Zwischen Christuskreuz und Hakenkreuz: Biografien von Theologen der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Sachsens im Nationalsozialismus [1 ed.] 9783737007269, 9783847107262

190 27 3MB

German Pages [329] Year 2017

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Zwischen Christuskreuz und Hakenkreuz: Biografien von Theologen der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Sachsens im Nationalsozialismus [1 ed.]
 9783737007269, 9783847107262

Citation preview

Konstantin Hermann / Gerhard Lindemann (Hg.) Zwischen Christuskreuz und Hakenkreuz Biografien von Theologen der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Sachsens im Nationalsozialismus

Berichte und Studien Nr. 75 herausgegeben vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V.

Konstantin Hermann / Gerhard Lindemann (Hg.)

Zwischen Christuskreuz und Hakenkreuz Biografien von Theologen der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Sachsens im Nationalsozialismus

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2366-0422 ISBN 978-3-7370-0726-9 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Umschlagabbildung: Walter Hahn: Ruine der Frauenkirche Dresden mit zerstörtem Luther-Denkmal (um 1946). Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek, Deutsche Fotothek, df_0314657. 1. Aufl. 2017 © 2017, V&R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Dresden

Inhaltsverzeichnis

Konstantin Hermann / Gerhard Lindemann Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Deutsche Christen und im Dienst der Nationalsozialisten stehende Pfarrer Konstantin Hermann unter Mitarbeit von Wilhelm Knabe Wandlungen: Erich Knabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Christian Löhr Mit Luther für den Herrn Christus und die deutsche Seele: Adolf Münnich  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Gerhard Lindemann Friedrich Coch: Der Weg einer »braunen Karriere« in der Landeskirche . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Konstantin Hermann Von den Deutschen Christen abgefallen: Otto Fügner  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Nikola Schmutzler Die Pfarrer Friedrich Bohland und Horst Ficker: Eine Gemeinde im Kirchenkampf  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Christoph Hanzig »Wir haben nichts zu verbergen!« – Der Anstaltspfarrer Johannes Axt und die NS-»Euthanasie« in der Landesanstalt Großschweidnitz . . . . . . . . . 117

6 Inhaltsverzeichnis

Die »Mitte« Nikola Schmutzler Johannes Herz: Mitbegründer der sächsischen »Mitte«  . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Mike Schmeitzner Oskar Bruhns: Ein »ehrlicher Makler« im Kirchenkampf? . . . . . . . . . . . . . . . 151 Mandy Rabe Ernst Loesche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Mandy Rabe Willy Gerber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Die Bekennende Kirche Karl-Hermann Kandler Arndt von Kirchbach  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Roland Biewald Friedrich Delekat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Politisch und »rassisch« verfolgte Theologen Lisa Jenke Rudolf Stempel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Konstantin Hermann Häftling in Dachau: Walter Kaiser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Gerhard Lindemann Heinrich Gottlieb: Deutsch-völkisches Engagement – als »Jude« verfolgt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Konstantin Hermann Der Individualpsychologe Erhard Starke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

Inhaltsverzeichnis

7

Gerhard Reuter Johannes Grosse: Lehrer, Pfarrer, Querdenker in vier Gesellschaftsordnungen . . . . . . . . . . . . . 301 Anhang  Abkürzungsverzeichnis .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327



Konstantin Hermann / Gerhard Lindemann  Einleitung

Die Reaktionen der Mehrheit der evangelischen Pfarrerschaft und der »Kerngemeinden« in Deutschland auf die Übernahme der politischen Macht durch Adolf Hitler und die von ihm angeführten Nationalsozialisten bewegten sich von euphorischer Begeisterung bis zumindest verhaltener Zustimmung. Skep­ tiker oder gar Kritiker befanden sich in der Minderheit. In Sachsen war die ­Ausgangslage ähnlich. Einen wesentlichen Anknüpfungspunkt stellte Punkt 24 des NSDAP-Programms von 1920 dar, wonach die junge Partei »den Standpunkt eines positiven Christentums« vertrat.1 Angesichts der formalen religiösen Neutralität der ­Weimarer Reichsverfassung – tatsächlich besaßen die Kirchen weiterhin eine Reihe von Privilegien2 – sahen viele der in der evangelischen Kirche Aktiven in dieser Ankündigung ein klares Bekenntnis zum christlichen Glauben, worin sie eine große Verheißung für die Kirche erblickten. Dabei übersahen sie, dass der gleiche Artikel den Kirchen untersagte, gegen die ideologischen Grundlagen des geplanten neuen Staates Position zu beziehen.3 Das wurde entweder ignoriert oder, bei Mitgliedern oder aktiven Anhängern der NSDAP, auch bejaht. Angesichts der schweren Krise der Weimarer Republik im Kontext der katastrophalen weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen waren viele Protestanten nicht mehr bereit, der in Deutschland noch jungen parlamentarischen Demokratie eine weitere Chance zu geben. In Sachsen kam erschwerend hinzu, dass ein im Vergleich zum Reich zunächst deutlich schärferer kirchenpolitischer Kurs 1 2

3

Das Parteiprogramm der NSDAP (24.2.1920). Abgedruckt in Siegfried Hermle/Jörg Thierfelder (Hg.), Herausgefordert. Dokumente zur Geschichte der Evangelischen Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 2008, S. 29–32, hier 31. Vgl. die staatskirchenrechtlichen Artikel der Weimarer Reichsverfassung in Ernst Rudolf ­Huber/Wolfgang Huber, Staat und Kirche im 20. Jahrhundert. Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts. Band IV: Staat und Kirche in der Weimarer Republik, Berlin (West) 1988, S. 128–132. Vgl. Hermle/Thierfelder (Hg.), Herausgefordert, S. 31.

10

Konstantin Hermann / Gerhard Lindemann

seitens der linken Staatsregierung das Hineinwachsen des landeskirchlichen Protestantismus in die neue Staatsform nicht gerade erleichterte.4 Bis in die evangelischen Kirchenleitungen hinein sah man seit 1930/31 im Nationalsozialismus die »neue deutsche Freiheitsbewegung«.5 Bereits vor 1933 überwogen auf sächsischen Pfarrerkonferenzen und Bezirkssynoden, wenn sie sich mit der NSDAP befassten, zustimmende Voten. Immer wieder waren landeskirchliche Geistliche auf Kundgebungen der Partei auf dem Rednerpodium zu finden.6 Nicht wenige Punkte auf der politischen Agenda der NSDAP stießen im Protestantismus verbreitet auf eine positive Resonanz, darunter eine Revision des Versailler Friedensvertrags von 1919, die Stärkung der Staatsautorität, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die Übereinstimmung der staatlichen Grenzen Deutschlands mit den sogenannten Volkstumsgrenzen7 oder auch, weniger explizit, die rechtliche Diskriminierung der Juden.8 Hinzu kamen die Furcht vor dem »Bolschewismus« sowie ein Unbehagen gegenüber einer pluralistischen Gesellschaft.9 Überdies kongruierte der Volksgemeinschaftsgedanke mit einem verbreiteten antiindividualistischen Einstellungsmuster.10 Erste Maßnahmen der Regierung Hitler, wie der Abbau der Grundrechte oder der Boykott jüdischer Geschäfte, Arzt- und Rechtsanwaltspraxen, wurden hingenommen und von prominenten Theologen der Landeskirche, darunter der Dresdner Superintendent Hugo Hahn, später die Führungsfigur der sächsischen Bekennenden Kirche (BK) und erster Nachkriegsbischof in Sachsen, öffentlich gerechtfertigt. Die neue Regierung hätte den Protestantismus leicht in seiner breiten Mehrheit für sich gewinnen können, wenn sie nicht im Zuge ihrer »Gleichschaltungspolitik« die Strategie verfolgt hätte, die kirchliche Lehre und Verkündigung gänzlich an die NS-Ideologie anzupassen. Hatte man im deutschen Protestantismus nach der Novemberrevolution 1918 mit breiter Mehrheit den Wegfall des landesherrlichen Kirchenregiments und damit das Ende der engen Verbindung von Thron und Altar heftig beklagt, lernte man in den Kirchenleitungen spätestens seit der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre das staatlicherseits garantierte Prinzip einer sehr weiten kirchlichen Selbstverwaltung zunehmend schätzen.   4

Vgl. Gerhard Lindemann, Das Kreuz mit der Politik. Die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens im 20. Jahrhundert. In: Achtung Kurzschluss! Religion und Politik. Hg. von der Sächsischen Landeszentrale für Politische Bildung, Dresden 2016, S. 237–261, hier 239 ff.   5 Kurt Nowak, Evangelische Kirche und Weimarer Republik. Zum politischen Weg des deutschen Protestantismus zwischen 1918 und 1932, Weimar 1981, S. 315.   6 Vgl. Lindemann, Kreuz, S. 241.   7 Vgl. Kurt Nowak, Geschichte des Christentums in Deutschland. Religion, Politik und Gesellschaft vom Ende der Aufklärung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, München 1995, S. 240.   8 Vgl. Joachim Mehlhausen, Nationalsozialismus und Kirchen. In: Theologische Realenzyklopädie, Band 24, Berlin 1994, S. 43–78, hier 48.   9 Vgl. ebd. 10 Vgl. Christoph Strohm, Die Kirchen im Dritten Reich, München 2011, S. 14.

Einleitung

11

In Sachsen gelang es der neuen Staatsregierung, ein nach dem Tod von Landesbischof Ludwig Ihmels am 7. Juni 1933 entstandenes Machtvakuum zu nutzen und gegen Ende des Monats das in der NSDAP-Gauleitung verankerte Parteimitglied Friedrich Coch – zunächst als kommissarischen – Landesbischof zu installieren. Das sich bald auf die Kirchenpartei der Deutschen Christen stützende Kirchenregiment Cochs verfolgte die Politik einer Anpassung der Landeskirche an Grundsätze der NS-Politik und -Ideologie.11 Als Reaktion entstand Ende Oktober 1933 auch in Sachsen ein Pfarrernotbund, der sich zunächst vor allem gegen die Übertragung der staatlichen Berufsbeamtengesetzgebung auf den kirchlichen Bereich wehrte. Es handelte sich um eine der beiden Wurzeln der sächsischen Bekennenden Kirche, die Ende April 1934 entstand. Hier war das Gemeindeund Laienelement besonders stark ausgeprägt.12 Geleitet wurde die Bekenntnisgemeinschaft von einem Landesbruderrat – das Prinzip gemeinsamer Beratung setzte die Bekennende Kirche dem von den Deutschen Christen auf den kirchlichen Bereich übertragenen Führerprinzip entgegen. Prominente Laien waren unter anderem der frühere christliche Gewerkschafter und spätere Präses der Landessynode Reimer Mager, der Kirchenjurist Erich Kotte,13 Studienrat Adalbert Küntzelmann (Chemnitz), der Reisesekretär Martin Richter, bis zu seiner Versetzung nach Brandenburg 1937 der Richter am Chemnitzer Landgericht und spätere Gründer der Aktion Sühnezeichen Lothar Kreyssig, der 1935 Präses der Synode der Bekennenden Kirche Sachsens wurde,14 oder die sächsische Literatin Esther von Kirchbach. Sie war 1945 im kirchlichen Neuordnungsprozess die einzige Frau im Beirat des sächsischen Landeskirchenamts15 und sei wie zum Beispiel Katharina Herz16 auch stellvertretend für die vielen Pfarrfrauen genannt, die ihre Ehemänner unterstützten. Ebenfalls 1934 entstand die in Sachsen besonders gewichtige »kirchliche ­Mitte«.17 Sie war nominell kirchenpolitisch neutral und wollte die Gemeinden 11 12

Näheres dazu in diesem Band in dem Beitrag von Gerhard Lindemann zu Friedrich Coch. Vgl. Georg Prater (Hg.), Kämpfer wider Willen. Erinnerungen des Landesbischofs von Sachsen D. Hugo Hahn aus dem Kirchenkampf 1933–1945, Metzingen 1969, S. 45 f. 13 Vgl. Andreas P. Seidel, Erich Kotte (1886–1961). Kirchen- und staatskirchenrechtliche Entwicklungen von der Weimarer Republik bis zum Ende der fünfziger Jahre in der DDR, Tübingen 2016. 14 Vgl. Konrad Weiß, Lothar Kreyssig. Prophet der Versöhnung, Gerlingen 1998; Hans-Joachim Döring (Hg.), Lothar Kreyssig. Aufsätze, Autobiografie und Dokumente, Leipzig 2011. 15 Vgl. Hannelore Sachse, Esther von Kirchbach (1894–1946). »Mutter einer ganzen Landeskirche«. Eine sächsische Pfarrfrau in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Lebensbild und Persönlichkeitsprofil, Oldenburg 2009. Zu ihrem Ehemann Arndt von Kirchbach vgl. den Beitrag von Karl-Hermann Kandler in diesem Band. 16 Vgl. den Beitrag von Nikola Schmutzler zu Johannes Herz in diesem Band. 17 Vgl. jetzt grundlegend Mandy Rabe, Zwischen den Fronten. Die »Mitte« als kirchenpolitische Gruppierung in Sachsen während der Zeit des Nationalsozialismus, Leipzig 2017. Die nun gedruckt vorliegende Leipziger Dissertation erschien erst nach der redaktionellen Bearbeitung der Beiträge.

12

Konstantin Hermann / Gerhard Lindemann

nach Möglichkeit aus dem kirchenpolitischen Grundsatzkonflikt heraushalten.18 Das war auch ein Grund, weshalb sie vor allem aus Geistlichen bestand.19 Außer in der Kirchenausschusszeit, wo ihre Mitgliederzahlen höher waren, gehörte ihr ungefähr ein Drittel der sächsischen Pfarrerschaft an.20 Im Rahmen der Befriedungspolitik des Reichskirchenministers Hanns Kerrl erhielt im November 1935 auch Sachsen einen Landeskirchenausschuss. Angesichts des harten Kurses unter Coch, der im Amt blieb, aber weitgehend entmachtet wurde, stimmte auch die sächsische Bekennende Kirche dem Gremium zu, in dem die Deutschen Christen in der Minderheit waren und ihr radikaler Flügel fehlte. Der Ausschuss verfolgte die Politik Cochs der Herstellung einer Synthese zwischen Christentum und NS-Ideologie nicht weiter, allerdings erwies er sich in seinen politischen Erklärungen stets als staatsloyal. Vier der fünf Mitglieder des neuen Leitungsgremiums gehörten der NSDAP an.21 Nach der staatlichen Abberufung des Landeskirchenausschusses im August 1937 übernahm Cochs ehemaliger Adjutant, der fanatische Antisemit Johannes Klotsche, weder Theologe noch Jurist, die Leitung der Landeskirche. Seine Amtszeit begann mit seinem aktiven Mitwirken an der gewaltsamen Vertreibung des Landeskirchenausschusses aus dem Landeskirchenamt. 1938 wurde der Bruderratsvorsitzende Hugo Hahn aus Sachsen ausgewiesen. Die beiden letzten im Pfarrdienst verbliebenen Pfarrer jüdischer Herkunft, Heinrich Gottlieb (Dresden) und Ernst Lewek (Leipzig), wurden 1938 von ihren Pfarrämtern suspendiert, am 17. Dezember 1941 folgte der Ausschluss der Christen jüdischer Herkunft aus der Landeskirche. Damit war das Sakrament der Taufe in Sachsen (und einigen weiteren deutschchristlichen Landeskirchen) zumindest partiell außer Kraft gesetzt. Überdies unterstützte die Landeskirche seit 1939 das Eisenacher »Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das kirchliche Leben des deutschen Volkes«22 finanziell und logistisch. Nicht zuletzt aufgrund der rücksichtslosen Umsetzung antisemitischer Prinzipien in der Kirchenpolitik zählte Sachsen 1945 zu den »zerstörten« Landes­ kirchen, doch betraf das nicht die gesamte Kirche. Bekennende Kirche und ­»Mitte« verfügten weiterhin über arbeitsfähige Strukturen, beide übernahmen

18 Vgl. Nikola Schmutzler, Evangelisch-sozial als Lebensaufgabe. Das Leben und Wirken von ­Pfarrer Johannes Herz (1877–1960), Leipzig 2013, S. 65. 19 Vgl. ebd., S. 262. 20 Vgl. ebd., S. 246, und ergänzend Auskunft von Mandy Rabe, Leipzig. 21 Vgl. Georg Wilhelm, Die evangelisch-lutherische Landeskirche Sachsens im »Dritten Reich«. In: Clemens Vollnhals (Hg.), Sachsen in der NS-Zeit, Leipzig 2002, S. 133–142, hier 138. 22 Vgl. Oliver Arnhold, »Entjudung« – Kirche im Abgrund. Band I: Die Thüringer Kirchenbewegung Deutsche Christen 1928–1939, Band II: Das »Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben« 1939–1945, Berlin 2010, S. 35–40, 455–782.

Einleitung

13

unter Ausschluss der Deutschen Christen 1945 die kirchliche Neuordnung.23 In der neuen Landessynode rechneten sich zwei Drittel der Mitglieder der Bekennenden Kirche zu, ein Drittel gehörte zur ehemaligen »Mitte«.24 Dieses Übergewicht der Bekennenden Kirche dürfte auch mit der stärkeren Einbeziehung von Nichttheologen während der NS-Herrschaft zusammengehangen haben. In der neuen Kirchenverfassung kam es zu einer Erweiterung demokratischer Mitwirkungs- und Gestaltungsmöglichkeiten.25 Das sollte während der 40-jährigen SED-Diktatur auch von gesamtgesellschaftlicher Relevanz sein. Angesichts des in Sachsen besonders virulenten Anspruchs des NS-Staates auf eine Durchdringung der Kirche mit der totalitären Ideologie waren vor allem Pfarrer immer wieder vor Entscheidungssituationen gestellt, in denen eine Positio­nierung erforderlich war. Als Hirten ihrer Gemeinden, aber auch als Theologen musste ihnen bewusst sein, dass ihr Bekenntnis für die eine oder andere kirchenpolitische Richtung zu Konflikten führen würde. Es gab aber auch Orte, wo bei einer passiven, zu Kompromissen bereiten Haltung des Geistlichen gegenüber dem deutschchristlichen Kirchenregiment das Gemeindeleben nahezu ungestört seinen Fortgang nahm. Der vorliegende Band enthält biografische Studien von zumeist in einem Gemeindepfarramt tätigen sächsischen Theologen und wirft dabei Schlaglichter auf den Alltag pastoraler Existenz in der NS-Diktatur. Um das Denken und Handeln der Pfarrer besser verstehen zu können, erfährt jeweils auch die Entwicklung der behandelten Personen vor 1933 Berücksichtigung. Ebenso ist die Zeit nach dem Ende der NS-Herrschaft von Relevanz, war sie doch zumeist von der Diktaturerfahrung geprägt. Kontinuitäten und Diskontinuitäten werden somit deutlicher. Aufgenommen wurden neuere Forschungen, weshalb zum Beispiel auf einen Beitrag zu dem Superintendenten an der Dresdner Frauenkirche, Hugo Hahn, verzichtet wurde.26 Vertreten ist das gesamte Spektrum der in der sächsischen Landeskirche während der Zeit des Nationalsozialismus vertretenen Positionen. Es reicht von Deutschen Christen wie Friedrich Coch, die anfänglich deutschchristlichen Pfarrer Otto Fügner, Ernst Loesche oder Walter Kaiser – Fügner und Loesche traten aus den Deutschen Christen aus, Kaiser kam in das KZ Dachau – über das gesamte Spektrum der kirchlichen »Mitte« mit aktiven 23

Vgl. Markus Hein, Die sächsische Landeskirche nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs (1945– 1948). Neubildung der Kirchenleitung und Selbstreinigung der Pfarrerschaft, Leipzig 2002. 24 Vgl. Schmutzler, Evangelisch-Sozial, S. 219. 25 Vgl. Heinrich Herzog, Die Neugestaltung der Verfassung der sächsischen Landeskirche. In: Verantwortung. Untersuchungen über Fragen aus Theologie und Geschichte. Zum sechzigsten Geburtstag von Landesbischof D. Gottfried Noth DD. Hg. vom Ev.-Luth. Landeskirchenamt Sachsens, Berlin (Ost) 1964, S. 80–92, insbes. 84, 87 f., 90 f. 26 Vgl. Carsten Nicolaisen, Hugo Hahn. In: Wolf-Dieter Hauschild (Hg.), Profile des Luthertums. Biographien zum 20. Jahrhundert, Gütersloh 1998, S. 259–273.

