. Diese Wertung ändert sich auch im Laufe der Zeit. 1975, 1976, 1977 – als wir sechs bis acht RAF-Gefangene im Hoch­sicherheitstrakt in Stuttgart-Stammheim unterbrachten, wo jeder seine eigene Zelle hatte, in der er sich tagsüber mit den anderen treffen konnte, außerdem konnte ein großer Gemeinschaftsraum vor den Zellen und die Dachterrasse gemeinsam genutzt werden – wurde das „Kleingruppenisolation“ und Folter genannt, nicht nur von der RAF und ihren Anwälten, sondern bis in die Mitte der Gesellschaft hinein. Heute, im Film „Der Baader-Meinhof-Komplex“, werden diese Haftbedingungen exakt und authentisch gezeigt. Nun werden wir gefragt, wie wir diese offenen Vollzugsbedingungen damals akzeptieren konnten. In der von mir übersehenen Zeit – ab 1975 – hat man sich um Haftbedingungen bemüht, die menschlich vertretbar waren und den Sicherungsnotwendigkeiten so weit wie möglich gerecht wurden. DK: Gerade die Haftbedingungen von Ulrike Meinhof, Astrid Proll und ­Gudrun Ensslin haben dazu geführt, dass sich teilweise die zweite und dritte Generation rekrutieren konnte. L: Die These ist sicherlich nicht gänzlich falsch, für eine ganze Gruppe würde ich sie nicht unterschreiben. Ich kann aus eigener Kenntnis bestätigen, dass es einzelne Personen gab, zum Beispiel Angehörige wie Hans-Joachim Dellwo, die davon überzeugt waren, dass ihren Angehörigen oder Partnern im Vollzug Unrecht geschieht. Andere sind aus gänzlich anderen Motiven auf die terroristische Schiene geraten. So allgemein zu sagen, die terroristische RAF-Gruppierung 1974 um Margrit Schiller, Ilse Stachowiak und andere hätte sich gebildet und zu einer terroristischen Clique zusammengefunden, um die Haftbedingungen zu verbessern, ist schlicht falsch. Die wollten den bewaffneten Kampf als Stadtguerilla. DK: Wie haben Sie den Hungerstreik von Holger Meins 1974 wahrgenommen? L: Aus meiner Bearbeitung des Verfahrens gegen Siegfried Haag wusste ich, dass der Hungerstreik ein Kampfmittel der RAF war und dass der Tod von Holger Meins von ihm und seinen RAF-Genossen in diesem Kampf bewusst eingesetzt wurde. Hungerstreiks auf Leben und Tod hat es auch in der Folgezeit gegeben. Es war eine schwere Aufgabe für alle Beteiligten in der Justiz und im Vollzug, einen tödlichen Ausgang des Hungerstreiks zu verhindern. Streitgegenstand war vor allem die Zwangsernährung. DK: Hätte man es verhindern können? L: Nein. Zur Verdeutlichung will ich den jetzigen Rechtszustand darstellen, der, wie ich meine, die intellektuelle Unredlichkeit der seinerzeitigen und der heutigen Betrachtung offenbart. Nach dem geltenden Recht, das eine Reaktion auf die damalige Diskussion ist, darf gegen den Willen eines noch willensfähigen Menschen im Hungerstreik nicht zwangsweise eine Nahrungsaufnahme durchgeführt

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werden. Wir wissen aber, dass eine Zwangsernährung bei einem Menschen, der so weit reduziert ist, dass er seinen Willen nicht mehr frei ausüben kann, zu spät kommt; das ist sicher. Wenn ein Mensch so weit reduziert ist, dass er seinen Willen nicht mehr frei äußern kann, dann nützt eine Zwangsernährung oder eine andere Ernährung nicht mehr. Dann ist es zu spät. Die jetzige Rechtslage räumt dem freien Willen des Inhaftierten Vorrang ein, wissend, dass eine Hilfe nach Verlust der Willensfähigkeit nicht mehr möglich ist. Ich habe seinerzeit die Meinung vertreten, es müsse ein Arzt rechtzeitig entscheiden, ob Zwangsernährung durchgeführt werden kann und muss. Wenn ein Arzt wegen des zu erwartenden Widerstandes des Gefangenen die Zwangsernährung für gefährlicher hält als gar nichts zu unternehmen, muss Zwangsernährung unterbleiben. Wenn der Arzt aber Zwangsernährung für medizinisch indiziert und möglich hält, hätte ich eine Lösung vorgezogen, die eine rechtzeitige Zwangsernährung auch gegen den erklärten Willen des Gefangenen ermöglicht. Diesen ganzen Komplex müssen Sie im Blick haben, wenn Sie fragen, ob Holger Meins noch geholfen werden konnte; drei, vier, fünf Tage vor seinem Tod konnte ihm nicht mehr geholfen werden, da war es zu spät. DK: Die Zwangsernährung hätte früher eingesetzt werden müssen? L: Aus medizinischer Sicht sehr viel früher. Die Rechtslage dazu war unklar. Auch die Mediziner waren sich nicht einig. Jetzt haben wir eine Rechtslage, die offensichtlich die ganze Republik beruhigt. Auf der Grundlage der jetzigen Rechtslage durfte die Zwangsernährung gegen den noch willensfähigen Holger Meins nicht zu einem Zeitpunkt durchgeführt werden, der sein Leben noch retten konnte. Ich bin mit der von der RAF, ihren Anwälten und „verständnisvollen Dritten“ erkämpften Rechtslage nicht glücklich. Sie stellt den Gefangenen schutzlos, der sein Leben im Hungerstreik aus Gruppensolidarität, Gruppenzwang einsetzt. DK: Die Anwälte kritisierten, dass Meins keine medizinische Unterstützung erfahren habe. L: Damit wird gegen alle Untersuchungsergebnisse und medizinischen Erkennt­ nisse noch heute der Tod von Holger Meins als Kampfmittel instrumentalisiert. DK: Sie haben an den Strafrechtsänderungen 1974 mitgearbeitet. L: Man muss jede Änderungsmaßnahme einzeln durchgehen. Angesprochen haben wir schon die Möglichkeit, ohne den Angeklagten eine gewisse Zeit zu verhandeln, wenn er selbst sich in einen die Verhandlungsfähigkeit ausschließenden Zustand versetzt hat. Etwas Vergleichbares haben alle Rechtsstaaten in Europa. Auf § 129a StGB bezogen wird gerne angeführt, die Strafbarkeit sei ins Vorfeld verlagert worden, Gesinnung werde bestraft. Es gibt keinen einzigen Fall, der einen solchen Vorwurf trägt. Die Mitgliedschaft in einer Bande, die auf die Begehung terroristischer Anschläge gerichtet ist, wird ebenfalls in allen Rechtsstaaten Europas bestraft. Zu Recht problematisch wurde die Werbung für die terroristische Vereinigung gesehen, das ist Agitation, ihre Bestrafung kann in Gesinnungs-

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strafe hineinrutschen. Die sozialliberale Koalition hat dieses Risiko zum Anlass genommen, die Werbung für eine terroristische Vereinigung aus dem Strafbestand herauszunehmen. Die Einführung der Trennscheibe, die die Übergabe von Gegenständen verhindern soll, halte ich für angemessen und notwendig angesichts der Schmuggelei von Waffen und des Kassiberschmuggels. Das Kontaktsperregesetz ist natürlich problematisch. Es wird erst relevant in einem konkreten Entführungsfall, wenn ein Mensch entführt, sein Leben bedroht wird und wenn auf Grund tatsächlicher Umstände die Gefahr gesehen wird, dass aus der Haftanstalt auf dieses Geschehen Einfluss genommen wird – in einer Situation wie bei der Schleyer-Entführung. Es ist nicht zu bestreiten, dass in einer solchen Situation der Staat eingreifen muss zum Schutz des Lebens des Entführten. Streiten können wir darüber, ob es dafür eines Gesetzes bedarf, oder ob wir das mit dem übergesetzlichen Notstand von Fall zu Fall regeln. Das wäre flexibler, könnte auch der Verhältnismäßigkeit eher entsprechen. Diese Meinung habe ich seinerzeit vertreten. Es gab auch Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts, die diesen Themenbereich betrafen, aus denen man schließen konnte, dass dieser Notstandsgedanke wohl auch vor dem Verfassungsgericht gehalten hätte. Die gesetzliche Lösung hat auch Vorteile. Sie lässt nicht zu, dass von außen sachfremde Erwägungen einfließen. DK: Die Mehrfachverteidigung wurde aufgehoben, und die Rechte der Staatsanwaltschaft wurden erweitert? L: Nun, das sind zwei Bereiche. Die Stärkung der Stellung der Staatsanwaltschaft im 1. Strafverfahrensreformgesetz vom 1. Januar 1975 hat mit den Terrorismusverfahren nichts zu tun. Gerade aus rechtsstaatlichen Erwägungen erschien es erforderlich, die Staatsanwaltschaft als eigentliche Ermittlungsbehörde zu stärken und den Schwerpunkt strafprozessualer Ermittlungen nicht im polizeilichen Bereich zu belassen. Der Staatsanwalt, der die Ermittlungen zu verantworten hat, muss auch die dafür erforderlichen rechtlichen Möglichkeiten haben – deshalb z. B. die Erscheinenspflicht von Beschuldigten und Zeugen zur Vernehmung bei der Staatsanwaltschaft. Das hat mit der Terrorismusdiskussion nichts zu tun und hat auch in Terrorismusverfahren keine Rolle gespielt. Das Verbot, mehrere Beschuldigte in einem Verfahren zu verteidigen, ist ein anderes Thema. Vor 1975 war die Mehrfachverteidigung standesrechtlich nicht erlaubt, wenn sie zu einer Interessenkollision führen konnte. Diese Interessenkollision musste allerdings von Fall zu Fall festgestellt werden, sonst hat man sie zugelassen. Es war ein gewohnheitsrechtlicher Zustand, der ganz gut funktionierte. Im Baader-Meinhof-Komplex haben die Angeklagten die sogenannte Blockverteidigung favorisiert. Alle verteidigen sich im Block. Begründet wurde diese Verteidigung von den Anwälten so: Man werfe ihren Mandanten etwas vor, was diese als politisch ansehen. Die Mandanten wollten sich auch politisch verteidigen, und deshalb müssten sie sich austauschen, auch über die Verteidigung. Die Gerichte haben diese Blockverteidigung zugelassen. Ihr besonderes Gesicht bekam die Blockver-

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teidigung dadurch, dass die Anzahl der Rechtsanwälte, die den einzelnen Angeklagten verteidigen durfte, nicht begrenzt war. Jeder Beschuldigte hatte mehrere, Baader und Ensslin etwa 20 Verteidiger. Jeder Rechtsanwalt verteidigte mehrere Angeklagte. In einem Block von gut 30 Rechtsanwälten verteidigte praktisch jeder Anwalt jeden Beschuldigten aus der RAF. Das wurde zugelassen. So wurde der Informationsaustausch über die Verteidiger von Beschuldigten zu Beschuldigten zugelassen. Das ganze wurde unterbunden, als Beweise dafür vorlagen, die eine Verbindung der Inhaftieren zu den Teilnehmern an dem Stockholm-Anschlag belegten und darauf hinwiesen, dass Verteidiger in diese Verbindung eingebunden waren. Darauf bezogen hat das Gericht in Stuttgart den Umschluss zwischen den Angeklagten unterbunden. DK: Es waren jeweils drei Vertrauensanwälte zugelassen. L: Die Gerichte haben die Zulässigkeit von drei Wahlmandaten gesehen, die der Angeklagte auch selbst bezahlt. Nimmt man drei Pflichtverteidiger des ­Vertrauens hinzu, sind es schon sechs Anwälte des Vertrauens des Angeklagten und zusätzlich drei Pflichtverteidiger, vom Gericht benannt zur Verfahrenssicherung, die nicht unbedingt das Vertrauen der Angeklagten haben müssen. DK: Wer war tatsächlich beim Verfahren? L: Ich kann Ihnen die Frage für die Verfahren beantworten, die ich geführt habe: Im Prozess gegen Siegfried Haag zum Beispiel saßen immer drei Verteidiger des Vertrauens, von denen, soweit ich weiß, zwei Pflichtverteidiger waren, und Rechtsanwalt Holoch als „Zwangsverteidiger“, einer der führenden Strafverteidiger Stuttgarts, der auch eine hervorragende Rolle in dem Verfahren gespielt hat, obwohl er aus der Sicht der Angeklagten an sich nichts sagen sollte. DK: Gehörte Manfred Künzel zu den sogenannten Zwangsverteidigern? L: Ja. DK: Hatten die Zwangsverteidiger eine wichtige Funktion? L: Ja, zur Verfahrenssicherung. Sie garantierten, dass durch einen Auszug der Verteidiger, die das besondere Vertrauen der Angeklagten genossen, das Verfahren nicht torpediert und sabotiert werden konnte. Das ist eine wichtige Funktion. Es gab immer Theater, wenn die sogenannten „Zwangsverteidiger“ sich zu Wort meldeten. Dann wurde durch Randale ein weiteres Verhandeln unmöglich gemacht, so dass sie sich sehr selten zu Wort meldeten. Ausgewählt wurden in der Regel wirklich hervorragende Strafverteidiger, und die haben auch eingegriffen, wenn sie meinten, von ihrem Berufsverständnis her nicht den Mund halten zu dürfen. DK: Sollte das Stammheim-Verfahren grundsätzlich scheitern? L: Sie stellen Ihre Frage aus der Perspektive unseres Verfahrensrechts heraus. Den Angeklagten war das Strafverfahren aber piep-schnurzegal. Das Verfahren, wie es das Gesetz vorsieht, hat keine Rolle gespielt. Sie haben das allenfalls als

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­ odium gesehen, ihr Gedankengut nicht dem Gericht, sondern den Genossen zu P vermitteln. Das war die Fortsetzung des Kampfes im Gerichtssaal. Den Verteidigern war es weitgehend selbst überlassen, das mutmaßliche Interesse der Angeklagten in Verteidigung umzusetzen. DK: Und die Frage von Schuld oder Nichtschuld? L: Gleiche Maßstäbe bei der Beurteilung von Schuld und Nichtschuld zwischen RAF-Angehörigen und Gericht gibt es nicht. Die Angeklagten haben sich als Kombattanten in einem Krieg gesehen und haben das Gericht nicht akzeptiert. Es wird häufig davon ausgegangen, dass die Angeklagten uns, dem Gericht, der Gesellschaft irgendetwas zu sagen gehabt hätten. Keineswegs. Sie haben uns bekämpft. Zitat von Ulrike Meinhof: „…und es ist falsch, überhaupt mit diesen Leuten zu reden und natürlich kann geschossen werden“. Gudrun Ensslin hat etwas Vergleichbares gesagt. Ein „Verständlichmachen“ im Rahmen unserer Rechts­ ordnung hat es von Seiten der RAF-Angehörigen nicht gegeben. DK: Sollte das Gericht als Bühne genutzt werden? L: Von den Angeklagten eindeutig. Bei den Verteidigern ist das differenziert zu sehen. Es gibt Kassiber, in denen deutlich wird, dass die RAF-Angehörigen mit sehr drastischen Ausdrücken aus der Fäkalsprache versuchten, die Anwälte zu instrumentalisieren für ihre strafbare Betätigung, für die Fortsetzung des Kampfes der RAF aus den Haftanstalten heraus. Der eine oder andere hat sich darauf einge­ aader lassen. Wer das nicht tat, war damit noch nicht aus dem Verfahren heraus. B hat geschrieben: Man muss die Anwälte, die sich unserem Politisierungsprozess zäh und gerissen entziehen, herausschmeißen aus der RAF-Struktur. Er führt dann fort, ob sie uns in dem Verfahren verteidigen, ist eine andere Frage. Darum hat sich Baader nicht gekümmert. Das hat er dann den Verteidigern überlassen. DK: Was bedeutete das für die Strategie der Verteidiger? L: Die Verteidigung hat sich 1977 in den Hauptverhandlungen, die ich geführt habe, im Wesentlichen nach der StPO ausgerichtet. Man sah den Angeklagten an, dass sie da gar nicht zugehört haben. Das war nicht ihr Bereich. Darum haben die sich nicht gekümmert. Natürlich war von einigen Verteidigern der Ton unerträglich. Sie haben uns als Personen nicht wahrgenommen und sind uns zum Teil mit blankem Hass begegnet. Aber ich kann nicht sagen, dass das, was die Rechtsanwälte in dem Haag-Mayer-Verfahren getan haben, keine Verteidigung im Sinne der Strafprozessordnung war. Das war es schon, und es waren durchaus fähige Leute. DK: Traf der Vorwurf einer Vorverurteilung zu? L: In keiner Weise. Wie wollen Sie diesen Vorwurf unterbringen nach einem Tatgeschehen, wo ein flagranter Täter bei einem Mord oder Mordversuch festgenommen worden ist? Er weiß, dass er mit einer hohen Freiheitsstrafe zu rechnen hat. Das hat nichts mit Vorverurteilung zu tun. Zumal dann, wenn er sich auch

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noch öffentlich zu diesen Taten bekennt. Aus meiner Sicht ist es verlogen, seine Tat öffentlich zu propagieren und dann von Vorverurteilung zu reden, wenn die Medien sich mit den Taten und der Schuld der Täter auseinandersetzen. DK: Und der Vorwurf einer „Gesinnungsjustiz?“ L: Die Gesinnung wird wohl von niemand als Rechtfertigung und auch nicht als Entschuldigung von Morden, Sprengstoffverbrechen und Geiselnahme ge­sehen, die zu Gunsten der Angeklagten berücksichtigt werden müsste. Die streitige Frage ist doch: Gibt es überhaupt eine Ideologie der RAF, die einer günstigen Berücksichtigung in irgendeiner Weise zugänglich ist? Das haben im Rechtsstaat die Gerichte auf der Grundlage des geltenden Rechts zu prüfen. Eine solche respektable Gesinnung, die sich strafmildernd auswirken könnte, haben die Gerichte nicht gesehen; sie wird auch von mir nicht gesehen. DK: Gab es eine Beweisnot im Stammheim-Verfahren? L: Ja, aber das Problem haben Sie immer, wenn eine Bande agiert, vier, fünf Mann am Tatort waren und einer schießt. Sie wissen nicht, hat Person eins, zwei, drei oder vier geschossen. Das ist eine Ermittlungsschwierigkeit bei jeder Mittäterschaft. Die Beweisschwierigkeiten gab es vor allem bei den Unterstützern der RAF. Wenn Sie die Struktur der RAF nicht kennen, nicht wissen, wer dazu gehört, die Logistik, die Kommunikation nicht kennen, können Sie schlecht einem Unterstützer nachweisen, dass er diese Struktur gefördert hat. Das war ein großes Problem in den Jahren 1974 bis 1977, bis uns Volker Speitel erklärte, wie die RAF funktionierte. Dann konnten wir die RAF besser beschreiben und damit auch unterstützende Tätigkeit. Beweisnot bei den einzelnen Verbrechen des Jahres 1977 sehe ich im Großen und Ganzen nicht. DK: Wurde schon allein die RAF-Mitgliedschaft als Straftat beurteilt? L: Die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung ist eine Straftat, die RAF war eine terroristische Vereinigung. Der Vorwurf gegen uns lautete seinerzeit, wir würden ein Bekenntnis zur Ideologie der RAF für die Straftat genügen lassen. Es gibt keinen Fall, der diesen Vorwurf trägt. Die Strafverfolgung hat nicht aus der Mitgliedschaft eines Angeklagten in der RAF auf die Beteiligung an einem Terroranschlag geschlossen, sondern war in dieser Frage sehr vorsichtig. Der Fall von Verena Becker und Günter Sonnenberg veranlasst heute, 30 Jahre nach den Ereignissen, viele, uns insoweit zu viel Zurückhaltung vorzuwerfen. Die RAF-Mitglieder Becker und Sonnenberg hatten bei ihrer Festnahme vier Wochen nach dem Buback-Mord die Tatwaffe bei sich. Das begründete zwar einen dringenden Tatverdacht, dass beide an dem Mord beteiligt waren; zu einer Anklage hat eine solche Beweislage nicht gereicht. Umgekehrt wurde aus der Beteiligung an einem Anschlag nicht ohne weiteres auf die Mitgliedschaft in der terroristischen Vereinigung geschlossen. Die Journalistin Ingrid Strobl wurde verurteilt wegen Beihilfe zu einem Sprengstoffanschlag in Tat-

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einheit mit Unterstützung einer terroristischen Vereinigung, wobei die terroristische Vereinigung nicht die RAF, sondern die Revolutionären Zellen waren. Der Bundesgerichtshof hat die Verurteilung wegen Unterstützung der terroristischen Vereinigung aufgehoben, weil ihm ihre Beziehung zu der terroristischen Vereinigung nicht klar genug war und selbst die Beteiligung an dem Sprengstoffanschlag nicht dazu ausreichte, um die Unterstützung zu tragen. DK: Bestand ihre Straftat nicht darin, dass sie einen Wecker gekauft hat? L: Das Gericht hat festgestellt, dass sie einen Wecker gekauft hat und den Tätern eines Sprengstoffanschlags als Zündmittel zur Verfügung gestellt hat. Wenn man behauptet, sie sei bestraft worden, weil sie einen handelsüblichen Wecker gekauft hat, dann ist das eine tendenziöse Verharmlosung eines Verbrechens. Auch ein handelsüblicher Wecker kann Zündmittel einer Bombe sein. Das Sprengstoffdelikt wird dadurch nicht im Unwert relativiert DK: Es wurde kritisiert, dass allein der Kauf eines Weckers als Indiz der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation gewertet worden sei. L: Die Beschaffung einer Uhr als Zündvorrichtung für eine Bombe war m. E. tragfähiges Indiz auch für den Vorwurf der Unterstützung der terroristischen Ver­ einigung. Dem Bundesgerichtshof hat das nicht gereicht. Man war da schon sehr vorsichtig mit der Annahme einer mitgliedschaftlichen Betätigung oder Unterstützung. Dazu muss die Vereinigung und deren Tätigkeit substantiiert beschrieben werden. DK: Da man die Binnenstruktur der terroristischen Gruppen kaum durchschauen konnte, spielten die Kronzeugen eine wichtige Rolle. L: Die Kronzeugen sind in ihrer Bedeutung gar nicht hoch genug einzu­ schätzen. Das beginnt nicht mit Volker Speitel und Hans-Joachim Dellwo, die ich bearbeitet und auch als Kronzeugen gewonnen habe, sondern schon mit Gerhard Müller, der mit Ulrike Meinhof zusammen festgenommen wurde und für die Taten bis 1972 die Bandenstruktur anschaulich geschildert hat. Das geht dann weiter mit Dierk Hoff, dem sogenannten Bombenbauer der RAF, der auch umfassende Angaben gemacht hat; 1977 dann mit den Kronzeugen Volker Speitel und HansJoachim Dellwo. Das heute von den Medien so geschätzte RAF-Mitglied Boock zeigt, wie wertvoll solche Kronzeugen nicht nur für die Strafverfolgung sind, sondern als Zeitzeugen auch für eine interessierte Öffentlichkeit, die wissen will, wie es war. DK: Liegt im Kronzeugen nicht ein erhebliches Problem für die Justiz? L: Die Begünstigung des Kronzeugen bei dessen Bestrafung ist natürlich ein Problem. Der Gesetzgeber hat sich damit bekanntlich auch sehr schwer getan. Das muss die Gesellschaft entscheiden, und das ist mit der Kronzeugenregelung in den 80er Jahren geschehen. Damit wurden die Strukturen der RAF aufgebrochen. Die Kronzeugenregelung ist fast von einem Dutzend der RAF-Terroristen genutzt worden. Das RAF-Kartell – Antje Vollmer spricht von der „Kollektivmaschine“ – in

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der es nur „RAF oder Tod“ gibt, wurde aufgebrochen. Dieses Herauslösen aus dem Gruppenzwang, die Eröffnung einer Perspektive, ist in der Bedeutung gar nicht zu überschätzen. Darin sehe ich auch die einzige Chance, um die noch nicht aufgeklärten RAF-Verbrechen, den Herrhausen-Mord und die anderen Morde, noch aufzuklären. Die Beteiligten müssen die Überzeugung gewinnen, dass es in ihrem Interesse liegt, dass die Öffentlichkeit das Geschehen im Einzelnen kennt und sich ein Bild davon machen kann. DK: Könnte man sagen, dass der Stammheim-Prozess ohne Karl-Heinz Ruhland oder Gerhard Müller nicht möglich gewesen wäre? L: Ich habe die Verfahren nicht geführt. Nach meinem Kenntnisstand wäre es auch ohne Müller und Ruhland möglich gewesen. DK: Aber eben schwieriger. L: Schwierig war das ohnehin. Aber ich kann mir vorstellen, dass der PontoMord und die Schleyer-Entführung sehr viel schwieriger aufzuklären gewesen wären, wenn es Speitels und Dellwos Aussagen nicht gegeben hätte. Ohne diese Aussagen hätten wir zudem lange nicht gewusst, wie die Waffen nach StuttgartStammheim in die Anstalt gekommen sind. DK: Haben Sie Speitel angerufen, oder hat er Sie angerufen? L: Weder noch. Die Justizanstalt hat den Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofes angerufen, und von dem habe ich erfahren, dass Speitel irgendetwas sagen will. Dann bin ich mit einer Protokollführerin und dem Ermittlungsrichter in die Haftanstalt in Karlsruhe gefahren. Als Speitel uns sah – mich kannte er aus einigen Durchsuchungsaktionen, ich hatte ihn auch vorgeführt und festgenommen – erklärte er, so sei das nicht gemeint gewesen, und ist gleich wieder weggegangen. Wir sind dann wieder gefahren. Am selben Tag bin ich noch einmal alleine hingefahren und habe versucht, das zu sondieren. Der erste Besuch war an dem Tag, an dem die Leiche Schleyers gefunden worden war. Speitel war schon in einem psychischen Ausnahmezustand. Das sah man ihm an, deswegen bin ich wieder hingegangen, um zu sehen, was er eigentlich will. Es kam zu keinem richtigen Gespräch. Er hatte Schwierigkeiten, überhaupt zu sprechen, aber er wollte etwas für sich erreichen. Erst in späteren Gesprächen hat er mir das dann erläutert. Er hatte Angst. Er sagte, er denke, der Staatsschutz mache tabula rasa. Das war seine Wortwahl. In den Gesprächen in den nächsten Tagen und Wochen rutschte er, wenn man so will, immer mehr auf meine Seite, aus der er dann auch nicht mehr herauskam. Über Wochen erläuterte er mir die gesamte Struktur der RAF. DK: Lief das Tonband mit? L: Nein. Ich habe mir nur kurze Notizen gemacht und diese abends in die Schreibmaschine getippt. Es war auch zwischen uns vereinbart, dass ich das nicht zu den Akten bringe. Das wollte er nicht. Er wollte irgendetwas, aber was

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er eigentlich wollte, wusste er wohl selbst nicht. Ich habe meine Notizen zunächst nicht weitergegeben. Die Punkte, die geeignet waren, Ermittlungen auszulösen, habe ich mir bekannten Hauptkommissaren aus dem BKA mitgeteilt. Die haben das in ihren Akten dokumentiert. Ich konnte Speitel nach Wochen überzeugen, dass wir – die Kronzeugenregelung gab es gesetzlich noch gar nicht – ihn unterbringen, ihn sichern können vor den Genossen, wenn er gerichtsverwertbare Angaben macht. Der Zeitpunkt war Mitte Januar 1978 erreicht. Ich bin mit meinen ganzen Notizen zum Ermittlungsrichter gegangen. Wir haben all das, was er mir in den sechs, acht Wochen zuvor gesagt hat, in ein richterliches Protokoll gebracht. DK: Wollte sich Speitel aus der terroristischen Szene lösen? L: Das ist schon richtig. Sie müssen bei dieser Frage immer die Persönlichkeitsstruktur des Betroffenen in den Blick nehmen. Volker Speitel, nichteheliches Kind einer Arbeiterin aus denkbar schlechten sozialen Verhältnissen, aber hoch­ intelligent, auch künstlerisch begabt, hat immer das Risiko mit abgewogen. Für ihn war die Arbeit in Büros von Rechtsanwälten und dann sein Vertrauensverhältnis zu Baader und Ensslin so etwas wie der Weg nach oben. Er hatte damit einen Status, ein sehr großes Selbstwertgefühl. Das alles kollabierte mit dem „Deutschen Herbst“ und war zusammengebrochen nach dem Ende der „Landshut“-Entführung, nach dem Ende von Baader und Ensslin, nach dem Ende des Büros in Stuttgart. Die meisten Mitarbeiter des Büros in Stuttgart waren verhaftet. Seine Frau Angelika Speitel, seine Freundin Elisabeth von Dyck, seine Freunde Willy Stoll, Ralf Friedrich, Christof Wackernagel waren im terroristischen Untergrund mit der Perspektive, weiter zu morden, bei einer Festnahme erschossen zu werden oder „auf ewig einzufahren“ – das war sein Sprachgebrauch. In dieser, für ihn katastrophalen Situation, ist er zu den stärkeren Bataillonen gewechselt. DK: Durch seine Aussagen konnten etliche Verfahren eingeleitet werden. L: Falsch ist es, wenn man sagt, er habe Genossen ans Messer geliefert. Das wird immer wieder gesagt, um ihn mies zu machen. Er hat gerade anfangs immer erklärt, niemand verraten zu wollen. Mit zunehmender Substanz seiner Angaben nahm auch ihre Belastungsqualität für RAF-Mitglieder und Unterstützer zu. Damit konnte Unterstützern ihre Tat nachgewiesen werden. Dabei sind dann Strafen zwischen zwei und vier Jahren herausgekommen, die häufig auch nicht voll verbüßt werden mussten. Das war aus Sicht von Speitel und auch objektiv gesehen die günstigere Variante. Die Risiken der Alternative für diesen Personenkreis, in den terroristischen Untergrund zu gehen, waren für jedermann offensichtlich. Er sagte mir, wenn Elisabeth von Dyck gewusst hätte, dass sie zum Zeitpunkt ihres Abtauchens zur bewaffneten RAF-Struktur für ihre Unterstützertätigkeit eine Straferwartung von um drei Jahren hatte, wäre sie diesen Schritt nie gegangen und wäre nicht in die Situation gekommen, bei ihrer Festnahme erschossen zu werden. Speitel konnte für die Genossen, die mit ihm Unterstützer der RAF waren, nichts Besseres tun, als ihre Aburteilung und damit Herauslösung aus der RAF zu ermöglichen.

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DK: Er hat auch Aussagen zum Waffentransport gemacht? L: Die Aufklärung des Transports von Waffen und Sprengstoff in den siebten Stock der Vollzugsanstalt Stammheim zu den RAF-Gefangenen ist ohne die Angaben von Volker Speitel überhaupt nicht denkbar. Auch mit Hans-Joachim Dellwo haben wir über diese Dinge reden können. Zunächst möchte ich den Zeitpunkt herausarbeiten, zu dem Speitel erstmals über dieses Geschehen sprach. Es gibt einige Publikationen, die entweder suggerieren oder sogar behaupten, dass Speitel mir den Transport von Waffen und Sprengstoff in die Anstalt zu einem Zeitpunkt mitgeteilt hat, zu dem Baader und Ensslin noch lebten. Dann hätte der Staatsschutz gewusst, dass Baader, Raspe und Ensslin Waffen und Sprengstoff in den Zellen hatten, dagegen nichts unternommen, vielmehr sehenden Auges diese Selbstmorde geschehen lassen. Die Unrichtigkeit dieser perversen Unterstellung lässt sich belegen. Die Anstalten registrierten jeden Besuch bei den RAF-Häftlingen, auch Besuche des Ermittlungsrichters und von mir, es war Kontaktsperre. Mein erster Besuch bei Speitel war nach den Selbstmorden von Baader, Raspe und Ensslin, an dem Tag, als die Leiche Schleyers gefunden wurde. Vorher hat es auch keine Gespräche Speitels mit anderen Beamten gegeben. Die Waffen wurden erstmals mehrere Wochen später erwähnt. Ich kann heute zwar nicht mehr das Datum dieses Zeitpunktes angeben, erinnere mich aber an die Zusammenhänge noch so genau, dass der Zeitpunkt exakt rekonstruierbar ist: Wir sprachen über seine Motivation zu unseren Gesprächen, und es fiel der schon zitierte Satz; er habe in der besonderen Situation nach dem Tod von Baader, Raspe und Ensslin die Sorge gehabt, der Staatsschutz mache tabula rasa. Ich versuchte zu erfragen, wovor er denn Angst gehabt habe, es sei doch bekannt, dass die Gefangenen Selbstmord begangen hätten. Er erwiderte, in den Zeitungen habe er nur von zwei Pistolen gelesen; es müsse noch ein vernickelter Revolver in den Zellen sein, von dem sei bisher nicht geschrieben worden. Dieser sogenannte vernickelte Revolver war bis zu diesem Zeitpunkt tatsächlich auch noch nicht gefunden worden. Ich bin nach dieser Bemerkung am selben Tag zu Generalbundesanwalt Kurt Rebmann gegangen und habe ihm das gesagt. Rebmann hat sofort in Stuttgart angerufen – ich meine im Justizministerium. Nach meiner Erinnerung am selben Tag wurden die Zellen noch einmal durchsucht. Bei dieser Gelegenheit wurden alle Zellen im 7. Stock durchsucht und nicht nur – wie davor – die von Baader, Raspe und Ensslin belegten. In der zur Zeit der Selbstmorde leer stehenden Zelle, in der bis fünf oder sechs Wochen davor Helmut Pohl untergebracht war, wurde der „vernickelte“ Revolver (er war silberfarben) hinter der Sockelleiste in einem in den Putz gekratzten Hohlraum gefunden. Das war dann der Einstieg, dass ich Speitel überzeugen konnte, das Gesamtgeschehen in gerichtsverwertbarer Weise zu Protokoll zu geben. Dabei schilderte er, wie er die Waffen zum Teil selbst beschafft hatte, wie er sie sehr aufwendig präpariert hatte – die Waffennummern herausgeschlagen, mit Schlüsselzahlen überschlagen und unleserlich gemacht, die Griffschalen entfernt. Er schilderte, wie über Rechtsanwalt Arndt Müller, der von den Gefangenen im siebten Stock wegen seiner stoischen Ruhe dafür ausgesucht worden war, der Transport dann durchgeführt wurde.

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DK: Wie konnte man eine Waffe transportieren? L: In den sogenannten Verteidiger-Handakten. Die Handakten im Format von gut DIN A 4, zum Teil in Leitz-Ordnern, zum Teil aber auch in normalen Pappdeckeln, waren regelmäßig mehrere hundert Seiten stark. Dieser Block aus Papier wurde aufgeklappt und in der Mitte in der Form der Waffe mit einem scharfen Messer ausgeschnitten. Dort hinein wurde die Waffe gelegt. Für die Funktionstüchtigkeit der Waffe überflüssige Teile, z. B. die Griffschalen, wurden entfernt, und dann wurden die verbleibenden Hohlräume mit Papiertaschentüchern aus­ gefüllt. Arndt Müller ging damit als Verteidiger von Gudrun Ensslin in den Be­ sucherraum des Verhandlungsgebäudes. DK: Im Gerichtssaal wurde die Akte ausgetauscht? L: Nicht im Verhandlungssaal, wie das in dem Film dargestellt wird, sondern in dem Raum, der für die Kontakte zwischen Verteidiger und Angeklagte im Prozessgebäude vorgesehen war. Dort war die unüberwachte Übergabe möglich. Bevor er zu Ensslin kam, wurde er durchsucht. Es war aber peinlich darauf zu achten, so die ausdrückliche Anweisung des Vorsitzenden, dass der Durchsuchungs­ beamte keine Kenntnis vom Akteninhalt nahm. Deshalb wurde es üblich, dass Arndt Müller die Akte in der Hand behielt, am Rücken festhielt, so dass sie nicht ganz aufklappte und dann die Blätter über den Daumen laufen ließ. So war die Präparierung nicht zu sehen. Dann konnte er zu Frau Ensslin gehen, und sie übernahm die Akte. Die Angeklagten wurden auf dem Weg zurück in ihre Zellen im siebten Stock nicht noch einmal durchsucht. DK: Hätten Sie es für möglich gehalten, dass Waffen transportiert werden? L: Otto Schily behauptet immer, er habe an die Ermordung von Baader, Raspe und Ensslin geglaubt, weil es für ihn nicht vorstellbar gewesen sei, dass Waffen in die Anstalt gelangten. Dem muss man entgegenhalten, dass schon 1972 in dem Kassiber von Ensslin, den Ulrike Meinhof bei ihrer Festnahme bei sich trug, den in Freiheit befindlichen Terroristen von den Inhaftierten Anweisungen von Freipressungsaktionen gegeben wurden. Ich habe bereits von der Kassette Baaders aus dem Jahre 1974 gesprochen, auf der die Gruppe draußen aufgefordert wurde, Baader 4 bis 5 Kilo Sprengstoff einschließlich Drähte und Zünder und Handgranaten in die Anstalt zu schaffen. Das wusste jeder, der in diesem Zusammenhang arbeitete. Das wusste ich, das wusste Otto Schily, das wussten die anderen Verteidiger. Ob man es nun tatsächlich für möglich gehalten hätte bei den erheblichen Kontrollen, ist eine andere Frage. Die Kontrollen werden von den RAF-Verteidigern je nach Interessenlage dramatisiert oder bagatellisiert. Sie werden als Behinderung der Verteidigung dramatisiert, die keinen unkontrollierten Kontakt zwischen Anwalt und Mandant ermöglichten. Die gleichen Kontrollen werden als oberflächlich und lückenhaft bagatellisiert, wenn sich die Verteidiger gegen den Vorwurf des Kassiberschmuggels und gegen den Vorwurf wehren, Waffen und Sprengstoff in die Anstalt verbracht zu haben. In dem Verfahren gegen Müller und Newerla wurde

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sehr akribisch Beweis erhoben – und im Urteil dargestellt, wie die Kontrollen im Einzelnen durchgeführt wurden und was den Anwälten noch möglich war. Ich kann mich dazu nur wiederholen: Sollen die Vollzugsbedingungen nicht ins Unmenschliche abrutschen und soll Verteidigung im Sinne unseres Verfahrensrechts möglich bleiben, lassen sich solche Durchstechereien nicht gänzlich ausschließen. DK: Wer wusste hiervon? L: Ich habe Speitel danach gefragt. Er sagte: Natürlich haben sie es gewusst; und als ich nachfragte, ob das eine Schlussfolgerung von ihm sei oder ob er das an bestimmten Umständen festmachen könne, hat er abgelehnt, das weiter zu erklären. Er wollte in dieser Frage Müller und Newerla nicht noch weiter belasten. Das Urteil hat zu dieser Frage festgestellt, die Anwälte hätten damit gerechnet. DK: Sie haben das Strafverfahren gegen Müller und Newerla geführt? L: Ich habe das Ermittlungsverfahren mitgeführt und war an der Anklage beteiligt. Sitzungsvertreter in der Hauptverhandlung waren zwei Kollegen. Hier gilt, was bei allen RAF-Beschuldigten gilt: Mit uns und dem Gericht sprechen sie nicht. Müller und Newerla haben nichts gesagt. DK: Auch auf diesen Vorwurf nicht reagiert? L: Sie hatten Verteidiger, die dem Tatvorwurf im Wesentlichen mit der Behauptung entgegengetreten sind, die Kontrollen seien so oberflächlich gewesen, dass der Waffentransport durch andere Personen nicht weniger wahrscheinlich sei. Diese Frage war Gegenstand monatelanger Beweisaufnahme, die zu dem Ergebnis führte, dass die Waffen, so wie von mir beschrieben, in die Anstalt gelangten. DK: Hatte Hans-Joachim Dellwo die gleiche Bedeutung wie Volker Speitel? L: Nicht ganz. Hans-Joachim Dellwo hatte nicht so einen Einblick in das Geschehen und stand offensichtlich den Gefangenen im siebten Stock auch nicht so nahe wie Speitel. Ob man ihm so eine sensible Aktion wie die Beschaffung von Waffen und den Transport zugetraut hätte, weiß ich nicht. Aber er war Kurier und hat auch Sprengstoff transportiert. DK: War es für seinen Bruder nicht ausgesprochen schwierig, damit umzugehen? L: Beide kommen aus einem recht bürgerlichen Elternhaus. Der Vater ist Journalist. Hans-Joachim Dellwo ist über das Engagement für seinen Bruder in die Terrorszene hineingeraten. Persönliche Dinge kommen hinzu. Im Büro Croissant gab es überwiegend junge Frauen. Es entwickelten sich Beziehungen, und über diese Beziehungen sind auch einige in die RAF-Szene hineingeraten. So war es bei Hans-Joachim Dellwo. Der Bruder Karl-Heinz hat sich nach den Gesprächen, die Hans-Joachim mit mir geführt hat, absolut von ihm gelöst und auch einige hässliche Briefe veröffentlicht. Zwischen den Brüdern besteht kein Kontakt mehr. HansJoachim Dellwo hat aber im Unterschied zu Speitel noch familiäre Bindungen,

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die Bestand behielten, so dass er nicht ganz isoliert war. Speitel stand nach seiner Kronzeugeneigenschaft allein auf der Welt. DK: Die Kronzeugenregelung wurde 1989 legalisiert. L: Es gab aber schon in den Straftatbeständen der §§ 129, 129a StGB die Möglichkeit, Aussteigern erhebliche Strafmilderung zuzubilligen. Das habe ich damals umfassend erläutert und beiden auch zugesagt, dass ich alles, was mir möglich sei, tun würde, damit sie geschützt würden. DK: Welche Funktion hatte das Info-System? L: Das Info-System ist von Baader in einem Brief an die übrigen RAF-Ge­ fangenen sehr exakt beschrieben worden. Es sollte den Zusammenhalt der Gruppe gewährleisten, den Zusammenhalt innerhalb der Haftanstalt und die Verbindung mit den in Freiheit befindlichen Terroristen. Es sollte den Kampf draußen weiter vorbereiten. Das sei ‚in der Kiste auch möglich‘, möglich durch eine Kommunikation, die nur von den Anwälten zu gewährleisten war. DK: Nach Ansicht einzelner Anwälte sei das Info-System eine Möglichkeit gewesen, einen Informationsaustausch zu gewährleisten. L: Der Austausch von Informationen unter den Anwälten sowie von Angeklagten über den Anwalt zum anderen Angeklagten wurde an sich akzeptiert. Nur diese Situation ist in Ihrem Vorhalt angesprochen. Wenn ich allerdings einen Brief von Baader habe, in dem er anweist, wie man Sprengstoff aus Bunkern in Steinbrüchen entwendet und damit Bomben baut, dann hat das nichts mit dieser Blockverteidigung zu tun. DK: Laut Ströbele und Groenewold sollte die Kommunikation zwischen Verteidigung und Angeklagten erleichtert werden. L: Das Info-System bestand aus drei Kategorien: Kategorie I war die RAF, die Guerilla, Kategorie II waren die Gefangenen, und Kategorie III war die Agitation. Dieses Konzept wurde von Baader schriftlich festgelegt, und so wurde es auch gehandhabt. Kategorie I war der enge Zirkel der RAF. Das Info-System I garantierte den Fortbestand und die Handlungsfähigkeit der RAF auch nach der Verhaftung der Rädelsführer. Baader schrieb, die Kategorie I sei genauso verbindlich wie die Guerilla draußen verbindlich gewesen sei. Die Befehlsstruktur wird mehrfach betont. Die Kategorie I war Mittel zur Disziplinierung und des Gruppenzwangs, Schulung und Anleitung zum bewaffneten Kampf. Die Drohung nicht mehr dazuzugehören – „Du bist aus allem draußen“ – war die Höchststrafe, die es in der RAF geben konnte. Wenn Baader in einem sechs- bis siebenseitigen Brief anweist, wie man Sprengstoff aus Bunkern in Steinbrüchen entwendet und damit Bomben baut, dann ist das in keinem noch so weit gefassten Verständnis von Verteidigung unterzubringen. Wir haben in 150 Leitz-Ordnern Belegexemplare sichergestellt, die den Inhalt des Info-Systems belegen und zeigen, dass die Kommunikation auch bei einem weitesten Verständnis von Konfliktverteidi-

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gung und von Blockverteidigung nichts mit Verteidigung zu tun hatte. Von Gerhard Müller gibt es einen Kassiber, wie bestimmte Zündmittel herzustellen sind. Die Ausarbeitungen befassen sich damit, wie Hungerstreiks zu organisieren sind, wie die Ziele des bewaffneten Kampfes zu formulieren sind, wie man sich den Anwälten gegenüber zu verhalten hat, dass man sie rauszuschmeißen hat, „wenn sie sich dem Politisierungsprozess zäh und gerissen entziehen“, wie es da heißt. DK: Wäre es denkbar, dass die Anwälte nicht mitbekommen haben, dass Baader gezielt mit dem Info-System gearbeitet hat? L: Nein, das ist unvorstellbar. Die Büros Ströbele und Groenewold mussten auch eine gewisse Auswahl vornehmen. Ich will hier nicht behaupten, dass sie von jedem Kassiber Kenntnis gehabt haben. Sehr sensible Zusammenhänge – etwa konkrete Vorbereitungen von Terroranschlägen – wurden auch vor den Anwälten geheim gehalten. Das hat Speitel so geschildert, und das ist für mich vor dem Hierarchieverständnis in der RAF glaubwürdig. DK: Wie gelangten Kassiber in das Info-System? L: Meine Quellen dazu sind im Wesentlichen die Angaben Speitels und die aufgefundenen Kassiber selbst. Damit ist bereits gesagt, dass sich das auf die Zeit ab Ende 1976 bezieht. Davor hat es diese Methode – neben anderen – zwar auch schon gegeben; dafür bin ich allerdings nicht unbedingt Zeitzeuge. Auf dünnem Papier, häufig auf Zigarettenpapier, wurde von den Gefangenen mit der Schreibmaschine etwas aufgeschrieben. Dann wurde das Blatt geknickt und mit Tesafilm zugeklebt. So wurde es bei den Verteidigerbesuchen den Rechtsanwälten Müller und Newerla übergeben und die steckten sich das in die Unterhose. Die Rechts­ anwälte gingen damit in ihr Büro, dort wurde die „Post“ den Kurieren übergeben. Die ­Kuriere – Volker Speitel, Hans-Joachim Dellwo, Ralf Friedrich, Elisabeth von Dyck, ­Christof Wackernagel und andere – gingen in der Regel paarweise auf Treff­ reise zu den Illegalen; sie waren mit falschen Papieren ausgestattet. Sie trafen sich mit den Illegalen, d. h. mit den bewaffnet im terroristischen Untergrund agierenden RAF-Angehörigen auf öffentlichen Plätzen, in Gaststätten, aber auch in konspirativen Wohnungen der RAF. Solche Treffreisen dauerten mehrere Tage und fanden im Inland, häufig auch im benachbarten Ausland statt. Die „Post“ wurde den Illegalen übergeben und von diesen „Post“ übernommen, die auf dem gleichen Weg in die Anstalt zu den Gefangenen gelangte. DK: Das war 1977. L: Wenn ich Speitel folge, kann man für 1974/75 nicht von einem so professionellen Kontakt zwischen Baader, Ensslin und den Anwälten ausgehen. DK: Groenewold und Ströbele haben Strafen auf Bewährung, Croissant hat eine härtere Strafe bekommen. L: Das waren schwierige Verfahren. Am Ermittlungsverfahren gegen Kurt Groenewold war ich beteiligt. Die Anklage wurde dann vor dem OLG Hamburg

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von Dr. Morré und einem Kollegen vertreten. Die Hauptverhandlung hat ein ganzes Jahr gedauert: eine sicherlich schwierige Beweissituation, aber es lohnt sich, das Urteil zu lesen. Die Beweismittel sind angegeben, die Kassiber, auf die ich hier Bezug genommen habe, sind genannt; sie widerlegen die Darstellung der Anwälte, es habe sich um offenes Material gehandelt. Offenes Material hätte uns nicht zur Einleitung von Strafverfahren veranlasst. DK: Es scheinen höchst unterschiedliche Interpretationen des Info-Systems vorzuliegen. L: Es wird gnadenlos gelogen in der Auseinandersetzung mit der RAF. DK: Hielten Sie für möglich, dass man Verteidigergespräche abhört? L: Im Strafprozess als strafverfahrensrechtliche Maßnahme passiert so etwas nicht, und es ist auch nicht passiert. Als präventiv-polizeiliche Maßnahme zur Verhinderung schwerster Verbrechen kann man das nicht ausschließen. Das ist situationsabhängig. Dazu kann ich als Staatsanwalt nichts sagen. Ich weiß nicht, ob das geschehen ist. Ich weiß, dass die Inhaftierten im siebten Stock bei einzelnen konkreten Anlässen abgehört wurden. Nach dem Attentat auf die deutsche Botschaft in Stockholm 1975 hat es solche Aktionen gegeben. Davon haben wir als Staatsanwälte nichts gewusst. DK: Aber es gab 1977 den großen Eklat als herauskam, dass Gespräche im Besucherzimmer zwischen Angeklagten und Verteidigern abgehört worden waren. L: Strafverfahrensrechtlich ist das nicht vorstellbar und passiert auch nicht. Ob das im Einzelfall aus einem übergesetzlichen Notstand geboten ist, das will ich nicht vom Tisch wischen. Wenn Sie sich einmal vorstellen, wie die Situation war: Die RAF-Gefangenen hatten sieben Stangen Sprengstoff im siebten Stock, zwei Pistolen, einen Revolver, reichlich Munition und wollten sich frei bomben und frei schießen. Ich stell mich nicht hin und sage, dass in einer solchen Situation eine Abhöraktion gegen jegliche rechtstaatlichen Grundsätze verstößt. Das haben die Gefahrenabwehrbehörden auf die konkrete Situation bezogen verantwortlich zu entscheiden. DK: Gab es einen übergesetzlichen Notstand? L: Ich rede abstrakt. Die präventiv-polizeirechtliche Bewertung ist nicht meine Sache. DK: Wie haben Sie vom Suizid der drei Gefangenen erfahren? L: Ja. Das weiß ich noch. Ich bin an dem Morgen, als die Selbstmorde entdeckt wurden, kurz vor halb neun ins Büro gekommen. Generalbundesanwalt Rebmann war schon da und hatte an der Pforte hinterlassen, dass die nächsten Staatsanwälte gleich zu ihm kommen sollten. Da waren wir dann ganz schnell, drei oder vier Bundesanwälte und Staatsanwälte. Rebmann hat uns erläutert, was man ihm aus Stuttgart berichtet hatte, und wir haben durchgeprüft, wer nun für die Unter-

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suchung des Geschehens zuständig ist. Wir waren sehr schnell der Überzeugung, dass das in der Strafprozessordnung geregelte Todesermittlungsverfahren im Verantwortungsbereich der Staatsanwaltschaft und des Amtsgerichts Stuttgart zu führen ist. Rebmann hat den zuständigen Ministerien in Stuttgart am Telefon erläutert, dass die Bundesanwaltschaft derzeit keine Zuständigkeit sehe, sich um die Sache zu kümmern, er hat aber dazu geraten, einen ausländischen Obduzenten hinzuzuziehen. DK: Ihr Kollege Heinrich Wunder hat Jahre später erklärt, ein Strafverfahren mit mehreren Toten müsse langfristig die Justiz und die Geschichtswissenschaft beschäftigen. L: Das sehe ich auch so. Auffällig ist doch, dass bis 2007 sich kein Mensch um diese Dinge gekümmert hat. Die Aufarbeitung ist noch längst nicht abgeschlossen. Auch die Grundhaltung, dass man das Geschehen aus einer gewissen Gegnerschaft gegenüber den Institutionen angeht, ist noch nicht beendet.

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Foto: privat

Geboren im Jahre 1937 Jurastudium in Berlin, Kiel und Münster 1960 Referendarexamen, 1966 zweites jur. Staatsexamen 1966 Gerichtsassessor, dann Staatsanwalt in Essen, 1968/69 auch eingesetzt in der politischen Abteilung der Behörde 1968 Abschluss der Promotion in Münster 1971–1975 Staatsanwalt und Erster Staatsanwalt bei der Staatsschutzabteilung der Staatsanwaltschaft Dortmund 1975–1976 Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe 1976–1977 Oberstaatsanwalt bei der Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf 1977–1987 Oberstaatsanwalt (BGH) bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe 1987–2002 Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof bei der Bundesanwaltschaft

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Gisela Diewald-Kerkmann (DK): Sie waren an zahlreichen Strafverfahren beteiligt. Peter Morré (M): Das erste Mal bin ich 1969 als Gerichtsassessor der poli­ tischen Abteilung der Staatsanwaltschaft Essen zugeteilt worden, als Aushilfe. Die hatten sehr viele Demonstrationsverfahren, auch eine rechte Gegendemonstration. Ich bin auch zusammen mit der Polizei vor Ort eingesetzt worden, bei Festnahmen oder auch als juristischer Ratgeber der Polizisten. An die erste Hauptverhandlung in Essen kann ich mich nicht mehr erinnern. Es waren sehr viele Verfahren in dieser Zeit. Im Februar 1971 wurde ich abgeordnet, später zur Staatsanwaltschaft Dortmund versetzt. Die Abteilung dort hatte eine Doppelfunktion. Sie war politische Abteilung für den Landgerichtsbezirk Dortmund, d. h., es kamen alle Straftaten dorthin – quer durch das Strafgesetzbuch – die irgendwie einen politischen Einschlag hatten. Das war die Masse der Demonstrations-, Widerstands-, Hausfriedensbruchs- und Hausbesetzungsverfahren, Beleidigungen auf politischer Grundlage, auch Paragraph 90 a StGB-Beschimpfung der Bundesrepublik Deutschland. Gleichzeitig waren wir für den gesamten Oberlandesgerichtsbezirk Hamm für so genannte Staatsschutzdelikte nach Paragraph 74 a des Gerichtsverfassungsgesetzes zuständig. Bestimmte Straftaten im Vorfeld der Landesverteidigung gehörten dazu, zum Beispiel das Sammeln von Nachrichten. Damals spielte der „Kalte Krieg“ noch eine erhebliche Rolle, auch die strafrechtliche Gewährleistung von Partei- und Vereinigungsverboten. Ganz wichtig war die Verfolgung so genannter krimineller Vereinigungen, den Paragraphen 129 StGB gibt es heute noch. Es gibt den Qualifikationstatbestand 129a erst seit dem 1. September 1976, die Beteiligung an terroristischen Vereinigungen. Im Vorlauf hatten wir auch schon Terrorismus­verfahren. Ich selber war, so glaube ich, der erste Staatsanwalt eines Landes in der Bundesrepublik, der ein echtes RAF- Unterstützungsverfahren hatte. Das war ein Verfahren, das aus der Festnahme von Karl-Heinz Ruhland resultierte. Diese Ruhland-Aussagen haben zu einer Fülle von Ermittlungsverfahren der Bundesanwaltschaft, damals noch wegen Beteiligung an kriminellen Vereinigungen und Unterstützung geführt. Diese wurden jetzt, wenn sie keine besondere Bedeutung des Falles aufwiesen, über die Staatsschutz-Staatsanwaltschaften in der Republik verteilt. Eines der ersten Verfahren richtete sich gegen eine junge Dame, Ursel Küster. An das Verfahren kann ich mich noch sehr gut erinnern. Ich habe angeklagt und auch eine Verurteilung erreicht. Die Kammer war sehr freundlich gewesen, sehr milde. Das war alles noch im Vorfeld der großen RAF-Prozesse. Ingrid Holtey (H): Herr Morré, Sie waren 1967/68 30 Jahre alt. Wenn ich Sie als Achtundsechziger bezeichne, könnten Sie dem zustimmen? M: Nein. Ich will es – wie sagt man – sozialempirisch bestimmen: Wir waren doch alle schon etabliert. Ich habe Anfang 1966 zweites Staatsexamen gemacht, dann noch meine Dissertation nachgerüstet, bin im Sommer 1966 zur Justiz gekommen. Als die 68er Bewegung ausbrach, war ich bereits zwei Jahre dabei. Wir haben sicherlich die Ereignisse 1968 anders betrachtet als die Kollegen eine Gene-

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ration vor uns und sicherlich auch anders als ein erheblicher Teil der Kollegen, die wenig politisches Interesse hatten. Aber man muss nüchtern sagen, wir waren alle schon Familienväter. Wir standen auf der anderen Seite der Barrikade, was nicht ausschloss, dass wir durchaus differenzierten. H: Aber die 68er Bewegung war keine Generationsbewegung, sie bestand nicht nur aus der Studentenbewegung, sondern auch aus der Opposition gegen die Notstandsgesetze, und da waren Personen wie Abendroth beteiligt, die älter waren. M: Weiß ich, aber das hat uns als junge Staatsanwälte nicht tangiert. Wenn Sie ein Schlüsselerlebnis von mir wissen wollen, dann war es die „Spiegel-Affäre“. Da würde ich sagen, dass die Masse der damals jungen Juristen meiner Jahrgänge, und zwar quer durch die politischen Anschauungen – ich war damals noch Re­ ferendar – sowie sehr konservative oder liberale Kollegen, alle unisono sich in der „Spiegel-Affäre“ sehr erregten. Ich glaube, das war für viele das große Ereignis. Es wurde gesagt, wenn wir erstmal dabei sind, werden wir das irgendwie anders aufziehen. Im Gespräch mit vielen älteren Leuten schwang doch die Auffassung durch, naja Gott, Demokratie ist eben eine Schönwetterinstitution. Aber wenn der Staat in Gefahr ist, wie hier, da muss einfach durchgegriffen werden. Da darf man dann nicht zimperlich sein. Und da, würde ich sagen, war schon ein Teil meiner Ausbilder nicht mehr mit dabei. Der Schnitt war vielleicht so bei Ende 30 oder 40. Da waren die Meinungen schon zum Teil ganz anders. H: Hat Sie das justizkritisch gemacht? M: Nein, nicht justizkritisch. Ich muss sagen, meine Frau und ich, wir kommen beide aus eher politischen Familien. Meine Großeltern, der Vater ist früh gefallen, waren deutschnational, sehr deutschnational. Ich komme aus einer Offiziersfamilie. Meine Schwiegereltern waren politisch sehr aktiv auf der völkischen Seite in der Weimarer Republik. Mein Schwiegervater gehörte zum unmittelbaren Umkreis um Hugenberg, legte aber großen Wert darauf, dass er sich von Hugenberg nach der Erklärung der Harzburger Front, also dem Koalitionsangebot an Hitler 1931, von den Nationalsozialisten und deswegen auch von Hugenberg separiert hat. Er war antinationalsozialistisch eingestellt, ohne dass er, wie viele Leute dieser Jahrgänge, nun unbedingt die Republik und den westlichen Liberalismus verehrte. In meiner Familie, glaube ich, war es ähnlich. Ich habe wenig Gelegenheit gehabt, mit meinem Vater über diese Dinge zu sprechen, er war Historiker. Er fiel mit knapp 30, aber Großeltern und sonst noch andere Familienmitglieder waren nationalkonservativ und sehr überzeugt. Aber, so glaube ich, keine Nazis. Die einzige, die mit den Nazis sympathisierte, war meine unpolitische Mutter. H: Haben Sie sich während des Studiums politisch betätigt? M: Nein, ich habe immer politische Auffassungen gehabt, aber keiner Hochschulgruppe angehört. In Münster habe ich beim Repetitor Freunde und Kollegen von der äußersten Linken bis ziemlich weit rechts gehabt. Also, ich habe nie Berührungsängste gehabt, sondern solche Freundschaften oder kollegialen Be-

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ziehungen immer eher als erfrischend empfunden, bis hin zu einem Mitglied des SDS, das davon träumte, Innenminister eines wiedervereinigten sozialistischen Deutschlands zu werden. Da konnte einem schon etwas anders werden, wenn er sich seinen Träumen hingab. Heute ist er ein hoch angesehener OLG-Anwalt in Köln, Spezialität, Kindergärten aus Vierteln älterer Villenbewohner herauszu­ klagen. So kann man sich ändern! H: Der 2. Juni 1967. M: Kenne ich nur aus der Zeitung. Ich habe zwar große Teile meiner Schulzeit, Studien- und auch Referendarzeit in Berlin verbracht und war an allem besonders interessiert, was in Berlin war, hatte auch die Schwiegereltern da noch. Meine Frau war Ur-Berlinerin. Dienstlich habe ich mich nicht mit dem 2. Juni befasst. H: Bereits 1969 sind Sie mit Verfahren konfrontiert worden, die im Kontext der Mobilisierung der außerparlamentarischen Opposition entstanden sind. Ist Ihnen ein „neuer Typus des Anwalts“ begegnet? M: Ja, den habe ich aber erst in Dortmund bei einem Staatsschutzverfahren 1973 erlebt und da allerdings reichlich lange. Das war ein Verfahren gegen eine K-Gruppe, so genannte ‚K-Gruppe‘. Wir waren als Staatsschutzstaatsanwaltschaft auch zuständig für solche Vereinigungen. Es gab ein rechtliches Problem, das Parteienprivileg. Da hat der BGH damals eine Entscheidung getroffen, danach war auszuschließen, dass KPD, KPD/ML, KPD/AO, KPD/ Roter Morgen und wie die alle hießen, nicht vielleicht doch Parteien waren. Damit wurde uns ein Schwert aus der Hand geschlagen. Ein solches Verfahren gegen eine KPD/ML-Splittergruppe in Dortmund habe ich kurz vorher geführt. Die Anwälte Heinrich Hannover und Wolf Dieter Reinhard waren sechs oder acht Wochen lang meine Gegenparts, die habe ich dann erlebt. H: Können Sie diesen Typus des neuen Anwalts schildern? M: Heinrich Hannover, das war doch schon ein Denkmal für mich. Sehen Sie mal, ich war damals 36 Jahre alt. Hannover marschierte auf die 60 zu. Der war mir aus der Zeitung bekannt, aus den KPD-Verfahren. Und meine alte Abteilung in Dortmund war ursprünglich 1950 mit den so genannten „Blitzgesetzen“ nach Korea gegründet worden, nachher zur Verfolgung von KPD und FDJ, also zur strafrechtlichen Gewährleistung der Verbote. Heinrich Hannover ist genau wie Diether Posser vor den Staatsschutzkammern aufgetreten. Das war aber lange, lange vor meiner Zeit. Hannover habe ich jetzt erlebt, weil er einen Rädelsführer einer K-Gruppe vertrat. Wolf Dieter Reinhard vertrat den anderen. Reinhard, würde ich sagen, war ein ganz kleines bisschen älter als ich. Menschlich waren beide sympathisch, juristisch handwerklich vorzüglich. Sehen Sie, bis in die DemoVerfahren ab 1968 hinaus gab es zwar immer das Institut des Beweisantrages in der Strafprozessordnung, aber kein Mensch konnte doch damit umgehen. Die waren plötzlich die Meister der Beweisanträge. Die konnten Beweisanträge zu den idiotischsten Themen stellen, aber in einem bestimmten Aufbau und einer vor­

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geschriebenen Formulierung, so dass keine Kammer darüber hinweg kam. Wir haben in K-Gruppen-Verfahren Beweis erhoben über die Lage der Strafgefangenen in der Volksrepublik China, weil die Verteidigung der Meinung war, das sei erforderlich. Die Kammer sah keine Möglichkeit, diesen Antrag abzuschmettern. Insofern war das eine neue juristische Qualität. Aber um auf diese beiden Herren zurückzukommen. Das waren vorzügliche Handwerker, in der Formulierung aber manchmal rabiat. Etwa Hannover, ich will jetzt hier keine Kollegenschelte betreiben. Der Vorsitzende war sehr katholisch, und ich fand die Art und Weise, wie Hannover wegen des in Nordrhein-Westfalen immer noch üblichen Kruzi­ fixes im Gerichtssaal intervenierte, einfach unanständig. Wie er den Vorsitzenden angriff, den das sehr schmerzte. Das macht man nicht, und das war ja auch völlig verfahrensunerheblich. Das war mein persönlicher Eindruck, aber den Umgang mit mir kann ich überhaupt nicht beanstanden, fachlich waren sie hervorragend. Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie sich mit der Sache – das war nicht Terrorismus, sondern K-Gruppe, also maoistisch, links von der DKP – identifizierten. Es gab nachher andere Verteidiger, da war das zum Teil anders. Das waren Leute, die oft schon als Referendare verteidigt hatten, d. h. die Praxis hatten. Nach der Strafprozessordnung können Sie einen Referendar zur Verteidigung vor das Amtsgericht, den Einzelrichter, schicken, der selbstständig – wenn er einen bestimmten Teil seiner Referendarzeit schon hinter sich gebracht hat – dann in Ausübung des Mandats seines Ausbilders verteidigen darf. So kannte ich zum Beispiel Reinhard Zimmermann, der später Kurt Groenewold verteidigt hat, schon aus K-Gruppen-Prozessen im Ruhrgebiet. Er war inzwischen Assessor und Anwalt geworden. H: Hat sich durch die neue Verteidigungsstrategie etwas geändert im Gerichtssaal? M: Ich würde nicht von Strategie sprechen. Die Leute haben damals im Grunde nur die Möglichkeiten der Strafprozessordnung in einer Weise ausgelotet, die störend, lästig war, manchmal auch neben der Sache lag, aber formal haben sie sich in den Grenzen des geltenden Rechts bewegt. Es gab viele Richter, die von Natur aus ziemlich unpolitisch waren und entsetzlich hilflos, meistens ältere. Ich habe Pausengespräche gehört, etwa so: „Das habe ich nicht studiert, Politik ist nicht meine Sache, ich bin völlig unpolitisch“. Das Hauptproblem in diesen Prozessen waren weniger die Anwälte als die mitgebrachten Zuhörer. Die Anwälte oder Angeklagten brachten 40, 50 Zuhörer mit in den Saal, die als erstes ein Kampflied anstimmten. Die zogen dann durch die Korridore des Landgerichts Dortmund. Da saßen sie, und dann begann es erstmal mit einem Sprechchor „Nieder mit der Klassen­ justiz“, ob der Vorsitzende Ruhe gebot oder nicht, das war völlig egal. Jüngere Richter grinsten dann und ließen die aussingen. Ältere Richter waren zum Teil völlig außer sich, sahen es auch als Angriff auf ihre Autorität, das waren die nicht gewöhnt. Es gab natürlich auch Verteidiger, die jetzt in den Formen der Strafprozessordnung auch noch dreiste Bemerkungen zum Gericht rüberbrachten. Sie hielten sich in meinen Augen formal in den Grenzen des Rechts, aber es gab ältere Kol-

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legen, die hatten das noch nie gehabt. Die haben auch ganz offen gesagt, Politik interessiert mich nicht, und jetzt will ich das über die Bühne bringen. Wenn man selbst einschritt, weil die Störungen der Ordnung im Gerichtssaal zum Teil ziemlich hanebüchen waren, so schrie etwa ein Mädchen aus dem Saal zum Richter: „Du Drecksack, halt doch mal das Maul!“, oder dann flogen mal Gegenstände vorne hin. Wenn man dann sagte: „Also, Herr Vorsitzender, die da in der dritten Reihe mit dem schönen roten Stern auf dem Pulli, die hat Ihnen eben ‚Du Drecksack‘ zugerufen, ich beantrage Ordnungshaft, drei Tage, oder Ausschluss aus dem Gerichtssaal oder was auch immer“, kam vom Richter die Antwort: „Ich habe das nicht gesehen“. In der Pause musste man sich von dem Richter anhören: „Hören Sie mit diesen dämlichen Ordnungsanträgen auf, ich will hier die Sache ruhig zu Ende bringen“. Das war auch eine Generationsfrage. Ich sage nicht, es waren alle Kollegen so, aber das war eine Erfahrung, die man mit älteren Kollegen manchmal machte. Auch diese Hilflosigkeit, da kam ein Angeklagter und erzählte was von den Herrlichkeiten der Volkskommunen in China. Der Richter hatte im Ruhrgebiet nur die WAZ gelesen. Er hatte noch nie was von den Volkskommunen gehört, und nun kamen plötzlich Beweisanträge darüber. H: Waren diese Beweisanträge ein Stück Gegenöffentlichkeit vor Gericht? M: Vielleicht, aber absolut irrelevant. Wir haben sehr viele Flugblattverfahren gehabt. Das Problem war – ich muss noch eine Rechtsfrage vorwegschieben – dass alle großen K-Gruppen ihren Sitz aus Westberlin in Städte des Ruhrgebiets verlegt hatten. Erscheinungsort, siehe Paragraph 7 Abs. 2 der Strafprozessordnung, aller meinetwegen in Passau oder Flensburg verteilten Flugblätter war ausweislich des Impressums Dortmund. Jetzt hatten wir dieses Ding an der Backe. Dann wurden also mal kurzerhand die Abschaffung des Justizsystems und die Ersetzung durch eine Volksjustiz im Sinne der Diktatur des Proletariats im Zuge der Bekämpfung unserer Bundesrepublik gefordert, und damit musste man sich ausein­ andersetzen. Inwieweit ist das strafbar, nicht nur als Beschimpfung der Bundesrepublik Deutschland, sondern vielleicht auch als öffentliche Aufforderung zum Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, vielleicht auch zum Hochverrat. Stichwort: „Diktatur des Proletariats“ – da haben wir gesagt, klar, kein Minderheitenschutz, keine Demokratie, also verfassungswidrig. Jetzt kam der Beweisantrag, wie großartig die Diktatur des Proletariats und der Strafvollzug zum Beispiel in Groß-Peking seien. Ja, da saß der Richter mit diesem Beweisantrag. Da haben wir uns zwei Tage lang mit irgendwelchen Sachverständigen auseinandergesetzt, die die Gegenseite gleich mitgebracht hatte. Es gibt in der Strafprozessordnung eine heute geänderte Bestimmung, die, wenn bestimmte Ladungsformalitäten eingehalten sind, das Gericht zwang, ein so genanntes präsentes Beweismittel, das die Verteidigung oder auch die Staatsanwaltschaft mitbringt, zu nutzen. Die hatten natürlich ihre „Haussachverständigen“, und die waren ordnungsgemäß geladen. Dann präsentierte der Privatdozent Soundso, der zum Gemüseanbau in Strafvollzugskommunen der Volksrepublik China eine bestimmte Meinung hatte, und sie hörten sich nun diesen Mann zwei Tage an. In einem anderen Verfahren brachte

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man den berühmten Professor Reinhard Kühnl aus Marburg mit, der Ihnen ein Begriff ist. Und Kühnl referierte zwei Tage lang über das Thema, es bestünde in Bezug auf Persönlichkeit und politisches Wirken eine partielle Identität zwischen Franz Josef Strauß und Adolf Hitler. Die Verteidiger stellten erst einen normalen Beweisantrag, den konnte man antragsgemäß abschmettern lassen, also sagen keine Sachrelevanz, für die Entscheidung unerheblich. Aber dann brachten sie den Sachverständigen mit, und es gab keine Möglichkeit mehr. Schließlich sprach der Herr Kühnl, ich höre ihn noch, mit leiser etwas austriakischer Stimme, ich weiß nicht, wo er herkam, irgendwo aus dem Sudetenland oder so. Es war jedenfalls sehr schwierig, ihn zu verstehen, eine etwas klagende Stimme. Er hat uns darüber aufgeklärt, dass Strauß und Hitler partiell identisch seien. H: Würden Sie der These zustimmen, dass die 68er Bewegung das Justiz­system verändert hat? M: Verändert nicht. Sicherlich ist die Einstellung vieler Kollegen zu Straf­sachen mit politischem Einschlag eine andere geworden. Wir haben uns daran gewöhnen müssen, dass man sich auch damit sachgemäß beschäftigen muss und dass man das sachgemäß zu Ende bringen kann. Sicherlich ist der Ton in den Hauptverhandlungen vorsichtiger geworden. Sicherlich hat man sich mit Eigenheiten der Strafprozessordnung beschäftigen müssen, die einem vorher nicht präsent waren. Ich habe das auch tun müssen. Aber ich würde nicht sagen, das war eine Veränderung des Justizsystems. H: Keine Demokratisierung? M: Nein. Die Justiz leitet sich nach unserem Verfassungsverständnis aus der Verfassung, aus der Demokratie ab, wenn Sie so wollen, demokratisch legitimiert ist sie. Die Richter waren alle kraft Grundgesetz und darauf beruhenden Gesetzen ernannt. Die Gesetze – das Strafgesetzbuch, die Strafprozessordnung – waren verfassungskonform gemacht worden, denn unsere Strafprozessordnung ist die des Reiches von 1877. Und dafür erstaunlich liberal. Zum Beispiel diese Regelung der präsenten Beweismittel und der Beweisanträge, die „Magna Charta“ der Angeklagten, sie sind von 1877. Das ist keine Errungenschaft des nachkonstitu­ tionellen Rechts. H: Ist die Machtverteilung zwischen Richtern und Verteidigern nicht eine andere? M: Nein, die Richter mussten sich damit auseinandersetzen. Wenn Sie dem Beweisantrag stattgaben, mussten sie, um das Urteil revisionssicher zu machen, sich mit diesem auszuschöpfenden Beweismittel auch in den Urteilsgründen beschäftigen. Aber das ist normale richterliche Handwerkskunst, das mussten sie seit 150 Jahren machen. Das ist nichts Neues. Nur, dass man so etwas heute machen musste, obwohl die Vorschrift immer bestand, und man es bei der Antragstellung machen musste, das war neu. Aber ich sehe das nicht als Riesen-Demokratisierungserfolg. Früher wurden solche Anträge eben nur selten gestellt.

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H: Heute spricht man manchmal von Konfliktverteidigung. M: Das war ein Wort, das man von den Verteidigern im Pausengespräch hörte. Ich kann mich nicht erinnern, dass einer im Gerichtssaal laut proklamierte: „Herr Vorsitzender, von nun an betreiben wir Konfliktverteidigung“. H: Aber das ist etwas, was in den APO-Prozessen entstand? M: Meines Erachtens ja. Ich meine, da muss man etwas weiter ausholen. Der Hintergedanke der Konfliktverteidigung, so wie ich sie damals verstanden habe, war im Grunde genommen, die angebliche Klassengebundenheit der Justiz und die Klassengebundenheit justizförmiger Prozesse der Öffentlichkeit, auch wenn es dem Angeklagten gar nichts nutzte, vorzuführen. Deswegen auch die weiten Bezüge. Ich kann mich erinnern, etwa zu Angola oder irgendwas, was gerade aktuell anstand. Das wurde damals unter Konfliktverteidigung verstanden, und die Gerichte haben das zum Teil resigniert laufen lassen. Ich habe es nie verstanden, dass die meinten, sie müssten nun dieses Gericht angreifen, fertig machen. Die wollten die Richter dazu bringen, sich mit diesen Geschehnissen, also von Angola bis Benno Ohnesorg oder ich weiß nicht was, zu beschäftigen. Dann wurde behauptet, daraus gehe der Klassencharakter dieses Systems wie natürlich die Klassengebundenheit der Straftat hervor, die dem Angeklagten zur Last gelegt werde. Wenn das Gericht nicht darauf springen wollte, dann war es natürlich auch die Klassengebundenheit dieses Gerichtes. Um auf Heinrich Hannover zurückzukommen, in diesem einen KPD/ML-Verfahren vor der Staatsschutzkammer schloss er sein Plädoyer mit den Worten: „Aber das Gericht wird schon wissen, welche Strafe den Angeklagten aufzugeben die herrschende Klasse ihm befiehlt“. Er hat ein Ehrengerichtsverfahren in Bremen dafür gekriegt. Da kamen noch 1000 andere Sachen von anderen Staatsanwaltschaften dazu, weil den Gerichten unterstellt wurde, an den Strippen der herrschenden Klasse zu hängen und nicht frei in ihrer Entscheidung zu sein. Ich muss sagen, das habe ich doch als grundlose und auch unanständige Insinuation empfunden. Aber diese Staatsschutzkammer war sehr verständnisvoll. DK: Bestand der Unterschied zwischen den alten und den neuen Anwälten lediglich darin, dass letztere die Strafprozessordnung gelesen hatten? M: Ja, das ist nicht abwegig. DK: Hätten Sie es für möglich gehalten, dass die Befreiung Baaders 1970 der Beginn des bundesdeutschen Terrorismus werden könnte? M: Nein, ich war nur immer ein begeisterter und aufmerksamer Zeitungsleser. Wir kannten auch Ulrike Meinhof, die ich übrigens vom Ansehen noch aus meinem Studium in Münster kannte. „Atom-Ulrike“, das war damals der Spitzname, unter dem sie rumlief, wegen der anstehenden Atombewaffnung der Bundeswehr. DK: Was haben Sie bei Meinhofs „Fenstersprung“ 1970 gedacht, gerade vor dem Hintergrund, dass Sie sie in Münster erlebt haben?