14

Konstantin Hermann / Gerhard Lindemann

NSDAP-­Mitgliedern wie Oskar Bruhns oder politisch und theologisch Liberalen wie Johannes Herz, die Bekennende Kirche bis hin zu dem keiner dieser kirchenpolitischen Richtungen angehörenden religiösen Sozialisten und Sozialdemokraten Erhard Starke, der während der Weimarer Republik wegen grundlegender ­politischer Differenzen aus dem Pfarrdienst ausschied, während der NS-Zeit ­jedoch erneut im kirchlichen Dienst tätig war. Auch die Biografie von ­Johannes Grosse, die zum Teil außerhalb der Landeskirche steht, erlaubt Vergleiche.27 Deutlich wird die eingangs beschriebene Begeisterung für den Nationalsozialismus, die sich jedoch bei vielen der Deutsche-Christen-Pfarrer nach den immer deutlicher hervortretenden Maßnahmen des NS-Staates gegen die Kirche, den Verfolgungen von Pastoren und den innerkirchlichen Auseinandersetzungen und Kämpfen nach einigen Jahren abschwächte und in Austritten aus der ­braunen Kirchen­ partei mündete. Bei den Pfarrern der Bekennenden Kirche und der ­»Mitte« gab es ­augenscheinlich weniger Fluktuationen. Wichtig für die Beurteilung und daher ein Kernbestandteil der Beiträge sind die Darstellungen der theologischen und politischen Haltung der hier ausgewählten Pfarrer vor 1933 und nach 1945, in parlamentarischer Demokratie und Diktatur. Dazu gehört auch die Integration von Pfarrern wie Herz und Kaiser in die Schaffung der »antifaschistischen Einheitsfront« oder Starkes Tätigkeit in der Landesverwaltung nach 1945. Die vorgenommene Auswahl zeigt, dass zurzeit ein Forschungsübergewicht über die Bekennende Kirche und die »Mitte« besteht. Berücksichtigung erfahren auch Theologen, die nicht in »klassischen« Gemeindepfarrämtern tätig waren, zum Beispiel der ordinierte Pfarrer Friedrich Delekat, der als Nachfolger von Paul Tillich bis zu seiner vorzeitigen Pensionierung an der Technischen Hochschule Dresden eine außerordentliche Professur für Religionswissenschaften innehatte. Bei den Pfarrern jüdischer Herkunft fiel die Wahl auf den Dresdner Pfarrer Heinrich Gottlieb, da er lange Zeit starke Affinitäten zur völkischen Bewegung und zum Nationalsozialismus aufwies, was dazu führte, dass sich 1939/40 der deutschchristliche Thüringer Landesbischof Martin Sasse, ein dezidierter Antisemit, für den seit 1938 von Sachsen beurlaubten Geistlichen bei staatlichen Stellen in Berlin einsetzte. Sehr viel besser als bei Gottlieb gestaltet sich die Quellen­ lage bei Ernst Lewek, auf den Mike Schmeitzner in seinem Beitrag über Leweks ­Leipziger Kollegen Oskar Bruhns ausführlicher eingeht.

27 Professor (em.) Dr. Gerhard Reuter, der Autor des Beitrags über Johannes Grosse, ist in den letzten Wochen der redaktionellen Bearbeitung des vorliegenden Bandes am 22. Juli 2017 ­verstorben. Er konnte noch die redaktionell bearbeitete Fassung seines Beitrags, jedoch nicht mehr die Druckfahne durchsehen. Da das Einverständnis zur bearbeiteten Fassung vorlag und in der Druckfahne nur unwesentliche Änderungen vorgenommen wurden, haben sich die ­Herausgeber entschieden, den Beitrag ohne die letzte Imprimatur des Autors abzudrucken.

Einleitung

15

Einen strategischen Nachteil für die Forschung zur Geschichte der sächsischen Landeskirche in der NS-Zeit bedeutet die nahezu vollständige Vernichtung der Aktenüberlieferung der leitenden kirchlichen Gremien und des Landesbischofs während der Bombardierung Dresdens am 13./14. Februar 1945. Zwar wurden in der Nachkriegszeit im Landeskirchenarchiv neue Materialsammlungen angelegt, jedoch ist für die Gewinnung eines exakteren Geschichtsbildes die Auswertung der Archive auf Kirchenbezirks- und Gemeindeebene erforderlich. Ebenso ist die Zahl der gedruckten Quellen überschaubar. Wichtige Informationen sind in den Amtskalendern und im »Sächsischen Kirchenblatt« sowie im »Neuen Sächsischen Kirchenblatt« enthalten; die Tageszeitungen können systematisch kaum durchsucht werden. Im Sächsischen Staatsarchiv findet sich vor allem die staat­ liche Überlieferung, die die fehlende kirchliche teilweise kompensieren kann. So erklärt sich die Auswahl eines Großteils der vorliegenden Studien. Sie unterscheiden sich zum Teil im methodologischen Zugriff, in ihrem Interpreta­ tionsrahmen und im historisch-theologischen Urteil. Damit bieten sie ebenso eine Zwischenbilanz der jüngeren Forschung. Die Herausgeber danken dem Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung für die Aufnahme des Bandes in die Reihe »Berichte und Studien«, ­Kristin Luthardt, Manja Preissler und Ute Terletzki für die redaktionelle ­Betreuung, ­Ilona Görke für den Satz und den Autorinnen und Autoren für ihr Engagement und ihre Geduld. Dresden, im Juli 2017



Deutsche Christen und im Dienst der Nationalsozialisten stehende Pfarrer



Konstantin Hermann unter Mitarbeit von Wilhelm Knabe Wandlungen: Erich Knabe

Wie andere in diesem Band vorgestellte Pfarrer war Erich Knabe in einem ­Bereich tätig, der in der Weimarer Republik und NS-Zeit hochpolitisch war. Dies hat auch seine Familie zu spüren bekommen. Sein Sohn Wilhelm ergänzte die historische Studie Hermanns mit eigenem Erleben. Die Quellenlage zu Erich Knabe kann als gut eingeschätzt werden, zumal Knabe auch verhältnismäßig viel veröffentlichte, was wiederum tiefe Einblicke in seine Gedanken ermöglicht. Und, selten genug, verfügen wir über biografische Sekundärliteratur, in der er Darstellungen und Wertungen unterliegt. Hier ist an erster Stelle Eberhard Keil zu nennen. Die verwendeten unveröffentlichten und veröffentlichten Aufzeichnungen aus der Familie geben einen intimen Einblick in Erich Knabes Leben.1

Herkunft und Familie Eines der stets nachgefühlten Kindheitserlebnisse wird das großväterliche Haus in Böhrigen gewesen sein, wo Knabe am 21. Mai 1882 geboren wurde. Er und seine Geschwister genossen hier das Leben, das Spielen im Wald und auf der Wiese. Die Erinnerung daran baute eine Brücke zu seinem Sohn Wilhelm, der genauso gerne in der Landschaft herumstromerte, um Vögel und andere ­Tiere zu beobachten. Erich Knabes Großvater Friedrich Gottlob Lehmann, gebürtig aus Hainichen, war Landtagsabgeordneter und Fabrikbesitzer gewesen ­(1805–1869). In dem Wissen vor allem um diesen Großvater sind wohl die Ursprünge und ­Gründe für Erich Knabes späteren »Ahnenstolz« gewesen, der sich unter ­anderem in der Einsendung seiner Ahnentafel für das Sammelwerk »Ahnentafeln um 1800« ­manifestiert. Er selbst stammte aus einer Handwerkerfamilie, zumindest was die Knabes betraf. Unter seinen Vorfahren befanden sich aber auch Lehrer, 1

Vgl. Eberhard Keil, Die Sachswerk-Saga 1914–1945, Marbach 2006. Vgl. auch Erich Knabe, Lebenslauf. In: Gruß aus Moritzburg, 1937, S. 166 f.

20

Konstantin Hermann

­ astoren, Amtmänner und Kaufleute. Durch Knabes Heirat mit Lena Rost bekam P die ­Familie eine Verbindung zu einer Ahnenreihe mit Nachkommen evangelisch-­ reformierter Hugenotten, von denen Philipp Wilhelm Rousset (1774–1859) als Kaufmann in Leipzig anerkannt war. Erich Knabe hielt Vorträge über seine Vorfahren wie beispielsweise 1933 bei der 50. Sitzung des »Familiengeschichtlichen Abends« in Leipzig, als er über vier Ahnenbäume zur Zeit Friedrichs des Großen sprach: Dietze, Franke, Kleemann und Winzer.2 Knabe unterschied sich damit in keiner Weise von den vielen anderen, die schon vor 1933, vor dem politisch motivierten Aufschwung der Ahnenforschung, ähnlich über ihre Vorfahren forschten und die Ergebnisse in Text und Wort vorstellten. Die Genealogie hatte Ende des 19. Jahrhunderts auch noch den Zweck gehabt, bürgerliche Geschlechter dem Adel gleichzustellen; sie vollendete quasi den wirtschaftlichen Aufschwung des Bürgertums im Zeitalter des Liberalismus erinnerungsgeschichtlich. In den 1920er- und 1930er-­Jahren verfolgten viele der Protagonisten der Familienforschung die retrospektive Konstruktion einer Volks- und Stammesgemeinschaft. Für Knabe erhielten die Vorfahren in jedem Fall eine politische Komponente, als er, wie Eberhard Keil ausführlich darstellte, seinen Großvater Lehmann, dessen Firma »früher als andere« vom »Kapitalismus« zertrümmert worden sei, als Vorkämpfer einer national-sozialen Idee verstand, die sich im Nationalsozialismus verwirklichen würde. In seinem Lebenslauf, der anlässlich seines Todes im Amtskalender 1941 veröffentlicht wurde, erwähnt Knabe ausdrücklich seine Kindheit auf den groß­väterlichen Gütern und in der Fabrik. Zunächst besuchte er als Externer die F ­ ürstenschule Meißen, in die 3 er Ostern 1895 in die Obertertia eintrat. Einen ­tiefen Einschnitt in das kindliche Leben bedeutete der Ostern 1896 erfolgte Umzug der Familie nach Leipzig, »schmerzlicher Weise«, wie Knabe schrieb,4 wo er das König-­Albert-Gymnasium besuchte. Er entwickelte dort nach eigenen Angaben durch Kindergottesdienste eine engere Beziehung zur Kirche. So war es folgerichtig, dass Knabe nach seinem Abitur von 1902 bis 1906 Theologie und Philologie in Tübingen, Leipzig und Besançon studierte. Zuerst hatte er sich noch für den Schuldienst interessiert, doch nach einer Studienreise nach Norwegen entschied er sich für den Pfarrdienst. Knabe war in der Petrischule und im Progymnasium Leipzig-Lindenau tätig; die Stelle im Schillergymnasium trat er nicht mehr an, da er den Kirchendienst als wichtiger empfand. Michaelis 1908 legte Knabe die Zweite Theologische Prüfung ab.5 Im gleichen Jahr wurde er Hilfsgeistlicher in Leipzig-Gohlis und zwei Jah-

2 3 4 5

Vgl. Archiv für Sippenforschung, 10 (1933), S. 170 f. Vgl. Curt Heinrich Fleischer, Kritische und exegetische Bemerkungen zum bellum Hispaniensie, Meißen 1895, S. 40. Merkwürdig ist, dass Knabe diesen Schulbesuch nicht erwähnt. Erich Karl Knabe †. In: Amtskalender 1941, S. 125. Vgl. Amtskalender 1910, S. 160.

Erich Knabe

21

re später Pfarrer in Wendischrottmannsdorf, wo »gleichviel Bauern wie Berg­ arbeiter zur Gemeinde gehörten«.6 Er heiratete, nach siebenjähriger »Verhinderungstaktik« der Schwiegereltern, nunmehr finanziell abgesichert, Helene Rost, Pfarrerstochter aus Schweikershain.7 Neun Kinder gebar sie ihm. In den Familienaufzeichnungen wird die Ablehnung seiner Bewerbung um eine Pfarrstelle in Dresden erklärt. Das Konsistorium wies ihn mit den Worten ab: »Solche Gestalten können wir in Dresden nicht gebrauchen.«8 Der Grund für diese Schroffheit war ein Rückenleiden, das er sich 1894 zugezogen hatte und das ihn zwang, ständig ein Stahlkorsett zu tragen. Knabe selbst teilte in seinem Lebenslauf davon freilich nichts mit. Es ist aber durchaus möglich, dass er sich durch diese Ablehnung emotional den geistig und körperlich Kranken verbunden fühlte. 1915 wurde Knabe zum Pfarrer der Landesanstalt Arnsdorf bestimmt. ­»Meine Liebe zu der leidenden Menschheit veranlasste mich zu diesem neuartigen und schweren Dienst«, so Knabe selbst.9 Vermittelt hatte ihm die Stelle Johannes ­Naumann aus Hubertusburg. Mit Knabe kam auch Franz Oswin Voigt nach Arnsdorf, der seit 1912 als Hilfsgeistlicher in Leipzig-Plagwitz amtierte. Zu dieser Zeit veröffentlichte Knabe in »Deutsch-Evangelisch« einen Text über »Die Schlacht bei Leipzig im religiösen Urteil ihrer Zeit«.10 »Religiöses Urteil« bedeutete in diesem Zusammenhang die Bewertung der zusammengestellten Aussagen der Zeitgenossen, die die Gotteserkenntnis auf die Völkerschlacht anwandten. Wenige Monate vorher hatte Knabe über das Gedenken an 1813 geschrieben.11 Er wandte sich in diesem Beitrag gegen die Sozialdemokraten, aber auch gegen die »Patrioten«, die die Geschichte verfälschen würden. Den Artikel, der aus kommentierten Literaturhinweisen besteht, beendete Knabe mit dem Aufruf, sich gegen alles »Undeutsche, Unevangelische, Ungöttliche« zu wehren. Die bibliografische Dokumentation und Bewertung der Literatur, die hier recht früh bei Knabe einsetzt, setzte er auch in den 1920er-Jahren, dann jedoch zu anderen ­Themen, fort. Er begann jeweils mit der sehr ausführlichen Diskussion der ­Literatur und schloss daran dann eigene Gedanken an.

  6   7   8   9 10

Amtskalender 1941, S. 125. Ihr Vater war Adolf Hermann Walter Rost (1854–1938). Keil, Sachswerk-Saga, S. 176. Amtskalender 1941, S. 125. Erich Knabe, Die Schlacht bei Leipzig im religiösen Urteil ihrer Zeit. In: Deutsch-Evangelisch. Monatsblätter für den gesamten deutschen Protestantismus, Oktober 1913, S. 607–615. 11 Vgl. Erich Knabe, Deutsch-evangelisches Gedenken an 1813. In: Deutsch-Evangelisch, Juli 1913, S. 409–420.

22

Konstantin Hermann

Theologisch-soziologische Fragestellungen Knabes Knabe hatte schon als Student der Theologie anlässlich des Rektoratswechsels eine lateinische Rede unter dem Titel »De exordiis reformationis ecclesiasticae in urbe Lipsia« gehalten und auch eine Schülerrede von Knabe ist verbürgt.12 1921 erschien seine Schrift über »Freie Liebe«.13 Knabe beschäftigte sich zudem intensiv mit den Zeitfragen,14 zum Beispiel mit der Wucht des Erlebnisses des Ersten Weltkrieges und seines Ausgangs für Deutschland, den Knabe zwar nicht als Frontsoldat erlebte, doch in seinem Patriotismus ohne Zweifel als zutiefst tragisch empfand. Dennoch bewahrte er in seinem Schreibtisch einen bedrohlich großen zackigen Granatsplitter auf, den er von einem Kriegsheimkehrer erhalten hatte, um damit seinen Kindern die Schrecken des Krieges zu vermitteln. Knabe thematisierte im »Sächsischen Kirchenblatt« im Jahr 1923 die Suche nach Gott, die unter anderem zu Mystizismus und Neubuddhismus führte und ­stellte eine Schrift von Ludwig Wunderlich vor, die gegen diese Tendenzen a­ nging.15 Die ­Kirche schien die Kraft verloren zu haben; in allen gesellschaftlichen Schichten waren die Menschen auf der Suche. Der verlorene Erste Weltkrieg und die tiefe Depression äußerten sich in Oswald Spenglers »Der Untergang des Abendlandes«, Sektierer und alte und neue Glaubensrichtungen fanden viele Anhänger. Diese tiefe Verunsicherung sahen die Pfarrer in ihren Gemeinden. Knabe vermutete einen Zusammenhang zwischen sinkender Religiosität und der zunehmenden Zahl an Nervenleiden.16 Tatsächlich wuchs mit der sinkenden Bindungskraft der Kirche der moderne Aberglauben, der sich im Mystizismus und Spiritismus ­äußerte. Viel stärker als im neuen Glauben führte diese Verunsicherung in neue politische Haltungen, die entscheidend für die Weimarer Republik werden sollten und letzten Endes auch für Erich Knabe. Die tiefe Depression, die besonders die bürgerlichen Schichten betraf, wurde bereits ausführlich im L ­ ichte der Psychoanalyse betrachtet. Paul Lerner ging in seinem 2003 erschienenen

12 Zur Feier des Reformationsfestes und des Übergangs des Rektorats, Leipzig 1906, S. 45. 13 Erich Knabe/Albert Wilhelm Kellner, Freie Liebe, Leipzig 1921. 14 Siehe Staatsbibliothek Berlin PK, Nachlass 488: Archiv des Verlages Mohr Siebeck, A 371, 4; A 0377, 3; A 371, 4 und A 0377, 3 mit Briefwechsel zwischen Knabe und dem Verlag aus den Jahren 1916 und 1917. Siehe auch den kurzen Briefwechsel von Knabe mit Martin Doerne von 1939 (SUB Göttingen, Cod. Ms. M. Doerne L 401). 15 Vgl. Erich Knabe, Die Stille vor Gott. In: Sächsisches Kirchenblatt, 73 (1923), Nr. 49/52 vom 21.12.1922, S. 333–337. 16 Vgl. Erich Knabe, Pastorale und medizinische Literatur unserer Tage über das krankhafte Seelenleben. In: Sächsisches Kirchenblatt vom 22.10.1926, S. 529–532; vom 29.10.1926, S. 541–544; vom 8.11.1926, S. 553–560; vom 12.11.1926, S. 568–572. Im Sächsischen Kirchenblatt vom 19.6. (S. 306–310) und 26.6.1925 (S. 314–318) schrieb Knabe über die »Judenfrage« (Titel: Wie die Judenfrage uns beschäftigt).