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M: Meinen Eindruck in Münster – Sie mögen jetzt sagen, das ist etwas chauvinistisch, was ich jetzt sage – kann ich Ihnen genau schildern. Sie kennen Münster natürlich genauso gut wie ich. Wir liefen über den Schlossplatz, ein Studien­kollege und ich, dieser sagte: „Da drüben steht Atom-Ulrike, hin!“. Dann sind wir dahingelaufen, und da stand ein, wie ich fand, eigentlich sehr niedlich aussehendes Mädchen mit einem runden, dunklen Pagenkopf, sehr ausdrucksvollen großen Augen, einem blauen Wintermantel mit Rundkragen. Das wirkte ein bisschen altertümlich. Sie verteilte mit strenger, ernster Miene an jeden, der vorbeiging, irgendein Flugblatt. Das war kurios, aber sonst nichts. Sie schrieb immer im „Semester­ spiegel“. Ich weiß nicht, ob die Studentenzeitung heute in Münster noch so heißt. Da schrieb aber auch so ein konservativer Bursche wie Lothar Bewerunge, der nachher bei der FAZ in Nordrhein-Westfalen Korrespondent war. DK: Und als Meinhof aus dem Fenster gesprungen ist? M: Das hat mich nicht berührt. DK: Wenn Sie das gesellschaftliche Klima 1970 mit dem des Jahres 1972 nach den Sprengstoffattentaten vergleichen müssten, welche Unterschiede sehen Sie? M: Ich würde den Schnitt nicht bei den Sprengstoffanschlägen machen, sondern insbesondere bei den spektakulären Frankfurter Festnahmen im Juni 1972. Ich war damals Provinzstaatsanwalt bei „meinen“ KPD/ML-Leuten in Dortmund, das hatte keine Berührung miteinander, war vielleicht sogar politischer als die RAF, fand ich. Aber doch hatte man das Gefühl, hier kommt eine neue Qualität. DK: Was war die neue Qualität? M: Die neue Qualität war, dass jetzt gruppenmäßig mit der Waffe in der Hand gegen den Staat, staatliche Einrichtungen und Einrichtungen der alliierten Schutzmächte vorgegangen wurde. Das erfolgte organisiert im Wege einer Art, wie sie es selber wohl empfunden haben, Kriegsführung, ohne auf Kollateralschäden, wie es so schön heißt, zu achten, eben militärisch. Das war eine neue Qualität, wobei ich immer persönlich sagen muss, ich war nie der Meinung, dass die RAF, obwohl sie so etwas machte, eine existentielle Gefahr für die Republik war. Das schloss nicht aus, dass das erste Mal in der Geschichte der Republik in organisierter, militärischer Form hier gegen den Staat, seine Einrichtungen, seine Diener und die Schutzmächte vorgegangen wurde. Ich weiß nicht, ob die Frage noch kommt, vielleicht nehme ich Ihnen etwas vorweg. In meiner Behörde ist damals die Frage diskutiert worden, warum verfolgen wir die nicht wegen Hochverrats. Ich bin immer ein Anhänger gewesen zu sagen, gegebenenfalls mit gewissen rechtlichen Änderungen der Bestimmungen gegen die RAF wegen Hochverrats vorzugehen. Ich war der Meinung, obwohl – wollen wir es mal so sagen – es schwächelte vielleicht an einem Punkt. Der Hochverrat sieht mit dem Sturz der verfassungsmäßigen Regierungsgewalt, lassen wir den Gebietshochverrat beiseite, die Ersetzung durch ein neues Regierungssystem vor. Da hakte es immer bei der Frage: „Was wollen die denn stattdessen?“, da wurde es dünn. Das ist eben die Frage. So schlug ich

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in der Behörde vor, ob man nicht mit dem so genannten bestimmten hochverräterischen Unternehmen, also einem Einzelvorhaben, gegen die RAF vorgehen soll. Mein von mir bis heute hoch verehrter Lehrer bei der Bundesanwaltschaft, viele Jahre stellvertretender Generalbundesanwalt, sagte zu mir: „Herr Morré, wollen Sie denn die Leute mit den ehrenhaften Hochverrätern des 20. Juli auf eine Stufe stellen?“ Da sagte ich: „Natürlich nicht“. Ja, meinte er, aber Sie können, wenn Sie mit Hochverrat rangehen, nicht mehr unterscheiden. Trotzdem bin ich immer der Meinung gewesen, wir bewegen uns bei der Auseinandersetzung mit der RAF oder mit dem politischen Terrorismus auf dem Gebiet des politischen Strafrechts. Als Justiz und als Staatsanwälte müssen wir uns dazu stellen. Wenn wir die Staatsschutzstrafbestimmungen anwenden, dann ist das Politik. DK: Als Sie 1972 von den Verhaftungen gehört haben, war damit nach Ihrer Auffassung das Problem RAF erledigt? M: Nein, das wusste jeder gute Zeitungsleser, dass man nur einen Teil erwischt hatte. Mit den Festnahmen der späteren Stammheim-Angeklagten war das Problem nicht erledigt, keineswegs. DK: Aber die Verhafteten waren die Gründungsmitglieder, draußen waren nur noch einzelne. M: Ja, aber man wusste doch, es waren noch mehr. Nein, den Eindruck habe ich nicht gehabt, das Problem erledigt sich dadurch. DK: Der Hungertod des RAF-Mitglieds Holger Meins war im Jahre 1974. M: Das kenne ich nur aus der Zeitung. Ich habe mit Holger Meins nur im Rahmen dieses berühmten Selbstkritik-Kassibers im Info-System zu tun gehabt, der im Groenewold-Verfahren eine Rolle spielte. DK: An welchen Strafverfahren waren Sie im Kontext des bundesdeutschen Terrorismus beteiligt? M: Also im Land NRW nur das von mir erwähnte RAF-Unterstützerverfahren; das war der einzige Bezug zur Roten-Armee-Fraktion. Sonst habe ich mich mit Demonstrations- und damit zusammenhängenden Widerstandsverfahren beschäftigt, auch mit einzelnen Verfahren wegen Körperverletzung im Amt, gegen Polizeibeamte. Das zog sich, bis ich Anfang 1975 aus Dortmund wegging. Dazu zahlreiche Flugblattverfahren, meistens gegen K-Gruppen, wegen § 90 a StGB, Beschimpfung der Bundesrepublik Deutschland, aber auch wegen öffentlicher Beleidigung, dann diese unseligen Strauß-Hakenkreuz-Prozesse. Wenn Sie sich noch an die Karikaturen erinnern, beispielsweise mit Rainer Barzel, Herbert Wehner oder Franz Josef Strauß. Der zuletzt Genannte stellte als einziger Strafanträge. Die Staatsanwaltschaften in der gesamten Bundesrepublik arbeiteten Strauß’ Strafanträge ab. Wehner oder Barzel haben gesagt: „Nein, das steht mit meiner politischen Tätigkeit im Zusammenhang. Politik, da kann ich mich selber wehren, damit behellige ich nicht die Justiz“, was ich sehr richtig fand. Was habe ich im politischen

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Bereich noch gemacht? – Hausfriedensbrüche, Hausbesetzungen, Sammeln von Nachrichten, Störpropaganda und Zersetzung. DK: Und Verfahren gegen RAF-Mitglieder? M: Außer dem RAF-Unterstützerverfahren gegen Ursel Küster überhaupt nichts. Das war ein echtes RAF-Verfahren, und das hat mich auch persönlich sehr beschäftigt. Das sage ich ganz ehrlich, die junge Frau, die hätte auch zu unserem Freundeskreis gehören können. DK: Was hat Sie daran beschäftigt? M: Wenn Sie so wollen, es war vielleicht von unserem Fleisch, es war Bildungsbürgertum. Es war eine sehr apart aussehende junge Frau mit dem ge­wissen Etwas, die sich vor Gericht teils naiv, aber teils auch gut verteidigte, liberale Kindererziehung, großer Freundeskreis, kulturell, politisch und literarisch interessiert. DK: Wie würden Sie aus der heutigen Perspektive das Stammheim-Verfahren beurteilen? M: Ich habe mit Stammheim nur in Bezug auf die Verteidiger etwas zu tun gehabt. An dem Verfahren gegen die „Rädelsführer“ der ersten RAF-Generation bin ich nicht beteiligt gewesen, weiß aber über die Medien hinaus eine Menge von dem, was die Kollegen erzählten, die Sitzungsvertreter waren und zum Teil Wand an Wand mit mir saßen. Ich hatte das Glück, im Groenewold-Prozess als Mitkämpfer Klaus Holland, Oberstaatsanwalt beim BGH, zu haben, der der „vierte Mann“ in der Stammheim-Mannschaft war. Er hat mir sehr viel erzählt. Wir haben uns ausgesprochen gut verstanden, aber er lebt leider nicht mehr. DK: Wann haben Sie den Anwalt Kurt Groenewold kennen gelernt? M: Indem ich das gegen ihn bereits vor meiner Abordnung zur Bundesanwaltschaft eingeleitete Ermittlungsverfahren als Sachbearbeiter aufs Auge gedrückt bekam mit der Weisung, nun machen Sie mal schnell was. Ich bekam nicht die Weisung – man hätte mich sowieso nicht anweisen können – „nun klagen Sie den Mann schleunigst an“, aber „bringen Sie das Verfahren zu einem Ende oder erst mal zu einer Entscheidung“. Die Behörde und auch die Bundesregierung waren in der Öffentlichkeit wegen der Ausschlussverfahren in Stammheim, auch in Bezug auf Groenewold, ein bisschen in Druck. Das Verfahren war, weil der vorangehende Sachbearbeiter auch wichtiges anderes zu tun hatte, liegen geblieben. Ich habe es in Schwung gebracht. Aber das hatte mit der Hauptverhandlung in Stammheim nichts zu tun, sondern eher mit der Untersuchungshaft der RAF-Mitglieder und mit dem Informationssystem, das zwischen den inhaftierten Beschuldigten über die Anwälte nach draußen und zurück lief. DK: Wie haben Sie das „Info-System“ eingeschätzt? M: Fangen wir mit dem Rechtlichen an, das ist immer am einfachsten. Damals konnte ein Beschuldigter noch eine unbeschränkt hohe Zahl von Wahlverteidigern

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haben, Kurt Groenewold hat das nachher sehr zutreffend als Blockverteidigung bezeichnet. De facto lief das darauf hinaus, dass jeder der inhaftierten RAF-Mitglieder bis zu 20 Rechtsanwälte hatte, die auch andere inhaftierte RAF-Mitglieder verteidigten. Es ging über die Stammheimer weit hinaus. Als Stammheim anlief, saßen schon viele RAF-Mitglieder in Untersuchungshaft. Damals wurde nach Recht und Gesetz die Verteidigerpost nicht kontrolliert. Verteidigerpost hieß, was der Verteidiger seinem Mandanten in die Haft schrieb oder an Schriftstücken übermittelte, Verteidigerpost war auch der Verkehr vom Mandanten zum Anwalt. DK: Im Stammheim-Verfahren sind Kurt Groenewold, Klaus Croissant und Hans-Christian Ströbele ausgeschlossen worden. M: Das Ermittlungsverfahren ist 1973 eingeleitet worden wie auch die Ermittlungsverfahren wegen Verdachts der Unterstützung einer kriminellen Vereinigung gegen die anderen Stammheim-Verteidiger. Man hat Zellenfunde zusammen­ gestellt, aber es fehlte eine Auswertung. Das waren im Grunde genommen nur die Unterlagen, die man in einzelnen Zellen gefunden hat, von denen man aufgrund äußerer Kennzeichen meinte – also Anwaltskopf des Büros Groenewold oder Anrede von Groenewold „K.G, komm her“ oder Ähnliches – dass sie Groenewold und dem von ihm betriebenen System zuzuordnen waren. Ich kriegte als ab­geordneter wissenschaftlicher Mitarbeiter das Verfahren in die Hand gedrückt, wobei es einfach darum ging, dass jetzt in dem Verfahren etwas geschehen musste, stelle ich ein oder – reicht das rechtlich – klage ich an. Ich habe als erstes auf der Grundlage eines Zwischenberichtes des Bundeskriminalamtes eine Telefonüberwachung, ich weiß nicht mehr für wie viele Anschlüsse, beim Ermittlungsrichter beantragt und den Tatverdacht in dem Antrag vorgetragen. Der Ermittlungsrichter hat den Verdacht bejaht, sonst hätte er den Beschluss nicht erlassen. Dann haben wir Telefonanschlüsse im Büro Groenewold und ein paar private Anschlüsse etwa zwei Monate überwacht. In den Telefongesprächen ist sehr offen gesprochen worden, wobei der Beschuldigte und auch die anderen Beschuldigten – Mitglieder des Büros, Hilfskräfte – offenbar geglaubt haben, sie schütze das Anwalts­ privileg bzw. das der Berufshelfer, was nicht der Fall war, weil sie Beschuldigte waren. Die haben sich als Strafverteidiger gesehen, und für diese sieht das Gesetz den Schutz vor Abhören von Verteidigergesprächen, Korrespondenzschutz, Schutz auch vor Durchsuchung der Praxis vor. Wir sind aber untermauert durch die richterlichen Beschlüsse davon ausgegangen, dass sie Beschuldigte waren. Dann galten diese Grenzen nicht. DK: Wie lauteten die Beschuldigungen? M: Unterstützung einer kriminellen Vereinigung durch Aufbau und Betreiben eines Zelleninformationssystems. DK: Können Sie das ausführen? M: Das Info-System hatte als rechtliche Voraussetzung, dass damals jeder Beschuldigte unbegrenzt, unbeschränkt viele Wahlmandate vergeben konnte. Es

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hatte sich inzwischen auf der Gegenseite eine Fülle von Anwälten und Anwalts­ büros herauskristallisiert, die in diesem Metier verteidigten und die von den einzelnen Beschuldigten, sage ich mal, bis zu 20 Mandate bekamen. Groenewold hat das zutreffend so gesagt: „Jeder hat eigentlich jeden verteidigt“. Das zweite war, anders als heute, dass die Verteidigerpost nicht überwacht werden durfte. Sowohl die Post, die der Verteidiger seinem Mandanten in die Zelle schickte, als auch die des Mandanten, der mit seinem Verteidiger aus der Zelle heraus korrespondierte. Wie wir sehr schnell bei Zellendurchsuchungen feststellten, sind in dieser Verteidigerpost Vereinigungsinformationen, Verhaltensanweisungen, aber auch generalstabsmäßig Kurse im Gebrauch von Waffen, Sprengmitteln, Fotokopien aus Waffenzeitschriften, die verrückterweise einzelne Beschuldigte legal bekamen, enthalten gewesen. Ich habe es nur festgestellt und gesagt, das ist ein dickes Ei, was die alles in die Zellen kriegen. Meistens hatte vorher immer nur einer eine Einzelzeitschrift, dann riss der die Seite heraus, schickte diese an die Infozentrale – Kurt Groenewold war die Infozentrale, er hatte sich sehr schnell bereit erklärt. Der Gefangene schrieb dann: „K. G. ins Info“. Das waren nicht nur waffentechnische, militärische Ausführungen etwa auf dem Gebiet neuer Errungenschaften der Sprengtechnik und Ähnliches. Viel wichtiger für den weiteren Zusammenhalt und die Fortführung der kriminellen Vereinigung war die Korrespondenz der Mitglieder untereinander. Das ging bis hin zu Handlungsanweisungen, Drehbüchern für den Hungerstreik, Selbstkritik für Leute, die im Hungerstreik versagt hatten, Drohungen, Leute aus dem „Info“ auszuschließen, wenn sie nicht am Hungerstreik teilnahmen oder bestimmte Kontakte nicht unterließen. Das lief praktisch so: In den Zellen wurde geschrieben, die hatten Schreibmaschinen, das ging als Verteidigerpost heraus, entweder direkt zu Groenewold, wenn der ein Mandat hatte. Oder an andere Anwälte, die auch Mandate hatten. Die gaben das dann an Groenewold rüber, der dafür sorgte, dass das ins Info kam. Das Info war ein Block von Fotokopien aus diesem Zeug, was aus den Zellen herauskam. Ich meine, die höchste Auflage war etwa 40 Stück, es wurde vierzigmal fotokopiert. Wenn Sie bei Groenewold reinkamen, sahen Sie vorne linkerhand – die Praxis war sonst in einem äußeren bescheidenen Zustand – das Schickste von Schicken, das Teuerste vom Teurem an Xerox-Kopierern. Es gab auch einen Extra-Raum, wo das Info zusammengestellt wurde. Dann ging das vierzigmal als Verteidigerpost wieder in die JVAs rein. In Einzelfällen hat Groenewold auf Weisung der RAF aus den Zellen entscheiden sollen, dass Leute zu Disziplinierungszwecken das Info nicht bekommen sollten. Normalerweise wurden die Beiträge fürs Info auch ausgezeichnet. „Auszeichnung“ heißt nicht nur, dass der Einsender in seiner Zelle schrieb: „Ins Info“, sondern es gab drei Info-Kategorien. Die zweite Kategorie ist aus irgendeinem Grunde nie verwendet worden. Die dritte war für alle inhaftierten Vereinigungsmitglieder, die erste Kategorie nur für die Spitzenleute. Damit konnte auch jongliert werden: „Du fliegst aus dem Info oder du wirst aus Info 1 herunter ins Info 3 gestuft.“ Da Kurt Groenewold für das Fotokopieren und Versenden sorgte, wohl auch in Einzelfällen, wenn eine Auszeichnung 1 oder 3 vorlag, war er der aktive Betreiber. Ganz abgesehen davon, dass er die schönen, teuren Xerox-Geräte

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zur Verfügung stellte. Er hatte eine Hilfskraft, nachher noch zwei andere Leute, die für diese Flut von Papieren, die da ja einlief, zuständig waren. Das musste erst einmal gesichtet und geordnet werden. Groenewold musste dazu einbezogen werden, etwa zur Frage: „Geht das wirklich ins Info, ist es wichtig, ist das nicht wichtig“. Wenn er gesagt hat: „Das geht jetzt rein oder nicht“, dann gab es darüber teilweise Auseinandersetzungen mit den Gefangenen, immer per Verteidigerpost. Diese Infoblöcke wurden im Hinterzimmer, Korridor lang, hinten links, noch mal einmal rechts, von dieser Hilfskraft gemacht. Das interessante war, als wir im Juni 1975 gerade herein marschierten, da lag auf dem Schreibtisch ein neues Heft, das zusammengestellt wurde. Wir wussten schon aus der Telefonüberwachung, dass da wieder ein neues Stück in der Mache war. Es lagen auch die Urstücke aus den Zellen für frühere Infos, die waren in Stehordnern abgeheftet. Ich wusste genau, wo ich hingehen musste und legte die Hand darauf, und das war’s. DK: Wer hat was bekommen? M: Natürlich die Stammheimer, aber auch anderswo Inhaftierte. Man fand schon in den Jahren 1973 und 1974 Infos. Es hat immer wieder Zellendurch­ suchungen gegeben. Ich glaube, das Info-System ist 1973 in Gang gekommen. Da lagen noch ganz oder teilweise Infos, die der Einzelempfänger in seiner Zelle per Verteidigerpost bekommen hatte. Das Bundeskriminalamt blätterte das durch, wenn es nicht Verteidigerpost, also echte Verteidigerpost war, und hat gesagt, das nehmen wir mit. Dadurch haben wir aus diesen Ganz- oder Bruchstücken, zum Teil noch mit der Auszeichnung 3 oder 1 versehen, festgestellt, da gibt es eine Organisation, die diese Infos mit Zulieferungen aus den Zellen herstellt. DK: Hat Baader entschieden, wer etwas bekommt? M: Baader hat in der berühmten Meins-Geschichte entschieden, dass der aus dem „Info“ fliegt. DK: Er spielte eine zentrale Rolle? M: Ich kann es nur aus dem Schriftlichen sagen. Baader hat die Entscheidung getroffen. Ich meine aber, dass auch eine weibliche Angehörige der RAF, wohl die Meinhof zeitweilig, aus dem „Info“ geflogen ist bzw. es ihr angedroht wurde. DK: Nach den Anwälten sei es die Funktion des Info-Systems gewesen, eine Kommunikation zwischen Angeklagten und Verteidigung herzustellen. M: Aber es ging eben darüber hinaus. Ich meine, Groenewold hat das auch in der Hauptverhandlung durchaus nachvollziehbar vorgetragen. Er hat gesagt: „Es wird ein Organisationsdelikt angeklagt. Dagegen halten wir die Blockverteidigung, weil Ihr alle zusammen in einen Topf schmeißt, deshalb müssen wir das auch tun, und dann ist weitgehend, von einzelnen Beiträgen abgesehen, der Prozessgegenstand derselbe“. Soweit schön, soweit gut. Aber wir waren der Meinung, dass ohne Zusammenhänge, die sich aus dem Verfahren ergaben – beispielsweise Themen wie Generalstabskurse im Sprengen, Überblicke über Partisanenbewe-

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gungen, bürgernahen Widerstand in Nordirland oder Metropolenguerilla – dass so etwas nicht zur Blockverteidigung gehörte. Vielmehr diente es dazu, dass die in Haft befindlichen Mitglieder der Roten-Armee-Fraktion weiter in den Mitgliedzusammenhang eingeschlossen waren und sie das, was aktuell auf dem Gebiet der Stadtguerilla neu auf den Markt kam zur Fortbildung, wenn Sie so wollen, be­kamen. Das Info – ein bisschen als Fern-Universität. Von den Verhaltensanweisungen und Disziplinierungen ganz zu schweigen. DK: Wussten das die Anwälte? M: Die Anwälte werden den Teufel tun, das zuzugeben. Mein Fall war nur Kurt Groenewold. Hans-Christian Ströbele und Klaus Croissant habe ich nur im Durchlauf bis zur Abgabe an die Landesstaatsanwaltschaften gehabt. Croissant war wohl so ähnlich gelagert. Da war in Stuttgart eine Hauptverhandlung. Der ist sehr viel härter bestraft worden als Groenewold. Beides waren sehr gründliche Herren. Kurt Groenewold war kein „Schluffi“, ganz und gar nicht. Der hat vielleicht eine etwas bohemehafte Lebensweise gehabt, aber ich glaube schon, der hat sich das sehr genau angesehen, und der Senat war auch dieser Meinung. DK: Die Anwälte konnten es einschätzen? M: Man konnte aus dem Sachzusammenhang schließen, wenn etwa über Themen wie beispielsweise „Schnellziehübungen mit einer Pistole“ geschrieben wurde. Daran erinnere ich mich noch, dass ein Beitrag dieses Inhalts vorlag. Da müsste auch den Anwälten eigentlich klar sein, dass das zur Blockverteidigung nicht gehört. DK: Wann hatte man den Anfangsverdacht gegen Kurt Groenewold? M: Das muss 1973 gewesen sein. Ich habe das Verfahren nicht eingeleitet, aber das Ermittlungsverfahren hatte die Jahreszahl 1973. Ich würde sagen, Groenewold hat es gemacht, weil er überhaupt Kopierer hatte. Ich weiß nicht, ob die anderen Praxen schon so gut ausgestattet waren. Das waren schöne, teure Dinger. Ich habe mir wohl von der Bürovorsteherin erzählen lassen – sie war Zeugin, nachher in der staatsanwaltschaftlichen Zeugenvernehmung hat sie gemauert – dass die gekauft waren, nicht gemietet. Ich war Jahre später, als ich als Planbeamter zur Behörde zurückkam, im Oktober 1977, an der soundsovielten Durchsuchung der Praxis Croissant in Stuttgart beteiligt. Ich fand die technische Ausstattung der Praxis sehr viel ärmlicher als das zwei Jahre früher bei Kurt Groenewold der Fall war. DK: Wie viele Personen waren beteiligt? M: Wir hatten 19 Objekte zur selben Zeit, also zeitgleich und auch weitere Beschuldigte aus der Praxis. Das war ein Riesenaufwand, die Leute sammelten sich abends in Hamburg, auch vom BKA. Ich weiß nicht, wie viele das waren. Ich kann Ihnen nur sagen, es gab einen Oberstaatsanwalt beim BGH, der mit dem Verfahren nicht befasst, aber rechtlicher Oberbefehlshaber war, denn nach der Konstruktion der Strafprozessordnung sind diese Maßnahmen jeweils Maßnahmen der

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Staatsanwaltschaft, nicht der Polizei. Wir sind die Veranstalter, und die Polizei macht das dann für uns. Nach meiner Erinnerung waren wir allein vier Staatsanwälte, was wiederum damit zusammenhing, dass nach der Strafprozessordnung die Durchsicht der Papiere des Beschuldigten dem Staatsanwalt zusteht, nicht der Polizei. Daran haben wir uns auch immer eisern gehalten und deswegen gab es auch immer einen ziemlich großer Aufwand an Staatsanwälten bei solchen Kanzleidurchsuchungen. Die Polizei darf nur, wenn sie das Gefühl hat, das könnte relevant sein, Papiere in Kartons tun, versiegeln und dem Staatsanwalt geben. Ihre Beamten dürfen nicht rein gucken und halten sich auch daran. Meistens gibt das nicht besondere Lustgefühle bei den Kriminalbeamten, Handakte für Handakte, das sind Kubikmeter zum Teil, die da stehen. Die sind eigentlich ganz glücklich, wenn sie das weitergeben können. DK: Sie haben um 8:00 Uhr in der Kanzlei geschellt? M: Wir sind morgens um acht Uhr dagewesen, haben Klingeling gemacht. DK: Mit vier Personen? M: Weiß ich nicht mehr, aber ich war der erste, also das kann ich für mich in Anspruch nehmen, der da rein marschiert ist mit dem Aktenkoffer in der Hand und mit den Beschlüssen. Hinter mir brandete die Welle der Polizei herein. Ich habe laut gerufen: „Alle auf den Korridor“, um das Personal zu versammeln. Dann habe ich als erstes meinen Namen gesagt und von welcher Behörde ich komme, einen Beschluss herausgeholt und gefragt: „Wo ist Herr Groenewold?“. Er war nicht da und erschien überhaupt erst mittags. Das weiß ich noch genau, weil es auch um den PKW von Frau Rogge, seiner Sozia, ging. Sie behauptete, der Beschluss erstrecke sich nicht darauf. Ich habe gesagt: „In Ordnung, ich wende Gefahr in Verzug an“. Dann fand sie anfangs den Schlüssel nicht, und ich habe gesagt: „Dann hauen wir die Scheiben ein“. Das war also ziemlich brachial. DK: Sie kamen herein? M: Das Personal versammelte sich, ich habe mich vorgestellt als erstes – das habe ich immer und haben die Kollegen auch immer gemacht – meinen Aktenkoffer aufgemacht und gesagt: „Ich habe hier einen Beschluss des Ermittlungsrichters des BGH zu vollziehen“. Dann habe ich, ich nehme an, das war die Bürovorsteherin, denn K. G. war noch nicht da, der Dame den Beschluss gegeben. Ich habe das nicht vorgelesen, sondern nur gesagt: „Die Durchsuchung macht jetzt das BKA, es wird nichts bewegt. Setzen Sie sich an ihre Arbeitsplätze, wir erlauben uns auch, was Sie an Papier vor sich liegen haben, durchzusehen“. Und dann haben wir angefangen. DK: Mittags stand plötzlich Kurt Groenewold in der Tür? M: Den hat irgendjemand angerufen. Ich habe auch selber gleich gesagt, sehen Sie zu, dass sie den Chef erreichen. Der soll kommen. Es war uns viel lieber, wenn er dabei war. Er erschien dann, ich meine mittags mit Petra Rogge. Ich habe

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mich dann auch vorgestellt, das ging überaus korrekt vor sich, mit Handschlag und allem Drum und Dran. Da hat er natürlich den Beschluss gekriegt. Ich glaube, ich habe ihm erzählt, welche Räume wir schon durchgesehen und was wir mit­ genommen haben. Das BKA musste ein Asservatenverzeichnis anfertigen. Zwei Sachen mussten gemacht werden: ein Durchsuchungsprotokoll und ein Asservatenverzeichnis mit den Fundstellen, wo was gefunden wurde, und in dem auch der Fundzeuge aufgeführt war. Ich meine, ich habe den Anwalt schon rein­gucken lassen, am Ende kriegt er sowieso eine Kopie des Asservatenverzeichnisses. Wir haben schließlich noch das benachbarte Immobilienbüro des Bruders durchsucht. Dafür hatte ich auch einen Beschluss, weil wir den Verdacht hatten, da war was aus­gelagert, da war aber nichts ausgelagert. Der Bruder hat mir eine Dienstaufsichtsbeschwerde eingebrockt. Er hatte an den Justizminister geschrieben, ein Staatsanwalt im roten Hemd sei mit einer offenen Pistole im Hosenbund da ge­ wesen, ja, das war ich. Die Zeiten waren damals schon wild. DK: Wie lange hat das gedauert? M: Wir waren abends irgendwann fertig. DK: Sie haben den ganzen Tag benötigt? M: Natürlich! Wir hatten auch nur einen Schlag frei. War doch klar! Es gab keinen nächsten Morgen. Dann hätte ich die ganze Praxis versiegeln müssen, das habe ich auch schon in anderen Fällen getan. Aber wir sind fertig geworden. Ich weiß nur – das kann ich wohl sagen, ohne K. G. heute zu kränken – dass nachmittags um vier oder um fünf Uhr ein Hinweis aus dem Hause kam. Das ganze spielte sich in einem Mietshaus ab. Da hatte sich einer an einen BKA-Beamten gewendet, der ging mit dem Nachbarn zu mir und sagte, der Nachbar hier sagt, da gibt es noch einen Nebenraum außerhalb der Praxis, ob wir denn da auch nachgeguckt hätten? DK: Der Nachbar aus dem Haus hatte Sie informiert? M: Das war ein Nachbar aus dem Haus. Irgendeiner. Und, dann war noch die Frage: „Herr Groenewold, gibt es da einen Schlüssel für?“ – „Nein, gibt es nicht“. Dann sagte ich: „Dann hauen wir die Tür ein“. Und dann war der Schlüssel da. Da sind wir noch mal ganz nett fündig geworden. Es war einiges Zeug aus­gelagert worden. DK: Materialien des Info-Systems? M: Alles, also alles, Grundlagenmaterial, originale Kopiervorlagen, mag sein, dass auch alte Info-Stücke da waren, jedenfalls die verfahrensbedeutsam waren. H: Herr Groenewold hat uns das als seine Erfindung dargestellt und nicht als Idee von Baader. M: Die verkehrten zunächst schriftlich, zum Teil in einem sehr barschen Ton, die „Stammheimer“ mit ihren Anwälten, auch mit Groenewold. Der hat sich, wenn man das auch im Info durchsah, zum Teil Dinge an den Kopf schmeißen lassen,

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das war schon übel. Ich weiß jedenfalls nur, unsere Arbeitshypothese war – die beruhte auf irgendwelchen Zellenpapieren – dass das unter den „Stammheimern“ ausgeheckt worden ist. Ich kann mich noch an diesen Satz in einem Papier erinnern: „K. G. macht das“. DK: War ihm die Gefährdung deutlich? M: Es ist schwer, sich in den Kopf des Gegenübers zu versetzen, da will man auch fair sein. Ich würde so sagen: Er hat nicht damit gerechnet, dass das ein Strafverfahren nach sich ziehen könnte. Man hat wahrscheinlich auf den Schutz der Verteidigerprivilegien vertraut. Aber das ist meine ganz persönliche Auf­fassung. Schon durch die Tatsache, dass wir abhörten und dadurch überhaupt erst unsere Einfallspunkte zusammentrugen, wussten wir, wonach wir suchen mussten und wer da arbeitete. Auf die Idee ist er nicht gekommen, dass er abgehört wurde. Ich weiß nicht, ob er heute etwas anderes erzählt. Aber wir hatten damals den Eindruck, der fiel aus allen Wolken. DK: Das Abhören war ein elementarer Eingriff. M: Ja, aber das war doch rechtlich begründet. Da habe ich auch heute, fast 40 Jahre danach, nicht die geringsten Bedenken. Ich meine, dafür gibt es auch noch Ermittlungsrichter, die das mittragen. Hier musste kontinuierlich abgehört werden, also habe ich sofort einen ordentlichen Beschluss vom Ermittlungsrichter erwirkt – ich glaube, das war damals Herr Kuhn, den ich sehr geschätzt habe. Kuhn war keineswegs, wie mal ein Justizminister sich von einem RAF-Anwalt hat unwidersprochen sagen lassen, der „Notar der Bundesanwaltschaft“. Das kann man nicht sagen. Das war ein entschlossener Mann, der nicht skrupellos war und sich Gedanken machte. H: Wenn Groenewold Kopien aus einer Waffenzeitung gemacht hat, dann sind das veröffentlichte Materialien. M: Aber wenn er gezielt aus dem Waffenjournal eine Seite, sagen wir mal „Sprengungen von Beton“ oder so etwas kopiert und diese an einen ganz eng umschriebenen Empfängerkreis schickt, der nun zufälligerweise Sprengstoffanschläge durchführt, nach dem Motto, so macht man das, dann kann das in diesem Zusammenhang strafbar sein. Ich will Ihnen ein anderes Beispiel nennen. Ich habe später viel mit den „Revolutionären Zellen“ zu tun gehabt. Es gab ein Volkshandbuch „Der kleine Chemiker“ aus der DDR. Da stand drin, für jedermann zu lesen, wie man aus Unkraut-Ex und Dieselöl Plastik-Sprengstoff herstellt. Das konnten die sich verrückterweise in der DDR kaufen. Dieses Buch war auch hier in der Bundesrepublik in einschlägigen Kreisen hoch begehrt. Es wurde verschickt, damals war auch der Vertrieb solcher Sachen, das ist heute etwas anders, nicht strafbar. Aber wenn Sie sich jetzt eine Seite herauskopieren und schicken diese vielleicht bestimmten Leuten, von denen Sie wissen, die beschäftigen sich mit Sprengstoffanschlägen, die aber selber das nicht haben und nicht wissen, dann ist das doch etwas ganz anderes.

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DK: Gab es im Groenewold-Büro Unterstützer, die einen engen Kontakt zu Stammheim hatten? M: Nein, das galt für das Croissant-Büro! Ich meine, Croissant saß schon ein, und Müller und Newerla, die formal die Anwälte waren, die hatten absolut nichts zu sagen. Die wurden wirklich auch verächtlich als Briefträger angesehen. Aber das war bei Groenewold anders. Der war Herr im Hause. Ich kann das vergleichen, weil ich an der Abfassung der Anklage gegen die Rechtsanwälte Müller und ­Newerla zum kleineren Teil beteiligt und 1979 auch Sitzungsvertreter in der Hauptverhandlung war. DK: Es gab keine ähnlichen Strukturen? M: Nein, nein. DK: Wie war Groenewolds Reaktion auf Ihre Untersuchung? M: Freundlich, geschäftsmäßig, Handschlag, Wiedersehen, also ich kann mich über den Umgang von Groenewold mit mir überhaupt nicht beklagen. Dasselbe galt also auch für seine Sozia, Frau Rogge, und dann war noch ein dritter, ich weiß den Namen nicht mehr. Das war alles völlig korrekt. DK: Dann lief das Verfahren? M: Vielleicht als erstes eine wichtige, aber auch lustige Episode. Etwa eine Woche später erschien Kurt Groenewold unangemeldet mit seiner Ehefrau in Karlsruhe bei meinem Abteilungsleiter, der gleichzeitig stellvertretender General­ bundesanwalt war, um sich zu erkundigen, ob er denn deswegen verhaftet werden sollte. Wir haben das dann nochmal erörtert und gesagt, in unseren Augen keine Fluchtgefahr und fehlende Verhältnismäßigkeit. Im Lande änderte sich schon ein bisschen, gerade hier in Süddeutschland, die Gangart. Aber wir haben gesagt: „Kein Haftgrund. Sie werden nicht verhaftet, und wir werden auch keinen Haftbefehl gegen Sie ausbringen.“ Und er zog erleichtert wieder ab. Ich erinnere mich noch, dass mein Abteilungsleiter, der immer ein sehr höflicher Kavalier alter Schule war, sich auch von Gisela Groenewold sehr höflich verabschiedete, die Form also wahrte. Das war völlig auf Augenhöhe. Das war ein Rechtsgespräch, das mit ihm geführt wurde und wo man eben sagte: „Wir meinen, es reicht nicht. Wir werden keinen Haftbefehl ausbringen; jedenfalls nicht ex nunc.“ Es kann sich natürlich immer ändern. Dann ging das Verfahren weiter, d. h. die Unter­ lagen mussten ausgewertet werden. Es musste erst mal geklärt werden, aus welcher Zelle kam das, und hat sich das im Info niedergeschlagen. Zum Teil wusste das BKA das schon. Der Hauptkommissar hat an dem Auswertungsbericht lange gesessen. Dann musste die strafrechtliche Bewertung des Systems als solches, aber auch der den Vorwurf tragenden einzelnen im Info erschienenen Schrift­ stücke erfolgen. Das war die Aufgabe des Staatsanwalts. Damit habe ich mich vom Sommer 1975 bis Frühjahr 1976 auseinandergesetzt, dann war die rechtliche Bewertung klar, so dass es in meiner Sicht reichte. Ich habe vortragen müssen bei

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meinem Abteilungsleiter, auch laufend später, als die Anklage entstanden ist. Zuvor habe ich noch einen ganzen Schwung von Leuten aus dem Büro staatsanwaltlich als Zeugen vernommen. Sie wissen, entsprechend unserer Strafprozessordnung brauchen Sie einer polizeilichen Ladung nicht Folge zu leisten, geschweige denn auszusagen. Beim Staatsanwalt müssen sie erscheinen und im Normalfall auch aussagen, außer Sie haben einen Grund, die Auskunft zu verweigern, meistens bei Gefahr der Selbstbelastung. Da lief noch die Telefonüberwachung, und ich kriegte übers Telefon mit, wie die Zeugen aus dem Büro von Groenewold telefonisch munitioniert wurden: „Ihr verweigert nach § 55 StPO“. Das ist die Bestimmung „Gefahr der Selbstbelastung“, Paragraph 55 StPO. Dann sind die alle bei mir aufmarschiert, alles, was später Rang und Namen hatte: Silke Maier-Witt, Susanne Albrecht, Rosemarie Prieß, Sigrid Sternebeck usw. Ich habe sie in diesem Stadium alle vor meinem Schreibtisch gehabt, habe zum Teil auch noch eine deutliche Erinnerung. Die haben alle verweigert. Was mich am meisten geärgert hat, war, dass die Bürovorsteherin verweigert hat. Sie war sehr nahe dran, aber nicht beteiligt, muss aber den täglichen Organisationsablauf gesehen haben. Bei den anderen habe ich gesagt: „Paragraph 55, in Gottes Namen.“ Aber bei dieser Dame war ich sauer und habe der ein Ordnungsgeld aufgeknallt und die hat, glaube ich, noch die gerichtliche Überprüfung beantragt. Der BGH hat auch mitgespielt. Aber K. G. hat das natürlich bezahlt. Inzwischen hatten die Auswertungen der Unterlagen zu solchen Ergebnissen geführt, dass ich die Zeugen in der Rückschau schon gar nicht mehr brauchte. Dann habe ich mich hingesetzt und die Anklage geschrieben. Als die Anklage fertig war, kam auch der Auswertungsbericht des BKA. Den habe ich der Anklage hinterher geschickt. Die Anklage ist im Juli 1976, relativ schnell – ich habe als Strohwitwer in Tag- und Nachtschichten gearbeitet – fertig geworden. Das Problem war, das Material zu bändigen, überhaupt erst mal auszusortieren, was ist überhaupt von Bedeutung. Das war also ziemlich mühsam. Da ich damals noch als HiWi in Karlsruhe war, konnte ich mir auch lange Nächte leisten. Dann musste ich die Anklage dem Behördenleiter vorlegen, der General­ bundesanwalt Siegfried Buback unterzeichnete die Anklage, aber erst intern mein Abteilungsleiter, der hat mir noch eine ganze Menge heraus gestrichen, das weiß ich noch genau. Als er dann sein „OK“ gab, hat er mich zum Essen zum Italiener eingeladen, der Behörde fiel natürlich auch ein Stein vom Herzen. Buback rief auch zwischendurch an. Dann war es fertig, und die Anklage ist erhoben worden. Ich meine so Juli 1976. DK: Warum führt man noch Gespräche, obwohl man weiß, dass abgehört wird? M: Wir haben Herrn Groenewold nicht gleich gesagt, dass er abgehört wird. Ich durfte weiter abhören, das habe ich auch getan. Denn für uns waren doch die Reaktionen nach der Durchsuchung von ganz besonderer Bedeutung. Stellen Sie sich mal vor, der hätte noch mit irgendwelchen Leuten gesprochen, die wir überhaupt noch nicht kannten und bei denen sich plötzlich herausgestellt hätte, dass sie überhaupt die großen Hilfskräfte waren. Er ist abgehört worden, ich meine bis Frühsommer 1976.

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H: Weiß er das heute? M: Spätestens in dem Augenblick, als ich in die Akte schrieb: „Verfügung, erstens die Ermittlungen sind abgeschlossen, zweitens Anklage nach folgendem Entwurf schreiben“ habe ich die Telefonüberwachung eingestellt. Er hat dann auch die entsprechenden Mitteilungen bekommen. Die sind vorgeschrieben. DK: Der Generalbundesanwalt war erleichtert? M: Ja, aber nicht, weil er sich in Beweisnot oder in Druck fühlte. Die Ausschließung der Anwälte hat damals einen Riesenwirbel in der Öffentlichkeit verursacht. Da gab es Vorwürfe derart, dass die ganzen Vertrauenswahlverteidiger unmittelbar vor Beginn der Hauptverhandlung herausflogen. Was nun? Das war für meinen Chef schon eine Erleichterung, dass da jetzt eine Anklage hinterher kam, jedenfalls bei Groenewold. Die anderen Verfahren sind von uns nach Berlin und Stuttgart abgegeben worden. Berlin hat gegen Ströbele Anklage erhoben, Stuttgart gegen Croissant. Das kam etwas später. Ich glaube, bei den anderen Anwälten haben die Berliner eingestellt. DK: Drei Anwälte wurden zu Beginn des Stammheim-Verfahrens im April 1976 ausgeschlossen. M: Sie müssen immer die beiden Schienen unterscheiden: Das Ausschließungsverfahren im Verfahren gegen die Angeklagten in Stammheim und das Ermittlungsverfahren gegen die Verteidiger selbst. Im Ausschließungsverfahren war die Öffentlichkeit erregt. Die Vorwürfe waren nicht im verurteilungsreifen Beweis­ zustand, sondern im Verdachtsstadium. Das reichte für die Ausschließung, der Verdacht musste begründet sein. Aber die Öffentlichkeit konnte mit Recht erwarten, dass nun, weil auch Vorwürfe von Straftaten, eben der strafbaren Unterstützung, da drinnen waren, auch gefälligst eine Anklage kommt. Insofern sage ich, dass der Generalbundesanwalt Buback erleichtert war, mit vollem Recht, dass jetzt eine Anklage kam. DK: In den Medien wurde teilweise der Vorwurf erhoben, die Anwälte seien „Bombenleger“ und „Rechtsbrecher“. M: Was die Unterstützung anbelangt, das ist strafbar, aber von „Bomben­ legern“ keine Spur. Ich weiß, dass irgendwoher ein Hinweis kam, dass Groenewold Zugang zu irgendwelchen Waffen oder eine Waffe hätte. Ich meine, da ist eine Garage durchsucht worden, aber – wie das so im Polizeijargon hieß – das war alles „Räuberscheiße“. Es wäre ihm auch persönlichkeitsfremd gewesen. Dazu war der zu klug. DK: Was waren die wichtigsten Punkte im Strafverfahren gegen Groenewold? M: Für mich war das, abgesehen von dem Verfahrensgegenstand, der völlig neu war, ein Strafverfahren wie jedes andere mit politischem Einschlag auch. Ich hatte nicht den Eindruck, dass abgesehen von dieser Materie, die völlig neu war,

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ich mit diesem Verfahren irgendwelches Neuland betrat. Ich weiß nicht, ob Herr Groenewold den Eindruck hatte. Auch das Gericht, das muss ich überhaupt mal loben, auch das Gericht gab überhaupt keinen Anlass zu der Annahme, dass man sich hier irgendwie auf schwankendem Boden oder irgendwelchem neuen Boden befand. DK: Groenewold insistierte darauf, dass er nur das normale Recht des Anwalts wahrgenommen habe. M: Naja, das war angesichts des Anklagevorwurfs, der – wie wir meinten und auch das Gericht – dann auch erhärtet wurde, abwegig. Das ging über das normale anwaltliche Verteidigerverhalten doch deutlich hinaus. Dafür ist er auch bestraft worden. DK: Eine Auffassung war, dass das Info-System nicht an Dritte gegangen sei. M: Das ist nur die halbe Wahrheit. Der Rücklauf in die Zellen und die Zusammenkoppelung der inhaftierten RAF-Angehörigen über das Info-System sicherte den Fortbestand. Das war einer der wesentlichen Schwerpunkte der Anklage, die Ermöglichung des Fortbestandes der Vereinigung sowohl mit ihren Inhaftierten wie mit ihren auf freiem Fuß befindlichen Mitgliedern. Das war doch der Knackpunkt. DK: Das wird auch von anderen Anwälten bestritten. M: Aber das konnte man doch an den Rückläufen sehen. Wenn etwa gesagt wurde, das Anti-Folterkomitee oder Soundso, der noch auf freiem Fuß war, hat sich zu dem Punkt verlauten lassen, ging das über das Info-System wieder in die Zellen herein. Die wussten das auch in den Zellen, die Mitgliedschaft bestand weiter. Das haben die übrigens auch nach ihrem eigenen Selbstverständnis nie in Zweifel gestellt. Dass ihre RAF-Mitgliedschaft mit der Inhaftierung zu Ende war – nicht die Bohne! DK: Hatte dieser Prozess Auswirkungen auf das gesamte Klima im Umgang mit terroristischen Gruppen? M: Er hat zu den rechtlichen Änderungen der Strafprozessordnung für Verteidigerpost geführt. Das war eine Konsequenz. Ich hatte nicht den Eindruck, dass sich irgendwie die tatsächliche Einschätzung der Verteidiger dadurch verschärfte. Es war damals die Anklageerhebung, das weiß ich noch genau, in die FAZ gekommen, was nicht korrekt war, aber auch nicht durch uns geschehen war. Ich weiß noch, ich war mit meiner Familie, nachdem das große Werk geschrieben und eingereicht war, vier Wochen in Cornwall in England. Ich kriegte die FAZ damals per Streifband geschickt und falle morgens am Frühstückstisch vom Stuhl, als ein Riesenaufmacher über die Erhebung der Anklage und vor allem über die wesentlichen Punkte der Anklage drinnen war. Da stellte sich hinterher heraus – Groenewold ist mit Recht, wie ich meine, vor dem Verwaltungsgericht gegen das Bundesjustiz­

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ministerium vorgegangen – das damals diese Anklage im Wortlaut an handverlesene Presseorgane herausgegeben hat, natürlich nur an die seriösen Medien, Spiegel, FAZ, Süddeutsche und Welt wahrscheinlich auch. DK: Das war ein Novum? M: Das war ein Novum. Es war vor allem vor der gerichtlichen Befassung nicht erlaubt. Da hat es eine mündliche Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht gegeben, es endete irgendwie mit einem Vergleich, also die Klage wurde zurück­ genommen. Der Justizminister hat gesagt, die würden so etwas nie nie nie wieder tun. Dann hat Groenewold wohl auch nicht darauf insistiert, dass eine Verurteilung des Bundesjustizministeriums erfolgte. DK: Trifft es nicht zu, dass die Rechte der Anwälte beschnitten wurden? M: Ich kann es nur für die Verfahren sagen, in denen ich Sachbearbeiter, An­ klageverfasser oder Sitzungsvertreter war, und ich kann nur sagen: Nein. Dazu waren mir selber die Verteidigerrechte immer viel zu wichtig. Ich habe mich immer ans Gesetz gehalten und im Zweifelsfall gesagt: „Lassen wir durchgehen.“ DK: Haben Sie das Abhören der Gespräche zwischen Angeklagten und Verteidigern in Stammheim für möglich gehalten? M: Nein, niemals, ich war genauso entsetzt wie die Kollegen auch. Und der Senatspräsident Eberhard Foth hat auch entsprechend reagiert, wie Sie wissen, was ich ihm hoch anrechne. DK: Sie hielten es für unmöglich? M: Ich hätte es nicht für möglich gehalten. Als ich es dann in der Zeitung las, dachte ich, das kann doch nicht sein. DK: Wie hat man es begründet? M: Ich glaube, mit übergesetzlichem Notstand, weil angeblich in der siebten Etage in Stammheim die Entführung von Kindern aus dem Kindergarten zwecks Freipressung der Angeklagten besprochen worden sei. Dann hat das Land BadenWürttemberg, das der Träger der Polizeihoheit war, präventiv – der Bund hat keine präventiven Polizeirechte – ich meine sogar, das LKA ohne Wissen des Gerichts, ohne Wissen der Verteidiger sowieso, aber auch ohne Wissen der Bundesanwaltschaft, diese Abhörvorrichtungen in den Sprechzimmern eingerichtet und das mit übergesetzlichen Notstand begründet. DK: Wie war Ihre Reaktion? M: Ich war entsetzt, viele Kollegen auch. Ich habe keine Umfrage gemacht, aber in meinem Umfeld haben wir es alle nicht richtig gefunden. Ich habe auch die Intervention von Foth für richtig befunden. Aber ich weiß, dass es Kollegen gab, die eine andere Meinung hatten. Nach dem Motto, der hätte das niedriger hängen sollen, aber das waren persönliche Auffassungen.

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DK: Sahen Sie den übergesetzlichen Notstand? M: Nein. Das ist jetzt aus dem hohlen Bauch heraus gesagt. Ich bin kein un­ politischer Mensch. Ich sehe ein, dass Landesregierungen, bei denen die polizei­ liche Präventivhoheit liegt, möglicherweise in dieser aufgeregten Zeit meinten, sie müssten was machen. Das billige ich denen auch gerne zu, Gott sei Dank, ich war nicht der Innenminister. H: Gibt es eine politische Justiz in der Bundesrepublik? M: Wir sind keine politische Justiz, aber ich würde niemals leugnen, dass wir, wenn wir uns auf dem Gebiet des Staatsschutzrechtes tummeln, auch Politik machen, dass die Verfahren auch einen politischen Inhalt haben. Ich weiß, dass viele unpolitische Kollegen das anders sehen. Ich bin da immer anderer Meinung gewesen, habe mich auch immer dazu bekannt zu sagen, letztendlich machen wir in den Auswirkungen auch Politik. Aber immer im Rahmen der verfassungs­ mäßigen Ordnung. Um das auf ein anderes Gebiet zu bringen, auf das Weisungsrecht des Justizministers an Generalstaatsanwälte oder an den Generalbundesanwalt als „politischer Beamter“. Der einzige Staatsanwalt in der Republik, der noch politischer Beamter ist, ist der Generalbundesanwalt. In den Ländern nicht mehr. Ich persönlich – ich glaube, ich gehörte in der Behörde zu einer konser­ vativen Minderheit – bin immer dafür gewesen, dass es im eng umrissenen Rahmen ein Weisungsrecht des Ministers geben darf. Das lässt sich in der Demokratie gut begründen. Der Minister ist dem Parlament verantwortlich. Das ist die einzige Möglichkeit, dass das Parlament und die Regierung über den politisch verantwortlichen Minister ihre Auffassungen einbringen können, die nicht Recht und Gesetz widersprechen dürfen, die sich aber in den Ermessensspielräumen niederschlagen, also zum Beispiel, was ist eine besondere Bedeutung des Falles, oder was ist ein mangelndes Interesse an weiterer Strafverfolgung. Das alles sind unbestimmte Rechtsbegriffe. Sie können ein Verfahren wegen so genannter Geringfügigkeit einstellen oder sagen, die besondere Bedeutung des Falles liegt nicht mehr vor. Da kann, das ist rechtens, der Justizminister den Generalbundesanwalt anweisen und sagen: „Fülle diesen unbestimmten Rechtsbegriff so und so aus in dem Sinne.“ Dieses Recht muss ihm als parlamentarisch verantwortlichen Herrn der Justiz auch bleiben. Die Kollegen, die Mehrheit der Kollegen, ist anderer Meinung. Ich bin auch mit einem anderen Generalbundesanwalt ziemlich aneinander geknallt in dieser Frage. So nach dem Motto: „Das hätte ich von Ihnen gar nicht gedacht.“ Aber ich meine schon, dass das sein muss. DK: Das „Kontaktsperregesetz“ wurde heftig kritisiert? M: Ich kenne es nur durch die Zeitungen. In dem Referat, in dem ich im Herbst 1977 saß, fing man an, sich mit den „Revolutionären Zellen“ zu beschäftigen. Wir hatten keinen in U-Haft sitzen. Meine einzige Befassung mit der RAF im Herbst 1977 war die nochmalige Durchsuchung des Büros Croissant. Das war mein einziger RAF-Bezug. Ich bin nachher noch Sitzungsvertreter bei Dierk Hoff gewesen.

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DK: Wie würden Sie aus der heutigen Sicht das Stammheim-Verfahren be­ urteilen? M: Das Vorgehen war richtig, und das Land hat es gut überstanden, den Terrorismus gut überstanden. DK: Der Terrorismus war eine Herausforderung? M: Ja. Der Verfassung verpflichtete Regierungen haben das Problem bewältigt, auch wenn noch Einzelfälle offen, Mordfälle offen sind. Das Terrorismusproblem als solches, das von vielen als Bedrohung dieser Republik angesehen wurde, ist von den Regierenden und auch von der Justiz, überstanden worden. DK: War die Verhältnismäßigkeit der staatlichen Mittel gewahrt? M: Der Einsatz dieser Mittel war verdachtsgezielt, nicht pauschal. Und das Gefühl, der Rechtsstaat sei bedroht gewesen, war subjektiv. Das aber kann ich nur als Zeitungsleser und Medienkonsument sagen, Gott sei Dank hat die Justiz keinen Einfluss auf die Medien. Ich will damit nicht ausschließen, dass es immer wieder Leute gibt, sowohl bei der Justiz als auch bei der Polizei, die – aus was für Motiven auch immer – die Medien spicken. Und sei es bei der Polizei mit dem Argument, das immer wieder kam, mich hat hier keiner angehört, wenn man mich angehört hätte, dann wäre das ganz anders gelaufen, und dann habe ich dem das mal gesagt. Aber wir haben keinen Einfluss auf die Medien. Und ich meine, entgegen dem, was im Ausland über uns immer gedacht wird, sind die Deutschen eigentlich ein ängstliches Volk. Da die Medien dem Affen Zucker geben, sind sie in eine offene Flanke rein gekommen, das Volk war aufgeregt, das Volk war verängstigt. Ich meine, wie jetzt bei den Islamisten. Das Volk hatte Angst. Die hatten wahrscheinlich auch das Gefühl, dass der Terrorismus wahllos jeden angreift und jeder getroffen werden kann. Gut, als Kollateralschaden, ein furchtbarer Begriff, aber ich benutze ihn hier einmal, wenn ich an Hanns Martin Schleyers Begleiter oder Siegfried Bubacks Fahrer denke, das konnte passieren. Dass aber wahllos die Bevölkerung angegriffen wurde, dass also der deutsche Bürger auf der Straße sagte, gleich kommen Terroristen, und dann wird diese ganze Straße ein Trümmerfeld, das haben wir doch damals nicht gehabt. DK: Ist aus dieser Konfrontation ein neues Selbstbewusstsein der Verteidiger erwachsen? M: Dem würde ich den ersten Jahren nach 1968 nach meiner persönlichen, beruflichen Erfahrung mehr Bedeutung beimessen. Das Selbstbewusstsein der Verteidiger war mit dem Beginn des großen Stammheim-Prozesses schon da, 1975, und hat sich dann in allen Folgeprozessen gegen terroristische Vereinigungen verstärkt. Diese Kategorie Verteidiger war selbstbewusst. Die erste Garnitur waren erstklassige Handwerker mit der Strafprozessordnung; nachher war das nicht mehr ganz so doll. Das lag natürlich daran, dass sie nicht immer wieder dieselben verteidigen durften, zum Teil auch dann Leute aus Personalmangel aufmarschierten,

Peter Morré

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die handwerklich schwach auf der Brust waren. Ich kann immer wieder nur sagen, in den Hauptverhandlungen, an denen ich teilgenommen hatte, waren die meisten Verteidiger sehr gut; Groenewold selber auch. DK: Wurden Sie als Bundesanwalt von den Medien angegriffen? M: Also, ich bin nicht angegriffen worden. DK: Und Ihre Berufsgruppe? Haben Sie das als Problem erlebt? M: Nein, als Problem nicht. Das wurde mit dem Gehalt abgegolten. Ich habe mich nie, überhaupt nicht bedroht oder auch publizistisch angegriffen gefühlt. Im Gegensatz zu mir hatten andere persönliche Bedrohungssituationen. Das war bei mir einmal in Nordrhein-Westfalen der Fall, das ging aber von einer K-Gruppe aus. Da hat man meinen Heimweg ausspioniert und wollte mich verprügeln, das war eine Verfassungsschutzerkenntnis. Aber hier, nein, kann ich für mich selbst überhaupt nicht sagen. Mir war klar, dafür sind wir nun sehr ordentlich bezahlt, dass das mit abgegolten wurde. Als ich vor der Entscheidung stand, endgültig nach Karlsruhe zu gehen, das habe ich dann mit meiner Frau besprochen. Sie hat gesagt: „Machen wir“. Dann war das so. Doch ein Generalbundesanwalt ist er­mordet worden, und ich wohne anderthalb Kilometer von der Stelle entfernt und fuhr fast jeden Tag da vorbei. Er hat, glaube ich, in dem Bewusstsein seines möglichen Endes gelebt, und das macht die Sache so besonders schrecklich für ihn. Und er war ein Mann, der gerne lebte. H: Sie wollten es auch anders handhaben als Siegfried Buback? M: Ich wollte nie Generalbundesanwalt werden, vergleichen Sie mich des­wegen um Gottes Willen nicht mit Herrn Buback. Er war für mich ein Vorgesetzter, den ich sehr schätzte, und ein Kollege hat mal gesagt, er sei ein Vorgesetzter zum Anfassen. Der kam von der Front, das merkte man ihm an. Er kam nicht aus irgendeinem BGH-Senat wie andere, sondern war viele Jahre lang das, was ich auch in Dortmund war. Er war Staatsschutz-Staatsanwalt in Lüneburg und kannte das Geschäft. Insofern war er für uns in der ersten Instanz ein großartiger General­ bundesanwalt. Der wusste sofort, wo ein Problem war, wenn man ihn ansprach. Das habe ich auch gehabt und wir haben das so und so gemacht. Andere Leute, sage ich jetzt bewusst boshaft, gingen erstmal in die Bibliothek und wurden in den nächsten zwei Stunden nicht mehr gesehen. DK: Der Sohn von Siegfried Buback hat in seinem Buch die Bundesanwaltschaft zum Teil heftig kritisiert. M: Ich habe das Buch gelesen. Also ich sage, es sind einzelne Dinge abwegig, die drinnen stehen, auch in Bezug auf Personen. In einem Fall weiß ich, dass der, den er apostrophiert, zu der Zeit gar nicht in der Behörde war. Wieso er immer darauf herumreitet, weiß ich nicht. Was er über Einflussnahmen, insbesondere am ersten Tag der Ermittlungen am 7. April sagt, dass die Zielrichtung der Ermittlungen ab mittags plötzlich in eine andere Richtung ging, halte ich auch für

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III. Perspektive der Bundesanwälte

abwegig. Ich kann mir das als Staatsanwalt nicht vorstellen, aber ich bin nicht dabei gewesen. Die Person, die er persönlich angreift, war mein hochgeschätzter damaliger Abteilungsleiter, damals auch ein persönlicher Freund von Siegfried Buback. Fand ich auch nicht gut, dass ein anderer angeführt wird, zwar auch nicht mit Namen, aber der Kundige weiß natürlich, wer da gemeint ist. Der andere spätere langjährige stellvertretende Generalbundesanwalt und Abteilungsleiter Terrorismus, er lebt nicht mehr, kann sich auch nicht wehren. Ich weiß nicht, was am 7. April gelaufen ist, ich kann es mir einfach nicht vorstellen. Die indirekt gezogenen Parallelen zum Fall Aldo Moro sind grotesk. Welches politische Konzept in der Bundesrepublik sollte ein Geheimdienst mit der Ermordung dieses Generalbundesanwalts verfolgt haben, der – soweit ich das weiß – relativ unpolitisch war. Es wäre sinnlos gewesen! Es gab Generalbundesanwälte und Vertreter, die viel politischer waren, was ich auch richtig finde. Ich bin nie der Meinung gewesen, dass der Generalbundesanwalt ein politischer Eunuch sein muss, das darf nicht sein, aber er ist, wie wir alle, Diener einer demokratisch legitimierten Regierung. Er macht nicht Politik.

IV. Perspektive eines Politikers

Gerhart Baum

Foto: Wolf Prange

Geboren im Jahre 1932 1957 Referendarexamen 1961 zweites jur. Staatsexamen, dann als Anwalt in Köln tätig 1962–1972 Mitglied der Geschäftsführung der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände 1966–1968 Vorsitzender der Jungdemokraten 1966–1998 Bundesvorstand der FDP 1970–1990 Landesvorstand der FDP Nordrhein-Westfalen 1969–1973 Mitglied im Kölner Stadtrat 1972–1978 Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Innern 1972–1994 Mitglied des deutschen Bundestages 1978–1982 Bundesminister des Innern 1978–1991 Mitglied des FDP-Präsidiums 1982–1991 Stellvertretender FDP-Bundesvorsitzender Ab 1992 für die UNO tätig, zuerst als Chef der deutschen Delegation in der UNO-Menschenrechtskommission in Genf, später als UN-Sonderbeauftragter für die Menschenrechte im Sudan. Ab 1994 wieder als Rechtsanwalt tätig; er war an einer Reihe von Ver­ fassungsbeschwerden vor dem Bundesverfassungsgericht beteiligt

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IV. Perspektive eines Politikers

Gisela Diewald-Kerkmann (DK): Im Jahre 1961 haben Sie das zweite juris­ tische Staatsexamen abgelegt. Danach waren Sie als Anwalt in Köln tätig. Gerhart Baum (B): Ja, ich war kurz als Anwalt tätig. Ich war amtlich bestellter Vertreter eines Anwalts, der eine andere Aufgabe hatte. Das war der Rechtsanwalt Dr. Servatius, der Eichmann verteidigt hat. Die Rechtsanwaltskammer suchte jemanden, der seine Praxis führte und er auch. Dann habe ich eine Praxis, die alle Felder des Rechts sozusagen abdeckte, geführt. Und habe dann gesehen, das ist unvereinbar mit meinen Absichten, aktiv Politik zu betreiben. Sie können als Anwalt, als junger Anwalt, der seine Existenz aufbaut, nur sehr schwer politische Aktivitäten ausüben. Dann bin ich eben Syndikusanwalt in einem Verband geworden. Ingrid Holtey (H): Herr Baum, 1968 waren Sie Bundesvorsitzender der Jungdemokraten. Fühlten Sie sich eigentlich als Achtundsechziger? B: Wenn Sie mich fragen, ob ich mich als Achtundsechziger fühle: „Ja“, aber ich bin ein Reformliberaler. Also, wir haben in meiner Partei, die ich zusammen mit anderen verändert und auf den Weg zur sozial-liberalen Koalition gebracht habe, eine neue Ost-Politik und innere Reformen in der Regierung Brandt-Scheel umgesetzt. Das war meine Tätigkeit. Wir waren nicht auf den Straßen, sondern auf Parteitagen. Wir haben Politik gemacht und versucht, durch politische Entscheidungen die Republik zu verändern. Diese ist auch nachhaltig verändert worden. Sie würde heute ganz anders aussehen, wenn wir etwa die Stellung der Frau nicht verfassungskonform ausgestaltet hätten, und vieles andere mehr wäre einfach nicht geschehen. H: Wie standen Sie zur außerparlamentarischen Opposition? B: Ja, ich war auch ein Teil davon. Ich weiß noch, wie ich hier in Köln den Republikanischen Club regelmäßig besucht habe, auch in Berlin. Ich hatte auch sehr starke Verbindungen in die außerparlamentarische Opposition, aber die war sehr unterschiedlich zusammengesetzt. Mit bestimmten Leuten hatte ich überhaupt keinen Kontakt, aber zum Beispiel zu Rudi Dutschke, den ich dann zu einem der Freiburger Parteitage eingeladen habe. Hierzu gibt es das Bild, als Dutschke und Dahrendorff miteinander vor der Halle diskutieren. Das habe ich veranlasst. Wir wollten die Argumente der außerparlamentarischen Opposition in die Partei hineintragen, wir wollten die Partei damit konfrontieren, nicht unbedingt mit dem Ziel, dass sie das alles übernimmt. Aber sie sollte spüren, was in der jungen Generation los war. H: Haben Sie noch andere Repräsentanten der außerparlamentarischen Opposition eingeladen? B: Nein, ich habe weitere spektakuläre Einladungen nicht ausgesprochen, aber wir haben natürlich intern heftig diskutiert. Es gab z. B. bei den Sitzungen der Deutschen Jungdemokraten, die ich zeitweise als Bundesvorsitzender leitete,

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mitunter ein sogenanntes ‚Sit-in‘. Das heißt Mitglieder unseres Verbandes, die dem Führungsgremium nicht angehörten, haben sich einfach auf den Boden gesetzt oder wo auch immer, um bestimmte Dinge durchzusetzen. Der Wind aus der außerparlamentarischen Opposition hatte uns schon erfasst. Wir haben dann auch Konsequenzen gezogen, viele Sitzungen einfach parteiöffentlich oder öffentlich gemacht. Es hat uns schon im Stil, wie wir Politik gemacht haben, sehr beeinflusst. H: Die Schüsse auf Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967, welche Wirkung haben diese auf Sie gehabt? B: Die Schüsse auf Benno Ohnesorg haben auf uns die gleiche Wirkung gehabt wie auf viele andere. Zwar nicht in der Weise, dass wir gesagt haben wie ­Gudrun Ensslin, jetzt werden wir alle liquidiert oder so. Sie hat dann gefordert, dass zurückgeschossen werden müsse. Aber der Tod von Benno Ohnesorg hat uns erschüttert und noch mehr eigentlich das Attentat auf Dutschke. Mich hat das Attentat auf Dutschke sehr berührt. Ich war, ich erinnere mich noch, auf einem liberalen Kongress in London und bin sofort zurückgefahren. So nahe ging uns das und so groß war auch die politische Wirkung, die wir dann gespürt haben. Ich hatte das Gefühl, ich muss als Vorsitzender dieses Jugendverbandes, der in der Partei sehr einflussreich war, vor Ort und auch politisch präsent sein. Das habe ich dann gemacht. H: Sie sind 1954 in die FDP eingetreten und haben sich politisch engagiert. Gab es Ereignisse, die diesen Schritt bewirkt haben? B: Nein, es gab kein Ereignis, das alleine diesen Schritt bewirkt hat. Ich hatte mich politisch engagiert, zunächst im Liberalen Studentenbund und dann bei den Jungdemokraten. Man musste nicht FDP-Mitglied sein, um in diesen beiden Organisationen zu sein. Ich habe auch lange gezögert und schließlich gesagt, es ist nur konsequent, wenn ich jetzt auch der FDP beitrete. Es gab Hinderungsgründe. Die FDP in Nordrhein-Westfalen war mit braunen Flecken versehen. Da gab es alte Netzwerke von aktiven Nationalsozialisten, die eine große Rolle gespielt haben. Das war natürlich nicht meine Partei. Aber die Partei an sich, die liberale Partei, wie sie bundesweit aufgestellt war und auch mit anderen sehr liberalen Landes­ verbänden, Baden-Württemberg und den Hansestädten, das war meine politische Heimat. Ich habe dann mit anderen sehr energisch dafür gesorgt, dass wir uns hier dieser alten Seilschaften entledigt haben. Das ging nach und nach, und letztlich war der Lackmustest die sozial-liberale Koalition, die neue Ost-Politik. H: War dieses politische Engagement in Ihrem Elternhaus angelegt, oder hatten Sie sich davon abgegrenzt? B: Ich habe meinen Vater kaum erlebt, der ist als einfacher Soldat eingezogen worden. Er war Rechtsanwalt in Dresden und ist nicht zurückgekommen. Mein Elternhaus bestand dann aus meiner Mutter. Es gab in Dresden im Freundeskreis der Familie eine Einstellung, die sich gegen die Nazis richtete. Ich habe die Nazi­zeit

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IV. Perspektive eines Politikers

noch bewusst erlebt, jedenfalls Teile davon, auch als ganz junger Mensch. Zwölf Jahre alt war ich, als Dresden zerstört wurde. Ich habe die alten Menschen mit dem Judenstern gesehen und diese ganze Blockwartmentalität miterlebt. Wir haben die Judenverfolgung auch diskutiert. Ein Motiv, in die Politik zu gehen, war die Einsicht und der Wille, dass das nicht wieder passieren darf: Wir müssen hier eine Demokratie aufbauen. Das war keineswegs sicher, dass das so gelingen würde. Ich erinnere mich an meine Schule, an der ich eine Gedenkstunde für den 20. Juli 1944 organisieren wollte. Das hat das Lehrerkollegium untersagt, so war die Stimmung. Die Nürnberger-Prozesse waren „Siegerjustiz“, und der Emigrant Thomas Mann hat das „Vaterland verlassen“. Ich habe dann einen Brief an Thomas Mann geschrieben, nach der Lektüre seines Buches ‚Dr. Faustus‘. In diesem Buch hatte er die Ursachen, die zur Katastrophe geführt haben, nachgezeichnet, die eben auch im deutschen Wesen, nicht nur in der deutschen Geschichte lagen. Ich habe ihm dann geschrieben, dass ich mich immer wieder verzweifelt gefragt hätte, wo ist denn das andere Deutschland, das gesittete Deutschland und habe hinzugefügt, ich hätte doch einige Sorge, dass Deutschland auf einem richtigen Wege sei. Das war das Motiv, eben selber mitzuwirken, um eine Demokratie aufzubauen. Das habe ich dann doch einigermaßen kämpferisch gemacht. H: Von 1962 bis 1972 waren Sie Mitglied der Geschäftsführung der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände. Wie standen sie zur Selbstverwaltung und Mitbestimmung, waren Sie nicht auf der anderen Seite? B: Ich war ein Paradiesvogel bei den Arbeitgebern und im Grunde mit den Zielen meiner Partei von den Arbeitgebern teilweise weit entfernt. Die Ziele meiner Partei wurden formuliert im „Freiburger Programm“ von 1971. Da wurde die überbetriebliche Mitbestimmung gefordert, wir wollten eine Beteiligung der Arbeitnehmer am Vermögenszuwachs der Unternehmen. Alles in allem eine Reform des Kapitalismus, aber nur nach liberalen Gesichtspunkten. Das alles war natürlich nicht Arbeitgeberpolitik. Die waren aber tolerant und haben das auch deshalb ertragen, weil ich nicht innenpolitisch tätig war. Ich habe die Arbeitgeber in Brüssel vertreten, bin also regelmäßig nach Brüssel gefahren, in die europäischen Gremien. Dort hatte ich keine Konflikte auszustehen. Die Konflikte waren innenpolitisch. H: Haben Sie in den APO-Prozessen einen neuen Typus des Anwaltes gesehen? B: Der neue Typus der linken Anwälte, der war mir ein Begriff. Es war eine neue Bewegung in der Anwaltschaft, die sich keineswegs nur auf die Terrorismusverteidiger erstreckte. Die linken Anwälte hatten ein anderes Selbstverständnis, waren sehr viel selbstbewusster vor Gericht. Ich habe das wahrgenommen, es hat auch seine Spuren hinterlassen, auch positive Spuren in der Gerichtsbarkeit. Aber das Selbstverständnis war mir fremd. Ich war also kein linker Anwalt, sondern ich war lediglich ein Jahr als Anwalt tätig, der alle möglichen – auch Wald- und Wiesenfälle – behandelt hat und nur mit Hilfe einer gewieften Bürovorsteherin das überhaupt überstehen konnte. Ich bin ins kalte Wasser gesprungen.

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H: Es gab ein neues Auftreten vor Gericht, und es wurden Anwaltskanzleien als Kollektiv gegründet. Hätten Sie sich so etwas auch vorstellen können? B: Weiß ich nicht. Vor die Frage bin ich nicht gestellt worden. Heute ist das üblich; meine jetzige Anwaltskanzlei ist eher ein mittelständisches Kollektiv, obwohl der Begriff nicht ganz passt. Es gibt inzwischen auch diese riesigen Anwaltskanzleien. Aber ich weiß nicht, wie ich mich damals verhalten hätte. Um es nochmals zu betonen. Ich habe eines nicht gemacht, weil es auch nicht meine Überzeugung war: Diese fundamentale Kapitalismuskritik war nie meine Sache. Das erklärt auch, warum ich bei den Arbeitgebern tätig geworden bin. Ich fand zwar, dass die Marktwirtschaft anders interpretiert werden müsse, z. B. mit der überbetrieblichen Mitbestimmung. Der Mensch war uns nicht nur als Staatsbürger, sondern auch als Wirtschaftsbürger wichtig. Aber eine fundamentale Kapitalismuskritik war nicht meine Sache. Rückblickend muss man sagen, dass der Kapitalismus aus dieser Phase der deutschen Geschichte eher gestärkt als geschwächt hervorgegangen ist. Wenn man gegenwärtig die internationalen Finanzmärkte sieht, dann kommt man auch heute an einer Kapitalismuskritik nicht vorbei. H: Als Mitglied im Stadtrat in Köln sind Sie mit den Ausläufern der 68er Bewegung konfrontiert worden? B: Als Stadtrat in Köln habe ich natürlich mit der APO zu tun gehabt. Übrigens war das eine ganz fruchtbare Zeit meiner politischen Tätigkeit, weil man unmittelbar konfrontiert wurde mit den Folgen der Entscheidungen. Vor der Tür fand das statt. Diese Unmittelbarkeit der Politik habe ich nie wieder so intensiv erlebt wie hier in meiner Zeit als Kommunalpolitiker. DK: Wurde der Staat durch den bundesdeutschen Terrorismus der Roten-­ Armee-Fraktion überrascht? B: Ja! Das gab es vorher nicht. Es gab keine politisch motivierte Gewalt­ kriminalität. Es gab zwar im 19. Jahrhundert den russischen Anarchismus oder im 20. Jahrhundert die Tupamaros in Lateinamerika, aber mit einer solchen Herausforderung hatten wir nicht gerechnet. Deshalb auch dieser Überraschungseffekt und zum Teil die Kopflosigkeit der Reaktionen. DK: Wie haben Sie den Zeitraum von 1970 bis 1974 wahrgenommen? B: Wir fühlten uns irgendwo nicht nur herausgefordert, sondern auch nicht gerüstet. Hans-Dietrich Genscher hat als Bundesinnenminister das Bundeskriminalamt erst zu einer leistungsfähigen Behörde gemacht. Das war ein verschlafender Verein. Wir haben also polizeilich aufgerüstet, auch als Folge des schrecklichen Olympia-Attentats in München im Jahre 1972. Nach dem gescheiterten Befreiungsversuch wurde die Eingreiftruppe GSG 9 gegründet. Wir haben die Polizei aufgerüstet, der Bedrohung angepasst und neue Informationssysteme installiert, die der außerordentlich fähige und innovative Horst Herold als Präsident des Bundeskriminalamts eingeführt hat. Auch der Präsident des Bundesverfassungs­

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IV. Perspektive eines Politikers

schutzes hat hierzu einen wichtigen Beitrag geleistet. Die deutsche Polizei und die Justiz haben sich umstellen müssen. Es sind in einer ganzen Serie von Gesetzen erhebliche Einschränkungen im Bereich des Strafprozessrechts und Einschränkungen der Verteidigerrechte erfolgt, die meines Erachtens zu weit gehen. Diese bestehen zum größten Teil heute noch, obwohl der Anwalt Otto Schily damals als Ensslin-Anwalt gesagt hat, die müssen alle weg. Als er an der Regierung war, ist nichts davon umgesetzt worden. Wir haben die Spielräume, die uns die Verfassung gegeben hat, sehr stark ausgereizt. Nicht wie heute, wo die Parlamente gegen die Verfassung serienweise verstoßen. Es gibt allein vierzehn Urteile des Bundesverfassungsgerichts gegen Sicherheitsgesetze. Nein, wir haben die Spielräume ausgereizt und Entscheidungen getroffen, die wir dann auch zurückgenommen haben, die etwa Kontaktpersonen bei Fahndungsmaßnahmen betrafen. Ich erinnere mich noch an einen beabsichtigten neuen Strafrechtsparagraphen „Verherrlichung von Gewalt“, wobei wir dann auch festgestellt haben, dass wir einen Teil der Weltliteratur verbieten müssten. Es sind Ausrutscher erfolgt, aber man muss sich auch vorstellen, dass die sozial-liberale Koalition SPD/FDP unter einem gewaltigen Druck der Opposition und der Öffentlichkeit stand. Die Opposition wollte uns den Terrorismus in die Schuhe schieben, mit der Auffassung: „Das sind eure Leute, ihr bekämpft sie nicht richtig“ oder „Baum – ein Sicherheitsrisiko“. Wir waren in einer Abwehrposition gegen sehr viel weiterreichende Vorschläge der Opposition. Mein Kollege Hans-Jochen Vogel, Bundesjustizminister, hat sich dem entgegen gestellt. Aber ganz konnten wir uns dem nicht entziehen. Deshalb sind Dinge gemacht worden, z. B. die Kontaktsperre, die fragwürdig sind. DK: Würden Sie sagen, dass 1972 mit der Verhaftung der Gründungsmitglieder der Roten-Armee-Fraktion das Problem gelöst war? B: Nein, natürlich nicht. Das war eine große Erleichterung, aber es ging weiter, und wir haben auch damit gerechnet, dass es weiter geht. Da war zuvor der Schuss auf Benno Ohnesorg gewesen, die Tötung von Ohnesorg wirkte nach, und dann passiert eben eine Eskalation von beiden Seiten. Und der Staat hat Öl ins Feuer gegossen, er hat nicht beruhigt. Diese ganzen Hungerstreiks, die Handhabung des Hungerstreiks oder die Isolationshaft, die es tatsächlich gegeben hat. Ulrike Meinhof war lange Zeit in einem „toten Trakt“ des Gefängnisses in Köln isoliert inhaftiert gewesen. Wir haben den Terroristen Vorwände geliefert. Diese Eskalation war nicht aufzuhalten, insbesondere dann nicht mehr, als mit der BaaderBefreiung Ulrike Meinhof und andere in den Untergrund gegangen waren. DK: Eine wichtige Zäsur war 1974 der Tod von Holger Meins. B: Der Tod von Holger Meins war ein Schock und auch die Vorwürfe, die sich daran geknüpft haben. Uns war klar, dies mobilisiert. Ich habe das sehr genau in Erinnerung, auch die Anwesenheit von Otto Schily bei der Beerdigung von Holger Meins und Dutschkes Ausruf am Grabe: „Holger, der Kampf geht weiter!“, wie auch immer das gemeint war. Nein, das war ein einschneidender Moment in der weiteren Eskalation.