Erich Knabe

23

Buch »Hysterical Men: War, Psychiatry, and the Politics of Trauma in Germany, ­1890–1930«17 vor allem auf die Kriegsveteranen ein, beschrieb jedoch auch die gesamte fragile Lage der Weimarer Republik aus psychoanalytischer Hinsicht. Die 1929 erschienene Schrift »Psychiatrie und Seelsorge« verfasste Knabe bereits als Pfarrer der Heilanstalt Dösen, wo er seit 1928 amtierte. Schon 1928 hatte er unter demselben Titel auf der Meißner Kirchen- und Pastoralversammlung gesprochen.18 Annotiert wurde die Schrift im »Archiv für die gesamte ­Psychologie«. Alfred Römer nannte es ein »seelensorgerisch sehr wertvolles Buch dieses klugen Seelenführers«.19 Knabe berichtete darin aus der Praxis für die ­Praxis, wie er in der Überschrift vermerkte und begann mit einem Beitrag seines Amtsbruders Johannes Naumann zu dem Thema. Einen großen Teil von Knabes Broschüre macht die Beschäftigung mit psychopathisch auffälligen Kindern aus. Deutlich zu erkennen ist dabei Knabes Anschluss an seine bereits vor Jahren wichtigen Themen wie der Bekämpfung des Alkoholismus. Knabes Literaturberichte über die deutschen »Irrenseelsorger«-Konferenzen verdeutlichen das intensive Arbeiten und die Auseinandersetzung mit der einschlägigen Literatur. Sein Bericht von 1929 benannte die »Zeitschrift für psychische Hygiene« als wertvoll.20 Der Bericht von 1931 beginnt mit der Diskussion eines Beitrags von Paul Tillich über den Begriff des Dämonischen und seiner Bedeutung für die Systematische ­Theologie.21 Den Theorien Freuds oder denen zur Individualpsychologie Alfred Adlers oder gar Otto Rühles konnte Knabe nichts abgewinnen, wenn er sie auch verfolgte und sich damit auseinandersetzte. Vielmehr lobte er die Ausführungen von Fritz und Ruth Künkel zur Individualpsychologie und ging auch auf ­Friedrich Delekats Stellung zum Thema Rechtfertigung und Psychoanalyse ein. Ganz besonders hob er J­ohannes Neumanns vielbeachtete »Einführung in die Psychotherapie für Pfarrer« hervor.22 Knabes Demut gegenüber den psychisch Kranken wird in den Texten und Predigten deutlich, wie beispielsweise bei der Meißner Kirchen- und Pastoralversammlung am 5. Mai 1931, als Knabe über 1. Thessalonicher 5, 14 sprach,23 »Nehmt euch der Schwachen an, seid langmütig gegen alle«, heißt es darin. Knabe sah in dem Anwachsen der Zahl der

17 Vgl. Paul Lerner, Hysterical Men: War, Psychiatry, and the Politics of Trauma in Germany, 1890–1930, Ithaca 2003; siehe auch Veronika Fuechtner, Berlin Psychoanalytic. Psychoanalysis and Culture in Weimar Republic Germany and Beyond, Berkeley 2011. 18 Vgl. Amtskalender 1929, S. 148. 19 Alfred Römer [Rez.]. In: Archiv für die gesamte Psychologie, 76 (1930), S. 244. 20 Vgl. Zeitschrift für psychische Hygiene, 2 (1929), S. 96. 21 Vgl. Zeitschrift für politische Hygiene, 4 (1931), S. 2. Erich Knabe, Literaturbericht der deutschen Irrenseelsorger-Konferenz in Bad Boll 1931, Eisleben 1931. Auch Erich Knabe, Literaturbericht auf der Irrenseelsorgertagung in Leipzig, Eisleben 1932. 22 Johannes Neumann, Einführung in die Psychotherapie für Pfarrer, Gütersloh 1930. 23 Amtskalender 1932, S. 149.

24

Konstantin Hermann

»­ Psychopathen« ebenso eine ­Verfallserscheinung im Sinne des »Volksfeindes«. 1925 erschien seine Schrift über den »ärgsten Volksfeind« bereits in zweiter Auflage. Knabe schrieb von der »rücksichtslosen Macht- und Geldgier des männermordenden, familienzerstörenden Weltkrieges« und bezeichnete die »Unzucht« als den Volksfeind schlechthin, worunter er Hurerei, Abtreibungen, Homosexualität, ­Geschlechtskrankheiten und ähnliches verstand.24 Knabe hatte die Schrift als Vorsitzender des Sächsischen Landesverbandes vom 1890 gegründeten »Deutschen Sittlichkeitsbund vom Weißen Kreuz« verfasst, der gegen Alkoholismus und sexuelle »Verirrungen« stand – weiß für die Reinheit.25 Knabe stellt jedoch klar, wie erst die H ­ eime psychisch kranken Kindern Familienleben, Geselligkeit, Anregung und Arbeit böten. Vor allem die Arbeit als Beschäftigung, als Antrieb für die Kranken war Knabe wichtig. Dieses Motiv war für ihn der Grund für den Beitritt in die N ­ SDAP, von der er sich die Beseitigung der Arbeitslosigkeit erhoffte und wo Knabes Gedanken bisweilen auch ungebrochene Fortsetzung in der NS-Ideologie finden konnten.26 Mit der Arbeit würden die von Knabe so bekämpften A ­ uswüchse von Trunksucht unter anderem auch zurückgehen, so seine Annahme. Über erwachsene Kranke äußert sich Knabe ebenfalls und schildert für sie wie für die Kinder die Wirkung des Glaubens, des Christentums auf die Kranken. Gerade das kranke Beichtkind sei von »einer geradezu erschütternden Angst vor dem Gerichte Gottes erfüllt«.27 Das Thema der »Vernichtung lebensunwerten Lebens« wurde auch in der kirchlichen Presse diskutiert.28 Die Sorge um eine notwendige »Gesundung« des Volkes nach dem verlorenen Krieg, aber auch die Einsparung von Geld zu-

24

Siehe dazu allgemein Erich Knabe, Wider den Volksmörder! Ein Büchlein für die Freunde des deutschen Volkes, Dresden 1925. 25 Am 20.6.1926 sprach Knabe über »Die Deutschen in der Tschechoslowakei« beim Gustav­Adolf-Zweigverein Radeberg. Vgl. Amtskalender 1927, S. 137. 26 Vgl. Keil, Sachswerk-Saga, S. 180. 27 Knabe, Psychiatrie und Seelsorge, Schwerin 1929, S. 25. 28 Vgl. Vernichtung lebensunwerten Lebens. In: Sächsisches Kirchenblatt, 74 (1924), Nr. 15 vom 11.4.1924, S. 70 f. Siehe u. a. Thomas Schilter, Unmenschliches Ermessen. Die nationalsozialistische »Euthanasie«-Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein 1940/41, Leipzig 1998; Boris Böhm/­ Werner Rellecke, Nationalsozialistische Euthanasieverbrechen in Sachsen. Beiträge zu ihrer Aufarbeitung, Dresden 2004; Boris Böhm, Fundamentale Gebote der Sittlichkeit, Dresden 2008; Stefanie Westermann/Richard Kühl/Tim Ohnhäuser (Hg.), NS-»Euthanasie« und E ­ rinnerung. Vergangenheitsaufarbeitung, Gedenkformen, Betroffenenperspektiven, Münster 2011; Götz Aly, Die Belasteten. »Euthanasie« 1939–1945. Eine Gesellschaftsgeschichte, Frankfurt a. M. 2013; Hermann Schoenauer, »Euthanasie«. Zum Umgang mit vergehendem menschlichen Leben, Stuttgart 2013; Annette Hinz-Wessels, Tiergartenstraße 4. Schaltzen­trale der nationalsozialistischen Euthanasie-Morde, Berlin 2015. Auch: Kerstin Schmiedel, Die p ­ sychiatrische Behandlungspraxis in der Heil- und Pflegeanstalt Hubertusburg/Sachsen im Zeitraum 1918 bis 1932, Universität Leipzig (Diss.), 1994.

Erich Knabe

25

gunsten von Familien sowie die Freisetzung von »wertvollen Arbeitskräften« aus der Pflege psychisch Kranker sowie eine Vielzahl weiterer Argumente waren die Motive in der Debatte in Deutschland; dass dies keine spezifisch deutsche Auseinandersetzung war, sondern eine europäische und sogar weltweite, zeigen die vielen Veröffentlichungen und Maßnahmen im Ausland, vor allem in Schweden. Leonhard Ragaz, ein Gegner der »Euthanasie«, hatte 1923 die Diskussion um die Vernichtung »lebensunwerten Lebens« als den »Kampf um unsere sittliche Kultur« schlechthin bezeichnet, bei der nicht das allergeringste Zugeständnis gemacht werden dürfe, da sonst alles verloren sei.29 In der gleichen Richtung argumentierte das »Neue Sächsische Kirchenblatt« noch Ende Januar 1933, als es zwei neue Schriften des Obermedizinalrates Ewald Meltzer besprach.30 Das Gebot »Du sollst nicht töten« dürfe nicht aus egoistischen oder finanziellen Berechnungen beseitigt werden. 1933 erschien Fritz Gundermanns Handbuch des Weißen Kreuzes, für das Knabe gemeinsam mit Hans March und Gundermann selbst das Kapitel »Seelsorge, das Geheimnis der Weißkreuzarbeit« betreut hatte.31 Das Buch erschien am Vorabend der kommenden nationalsozialistischen Bedrängung, die nach 1945 den völligen Neuaufbau des »Weißen Kreuzes« notwendig machte. Das Weiße Kreuz hatte die Durchsetzung der eigenen Vorstellung der Sexualethik zum Ziel. Unter anderem war die damals vieldiskutierte Frage der Onanie e­ ines der Hauptthemen des Vereins. Die Jugend versuchte man von der Selbstbefriedigung abzubringen, die diverse psychische und nach damaliger Erkenntnis auch physische Folgen haben sollte. 1926 kam in zweiter Auflage eine weitere Schrift Knabes heraus, die die sexuelle Frage im Lichte der Seelsorge und im Sinne seiner ­Perspektive als Pfarrer thematisierte.32 Alfred Dedo Müller, Leonhard Ragaz und dem von ihm repräsentierten Flügel der Religiösen Sozialisten nahe stehend, ­besprach diese Schrift in seinem Band »Religion und Alltag«.33 ­Müller ­gehörte wie Knabe und andere zu denen, die die wissenschaftliche Psychologie in die Seelsorge einbrachten. ­Knabes Büchlein kam in der Reihe von Carl ­Schweitzer (1889–1965) heraus, Freund und Bundesbruder von Paul Tillich und 1933 ­Mitgründer des Pfarrernotbundes.

29 Leonhard Ragaz, Du sollst nicht töten. In: Neue Wege (1923), S. 492 f. 30 [NN,] Das unwerte Leben. In: Neues Sächsisches Kirchenblatt vom 22.1.1933, S. 57 f. 31 Erich Knabe/Hans March/Fritz Gundermann, Seelsorge, das Geheimnis der Weißkreuzarbeit. In: Fritz Gundermann (Hg.), »Zur Freiheit berufen«! Handbuch des Weißen Kreuzes, Nowawes 1933, S. 143–177. 32 Vgl. Erich Knabe, Die sexuelle Frage und der Seelsorger, Schwerin 1926. Knabe besprach kurz mehrere Schriften zu den Themen Suggestion, Religion und Seele in der Theologischen Literaturzeitung 61 (1936), S. 461–464 und 477 f. 33 Vgl. Alfred Dedo Müller, Religion und Alltag. Gott und Götze im Zeitalter des Realismus, Berlin 1932, S. 240.

26

Konstantin Hermann

Knabe und der Nationalsozialismus Geschichte von vorn denken heißt, die Erklärungsmuster zu finden, warum auch Theologen den Weg zu den Nationalsozialisten gingen. Am 1. Februar 1932 trat Knabe in die NSDAP (Nr. 905 603) ein.34 Sein Sohn Wilhelm erinnert sich an den starken Gegensatz in der Einschätzung Hitlers durch den Vater und die Mutter Lena (Helene) Knabe. Erich Knabe glaubte zunächst an die Versprechen der Partei zur Behebung der Arbeitslosigkeit sowie zur Revision des Versailler Vertrages, während seine Frau den Kindern erklärte, Hitler sei ein böser Mensch, von dem man nichts Gutes erwarten könne. Knabe war bei der NS-Volkswohlfahrt in Leipzig tätig und leitete eine ­Arbeitsgemeinschaft des NS-Lehrerbundes, von dem er wenig hielt.35 Die anfängliche Anhängerschaft Knabes zu Hitler war in der Familie umstritten. Die älteste T ­ ochter Knabes, Magdalena, eine von neun Geschwistern, lehnte den ­Nationalsozialismus ab und ging ins Ausland.36 Sie kritisierte zudem die Deutschen Christen, denen ihr Vater angehörte. Einige der Kinder standen dem ­NS-Staat positiv gegenüber, andere, wie eben Magdalena, nicht. Auch Sohn ­Martin, der unter den ausländischen Praktikanten seiner Firma gute Freunde g­ efunden hatte, hielt nichts vom Nationalsozialismus, während der jüngere Sohn Erich in der Hitlerjugend aktiv war. Die Söhne Erich und Gerhard fielen im Krieg. Wilhelm war als siebentes Kind noch nicht in der Erwachsenenpolitik angekommen. Zu berücksichtigen sind deshalb auch die Zeitschichten der Kinder. Viele der späteren Pfarrer der Bekennenden ­Kirche (BK) standen ursprünglich Hitler und seinem Regime nicht ablehnend gegenüber. Einigen fehlte dann der Mut zum Parteiaustritt oder sie versuchten, wie Knabe, als NSDAP-Mitglied noch etwas zu bewirken. Die Aussage seiner Tochter ist dabei eindeutig: Knabe hatte schnell gemerkt, dass »dieser Staat nichts Gutes tut«.37 Als Seelsorger in Dösen wurde er schnell mit den Auswirkungen des »­ Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« vom 14. Juli 1933 konfrontiert, das er zunächst bejaht hatte. Gleich dreimal erscheint Knabe 1934 und 1935 mit Vorträgen zu »Die staatliche Rassenpolitik als theologisches Problem«, »Die Rassenpolitik des Deutschen Reiches in der Seelsorge« sowie über »Das rassenpolitische Ziel des Staates und der Kirche«, in denen er das Gesetz befürwortete.38 Das »Sächsische Kirchenblatt« berichtete ausführlich über den Vortrag Knabes, der das Gesetz zur Verhütung 34 35 36 37 38

Vgl. Bundesarchiv, NSDAP-Mitgliederkartei. In der Reichskartei der NSDAP erscheint er nicht. Seine Wohnung wurde angegeben mit Chemnitzer Str. 50 in Leipzig, seine weitere Wohnung in der Moritzburger Diakonissenanstalt. Vgl. Keil, Sachswerk-Saga, S. 250. Vgl. ebd., S. 181. Vgl. ebd., S. 183. Amtskalender 1936, S. 151.

Erich Knabe

27

des erbkranken Nachwuchses als »einen Tatbeweis christlicher ­Liebe« bezeichnete.39 Das war für Knabe durchaus kein Widerspruch. Für ihn stand die Formung einer »qualitativen Auslese zum Aufbau eines wertvollen Volks« im Vordergrund, für das die zwangsweise Sterilisierten ein h ­ ohes Opfer, ähnlich wie die Kriegsteilnehmer, tragen müssten.40 »Mit dem Gesetz schützt der Staat das Volk gegen einen andringenden Feind« – auch hier setzt sich das »Volksfeind«-Motiv weiter fort. Aber es verhindere auch die Not der Eltern, die nach einer verbreiteten, aber ebenso umstrittenen damaligen Einschätzung wieder behinderte Kinder bekommen würden. Knabe wandte sich gegen die katholischen Theologen, die das Gesetz als antigöttlich bezeichneten, und stellte dem gegenüber fest, dass der erbkranke Nachwuchs gesundes Leben zerstöre. Deshalb müsse der Staat, um den »völkischen Ruin« aufzuhalten, ­eingreifen. Knabe appellierte an die Pfarrer, das Gesetz »aus seiner innersten Entstehung zu würdigen«.41 Noch handelte es sich um Zwangssterilisationen, die Knabe anscheinend nur theoretisch kannte. Doch mit der praktischen Umsetzung des Gesetzes werden sich bei Knabe Zweifel eingestellt haben. Nicht nur in Dösen, sondern auch in Knabes Geburtsort Böhrigen fanden Zwangssterilisationen statt. Von hier bis zur »Euthanasie« war es zwar kein zwangsläufiger, dennoch ein kausaler Schluss. Der Papst hatte sich im Mai 1935 unmissverständlich zur Frage der Sterilisationen geäußert, die »ihn zum Widerstand mit allen Mitteln« verpflichte.42 Das Thema »Rasse« war für die Kirche nicht neu, aber in der Vehemenz, inhaltlich wie quantitativ, eben doch. So ist auch ein Bericht über Knabes Arbeit im kirchlichen Schulungsheim für Theologiestudenten im Sommersemester 1935 überliefert.43 26 Teilnehmer, davon 17 Theologiestudenten, hörten unter anderem Vorträge von Fritz Hermann Mieth über »Der Theologiestudent und der praktische Kirchendienst«, von Gotthilf Franz Martin Bemmann »Der P ­ farrer als Militärseelsorger« und von Pfarrer Jentsch »Erlebnisse mit Jungen unter päda­ gogischen und seelsorgerischen Gesichtspunkten«. Johannes Neumann ­referierte über das Thema »Was hat die Psychotherapie dem Theologiestudenten zu sagen?«, Knabe sprach zu »Der Pfarrer als Sexualpädagoge«. Im vorhergehenden Semester nahmen 51 Studenten teil. Knabe führte durch die Wanderausstellung »Volk und Rasse«; diese Veranstaltung war für e­ inen größeren Kreis gedacht.44 Knabe ging damit über die rein kirchlichen F ­ ragen ­hinaus und Mieth schrieb: »Alle diese Themen betreffen Fragen kirchlicher Praxis. Nur einmal ist von 39 Pokojewski, Hauptkonferenz Leisnig. In: Sächsisches Kirchenblatt vom 14.6.1935, S. 375 f. 40 Ebd. 41 Ebd. 42 Erich Knabe, Vatikan und Sterilisation. In: Sächsisches Kirchenblatt vom 23.8.1935, S. 537 f. Das Papstzitat ist in diesem Text enthalten. 43 Akten Oberkirchenrat Schumann (LKArch Dresden, Best. 5, Nr. 391,1, Bl. 1168–1170). 44 Ebd., Bl. 1171–1174.