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DK: Ulrike Meinhof war in Köln-Ossendorf, auch Astrid Proll und später ­Gudrun Ensslin. Wer war verantwortlich für diese Haftbedingungen? B: Politisch verantwortlich war die Justiz in Nordrhein-Westfalen unter Mit­ wirkung des Generalbundesanwalts. Man hatte offensichtlich die Furcht, dass Kommunikation stattfinden könnte, die man dann in Stammheim überreichlich akzeptiert hat. Die Haft in Stammheim hat in einer Weise stattgefunden, dass man sich heute noch fragen muss, wie war das möglich? Nein, man war in Angst und Schrecken versetzt und wollte eine Person wie Meinhof, die einen starken Einfluss hatte, total fernhalten von den anderen. DK: Es folgten zahlreiche Gesetze. B: Ein Teil der Gesetze war sicherlich notwendig. Aber eben nicht alle. Man ist da über das Ziel hinausgeschossen. Gesetzesänderungen waren notwendig, um die Prozesse durchführen zu können. Aber die Beschneidungen der Verteidigerrechte, wie sie dann geschehen sind – damit waren die Verteidiger weithin als Kumpane der Terroristen oder als Komplizen angesehen – das müsste man heute korrigieren. Es ist leider nicht geschehen, die Initiative nicht ergriffen worden, die notwendig gewesen wäre. Ich würde auch das sehr fragwürdige Organisationsdelikt des Paragraphen 129a StGB hinterfragen. Dieser Paragraph ist ausgeweitet worden und hat es möglich gemacht, dass auch eine schwache Beteiligung an der RAF bereits zu einem Verbrechen wurde. Alle Mittel des Strafprozessrechts konnten angewandt werden, die gegen Verbrecher zur Verfügung standen. Mir ging das immer zu weit. Aber es erleichterte die Arbeit von Polizei und Justiz. DK: Wie haben Sie die Anwälte wahrgenommen? B: Ich habe die Anwälte damals eher kritisch wahrgenommen, und dafür gab es auch genügend Anlass. Klaus Croissant und Hans-Christian Ströbele sind ver­ urteilt worden, weil sie ein Teil des Nachrichtensystems der RAF waren. Wir wussten Bescheid über andere Anwälte, die in einer sehr starken Nähe zu den Terro­risten standen und Komplizen waren. Die Anwälte haben wir generell sehr kritisch wahrgenommen. Das gilt auch für Otto Schily. DK: Wenn wir sagen ‚die Anwälte‘, müssen wir dann nicht differenzieren? B: Ja, das muss man dann Anwalt für Anwalt differenzieren. Sicherlich war Otto Schily an rechtstaatlichen Prinzipien orientiert als strikter Verfechter des Gewaltmonopols des Staates. Er hat zu keiner Zeit, meine ich, Morde gerechtfertigt. Der hat eine Gratwanderung gemacht, einerseits das Vertrauen zu seiner Mandantin Gudrun Ensslin zu erhalten und andererseits seine Grundprinzipien nicht zu verleugnen. Die Gratwanderung ist bei ihm nicht immer gelungen. Er hat einen unglaublich starken Antiamerikanismus zum Ausdruck gebracht, geknüpft an den Vietnamkrieg. Es ist kaum vorstellbar, dass dieser Mann später Sympathien für den amerikanischen „Patriot Act“ – die zum Teil rechtsstaatlich akzeptable Re­ aktion auf den 11. September – gezeigt hat, als er nach Amerika gefahren ist, einen

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höchst umstrittenen Justizminister ständig besucht und sich freundschaftlich ausgetauscht hat. Er hat unter anderem gesagt, ein RAF-Anschlag auf eine amerikanische Einrichtung sei nicht anders zu sehen, als wenn Widerstandskämpfer im Dritten Reich das Reichssicherheitshauptamt angegriffen hätten. Das war schon starker Tobak. Er hat auch offen gelassen, und das haben wir ihm übelgenommen, wie die Selbstmörder in Stammheim zu Tode gekommen sind. Er hat offen gelassen, ob es nicht doch ein staatlich organisierter Mord gewesen ist. Er hat uns also zugetraut, Häftlinge in einem deutschen Gefängnis einfach zu ermorden. Er hat das offen gelassen mit großer Wirkung, denn seine Stimme hatte Gewicht. Später hat er diese Position relativiert. H: Groenewold wollte politische Informationen in den Gerichtssaal hineinbringen. B: Aber einen Informationszirkel zu bedienen, war natürlich eine Straftat. Das konnten wir nicht zulassen. Aber ich meine, es gab eine ganze Reihe von An­ wälten, die sich auch in diesen schwierigen Situationen bewährt haben. Wir mussten ein Interesse haben, dass die Angeklagten ordentlich verteidigt wurden. Sie haben die Pflichtverteidiger abgelehnt. Also, ich bin weit davon entfernt, einen Verteidiger eines RAF-Terroristen zu kritisieren, das gehört zum Rechtstaat und wer das gemacht hat, hat eine anwaltliche Pflicht wahrgenommen. DK: Wie haben Sie das Verfahren in Stuttgart-Stammheim bewertet? B: Ich hätte mich als Anwalt in Stammheim auch gegen diese demütigende Art der Behandlung der Anwälte gewehrt. Ich hätte mich vor allen Dingen auch gegen diesen überforderten Gerichtsvorsitzenden massiv gewehrt. Das hat der Schily gekonnt gemacht, da hat er meinen vollen Respekt, dem Gericht sinngemäß ent­ gegenzuhalten: „Ich verteidige hier den Rechtsstaat gegen Sie, die Richter“. Er hat gute Plädoyers gehalten. Sie waren wirklich interessant. DK: Können Sie insgesamt etwas zum Stammheim-Prozess sagen? B: Er ist aus dem Ruder gelaufen, er war ein Ärgernis für uns. Er hat uns auch behindert. Wir hatten das Gefühl, er stimuliert die RAF, statt beruhigend zu wirken. Wir haben diese Abläufe kritisch gesehen. Der Stammheim-Prozess, so wie er abgelaufen ist, war für uns, die wir gegen die RAF mit polizeilichen Mitteln vorgegangen sind, aber auch versuchten, auf die Ursachen Einfluss zu nehmen, nicht hilfreich. Dieser Prozess wühlte wieder auf, er motivierte wieder Menschen zu Sympathisanten der RAF zu werden. DK: Der Generalstaatsanwalt in Stuttgart formuliert beispielsweise, dass der Abbau von Verteidigerrechten notwendig gewesen sei, um den Prozess in Stammheim durchführen zu können? B: Zum Teil war der Abbau von Verteidigerrechten und auch der Rechte von Angeklagten notwendig, um zum Beispiel die Fortführung der Gerichtsverhandlungen ohne Angeklagte zu ermöglichen. Das ist richtig. Wir mussten uns auf

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diese neue Art von Angeklagten einstellen. Insofern waren Änderungen im Strafprozessrecht notwendig. DK: Wie würden Sie die sogenannte Abhöraffäre in der Justizvollzugsanstalt Stammheim beurteilen? B: Das Abhören von Verteidigergesprächen ist ein grober Rechtsstaatsverstoß, und der Justizminister von Baden-Württemberg hat auch deswegen den Hut nehmen müssen. Das ist im Grunde eine der Grundvoraussetzungen für einen ordentlichen Prozess, dass der Angeklagte mit seinem Verteidiger ungestört und un­ beobachtet reden kann. Vor Ihnen sitzt jemand, der ein Verfassungsgerichtsurteil gegen den Lauschangriff in der Wohnung erstritten hat. Da geht es auch um die Gespräche, die in der Wohnung mit Verteidigern geführt werden. DK: Wussten die Bundesanwälte von der Abhöraffäre? B: Ich weiß nicht, ob die Bundesanwaltschaft über die Abhörmanöver in­ formiert war. Aber etwas anderes ist die Frage, ob die Gefängnisleitung von dem beabsichtigten Selbstmord durch das Abhören unterrichtet gewesen sei. Diese These geistert immer noch durch die Landschaft. Also für mich war das nicht zu belegen. DK: Der Verteidiger Otto Schily hat in Stammheim die Auffassung vertreten, dass der Prozess auch Ausdruck einer Gesinnungsjustiz gewesen sei. B: Wenn Schily Stammheim als Gesinnungsjustiz bezeichnet hat, ist das abenteuerlich, es ging um Morde. Das wird er doch nicht aus dem Auge verloren haben! Morde rechtfertigen sich durch nichts, auch nicht durch eine politische Gesinnung! DK: Er meinte auch eher die Vorverurteilung der Angeklagten in der Öffentlichkeit. B: Die Vorverurteilung war ein Riesenproblem. Das ist klar. Das hat den Prozess überschattet. Die RAF war eine in der Öffentlichkeit intensiv wahrgenommene Sache, und sie selber hat eine Öffentlichkeitspolitik gemacht wie keine vergleichbare Gruppe vor ihr. Sie hat ihre Taten begründet. Dass dann der Prozess unter einer Vorverurteilung stattfand, ist nach der Lebenswirklichkeit gar nicht auszuschließen, nicht wahr? Die Frage war nur, inwieweit haben sich die Richter beeindrucken lassen? Die Öffentlichkeit hat sich ihre Meinung gebildet, und das kann man gar nicht verhindern, es sind schließlich Menschen zu Tode gekommen. DK: Die RAF-Mitglieder wurden auf der gesellschaftlichen Ebene als Staatsfeinde dargestellt, auf der juristischen Ebene dagegen als gemeingefährliche ­Kriminelle. B: Die Diskussion um „Staatsfeinde“ hat den Angeklagten in die Hände gespielt. Sie wollten nicht als Verbrecher gelten, sondern sie sahen sich im Kriege mit uns. Einige von uns haben ihnen den Gefallen getan, diese Kriegserklärung an-

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zunehmen, so beispielsweise einige Boulevardblätter und auch einige Intellektuelle, ich erinnere mich an eine Stellungnahme von Golo Mann. Das kam der RAF gerade zupass. Das hat auch ihr Bewusstsein geprägt. Sie fühlten sich als Kriegsgefangene, im Krieg gegen einen unmenschlichen Staat, der Verbrechen zu verantworten hat. Nein, die Stimmung, die da entstand, war absolut kontraproduktiv gegen die strafrechtliche Ahndung von Verbrechen gewesen. Aber letztlich ging es in dem Prozess dann doch um das Strafrecht. DK: Hätte der Staat die Option gehabt, die Kriegserklärung der RAF nicht anzunehmen? B: Es ist nicht nur der Staat gewesen, sondern die Gesellschaft. Die Gesellschaft fühlte sich herausgefordert, für mich ganz unbegreiflich diese Hysterie und auch die Angst. Denn der Normalbürger stand gar nicht im Fadenkreuz der RAF, sondern es waren ausgesuchte Repräsentanten der Wirtschaft und der Politik. Zunächst jedenfalls bis zur Geiselnahme eines Ferien-Flugzeugs im Jahre 1977. Dass so eine Stimmung entstehen konnte, hat verschiedene Ursachen: Das Ungewohnte dieser Taten, die Publizität der Taten, eine ungemein starke Publizität, wie gesagt, bewirkt durch die RAF selbst. Und natürlich auch durch die Medien. Insbesondere durch die BILD-Zeitung wurde eine Stimmung erzeugt, die dann zu dem Schluss verleiten konnte, das sind doch Leute, die Krieg gegen uns führen, und wir müssen anders mit ihnen umgehen. Das haben wir heute auch, den Versuch nämlich, ein Feindstrafrecht aufzubauen. Das hat der amerikanische Präsident Bush gemacht, indem er die Folter wieder eingeführt hat in den USA. Das Feindstrafrecht, das von einigen Strafrechtlern heute vertreten wird, geht davon aus, dass Ausnahmezustände vorstellbar seien. In diesen Fällen dürften wir denen, die den Ausnahmezustand herbeigeführt haben, nicht die Rechte gewähren, die normale Kriminelle nach unserer rechtstaatlichen Ordnung haben. Sie stellen sich außerhalb des Rechts. Soweit ist damals niemand gegangen. Die Angeklagten selber haben sich als Kriegsteilnehmer gesehen und wollten absurderweise nach der Genfer Konvention behandelt werden. DK: Die Rote-Armee-Fraktion war eine kleine Gruppe. B: Also, ich sage dann immer, mein Gott, dreißig, fünfzig Leute. Wie kann es dazu kommen, dass sich eine gefestigte Demokratie – wir waren und sind eine gefestigte Demokratie – so in Unruhe versetzen lassen konnte? Zumal die Bevölkerung anders als heute – etwa durch die Bedrohung des islamistischen Terrorismus – nicht betroffen war. Die RAF hat nicht mit dem Gedanken gespielt, U-Bahn-Stationen zu sprengen. Das ist sehr merkwürdig, dass wir in eine solche Psychose geraten sind und die Rationalität versagt hat. Damals haben sehr prominente Leute gesagt: „Unsere Demokratie ist in Gefahr“, so beispielsweise Klaus Bölling. Ich habe immer die These vertreten, unsere Demokratie war nicht eine Sekunde in Gefahr. Die Reaktionen waren zum Teil Überreaktionen. Die demokratische Grundordnung war nie in Gefahr, das ist lächerlich, so etwas zu sagen.

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DK: Trotzdem gab es diese Reaktionen der bundesdeutschen Gesellschaft? B: Ja, es ist schon verwunderlich, eine Gruppe von Einzeltätern, dreißig, fünfzig – nach Horst Herold, Präsident des BKA, waren aber noch mehr gewalt­bereite Menschen im Umkreis, das Potential war wohl größer. Immerhin sind etliche Sympathisanten verurteilt worden. Die Bedrohungen wurden auch nicht nur als ein deutsches Phänomen wahrgenommen, sondern man sah die internationalen Verbindungen. Aber daraus den Schluss zu ziehen, wir sind alle bedroht und unsere staatliche Ordnung ist bedroht, schien mir immer absurd. Zumal die Terroristen von damals nicht wahllos Attentate gegen die Bevölkerung unternommen haben, überhaupt keine, mit Ausnahme später des gekaperten Flugzeuges. Aber die psychologische Situation oder die Psychose, die sich ausgebreitet hatte, ist ein Phänomen der damaligen Zeit. Es ist auch ein Phänomen, dass uns die RAF heute noch beschäftigt. Zahlreiche Diskussionen habe ich in den letzten Jahren geführt. Das führt mich zu der Feststellung, dass dies eine offene Wunde ist. Wir führen auch die alten politischen Schlachten weiter. Uns hat vor allem die Frage interessiert: „Was ist eigentlich passiert in den Köpfen von einigen Menschen, dass sie zu Mördern wurden?“ Viel zu spät sind wir den Ursachen nachgegangen, beispielsweise auch durch große Untersuchungen über die Situation in der damaligen Gesellschaft. Sie wurden von meinem Vorgänger Werner Maihofer eingeleitet. Es ging dabei nicht nur um die Täter, sondern auch um eine nicht geringe Zahl von Menschen, die die Taten gebilligt haben und die auch die Tür aufgemacht hätten, wenn Ulrike Meinhof im Morgengrauen geklingelt hätte. Mir ging es um die Sympathisanten-Szene. Ich wollte diese erreichen, und mein politisches Ziel war dann auch, als Innenminister die Einsicht zu vermitteln, der Staat ist reformfähig. Der Staat lässt sich verändern. Die Möglichkeiten, die eine Demokratie bietet, sind reformfreundlich. Das haben wir auch damals mit der Politik in der sozial­liberalen Koalition zum Ausdruck gebracht. Gewalt ist überflüssig, wenn ihr was ver­ändern wollt. DK: Erklärt sich vor dem Hintergrund der staatlichen Reaktionen die Rekrutierung der sogenannten zweiten und dritten Generation der RAF? B: Die Reaktionen des Staates haben einen gewissen Anteil an der Eskalation oder am Fortgang der Angelegenheit. Das ist nicht zu bestreiten. Wir haben auch zunehmend gesehen, dass wir selber unklug reagiert haben und Menschen, die zur RAF „schwankten“, eher bestärkt als davon überzeugt haben, dass es eine absolute Fehlentwicklung war. H: In Frankreich gab es keine terroristischen Nachfolgebewegungen. Hatte das mit der Rolle der Intellektuellen zu tun? B: Beispielweise hat Heinrich Böll hier versucht, die Wogen zu glätten und zur Vernunft aufzurufen und ist dann prompt verunglimpft worden. In Frankreich war das anders. Die französischen Intellektuellen waren aktiv an der Diskussion beteiligt. Vergessen Sie nicht Daniel Cohn-Bendit, der einen großen Anteil daran hatte, dass geredet und nicht geschossen wurde. Es wurde demonstriert, und es wurden

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Barrikaden gebaut. Ja, ich war damals in Paris. Ich habe gesehen, wie idyllisch das war, wie die Bevölkerung am linken Seine-Ufer sich mit dem Widerstand solida­ risierte. Es waren ständige Diskussionen. DK: Es gab auch in Deutschland positive Ansätze, unter anderem haben Sie – als Bundesinnenminister – eine wichtige Studie in Auftrag gegeben und des Weiteren im Jahr 1979 das Gespräch mit Horst Mahler geführt. B: Die Untersuchung ist bis heute sehr wertvoll. Es sind namhafte Wissenschaftler gewesen, die uns im Grunde eine sehr interessante Analyse der damaligen Gesellschaft geben, weit über den Terrorismus hinaus. Die vier Bände sind wirklich ganz wichtig. Nachdem ich aus dem Amt geschieden bin, sind sie verramscht worden. Sie sind nicht verbreitet worden. Das Innenministerium hatte offenbar überhaupt kein Interesse, daraus etwas zu machen. Einzelne Beiträge haben die Polizei erreicht, die sich dafür interessiert hat. Das Bundeskriminalamt hat Lehrgänge und Tagungen dazu gemacht. Der Versuch war, gesellschaftliche Ursachen aufzuspüren, den gesellschaftlichen Hintergrund auszuleuchten. Das ist mit dieser Studie geschehen, die jetzt bei vielen Publikationen über die RAF verwendet wird, die es immer wieder gibt. Meinem Gespräch mit dem früheren RAF-Mitglied Horst Mahler lag die Absicht zugrunde, einer größeren Öffentlichkeit deutlich zu machen, was ist da passiert? Am Beispiel eines einzelnen Täters: Mahler war der wichtigste Theoretiker der RAF am Anfang. Er war ein kompetenter Anwalt und hat sich strafbar gemacht, hat Flagge gezeigt und ist verurteilt worden. Aus meiner Sicht ist er sehr hart bestraft worden. Er hatte diese Strafe, als wir das Gespräch führten, beinahe abgebüßt, war Freigänger und hatte sich vom Terrorismus gelöst. Für mich war es wichtig, mit ihm darüber zu reden, wie zwei Lebensläufe zu interpretieren sind: Der Lebenslauf des Anwalts Horst Mahler und der Lebenslauf des Anwalts Gerhart Baum. Der eine wird Terrorist, der andere Innenminister. Im Grunde habe ich ihn dazu veranlasst, das zu schildern, was ihn bewogen hat, was ihn getrieben hat und was ihn dann auch veranlasst hat, mit dem Terrorismus zu brechen. Ich wollte vermitteln, wie man mit dem Phänomen des Terrorismus umgehen könne. Dabei war mir vollkommen klar, dass ich die Haupttäter nicht erreichen kann. Sie konnten auch nicht amnestiert werden. Entgegenkommend haben wir es bei dem ehemaligen RAF-Mitglied Peter-Jürgen Boock versucht, der uns über seine Tatbeteiligung belogen hat. Ich wollte, dass wir Brücken bauen. Das haben wir bei der früheren Terroristin Astrid Proll gemacht. Wir haben ihr zugesichert, dass sie, wenn sie aus England zurückkommt, hier zwar vor Gericht gestellt, ihr aber eine Bewährungsstrafe in Aussicht gestellt wird und keine weitere Haft. Wir wollten Menschen überzeugen. Wir wollten Auswege aufzeigen, das habe ich mit diesem Gespräch versucht. Dass Mahler dann eine ganz andere Entwicklung genommen hat, das war nicht vorhersehbar. Damals war das für mich ein sehr beeindruckendes Gespräch. DK: Wie hat man in der Öffentlichkeit und in der Politik auf Ihren Versuch ­reagiert?

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B: Die Reaktion war ein „Spiegel“-Titel zu Beginn des Jahres 1980. Sie müssen sich vorstellen, das war ein Wahljahr. Die Opposition hat mit voller Kanonenkraft auf mich geschossen und einen Misstrauensantrag im Parlament gegen mich eingebracht, wegen dieses Gesprächs und wegen angeblicher Unfähigkeit, den Terrorismus wirkungsvoll zu bekämpfen. Es wurde alles zusammen gemischt. Der Misstrauensantrag ist gescheitert. Sie haben dann noch versucht, mich wegen des Oktoberfest-Attentats von 1979 zu diskreditieren. Ich sei der eigentlich Verantwortliche für diese Tat. Dieser Vorwurf hat sich sehr schnell aufgelöst, denn es war ein Einzeltäter, der der Wehrsportgruppe Hoffmann nahe stand. Ich hatte vorher versucht, diese Gruppe zu verbieten. Aber der Freistaat Bayern – also mein Hauptkritiker – hat mich daran gehindert, diese rechte Wehrsportgruppe zu verbieten. Ich war im vollen Beschuss der Opposition, ich war das „Sicherheitsrisiko“. Ich erinnere mich noch an diese Passauer Aschermittwochsrede im Jahr 1980 von Franz Josef Strauß, da war ich die Hauptzielscheibe seiner Angriffe. Das habe ich einigermaßen gelassen hingenommen, wichtig war nur, dass meine Freunde zu mir standen. Das waren meine politischen Freunde in der FDP. Das war Hans-Dietrich Genscher, damals als Vorsitzender und auch Helmut Schmidt, der das als Kanzler sicherlich nicht jubelnd begrüßte, aber mich verteidigt hat. DK: War das gesellschaftliche Klima für solche Vermittlungsversuche noch nicht reif? B: Diese Gespräche, um wieder zu demokratischen Formen der Auseinandersetzung zurückzufinden – das war meines Erachtens nicht zu früh, es war zu spät! DK: Im Prozess gegen Verena Becker werden indirekt Verschwörungstheorien diskutiert, beispielsweise im Kontext der zehn „RAF-Aussteiger“, die 1990 in der DDR enttarnt wurden. B: Die DDR war an der RAF nicht maßgeblich beteiligt. Sie haben gewisse logistische Hilfestellungen geleistet, davon gingen wir aus. Terroristen benutzten DDR-Fluglinien und DDR-Flugplätze, aber dass eine aktive Unterstützung statt­ gefunden hat, haben wir damals nicht so gesehen. Dass sie zehn Leute aus dem Verkehr gezogen haben, war eher förderlich. Das wussten wir nicht. DK: Der erste Prozess gegen Astrid Proll musste 1974 wegen Verhandlungsunfähigkeit aufgehoben werden, der zweite fand in den achtziger Jahren statt. Jetzt waren Zeugenaussagen vom BKA möglich. B: Der Prozess gegen Astrid Proll war für uns ganz wichtig. Er sollte zeigen, dass wir nicht unversöhnlich sind und wir auch dazu beitragen, Brücken zu bauen. Ich habe damals die Aussagegenehmigung erteilt, die vorher für einige An­ gehörige der Sicherheitsbehörden nicht vorhanden war. Vorher hatten wir – das war der Bundesverfassungsrichter Helmut Simon und andere – mit dem Gericht gesprochen, wie es mit der Angeklagten umgehen würde. Sie kam freiwillig zurück. Ihr war in Aussicht gestellt worden, dass sie eine Bewährungsstrafe bekommen würde. Das war auch in Ordnung. Der Versuch sollte gemacht werden, dort

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wo es ging vorzuleben, dass man auch den Terroristen den Weg zurück in die Gesellschaft ebnet und ihnen dabei hilft. Das war natürlich bei den Mördern nicht möglich. Ich bin hunderte Male gefragt worden, ob wir denn eine Amnestie ins Auge fassen. Auch an den Kronzeugenregelungen war nichts zu machen, das war nicht durchsetzbar. Amnestie kann man sowieso nur verantworten, wenn diese in der Bevölkerung auf allgemeine Zustimmung stößt. DK: Würde der Staat heute souveräner mit dem Phänomen Terrorismus um­ gehen? B: Ja, ganz aktuell gab es eine Warnung, dass wir konkret durch den islamis­ tischen Terrorismus bedroht seien. Zu meinem Erstaunen hat die Bevölkerung sehr ruhig, unaufgeregt reagiert. Das hängt auch damit zusammen, dass der Innen­ minister de Maiziére das vorgelebt hat. Er hat zwar über die Bedrohung informiert, aber gleichzeitig gegen die Angst argumentiert, und das ist schon etwas anderes. Ich frage mich allerdings, was passiert, wenn etwas passiert, wenn eine Bombe explodiert in der U-Bahn am Alexanderplatz oder wo auch immer. Wie wird die Bevölkerung dann reagieren? Die Bedrohung ist vorhanden: Sie ist nicht zu beseitigen. Die Gefährdung kann durch polizeiliche Maßnahmen verringert werden, aber sie kann – schon gar nicht gegenüber Selbstmordattentätern – beseitigt werden. Mit diesem Risiko leben wir, und das scheint der Bevölkerung auch klar zu sein. Allerdings ist mit solchen Bedrohungsszenarien, vor allem nach dem 11. September 2001, eine sicherheitspolitische Aufrüstung erfolgt, die die Bevölkerung kritiklos hingenommen hat. Das erschreckt mich, Aufrüstung immer mehr in Richtung auf völlig unverdächtige und unbeteiligte Bürger, auf uns nämlich. Wir sind in einem Präventionsstaat, der immer mehr Informationen sammelt, auch über völlig unverdächtige Bürger, und das Sicherheitsthema ist so stark geworden, dass die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit in Unordnung geraten ist. Das konnte ein bisschen korrigiert werden durch die Urteile des Bundes­ verfassungsgerichts. DK: War dies eine Konsequenz der Diskussion um die Innere Sicherheit? B: Nein, ich sehe da keine Verbindung. Vielleicht haben wir jetzt eine Si­tuation, die nicht nur uns in Deutschland betrifft, sondern weltweit vorhanden ist. Die Menschen sehen jeden Tag die Anschläge im Irak, im Nahen Osten oder in Afghanistan und sind vertrauter mit dieser Bedrohung. Sie begreifen, dass wir nicht ausgeschlossen sind von dieser Bedrohung. Es wird nüchterner gesehen und die Angstpsychose, wie sie damals da war, ist gemindert worden, obwohl die früheren Minister, insbesondere Otto Schily und Wolfgang Schäuble, immer wieder die Angst instrumentalisiert haben. DK: Ist Stammheim ein Rechtsbegriff geworden? B: Stammheim war das Gebäude, war die Vollzugsanstalt, in der die Terroristen dann unter sehr merkwürdigen Bedingungen miteinander gelebt haben, und es waren die Sondergesetze, das ist richtig. Ich gestehe Ihnen, wenn ich in Stuttgart

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bin und eine Straßenbahn sehe, da steht drauf „Stammheim“, dann kommen mir merkwürdige Gedanken. H: Die Folgen der RAF für den Rechtsstaat stehen im Gegensatz zu dem, was die 68er Bewegung wollte. B: Die Adenauer-Zeit war noch sehr stark davon geprägt. Wenn man bei Tische saß, erinnere ich mich mitunter, wurde gesagt: „Du redest nur, wenn du gefragt wirst“. Diese autoritären Strukturen in der Familie, in der Gesellschaft oder in der Firma. Das Grundgesetz ist eine eindeutige klare Absage an die Barbarei und an den Obrigkeitsstaat. Die Bewegung gegen das Autoritäre war uns allen eigen. Wir waren auch gegen den Vietnamkrieg. Es gab verschiedene Facetten der Mo­ tivation. Wir waren gegen die Notstandsgesetze und für mehr Partizipation, Stichwort überbetriebliche Mitbestimmung. Da überschnitt sich vieles, auch in den Parteien, in den Reformparteien mit der außerparlamentarischen Bewegung. Aber bestimmte Forderungen waren mir fremd, zum Beispiel diese Art, den Kapita­ lismus radikal abzulehnen H: Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen Veränderungen der Institutionen und 68er Bewegung? B: Die Institutionen haben sich verändert. Das Verhältnis der Bürger zum Staat hat sich verändert. Ich habe damals ein Buch geschrieben und herausgegeben, mit dem schönen Titel „Der Staat auf dem Wege zum Bürger“ und habe mich jetzt, als ich wieder ein Buch veröffentlicht habe, voriges Jahr, gefragt, würdest du diesen Titel noch wählen? Antwort: Nein! Wenn der Staat heute auf dem Wege zum Bürger im Sicherheitsbereich ist, dann ist das eher bedrohlich. Aber damals war das wirklich die Stimmung, dieses allgemeine Lebensgefühl, der Staat öffnet sich, wir sind der Staat, und wir verändern auch die staatlichen Institutionen. Der ehemalige Bundesinnenminister Werner Maihofer hat im Freiburger-Programm gesagt: „Der Staat darf nicht alles“ – Das ist ein urliberaler Grundsatz, und dann hat er hinzugefügt: „Der Staat sind wir alle“. Das ist ein Hinweis auf Gerechtigkeit und wie sie im Freiburger Programm zum Ausdruck kamen. Das war damals auch meine Grundüberzeugung. DK: Es gibt den Film „Die Anwälte“. B: Ich sage ganz abstrakt, wenn man jetzt Anwälte aus der damaligen Zeit zu Wort kommen lässt und ihnen die Deutungshoheit überlässt, ist das Vorhaben schon verfehlt. Eine solche Auseinandersetzung oder Befassung mit Anwälten geht nur, wenn man sie auch kritisch befragt und dann auch nachhakt. Man muss Herrn Schily fragen, was er mit diesem Vergleich: „Angriff auf eine amerika­ nische Einrichtung und Angriff von Nazigegnern auf das Reichssicherheitshauptamt“ meint. Wie er dazu kommt, diese Gleichsetzung in die Welt zu setzen? Er hätte auch gefragt werden müssen, wie er eigentlich damit umgeht, dass er als Anwalt in fast jeder Sitzung gegen die einschneidenden neuen Gesetze gekämpft hat und dann als Innenminister nicht eine einzige Initiative unternommen hat, diese

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Gesetze abzumildern oder aufzuheben. Er muss auch gefragt werden, wie es dazu gekommen ist, dass er in einer kritischen Situation nach den Selbstmorden den Eindruck in der Öffentlichkeit verstärkt hat, es hätte sich um staatliche Morde gehandelt. Er hat uns die Tat zugetraut, die Häftlinge in einem deutschen Gefängnis umzubringen – abenteuerlich. Ich hätte ihn auch gefragt, was seine Äußerung damals bedeutet hätte, die er vor einigen Jahren gegenüber den jetzigen islamistischen Terroristen gemacht hat: „Wenn Ihr den Tod haben wollt, dann könnt Ihr ihn haben“. Hätte er so mit seiner Mandantin geredet, der Frau Ensslin? Was hat er überhaupt empfunden als Anwalt der Frau Ensslin während der Schleyer-Entführung und nach dessen Ermordung? Was ist da passiert im Verhältnis zwischen ihm und seiner Mandantin? Alles ist ausgeblendet worden. Das ist eine vertane Chance. Ich kann mir vorstellen, dass Herr Schily sich solchen Fragen nicht aussetzen will. Dann hätte man aber den Film nicht machen dürfen. Und ähnlich ist es mit Herrn Mahler. Herr Mahler hat mir in dem damaligen Gespräch gesagt, eine der Hauptmotivationen für ihn, der RAF beizutreten, also RAF-Aktivist zu werden, war der Holocaust. Ja, um Himmels Willen, der Holocaustleugner von heute hätte doch mal im Film Auskunft geben müssen, was mit ihm passiert ist. Der Herr Ströbele hat noch den konsequentesten Lebenslauf. Aber da ist zum Beispiel seine Bestrafung nicht genannt worden. Er war zeitweise Teil des Informationssystems der RAF. Er war viel zu nahe dran. Bei Schily wäre auch interessant gewesen, das Ermittlungsverfahren gegen ihn wegen eines angeblich herausgeschmuggelten Kassibers anzusprechen, das war hoch gefährlich für ihn. Er wurde von der Verteidigung zeitweise ausgeschlossen und ist dann unter großen Anstrengungen befreundeter Anwälte von diesem Vorwurf frei gekommen. Bei der Bundesanwaltschaft war man am Ende immer noch davon überzeugt, dass er den Kassiber herausgeschmuggelt habe. Wenn das zutrifft, wäre er als Anwalt erledigt gewesen. Diese ganzen Dinge wurden ausgeblendet, und das ist unverzeihlich. Das ist ein oberflächlicher Film, der die Deutungshoheit den Befragten überlässt, und das kann man nicht machen. Der Film ist auch noch mit staatlichen Mitteln gefördert worden. Zu Schily möchte ich allerdings generell feststellen, dass ich großen Respekt vor ihm habe, wie er sich in einer schwierigen aufgeheizten Situation mit seinen Überzeugungen behauptet hat. Er hat sich nicht verbogen.

Ein Resümee1 Von Gisela Diewald-Kerkmann Das Hauptaugenmerk in diesem Buch gilt weder dem einzelnen Anwalt, Richter noch Bundesanwalt. Genauso wenig geht es um eine Geschichte der Strafverteidigung respektive um eine Handlungsgeschichte der „freien Advokatur“. Vielmehr soll das Wechselverhältnis zwischen Verteidigern, Richtern und Bundesanwälten – hier primär für die siebziger Jahre – beleuchtet werden. In den Mittelpunkt rückt die Dynamik zwischen den Geschehensabläufen auf der Ebene der Strafprozesse (Täterinnen und Täter, Richter, Staatsanwälte und Verteidiger), den Ermittlungs- und Strafverfolgungsinstanzen (vor allem Bundeskriminalamt und Bundesanwaltschaft), der Politik bzw. der politischen Entscheidungsträger (Bundesregierung, Parlament, Opposition, Bundesministerien des Innern und der Justiz) und der Öffentlichkeit (Massenmedien). Der Blick soll auf die „graue Zone zwischen staatlichen und individuellen Interessen“,2 überhaupt auf den Strafprozess als einen „dramatischen Konflikt zwischen der Gesellschaft und dem Individuum“3 gelenkt werden. In diesem Kontext sind das Spannungsverhältnis zwischen der Anwaltschaft als parteinehmender Vertretung der Interessen des Mandanten und Organ der Rechtspflege sowie nicht zuletzt gesellschaftliche Wahrnehmungsmuster und Zuschreibungen von Bedeutung. Die politische Brisanz des Themas Terrorismus, die sich in politischen Grabenkämpfen, kaum überbrückbaren Polarisierungen oder in wechselseitigen Unterstellungen und Ressentiments widerspiegelt, hat eine differenzierte Auseinandersetzung mit Anwälten, Richtern und Bundesanwälten bislang verhindert. Umso mehr kommt es darauf an, Stereotypen über „die Anwälte“, „die Richter“ oder „die Bundesanwälte“ ebenso zu vermeiden wie jede Form von Vereinfachung oder eine vorschnelle Beurteilung justizieller Reaktionen. Ein Ziel dieses Bandes ist es, das

1 An dieser Stelle danke ich vor allem Andreas Knobelsdorf (Hamburg) für seine umfangreichen Anregungen und wichtige Unterstützung. Darüber hinaus gilt mein Dank Dr. Horst Herold (Rosenheim), Prof. Dr. Heinz-Gerhard Haupt (Berlin) und Friederike Streitbörger (Bielefeld). 2 Klaus Lüderssen, Aus der grauen Zone zwischen staatlichen und individuellen Interessen, in: Rainer Hamm (Hg.), Festschrift für Werner Sarstedt zum 70. Geburtstag, Berlin 1981, S. 145–168. 3 So der Weimarer Strafverteidiger Max Alsberg, zit. nach Ulrich Falk, Zur Geschichte der Strafverteidigung. Aktuelle Beobachtungen und rechtshistorische Grundlagen, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 117 (2000), S. ­395–449, hier S. 444.

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Verhältnis zwischen staatlicher Strafgewalt im Strafprozess und im gesellschaftlich-politischen Raum aufzuzeigen, wobei der Strafprozess „als Seismograph freiheitlicher Verfasstheit einer Gesellschaft angesehen“4 werden kann. Anders formuliert, je genauer in ihm die prinzipielle Unschuldsvermutung der Angeklagten respektiert wird und ihre Rechte geschützt werden, umso freiheitlicher ist eine Gesellschaft gestaltet. Zugleich muss eine Gesellschaft „spüren, daß Strafverteidigung in Wahrheit mehr ist als Sensation“,5 sie ist ein Spiegelbild gesellschaft­ licher Entwicklungen. Betrachtet man die kaum noch zu überschauende Literatur zum bundesdeutschen Terrorismus, fällt auf, dass umfassende Publikationen über die Rolle der Anwälte, der Richter und der Bundesanwälte, überhaupt Darstellungen der beteiligten Akteure fehlen.6 Lediglich in den Studien von Richard Blath und Konrad Hobe, „Strafverfahren gegen linksterroristische Straftäter und ihre Unterstützer“,7 durchgeführt vom Bundesministerium der Justiz im Jahre 1982, in den Untersuchungen von Heinrich Hannover, Rolf Gössner, Margot Overath8 oder in den Arbeiten von Joachim Lampe, Andreas Mehlich, Rainer Hamm, Regina Michalke und Rupert von Plottnitz9 werden die Bedingungen und Konflikte der Anwälte, partiell auch der Richter und Staatsanwälte thematisiert. Dass aber trotz dieses Defizits vor allem von den Anwälten eine gewisse Faszination auszugehen scheint, dokumentieren filmische Darstellungen, so der Dokumentarfilm „Stammheim“ von Reinhard Hauff (1985) oder „Die Anwälte“ von Birgit Schulz (2009). Letztere zeichnet das Portrait der Berliner Strafverteidiger Otto Schily, Horst Mahler und Hans-Christian Ströbele. Vor diesem Hintergrund konzentriert sich der vorliegende Band auf narrative Interviews mit Anwälten, Richtern und Bundesanwälten, die an exponierter Stelle

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Peter-Alexis Albrecht, Kriminologie. Eine Grundlegung zum Strafrecht, München 42010, S. 132. 5 Lüderssen, Aus der grauen Zone, S. 146. 6 Vgl. hierzu Edgar Isermann, Der Strafverteidiger als „Organ der Rechtspflege“ – ein historisches Danaergeschenk?, in: Strafverteidiger als Interessenvertreter. Berufsbild und Tätigkeitsfeld, hrsg. von Werner Holtfort u. a., Neuwied 1979, S. 14–25, hier S. 14. 7 Vgl. Richard Blath/Konrad Hobe, Strafverfahren gegen linksterroristische Straftäter und ihre Unterstützer, hrsg. vom Bundesministerium der Justiz, Bonn 1982. 8 Heinrich Hannover, Terroristenprozesse. Erfahrungen und Erkenntnisse eines Straf­ verteidigers, Hamburg 1991; Rolf Gössner, Das Anti-Terror-System. Politische Justiz im präventiven Sicherheitsstaat, Hamburg 1991; Margot Overath, Drachenzähne. Gespräche, Dokumente und Recherchen aus der Wirklichkeit der Hochsicherheitsjustiz, Hamburg 1991. 9 Joachim Lampe, Verteidigung in den RAF-Prozessen – Die Sicht des Anklägers, in: Anwälte und ihre Geschichte. Zum 140. Gründungsjahr des Deutschen Anwaltvereins, hrsg. vom Deutschen Anwaltverein, Tübingen 2011, S. 431–457; Andreas Mehlich, Der Verteidiger in den Strafprozessen gegen die Rote Armee Fraktion, Berlin 2012; Rainer Hamm/Regina Michalke, Funktionswandel der Strafverteidigung, in: Anwälte und ihre Geschichte, S. ­411–429; Rupert von Plottnitz, Verteidigung in den RAF-Prozessen – Die Sicht des Verteidigers, in: ebenda. S. 459–466.

Ein Resümee

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in APO- und RAF-Prozessen involviert waren. Mit Hilfe einer offenen Gesprächssituation sollten nicht nur wechselseitige Wahrnehmungen und Deutungen diskutiert, sondern auch ihre Wirkungsgeschichte aufgegriffen werden. Im Zeitraum von September 2010 bis Juni 2011 wurden Interviews geführt mit sieben Strafverteidigern, drei Richtern, zwei Bundesanwälten und einem ehemaligen Bundesinnenminister. Durch sämtliche Interviews zieht sich wie ein roter Faden die Frage, ob im Kontext des bundesdeutschen Terrorismus ein „neuer Verteidigertyp“ entstanden sei. Eng damit verknüpft sind die grundsätzlichen Probleme um die Parteinahme des Verteidigers, die ihre Grenzen in der Verpflichtung als Organ der Rechtspflege finde. Auffallend ist, dass – obwohl Anwälte wie beispielsweise Max Alsberg in der Weimarer Republik oder Diether Posser, Walter Ammann, Heinrich Hannover in den fünfziger Jahren schon häufig im Rampenlicht standen – erst die Verfahren gegen RAF-Mitglieder in den siebziger Jahren heftige Debatten über ihr Selbstverständnis auslösten. In der Tat scheinen diese Strafverfahren die Kontroversen über die Rolle der Anwälte, ihre Handlungsspielräume respektive die Schwierigkeiten zwischen staatlichen und individuellen Interessen verschärft zu haben. Aber handelt es sich wirklich um einen neuen Verteidigertyp und um ein neues Selbstverständnis? Oder sind es vielmehr Anwaltsbilder, die bereits schon lange – wenn auch gebrochen – existieren? Allein für die Weimarer Republik sind neben Max Alsberg die Anwälte Max Hirschberg, Rudolf Olden, Hans Litten und Paul Levi anzuführen. Obwohl noch weitere Untersuchungen ausstehen, dokumentieren einzelne Kontrastierungen, beispielsweise mit Rednerprotokollen aus dem Jahr 189110 oder Aussagen von Strafverteidigern der Weimarer Republik, dass hinsichtlich des Selbstverständnisses der Verteidiger, der Parteinahme und der gleichzeitigen Verpflichtung als Organ der Rechtspflege respektive der „Waffengleichheit vor Gericht“ vergleichbare Wahrnehmungsmuster und Argumentationslinien vorliegen. Insoweit muss die These, wonach im Zusammenhang mit dem bundesdeutschen Terrorismus ein „neuer Verteidigertyp“ entstanden sei, kritisch hinterfragt werden. Nach Auffassung des früheren Präsidenten des Oberlandesgerichts Braunschweig, Edgar Isermann, spiegelt sich hierin eine mehr als hundertjährige Auseinandersetzung wider, deren Kern es stets gewesen sei, „was in der Definition des Anwalts als ‚Organ der Rechtspflege‘ seine begriffliche Zusammenfassung gefunden hat“.11 1. Historischer Kontext Dass sich im 19. Jahrhundert das Verständnis vom Strafprozess, überhaupt die Notwendigkeit eines öffentlichen Strafrechts – nicht zuletzt nach den deutschen Einigungskriegen – erheblich veränderte, dokumentieren nicht zuletzt das Straf-



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Vgl. Falk, Zur Geschichte der Strafverteidigung, S. 441. Isermann, Der Strafverteidiger, S. 14.