28

Konstantin Hermann

­ iesem ­Grundsatz abgewichen worden, als statt eines Schulungsvortrages und ter Führung von Herrn Pfarrer Knabe eine Besichtigung der Wanderausstellung ›Volk und Rasse‹ vorgenommen wurde. Ich glaube jedoch, dass gerade auch diese Veranstaltung von großer Wichtigkeit für unsere Theologiestudenten ist.«45 Auch zur »Judenfrage« hatte sich Knabe bereits 1925 und 1926 geäußert.46 In religiöser Hinsicht seien die Rassen, so Knabe, gleichwertig, was zum ­Nationalsozialismus schon einen Kontrapunkt darstellte. Doch, so Knabe weiter, aus rassepolitischer Hinsicht seien »Mischehen« abzulehnen, da Gott keinen »Völkerbrei« wolle. Diese Haltung Knabes darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass er innerhalb der Landeskirche eine ausgleichende Stellung einnahm. Seine Distanz und sein Unbehagen werden in dem langen Brief an ­Heinrich Schumann deutlich.47 Knabe fuhr in ein nationalsozialistisches Lager »auf Befehl des Landeskirchenamtes. Mir graut etwas vor dem militärischen Betrieb, obschon ich ungehorsam bin und weder in ›Uniform‹ noch im ›Trainingsanzug‹ antrete. Ich werde herrlich unangenehm auffallen!« Gerade Knabe mit seinem ­Rückenleiden, aber auch mit seinem unmilitärischen Auftreten passte so gar nicht in ein S­ chulungslager. Jedoch von der Haltung her, von der politischen als auch ­kirchenpolitischen, gehörte Knabe anfangs zu den Nationalsozialisten.

Im Landeskirchenausschuss Die Verwerfungen in der sächsischen Landeskirche 1933 und 1934 führten bei ihm noch nicht zu einem Austritt aus den Deutschen Christen (DC). Aber der ­Kirchenkampf betrübte und beschäftigte Knabe zutiefst. Dies kann aus den Erinnerungen seiner Kinder, aber auch anhand seiner Aktivitäten gefolgert werden. Er gehörte daher auch zu den Unterzeichnern des Briefes der Leipziger Pfarrer vom November 1934, die nicht der BK angehörten, an Landesbischof Coch.48 In diesem Brief forderten sie eine Einigung und begrüßten die Wiedereinsetzung der enthobenen Superintendenten. Die Unterzeichner zeigten sich erschrocken über die kirchenpolitische Entwicklung und forderten eine grundsätzliche ­Änderung des Kurses des Landeskirchenamts. Zu Hugo Hahn hatte Knabe ein distanziertes Verhältnis. Er bezweifelte, dass Hahn wirklich den kirchlichen ­Frieden wolle;

45 46

47 48

Mieth an LKA vom 7.3.1935 (ebd., Bl. 1175 b–1176). Vgl. Evangelisches Schulblatt, 68 (1934), Nr. 11, S. 54; Wolfgang Altmann, Die Judenfrage in ev. und kath. Zeitschriften zwischen 1918 und 1933, München 1971, S. 306; Erich Knabe, Das Volk Israel als Volk im Neuen Testament unter Berücksichtigung völkisch-antisemitischer Gedankengänge, Dresden 1926. Knabe an Schumann vom 21.10.1934 (LKArch Dresden, 5/391, 1, Bl. 3048). Schreiben der Nicht-BK-Pfarrer an Landesbischof Coch vom 17.11.1934 (ebd., Bl. 1218).

Erich Knabe

29

dieser hole seine Direktiven aus Barmen.49 Knabe kannte jedoch Hahn kaum und beurteilte ihn daher nach eigenen Worten milde. Georg Wilhelm hat auf ein geplantes Ausgleichsgespräch zwischen dem Pfarrernotbund und den DC für den 5. Juli 1934 aufmerksam gemacht, bei dem Knabe für die DC, Kurt Zeuschner für den Notbund sprechen sollten.50 Knabe war kein Mann des Durchschnitts; er galt als Seelsorger mit psychiatrischem Wissen als profund, positionierte sich in »Rassefragen« deutlich und als DC-Mitglied scheint er, was bisher wenig beleuchtet wurde, in den Jahren 1933 bis 1935 ebenfalls über ein beträchtliches Ansehen verfügt zu haben. Doch dazu geben die Quellen wenig Auskunft. Die kirchenpolitische Lage in Sachsen wurde 1935 untragbar. Das Reichs­ kirchenministerium ordnete die Bildung eines Landeskirchenausschusses an, der am 27. November 1935 erstmals zusammentrat. Der Ausschuss sollte aus­ gleichend wirken, den Landesbischof funktionsmäßig »kaltstellen« und die Situa­ tion beruhigen. Den Vorsitz führte der BK-Pfarrer und Dresdner Superintendent Johannes Ficker, zwei Mitglieder kamen von der »Mitte« (Oberkirchenrat Adolf Wendelin und Superintendent Willy Gerber) sowie zwei Pfarrer von den DC, Horst Fichtner und Erich Knabe. Er war wohl der durchsetzungsstärkere der beiden DC-Vertreter und nach Aussage von Gerber stand für Knabe die »Sache der Kirche« im Vordergrund.51 Fichtner und Knabe fungierten zwar als DC-Vertreter im Ausschuss, hatten aber erklärt, dass sie das Amt neutral führen wollten. Kurz vorher, Anfang November, hatte im Dresdner Ausstellungspalast die gutbesuchte Veranstaltung des Landeskirchenamtes unter dem Leitwort »Christus im Dritten Reich der Deutschen« stattgefunden.52 Hier sprachen Oberregierungsrat Siegfried Leffler, der einflussreiche DC der radikalen Thüringer Richtung, die in Sachsen Fuß fassen wollte, Grundmann und Coch. Am 19. September 1935 hatte Coch an der Grundstücksmauer des Landeskirchenamts einen der berüchtigten »Stürmer-Schaukästen« anbringen lassen.53

49 Damit war die Barmer Theologische Erklärung gemeint. Vgl. Knabe an Schumann vom 21.10.1934 (ebd., Bl. 3048). 50 Vgl. Georg Wilhelm, Die Diktaturen und die evangelische Kirche, Göttingen 2004, S. 92; ­Gerhard Besier, Die Kirchen und das Dritte Reich. Spaltungen und Abwehrkämpfe 1934–1937, Berlin 2001, S. 381. 51 Vgl. Keil, Sachswerk-Saga, S. 184 f. 52 Junge Kirche, 3 (1935), S. 1088 f. 53 Ebd., S. 992.

30

Konstantin Hermann

In Moritzburg Die Distanzierung Knabes vom Nationalsozialismus erfolgte wohl aufgrund zweier Entwicklungen: des Kirchenkampfs und der Behandlung von Behinderten durch den NS-Staat. Das Jahr 1936, vor allem der Herbst, kulminierte für Knabe in beiden Richtungen. Seit Oktober stellte der Landesbischof die Anordnungen des Landeskirchenausschusses in Frage. Der Reichskirchenausschuss löste sich auf. Der sächsische Ausschuss wurde von Coch unter Druck gesetzt. Laut eines Briefs befürchtete Knabe die Verstaatlichung der Kirche, die Absetzung von politisch missliebigen Pfarrern, wie es bereits 1933 und 1934 geschehen war, und die Verhaftung.54 So war es nur konsequent, als der Rundbrief vom Landesbruderrat vom 6. Mai 1936 berichtete, dass Knabe seinen Austritt aus den DC erklärt habe. Wenige Monate später verließ er den Staatsdienst und wurde zum Rektor der Brüderanstalt Moritzburg berufen – die letzte Station seines Lebens.55 Zu dieser Zeit schrieb Knabe mehrere Besprechungen von Titeln für die »Theologische ­Literaturzeitung«, die unter anderem die Themen Autosuggestion, Angst, Psychoanalyse berührten.56 Rektor Georg Rühle, Knabes Vorgänger, hatte in Moritzburg 42 Jahre amtiert. Am 8. November 1936 begann Knabe sein Amt in Moritzburg. Die Brüderanstalt, in der 200 behinderte Kinder und Jugendliche untergebracht, aber vor allem beschützt und beschäftigt wurden, gehörte der Inneren Mission an. Hinzu kamen die Zweiganstalten Heidehof und Rödern. Sein Sohn Wilhelm Knabe erinnert sich, wie sein Vater die Arbeit in Moritzburg verstanden hat, nämlich als Dienst am Nächsten: »Vater nahm seinen Dienst in der Anstalt sehr ernst und besuchte regelmäßig Kranke in ihren Zimmern. Eine als unheilbar eingestufte Patientin durfte dann in unserer Familie wohnen und Hausarbeiten erledigen. Der familiäre Umgang hat ihr so gut getan, dass sie nach einigen Jahren als geheilt entlassen werden konnte.« Bezeichnend für den besonderen Umgang mit Kranken war für Wilhelm Knabe auch folgende Begebenheit: »Vater trat an das Bett eines im Koma liegenden Menschen, betete bei ihm und sprach ›auch für dich ist Jesus Christus gestorben‹. Die Pfleger waren höchst verwundert, dass man mit einem ›Scheintoten‹ reden wollte. Doch nach der erstaunlichen Wiederbelebung des Patienten sprach dieser zu Vater, ›all die anderen Menschen haben nur über mich hinweg gesehen oder sogar noch ihre Witze gemacht. Wann verreckt der Alte hier? Nur Sie, Herr Pfarrer, haben mit mir gesprochen, als ich nicht antworten konnte.‹«57

54 Vgl. Brief an Walter Rost vom 29.6.1937. In: Keil, Sachswerk-Saga, S. 251. 55 Vgl. Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin, 105–106 (1936/37), S. 76. 56 Vgl. u. a.Theologische Literaturzeitung, 25 (1936), S. 461 f. 57 Erinnerung von Wilhelm Knabe.

Erich Knabe

31

Als Rektor der Brüderanstalt Moritzburg kamen neue Aufgaben hinzu. Er war nun Dienstvorgesetzter der Hausväter, die aber in der Jahrzehnte dauernden Leitung des Vorgängers sehr viel Autonomie für ihren Teilbereich gewonnen hatten. Erich Knabe nahm seinen damals 16-jährigen Sohn Wilhelm zu Kontrollgängen in der Anstalt mit. »Den besten Einblick bekommst du beim Besuch der Küche und der Toiletten. Dort kann man Sauberkeit und Ordnung sofort erkennen.« Verwundert war Wilhelm, dass sein Vater das angebotene Mittagessen im Heidehof ablehnte und ihm erklärte, »wenn ich mich hier bewirten lasse und Essens­ pakete einpacken lasse, begebe ich mich in eine Abhängigkeit und kann nicht mehr objektiv urteilen oder Missstände abstellen.« Das war praktische Vorsorge gegen Korruption. In seiner neuen Stellung stand Knabe ganz anders im Fokus; nicht mehr als Nationalsozialist, sondern als Betreuer von geistig behinderten Kindern und als Mitglied des nun unter Beschuss stehenden Landeskirchenausschusses. Und dies wortwörtlich. Johannes Klotsche, seit Juli 1937 Inhaber der Dienstaufsicht über das Landeskirchenamt, verweigerte am 9. August dem Landeskirchenausschuss und damit Knabe den Zutritt zum Dienstgebäude mit der Pistole in der Hand. »Revolver-Klotsche« war seitdem die Bezeichnung dieses Mannes, der bald auch regulärer Chef des Landeskirchenamts wurde. Damit war der Landeskirchenausschuss praktisch am Ende.58 Knabe trat danach kirchenpolitisch nur noch in geringem Maße in Erscheinung. Er widmete sich fortan vor allem seinen ­Patienten. Die Behinderten- und Erziehungsheime waren schon in der Weimarer ­Republik politisch nicht wohlgelitten. Den Linken wie SPD und KPD war in den 1920er-Jahren die Anbindung an die Kirche und die Tätigkeit der Anstaltspfarrer als Seelsorger ein Dorn im Auge. Deshalb wurden die Ämter der Anstaltsseelsorger 1923 verstaatlicht und die Funktion des staatlichen Fürsorgers eingerichtet.59 Die sozialdemokratische »Dresdner Volkszeitung« bemängelte 1920 bei der ­Moritzburger Anstalt, dass hier »reines Bibelchristentum« gelehrt werde und man die »großen, luftigen und sonnigen Räume« als Betsäle verwende. Ob man für sie keine bessere Verwendung fände, so die Zeitung weiter.60 Das Wirken der Anstalten wurde jedoch anerkannt. Unter den Nationalsozialisten verstärkte sich der Druck. Diese »widmeten« sich frühzeitig den Anstaltsfürsorgern und entließen sie als Staatsbeamte. Lehnten die Nationalsozialisten die Betreuung von Behinderten per se ab, galt ihr Augenmerk eben auch jenen, die sich um Behinderte kümmerten. Dies galt nun erst recht für den ehemaligen DC Erich Knabe. »Die

58 59 60

Vgl. Georg Prater (Hg.), Kämpfer wider Willen. Erinnerungen des Landesbischofs von Sachsen D. Hugo Hahn aus dem Kirchenkampf 1933–1945, Metzingen 1969, S. 153, 161, 286. Siehe den Beitrag von Konstantin Hermann über Erhard Starke in diesem Band. Zit. nach: Die Moritzburger Erziehungsanstalt in sozialdemokratischer Beleuchtung. In: Sächsisches Kirchenblatt vom 16.7.1920, S. 445.

32

Konstantin Hermann

DC von Moritzburg rüsten schon auf meine Vertreibung«, schrieb Knabe bald nach seinem Dienstantritt.61 Hatte Knabe sich schon vorher positioniert und bald die zutiefst unchrist­liche Dimension der NS-Ideologie erkannt, stellte er sich dann unbedingt hinter die Losung der Inneren Mission »Niemanden aufgeben!«62 Die Innere Mission begab sich damit dem eigenem Leitbild nach in eine Reihe von Martin Luther, Theodor Fliedner und Friedrich von Bodelschwingh: »Vom Gesichtspunkt der Volksgemeinschaft aus mag man zu einer verschiedenen Bewertung des Menschen kommen. Aber das gibt dem Einzelnen noch kein Recht, Menschenleben als minderwertig zu verdammen.«63 Genau dieser Richtung entsprachen Knabes deutliche Worte, die reichsweit Beachtung fanden, unter dem Titel »Die Bedeutung der Schwachen für die Volksgemeinschaft«; eine Kampfansage an die Ideologie der Nationalsozialisten.64 Eine solche öffentlich vorgetragene Kritik an e­inen anscheinend allmächtigen Staat erforderte sehr viel Mut und führte letzthin zu ­seinem frühen Tod schon im Alter von 59 Jahren. Die BK-nahe Zeitschrift »­ Junge ­Kirche« berichtete empathisch über seinen Vortrag: Er sei das »eindrucksvolle Bekenntnis eines christlichen Erziehers und Seelsorgers«.65 Gisela Knabe hat von den Vortragsreisen ihres Vaters durch Deutschland und von den Repressalien der Gestapo berichtet. »Mein Vater hatte stets einen gepackten Koffer fürs KZ bereitstehen«, so Gisela Frei geb. Knabe.66 Mit dem Kriegsausbruch begann die »Euthanasie«. Die »Einsparungs- und Freimachungseffekte« wurden wahr, die man schon in den 1920er-Jahren diskutierte, nun zugunsten des Krieges. Schwestern konnten in Lazaretten eingesetzt, Behinderteneinrichtungen umgewidmet werden. Im April 1940 machte Knabe nach Aussage von Sohn Wilhelm einen letzten Versuch, die ihm anvertrauten Menschen zu retten. Er fuhr ohne Ankündigung nach Berlin, um Hitler zu sprechen. Er hoffte, als alter Parteigenosse vorgelassen zu werden. Knabes Tochter ­Gisela erinnerte sich, dass er an Staatssekretär Hans-Heinrich Lammers scheiterte, der Knabe mitteilte, sein Einsatz für die Kranken sei zwecklos.67 ­Lammers war der »Wächter« und der Entscheidungsträger, wer zu Hitler ­kommen durfte. Und Lammers selbst war Teil der »Euthanasie«.68 Knabes ­Rettungsversuch war 61 62 63 64

Keil, Sachswerk-Saga, S. 252. Die Innere Mission Sachsens. In: Sächsisches Kirchenblatt vom 5.6.1936, S. 369–372, hier 371. Ebd., S. 371. Erich Knabe, Die Bedeutung der Schwachen für die Volksgemeinschaft. In: Evangelisch-sozial, 3 (1938), S. 76–87. Siehe auch Keil, Sachswerk-Saga, S. 253. 65 Junge Kirche, 6 (1938), S. 586. 66 Keil, Sachswerk-Saga, S. 253. 67 Ebd., S. 254. Der Name von Lammers wurde dort verballhornt. Siehe auch Mike Schmeitzner, Im Schatten der FDJ, Göttingen 2004, S. 18 f. 68 Ernst Klee, »Euthanasie« im NS-Staat. Die »Vernichtung unwerten Lebens«, Frankfurt a. M. 1985.

Erich Knabe

33

gescheitert. Das muss ihn zutiefst enttäuscht und deprimiert haben. Auf dem Rückweg von Berlin nach Moritzburg verkühlte er sich und erkrankte an einer Lungenentzündung. Er folgte jedoch am 22. April 1940, so die Tochter und der Sohn weiter, der Vorladung der Gestapo Dresden. Das war zu viel für ihn. Erich Knabe starb zwei Tage später am 24. April 1940.69

Die Folgen Die »kranken« Insassen der Brüderanstalt wurden deportiert und umgebracht; dabei waren einige von ihnen lediglich Bettnässer oder Epileptiker.70 ­Familie Knabe verlor ihren Mittelpunkt, Ernährer und Berater. Grundstück und ­Gebäude der Anstalt wurden der Kirche bzw. der Inneren Mission weggenommen. Die N ­ ationalsozialisten setzten dazu einen Zwangsverkauf der Brüderanstalt M ­ oritzburg an den Staat durch.71 Ausgenommen davon war nach Wilhelm ­Knabe, dessen Familie nach dem Tod des Vaters damals im rückwärts angrenzenden Nachbarhaus lebte, das von Erich Knabe für die Anstalt erworbene »Haus Zoar«, ehemals eine Einrichtung für »gefallene Mädchen«. Sein Sohn Wilhelm Knabe erinnert sich, dass ihm sein Vater die Baupläne dieses Hauses gezeigt hatte, die er für den von ihm geplanten Ausbau der Brüderanstalt benötigte. Bei der späteren Übernahme der gesamten ehemaligen Brüderanstalt durch die DDR blieb dieses »Haus Zoar« im Besitz der Kirche. Haus und Grundstück wurden in der DDR zur Keimzelle einer neuen (kirchlichen) Ausbildungsstätte für Diakonie und Pflege in Sachsen, die dort wuchs und gedieh. Eine Gedenktafel an dem Haus Nummer 44 erinnert heute daran, dass auch von der Brüderanstalt Kranke in den Tod geschickt wurden. Knabes Kinder ­distanzierten sich in der Folge alle vom Nationalsozialismus und dem ­Regime. Eine mutige Passage in der Zeit der Krankenmorde stellt der Abschluss des Nachrufs im Amtskalender dar, der die »Liebe und Erzieherweisheit« Knabes an den 200 »schwer erziehbaren oder geistesbeschränkten Kindern« hervorhob.72

69 Vgl. Keil, Sachswerk-Saga, S. 254. 70 Erinnerung von Wilhelm Knabe. 71 Vgl. Georg Rühle, Die Entwicklung unseres Werkes in den letzten zehn Jahren Brüderanstalt Moritzburg, Moritzburg 1932. Georg Lehmann (Hg.), Lössnitz und Moritzburger Teichlandschaft. Ergebnisse der heimatkundlichen Bestandsaufnahme im Gebiet von Radebeul und Dresden-Klotzsche, Berlin 1973, S. 51. Vgl. auch Jochen-Christoph Kaiser, Zwangsarbeit in Diakonie und Kirche 1939–45, Stuttgart 2005. 72 Amtskalender 1941, S. 125.



Christian Löhr  Mit Luther für den Herrn Christus und die deutsche Seele: Adolf Münnich

Ein »Nationalsozialist aus Überzeugung« Am 20. März 1937 traten in Schwarzenberg im Erzgebirge der Kirchenvorstand und die Kirchgemeindevertretung der St. Georgenkirche zu einer Vollsitzung zusammen. Adolf Münnich, der Erste Pfarrer der St. Georgenkirche, gab folgende Erklärung ab: »Vor dem Kirchenvorstand und der Kirchgemeindevertretung, welche mich für das 1. Pfarramt zu St. Georgen Schwarzenberg im Erzgebirge vertrauensvoll gewählt haben, habe ich heute Folgendes zu erklären: Ich gehöre keiner der gegenwärtigen kirchenpolitischen Fronten an, also nicht dem Pfarrernotbund, nicht der Bekenntnisfront, nicht der nationalkirchlichen Bewegung (Thüringer DC) […] steht. Bis zu meinem Herkommen nach Schwarzenberg gehörte ich der für Sachsen seit dem Umbruch 1933 einsetzenden volksmissionarischen Bewegung Deutscher Christen an, weil sie bis dahin eintrat für eine evang.-luth. deutsche Volkskirche und für den Grundsatz: Sachsen war, ist und bleibt evangelisch lutherisch. Aber ich habe auch bei dieser Bewegung nie eine Mitgliedskarte erhalten und auch nie Mitgliedsbeiträge gezahlt. Ich bin heute kirchenpolitisch ein freier Mann. Von Anfang meiner Schwarzenberger Tätigkeit an bis heute habe ich mich gemüht, meiner Gemeinde den kirchlichen Frieden zu erhalten. Warum? Weil ich nach wie vor auf dem Boden des von mir am 7.11.1909 abgelegten Ordinationsgelübdes stehe, weil ich nichts anderes war, bin und sein will als ein Diener meiner evangelisch-luther. Landeskirche Sachsens mit dem Ziele: durch treue Wortverkündigung, lautere und reine Lehre und Sakramentsverwaltung sowie Seelsorge an den Seelen zu dienen und meine Gemeinde zu einer lebendigen zu bauen. Ich erkläre weiter: Ich bin aus Überzeugung Nationalsozialist und diene Volk und Führer mit meiner Kraft im Rahmen des mir zugewiesenen Amtes. Das habe ich bis heute unter Beweis gestellt. Aber ich kann nicht für die gegen unsere evangelisch-lutherische Landeskirche, als deren Diener ich durch meinen Amtseid verpflichtet bin, jetzt sturmlaufende Thüringer DC (nationalkirchliche) Bewegung eintreten, weil ich nicht wortbrüchig werden kann:

36

Christian Löhr

1) im Blick auf meinen Heiland und Herrn Jesus Christus – der das eigentliche und letzte Thema des sogenannten Kirchenstreites ist, 2) im Blick auf meine Kirche, die diesen Heiland verkündigt, 3) im Blick auf das deutsche Volk, dessen treueste Stütze die evangelisch-lutherische Kirche immer gewesen ist.«1

Eugen Adolf Münnich, geboren am 15. März 1884 auf dem Rittergut Börnichen, Kreis Chemnitz, als einziger Sohn des gräflich Hohenthal-Püchau’ischen Revierförsters Ernst Adolf Münnich und seiner Ehefrau Selma, geb. Hempel, hatte zu diesem Zeitpunkt bereits eine bemerkenswerte Karriere hinter sich. Nach seiner Schulzeit (Bürgerschule Oederan, Königliches Gymnasium Chemnitz und – nach Umzug der Familie – Königliches König-Albert-Gymnasium Leipzig), die er am 11. März 1904 mit dem Reifezeugnis abschloss, nahm er zunächst das Studium der Naturwissenschaft und Philosophie in Erlangen auf, hörte aber auch theologische Vorlesungen. Aus familiären Gründen wechselte er schon 1905 nach Leipzig. Münnich wurde Famulus bei dem Altorientalisten Alfred Jeremias und lernte Ludwig Ihmels (Lehrstuhl für Dogmatik) kennen. Ihm verdankte er die intensive geistige Bekanntschaft mit Luther, die Münnich prägte. Im Februar 1908 legte er die Erste Theologische Prüfung in Leipzig ab. Ihmels vermittelte ihm eine Stelle als Pfarrvikar der Protestantischen Kirche Augsburgischen Bekenntnisses von Elsass und Lothringen in Metz, wo Münnich den »Geist der Urgemeinde«, aber auch die »Gefahren des politischen Katholizismus« kennenlernte. Schon im Herbst 1908 rief Ihmels ihn nach Leipzig zurück, wo Münnich vom 1. Oktober 1908 bis zum 31. Oktober 1909 als zweiter theologischer Lehrer am Evang.-Luth. Missionsseminar arbeitete. Im November 1909 begann sein Pfarrdienst in der Landeskirche, zunächst als Hilfsgeistlicher in Lengenfeld/Vogtland, wo er am 7. November 1909 ordiniert wurde. Nach der Zweiten Theologischen Prüfung am 11. Mai 1910 in Dresden trat er im Juli 1910 die Stelle als Zweiter Diakonus in Falkenstein/Vogtland an. Im Frühjahr 1915 wurde er einstimmig zum Ersten Pfarrer an der Lutherkirche in Glauchau/Sachs. gewählt.2 Mit Beginn seines Dienstes in Glauchau entwickelte Münnich eine fast unglaubliche Fülle von Aktivitäten. So baute die Gemeinde mitten im Ersten Weltkrieg unter seiner Leitung und persönlichen finanziellen Beteiligung innerhalb eines halben Jahres (vom Februar 1916 bis zum Reformationsfest 1916) das Glauchauer Lutherhaus, ein für damalige Verhältnisse hochmodernes Gemeindehaus. Der große Saal mit 250 Sitzplätzen konnte durch von der Decke herabzulassende Rollwände in zwei Räume geteilt werden und ist ausgeschmückt mit

1 2

Kirchenpolitik ergangen 1918 (KGArch St. Georgenkirchgemeinde Schwarzenberg, Nr. 2, Bl. 139). Akten der 1. Pfarrstelle der Lutherkirchgemeinde (KGArch Lutherkirchgemeinde Glauchau, A I 1, Bl. 32).

Adolf Münnich

37

zwei riesigen Wandgemälden des Malers Max Theodor Moser.3 Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges gelang es ihm, die Glocken der Lutherkirche zurückzuholen. 1922 begann ihre grundlegende Sanierung und Erneuerung. In seiner Amtszeit entwickelte sich die Gemeinde zu einer nach innen und außen gesicherten, glaubensstarken, von lebendigem, christlichem Aufbaugeist erfüllten Gemeinde.4 Im Herbst 1934 wurde Münnich auf die Erste Pfarrstelle in Schwarzenberg gewählt. In seinem Lebenslauf erwähnt Münnich, dass er »um des Gewissens willen nicht länger das« ihm »aufgezwungene Amt eines sog. kommissarischen ­Superintendenten von Glauchau verwalten wollte noch konnte«.5 An die G ­ emeinde in Schwarzenberg erging der Hinweis aus dem Landeskirchenamt (LKA) vom 3. August 1934, dass »dem LKA wegen der beabsichtigten Verbindung der 1. Pfarrstelle zu Schwarzenberg mit einem kirchlichen Aufsichtsamte die Wahl des Pfarrers Münnich erwünscht ist«.6 Ähnlich wie in Glauchau stürzte sich Münnich auch hier sofort in die Arbeit. 1935/36 begann er mit Vorüberlegungen und Vorbereitungen für eine Erneuerung der St. Georgenkirche.7 Doch es gab Schwierigkeiten. In den Bauakten der Gemeinde ist von allerlei Hemmungen und davon die Rede,8 dass die Zeit für das Vorhaben noch nicht gekommen sei. 1937/38 wurde der Erneuerungs- und Umbauplan für die St. Georgenkirche unter kräftiger Mitwirkung von Friedrich Emil Krauss (1895–1977), dem Direktor der örtlichen Krauss-Werke (im Zweiten Weltkrieg Rüstungsproduzent, nach dem Krieg Waschmaschinenwerk) und Gaukulturwart, sowie unter Beteiligung örtlicher Firmen wieder aufgenommen. Krauss spielte in der sächsischen NS-Kulturpolitik eine wichtige Rolle. Mit der 3

4 5 6 7

8

Vgl. die Selbstdarstellung im Lebenslauf Münnichs von 1945 (LKArch Dresden, 2/1558): »Vom Gedanken der ecclesiola in ecclesia, den Kerngemeinden & ihrer Bildung & Pflege ausgehend, schuf ich das Glauchauer Lutherhaus als Pflegestätte kirchengemeindl. Lebens in der Linie dieser Gedanken. Dieses Kirchgemeindehaus mit seinen der kirchgemeindl. Arbeit dienenden Sondereinrichtungen wurde selbst vom geschäftsführenden Direktor des Centralausschusses für Innere Mission Deutschlands als einmalig bezeichnet, da es auch die neuesten technischen Mittel in den Dienst der Kirche stellte.« Akten der 1. Pfarrstelle der Lutherkirchgemeinde (KGArch Lutherkirchgemeinde Glauchau, A I 1, Bl. 296). Personalakte Münnich (LKArch Dresden, 2/1558). Die Besetzung des Pfarramtes Schwarzenberg, Band II, 1934–1950, Rep. II Loc. XXVII, Nr. 84 (EphArch Schneeberg/Aue, Bestand Aue, I/1). Federführend war das Architekturbüro von Prof. Dr. Dr.-Ing. Emil Högg (Denkmalpfleger und Kirchenbauwart der Landeskirche Thüringen) und Dr.-Ing. Friedrich Rötschke. Högg wurde durch Vermittlung von Kunstmaler Hans Möller (Mitglied der Reichskulturkammer und Mitglied des Vereins für Kirchliche Kunst) in das Projekt einbezogen. In seiner Zusage vom 16.11.1935 dokumentierte Högg seinen außergewöhnlichen Fall (Parteiaustritt nach Kontroverse über frühere Mitgliedschaft in der Freimaurerloge). Münnich nahm daran offensichtlich keinen Anstoß. Vgl. Erneuerung der St. Georgenkirche, erg. 1934 ff. (KGArch St. Georgenkirchgemeinde Schwarzenberg, Abt. IV/B1a, Fach 19, Nr. 1, Bl. 45–57). Vgl. ebd. (ebd., Bl. 58 ff.).

38

Christian Löhr

1936 erfolgten Gründung des Heimatwerks Sachsen war er dessen Vorsitzender; nach der Gleichschaltung des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz seit 1940 auch hier der Vorsitzende. Doch auch diese neuerlichen Umbaupläne in Schwarzenberg kamen aus finanziellen Gründen nicht zum Ziel. Nur dringliche Sanierungsarbeiten konnten im Sommer 1941 durchgeführt werden. Gerade noch rechtzeitig war Münnich in Glauchau am 1.  Mai 1933 in die ­NSDAP eingetreten. Zwar gehörte er damit nicht mehr zu den »Alten Kämpfern«. Die Indizien sprechen aber auch gegen einen Eintritt aus purem Opportunismus. 1933 war Münnich wohl wirklich der Überzeugung, die Parteimitgliedschaft mit seinem Amt als Pfarrer sinnvoll verbinden zu können. Die Mitgliederkartei führte ihn unter der Nummer 1915304.9 Ab Mai 1933 galt für lange Zeit ein Aufnahmestopp in die NSDAP, der erst 1937 gelockert und 1939 wieder vollständig aufgehoben wurde. Darüber hinaus war Münnich auch Mitglied des Nationalsozialistischen Pfarrerbundes.10 In den Akten der Lutherkirchgemeinde in Glauchau finden sich keinerlei Hinweise darauf, dass der Eintritt Münnichs in die NSDAP Gegenstand irgendeiner öffentlichen Information oder gar Diskus­sion zum Beispiel im Kirchenvorstand gewesen sei. Wohl aber hat er Spuren hinterlassen, da sein Engagement auch weit in die bürgerliche Gemeinde hinein wirkte, beispielsweise im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit. So wurde Münnich am 14. Februar 1934 als »bürgerliches Mitglied« in den Ausschuss für das Jugendamt in Glauchau gewählt. Am 20. April 1934 teilte der Rat der Stadt, Jugendamt Glauchau, Münnich mit, er sei am 28. März des Jahres auf Vorschlag der NSDAP als Jugendbezirksvorsteher wiedergewählt worden (Bezirk 16). Münnich nahm die Wahl an.11 Auch in der NS-Volkswohlfahrt war Münnich Mitglied.12 Münnichs Engagement in der Partei und deren Untergliederungen hatte auf seine Wahl in Schwarzenberg keinen erkennbaren Einfluss. Das muss sich jedoch in den nächsten Jahren sukzessive geändert haben. Spätestens im Vorfeld der von Adolf Hitler am 15. Februar 1937 verfügten Kirchenwahlen, die innerhalb der

   9

Vgl. Bundesarchiv, NSDAP-Gaukartei. Die Karteikarte gibt für Glauchau noch die vollständige Adresse an. Nach dem Umzug nach Schwarzenberg fehlt diese. Im Bundesarchiv ist zu Münnich nur noch ein Vorgang aus dem Jahr 1937 archiviert. Dabei handelt es sich um die Akten des NSLB (Nationalsozialistischer Lehrerbund), dem Münnich offensichtlich angehört hat. Der Sache nach geht es um den Erlass von noch ausstehenden Beitragszahlungen. Münnichs Antrag weist auf eine wegen familiärer Verpflichtungen angespannte persönliche finanzielle Situation hin (BArch, NSLB, D 0035, Bl. 1476; 1478). 10 In einer Liste aus dem Pfarrarchiv Langenau wird er mit der Mitgliedsnummer 76 geführt. 11 Akten der 1. Pfarrstelle der Lutherkirchgemeinde (KGArch Lutherkirchgemeinde Glauchau, A I 1). Die Gemeinde bescheinigt ihm umfangreiche Leitungstätigkeit bei der Jugendarbeit. Daneben finden sich Erklärungen Münnichs, dass er nicht Mitglied der Bekennenden Kirche (BK) sei, auch nicht Mitglied der Freimaurer oder ähnlicher Vereinigungen. 12 Vgl. Akten der 1. Pfarrstelle der Lutherkirchgemeinde (KGArch Lutherkirchgemeinde Glauchau, A II 1).

Adolf Münnich

39

evangelischen Landeskirchen mit Ausnahme der Deutschen Christen heftigen Widerstand auslösten und schließlich nicht durchgeführt wurden, gab es Indizien dafür, dass Münnichs Auftreten in Schwarzenberg zumindest nicht unumstritten war. So berichtete Münnichs Amtsvorgänger Bernhard Rudolf Hauffe13 in einem Begleitschreiben zum Entwurf für einen Wahlaufruf vom 21. März 1937 von Aufregung in Teilen der Gemeinde, weil die Kirche zu Schwarzenberg keinerlei sachliche Aufklärung gebe in der Frage der Kirchenwahlen. Hauffe fährt fort: »Man beurteilt Dich falsch, und ich stelle Deine bekenntnistreue Gesinnung fest, wo immer ich kann.«14 Dem entspricht ein Schreiben Münnichs an Pfarrer Wilhelm Anacker (Niederschlema), in dem Münnich auf sich bezogen von Hetze und Schwindel seitens der Deutschen Christen (DC) sprach.15 Angesichts dessen hielt es Münnich offensichtlich für geboten, in einer betont kirchenpolitischen Erklärung öffentlich darzutun, dass er keiner der untereinander zerstrittenen Gruppierungen innerhalb der Kirche angehöre. Dem widersprach es in seinen Augen nicht, dass er sich hinsichtlich seiner Parteizugehörigkeit als Nationalsozialist aus Überzeugung darstellte. Zum Beweise dafür verwies er auf seinen Dienst an Volk und Führer »im Rahmen des mir zugewiesenen Amtes«. Eine klare Linie zog er gegenüber der Thüringer DC (nationalkirchliche) Bewegung, weil diese gegen die Evangelisch-lutherische Landeskirche Sturm laufe.16 Diese Erklärung Münnichs unterstreicht sein Kernanliegen, das schon kurz vor seinem Weggang aus Glauchau sichtbar wurde. Dort findet sich im Protokoll der letzten von Münnich geleiteten Kirchenvorstandssitzung am 18. September 1934 die Feststellung, man sei sich im Kirchenvorstand einig darüber, »jeden ­Kirchenstreit in Glauchau möglichst auszuschließen«. Der Anlass dafür war eine Beschlussfassung über die Stellung zur volksmissionarischen Bewegung. Der Kirchenvorstand empfahl ein neutrales Lokal als Versammlungs- und Schulungsort (also keine kirchlichen Räume!), nicht zuletzt deswegen, weil der Kirchenkreis schon »mit Erfolg von der thüringischen Bewegung der deutschen Christen bearbeitet worden« sei. Und es kommt noch einmal das Argument, jeder Kirchenstreit solle vermieden werden.17 Kirchenstreit vermeiden bedeutete für Münnich, alle Versuche einer irgendwie gearteten Einflussnahme auf das Gemeindeleben abzuwehren und der Gemeinde den kirchlichen Frieden zu erhalten. Deswegen stellte er sich in 13 14 15 16

Bernhard Rudolf Hauffe (1869–1944), von 1915–1934 Pfarrer zu Schwarzenberg. Kirchenpolitik ergangen 1918 (KGArch St. Georgenkirchgemeinde Schwarzenberg, Nr. 2, Bl. 139). Ebd. (ebd., Bl. 147). Wie genau Münnich deren Propaganda verfolgte, zeigen die Berichte über eine Wahlversammlung der DC Nationalkirchliche Bewegung (vgl. ebd., Bl. 124–126) und der Kirchenbewegung Deutsche Christen (Thüringer DC) (vgl. ebd., Bl. 151 ff.). 17 Sitzungsprotokolle des Kirchenvorstandes vom 3.1.1922–27.10.1936 (KGArch Lutherkirchgemeinde Glauchau, E III 5/6).