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gesetzbuch von 1871, die Strafprozessordnung von 1877 sowie die Rechtsanwaltsordnung von 1878. Treffend macht der Rechtswissenschaftler Klaus Lüderssen deutlich, dass die Identität von Justiz und absoluter Staatsgewalt die Forderung forcierte, der Justiz eine Kontrollinstanz gegenüberzustellen, „eine Kontrollinstanz im Namen der Allgemeinheit, der Bürger, des Volkes. Das war die Geburtsstunde der Staatsanwaltschaft“.12 Demnach sollte mit der Zweiteilung zwischen Gericht und Justiz eine Gleichwertigkeit gesichert werden. In der Tat kann die Bedeutung des reformierten Strafprozesses insbesondere für den Beschuldigten nicht hoch genug eingeschätzt werden. Damit war nicht nur sein Status als Subjekt des Prozesses verbunden, sondern auch das Recht auf einen unabhängigen Interessenvertreter. Jetzt gehörte zum Strafverfahren nicht nur ein Staatsanwalt, „sondern auch ein unabhängiger Anwalt des Beschuldigten. Das war die Geburtsstunde der modernen Strafverteidigung“.13 Oder wie der bekannte Strafrechtler Franz von Liszt in einem Aufsatz im Jahr 1901 schrieb: „Staatsanwalt und Verteidiger sind in gleicher Weise berufen, der Wahrheitserforschung zu dienen, aber nicht unmittelbar, sondern mittelbar, d. h. dadurch, daß jeder von ihnen seinen Parteistandpunkt vertritt, soll die Wahrheit kund werden“.14 Dass bereits im Vorfeld der Revolution 1848/49 um diese Position gerungen und ein „Kampf um die freie Advokatur“ geführt wurde, ist bekannt. Zu Recht weist Isermann darauf hin, dass der Einfluss des Staates bei der Anwaltszulassung und bei der Staatsaufsicht über die Anwaltskammern im 19. Jahrhundert weiterhin dominierte. Hierdurch sei „der Spannungsrahmen zwischen beamtetem Richtergehilfen und unabhängigem Interessenvertreter, zwischen obrigkeitsstaatlichem und liberalem Prozessverständnis aufgezeigt“ worden.15 Vor dieser Folie sind nicht nur die Kontroversen zwischen dem Deutschen Richterbund und der Anwaltschaft um die Jahrhundertwende, sondern auch das ambivalente Selbstverständnis der Anwaltschaft einzuordnen. So wurde die Bezeichnung des Anwalts als Organ der Rechtspflege vom Berliner Ehrengerichtshof für Rechtsanwälte in einer Entscheidung gegen zwei Anwälte im Jahre 1893 erstmalig eingeführt und damit die Anwaltschaft „der Gefahr staatlicher Inpflichtnahme“16 ausgesetzt. Ohne Zweifel demonstrieren unterschied­liche historische Kontexte, dass die Figur des Strafverteidigers keine klaren Konturen aufweist. Gerade die Kontroversen um Unabhängigkeit vom Staat belegen ein neues Verständnis von Rechten und Freiheiten der Anwälte. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass schon die Probleme im Vormärz ebenso wie die späteren Debatten im Kaiserreich oder in der Weimarer Republik die Vermittlungsschwierig­ 12

Lüderssen, Aus der grauen Zone, S. 150. Ebd., S. 151. 14 Franz von Liszt, Die Stellung der Verteidigung in Strafsachen, in: Strafverteidiger als Interessenvertreter. Berufsbild und Tätigkeitsfeld, hrsg. von Werner Holtfort, Neuwied 1979, S. 124–131, hier S. 125 (Zuerst erschienen in: Deutsche Juristenzeitung 1901, Nr. 8, S. 179 ff.). 15 Isermann, Der Strafverteidiger, S. 15. 16 Ebd., S. 17. 13

Ein Resümee

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keiten zwischen Individuum, Gesellschaft und Staat beleuchten, wobei vielfach vergleichbare Konfliktmuster transparent werden. Beispielsweise darf nicht unterschätzt werden, dass der Anklageprozess (gemäß der StPO, reichseinheitlich seit 187917) mit der Partei des Staatsanwaltes und des Verteidigers sowie der unabhängigen Instanz des Richters „so lange gut ging, wie Strafprozesse im wesentlichen von Politik frei bleiben konnten“.18 Dass aber die Gratwanderung der Strafverteidigung vor allem im politischen Strafrecht offensichtlich wird und das Strafrecht in den verschiedenen Rechtssystemen der Vergangenheit auch schon immer eine Aus­richtung gegen staatsfeindliche Taten und Bestrebungen hatte, belegen zahlreiche Arbeiten.19 Sie machen deutlich, dass sowohl „die Staatsgewalt als auch einzelne Gruppierungen von Staatsbürgern … sich in der Neuzeit immer wieder, welches Rechtssystem auch gelten mochte, darum bemüht (haben), die Unterstützung der Gerichte zu mobilisieren, um das politische Machtgleichgewicht zu konsolidieren oder zu verschieben“.20 Diese Konflikte offenbaren die Schwierigkeiten des „Rechts … den eigenen Ruf und das eigene Gesicht zu wahren, d. h. die ‚Herrschaft des Rechts‘ statt die des Staates und seiner politischen Kräfte zu sein“.21 Allein die politischen Strafverfahren in der Weimarer Republik demonstrieren, wie schnell Anwälte wegen angeblicher Unterstützung (z. B. politische Solidarität mit den Angeklagten) angegriffen und vom Strafprozess ausgeschlossen werden konnten. Exemplarisch kann hier die Position eines der berühmtesten Strafverteidiger dieser Zeit, Max Alsberg, angeführt werden. Nach seiner Meinung dürfe sich die Rolle des Strafverteidigers nicht darin erschöpfen, „daß man zu wählen hat, ob man ihn als Spießgesellen des Angeklagten ansehen darf oder daß man ihm eine richtergleiche Stellung einräumen muß“.22 Insgesamt darf in diesem Zusammenhang nicht unterschätzt werden, in welchem Maße der Gerichtssaal einen symbolisch aufgeladenen Ort darstellte (und immer noch darstellt), in dem staatliche Macht inszeniert wird. Henning Grunwald weist – hier für die Weimarer

17 Vgl. René Bloy/Martin Böse/Thomas Hillenkamp, Gerechte Strafe und legitimes Strafrecht. Festschrift für Manfred Maiwald zum 75. Geburtstag, Berlin 2010, S. 661–681. 18 Lüderssen, Aus der grauen Zone, S. 154. 19 Vgl. Otto Kirchheimer, Politische Justiz. Verwendung juristischer Verfahrensmöglichkeiten zu politischen Zwecken, Frankfurt/Main 1985; Joachim Wagner, Politischer Terrorismus und Strafrecht im Deutschen Kaiserreich von 1871, Heidelberg 1981; Dirk Blasius, Geschichte der politischen Kriminalität in Deutschland (1800–1980). Eine Studie zu Justiz und Staatsverbrechen, Frankfurt/Main 1983; Karsten Felske, Kriminelle und terroristische Vereinigungen – §§ 129, 129 a StGB: Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert, Baden-Baden 2002; Diether Posser, Anwalt im Kalten Krieg. Deutsche Geschichte in politischen Prozessen 1951–1968, Bonn 2000. 20 Kirchheimer, Politische Justiz, S. 81. 21 Fritz Sack, Politische Delikte, politische Kriminalität, in: Kleines Kriminologisches Wörterbuch, hrsg. von Günter Kaiser u. a., Heidelberg 31993, S. 382–392, hier S. 382. 22 Isermann, Der Strafverteidiger, S. 18. Alsberg verteidigte nicht nur Carl von Ossietzky, sondern auch den ehemaligen deutschen Kaiser und Hugo Stinnes junior. Vgl. Gerhard Jungfer, Max Alsberg (1877–1933), Verteidigung als ethische Mission, in: Kritische Justiz (Hg.), Streitbare Juristen. Eine andere Tradition, Baden-Baden 1988, S. 141–152.

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Republik – auf den „in Ritualen manifestierte(n) und ostentativ ausgestellte(n) Strafanspruch des Staates hin“.23 Dass sich die Argumentationsmuster wiederholen, verdeutlicht das Referat des Rechtsanwalts Traeger, gehalten im November 1891 in der besagten Sitzung des Berliner Anwaltvereins. Nach seiner Meinung würden die Widerstände – hier gegen Reformen des Strafprozessrechts – „bei besonderen Anlässen eine besondere Heftigkeit“24 annehmen. Dabei würden aber nicht nur Staatsanwälte und Richter die Verteidiger „mit übelwollenden Augen“ betrachten und „sogar als Komplize des Verbrechers“ beargwöhnen, auch in der Rechtsanwaltschaft treffe man auf „ein gewisses Vorurtheil gegen den Vertheidiger“. Im Ergebnis sei „gerade die Stellung des Anwalts als Vertheidiger für eine der exponiertesten, augenfälligsten, gefährlichsten zu erachten“.25 Hinsichtlich der Parteinahme des Verteidigers ist die Habilitationsschrift von Julius Vargha aufschlussreich, die im Jahre 1879 veröffentlicht wurde. So sei der Verteidiger „den Parteistandpunkt strenge zu wahren amtlich verpflichtet“ und habe deswegen ausschließlich das vorzubringen, „was zu einer möglichst günstigen Beurtheilung“ des Angeklagten führen könne. Der „einseitige Vertheidigerstandpunkt“ enthalte andererseits eine Pflicht „zur Geheimhaltung aller dem Beschuldigten ungünstigen Thatsachen und Beweise“.26 Dass es sich hierbei nicht um eine Einzelmeinung handelt, dokumentieren die Ausführungen von Liszt aus dem Jahre 1901. Demnach habe der Verteidiger die Interessen des Beschuldigten wahrzunehmen. „Je entschiedener er das thut, desto fester hoffen wir, daß die Wahrheit zu Tage treten werde … Gerade indem er das thut, vom einseitigen Parteistandpunkte aus, dient er im Sinne des Gesetzes der Wahrheitserforschung“.27 2. Konfliktlinien nach 1945 Dass die staatsorientierten Verteidigerdefinitionen im NS-Regime ihren Höhepunkt erreichten, muss nicht gesondert ausgeführt werden. Wichtig ist vielmehr hier die These von Lüderssen, wonach nach 1945 zwar die äußerliche Wiederherstellung des Zustandes vor 1933 erfolgt sei, aber der Schaden, den die freie Advokatur auf dem Gebiet der Strafverteidigung genommen hatte, lange zu spüren gewesen wäre. Auch Novellierungen oder höchstrichterliche Rechtsprechung hätten an dieser Ausgangsbasis wenig geändert.28 Zweifellos bestanden über die gesell 23 Henning Grunwald, Der Gerichtssaal als „revolutionäre Tribüne“. Ideologische SelbstInszenierung im Medium politischer Prozesse der Weimarer Republik, in: Performanz des Rechts. Inszenierung und Diskurs, Berlin 2006, S. 211–225 (Paragrana 15, 1). 24 Zit. nach Falk, Zur Geschichte der Strafverteidigung, S. 441. 25 Ebd, S. 441 f. 26 Ebd., S. 446 f. 27 Liszt, Die Stellung der Verteidigung, S. 126. 28 Vgl. Lüderssen, Die graue Zone, S. 155.

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schaftlich-staatsrechtlichen Aufgaben der Strafverteidigung große Unsicherheiten. Daran änderte auch die Rechtsanwaltsordnung (RAO) für die Britische Zone vom 10. März 1949 oder die Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) vom 1. August 1959 kaum etwas. In der amtlichen Begründung für den § 1 BRAO wird beispielsweise ausgeführt: „Für den Rechtsanwalt muss die Aufrechterhaltung der staat­ lichen Rechtsordnung die Richtschnur seines Handelns sein. Mit dieser Aufgabe, das Recht zu pflegen, tritt die Anwaltschaft an die Seite der Gerichte und Staatsanwaltschaften. Deshalb bezeichnet § 1 die Rechtsanwaltschaft als unabhängiges Organ der Rechtspflege“.29 Betrachtet man diese Formulierung vor dem Hintergrund des historischen Kontextes, überraschen die kritischen Einwände nicht. So wurde der „Einbau in die staatliche Ordnung“ befürchtet respektive die Gefahr gesehen, „den Anwalt zu zwingen, seinen Mandanten an den Staat zu verraten“.30 Wichtig ist hier der Hinweis des Rechtswissenschaftlers Ulrich Falk, wonach die parteinehmende Vertretung der Interessen des Angeklagten als zulässig konzediert sei. Jedoch sollte die Parteilichkeit ihre Grenzen finden in der gleichzeitigen Verpflichtung als Organ der Rechtspflege.31 Wie bereits dargestellt, erscheint der Begriff Organ der Rechtspflege erstmalig in einer Entscheidung des Ehrengerichtshofs im Jahre 1883 und wurde 1959 in § 1 der BRAO übernommen. Falk macht deutlich, dass es zu einer Annäherung der Grundpositionen, die man in einer nicht einheitlichen Terminologie verkürzend als Organtheorie und Vertretertheorie bezeichne, bislang nicht gekommen sei.32 Aufschlussreich ist auch die Interpretation des Bundesverfassungsgerichts, das 1974 entschied: „Nach § 1 Rechtsanwaltsordnung ist der Anwalt ein unabhängiges Organ der Rechtspflege. Sein Beruf ist ein staatlich gebundener Vertrauensberuf, der ihm eine auf Wahrheit und Gerechtigkeit verpflichtete amtsähnliche Stellung zuweist“.33 Diese Entscheidung stößt auf Ablehnung. Eine solche Rollenbestimmung „entpuppe“ sich „als pseudonormative Leerformel ohne eigenen Erklärungsgehalt“.34 Sie lasse nicht nur Interpretationen vielfältiger Art zu, sondern diene auch dazu, stets dann darauf zu rekurrieren, wenn es gelte, Anwälte zu disziplinieren und sie im Sinn staatlicher Strafverfolgung in die hoheitlichen Interessen einzubinden. Es wird grundsätzlich konstatiert, dass die einerseits an den individuellen Bedürfnissen des Beschuldigten, andererseits an öffentlichen, ja staatlichen Interessen orientierten Normen nicht leicht auf einen Nenner zu bringen seien.35 Oder wie der Verteidiger Alsberg im Rahmen eines Plädoyers im Jahre 1930 feststellte: „Nicht ein Gegensatz der 29

Zitiert nach: Isermann, Der Strafverteidiger, S. 21. K. Blanke, Der Beruf des Anwalts in unserer Zeit, AnwBl 1954, S. 134 f; Heins, Der neue Entwurf zur Bundes-Rechtsanwaltsordnung, NJW 1958, S. 201 ff. 31 Vgl. Falk, Zur Geschichte der Strafverteidigung, S. 398. 32 Ebd., S. 403. 33 Beschluß des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Oktober 1974, BVerfGE 38, S. 105–120, S. 119, auch NJW 1975, S. 103–105, S. 105, so zitiert bei Falk, Zur Geschichte, S. 403. 34 Isermann, Der Strafverteidiger, S. 14 ff. 35 Vgl. Lüderssen, Aus der grauen Zone, S. 157. 30

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juristischen Meinungen, sondern ein Gegensatz der Weltanschauungen ist es, der uns von der Staatsanwaltschaft trennt, hier gibt es keine Brücke mehr, die von einem Ufer zum anderen führt!“.36 Gerade für die Zeit nach 1945 ist zu berücksichtigen, dass die klassischen Strafverteidiger – wie Rupert von Plottnitz im vorliegenden Buch konstatiert – „keinerlei Wert auf wie auch immer geartete Konflikte mit dem Gericht“37 legten. Dagegen entstanden – vor allem zum Ende der sechziger Jahre – Anwaltskanzleien, „deren Mitglieder in der Frage des eigenen beruflichen Selbstverständnisses ziemlich radikal Wert auf Differenz zur tradierten Rolle des Rechtsanwaltes und Strafverteidigers legten“.38 Oder, wie der Rechtsanwalt Stefan König konstatiert, lasse sich ein klar konturiertes Selbstverständnis der Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger jener Jahre nur schwierig nachzeichnen.39 Tatsächlich stellt sich die Frage, ob nicht erst das Strafprozessänderungs­gesetz von 1965 („die Kleine Strafprozessreform“) der Strafverteidigung ein neues Selbstverständnis ermöglichte. Diese Reform, die maßgeblich von zwei bekannten Strafverteidigern der fünfziger Jahre – Gustav Heinemann, Bundesjustiz­minister von 1966–1969, und Diether Posser, Landesjustizminister Nordrhein-Westfalen von 1972–1978 – forciert wurde und am 1. April 1965 in Kraft trat, führte u. a. zu einem unbeschränkten, unkontrollierten Verkehr mit dem Angeklagten. Nach Ansicht von Lüderssen handelte es sich hierbei aber nur um ein scheinbar neues, „in Wahrheit aber endlich wieder an die alte liberale Tradition anknüpfendes Selbstverständnis“.40 3. Herausforderung durch den bundesdeutschen Terrorismus Durch die Bildung der „Roten-Armee-Fraktion“ erlebte die Bundesrepublik Deutschland Anfang der 70er Jahre eine massive Eskalation der physischen Gewalt. Der Gruppe ging es um die Herausforderung staatlicher Instanzen und um einen Angriff auf die Legitimationsgrundlage des Staates. Immer häufiger war vom Staatsnotstand die Rede. Treffend formuliert der ehemalige Bundesinnen­ minister Gerhart Baum: „Wir fühlten uns irgendwo nicht nur herausgefordert, son-

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Zit. nach Jungfer, Max Alsberg, S. 146. Interview in diesem Buch, S. 92. 38 Rupert von Plottnitz, Verteidigung in den RAF-Prozessen – Die Sicht des Verteidigers, in: Anwälte und ihre Geschichte. Zum 140. Gründungsjahr des Deutschen Anwaltvereins, hrsg. vom Deutschen Anwaltverein, Tübingen 2011, S. 459–466, hier S. 461. 39 Stefan König, Das geänderte Berufsverständnis der Strafverteidigung, in: Strafverteidiger, Jg. 30, Heft 8, August 2010, S. 410–413, hier S. 410. 40 Lüderssen, Die graue Zone, S. 156. Vgl. hierzu auch Gerhard Jungfer, Strafverteidigung in der Weimarer Republik – Strafverteidigung in der Bundesrepublik: neuer Typ des Straf­ verteidigers!?, in: Udo Ebert (Hg.), Aktuelle Probleme der Strafrechtspflege 1991, S. 37–59, hier S. 37. 37

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dern auch nicht gerüstet“.41 Gerade die Strafverfahren gegen Mitglieder der RAF und der Bewegung 2. Juni dokumentieren prinzipielle Probleme und verweisen auf bislang offen gebliebene Fragen. Diese reichen von der Kontroverse über die allgemeine Funktion der Strafverteidigung über den Verdacht, dass sich Anwälte mit den politischen Zielen ihrer Mandanten solidarisieren bis zu Auseinander­ setzungen über die Strafverteidigung als Organ der Rechtspflege oder der Waffengleichheit von Staatsanwaltschaft und Verteidigung vor Gericht. So hob beispielsweise der Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel in der Bundestagsdebatte zum „Anti-Terror-Gesetzespaket“ am 28. Oktober 1977 hervor, dass sich die Aus­ wirkungen des Terrors nicht auf den unmittelbaren kriminellen Effekt beschränken würden. „Insofern unterscheiden sich die terroristischen Vereinigungen von allen herkömmlichen Gangsterbanden“, da sie weiterreichende Wirkungen anstrebten und zum Teil auch erzielten.42 Wo sonst hätten bandenmäßig verübte Verbrechen beispielsweise bisher ethische, gesellschaftspolitische, sogar theologische Diskussionen dieser Breite ausgelöst, Diskussionen über legitime und illegitime Gewalt, über Bürgerkrieg und Staatsnotwehr, über die Realität des Bösen oder auch über eine Theologie der Gewalt? Keine andere Bande habe es bislang erreicht, dass Medien auch in verbündeten Ländern zumindest partielles Verständnis für die vorgeblichen Ziele des Terrors äußerten und die Ursachen der Gewalttaten eher im Zustand der Gesellschaft oder in der Art sehen würden, in der auf diese Herausforderung geantwortet werde. Aber auch im Inland hätten ihre Gewalttaten das „Dasein“ verändert. Noch deutlicher formulierte es der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß im Jahre 1978, „die Terroristen sind keine Täter, die mit dem normalen Strafrecht – vom Diebstahl bis zum Mord, von Betrug bis zur Erpressung – zu umreißen und zu erfassen sind. Hier handelt es sich um eine besondere Art von Tätern, die alle Garantien des Rechtsstaats auf Unversehrtheit und Freiheit für sich beanspruchen, aber auch nicht annähernd bereit sind, den Bürgern, die sie ermorden … einen Anspruch auf Unversehrtheit, Gesundheit, Freiheit und Leben zu gewährleisten. Auf die Dauer geht es nicht an, daß der Rechtsstaat schwächer ist als seine Erzfeinde“.43 Demokratie erfordere Wahrheit, Demokratie erfordere aber auch „Wehrhaftigkeit“, der Rechtsstaat müsse endlich Zähne bekommen und zubeißen, und wenn es notwendig sei, seine Gegner „unschädlich“ machen. Der Abgeordnete Alfred Dregger setzte sich in der Bundestagsdebatte um die Anti-Terror-Gesetze im Oktober 1977 mit der Frage auseinander, ob es sich bei den Mitgliedern der RAF um gewöhnliche Kriminelle handele. Er kommt zu dem 41

Interview in diesem Buch, S. 261. Vgl. auch Gisela Diewald-Kerkmann, „Nicht dass Menschen getötet werden, ist das Spezifikum des Terrors … sondern der frontale Angriff gegen unseren Staat“. Reaktionen des Staates auf den bundesdeutschen Terrorismus, in: Forschungsberichte aus dem Duitsland Instituut Amsterdam, Universiteit van Amsterdam, 6/2010, S. 150–168. 42 Deutscher Bundestag. Stenographische Berichte – 8. Wahlperiode – 53. Sitzung, 28.l0.1977, S. 4091. 43 Franz Josef Strauß, Die Zeit der Entscheidung ist da, in: Walter Althammer, Gegen den Terror. Texte/Dokumente, Stuttgart 1978, S. 22–30, hier S. 26 f.

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Schluss: „Der Justizminister hat schon gesagt – ich stimme ihm zu –: Nein. Denn gewöhnliche Kriminalität richtet sich nur gegen das Leben, die Freiheit und das Eigentum einzelner, nicht gegen den Staat. Für den terroristischen Angriff ist das Einzelopfer nur Mittel zum Zweck. Der eigentliche Angriff richtet sich gegen den Staat und gegen die Demokratie, die zerstört werden sollen“.44 Es sei eine dritte Art des organisierten Angriffs gegen den Staat in den Formen der Stadtguerilla oder auch Kaderguerilla, dessen Gefährlichkeit über gewöhnliche Kriminalität weit hinausgehe. Im Gegensatz zu diesen Wahrnehmungen stellte der Bundesinnenminister Werner Maihofer im Verfassungsschutzbericht für das Jahr 1977 – auf dem Höhepunkt der Gewalteskalation – nüchtern fest, dass keine konkrete Gefährdung der demokratischen Ordnung durch eine links- oder rechtsextremistische Organisation gegeben sei. Sein Ergebnis war: „Eine akute, ernsthafte Gefahr für den Bestand unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung geht auch gegenwärtig vom Linksextremismus nicht aus“.45 Auch der ehemalige Bundesanwalt Peter Morré war „nie der Meinung, dass die RAF … eine Gefahr für die Republik war. Das schloss nicht aus, dass das erste Mal in der Geschichte der Republik in organisierter, militärischer Form hier gegen den Staat, seine Einrichtungen, seine Diener und die Schutzmächte vorgegangen wurde“.46 Dass gerade die Medien bei der Dramatisierung der Bedrohung durch den bundesdeutschen Terrorismus eine elementare Rolle spielten, ist bekannt. Allein die Vorverurteilungen der mutmaßlichen Täterinnen und Täter dokumentieren, in welchem Maße das Strafrecht dem „Zugriff populistischer Politik“47 ausgesetzt war. Unbestritten hatten die Medien in dieser Konfrontation die Funktion einer politischen Deutungsmacht. Vergleicht man die öffentliche Terrorismusdebatte mit den Versuchen der Justiz, die Straftaten zu ahnden, werden unterschiedliche Wahrnehmungen und Deutungen von Politik, Medien und Justiz sichtbar. Während die Handlungen der RAF auf der politischen und medialen Ebene als Frontalangriff gegen die Gesellschaftsordnung und auf den Rechtsstaat verstanden wurden, galten sie auf der juristischen Ebene als gewöhnliche, kriminelle Straftaten, denen keine politischen Motive zugrunde lagen. Im Ergebnis bedeutete das: Da nur gewöhnliche Verbrechen abgeurteilt wurden, waren politische Vorstellungen der Angeklagten nicht relevant. Der Generalstaatsanwalt beim Oberlandesgericht Stuttgart, Günther Weinmann, formulierte im April 1974 vor dem Prozess gegen die RAF-Gründungsmitglieder Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, Andreas Baader, Holger Meins und Jan-Carl Raspe, es bestehe kein vernünftiger Zweifel, „dass wir es hier nicht mit einem 44 Deutscher Bundestag. Stenographische Berichte – 8. Wahlperiode – 53. Sitzung, 28.10.1977, S. 4097. 45 Betrifft: Verfassungsschutz ’77, hrsg. vom Bundesminister des Innern, Bonn 1978, S. 5 und S. 123. 46 Interview in diesem Buch, S. 236. 47 Peter-Alexis Albrecht, Das Strafrecht im Zugriff populistischer Politik, in: Institut für Kriminalwissenschaften, Frankfurt/Main (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, Frankfurt/Main 1995, S. 429–443, hier S. 429.

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politischen Prozess zu tun haben, sondern dass es um rein kriminelle Handlungen geht“.48 Auch der Bundesanwalt Heinrich Wunder, einer der vier Anklagevertreter in Stammheim, hob in der Verhandlung am 30. Juli 1975 hervor, dass es sich nicht um einen politischen Prozess handele. Vielmehr seien Delikte angeklagt aus dem Bereich des allgemeinen Strafrechts, also der allgemeinen Kriminalität.49 In seinem Schlussvortrag am 5. Oktober 1976 – nach 149 Verhandlungstagen mit fast 400 Zeugen, Sachverständigen, über 80 Richterablehnungsgesuchen und Tonbandniederschriften von 12.000 Seiten – bezeichnete der Ankläger die Mitglieder der RAF als „Rechtsbrecher, die in elitärer Selbstüberschätzung ihren utopischen Zielen freien Lauf gelassen hätten. Sie seien keine Revolutionäre und keine politischen Straftäter, bestenfalls Revoluzzer, die kriminell geworden seien, weil sie die Durchsetzung ihrer Utopien hatten erzwingen“50 wollen. Wunder wies die Auffassung der Angeklagten und der Wahlverteidiger zurück, sie seien politische Straf­täter. Nach seiner Ansicht habe die Beweisaufnahme keinen Anhaltspunkt ge­boten, dass ihnen etwa Hochverrat zur Last gelegt werden könnte. Entscheidend für die Wertung als politische Straftat sei nicht die subjektive Einstellung, das Motiv, sondern die Art des angegriffenen Rechtsgutes. Für politisch motivierten Mord gebe es keinen privilegierten Tatbestand. Vielmehr habe den Angeklagten Logik und Blick für die Realität gefehlt. Ihr Versuch, eine revolutionäre Situation in der Bundesrepublik Deutschland zu schaffen, habe scheitern müssen.51 Der Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof, Peter Zeis, fasste als zweiter Sprecher der Anklagebehörde die Indizien und die Zeugenaussagen zusammen, aus denen sich die Zugehörigkeit der Angeklagten zu einer kriminellen Vereinigung ergebe. Für die Bundesanwaltschaft begründete er im Einzelnen, warum die „Baader-Meinhof-Bande“ als eine kriminelle Gruppe angesehen werden müsse. Durch zahlreiche bereits von verschiedenen Gerichten gegen Mitglieder der RAF ergangene rechtskräftige Urteile sowie Erklärungen der Angeklagten selbst werde deutlich, „daß es sich um eine kriminelle Vereinigung im Sinne des Strafparagraphen 129 handele“.52 Das vor allem von Meinhof niedergelegte politische Konzept der RAF sei nach seiner Meinung der „größte Etikettenschwindel des Jahrzehnts“ gewesen. Bei dem Versuch, eine rein kriminelle Bande als politische Organisation zu verkaufen, habe es sich „um versuchte Volksverdummung gehandelt“.53

48 Zit. nach: Otto Schily, Antrag zur Einstellung des Verfahrens in Stammheim (über­ arbeitete Fassung der Gerichtsmitschrift), in: Wolfgang Dreßen (Hg.), Politische Prozesse ohne Verteidigung, Berlin 1976, S. 57–85, hier S. 64. Siehe ferner Diewald-Kerkmann, „… tendenzielle Juridifizierung des Politischen“ – Prozesse gegen die Rote Armee Fraktion und der Bewegung 2. Juni, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, Band 15 (2006), Heft 1, S. 226–235. 49 Ebd., S. 78. 50 Stuttgarter Zeitung, 06.10.1976. 51 Ebd. 52 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.10.1976. 53 Stuttgarter Zeitung, 06.10.1976.

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Ähnlich hatte bereits zuvor der Generalbundesanwalt Siegfried Buback argumentiert: „Was im Zusammenhang mit dem Baader-Meinhof-Verfahren mit dem Wort politisch verbrämt wird, ist in der Tat ein Etikettenschwindel. Man kann allenfalls sagen, es handelt sich um schwerste Kriminalität, bei der man versucht, sie politisch zu motivieren“.54 Die Bundesanwaltschaft hatte schon zu Beginn ihrer Plädoyers im „größten und aufwendigsten Strafprozess in der Geschichte der Bundesrepublik“ die RAF als „verbrecherische kriminelle Bande“55 bezeichnet und betont, dass die Angeklagten sich bewusst im Bereich der Schwerkriminalität bewegt und ihre Taten aus Eigensucht begangen hätten.56 Oder, wie der Bundesanwalt Werner Widera den Angeklagten vorhielt, hätten ihre Taten „lediglich einer ‚kleinen, letztlich unbedeutenden Gruppe‘ ein ‚angenehmes Leben‘ und die ‚totale Freiheit‘ verschaffen sollen“.57 Überhaupt sei es der Bundesanwaltschaft darum gegangen, „den Rädelsführern der Baader-Meinhof-Bande die ‚revolutionäre Maske vom Gesicht zu reißen, hinter der sich die Fratze des gemeinen, hinterhältigen Terrorismus verborgen hält‘ … “.58 Aber es gab auch kritische Stimmen. Beispielsweise hatte der ehemalige Präsident des Oberlandesgerichts Stuttgart, Richard Schmid, auf den „ganz verfehlten Gegensatz von politisch und kriminell“ hingewiesen und Zweifel angemeldet, die festgenommenen RAF-Mitglieder als „rein kriminelle Verbrecher“ darzustellen. In einem Interview im Süddeutschen Rundfunk am 2. Juli 1975 hatte er deutlich gemacht: „Leider hat die Justiz selber sich ein paar Begriffe und Stichworte zu eigen gemacht, die von der sachlichstrafrechtlichen Betrachtung des Falles abführen … Damit will sie einerseits mit dem Wort ‚kriminell‘ Stimmung gegen die Angeklagten machen, ohne aber andererseits darauf zu verzichten, die Angeklagten als gefährliche Anarchisten hinzustellen und als Leute, die unsere Gesellschaft umzustürzen versuchen, was doch offenbar ein politisches Ziel ist … Wenn auch die Mittel gewiss kriminell sind, so ist doch trotzdem die Tat politisch motiviert, und darauf kommt es an. Das ist eine in der Geschichte des Strafrechts häufige Erscheinung, ebenso wie es bei solchen Taten auch unbeteiligte Opfer gibt. Gegen alle Logik daraus Stimmung mit dem populären Sinn des Wortes ‚kriminell‘ zu machen, ist einer Justizbehörde unwürdig“.59 Wie unterschiedlich und vielfach ambivalent die Erklärungsmuster von Politik und Justiz waren, belegen nicht zuletzt die dreizehn Interviews in diesem Band. Aber die Frage, ob das Strafverfahren gegen die Gründungsmitglieder Ensslin, Baader, Meinhof, Meins und Raspe ein „politisches“ war, wurde nicht nur „von 54

Zit. nach: Hannes Breucker, Verteidigungsfremdes Verhalten. Anträge und Erklärungen im „Baader-Meinhof-Prozeß“, Berlin 1993, S. 86. 55 Frankfurter Rundschau (FR), 06.10.1976. 56 Vgl. Stuttgarter Nachrichten, 06.10.1976. 57 FR, 06.10.1976. 58 Deutsche Zeitung, 15.10.1976. 59 Richard Schmid: Ein Kommentar zum Baader-Meinhof-Prozeß, Süddeutscher Rundfunk Stuttgart. Chefredaktion-Politik, Sendung, Dienstag, 02.07.1975/21.00 h/SF, „Näher betrachtet“, Sendemanuskript, S. 1.

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Nichtjuristen … unterschiedlich beantwortet – je nach der politisch eher staatstragenden, staatskritischen oder staatsfeindlichen Einstellung und Ideologie des Befragten. Übereinstimmung (war) selbst unter Juristen nicht zu erzielen, da verschiedene Maßstäbe angelegt“60 wurden. 4. Strafverteidiger in Prozessen gegen Mitglieder der RAF und der Bewegung 2. Juni Ohne Zweifel stellte die Verteidigung der RAF-Mitglieder in den siebziger Jahren ein schwieriges Unterfangen dar. Dass vor allem die Anwälte „zwischen den Fronten standen“ und ihnen unterstellt wurde – nicht nur von Ermittlungs- wie Strafverfolgungsbehörden und Gerichten, sondern auch von Teilen der Politik und Medien – Helfershelfer von Rechtsbrechern zu sein, ist offensichtlich. Oder, wie der Anwalt Heinrich Hannover ausführt, sei der Strafverteidiger „in der Öffentlichkeit mit den Mandanten identifiziert“ worden.61 Immer wieder wurde in der bundesdeutschen Terrorismusdebatte ihre „gesinnungsmäßige Solidarisierung“ kritisiert und beanstandet, dass zwischen verschiedenen Rechtsanwaltskollektiven und der Baader-Meinhof-Gruppe Verbindungen bestehen würden, die „nicht durch die anwaltschaftliche Berufspflicht abgedeckt seien“.62 Im Sommer 1977 waren Straf- und Disziplinarverfahren „gegen 51 ‚linksgerichtete‘ Rechtsanwälte und Assessoren anhängig“63 respektive Anträge auf Entpflichtung der Rechtsanwälte Otto Schily, Hans Heinz Heldmann, Helmut Riedel, Rupert von Plottnitz und Marieluise Becker wegen Auszug aus der Hauptverhandlung gestellt worden. Obgleich der Ausschluss von der Verteidigung ein „strafprozessuale(s) Novum“64 darstellt, wurden im Verfahren gegen Meinhof, Ensslin, Baader und Raspe zahlreiche Anwälte ausgeschlossen. Am 22. April 1975 erfolgte der Ausschluss des ersten Wahlverteidigers von Baader, Klaus Croissant, am 20. Mai 1975, einen Tag vor Prozessbeginn, bestätigte der BGH seinen Ausschluss. Am 2. Mai 1975 wurden der zweite Verteidiger (Kurt Groenewold) und am 12. Mai 1975 der dritte Wahlverteidiger (Hans-Christian Ströbele) ausgeschlossen. Bis zum Prozessbeginn sahen sich die neuen Verteidiger nicht in der Lage, die Fülle an Prozessunterlagen zu bearbeiten und sich den notwendigen Kenntnisstand anzueignen. Damit sei es mehr gewesen „als ein Verstoß gegen die Optik“,65 sondern eine Verletzung des Grundprinzips, dass der rechtliche Status des Schwerstbeschuldigten vor Gericht

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Hannes Breucker, Verteidigungsfremdes Verhalten, S. 65. Interview in diesem Buch, S. 77. 62 Hanno Kühnert, Strafverteidiger unter Komplizen-Verdacht, in: Frankfurter Hefte, 27 (1972), S. 703–711, hier S. 705. 63 Josef Grässle-Münscher, Kriminelle Vereinigung. Von den Burschenschaften bis zur RAF, Hamburg 1991, S. 147. 64 Der Spiegel, Nr. 21/19.05.1975, S. 42. 65 Ebd. 61

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zumindest nicht schlechter sein darf als der jedes Ladendiebs im Alltagsprozess. Der Gesetzgeber habe – so der Strafverteidiger Hans Heldmann im April 1977 – „gegenüber der Stammheimer Blockanklage ohne Individualisierung von Tat­ beiträgen die dieser korrespondierende Blockverteidigung zerschlagen“.66 Nach Ansicht des Richters Kurt Breucker, der als jüngster Richter am ­ aader-Meinhof-Prozess in Stuttgart-Stammheim teilgenommen hatte, habe mit B den Terroristenprozessen eine Entwicklung begonnen, die darin gipfelte, dass sich die von den Beschuldigten gewählten Strafverteidiger nicht mehr in erster Linie dem Gesetz verpflichtet fühlten, sondern ihre Aufgabe eher darin gesehen hätten, „den politischen Zielen ihrer Mandanten zum Sieg zu verhelfen“.67 Auch nach Auffassung des Bundeskriminalamts (BKA) würden sich viele Verteidiger „mit den Zielen der RAF“ identifizieren und für die Kommunikation der ge­ fangenen RAF-Mitglieder untereinander sowie von diesen zur RAF draußen“68 sorgen. Noch im Jahre 1982 erklärte ein BKA-Mitarbeiter, dass die „Vertrauensanwälte“ instruiert seien, nicht nur alle rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, „sondern auch ihre Verteidigerrechte (zu) missbrauchen, um den ‚antiimperialistischen Kampf‘ fortführen zu können“.69 Demnach unterstützten sie die „Politisierung der Gefängnisse“ und die der „revolutionären Basis“ der RAF, wobei ihnen die Aufgabe zufalle, die Kommunikation der Inhaftierten untereinander und mit der Außenwelt zu gewährleisten. Oder, wie die Kölner Rundschau am 26. Juni 1972 unter der Überschrift „Terror-Advokaten muß Chance genommen werden“ formulierte: „Mißtrauen der Bürger verdichtet sich zu fast kollektiver Ablehnung. Die schwarzen Schafe sind bekannt: Gegen Otto Schily, Klaus Croissant, Heinrich Hannover, Kurt Groenewold, Wolf-Dieter Reinhard und andere richtet sich der Verdacht des Kassiberschmuggels, Solidarisierung mit den Mitgliedern der Baader-Meinhof-Bande, Begünstigung des Terrorismus und aggressiver, standesschädlicher Äußerungen gegenüber Grundgesetz und Demokratie“.70 Die Kritik wurde laut, sie seien weit über die rechtlich zulässige Verteidigung ihrer Mandanten hinausgegangen. Der Chefredakteur der Bild-Zeitung, Peter Boenisch, hatte im Mai 1972 zur Beantwortung der Frage: „Wissen Kanzler und Staatsoberhaupt, daß das Kommunikationszentrum der Radikalen bekannt ist?“ aus einem vertraulichen Protokoll der Innenministerkonferenz zitiert, wonach es 45 namentlich be-

66 Hans Heinz Heldmann, Eine erste Nachrede auf das Justizverfahren von Stammheim, 27.04.1977; später abgedruckt in: Kritische Justiz, Heft 10 (1977), S. 193–208. 67 Mehr den Zielen der Terroristen als dem Gesetz verpflichtet, in: Heilbronner Stimme, 12.10.2002. Vgl. auch Diewald-Kerkmann „ … wohl das deprimierendste Strafverfahren in der Geschichte der Bundesrepublik“, in: Annali – Jahrbuch des italienisch-deutschen histo­ rischen Instituts in Trient, XXXIV (2008), Bologna, S. 441–459. 68 Auswertungsbericht des Bundeskriminalamts (im Folgenden: BKA), 07.05.1974; Staatsanwaltschaft (StA) Hamburg, Sonderband, S. 6. 69 Vortrag des BKA-Mitarbeiters Alfred Klaus; Bundesarchiv Koblenz (BArch), Bestand 106/576, (Az. 626 020/18), S. 76. 70 Kölnische Rundschau, 26.06.1972.

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kannte linksradikale Anwälte gebe. Sie übten „erwiesenermaßen folgende Tätigkeiten aus: Sie präparieren Zeugen, die bei einem Geschehen gar nicht zugegen waren, um angeklagte Bandenmitglieder zu entlasten. Sie übernehmen den Transport von Gegenständen, die der Ausübung von Straftaten dienen, z. B. den Transport von Sprengkörpern“.71 Auch die „Welt“ hatte am 3. Juni 1972 geschrieben: „Der gesellschaftlich relevante Sumpf ist größer und dürfte schwer abzustecken sein. Nur eines ist sicher: Der Sumpf liegt links, und zwar nur links. Und aus diesem Sumpf werden, wenn der Alarm der Fahndung vorüber ist, Verteidiger hochsteigen und das spätkapitalistische System für das Unheil verantwortlich machen, das sie anrichten halfen“.72 Laut Bild-Zeitung waren die Strafverteidiger „Briefträger für Bombenleger und Polizistenmörder, die Mordanleitungen von Zelle zu Zelle schmuggeln“73 respektive „Veranstalter eines Komplotts gegen den Staat verbunden mit Mordtaten“.74 Aber die Anwälte wurden nicht nur von Strafverfolgungsbehörden, Gerichten und Medien angegriffen, sondern auch von Politikern. Innenminister Hans-Dietrich Genscher hatte am 26. Mai 1972 öffentlich erklärt: „Die Helfershelfer und die Gesinnungsfreunde der Baader-Meinhof-Bande seien vor allem links eingestellte Rechtsanwälte“.75 Demgegenüber kommt Andreas Mehlich in seiner 2012 veröffentlichten juristischen Dissertation zu dem Ergebnis, dass, „auch wenn sich im Nachhinein nicht alle Vorwürfe als unzutreffend herausgestellt haben und einzelne wenige Verteidiger durchaus bewusst die Schwelle der Illegalität überschritten“, die Behauptung in ihrer generalisierenden Weise damals wie heute nicht aufrechterhalten bleiben könne.76 Bereits im Juni 1972 hatte die Bundesanwaltschaft Ensslins Verteidiger, Otto Schily, beschuldigt, sich der „Komplizenschaft schuldig gemacht“ zu haben. Er habe einen Kassiber aus der Haftanstalt herausgebracht, der später im Besitz von Meinhof gefunden worden sei. Schily wurde von der Verteidigung ausgeschlossen. Ein Jahr später wurde der Ausschluss von der Verteidigung aufgehoben. Der frühere Richter des Stammheim-Prozesses, Breucker, stellt Jahre später fest, dass das Bundesverfassungsgericht zwar den Ausschluss aufgehoben habe, jedoch nicht, weil es den Schmuggel für nicht erwiesen hielt; „es war vielmehr der Meinung, allein wegen Verstoßes gegen Standesrecht sei ein Eingriff in die Berufsfreiheit eines Rechtsanwalts verfassungsrechtlich nicht zulässig; dazu sei ein förmliches Gesetz erforderlich“.77 Der frühere Bundesanwalt Joachim Lampe macht deutlich, dass der Schmuggel von Kassibern, „an dem laut Angaben des Zeugen Speitel alle Verteidiger des Vertrauens der Häftlinge aus der RAF beteiligt waren“78 wei 71

Bild am Sonntag, 21./22.05.1972. Welt, 03.06.1972. 73 Bild-Zeitung, 21.08.1973. 74 Die Welt, 28.11.1974. 75 Zit. nach: konkret Nr. 8/1975, S. 11. 76 Mehlich, Der Verteidiger, S. 272. 77 Breucker, Agitator für die RAF. Der frühere Richter Kurt Breucker schreibt über Otto Schilys Rolle im Stammheim-Prozess, in: Focus 1/2004, S. 43. 78 Joachim Lampe, Verteidigung, S. 436. 72

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tergegangen sei. Im November 1973 hatte der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofes festgestellt, die Aktivitäten der inhaftierten RAF-Mitglieder seien auf die politisch-militärische Schulung von Kadern für den Stadtguerillakampf, die „Politisierung der Gefängnisse“ und die Verbreiterung der „revolutionären Basis“ gerichtet, der eine breit angelegte Diffamierung der Justiz dienen solle. Den Verteidigern falle hierbei die Aufgabe zu, die Kommunikation der RAF-Gefangenen untereinander und mit der Außenwelt zu gewährleisten. Einzelne Anwälte hätten nach der Verhaftung der RAF-Gründungsmitglieder ein Informations- und Kommunikationssystem zwischen dem in Stammheim einsitzenden „harten Kern“ der Gruppe und den noch in Freiheit agierenden, in der Illegalität Lebenden aufgebaut.79 Auch nach Auffassung des Bundeskriminalamts würden sich viele Verteidiger „mit den Zielen der RAF“ identifizieren und „für die Kommunikation der gefangenen RAF-Mitglieder untereinander sowie von diesen zur RAF draußen“80 sorgen. „Gegen die Rechtsanwälte Hans-Christian Ströbele, Kurt Groenewold und Eberhard Becker, die im Verdacht stehen, sich auf diese Weise der Unterstützung der kriminellen Vereinigung … und damit eines Vergehens nach § 129 Abs. 1 StGB schuldig gemacht zu haben, hat der Generalbundesanwalt Ermittlungsverfahren eingeleitet“.81 Der Präsident des BKA, Horst Herold, schrieb im Jahre 1976, dass es sich um ein in der deutschen Justizgeschichte noch nicht erlebtes, arbeitsteilig perfekt organisiertes Informationssystem handele.82 Und in einer internen Lagebeurteilung des Bundeskriminalamts hieß es: „Die verdächtigen Verteidiger haben bei der Weiterarbeit der BM-Bande aus der Haft heraus eine Schlüsselfunktion inne. Nur mit ihrer Hilfe kann die Kontinuität der RAF und der organisatorische Zusammenhalt ihrer Mitglieder aufrechterhalten werden“.83 Die Kritik wurde laut, dass eine Reihe von Rechtsanwälten weit über die rechtlich zulässige Verteidigung ihrer Mandanten hinausgegangen sei; „sie machten sich zu Komplizen der terroristischen Gewalttäter“.84 Sitz dieser Schaltzentrale sei das Stuttgarter Anwaltsbüro Klaus Croissant, Jörg Lang, Arndt Müller und Armin Newerla gewesen, wobei die Rechtsanwälte Kurt Groenewold (Hamburg) und Hans-Christian Ströbele (Berlin) einbezogen gewesen seien.85 Herold schrieb im Jahre 1976, dass die Polizei und Justiz aus mehr zufälligen Anlässen „fast 9000 Blatt an Kassibern“ sichergestellt hätten.86 Darüber hinaus seien Müller und Newerla zum 79

Ebd. Auswertungsbericht des Bundeskriminalamts, 07.05.1974; Staatsanwaltschaft Hamburg, Sonderband, S. 6. 81 Beschluss des Ermittlungsrichters des BGH, 30.11.1973; Bundesarchiv Koblenz, Bestand 362/3366. 82 Horst Herold, Taktische Wandlungen des deutschen Terrorismus, in: Die Polizei, 67. Jg., Heft 12/1976, S. 401–405, hier S. 403. 83 Zit. nach: Der Spiegel, Nr. 21/19.05.1975, S. 42. 84 Kurt Breucker, Mehr den Zielen der Terroristen als dem Gesetz verpflichtet, in: Heilbronner Stimme, 12.10.2002. 85 Ebd. 86 Herold, Taktische Wandlungen des deutschen Terrorismus, S. 403. 80

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Schmuggeln von anderen verbotenen Gegenständen bereit gewesen: „Müller war es, der den Häftlingen die Pistolen – in Teile zerlegt – samt Munition zuspielte, mit denen sich Baader und Raspe schließlich erschossen“.87 Tatsächlich darf nicht ausgeklammert werden, dass es einzelne Verteidiger gab, die dem RAF-Unterstützerkreis zuzurechnen waren respektive den Weg in die Illegalität gewählt hatten. So kam es zu folgenden Verurteilungen von Rechtsanwälten: Arndt Müller wurde zu vier Jahren, acht Monaten, Armin Newerla zu drei Jahren, sechs Monaten und Klaus Croissant zu zwei Jahren, sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Siegfried Haag erhielt zwölf Jahre, Eberhard Becker vier Jahre, sechs Monate und Horst Mahler vierzehn Jahre Freiheitsstrafe. Kurt Groenewold erhielt eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren sowie Hans-Christian Ströbele eine von zehn Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt wurden. Jörg Lang hatte sich dem Verfahren durch Flucht entzogen. Bis zur Verjährung der ihm vorgeworfenen Tat hielt er sich im Libanon auf. Dagegen kritisierten die Anwälte, dass der Kontakt zwischen Beschuldigten und Verteidigern nach der Festnahme verhindert, die wechselseitige Verteidigerpost angehalten und geöffnet, Kanzleien durchsucht und die Anwälte in der Öffentlichkeit diffamiert sowie Ehrengerichtsverfahren eingeleitet wurden. Beispielsweise hatte der Anwalt Kurt Groenewold im gegen ihn gerichteten Strafverfahren wegen Unterstützung einer kriminellen Vereinigung deutlich gemacht, dass er sich nirgendwo nachweisbar mit den Zielen seiner Mandanten identifiziert habe: „Aber der Verteidiger ist auch nicht ihr Zensor. Vielmehr sei seine Aufgabe gewesen, die Vorstellungen durchzusetzen, die die Mandanten davon gehabt hätten, wie sie den ihrer Meinung nach politischen Prozess führen sollten“.88 Nach Hannover war der Zustand der Strafverteidigung durch eine Vertrauenskrise gekennzeichnet, wobei Strafverteidigung als rechtsstaatliche Institution nicht nur ein Vertrauensverhältnis zwischen Angeklagten und Verteidiger voraussetze, sondern auch ein gewisses Maß an Vertrauen durch Gericht und Öffentlichkeit.89 Allerdings sei laut Hannover zur „Ehre einzelner Richter … gesagt, daß sie unbeeindruckt von der systematisch geschürten Hysterie auch sogenannte Terroristenanwälte wie Anwälte behandeln“.90 Eine Konfliktlinie entzündete sich an dem von den Verteidigern erhobenen Vorwurf der Aktenmanipulation. Nach Meinung der Verteidiger war es wichtig, Kenntnis der Aktivitäten zu gewinnen, die der RAF von den Ermittlungsbehörden zugeordnet wurden. Dabei seien die Versuche der Anwälte, die politischen Beweggründe für das Handeln ihrer Mandanten in die Verfahren einzuführen, eine Selbstverständlichkeit – so der Verteidiger Klaus Eschen – und „strafprozessualer Alltag“ gewesen. Jedem NS-Täter seien in bundesdeutschen

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Heilbronner Stimme, 12.10.2002. Die Welt, 31.01.1978. 89 Heinrich Hannover, Strafverteidigung in der Vertrauenskrise, in: Kritische Justiz, 11 (1978), S. 221–234, S. 221. 90 Ebd., S. 230. 88

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Gerichtssälen neben strafrechtlichen Aspekten auch gesellschaftliche und politische Bedingungen der Taten zugestanden worden.91 Ein Angeklagter kämpfe in einem Strafverfahren nicht nur um Freispruch oder geringeres Strafmaß, sondern auch darum, „angesichts des gegen ihn erhobenen Tatvorwurfes in einem seiner Persönlichkeit, seiner Identität entsprechenden Licht zu erscheinen. Das galt für die RAF-Prozesse umsomehr“.92 5. „Freund-Feind-Verhältnis“ im Gerichtssaal Über das Stammheim-Strafverfahren, das von 1975 bis 1977 vor dem Oberlandesgericht Stuttgart stattfand, wird immer wieder berichtet, dass „das Verhältnis von Strafverfolgungsbehörden und Gerichten auf der einen und Beschuldigten oder Angeklagten auf der anderen Seite … von Anbeginn an hochgradig spannungsgeladen und konfrontativ“93 gewesen sei. Die Richter sollten unvoreingenommen urteilen, obwohl in den Medien fast täglich über die Straftaten der „Terroristinnen“ und „Terroristen“ berichtet und Zuschreibungen vorgenommen wurden. Sie sollten unbefangen Recht sprechen trotz der Tatsache, dass Ermittlungsergebnisse und gerichtliche Entscheidungen öffentlich kommentiert wurden. Unbestritten hatte der Jurist auf der Richterbank „eine Unbefangenheit an den Tag“ zu legen, obwohl von allen Seiten „Tatsachen und Meinungen zum Extremismus“, Nachrichten und Kommentare über Anarchisten und ihre Taten auf ihn eindrängten, „lauter Themen, über die er unbeeinflußt zu urteilen“94 hatte. Beispielsweise hatte der Bundeskanzler gefordert, die „von der Strafprozessordnung eröffneten neuen Möglichkeit(en)“ auszuschöpfen und dabei „bis an die Grenze dessen zu gehen, was vom Rechtsstaat erlaubt und geboten ist“.95 Die beklemmende Atmosphäre im Gerichtssaal – die Hauptverhandlung im Strafverfahren gegen Baader, Ensslin, Meinhof und Raspe begann am 21. Mai 1975 – und die kaum überbrückbaren Gegensätze zwischen den Beteiligten stellten die Richter vor eine ungewöhnliche Aufgabe. Die Kontroversen im Gerichtssaal – an­ gefangen von Auseinandersetzungen um allgemeine Verfahrensgrundsätze, Polemik, eigenmächtige Wortergreifungen, Unterbrechungen über Wortentziehungen bis zu den Vorwürfen „Dreistigkeit des Senats“ versus „standeswidriges Verhalten

91 Klaus Eschen, Rechtsstaat ohne Konfliktkultur, in: Michael Sontheimer/Otto Kallscheuer (Hg.), Einschüsse. Besichtigung eines Frontverlaufs. Zehn Jahre nach dem Deutschen Herbst, Berlin 1987, S. 78–98, hier S. 82. 92 Ebd. 93 Rupert von Plottnitz, Verteidigung, S. 461. 94 Peter Doebel, „Unter scharfen Sicherheitsvorkehrungen …“. Die Prozesse gegen Extremisten, in: Josef Augstein/Rudolf Wassermann (Hg.), Terrorismus contra Rechtsstaat, Neuwied 1976, S. 211–244, hier S. 234. 95 Deutscher Bundestag. Stenografische Berichte – 8. Wahlperiode – 98. Sitzung, 15.06.1978, S. 7770.

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der Verteidigung“96 spiegeln ein Ausnahmeklima wider. Dabei steht außer Frage, dass die Richter in einer bisher noch nicht erlebten Art und Weise diffamiert wurden. Die Erklärungen in den Prozessakten, die von den angeklagten Frauen und Männern der RAF im Lauf des Verfahrens verlesen wurden, belegen, in welchem Maße der Gerichtssaal als „Bühne“ für eigene Agitations- und Propagandazwecke instrumentalisiert wurde. Die Angeklagten benahmen sich „zum Teil wie Rasende, in einer fürchterlich beleidigenden Sprache auch gegenüber dem Gericht“.97 Ihre Haltung indizierte nicht Unterwerfung, sondern Gewissheit, „dem geltenden Code bessere Normen entgegenzusetzen“.98 Oder, wie der Journalist Werner Birkenmaier formuliert: „solchen Angeklagten wie Andreas Baader und solchen Verteidigern wie Otto Schily war Prinzing (Vorsitzender Richter – d. V.) in seinem bisherigen Richterleben noch nicht begegnet“.99 Sein Nachfolger – der Vorsitzende Richter Eberhard Foth – schreibt, dass das „neue Verhalten der Angeklagten und der als Zuhörer anwesenden Sympathisanten … für die Gerichte erhebliche Schwierigkeiten mit sich (brachten). Es kam zu zahlreichen Tumulten und Exzessen im Gerichtssaal; plötzlich gewannen die vielen Richtern kaum bekannten Vorschriften über Sitzungspolizei und Ungebühr an Bedeutung (§§ 176 ff. GVG)“.100 Hierin spiegelt sich nicht nur die Strategie der RAF wider: „Zwischen uns und dem Feind einen klaren Trennungsstrich ziehen!“,101 sondern auch „die Aufspaltung in ‚zwei ganz verschiedene Kommunikationssysteme‘ … bis zu extremer Zuspitzung“.102 Es ging um eine „Totalopposition gegen die Strafgerichtsbarkeit“.103 Bereits in der von Meinhof im April 1972 verfassten Druckschrift „Dem Volk dienen. Stadtguerilla und Klassenkampf“104 hatte sie gefordert, dass jede Zusammenarbeit mit Gerichten, Polizei, Behörden, Spitzeln und Verrätern verweigert wer 96 Das belegen die Tonbänder zu 2 StE 1/75 (Stammheim-Prozess, 1975–1977) des Staatsarchivs Ludwigsburg. Es handelt sich um den Bestand PL 407, Bü 113–133, bestehend aus überlieferten Tondokumenten (Dauer der Bänder: insgesamt 12 Stunden). Vgl. Diewald-Kerkmann, Die Rote Armee Fraktion im Original-Ton: Die Tonbandmitschnitte vom Stuttgarter Stammheim-Prozess, in: Zeithistorische Forschungen, 5. Jg., 2008/2, S. 299–312. 97 Uwe Wesel, Die verspielte Revolution: 1968 und die Folgen, München 2002, S. 259. 98 Wilfried Rasch, Die Gestaltung der Haftbedingungen für politisch motivierte Täter in der Bundesrepublik Deutschland, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 59/1976, Heft 2/3, S. 61–69, hier S. 61 f. 99 Zit. nach: Klaus Stern/Jörg Herrmann, Andreas Baader. Das Leben eines Staatsfeindes, München 2007, S. 218. 100 Eberhard Foth, Terrorismus vor Gericht, in: Deutsche Richterzeitung, 79. Jg./September 2001, S. 388–398, hier S. 390. 101 Einleitungszitat von Mao Tse Tung, in: Das Konzept Stadtguerilla, April 1971, in: IDVerlag (Hg.), Rote Armee Fraktion. Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, Berlin 1997, S. 27–48, S. 27. 102 Herbert Jäger, Die individuelle Dimension terroristischen Handelns. Annäherungen an Einzelfälle, in: Herbert Jäger/Gerhard Schmidtchen/Lieselotte Süllwold, ­Lebenslaufanalysen, Opladen 1981, S. 120–174, hier S. 151. 103 Foth, Terrorismus, S. 388. 104 Dem Volk dienen. Stadtguerilla und Klassenkampf, April 1972: Texte und Materialien, S. 112–144.

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den müsse, „ihnen keine Mühe erspart, kein Beweis erleichtert, keine Information geschenkt und kein Aufwand abgenommen“105 werden dürfe. Auch Baader hatte im Prozess jede Basis zwischen den Angeklagten und der Justiz mit den Worten verneint: „das ist wirklich der unlösbare Widerspruch, in dem sich die Veranstaltung hier dahinschleppt, weil die revolutionäre Politik nicht justiziabel ist“.106 Die Inhaftierten versuchten – wie zuvor bereits Angehörige der APO-Bewegung, beispielsweise Fritz Teufel oder Rainer Langhans – den Gerichtssaal zu einem politischen Forum umzufunktionieren. Der „kriminalistische Teil“ der Verhandlung, also die sachliche Verteidigung gegen die Anklage, war für Baader, Ensslin, Meinhof und Raspe nicht wichtig gewesen, sie wollten sich „politisch“ verteidigen. Oder, wie der damalige Bundesanwalt Joachim Lampe ausführt: „Den Angeklagten war das Strafverfahren aber piep-schnurzegal. Das Verfahren, wie es das Gesetz vorsieht, hat keine Rolle gespielt. Sie haben das allenfalls als Podium gesehen, ihr Gedankengut nicht dem Gericht, sondern den Genossen zu vermitteln. Das war die Fortsetzung des Kampfes im Gerichtssaal“.107 Auch der frühere BKA-Mitarbeiter Alfred Klaus konstatiert, dass es nicht ihr Ziel gewesen sei, sich gegen die strafrechtlich relevanten Vorwürfe der Anklage zur Wehr zu setzen oder bestimmte Anklagepunkte zu widerlegen.108 Vielmehr sollte das Gericht als öffentliche Bühne benutzt werden, um den Staat anzuklagen. Damit verbunden war der Vorwurf eines „neuen Faschismus“,109 oder wie Meinhof im Prozess ausführte: „Es sind nicht wir, die den Fanatismus nötig haben, sondern Bundesanwaltschaft und Gericht sind fanatisch … als Schaltstelle des innerstaatlichen Faschisierungsprozesses“.110 Betrachtet man diese Konfrontationen, bestätigt sich die Auffassung Otto Kirchheimers, wonach eine Instrumentalisierung juristischer Mittel für politische Zwecke sich eben nicht nur auf Handlungen staatlicher Organe beschränkt. Vielmehr gibt das Gerichtsverfahren auch dem Angeklagten „eine Kampfchance … auf die er nicht zu verzichten wagt“.111 Der Richter Breucker schildert Jahre später: „Wenn wir Richter den Saal betraten, schlug uns – körperlich spürbar – blanker Hass entgegen, der Hass der Angeklagten sowie der zahlreichen Unterstützer und Sympathisanten. Gudrun Ensslin hatte gefordert, ‚Lieber einen Richter umlegen, als ein Richter sein‘… “.112 Treffend hatte der Rundfunkjournalist Leo Waltermann die Situation der Richter mit den Worten charakterisiert: „Man muß einfach mal überlegen, was geschieht, wenn Sie als Richter über Jahre unter Sicherungs 105

Ebd., S. 143. Zit. nach: Hannes Breucker, Verteidigungsfremdes Verhalten, S. 64. 107 Interview in diesem Buch, S. 215 f. 108 Vortrag Alfred Klaus, „Methoden und Taktiken der Fortsetzung des bewaffneten Kampfes aus der Haft“; Bundesarchiv Koblenz, Bestand 106/576, (Az. 626 020/18), S. 76. 109 Vgl. „Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa“, in: Rote Armee Fraktion. Texte und Materialien, S. 102. 110 Zit. nach: Hannes Breucker, Verteidigungsfremdes Verhalten, S. 93. 111 Kirchheimer, Politische Justiz, 1985, S. 87. 112 Interview mit Kurt Breucker, in: Möhringer Rundschau, 07.03.2001. 106

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vorkehrungen stehen. Sie gehen mit einer Pistole. Sie machen regelmäßig Schießübungen … Die Bundesanwälte fahren unter Polizeischutz, halten an keiner Ampel, fühlen sich ständig bedroht und dann kommen sie in den Gerichtssaal und da ist einer, dem sie sowohl ihre ‚Bedeutung‘ wie auch die ‚Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit‘ verdanken. … Dann kommt, glaube ich, ganz schnell so etwas wie eine Frontkämpfer- oder Grabenkampfmentalität auf“.113 Der Anschlag auf den Bundesrichter Wolfgang Buddenberg am 15. Mai 1972, die Ermordung des Generalbundesanwalts Siegfried Buback am 7. April 1977 und der versuchte Raketenanschlag auf die Bundesanwaltschaft am 25. August 1977 schürten die Angst. 6. Strafanspruch des Staates – individueller Schutz der Beschuldigten Angesichts der Strafverfahren gegen RAF-Mitglieder verstärkten sich auf der Prozessebene die Kontroversen über die Grenzen der Strafverteidigung. Begriffe wie Konfliktverteidigung oder Rechtsmissbrauch durch exzessive Verteidigung bestimmten die Debatte. Treffend stellt der BGH-Richter Thomas Fischer hierzu fest: „Daß das Strafverfahren die symbolische Inszenierung eines ‚Konflikts‘ zwischen dessen Beteiligten nach normativen Regeln und damit seinerseits ein ‚Konfliktverfahren‘ ist, ist offenkundig; daß zwischen dem Beschuldigten eines Strafverfahrens und der Staatsmacht, welche das Gericht repräsentiert, ein Konflikt besteht, ist so banal, daß sich daraus keine Folgerungen ableiten lassen…“.114 Immer häufiger wurde als Erklärungsmuster der zunehmenden Eskalation ein „neuer Verteidigertypus“ angeführt. Exemplarisch hatte der SPD-Abgeordnete Hermann Dürr im Deutschen Bundestag am 18. Dezember 1974 angeführt: „ … wir haben im Jahre 1968 einen neuen Typ von Angeklagten feststellen können. Wir mussten 1974 einen neuen Typ von Verteidigern, von sogenannten Rechtsanwälten, feststellen, und wir haben uns in der Gesetzgebung darauf einzustellen“.115 Nach Auffassung des damaligen Vorsitzenden Richters des Oberlandesgerichts Stuttgart, Eberhard Foth – Nachfolger von Theodor Prinzing im Stammheim-Verfahren – habe sich die Strafjustiz „schon bei ‚gewöhnlichen‘ Verfahren, die mit den Unruhen der Jahre 1968 ff. zu tun hatten, einem neuen Typ von Angeklagten und bald auch einem neuen Typ von Verteidigern gegenüber“116 gesehen. Auch der Jurist Walter Hanack formuliert die Annahme, dass ein „neuer Verteidigertyp“ entstanden sei; das sei vielleicht das „interessanteste und wichtigste Phänomen“117 im Strafrecht. 113

Zit. nach: Overath, Drachenzähne, S. 251. Thomas Fischer, Konfliktverteidigung, Missbrauch von Verteidigungsrechten und das Beweisantragsrecht, in: Strafverteidiger, Jg. 30, 2010, Heft 8, S. 423–428, hier S. 424. 115 Deutscher Bundestag: Band 90, Stenographische Berichte – 7. Wahlperiode – 138. Sitzung, 18.12.1974, S. 9517. 116 Foth, Terrorismus, S. 388. 117 Walter Hanack, Vereinbarungen im Strafprozeß, ein besseres Mittel zur Bewältigung von Großverfahren?, in: Strafverteidiger (StV) 11/1987, S. 500–504, hier S. 501. 114

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Dabei handele es sich um einen sehr engagierten und „grundsätzlich seriösen, oft höchst kundigen Verteidiger(s); aber eines Verteidigers, der die weiten und äußersten Möglichkeiten unserer Prozeßordnung, anders als die Generation vor ihm, … ausnahmsweise ausnutzt“. Er fühle sich aber dem traditionellen Ziel des Strafverfahrens nicht mehr verpflichtet. Zudem stehe er der Strafjustiz „mit oft geradezu abgrundtiefer Skepsis“ gegenüber. Weiter konstatiert Hanack, die Justiz beginne auch im eigenen Interesse, sich auf diesen Verteidiger einzurichten.118 Vor allem die Prozessstrategie der Anwälte wurde als Indiz für ein verändertes Selbstverständnis gewertet. König schreibt: „… jetzt (wurde) die Orientierung am Mandanteninteresse propagiert, eine Emanzipation von der ungeliebten, als Bevormundung und Disziplinierung desavouierten Organstellung“.119 Als Verteidiger im Strafprozess achteten sie nicht nur darauf, dass alle zugunsten des Beschuldigten sprechenden rechtlichen und tatsächlichen Umstände berücksichtigt wurden, sondern ihr Ziel war darüber hinaus „den Angriff der Anklage abzuwehren und dafür Sorge zu tragen, daß der Strafanspruch des Staates im prozeßordnungs­mäßigen, justizförmigen Wege verfolgt wird“.120 In der Rolle als „rechtsstaatliche(r) ­Garant der Unschuldsvermutung“121 sollte alles Entlastende vorgebracht und Belastende kritisch geprüft werden. Danach war der Anwalt nicht Helfer der Anklage, sondern des Angeklagten und letztlich Widerpart der Polizei und der Staatsanwaltschaft.122 So hebt der Anwalt Armin Golzem hervor: „Es reicht nicht aus, dass man um eine milde Strafe bittet, sondern man muss um die Rechte des Angeklagten kämpfen …“.123 Auffallend ist, in welchem Maße die Anwälte in den siebziger Jahren auf das „Handbuch des Strafverteidigers“124 rekurrierten, wobei Hans-Christian Ströbele in diesem Zusammenhang von der „Wiederent­deckung der Strafprozessordnung oder die neue Art der Verteidigung…“ spricht.125 Dass sich die Anwälte in den siebziger Jahren intensiv mit der Strafprozessordnung und/oder dem Handbuch der Strafverteidigung von Hans Dahs, überhaupt mit der allgemeinen Funktion der Strafverteidigung beschäftigten, ist offensichtlich. Genauso naheliegend ist ihre Politisierung durch die außerparlamentarische Opposition, die Auseinandersetzungen zwischen Justiz und Verteidigung in den Demonstrationsprozessen 1968/1969 und überhaupt „die Politisierung und Dramatisierung der Justiz im Zeichen ideologischer Auseinandersetzung“.126 Insoweit kann davon ausgegangen werden, dass die Ausführungen von Dahs auf dem 118

Ebd. König, Das geänderte Berufsverständnis, S. 411. 120 Walter Sax, in: Kommentar zur Strafprozeßordnung: KMR, begr. von Theodor Kleinknecht. Loseblattsammlung, Neuwied, 38. Lieferung (Stand Dezember 2004), Einl. IV, S. 35. 121 Ebd. 122 Kühnert, Strafverteidiger, S. 707. 123 Interview in diesem Buch, S. 44. 124 Hans Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, 1. Auflage Köln 1969, 2. Auflage 1969, 3. 1971, 4. 1977, 5. 1983, 6. 1999, 7. 2005. 125 Interview in diesem Buch. S. 130. 126 Grunwald, Der Gerichtssaal, S. 210. 119

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Deutschen Anwaltstag in West-Berlin im Jahre 1975 auf breite Akzeptanz stießen: „Der Strafverteidiger erforscht eben nicht die Wahrheit‚ gleich wem sie ‚nütze oder schade‘, sondern tritt dem durch den Staatsanwalt repräsentierten Strafanspruch des Staates, dem der Richter zur Geltung verhelfen soll, entgegen. Seine Aufgabe ist es, das Gericht immer wieder zu zwingen, seine Erkenntnisse nur auf dem engen justizförmigen Weg zu gewinnen und sachlich wieder in Frage zu stellen“.127 Demnach ist Verteidigung Kampf, nämlich „Kampf um die Rechte des Beschuldigten im Widerstreit mit den Organen des Staates … Im Strafverfahren bringt der Staat gegen persönliche Freiheit und Vermögen des einzelnen seine Machtmittel mit einer Gewalt zum Einsatz, wie das sonst allenfalls noch im Bereich der Wehrhoheit geschieht“.128 Nur am Rande sei vermerkt, dass bereits im Jahre 1882 der Jurist Rudolf von Jhering in seinem Wiener Vortrag den „Kampf ums Recht“ ausdrücklich hervorhob.129 Dabei hat die Verteidigung den Auftrag, „dem staatlichen Zugriff auf den zunächst nur Verdächtigen rückhaltlos mit allen gesetzlichen Mitteln zu begegnen“.130 Treffend hatte Ulrich K. Preuß formuliert, der Verteidiger sei ein Geschöpf der Legalität, und die Legalität mute ihm zu, dem Angeklagten Beistand zu leisten, obwohl der Beistand, den der Angeklagte benötige, voraussetze, dass die Zweifel an den Grundlagen der Legalität zur Sprache gebracht werden.131 Die zahlreichen Beweisanträge, Ablehnungsanträge gegen Richter, insbesondere gegen den Vorsitzenden Richter des Oberlandesgerichts Stuttgart, oder die Anträge der Verteidigung auf Einstellung des Verfahrens dokumentieren die KonBuback frontationsstrategie der Anwälte. Der Generalbundesanwalt Siegfried ­ konstatierte in der 93. Sitzung des Rechtsausschusses am 31. März 1976, dass man in Stammheim Ablehnungsantrag an Ablehnungsantrag gereiht habe, und jede Ablehnung eines Ablehnungsantrags wieder zur Stellung eines Ablehnungsantrags benutzt worden sei. „Es ist eine harte Zumutung sowohl für die Richter als auch für die Bundesanwälte, die dort sitzen … Es wird dort auch nicht in einer gerichtsüblichen Sprache verhandelt; dort wird geschrien, da wird gebrüllt, auch durcheinander“.132 Kontrastiert man diese Auseinandersetzungen mit den Redeprotokollen einer Sitzung des Berliner Anwaltsvereins vom 12. Novem 127 Gerhard Mauz, „Es ist nicht immer Haarmann, der kommt …“, in: Politische Prozesse ohne Verteidigung? hrsg. von Wolfgang Dreßen, S. 7–11, hier S. 9. 128 Hans Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, Köln 51983, S. 1 f. 129 Rudolf von Jhering, Kampf ums Recht (1872), Vortrag v. 11.3.1872. Nach stenografischer Aufzeichnung. GH 1872, S. 95–107. Vgl. Gerhard Luf (Hg.), „Der Kampf ums Recht“. Forschungsband aus Anlaß des 100. Todestages von Rudolf von Jhering, Berlin 1995. 130 Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, S. 1 f. Vgl. hierzu Diewald-Kerkmann, Im Vordergrund steht immer die Tat…“. Gerichtsverfahren gegen Mitglieder der RAF, in: Rechtsgeschichte. Zeitschrift des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte, 7. (2005), S. 138–152. 131 Ulrich K. Preuß, Verteidigung ist eine schöpferische Tätigkeit, in: Plädoyers in der Strafsache gegen Rechtsanwalt Kurt Groenewold, hrsg. von Erik von Bagge/Roland Houver/Ulrich K. Preuss/Reinhard Zimmer, Hamburg 1978, S. 87–122, hier S. 99 f. 132 Deutscher Bundestag, 7. Wahlperiode, Stenographisches Protokoll über die 93. Sitzung des Rechtsausschusses, 31.03.1976, S. 108 f.

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ber 1891, werden Parallelen sichtbar. Demnach entstehe – so die Auffassung des Rechtsanwalts Meschelsohn – die gesamte Problematik „im letzten Grunde aus dem Kampfe des Individuums mit dem Staate“. Hierbei sei als „fundamentalster Grundsatz“ des geltenden Strafprozessrechts anzusehen, „dass der Angeklagte Partei ist“ und damit „Subjekt“, nicht aber „Gegenstand des Prozesses“. Der Anwalt stehe „dem Prozeßstoff geradeso selbständig“ gegenüber wie der Staats­ anwalt.133 Auch der bereits zitierte Alsberg trat an, um „im Interessenkampf des Strafprozesses … seinem Klienten zum Siege zu verhelfen … gegen den heiligen Egoismus des Staates“.134 7. Strafrechtsänderungen In dieser Konfliktsituation – zwischen Anklageerhebung im September 1974 und Beginn der Hauptverhandlung im Mai 1975 in Stammheim – reagierte der Gesetzgeber im Dezember 1974 mit der Änderung der Strafprozessordnung,135 angefangen von der zahlenmäßigen Beschränkung der Wahlverteidiger über das Verbot der gemeinschaftlichen Verteidigung mehrerer Angeklagter durch denselben Anwalt bis zur Überwachung des schriftlichen Verkehrs zwischen Beschuldigten und Verteidiger und Ausschließung des Verteidigers. Mehrfach wurde der Gesetzgeber – so der Bundesjustizminister im Jahre 1978 – „jeweils aufgrund konkreter Ereignisse und Bedürfnisse“136 tätig, wobei der ehemalige Richter Foth darauf hinweist, dass „man … viele Prozesse nicht (hätte) führen können, wenn man diese Gesetze nicht gehabt hätte“.137 Die Verschärfung der Strafprozessordnung erfolgte durch die Verabschiedung des Gesetzes zur Reform des Straf­verfahrens

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Zit. nach Falk, Zur Geschichte der Strafverteidigung, S. 439 ff. Ebd., S. 444. 135 Ein Überblick über die Gesetzesänderungen in dieser Zeit untermauert diese These. I. Änderungen im materiellen Recht: 1) § 129 a StGB, 2) verschärftes Waffenrecht; II. Änderungen im Verfahrensrecht: 1) Neuregelungen im Bereich des Ermittlungsverfahrens, 2) Kontaktsperregesetz, 3) Neuregelungen im Recht der Verteidigung, a) Beschränkung der Zahl der Verteidiger, b) Verbot der gemeinschaftlichen Verteidigung, c) Ausschluss der Verteidigung, d) Überwachung des schriftlichen Verkehrs, e) Überwachung des mündlichen Verkehrs, vgl. Rebmann, Terrorismus und Rechtsordnung, 110 ff. 136 Hans-Jochen Vogel, Strafverfahrensrecht und Terrorismus – eine Bilanz, in: NJW, 31/1978, Heft 25, S. 1217–1228, hier S. 1219. 137 Interview in diesem Buch, S. 164. 134

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vom 9. Dezember 1974138 sowie durch das Gesetz zur Ergänzung des Ersten Gesetzes zur Reform des Strafverfahrensrechts vom 20. Dezember 1974.139 Es waren keine Beschlüsse nach langwierigen Diskussionen, sondern „unmittelbare Reaktion des Staates auf die Provokationen der RAF“.140 Die richterliche Voruntersuchung sowie das staatsanwaltschaftliche Schlussanhörungsverfahren vor Erhebung der Anklage wurden abgeschafft und die Staatsanwaltschaft ermächtigt, das Erscheinen des Beschuldigten, aber auch von Zeugen und Sachverständigen auf ihre Ladung hin zu erzwingen.141 Weiter wurden richterliche Vorrechte an die Staatsanwaltschaft überschrieben, der Spielraum von Staatsanwaltschaft und Polizei erweitert und die Auswahl der Wahl- und Pflichtverteidiger neu bestimmt.142 Der Rechtsanwalt Dahs konstatiert in der ‚Neuen Juristischen Wochenzeitung‘, dass die Rolle des Verteidigers durch die Strafrechtsänderungen eine erhebliche Veränderung erfahren habe: „Dem von staatlicher Bevormundung freien, mit neuen Rechten … ausgestatteten Verteidiger des Strafprozeßänderungsgesetzes 1964 steht im Jahre 1976 ein Verteidiger gegenüber, dessen Stellung durch Telefonüberwachung, Ausschluß von Beweiserhebungen der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren… Ausschließung aus dem Verfahren und Überwachung seiner Korrespondenz mit dem inhaftierten Klienten charakterisiert wird“.143 Nach seiner Ansicht seien die Beschränkungen der Verteidigung Eingriffe in das Prinzip der freien, sachlich-optimalen und von Justizorganen unbehinderten Verteidigung.144 Nicht nur der Deutsche Juristentag bemängelte die neuen Gesetze mit den Worten: „Jegliche Übertragung richterlicher Kompetenzen auf die Staatsanwaltschaft wird abgelehnt“,145 auch Strafrechtslehrer wie Gerald Grünwald erkannten in der Absetzung eines Verteidigers einen „Eingriff in das Grundrecht der freien Berufsausübung des Rechtsanwaltes; ein solcher Eingriff ist nur dann verfassungsmäßig, wenn er zur Abwendung einer Gefahr für die Rechtspflege erforderlich ist und wenn die Verhältnismäßigkeit zwischen Gefahr und Eingriff gewahrt wird“.146 Die Änderungen erhielten ihre Brisanz gerade vor dem Hintergrund, dass erst wenige Jahre zuvor Strafgesetzbuch und Strafprozessordnung liberalisiert und die Rechte der Angeklagten und Verteidiger gestärkt worden waren. 138 Erstes Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts (1. StVRG) vom 09.12.1974 (BGBl. I S. 3393–3416). 139 BGBl. I, S. 3686–3693. 140 Veronica Biermann, „Metropolenguerilla“ contra „Schweinesystem“ – „Rechtsstaat“ contra „Baader-Meinhof-Bande“, in: Christoph Jahr/Uwe Mai/Kathrin Roller (Hg.), Feindbilder in der deutschen Geschichte. Studien zur Vorurteilsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1994, S. 225–250, hier S. 242. 141 Blath/Hobe, Strafverfahren, S. 82. 142 Die Anti-Terror-Debatten im Parlament. Protokolle 1974–1978, zusammengestellt und kommentiert von Hermann Vinke und Gabriele Witt, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 19. 143 Dahs, „Das „Anti-Terroristen-Gesetz“ – eine Niederlage des Rechtsstaats, in: Neue Juristische Wochenschrift 29/1976, Heft 47, S. 2145–2151, hier S. 2151. 144 Ebd. 145 Ebd. 146 Zit. nach: Iring Fetscher, Terrorismus und Reaktion, Köln 1977, S. 85.