40

Christian Löhr

S­ chwarzenberg zunächst offensiv gegen jede Agitation und Propaganda von Aktivisten der Bekennenden Kirche. Zwei Vorgänge sind dokumentiert:18 So hat Münnich, wie ein Schreiben des LKA an Münnich vom 15. April 1935 berichtet, durch sein »tatkräftiges Handeln« den Versuch zur Gründung einer Ortsgruppe der Bekenntnisgemeinschaft in Schwarzenberg durch den Notbundpfarrer Kießling »im Keim erstickt«. Am 25. April 1935 antwortete Münnich darauf mit der Anzeige, dass ein ehemaliger Schriftenmissionar und Führer eines Evangeliumswagens des Landesvereins für Innere Mission in Sachsen, ein Herr Schwarzer, Buch- und Schriftenkolportage für die BK habe betreiben wollen, dabei aber bei dem Ortsgruppenleiter Schwarzenberg der »Deutschen Christen«, Studienrat Hellriegel, der – wie Münnich betont – »in engster Verbindung mit mir arbeitet«, »glatt abgeflogen« sei. Münnich empfahl, den Mann durch die Superintendentur ­überwachen zu lassen. Gegenüber der Kirchenbewegung Deutsche Christen (Thüringer DC) schlug er 1937 eine andere, stärker taktisch orientierte Linie ein. Das belegt eindrücklich ein ab dem 30. August 1937 einsetzender umfangreicher Schriftwechsel wegen der Forderung der DC, die Kirche und andere kirchliche Räumlichkeiten für ihre Veranstaltungen nutzen zu können.19 Da es sich hier nicht um Propagandaveranstaltungen handele,20 einigte man sich nach einigem Hin und Her gegen Ende des Jahres darauf, dass für jeden Termin ein gesonderter Antrag gestellt werden müsse und eine extra Genehmigung erteilt würde. Anfang 1939 sicherte sich Münnich in dieser Angelegenheit noch einmal ausdrücklich durch eine Anfrage bei der vorgesetzten Dienststelle ab. In ihrer Antwort vom 28. Januar 1939 wies die Superintendentur auf die Forderung eines »verständnisvollen Entgegenkommens gegen kirchliche Minderheiten seitens der Kirchenvorstände« hin. Eine Versagung der Kirche durch den Kirchenvorstand würde »nichts nützen«, weil letzten Endes »das Ev. luth. Landeskirchenamt, wie es in solchen Fällen immer geschieht, von sich aus die Kirche freigeben [würde]. 18 Vgl. Kirchenpolitik ergangen 1918 (KGArch St. Georgenkirchgemeinde Schwarzenberg, Nr. 2, Bl. 69, 71). 19 Für alles Folgende ebd. (ebd., Bl. 174 ff.) und ergänzend, v. a. zu den DC-Konfirmationen, Deutschkirche und DC-Pfarramt (KGArch St. Georgenkirchgemeinde Schwarzenberg, Nr. 324; J II, 1 und 2a). Bemerkenswert der Hinweis vom Ortsgemeindeleiter DC Albert Ficker in seinem ersten Schreiben an den Kirchenvorstand, dass die DC-Mitglieder fast zu 100 Prozent der evang.-luth. Kirchgemeinde angehören und ihren steuerlichen Verpflichtungen dort nachkommen. Nach seinen Angaben zählte die Kirchenbewegung DC 300 Mitglieder. Der Schriftwechsel in Sachen DC verrät Münnichs Bemühen, jede ihm persönlich anzurechnende Verantwortlichkeit in dieser Angelegenheit auszuschließen, weshalb er sich streng aus jeder kirchenpolitischen Betätigung heraushielt. Andererseits zeigten sich er und die Gemeinde »sorgsam bemüht, die bestehenden Gesetze des Staates und unserer Kirche zu beachten«. 20 Da gab es im Vorfeld der Kirchenwahlen 1937 eine klare Absage, von Dresden legitimiert; vgl. Kirchenpolitik ergangen 1918 (KGArch St. Georgenkirchgemeinde Schwarzenberg, Nr. 2, Bl. 142 ff., 146).

Adolf Münnich

41

Darum der Rat der Superintendentur: Überlassen Sie Ihre Kirche den deutschen Christen zur Gottesfeier.« Damit war die Situation für die Zukunft klar. Ab 1940 ging es dann aber auch um DC-Konfirmationen und um die Überlassung des Pfarrsaales für den wöchentlichen Konfirmandenunterricht. Erst ab Herbst 1942 gab es für die Nutzung des Pfarrsaales eine Blankogenehmigung an jedem ersten Mittwoch des Monats. Wie die Akten in Schwarzenberg zeigen, hatte vor allem die Tätigkeit des im Zusammenhang mit den Konfirmationen genannten Pfarrers Johannes Haaß aus der Kirchgemeinde Lauter noch ein langes Nachspiel nach Kriegsende. Die Streitfrage war, ob diese Konfirmationen rechtens gewesen seien. Gegenüber allem, was von Münnich nur irgendwie als Eingriff in innergemeindliche Befugnisse oder als eine Behinderung kirchlicher Veranstaltungen gewertet werden konnte, ging Haaß kompromisslos mit Anzeigen und Beschwerden gegenüber staatlichen und kirchlichen Dienststellen vor.21

»So warte ich geduldig ab, lege Alles in m. HERRN Hand & tue schlicht meine Pflicht«22 Fast neun Jahre später, am 5. Januar 1946 – Deutschland hatte indessen den Krieg verloren und war in vier Besatzungszonen aufgeteilt, Schwarzenberg hatte zudem eine etwa sechs Wochen währende besatzungslose Zeit hinter sich –, wurde Adolf Münnich im Nachgang zum Runderlass Nr. 20 des LKA Dresden vom 1. Oktober 1945, die »Beseitigung von Resten nationalsozialistischer Weltanschauung in der Pfarrerschaft« betreffend, und dem Rundschreiben der Superintendentur Nr. 18 vom 8. Oktober 1945 in einem Schreiben vom 5. Januar 1946 mitgeteilt, dass er die Pfarramtsleitung an seinen Kollegen Pfarrer Zipfel zu übergeben habe.23 Grund sei seine Zugehörigkeit zur NSDAP. Münnich kam dieser Aufforderung umgehend nach und übergab am 7. Januar 1946 alle Leitungsgeschäfte. In ­einem per21 Vgl. Beschwerde gegen Münnich wegen versagter Grabinschrift auf Bermsgrüner Friedhof (­Die Besetzung des Pfarramtes Schwarzenberg, Band II, 1934–1950, Rep. II Loc. XXVII, Nr. 84 [­EphArch Schneeberg/Aue, Bestand Aue, I/1]); Kirchenpolitik ergangen 1918, Gestapo-Aktion wegen Flugblatt von 1937 (KGArch St. Georgenkirchgemeinde Schwarzenberg, Nr. 2, Bl. 294–296); Gottesdienststörung am Heldengedenktag 1941 durch HJ-Trupp (ebd., Bl. 304). Vgl. auch eine Notiz bei Christian Haustein, Das geistliche Leben unserer Gemeinde im Dritten Reich. In: Auf Fels gebaut, Scheibenberg 1999, S. 100, zu Münnichs Protest bei der Kirchenleitung gegen die Behinderung kirchlicher Kinder- und Jugendarbeit durch die Hitlerjugend. 22 Münnich an Siegmund vom 5.3.1946 (Die Besetzung des Pfarramtes Schwarzenberg, Band II, 1934–1950, Rep. II Loc. XXVII, Nr. 84 [EphArch Schneeberg/Aue, Bestand Aue, I/1]). 23 Personalakte Schwarzenberg (KGArch St. Georgenkirchgemeinde Schwarzenberg, Nr. 288; E I, 1a). Das Schreiben von Superintendent Siegmund befindet sich im Aktenbestand des Regio­ nalkirchenamtes Chemnitz, Geistliches Amt Schwarzenberg St. Georgen, Signatur IV, 31, e. Siegmund bezieht sich auf die Verordnung des LKA Nr. 1821/25 vom 7.12.1945, Pkt. 3.

42

Christian Löhr

sönlichen Schreiben vom 8. Januar dankte er Superintendent Ringulf Siegmund für die »persönlich […] warmen Worte«. Den Rat, ein Rehabilitierungsverfahren in eigener Sache anzustrengen, lehnte Münnich ab. Er habe zu ­diesen Dingen bereits im Spätherbst 1945 Stellung genommen. Auch sei ihm von Geheimrat Erich Kotte (LKA Dresden) und Pfarrer Wolff (Grünhain) versichert worden, dass seine Eingabe, seine Stellung zum Nationalsozialismus betreffend, sowohl in Dresden als auch in Schneeberg/Aue zu den Akten genommen w ­ orden sei. Münnichs Schreiben schloss mit dem Hinweis »Ein Aufsehen in der Gemeinde St. Georgen/Schwarzenberg, die Herrn Pfarrer Zipfel ebenso kennt wie mich & meine Haltung, wird sich auch ohne das geringste Zutun meinerseits leider nicht vermeiden lassen«.24 Münnichs Schreiben, der Form nach korrekt, aber sehr unterkühlt, lässt keinen Zweifel daran: Münnich fühlte sich zu Unrecht aus den Leitungsämtern der ­Kirche gedrängt. Denn er habe, wie er am 4. November 1945 in »Ergänzung ­meines ausführlichen Berichtes vom 11. Oktober 1945 an die Ev. luth. Superintendentur Schneeberg« dem LKA in Dresden mitteilte, schließlich unter dem ­nationalsozialistischen Regime gelitten: »Ich bin zwar Mitglied der NSDAP gewesen ab 1.5.1933, aber ich war weder in der SA noch in der SS. Ich habe in der Partei kein Amt gehabt, mich auch in keinerlei Weise nationalsozialistisch betätigt, habe im November 1935 zum letzten Male eine nationalsozialistische Versammlung besucht. Ich bin immer bemüht gewesen, als Diener am Worte Gottes Jesus Christus lauter & rein zu verkündigen & mein Amt getreu meinem Ordinationsgelübde gewissenhaft zu verwalten. Um deswillen habe ich, wie ich in meinem ausführlichen Bericht dargelegt, Bedrückung und Verfolgung seitens der NSDAP ertragen müssen.«25

Die in dieser Erklärung erwähnten Bedrückungen und Verfolgungen wurden von Münnich in einer Antwort vom 27. Juni 1946 auf ein Schreiben des LKA zwecks Erstellung einer Statistik über Maßnahmen des NS-Regimes gegen Geistliche präzisiert. Münnich listete auf:26 Vorladungen durch die Gestapo nach Zwickau, Verhöre durch die Schwarzenberger Polizei, Verwarnung durch die Gestapo, Haussuchungen in der Kirchenkampfzeit, Verhör im Auftrag der Gestapo Plauen und Unterschiebung gefälschter Flugblätter. Des Weiteren nennt er Vorladungen durch die Kreisleitung Aue der NSDAP und ins LKA wegen dienstlicher Vorgänge sowie »Abwürgung des von mir herausgegebenen Ev. Sonntagsblattes ›Der

24 Vgl. den vertraulichen Bericht Münnichs an Sup. Siegmund vom 5.3.1946, der sich schon fast an der Grenze zur Denunziation bewegt (Die Besetzung des Pfarramtes Schwarzenberg, Band II, 1934–1950, Rep. II Loc. XXVII, Nr. 84 [EphArch Schneeberg/Aue, Bestand Aue, I/1]). 25 Personalakte Schwarzenberg (KGArch St. Georgenkirchgemeinde Schwarzenberg; Nr. 288, E I, 1a). 26 Kirche und NSDAP, 1936–, Rep. I Lit. K Nr. 55 (EphArch Schneeberg/Aue, Bestand Aue, K 55).

Adolf Münnich

43

Pilger aus Sachsen‹ (war 1934 100 Jahre alt) durch DC-LKA (Aera Seck!)« und den Entzug der Schriftleitung des »Westerzgebirgischen Kirchenblattes« durch das DC geführte LKA. Besonderes Interesse verdient ein Nachtrag vom gleichen Datum. Dort heißt es: »In meinem heutigen, bereits zur Post gegebenen Berichte zu Ihrem Rundschreiben ‒ Reg. 1452, Statistik über Maßnahmen der NS – hatte ich unter 2) vergessen noch zuzufügen: ›Kurz vor dem Zusammenbruch des Krieges war ich von der Ortsgruppenleitung Schwarzenberg/E. auf die Liste der ins Konzentrationslager Dachau Einzuliefernden gesetzt worden. Es fehlte nur noch die Unterschrift des Kreisleiters.‹ Bitte fügen Sie dies meinem Berichte an, weil gerade diese Angabe für mich wichtig ist.« Es sind wohl diese Vorgänge, einschließlich einer weiteren, bisher nur durch eine späte Zeitzeugenaussage belegten Begebenheit,27 die in dem Schreiben anklingen, das der Superintendent des Kirchenkreises, Siegmund, am 24. Januar 1946 an den Ersten Bürgermeister, den Landrat und den antifaschistischen Ortsausschuss richtete. In ihm teilte er mit, dass Münnich aufgrund der Verordnung des LKA vom 7. Dezember 1945 als Parteigenosse die Pfarramtsleitung entzogen worden sei. Siegmund fährt dann aber fort: »Auf Grund des mir inzwischen durch den Kirchenvorstand (KV) und von anderer Seite übermittelten Materials ersehe ich, dass Herr Oberpfarrer Münnich sich durchaus antifaschistisch betätigt hat. Das LKA ist bereit, ihm wieder die Pfarramtsleitung und den Vorsitz in den kirchlichen Körperschaften zu übertragen, wenn dagegen von Seiten der politischen Behörden keine Bedenken erhoben werden.«28 Für die örtlichen politischen Behörden schien der Fall jedoch so klar nicht zu liegen. Seltsam zögerlich gingen die Antworten der politischen Verantwortungsträger ein. Sie lehnten eine Rehabilitierung Münnichs ab. Die Hintergründe für die Ablehnung sind zunächst undurchsichtig. Mitte März 1946 bat das LKA um eiligen Bericht in der nicht vorangehenden Angelegenheit der Rehabilitierung Münnichs und empfahl ihm, direkt bei dem Vorsitzenden der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands für Sachsen Hugo Hickmann in Dresden um s­ eine Rehabilitierung nachzusuchen. Indessen war nämlich bekannt geworden, dass weder die Polizeiverwaltung noch die übrigen im antifaschistischen

27

28

Vgl. dazu auch Haustein, Das geistliche Leben, S. 105. Münnich habe in der Zeit, da der Kreis Schwarzenberg für sechs Wochen unbesetztes Gebiet war, entscheidenden Anteil daran gehabt, dass sich nach Abweisung durch die Amerikaner der antifaschistische Ausschuss schließlich an das Hauptquartier der sowjetischen Truppen in Annaberg wandte mit der Bitte um Hilfe für die Versorgung der Bevölkerung im Kreis Schwarzenberg. Die Besetzung des Pfarramtes Schwarzenberg, Band II, 1934–1950, Rep. II Loc. XXVII, Nr. 84. (EphArch Schneeberg/Aue, Bestand Aue, I/1). Dort auch die im Folgenden erwähnten Schriftstücke zum Fall Sorgenfrei und ergänzend Kirchgemeindebeamte Schwarzenberg, 1926–1950, XXVII Nr. 69 (ebd., I/6–9).

44

Christian Löhr

­ usschuss vertretenen Parteien etwas gegen die Rehabilitierung Münnichs einA zuwenden hatten. Nur der CDUD-Ortsausschuss habe seine Zustimmung verweigert.29 Dessen Vorsitzender Erich Sorgenfrei, zugleich Kirchenoberinspektor der Kirchgemeinde, war mit Münnich und den Leitungsgremien der Kirchgemeinde seit Mitte Mai 1945 in Auseinandersetzungen um seine Amtsführung verwickelt.30 Die Vermutung liegt nahe, dass die ablehnende Haltung der politischen Stellen zu Münnichs Rehabilitierung ein Nebeneffekt der Auseinandersetzung um Sorgenfreis Amtsführung war. Anlässlich einer Befragung von­ ­Sorgenfrei durch Superintendent Siegmund gab dieser für seine Ablehnung der Rehabilitierung Münnichs folgende Gründe an: »1.  ist Pfarrer Münnich als Pg. [Parteigenosse] nach Schwarzenberg gekommen; 2. habe er in Glauchau, von wo er kam, sich stark parteipolitisch betätigt; 3. habe er in einer Sitzung gleich nach seinem Amtsantritt gesagt, er wäre stolz auf das Parteiabzeichen.« Sorgenfrei habe seine Vorwürfe bekräftigt mit dem Hinweis: »In einer solchen Kleinstadt wie Schwarzenberg vergesse man so etwas nicht.«31 In seinem Bericht darüber äußerte Siegmund die Vermutung, Sorgenfrei wolle Münnich mit seiner Ablehnung der Rehabilitierung im Amte unmöglich machen. Um die Situation in Schwarzenberg zu entspannen, nahm das LKA einen Vorschlag des Superintendenten auf und empfahl mit Datum vom 28. März 1946, Pfarrer Hammerschmidt aus Neuwelt solle die Pfarramtsleitung in Schwarzenberg St. Georgen vorerst übernehmen. Pfarrer Zipfel wurde daraufhin von der Pfarramtsleitung entbunden und Hammerschmidt sowie der Kirchenvorstand Schwarzenberg informiert. Die Auseinandersetzung mit Sorgenfrei eskalierte jedoch weiter durch eine Dienstaufsichtsbeschwerde des Stadtrates Moritz Hellig gegen Erich ­Sorgenfrei, datiert vom 29. April 1946. Am 8. Mai 1946 nahm Sorgenfrei zu der Dienstaufsichtsbeschwerde Stellung. Am 1. Juli 1946 wiederum erging seitens des Bezirkskirchenamtes eine Verfügung an alle Beteiligten zur Friedenspflicht. Doch abgeschlossen war der Fall Sorgenfrei erst am 14. Oktober 1947 mit dessen Amtsniederlegung. 29

So Münnich in dem schon mehrfach zitierten vertraulichen Schreiben an Superintendent Siegmund vom 10.3.1946. Immerhin ist es ein ungewöhnlicher Vorgang, dass ein von kirchlichen Leitungsfunktionen enthobener Pfarrer um vertrauliche Berichte über die Situation in seiner Gemeinde und in eigener Angelegenheit gebeten wird. Das ist wohl ein Hinweis auf Münnichs Rolle und Ansehen. 30 Münnich hatte am 30.5.1945 unter Bezugnahme auf einen Beschluss des Kirchenvorstandes vom 28.5.1945 um die Versetzung von Sorgenfrei gebeten. Diesem Antrag wurde durch die Superintendentur wegen Nichterreichbarkeit der übergeordneten Dienststellen vorerst entsprochen. Daraufhin richtete Sorgenfrei am 14.6.1945 eine Eingabe an das LKA. 31 Die Besetzung des Pfarramtes Schwarzenberg, Band II, 1934–1950, Rep. II Loc. XXVII Nº 84 (EphArch Schneeberg/Aue, Bestand Aue, I/1).