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Die sechziger Jahre hatten – so Dirk Blasius – „als Wasserscheide der bundesrepublikanischen Nachkriegsentwicklung … auch auf dem Feld der Rechtspolitik einen Liberalisierungsschub gebracht“.147 Oder, wie Lüderssen schreibt, gab es von „1965 bis 1970 eine Liberalisierung … 1970 bis 1978 eine Entliberalisierung des Strafrechts“.148 Dagegen wurde die Neubestimmung der Wahl- und Pflichtverteidiger am 18. Dezember 1974 im Bundestag mit den Worten begründet: „Die Gesetzes­ regelung ist erforderlich geworden, weil eine kleine Gruppe von etwa zwei Dutzend Anwälten ganz bewußt die Streichung der früher gegebenen Überwachungsmöglichkeiten dazu mißbraucht, eine revolutionäre Tätigkeit zu unterstützen. Wer so handelt, der ist kein Organ der Rechtspflege mehr … Nur um die Bekämpfung dieser Anwälte handelt es sich hier … Sie betreiben ihren revolutionären Kampf im Zusammenspiel mit ihren Mandanten“.149 Ebenso macht der Generalstaatsanwalt in Stuttgart, Klaus Pflieger, deutlich, dass die Strafrechtsänderungen notwendig gewesen seien, „allein sich vorzustellen, dass die Zahl der Verteidiger nicht beschränkt worden wäre …“.150 Jetzt wurde vorgeschrieben, dass ein Angeschuldigter in einem Verfahren nicht mehr als drei Wahlverteidiger151 haben durfte und ein Verteidiger nur noch jeweils einen Mandanten vertreten152 konnte. Zuvor waren infolge der „seinerzeit zulässigen Mehrfachverteidigung insgesamt 32 Anwälte tätig. Bei Anklageerhebung, am 2. Oktober 1974, betrug die Gesamtzahl der Verteidiger noch 30“.153 Nun wurden die Angeklagten aufgefordert, innerhalb einer zweiwöchigen Frist ihre Verteidiger zu nennen. Sollten sie dies nicht tun, galten sämtliche Wahlmandate als erloschen. Durch die Regelungen für den Ausschluss von Verteidigern und das Verbot der Mehrfachverteidigung verloren die Angeklagten nicht nur erfahrene und eingearbeitete Verteidiger, sondern auch das Recht, sich zu mehreren von demselben Verteidiger vertreten zu lassen. Auf die Folgen weist der Strafverteidiger Eschen hin, wonach sich für jede neue Verhandlung neue Rechtsanwälte in die zu Hunderten zählenden Akten mit Prozessmaterial einarbeiten mussten. Noch gravierender war, dass alle Rechtsanwälte, die jemals einen Mandanten aus der RAF verteidigt hatten, in den weiteren Prozessen nicht mehr eingesetzt werden konnten bzw. „verbraucht“ waren. Damit durften die älteren, erfahrenen Anwälte die Verteidigung nicht mehr übernehmen, „so daß den Angeklagten häufig zwar tüchtige und engagierte, gleichwohl aber junge, 147

Blasius, Geschichte, 1983, S. 23. Lüderssen, Kriminalpolitik auf verschlungenen Wegen? Aufsätze zur Vermittlung von Theorie und Praxis, Frankfurt/Main 1981, S. 226. 149 So das CDU-Mitglied Dr. Lenz. Vgl. Deutscher Bundestag. Stenographische Berichte – 7. Wahlperiode – 138. Sitzung, 18.12.1974, S. 9515. 150 Interview in diesem Buch, S. 192. 151 § 137 Abs. 1 S. 2 StPO. 152 § 146 StPO. 153 Gerhard Löchner, Politische Verteidigung in Verfahren gegen terroristische Gewalt­ täter, in: Festschrift für Kurt Rebmann zum 65. Geburtstag, hrsg. von Heinz Eyrich/Walter Odersky/Franz Jürgen Säcker, München 1989, S. 303–319, hier 311. 148

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unerfahrene Berufsanfänger zur Seite standen, während die Anklage von altgedienten Bundesanwälten vertreten wurde“.154 Die Zahl der Wahlverteidiger wurde auf drei beschränkt und die Unterbrechung für die Vorbereitung neuer Verteidiger aufgehoben. Dazu kamen Ausschlüsse von Strafverteidigern (Croissant, Groene­ wold und Ströbele), Entpflichtungen und Zurückweisungen von zehn Verteidigern sowie Ehrengerichtsverfahren gegen Anwälte wegen ihrer Verteidigung im Stammheim-Prozess. Vor dem Hintergrund der Schwierigkeit, persönliche Tatbeiträge individuell zuzuordnen, reagierte auch 1976 – wie bereits im Jahre 1974 – der Gesetzgeber, indem er das große „Anti-Terror-Paket“ beschloss, das der Bundestag am 18. August 1976 verabschiedete. Danach wurde mit dem § 129 a des Strafgesetzbuchs der Straftatbestand der „Bildung terroristischer Vereinigungen“ eingeführt,155 was zu einer Aufwertung des Straftatbestandes der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung führte. Bislang gab es nur den Straftatbestand der „Bildung krimineller Vereinigungen“ (§ 129 StGB). Die im Jahre 1951 vorgenommene Verschärfung des § 129 StGB mit dem Ziel „den organisierten Staatsfeind schon um dieser Organisation wegen zu treffen und ihn unschädlich zu machen, bevor er in Aktion treten kann“,156 schien jetzt nicht mehr auszureichen. Der Jurist Ingo Müller bemerkt hierzu: „Obwohl im bislang größten ‚Terroristenprozeß‘ … die Anklage sich auch nur auf den § 129 StGB stützen konnte, wurde im Spätsommer 1976 ein neuer Tatbestand in das Strafgesetzbuch eingerückt, der Gründung und Unterstützung einer ‚terroristischen Vereinigung‘, das Werben für sie und die Mitgliedschaft in ihr noch einmal gesondert unter Strafe stellte“.157 Nach seiner Meinung liege die Bedeutung des Straftatbestandes in der Fülle von Folgeregelungen, die dafür sorgten, dass für einen nach § 129 a StGB Angeklagten eine andere Rechtsordnung gelte. Sie reichte von der Zuständigkeit des Generalbundesanwalts, verschärften Fahndungsmaßnahmen (Straßensperren, Razzien, Durchsuchung ganzer Gebäudekomplexe, Festnahmen Unbeteiligter zu „erkennungsdienstlicher Behandlung“), Telefonüberwachung, Kontrolle des Schriftverkehrs des Inhaftierten mit seinem Verteidiger über die Anordnung von Untersuchungshaft ohne Haftgrund und der Isolierung der Gefangenen bis zu den Hauptverfahren vor speziellen Gerichten, den Staatsschutzkammern bzw. Staatsschutzsenaten der Oberlandes­ gerichte.158 Nach Auffassung von Rainer Hamm und Regina Michalke handelte es sich um „in höchstem Maße unerfreuliche rechtspolitische Auseinandersetzungen, an deren vorläufigem Ende eine Strafprozessordnung entstand, die gerade hin 154

Eschen, Rechtsstaat, S. 84. Rose Langer-Stein, Legitimation und Interpretation der strafrechtlichen Verbote krimineller und terroristischer Vereinigungen (§§ 129, 129a StGB), München 1987. 156 1. Strafrechtsänderungsgesetz, 30.08.1951, BGBl. I, S. 739–748. 157 Ingo Müller, Justiz und Politische Opposition, in: Helmut Janssen/Michael Schubert (Hg.), Staatssicherheit. Die Bekämpfung des politischen Feindes im Innern, Bielefeld 1990, S. 27–37, hier S. 35. 158 Ebd. 155

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sichtlich der Beschuldigten- und Verteidigerrechte weit hinter dem im Jahre 1964 erreichten Liberalisierungsstand zurückfiel“.159 Der Höhepunkt der Konfrontationen bildete das Jahr 1977, in dem am 7. April 1977 der Generalbundesanwalt Siegfried Buback, sein Fahrer Wolfgang Göbel sowie der Leiter der Fahrbereitschaft der Bundesanwaltschaft Georg Wurster, am 30. Juli 1977 der Bankier Jürgen Ponto und am 18./19. Oktober 1977 der Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer von der RAF getötet worden waren. Bei der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten am 5. September 1977 wurden sein Fahrer Heinz Marcisz und die Polizisten Reinhold Brändle, Helmut Ulmer und Roland Pieler erschossen. Auf diesen Entführungsfall reagierte die Legislative am 30. September 1977 mit dem Kontaktsperregesetz,160 „das schnellste Gesetz in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte … innerhalb von drei Tagen beschlossen von Bundestag und Bundesrat, unterzeichnet vom Bundespräsidenten und veröffentlicht im Gesetzesblatt. Normalerweise dauert so etwas ein Jahr“.161 Das Gesetz war bei vier Nein-Stimmen und 17 Enthaltungen durch Abgeordnete der Koalitionsfraktionen SPD und FDP in zweiter und dritter Lesung angenommen worden. Die sozialdemokratischen Abgeordneten Manfred Coppik, Karl-Heinz Hansen, Klaus Thüsing und Dieter Lattmann hatten ihre Zustimmung verweigert, da der „Kampf gegen den Terrorismus … nicht durch Sondergesetze gewonnen (wird), sondern durch eine entschlossene Anwendung des geltenden Rechts, verbunden mit einem glaubwürdigen und überzeugenden Einstehen für rechtsstaatliche Prinzipien“.162 Nach Ansicht des Frankfurter Strafverteidigers Erich Schmidt-Leichner handelte es sich bei dem Kontaktsperregesetz um ein „ausgesprochenes Notstandsgesetz“, das einen schweren Eingriff der Exekutive in die Rechte der Judikative, der Dritten Gewalt, bedeute.163 Die SPD-Bundestagsabgeordnete Herta Däubler-Gmelin beanstandete, die Berufung auf den übergesetzlichen rechtfertigenden Notstand des § 34 StGB sei problematisch und überdies unsicher.164 Auch der Justizsenator des Landes Berlin, Jürgen Baumann, äußerte in einem Interview am 5. Oktober 1977: „… das ist natürlich eine Geschichte, die aus rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht besonders angenehm ist, ad-hoc-Gesetze zu machen für einen bestimmten Personenkreis … Wenn aber noch hinzukommt, dass dieses Gesetz sehr stark eingreift in die Rechtsstellung des Verteidigers und in die Rechtsstellung auch des Beschuldig 159 Hamm/Michalke, Funktionswandel der Strafverteidigung, in: Anwälte und ihre Geschichte, S. 411–429, hier S. 415. 160 Gesetz zur Änderung des Einführungsgesetzes zum Gerichtsverfassungsgesetz, vgl. BGBl. I, S. 1877–1880. 161 Wesel, Die verspielte Revolution, S. 278. 162 So der Rechtsanwalt Manfred Coppik vor dem Bundestagsplenum, zit. nach: Vinke/Witt, Die Anti-Terror-Debatten, Reinbek 1978, S. 268. 163 Ebd. 164 Herta Däubler-Gmelin, Im Zweifel für die Grundrechte oder Kontaktsperre im Parlament, in: Sontheimer/Kallscheuer (Hg.), Einschüsse, Berlin 1987, S. 99–116, hier S. 100.

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ten, der nach der Menschenrechtskonvention bis zur Verurteilung als Unschuldiger zu behandeln ist, wenn das stark in diese Dinge eingreift, dann muss man sich andere Möglichkeiten einfallen lassen“.165 Auch nach Ansicht des BKA-Präsidenten, Horst Herold, war das Kontaktsperregesetz kontraproduktiv. Es sei schädlich gewesen, „weil seitdem kaum noch Erkenntnisse über das RAF-Umfeld gewonnen werden konnten“.166 Das Bundesverfassungsgericht hatte am 1. August 1978 festgestellt, dass dieses Gesetz mit dem Grundgesetz vereinbar sei und die Maßnahmen die betroffenen Gefangenen nicht übermäßig belasten würden. Zweifellos kamen die neuen Vorschriften – in kurzer Zeit allein sechs Gesetze mit insgesamt 27 Einschränkungen von Rechten der Verteidigung und Erleichterung für die Strafverfolgung durch Staatsanwaltschaft und Bundesanwaltschaft167 – verfassungsrechtlich einem Balanceakt gleich. Das äußerte selbst Bundeskanzler Schmidt mit der Aussage: „Ich kann nur nachträglich den deutschen Juristen danken, daß sie das alles nicht verfassungsrechtlich untersucht haben“.168 Damit verbunden war die Anforderung an die Judikative, im Kampf gegen die Staatsfeinde bis an die Grenzen des Rechtsstaates zu gehen. Jahre später schreibt der damalige Vorsitzende Richter und Nachfolger von Theo Prinzing im Stammheimer Verfahren, Foth, dass die Anwendung des „neuen Rechts“ für die Gerichte, „die von den neuen Regelungen ereilt wurden, … erhebliche Schwierigkeiten mit sich“169 gebracht hätte. Gerade die Strafrechtsänderungen der siebziger Jahre belegen, dass eine expandierende Strafgesetzgebung das Strafjustizsystem mit „einem ‚Input‘ (belastet), den es … auf die Dauer nur bewältigen kann, indem es kommunikative Standards des Strafprozesses herabsetzt, schützende Formen aufweicht, die Gesetzesbindung der Strafverfolgungsorgane lockert und Beschuldigtenrechte verkürzt“.170 Treffend konstatieren Hinrich Rüping und ­Günter ­Jerouschek, dass die Änderungen die vom Bundesverfassungsgericht „abgesicherte Tendenz (verstärken), im Konflikt zwischen Interessen der Allgemeinheit und solchen des individuell Betroffenen den Belangen einer ‚funktionstüchtigen Strafrechtspflege‘ den Vorrang zu geben“.171 Dass der Konflikt zwischen Verteidigung und Strafverfolgungsbehörden eskalierte, zeigt die von der Landesregierung Baden-Württemberg unter Minister­ präsident Hans Filbinger beschlossene Maßnahme, ihre Gespräche mit RAF-Un 165 Kommentarübersicht Fernsehen/Rundfunk, hrsg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Nachrichtenabteilung, 06.10.1977, S. 14 f. 166 Zit. nach: Prantl, Verdächtig. Der starke Staat und die Politik der inneren Unsicherheit, Hamburg 2002, S. 28. 167 Wesel, Im Innern der Festung. Die RAF-Prozesse – ein trübes Kapitel der bundesdeutschen Rechtsgeschichte, in: Die ZeitGeschichte, 06.09.2007, S. 68–70, hier S. 69. 168 Der Spiegel, 3/1979, Interview S. 32–45, hier S. 42. 169 Foth, Terrorismus, S. 389. 170 Thomas Vormbaum, „Politisches“ Strafrecht, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (ZStW) 107 (1995), Heft 4, S. 734–760, hier S. 747. 171 Hinrich Rüping/Günter Jerouschek, Grundriß der Strafrechtsgeschichte, 6. Auflage, München 2011, S. 115.

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tersuchungsgefangenen ab März 1975 abhören zu lassen. Tatsächlich wurden vom 25. April bis zum 9. Mai 1975 die Gespräche zwischen den Beschuldigten und ihren Verteidigern im Verfahren gegen Baader, Ensslin, Meinhof und Raspe in der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim „entgegen § 148 StPO heimlich abgehört. Anlass war der Stockholmer Anschlag vom 24. April 1975, der auch der Befreiung dieser Häftlinge dienen sollte und dessen Planung in dieser Anstalt vermutet wurde“.172 Vom 6. Dezember 1976 bis 21. Januar 1977 erfolgte ein erneutes Abhören, wobei dieser Aktion die Festnahme des Verteidigers Siegfried Haag und der RAF-Mitglieder Roland Mayer sowie Elisabeth van Dyck am 30. November 1976 zugrunde lag. Von diesen Abhörmaßnahmen, die erst Mitte März 1977 aufgedeckt wurden, waren weder das zuständige Gericht noch die Bundesanwaltschaft unterrichtet worden. Der damalige Vorsitzende Richter, Foth, schreibt Jahre später, dass das Abhören fast zum Abbruch des seit 21. Mai 1975 laufenden Verfahrens in Stuttgart-Stammheim geführt hätte. Nach seiner Meinung sei der Gesetzesbruch evident: „In diesen dem Strafverfahren unmittelbar zugeordneten Bereich durfte die Verwaltung nicht eindringen“.173 Zusätzlich zeigten diese Vorgänge, dass die Inanspruchnahme des § 34 StGB (rechtfertigender Notstand) durch staatliche Organe keineswegs ausdiskutiert gewesen sei. Dass das Abhören keine Fahndungsnachweise ergab, war nach Foth nicht verwunderlich. Die Angeklagten und Vertrauensverteidiger hätten dem Staat ohnehin nicht getraut und mit „ständiger Belauschung“ gerechnet.174 Auch Heinrich Maul, Richter am Oberlandesgericht Karlsruhe, stellte in der Deutschen Richterzeitung 1977 fest: „Darüber, daß eine wirksame Bekämpfung des Terrorismus erforderlich ist, gibt es keinen Streit. Ebenso sicher aber sollte sein, daß diese Bekämpfung nicht zu einem Abbau rechtsstaatlicher Grundsätze und verfassungsmäßiger Rechtsgarantien führen darf … Auch daß eine solche Gefahr besteht, sollte nicht bestritten werden; diese Gefahr ist durch die im März 1977 offenkundig gewordenen Abhörfälle durchaus deutlich geworden“.175 Die Anwälte machten deutlich, dass durch die Abhörmaßnahmen die verfassungsrechtlich wie gesetzlich garantierten Grundlagen der Strafverteidigung zerstört worden seien, „und zwar irreparabel: a) als illegaler Eingriff der Exekutive in das justizielle Verfahren, welches als Rechtsstaatsgebot ein ‚faires Verfahren‘ mit ‚Waffengleichheit‘ für den Angeklagten in seinem Verhältnis zum Ankläger garantiert, b) als die Vernichtung des Schweigerechts des Angeklagten, welches die absolute Vertraulichkeit seines Verteidigergesprächs einschließt“.176 Weiter kritisierten sie die Übermacht der Bundesanwaltschaft, die nicht auszugleichen sei. Sie verfüge „für die von ihr für zweckmäßig erachteten Ermittlungen über einen fast unbegrenzten personel 172

Foth, Terrorismus, S. 396. Siehe auch Interview in diesem Band, S. 170 f. Ebd. 174 Ebd. 175 Heinrich Maul, Gesetz gegen Terrorismus und Rechtsstaat, in: Deutsche Richterzeitung, 55/1977, S. 207–210, hier S. 207. 176 Schreiben des Rechtsanwalts Schily an das Oberlandesgericht Stuttgart, 18.01.1977; Bundesarchiv Koblenz, Bestand 362/3386, Bd. II, Bl. 2. 173

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len und materiellen Apparat … Das mit einem Etat von jährlich 130 Millionen DM und 2400 Mitarbeitern ausgestattete Bundeskriminalamt gibt der Bundesanwaltschaft jede nur erdenkliche Möglichkeit, in diesem Verfahren alles als Tatsache darzustellen, was sie als Tatsache darzustellen wünscht, ohne daß die auf fünf aktive Verteidiger reduzierte Verteidigerbank auch nur eine nennenswerte Chance hätte, den Sachverhalt im einzelnen zu überprüfen“.177 Betrachtet man die geschichtlichen Konfliktlinien und zum Teil heftigen Differenzen, erklärt sich, warum bislang weder die „graue Zone zwischen staatlichen und individuellen Interessen“ aufgelöst noch ein einheitliches Anwaltsbild entwickelt werden konnte. Vielleicht ist nach wie vor Traegers Auffassung gültig, die er im Rahmen der Sitzung des Berliner Anwaltsvereins am 12. November 1891 referierte: „Der ‚heftige Zusammenstoß‘ zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung sei allzu oft ‚fast unausweichlich‘. Angeraten sei daher ‚die strengste Pflicht der Selbstbeherrschung und Selbstüberwachung‘, um diejenigen Grenzen nicht zu überschreiten, deren Einhaltung im ‚persönlichen Interesse und im Interesse der Sache selbst geboten‘ sei“.178 Aber ungeachtet dessen dokumentieren die hier abgedruckten Interviews, dass bei allen Beteiligten nicht zuletzt eine größere Gelassenheit im Umgang mit solchen Konstellationen eingetreten zu sein scheint.

177

Schily, Antrag, 77. Traeger, Juristische Wochenschrift (JW) 1892, S. 74; zit. nach: Falk, Zur Geschichte, S. 442. 178

Zeittafel 1967 2. Juni 1967

Während einer Demonstration anlässlich des Schah-Besuchs in WestBerlin wird der Student Benno Ohnesorg von dem Polizisten Karl-Heinz Kurras erschossen.

1968 02./03.04.1968

Auf zwei Kaufhäuser in Frankfurt/Main werden Brandanschläge verübt. Die „Kaufhausbrandstifter“ Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Horst Söhnlein und Thorwald Proll werden drei Tage später festgenommen.

31.10.1968

Landgericht (im Folgenden: LG) Frankfurt: Urteil gegen Baader, Ensslin, Söhnlein und Proll (jeweils drei Jahre Freiheitsstrafe), Revision wird eingelegt.

1969 13.06.1969

Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Horst Söhnlein und Thorwald Proll erhalten bis zur Entscheidung der Revision Haftverschonung.

12.11.1969

Der Bundesgerichtshof verwirft die Revision. Die Verurteilten sollen eine Freiheitsstrafe von 22 Monaten verbüßen, lediglich Söhnlein kommt der Ladung zum Strafantritt nach.

November 1969

Andreas Baader und Gudrun Ensslin fliehen von Frankfurt nach Paris. Astrid Proll folgt ihnen.

1970 Februar/März 1970 Andreas Baader und Gudrun Ensslin kehren auf Betreiben Horst Mahlers in die Bundesrepublik zurück und diskutieren gemeinsam mit Ulrike Meinhof die Gründung einer „Stadtguerilla“ 04.02.1970

Ein Gnadengesuch für die Brandstifter wird abgelehnt. Baader und Ensslin kommen der Aufforderung, ihre Strafe anzutreten, nicht nach.

04.04.1970

Baader wird bei einer Verkehrskontrolle in Westberlin verhaftet.

14.05.1970

Bei einer Ausführung in der Bibliothek des Deutschen Zentralinstituts für Soziale Fragen (Berlin-Dahlem) wird Andreas Baader von Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, Astrid Proll, Irene Goergens, Ingrid Schubert und Hans-Jürgen Bäcker befreit. Der Institutsangestellte Georg Linke wird schwer verletzt und nach Meinhof gefahndet.

Zeittafel Zeittafel

305

Ende Mai/ In „agit 883“ erscheint die erste öffentliche Erklärung der RAF unter Anfang Juni 1970 dem Titel „Die Rote Armee aufbauen“. Sommer 1970

RAF-Mitglieder, u. a. Horst Mahler, Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof, Peter Homann, Brigitte Asdonk reisen nach Jordanien. Dort unterziehen sie sich in einem Lager der palästinensischen El Fatah einer paramilitärischen Ausbildung.

29.09.1970

In Westberlin überfallen RAF-Mitglieder zeitgleich drei Banken.

08.10.1970

Horst Mahler, Irene Goergens, Ingrid Schubert, Brigitte Asdonk und Monika Berberich werden verhaftet. Die RAF verlagert ihre Tätigkeit in das westdeutsche Bundesgebiet.

20.12.1970

Karl-Heinz Ruhland wird verhaftet und macht als erster Aussagen über die Gruppe.

1971 April 1971

Das RAF-Strategiepapier „Das Konzept Stadtguerilla“ wird veröffentlicht.

21.05.1971

LG Berlin: Urteil gegen Ingrid Schubert (6 J), Irene Goergens (4 J Jugendstrafe) wegen gemeinschaftlichen versuchten Mordes.

15.07.1971

Während der größten Fahndungsaktion in der bundesdeutschen Geschichte wird Petra Schelm in Hamburg erschossen.

22.10.1971

Der Polizeibeamte Norbert Schmid wird im Einsatz als Zivilfahnder bei einer versuchten Festnahme in Hamburg von RAF-Mitglied Gerhard Müller erschossen.

1972 Januar 1972

Bildung der Gruppe „Bewegung 2. Juni“ in Berlin

11.05.1972

In Frankfurt/Main verübt das „Kommando Petra Schelm“ einen Sprengstoffanschlag auf das US-Hauptquartier des V. Corps der US-Armee. Oberstleutnant Paul Bloomquist stirbt, 13 Personen werden verletzt.

12.05.1972

In Augsburg erfolgt ein Sprengstoffanschlag auf die Polizeidirektion, sieben Personen werden verletzt. In München wird am selben Tag vor dem Bayerischen Landeskriminalamt eine Autobombe gezündet, zehn Personen werden verletzt.

15.05.1972

In Karlsruhe verübt das „Kommando Manfred Grashof“ einen Sprengstoffanschlag auf den PKW des BGH-Ermittlungsrichters Wolfgang Buddenberg. Seine Ehefrau wird schwer verletzt.

19.05.1972

In Hamburg verübt das „Kommando 2. Juni“ einen Sprengstoffanschlag auf das Springer-Verlagshaus, 17 Mitarbeiter werden verletzt.

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Zeittafel Zeittafel

24.05.1972

In Heidelberg verübt das „Kommando 15. Juli“ einen Sprengstoffanschlag auf das US-Hauptquartier. Captain Clyde R. Bonner und die Soldaten Ronald A. Woodward und Charles L. Peck werden getötet.

26.07.1972

LG Hamburg: Urteil gegen Werner Hoppe wegen versuchten Mordes (10 Jahre Freiheitsstrafe).

1973 22.11.1973

LG Berlin: Urteil gegen Heinrich „Ali“ Jansen wegen zweifachen Mordversuchs (10 J).

1974 28.06.1974

Berlin: Urteil gegen Brigitte Asdonk (10 J), Hans-Jürgen Bäcker (9 J), Monika Berberich (12 J), Irene Goergens (7 J Jugendstrafe), Eric Grusdat (10 J), Ingrid Schubert (13 J) wegen Vergehens nach § 129 StGB

29.11.1974

LG Berlin: Urteil gegen Horst Mahler (14 J) und Ulrike Meinhof (8 J.).

09.11.1974

Holger Meins stirbt nach 54 Tagen an den Folgen des Hungerstreiks in der Strafanstalt Wittlich.

10.11.1974

In Westberlin ermorden Mitglieder der Bewegung 2. Juni den Präsidenten des Kammergerichts, Günter von Drenkmann.

12.12.1974

LG Berlin: Urteil gegen Verena Becker (6 J Jugendstrafe)

18.12.1974

LG Berlin: Urteil gegen Ingrid Siepmann (12 J), Annerose Reiche (7 J).

1975 27.02.1975

Peter Lorenz, CDU-Spitzenkandidat in Westberlin, wird von der Bewegung 2. Juni entführt. Die Entführer fordern die Freilassung von Verena Becker, Gabriele Kröcher-Tiedemann, Ingrid Siepmann, Rolf Heißler, Rolf Pohle und Horst Mahler. Bis auf Mahler – dieser lehnt ab – werden die vier Inhaftierten am 03.03.975 nach Aden im Jemen ausgeflogen. Lorenz wird am 04.03.1975 freigelassen.

24.04.1975

Überfall auf die deutsche Botschaft in Stockholm. Karl-Heinz Dellwo, Siegfried Hausner, Hanna Krabbe, Bernhard Rössner, Lutz Taufer und Ulrich Wessel nehmen zwölf Geiseln und fordern die Freilassung von 26 RAF-Mitgliedern, u. a. Baader, Ensslin, Meinhof und Raspe. Der Militärattaché Andreas von Mirbach und der Botschaftsrat Heinz Hillegaart werden ermordet.

21.05.1975

Oberlandesgericht (Im Folgenden: OLG) Stuttgart: Prozessbeginn gegen die RAF-Gründungsmitglieder Baader, Ensslin, Meinhof und Raspe.

Zeittafel Zeittafel

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1976 6.03.1976

LG Hamburg: Urteil gegen Irmgard Möller (4 J 6 M) und Gerhard Müller (10 J). Müller, der verdächtigt wird, einen Polizeibeamten ermordet zu haben, erhält für seine Aussagen als „Kronzeuge“ Strafnachlass.

09.05.1976

Meinhof begeht in der JVA Stuttgart Selbstmord.

28.09.1976

LG Hamburg: Urteil gegen Christa Eckes (7 J), Helmut Pohl (5 J), Ilse Stachowiak (4 J 6 M Jugendstrafe), Eberhard Becker (4 J 6 M), Ekkehard Blenck (3 J), Kay-Werner Allnach (2 J), Wolfgang Beer (4 J 6 M Jugendstrafe), Margrit Schiller (4 J 8 M) wegen Vergehens nach § 129 StGB.

1977 07.04.1977

Der Generalbundesanwalt Siegfried Buback und seine Begleiter Wolfgang Göbel sowie Georg Wurster werden ermordet.

28.04.1977

OLG Stuttgart: Urteil gegen Baader, Ensslin und Raspe wegen ­vierfachen Mordes und 34-fachen versuchten Mordes (jeweils lebenslänglich).

02.06.1977

LG Kaiserslautern: Urteil gegen Klaus Jünschke und Manfred Grashof (jeweils lebenslänglich), Wolfgang Grundmann (4 J).

20.07.1977

OLG Düsseldorf: Urteil gegen Karl-Heinz Dellwo, Bernhard Rössner, Lutz Taufer und Hanna Krabbe (jeweils lebenslänglich) .

30.07.1977

Das Kommando „Aktion Roter Morgen“ tötet in Oberursel den Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank, Jürgen Ponto.

05.09.1977

Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer. Bei dem Überfall werden Reinhold Brändle, Helmut Ulmer und Roland Pieler ermordet.

28.09.1977

LG Hamburg: Urteil gegen Helmut Pohl (5 J), Christa Eckes (7 J) und Wolfgang Beer (4 J 6 M).

13.10.1977

Entführung der Lufthansamaschine „Landshut“ durch ein palästinensisches Kommando. An Bord sind 86 Geiseln.

18.10.1977

In Mogadischu wird die „Landshut“ gestürmt. Sämtliche Passagiere werden befreit. In der JVA Stuttgart begehen Baader, Ensslin und Raspe Selbstmord.

19.10.1977

Hanns Martin Schleyer wird ermordet.

12.11.1977

Ingrid Schubert erhängt sich in der JVA München-Stadelheim.

20.12.1977

Utrecht: Urteil gegen Knut Folkerts (20 J) und spätere Auslieferung in die Bundesrepublik.

28.12.1977

OLG Stuttgart: Urteil gegen Verena Becker wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und eines Schusswechsels mit Polizeibeamten (lebenslänglich).

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Zeittafel Zeittafel

1978 26.04.1978

OLG Stuttgart: Urteil gegen Günter Sonnenberg (lebenslänglich).

14.12.1978

OLG Stuttgart: Urteil gegen Volker Speitel (3 J 2 M) und Hans-Joachim Dellwo (2 J). Die Angeklagten erhalten Strafnachlass, da sie mit den Behörden kooperiert hatten.

1979 02.05.1979

OLG Hamburg: Urteil gegen Christine Kuby (lebenslänglich)

31.05.1979

LG Heidelberg: Urteil gegen Irmgard Möller (lebenslänglich)

30.11.1979

OLG Düsseldorf: Urteil gegen Angelika Speitel (lebenslänglich).

1980 22.02.1980

OLG Frankfurt/Main: Urteil gegen Astrid Proll, unter anderem wegen Raubüberfalls und Urkundenfälschung (5 J 6 M).

31.07.1980

OLG Düsseldorf: Urteil gegen Knut Folkerts wegen dreifachen Mordes (lebenslänglich).

05.09.1980

OLG Düsseldorf: Urteil gegen Christof Wackernagel und Gert Schneider wegen Mordversuchs und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (jeweils 15 J).

26.09.1980

OLG Düsseldorf: Urteil gegen Rolf Clemens Wagner (lebenslänglich).

13.10.1980

OLG Berlin: Urteil gegen Ralf Reinders (15 J), Ronald Fritzsch (13 J 3 M), Gerald Klöpper (11 J 2 M), Till Meyer (15 J ), Andreas Vogel (10 J Jugendstrafe). Die Angeklagten, die der Bewegung 2. Juni angehörten, werden unter anderem für die Entführung von Peter Lorenz am 27. Februar 1975 verantwortlich gemacht.

1981 15.05.1981

Kammergericht (im Folgenden: KG) Berlin: Urteil gegen Gabriele Rollnik (15 J), Angelika Goder (15 J), Klaus Viehmann (15 J), Gudrun Stürmer (4 J 6 M) wegen Vergehens nach § 129 a StGB.

04.12.1981

OLG Düsseldorf: Urteil gegen Stefan Wisniewski, unter anderem wegen Mittäterschaft an der Schleyer-Entführung (lebenslänglich).

1982 16.06.1982

OLG Frankfurt/Main: Urteil gegen Sieglinde Hofmann wegen Beteiligung an der Planung der Ponto-Entführung am 30. Juli 1977 (15 J).

Zeittafel Zeittafel 10.11.1982

309

Düsseldorf: Urteil gegen Rolf Heißler wegen Mord an einem Polizei­ beamten und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (zweimal lebenslänglich und 15 J).

1984 07.05.1984

OLG Stuttgart: Urteil gegen Peter-Jürgen Boock wegen Beteiligung an der Ermordung von Hanns Martin Schleyer und Jürgen Ponto (dreimal lebenslänglich und 15 J – Teilrevision am 28.11.1986 – lebens­ länglich).

1985 01.02.1985

Ermordung des Vorstandsvorsitzenden der Motoren- und Turbinenunion (MTU), Ernst Zimmermann.

13.03.1985

OLG Düsseldorf: Urteil gegen Adelheid Schulz, unter anderem wegen Beteiligung an der Schleyer-Entführung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (dreimal lebenslänglich).

02.04.1985

OLG Stuttgart: Urteil gegen Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar wegen RAF-Aktionen im Zeitraum der Jahre 1977 bis 1981 (jeweils fünfmal lebenslänglich).

1986 20.03.1986

OLG Stuttgart: Urteil gegen Manuela Happe (15 J) und Christa Eckes (8 J).

09.07.1986

Sprengstoffanschlag auf das Fahrzeug des Siemens-Vorstandsmitglieds Karl Heinz Beckurts. Er und sein Fahrer Eckhard Groppler werden ­getötet.

10.10.1986

Ermordung des Ministerialdirektors im Auswärtigen Amt, Gerold von Braunmühl.

23.12.1986

OLG Düsseldorf: Urteil gegen Stefan Frey (4 J 6 M) und Helmut Pohl (lebens­länglich).

1987 16.03.1987

OLG Düsseldorf: Urteil gegen Rolf Clemens Wagner (lebenslänglich).

1988 28.06.1988

OLG Stuttgart: Urteil gegen Eva Haule (15 J).

310

Zeittafel Zeittafel

1989 30.11.1989

Tödlicher Sprengstoffanschlag auf den Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen.

1991 01.04.1991

Ermordung des Vorsitzenden der Treuhandanstalt, Detlev Karsten Rohwedder.

03.06.1991

OLG Stuttgart: Urteil gegen Susanne Albrecht (12 J).

03.07.1991

OLG Koblenz: Urteil gegen Henning Beer (6 J Jugendstrafe).

08.10.1991

OLG Stuttgart: Urteil gegen Silke Maier-Witt (10 J).

1992 24.02.1992

OLG Stuttgart: Urteil gegen Monika Helbing (7 J).

11.03.1992

Bayerisches Oberstes Landesgericht: Urteil gegen Werner Lotze (11 J).

22.06.1992

OLG Stuttgart: Urteil gegen Sigrid Sternebeck (8 J 6 M) und Ralf Baptist Friedrich (6 J 6 M).

26.08.1992

OLG Koblenz: Urteil gegen Inge Viett (13 J).

1993 18.10.1993

OLG Stuttgart: Urteil gegen Ingrid Jakobsmeier (15 J).

24.11.1993

OLG Düsseldorf: Urteil gegen Rolf Clemens Wagner (lebenslänglich).

1994 28.04.1994

OLG Frankfurt: Urteil gegen Eva Haule (lebenslänglich).

1998 29.06.1998

OLG Frankfurt: Urteil gegen Birgit Hogefeld (lebenslänglich)

2001 15.05.2001

OLG Stuttgart: Urteil gegen Andrea Klump (9 J).

(Quelle: Gisela Diewald-Kerkmann, Frauen, Terrorismus und Justiz. Prozesse gegen weib­ liche Mitglieder der RAF und der Bewegung 2. Juni – Schriften des Bundesarchivs, Nr. 71 – Düsseldorf 2009, S. 309–316)

Zu den Herausgeberinnen Gisela Diewald-Kerkmann

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Gisela Diewald-Kerkmann ist apl. Professorin für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Universität Bielefeld (Lehrbefähigung für das Fach ­Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts). Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Geschichte des Nationalsozialismus, Geschichte der politischen Gewalt im 19. und 20. Jahrhundert, Geschichte des Terrorismus im 20. Jahrhundert und Rechtsgeschichte nach 1945. In ihrer Habilitationsschrift, veröffentlicht im Jahre 2009 in der Reihe „Schriften des Bundesarchivs“, behandelt sie das Thema: „Frauen, Terrorismus und Justiz. Prozesse gegen weibliche Mitglieder der RAF und der Bewegung 2. Juni“. Sie promovierte mit einer Dissertation zum Thema: „­Politische Denunzia­tion im NS-Regime“.

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Ingrid Holtey

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Ingrid Holtey ist Professorin für Allgemeine Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte an der Universität Bielefeld u. assoziiertes Mitglied des ­Centre de sociologie europénne (CSE/EHESS-Paris). Forschungsschwerpunkte: Transnationale soziale Bewegungen von den 68er Bewegungen bis Occupy Wall Street, Studien zum Mandat des Intellektuellen von Voltaire bis Subcomandante Marcos, Konstellationsanalysen des literarischen Feldes in Deutschland von der historischen Avantgarde bis zur Post­ moderne. Habilitation 1994, Universität Freiburg, mit: „‚Die Phantasie an die Macht‘. Mai 68 in Frankreich“, Dissertation, Heidelberg 1985: „Das Mandat des Intellektuellen. Karl ­Kautsky und die Sozialdemokratie“.