Adolf Münnich

45

Auch das Rehabilitierungsverfahren für Münnich zog sich hin. Zwar war Münnich bereits im November 1946 wieder im Amt, denn – so zeigte der Kirchenvorstand der St. Georgenkirche zu Schwarzenberg am 4. Januar 1947 dem LKA an – der Sonderausschuss des Blocks der Antifaschistisch-Demokratischen Parteien im Bundesland Sachsen habe einstimmig beschlossen, »für Pfarrer Adolf Münnich in Schwarzenberg, Ob. Schloßstr. 30, auf Grund der vorgelegten Unterlagen den Nachweis seiner antifaschistischen Betätigung als erbracht anzusehen«. »Damit  – so der Ausschuss – sei die politische Rehabilitierung Pfarrer Münnichs erfolgt. Auf seinen Antrag habe die zuständige Polizeistelle in Schwarzenberg die Streichung seines Namens aus dem Register der ehemaligen Pg. vorgenommen.«32 Dem Schreiben ist mit Stempel und handschriftlich der Beschluss des Kirchenvorstandes vom 21. November 1946 beigefügt, dem zufolge das LKA Pfarrer Münnich die Pfarramtsleitung erneut übertragen hatte. Endgültig abgeschlossen war dieses Verfahren aber erst mit einer Sitzung der kirchlichen Entnazifizierungskommission vom 17. Januar 1948. Dort wurde das Urteil gefällt: Weiterbeschäftigung, jedoch nicht in kirchlichen Führungsämtern. Begründung: Münnich habe der NSDAP ab 1. Mai 1933 angehört, ohne in ihr tätig zu sein. Er sei kein NS-Aktivist. Am Anfang habe er mit den DC sympathisiert. Er sei auch Mitglied der AG NS-Pfarrer in Sachsen gewesen. Wörtlich heißt es dann: »Da er in seiner Gemeinde Schwarzenberg nicht hatte deutschchristlich arbeiten können, hat er sich in Verkündigung und Amtsführung an die Ordnung der Kirche gehalten.«33 Beigefügt ist die von Willy Krause für die SED, von Erich Sorgenfrei für die CDU und für die LDP von Kegel unterzeichnete Unbedenklichkeitserklärung vom 21. Juni 1946. Als Rehabilitationstermin wurde der 10. August 1946 genannt. Zu fragen ist, ob mit diesem kirchenamtlichen Urteil das Problem überhaupt erfasst ist. Aus den verfügbaren Akten geht jedenfalls hervor, dass Münnich deutschchristliche Tendenzen kaum unterstellt werden dürften, denn gegen diese hatte er sich fast immer gewehrt und versucht, sie von der Gemeinde möglichst fernzuhalten. Das entscheidende Problem ­dürfte vielmehr darin zu sehen sein, dass Münnich die Bekenntnistreue zur lutherischen Kirche mit einer nationalsozialistischen Überzeugung verbinden konnte.

32

Personalakte Schwarzenberg (KGArch St. Georgenkirchgemeinde Schwarzenberg, Nr. 288; E I, 1a). Gleichlautendes Schreiben im Aktenbestand des Regionalkirchenamtes Chemnitz, Geistliches Amt Schwarzenberg St. Georgen, Signatur IV, 31, e. 33 Personalakte Münnich (LKArch Dresden, LKA Dresden, 2/1558). Der Fragebogen Entnazifizierung mit Anlagen ist nicht mehr vorhanden. Ob Sorgenfrei seinen Widerstand gegen eine Rehabilitierung Münnichs von sich aus aufgegeben hat oder es dazu einer Weisung aus Dresden bedurfte, lässt sich anhand der Aktenlage nicht klären.

46

Christian Löhr

Eine Zwischenbilanz: Er hat sich an die Ordnung der Kirche gehalten Auch wenn die wichtige Erklärung Münnichs seine Stellung zum Nationalsozialismus sowie seine Parteizugehörigkeit betreffend als verloren gelten muss,34 lässt sich der Vorgang der Entnazifizierung und Rehabilitierung Münnichs mitsamt seinen Verwicklungen eindeutig interpretieren. Da war zunächst eine lokale ­Besonderheit in Gestalt der Auseinandersetzung zwischen dem Ersten Pfarrer bzw. der Gemeindeleitung (also Münnich und Stadtrat Hellig als Vorsitzender des Kirchgemeindeverbandes) einerseits und dem Kirchenoberinspektor und Vorsitzenden des Ortsausschusses der CDUD Erich Sorgenfrei andererseits. Diese Auseinandersetzung wirft ein helles Licht auf die in politischen Umbruchzeiten allzu oft vorkommende Instrumentalisierung politischer Überzeugungen für die Lösung privater Konflikte.35 Es steht nach Aktenlage außer Zweifel, dass Sorgenfrei die Lösung seines Konfliktes mit Münnich über die politische Verhinderung von Münnichs Rehabilitation suchte. Dass an dem Konflikt auch Münnich nicht unbeteiligt war, steht ebenfalls außer Zweifel.36 Abgesehen von dieser lokalen Besonderheit, die den Prozess der Rehabilitierung wohl über Gebühr verzögert hat, zeichnen sich drei Gesichtspunkte für die Interpretation ab: 1. Münnich hatte im LKA Dresden Fürsprecher. Das galt vor 1933 ganz offensichtlich. In seinem ausführlichen Lebenslauf (vermutlich Ende 1945 entstanden) gab Münnich zu erkennen, dass er im Hinblick auf seine Ausbildung und seine Anstellung in besonderer Weise von Ihmels gefördert worden war.37 Und es galt wieder, nachdem das LKA 1945 nach den Wirren um die Einsetzung von Coch als Landesbischof nach Ihmels’ Tod und die Zeit des DC-Kirchenregimentes unter Klotsche endgültig neu geordnet wurde. 2. Münnich war mit sich selbst im Reinen. Seine Bekenntnistreue stand für ihn außer Zweifel. Was Münnich in den ersten Jahren nach 1933 unter der For-

34 So die Auskunft aus dem LKArch Dresden – Folge einer unsachgemäßen Aussortierung von Akten aus den 1980er-Jahren. Die noch vorhandene Personalakte lässt die immensen Verluste an der doppelten Paginierung erkennen. 35 Im Laufe meiner 17-jährigen Dienstzeit als Pfarrer in Schwarzenberg, Bermsgrün und Antons­ thal ist mir in zahlreichen Gesprächen berichtet worden, wie in politischen Umbruchzeiten die politischen Überzeugungen benutzt wurden, um private Rechnungen zu begleichen. Das galt für die Umbruchzeit von 1933 ebenso wie für die Zeit nach dem Ende des Krieges und der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus 1945. Es ist uns schließlich auch aus den Jahren 1989/90 nicht gänzlich unbekannt. 36 Im Fall Sorgenfrei gibt es noch eine Stellungnahme der Superintendentur Aue/Schneeberg an den Leiter des Moritzburger Diakonenhauses auf dessen Anfrage hin. Sorgenfrei war seiner Erstausbildung nach Diakon. In dieser Stellungnahme finden sich aufschlussreiche Charakterisierungen der beiden Kontrahenten Münnich und Sorgenfrei. Vgl. Kirchgemeindebeamte Schwarzenberg, 1926–1950, XXVII Nr. 69 (EphArch Schneeberg/Aue, Bestand Aue, I/6–9). 37 Vgl. Personalakte Münnich (LKArch Dresden, 2/1558).

Adolf Münnich

47

mulierung »Nationalsozialist aus Überzeugung« verstanden hat, drückte er in seinem Grußwort für die Festschrift anlässlich des 15. Kreisposaunenfestes im Mai 1936 in Schwarzenberg so aus: »Unsere Aufgabe als Kirche: Wächter und Hüter jahrhundertealter deutscher und christlicher Kultur im Grenzland zu sein.« Dann beschwor er den anstehenden Entscheidungskampf. »Das Grenzland grüßt die Kameraden und Schwertgesellen in diesem Kampfe. Eines wohl armen, aber frommen und treuen Geschlechts Grenzlandwacht inmitten deutscher Berge und Wälder reicht Euch mit festem Druck die treue Hand. Ernst schauen wir Euch ins Auge. Es nahet der Tag. Die Arbeit ruft. Die Pflicht zeigt das Ziel: Es gilt den Herrn Christus und die Deutsche Seele!«38 All seine Entscheidungen und Aktivitäten dienten ausschließlich dazu, die Gemeinde zu einer lebendigen zu bauen (unter Einschluss ihrer äußeren Wohlfahrt) und vor Streit und innerer Spaltung zu bewahren. Um daran aktiv mitwirken zu können, ging er, ohne sich kirchenpolitisch festzulegen, alle ihm geeignet erscheinenden Wege. So nimmt es nicht Wunder, dass Münnich gerade auch in der unübersichtlichen besatzungslosen Zeit äußerst pragmatisch vorging, um das Wohl und das Überleben der Gemeinde zu sichern. Wenn es stimmt, dass Münnich wesentlichen Anteil daran gehabt hat, dass eine Delegation des antifaschistischen Ausschusses sich an die Sowjets um Hilfe gewandt hatte, so wäre dies in den Augen der sowjetischen Besatzungsmacht und auch des Ausschusses deutlicher Ausdruck einer antifaschistischen Gesinnung. Für Münnich selbst hingegen war es wohl eher eine rein pragmatische Entscheidung, nachdem die Ablehnung jedweder Hilfe durch die Amerikaner offensichtlich war. Zunächst hatte auch er, wie ein Dokument aus der Nachbargemeinde Beierfeld zeigt, auf die Amerikaner gesetzt.39

38

Festschrift zum 15. Kreisposaunenfest am 23. und 24. Mai 1936 in Schwarzenberg (Erzgebirge). Hg. vom Posaunen-Kreisverband Zwickau, Schwarzenberg 1936, S. 4. 39 Vgl. dazu Pfarrer Lic. theol. G. Beyer/Beierfeld am 29.5.1945 an Landrat Dr. Hänichen, abgedruckt in Freie Republik Schwarzenberg. Zeugnisse einer Legende. Hg. vom Kunstverein Schwarzenberg e. V., Schwarzenberg 1998, S. 73. Beyer, zu der Zeit stellv. Superintendent, schreibt: »Mein Schwiegersohn, Pfarrer in Zschocken, macht mich soeben durch einen persönlich überbrachten Brief darauf aufmerksam, dass der Zwickauer Kreis durch Geistliche und Laien noch in dieser Woche bei der Zwickauer Militärregierung im amerikanischen Hauptquartier vorsprechen und bitten will, das Gebiet wegen der demokratischen und christlichen Einstellung der Bevölkerung unter amerikanischen Schutz zu stellen und so dem Bemühen der Russen, sich hier auszubreiten, zuvorzukommen. Da die Kirche beim Amerikaner viel gilt, möchte ich diesen Vorschlag an Sie weitergeben.« Beyer erklärt seine Bereitschaft, »als derzeitiger Führer des Kirchenkreises« »unter Mitbeteiligung von Herrn Pfarrer Münnich und Fabrikdirektor Laar in Aue« auch dergleichen zu tun, und bietet seine Kontakte zum Christlichen Verein Junger Männer (CVJM) in Nordamerika dafür an. »Wenn man den Gerüchten Glauben schenken darf, wonach die Amerikaner bestimmt zu uns noch kommen, so ist es doch trotzdem nicht unnötig, sofern es nicht baldigst geschieht, denn die Russen könnten leicht den Amerikanern zuvorkommen.«

48

Christian Löhr

Weil er sich für das Wohl der Gemeinde auch in ihrem weltlichen Umfeld verantwortlich fühlte, verweigerte er auch jetzt nicht von vornherein das Gespräch mit den nun an der Macht befindlichen Parteien und gesellschaftlichen Gruppierungen wie der CDUD und der Nationalen Front. So hatte er es in der Zeit des Nationalsozialismus gehalten. Zwar hatte das wenig genützt, und ihm nach dem Machtwechsel allerlei Schwierigkeiten beschert, doch er ließ sich in dieser Haltung nicht beirren. Allerdings verwahrte er sich energisch gegen jede Form der politischen Vereinnahmung, wie sein Schreiben vom 24.  Juli 1950 an die Superintendentur im Zusammenhang mit einem Bericht über eine Tagung sächsischer Pfarrer in Dresden am 27. Juni 1950 zeigt. Dabei ging es um eine Vertrauenserklärung der Geistlichen der Ephorie Schneeberg vom 3. Juli 1950, der sich Münnich nunmehr nach Rückfrage und Rückäußerung der Superintendentur anschließe. Sicherheitshalber erklärte er noch einmal: »1) Er gehört keiner politischen Partei an. 2) Er ist nicht Mitglied der Nationalen Front. 3) Die von ihm seinerzeit in Schwarzenberg erbetene Erklärung für den Frieden und gegen den Atomwaffenkrieg hat er für rein örtliche Zwecke abgegeben. 4) Die Absicht der Verbreitung durch die Tagespresse wurde ihm verschwiegen und ist ohne seinen Willen durchgeführt worden. Ohne vorher befragt zu werden, wurde er zum Mitglied des Kreis­ ausschusses der Nationalen Front gemacht. 5) Desgleichen hat man ihn zum Mitglied des Kreisfriedenskomitees bestimmt. 6) Der Unterzeichnete hat in einer persönlichen eingehenden mündlichen Aussprache mit dem Landrat Scheffler seine Verpflichtungen gegenüber der Kirche als deren Diener dargelegt und Herrn Scheffler gebeten, dahin zu wirken, dass des Unterzeichneten Name aus den oben genannten Ausschüssen gestrichen werde.«40

3. Münnich hat sich in Verkündigung und Amtsführung an die Ordnung der Kirche gehalten. Wie das im konkreten Fall aussieht, zeigte sich an Münnichs Verhalten gegenüber den kirchenpolitischen Gruppierungen. Die Bekennende Kirche versuchte er aus der Gemeinde herauszuhalten. Gegenüber der Kirchenbewegung Deutsche Christen (Thüringer DC) achtete er auf strikte Einhaltung der Dienstwege und Verantwortlichkeiten. Übergriffe wurden angezeigt. Münnichs an den seinerzeit geltenden staatlichen Gesetzen und den kirchlichen Verordnungen orientiertes pragmatisches Verhalten ließ ihn weder hinsichtlich des Hissens der Hakenkreuzfahnen41 noch im Blick auf die Ver40

41

KGArch St. Georgenkirchgemeinde Schwarzenberg, Nr. 324; J II, 1. Im Jahr 1951 gab es e­ inen ähnlichen Vorgang. Wittig berichtete an die Superintendentur, wie trotz seiner ausdrücklichen Ablehnung eine angeblich von ihm verfasste Erklärung zur Friedensfrage in die Presse gelangt war. Vgl. dazu Schreiben Münnichs vom 29.7.1951 (KGArch St. Georgenkirchgemeinde Schwarzenberg Nr. 288; E I, 1a Personalakte Schwarzenberg). Erzählt wird in Schwarzenberg z. B., dass anlässlich von Hitlers Besuch in der Stadt der Turm der St. Georgenkirche eine Banderole trug mit der Aufschrift »Das Grenzland grüßt den Führer!«.

Adolf Münnich

49

eidigung auf den Führer ein Problem erkennen. Noch unmittelbar vor seinem Dienstantritt in Schwarzenberg hatte er sich in Glauchau am 21. September 1934 im Zusammenhang mit seinem Dienst als kommissarischer Superintendent bei der Vereidigung der Kirchenbeamten »selbst mit vereidigt«.42 Auch 1938 wurde, wie aus einem Bericht an die Superintendentur hervorgeht, die Vereidigung aller bei der St. Georgenkirche Angestellten, Arbeiter und Teilbeschäftigten vorgenommen und das Treuegelöbnis auf Hitler abgelegt. Der Bericht schließt mit den Worten: »Mit einem dreifachen Sieg Heil auf den Führer wird durch den Kirchenvorstandsvorsitzenden der feierliche Akt geschlossen.«43 Die Einhaltung der bestehenden Gesetze des Staates und der Kirche bestimmte denn auch Münnichs Entscheidungen nach dem 8. Mai 1945.44 Als die am 6. November 1945 in der »Schwarzenberger Konferenz« zusammengekommenen Pfarrer der Region Resolutionen beschlossen zur Berufung Hahns zum sächsischen Landesbischof (zustimmend), zur Wahl von Pfarrer Siegmund (Dresden) zum Ersten Pfarrer von Aue/St. Nicolai, was zugleich heißt, er werde das Superintendentenamt übernehmen (zustimmend), und zur Entnazifizierung, schrieb Münnich darauf am 20. November 1945 direkt an Pfarrer Wolff (Grünhain) und begründete ausführlich, warum er sich nur die dritte Resolution zur Entnazifizierung zu eigen machen könne.45 Sowohl im Blick auf die Einsetzung Hahns zum Landesbischof per Akklama­tion als auch zur Amtseinsetzung von ›Superintendent‹ Siegmund a­ rgumentierte 42 Akten der 1. Pfarrstelle der Lutherkirchgemeinde (KGArch Lutherkirchgemeinde Glauchau, A I 1, Bl. 295); Kirchenpolitik ergangen 1918 (KGArch St. Georgenkirchgemeinde Schwarzenberg, Nr. 2, Bl. 212). 43 Kirchgemeindebeamte Schwarzenberg, 1926–1950, XXVII Nr. 69 (EphArch Schneeberg/Aue, Bestand Aue, I/6–9). 44 Vgl. Personalakte Schwarzenberg (KGArch St. Georgenkirchgemeinde Schwarzenberg, Nr. 288; E I, 1a). 45 Die dritte Resolution lautete: »III. Die unterzeichneten Teilnehmer der Schwarzenberger Konferenz bemerken mit Beunruhigung, wie in ihren Gemeinden eine Reihe von Männern aus ihren Stellungen entfernt werden nur auf Grund der Tatsache, dass sie Mitglieder der NSDAP waren, und dass in manchen Fällen gar nicht danach gefragt wird, ob sie besonders aktive Mitglieder gewesen sind. Dieses Verfahren soll auch auf die Kirche ausgedehnt werden. Wir bitten das LKA, mit der Landesverwaltung und den Besatzungsbehörden in dieser Frage zu verhandeln. Es scheinen uns zwei Gesichtspunkte notwendigerweise geltend zu machen sein: 1. Die NSDAP war in den ersten Jahren ihres Bestehens nicht so, dass man mit ihrer Arbeit in vielen Punkten unzufrieden zu sein brauchte. 2. Es ist in manchen Orten der Terror gegen den einzelnen Beamten und Arbeiter oder Geschäftsmann derart scharf gewesen, dass er sich der Mitgliedschaft nicht entziehen konnte. Er ist dann meist auch nicht sehr aktiv in der Bewegung tätig gewesen. Wir bitten darum, dass die einzelnen Fälle einer gerechten Prüfung eines Ausschusses übergeben werden außerhalb der örtlichen Stellen.« In: Personalakte Schwarzenberg (ebd.). Vgl. einen ähnlichen Brief des stellv. Sup. Lic. Beyer an das LKA vom 12.11.1945 (Kirche und NSDAP, 1936, Rep. I Lit. K Nr. 55 [EphArch Schneeberg/Aue, Bestand Aue, K 55]).

50

Christian Löhr

Münnich in zwei Schritten: 1. Er kenne die Leute nicht. Das zeigt Münnichs Ferne zur BK. Bei Hahn komme erschwerend dessen Situation als Geflohener aus dem Baltikum hinzu. Schließlich stünde Sachsen unter sowjetischer Herrschaft und: »Die GPU [sowjetische Geheimpolizei] vergisst nicht. Es wäre auch für die Gesamtkirche & ihre Geistlichen recht bedenklich, einen von den Russen zu Tode Verurteilten […] durch Akklamation zum Bischof zu erheben.« Entscheidender aber als alle Vorbehalte gegen die Person sei das Verfahren, das Münnich »an sich missfällt […], denn es sieht gänzlich ab von der kirchlichen Ordnung. Diese Ordnung aber verlangt legales Vorgehen dergestalt: Erst Kirchenvorstandswahl, dann Synodalwahl, dann LKA-Wahl & Bischofs-Wahl. Ich lehne also solches Vorgehen, wie uns in der Resolution zugemutet, grundsätzlich aus kirchenrechtlichen Gründen ab.« An diese verfahrensrechtlichen Bedenken46 anschließend wird jedes Mal warnend auf die Erfahrungen während der Nazizeit hingewiesen. »In den Worten ›gesetzmäßigen Berufung‹ – sehe ich – zu meinem Bedauern & aufgrund früherer Erfahrung – die von mir erwähnte kirchenrechtliche Ordnung nicht so ohne Weiteres garantiert.« Und: »Aus früheren Zeiten ist mir in sehr peinlicher Erinnerung der ›Kuhhandel‹ – verzeihen Sie bitte dieses hässliche Wort, aber es muss ausgesprochen sein, weil das, was man beobachten musste, im Blick auf die ›Kirche‹ & den HERRn der Kirche, zu dessen Ehren man zu handeln vorgab, ebenso hässlich war – um die Besetzung solcher Stellen. Wir sind es unserem armen Volke, unseren uns so stark jetzt vertrauenden Gemeinden, die mit sorgenden Augen auf uns schauen, einfach schuldig, jeden derartigen ›Handel‹ zu unterlassen!!« Diese Stellungnahme ist für Münnich typisch. Er wusste: »Mit meinen Ausführungen kann ich mich unter Umständen in die Nesseln setzen. Tut nichts. Ich sage nichts gegen die Persönlichkeiten selbst. Ich richte mich gegen die Treiber & Macher, die, um ein Wort eines früheren im ›Kirchenregiment‹ emsiglich ›machenden‹ Herrn zu zitieren, ihren Finger in jedem Topf haben müssen. Diese Leute behaupten, dem HERRn zu dienen & denken nur an sich selbst.«47

46

47

Wenn Münnich von »grundsätzlichen kirchenrechtlichen Bedenken« sprach, wusste er, wovon er sprach. Laut seinem Lebenslauf hatte er an der Kirchgemeindeordnung von 1921 für die sächsische Landeskirche mitgearbeitet (vgl. Lebenslauf). Und auch bei der Erarbeitung der örtlichen Kirchgemeindeordnung in Glauchau hatte er sich 1933/34 intensiv eingebracht (Akten der 1. Pfarrstelle der Lutherkirchgemeinde [KGArch Lutherkirchgemeinde Glauchau, A I 1]). Wie pragmatisch Münnich in seinen Entscheidungen handelte, zeigt auch der Fall Walther Hellriegel. Der Religionslehrer und führendes DC-Mitglied bemühte sich nach 1945 um ein Theologiestudium. Offensichtlich wollte er im kirchlichen Dienst tätig sein. Im Zusammenhang mit seiner Entnazifizierung schrieb er am 24.5.1947 an den Superintendenten Siegmund und bat um ein Gutachten zu seinen Gunsten. Er verwies auf eine gleiche Bitte an Münnich. Einbezogen in den Vorgang war auch sein früherer Kollege Studienrat Hallbauer. Merkwürdigerweise lehnten alle ab. Münnich bat offiziell im Namen des Kirchenvorstandes um Entbindung von diesem

Adolf Münnich

51

Wir können davon ausgehen, dass Münnich in diesem Sinne auch zum Natio­ nalsozialismus Stellung genommen hat. Vielleicht hätte er sich die nachträgliche Begründung und Rechtfertigung von Adolf Müller, dem Begründer der Posaunenmission und zeitweiligen Oberlandeskirchenrat in Dresden, zu eigen machen können. Dieser schrieb in einem Brief an den katholischen Theologen und Schriftsteller Joseph Wittig über seine und seiner Mitstreiter Beweggründe: »Uns lag nur der ›volksmissionarische Gedanke‹ im Sinne: ›Dem deutschen Volke das Christentum deutsch zu sagen.‹«48 Es stellt sich allerdings die Frage: Wie konnte ein Mann, der aktiv an den Ordnungen seiner Kirche nach 1918/19 mitgearbeitet hat und nach 1945 die Einhaltung dieser Ordnungen einforderte, die allen Ordnungen spottende Entwicklung nach 1933 mit der widerrechtlichen Einsetzung von Friedrich Coch als Landesbischof und ab 1937 durch das selbsternannte Kirchenregiment Klotsche ohne Widerspruch und ohne Widerstand hinnehmen? Diese Frage führt zu einer weiteren, um vieles grundsätzlicheren Frage: Was verrät Münnichs Hinnahme der Rechtsverletzungen nach 1933 über das ihn leitende Verständnis von Recht und Ordnung? Offensichtlich ist ihm nie der Gedanke gekommen, dass eine Kirche, die solchermaßen vorsätzlich das Recht verletzt, den Anspruch, Kirche zu sein, verspielt hat.

Abwehr aller kirchenfeindlichen Angriffe und Aufbau einer lebendigen kraftvollen Volkskirche Münnich war nach eigenem Bekunden aus Überzeugung in die NSDAP eingetreten. Das heißt: Für ihn war dies kein Bruch mit dem, was ihm in seinem Amt als Pfarrer in der sächsischen Landeskirche aufgetragen war und wofür er sich mit ungeheurem Elan vom Anbeginn seiner Tätigkeit in Glauchau an eingesetzt hatte. Die geistlichen, theologischen und praktischen Wurzeln für alle seine Aktivitäten liegen in dem Bemühen, aus der als traumatisch empfundenen Trennung von Kirche und Staat einen positiven Anstoß für den Aufbau einer lebendigen und starken Kirche zu gewinnen. In Glauchau fand er dafür ein ideales Betätigungsfeld. Neben seinen vielfältigen Aufgaben im Bereich der Verwaltung der Gemeinde und den Bauaufgaben engagierte sich Münnich mit vollem persönlichem E ­ insatz

48

Wunsche, weil er »weder Herrn Hellriegel etwas in den Weg legen möchte, noch die Unwahrheit sagen« wolle. Das ist immerhin einigermaßen überraschend, denn Hellriegel und Münnich waren jedenfalls von Anfang an befreundet (Kirchgemeindebeamte Schwarzenberg, 1926–1950, XXVII Nr. 69 [EphArch Schneeberg/Aue, Bestand Aue, I/6–9]; Kirchenpolitik ergangen 1918 [KGArch St. Georgenkirchgemeinde Schwarzenberg, Nr. 2, Bl. 69, 71]). So Adolf Müller in einem Brief vom 10.6.1948 an Joseph Wittig. Müller hält immerhin für möglich: »Es mag ein Irrtum gewesen sein, aber doch keine Todsünde« (Privatbesitz Löhr).

52

Christian Löhr

in dem nach dem Ersten Weltkrieg gegründeten »Volkskirchlichen Laienbund für Sachsen«.49 Laut dessen Gründungsaufruf ging es dem Laienbund um die Erhaltung der »religiös-sittlichen Grundlagen« des Volkslebens angesichts der bevorstehenden Trennung von Kirche und Staat.50 Eines seiner Hauptthemen war die Schulfrage (Stichwort: Religionsunterricht). Außerdem bemühte er sich um eine von unten auf neu erbaute Volkskirche mit einem intensiven religiösen Leben, in dem auch sozialen und bildungspolitischen Belangen Rechnung ­getragen werden sollte. Umfangreiche, im Pfarrarchiv in Glauchau archivierte Schriftwechsel zwischen Münnich und führenden Mitgliedern des Laienbundes belegen Münnichs Engagement bei der Gründung einer Ortsgruppe des Laienbundes in seiner Gemeinde und vor allem im Bereich der Pressearbeit und der ­Publikationen.51 Schon im Spätsommer 1920 erschien eine umfängliche Broschüre des Laienbundes unter dem Titel »Unser ev. Gemeindeleben«, für das Münnich den Eröffnungsartikel »Die Gemeinde« schrieb.52 Dieser Artikel gibt ein plastisches Bild von dem, was Münnich geistlich und organisatorisch im Hinblick auf eine Gemeinde bewegte und was er unter Gemeindeaufbau versteht. Praktisch ist dieser Artikel das hochgerechnete Bild seiner Luthergemeinde in Glauchau. In der Einleitung des Artikels benutzt Münnich das Bild des Sturmes (Entscheidungszeit), in dem die einzelnen Schiffe der Gemeinde und die ganze Flotte der Kirche Kurs halten müssen, um das Ziel zu erreichen. Diesem Kurshalten dient auch die Broschüre, in der vom Leben der Gemeinde, wie es ist und wie es sein soll, geschrieben ist. Im Bilde einer pfingstlichen Besuchsreise lädt der Autor den Leser nun ein, in dieses Leben einzutreten, nicht im Sinne eines Ideals, sondern wie die G ­ emeinde, zum Beispiel in Glauchau, noch lebt, wo »wirklich noch kirchliches Leben ­pulsiert, wo noch kein versteinertes Christentum & noch keine versteinerten Christen und stumpfe oder laue Herzen sich finden«. Das pfingstlich geschmückte Gotteshaus wird betreten. Man hat mit dem herkömmlichen Brauch gebrochen, das Gotteshaus nüchtern und leer zu lassen. Gemeindeglieder, die sich in der »Blumenmission« zusammengetan haben, sind für

49 1. Bundestag am 6.4.1919 in Dresden. Der Hauptvortragende war Hugo Hickmann. 50 Objektdatenbank Deutsches Historisches Museum, Inventarnr. Do 56/1584.20, undatiert. 51 Vgl. für alle Informationen und Zitate zum »Volkskirchlichen Laienbund« Geschäftsverkehr mit dem Volkskirchlichen Laienbund für Sachsen betr.; ergangen 1919 (KGArch Lutherkirchgemeinde Glauchau, I XIII 1). 52 Vgl. Gottfried Richter (Hg.), »Unser ev. Gemeindeleben«, Dresden 1920. Ich zitiere im Folgenden aus der Schreibmaschinen-Manuskriptfassung, Geschäftsverkehr mit dem Volkskirchlichen Laienbund für Sachsen betr., ergangen 1919 (KGArch Lutherkirchgemeinde Glauchau, I XIII 1, Bl. 136 ff.).

Adolf Münnich

53

den Schmuck verantwortlich. Nach dem Gottesdienst wird der Blumenschmuck bei Alten und Kranken in der Gemeinde verteilt. Die Gemeinde hat sich unter schweren Opfern wieder ein Glockengeläut geleistet. Das erklingt nun zu jeder Gelegenheit, besonders auch die Betglocke früh, mittags und abends. Am Eingang stehen Männer aus dem Laiendienst der Gemeinde, verteilen Gesangbücher, weisen Plätze an. Der Autor betonte die soziale Gleichstellung (Kommerzienrat neben einfachem Arbeiter und beide im Kirchenvorstand). Die Kirchenmusik wurde gewürdigt (der Kantor stehe in enger Absprache mit dem Pfarrer, sodass er auch geistlich den Gottesdienst mitgestalten kann). Münnich legte Wert darauf, dass der Gottesdienst ein Kunstwerk sei. Anhand der Abkündigungen werden die vielfältigen Kreise der Gemeinde erwähnt. Die Predigt wird – gut protestantisch – ausführlich erwähnt. Nach dem Gottesdienst wird das Gemeindehaus vorgeführt: ein Zentrum für Versammlungen aller Art wie Unterricht, Sitzungen, Chorproben, selbstverständlich mit Wirtschaftsküche und Vereinsbücherei. Daneben finden sich Wohnungen für die Gemeindeschwester und die Kirchenbeamten. Großen Raum nimmt die »Arbeitsgemeinschaft von Männern und Frauen der Gemeinde« ein. »Etwa 100 treu kirchlich gesinnte Laien« haben die Wohnbezirke der Gemeinde unter sich aufgeteilt in Seelsorgebezirke, in denen sie sich um die Leute kümmern und die Gemeindeleitung umgehend benachrichtigen, wenn der Pfarrer oder anderweitige Hilfe Not tut. »Niemand kann nun mehr sagen: Die Kirche kümmert sich um uns nicht, und uns hat noch kein Pastor besucht, außer wenn jemand bei uns stirbt.« Das Interesse an der Bildungsarbeit wird in der ausführlichen Schilderung der Familienbibelkreise, der Kinderevangelisation und der Schülerbibelkreise sichtbar. Es wird auch ein Blick in das Pfarrhaus und in das Kirchenamt geworfen. Zum Schluss zieht Münnich anhand eines Bildes des Malers Wilhelm Steinhausen (1846–1924) mit dem Titel »Der anklopfende Herr« ein Fazit: Gemeindeleben erfüllt sich in eben diesem Bilde. In den vielfältigen Diensten klopft der Herr an die Türen der Menschen. »Anklopfender Ruf im Dienste des Meisters«, »Türenerschließen dem kommenden Herrn« – dazu ist die Gemeinde da.53 Man schätzte Münnichs Arbeit im Laienbund so sehr, dass er am 22. Juli 1920 aufgefordert wurde, eine Stellungnahme zum Verhältnis zwischen Kirchgemeinde und Laienbund zu schreiben. Damit verband sich die Erwartung, Konkurrenzprobleme zwischen Pfarrern und Gemeindebund aus der Welt zu schaffen. Münnich antwortete am 27. Juli 1920 mit einem Artikel unter der Überschrift

53 Vgl. zu diesem Motiv auch das Adventslied »Ich klopfe an und stehe vor der Tür« von Karl G ­ erok (1815–1890).

54

Christian Löhr

»Volkskirchlicher Laienbund & Pfarrer – feindliche Brüder?«. Im Beischreiben dankte er für das Vertrauen, das in seine Arbeit gesetzt wurde, bezweifelte jedoch, ob seinem Aufsatz die durchschlagende Wirkung zuteilwerden würde. »Dazu bin ich zu unbekannt, weil es nie meine Art war, mich irgendwie auf die Agora mit schönen Reden zu stellen oder mit der still im verborgenen geleisteten Arbeit Reklame für meinen Namen zu machen, wie es leider in unserer Kirche mancher getan hat.«54 In diesem Aufsatz schilderte Münnich seine Erfahrungen in Glauchau mit der Gründung einer eigenen starken Gemeindegruppe des Volkskirchlichen Laienbundes, die völlig selbstständig organisiert war, aber in steter Fühlungnahme mit dem Pfarrer arbeitete. Vorrangig hatte sich diese Gruppe in der Frage des kirchlichen Religionsunterrichtes engagiert, Unterschriftensammlungen für den konfessionellen Unterricht an den Schulen verantwortet sowie eine eigene ­gemeindliche Bildungsarbeit an Kindern und Jugendlichen mit Katechismuskursen und Ähnliches aufgebaut. Als ein sein Verständnis von Gemeinde prägendes Erleben erwähnte Münnich im Lebenslauf von 1945 die für ihn wichtige Teilnahme am »kontinentalen Kongress für Innere Mission und Diakonie in Amsterdam 1926« sowie das im Anschluss daran eingehende Studium »niederländischer kirchlicher, besonders aber kirchlicher Schulverhältnisse«.55 Eng verknüpft mit Münnichs Engagement im Volkskirchlichen Laienbund war auch seine publizistische Tätigkeit. Schon 1917/18 gründete er eine eigene Kirchenzeitung mit dem Titel »Lutherbote«. In den folgenden Jahren bemühte sich Münnich, viele Gemeinden mit ihren je eigenen Nachrichten in diese Kirchenzeitung zu integrieren. Daraus entwickelte sich das »Kirchliche Gemeindeblatt für Sachsen (Bezirk Westerzgebirge)«. Die Pläne, das Sonntagsblatt »Pilger aus Sachsen«, dessen Schriftleiter Münnich von 1920 bis zur Einstellung des Blattes war, mit dem »Kirchlichen Gemeindeblatt« zu verbinden, scheiterten. Aus Anlass des 100-jährigen Bestehens des Sonntagsblattes verfasste er eine Gedenkschrift mit dem Titel »Der Kampf um Bibel und Bekenntnis in Sachsen im vergangenen Jahrhundert«.56 Als es ab September 1934 um eine Neuordnung des gesamten Veröffentlichungswesens im Sinne des Nationalsozialismus und der DC-Kirchenleitung in Dresden ging, endete zwangsweise die publizistische Arbeit Münnichs. Am 25. September 1934 kündigte der Verlag des »Pilgers« an, die Kirchgemeinden bis zum Ende des Jahres aus ihren Verträgen (die Beilage ihrer Kirchennachrichten betreffend) zu entlassen.

54 Geschäftsverkehr mit dem Volkskirchlichen Laienbund für Sachsen betr., ergangen 1919 (­KGArch Lutherkirchgemeinde Glauchau, I XIII 1, Bl. 151 ff.). 55 Personalakte Münnich (LKArch Dresden, 2/1558). 56 Gedruckt in Glauchau 1935, im Besitz des Verf. Auch diese Schrift zeichnet ein klares Bild von den Überzeugungen und inneren Beweggründen Münnichs.

Adolf Münnich

55

Auch der Volkskirchliche Laienbund für Sachsen stellte 1933 seine Tätigkeit ein. Unter dem Datum des 2. August 1933 findet sich in den Glauchauer Pfarramtsakten eine Zeitungsnotiz: »Durch Beschluss seines Vorstandes hat sich der Volkskirchliche Laienbund für Sachsen nach 14 ½-jährigem Bestehen aufgelöst. Am 9. Dezember 1918 wurde der Bund zur Abwehr aller kirchenfeindlichen Angriffe und zum Aufbau einer lebendigen, kraftvollen Volkskirche gegründet. In den letzten 10 Jahren war Professor Hickmann57 sein Führer. Die vom Bund gegründete Kirchliche Bestattungsversicherung für Sachsen mit Wohlfahrtsversicherung bleibt bestehen, ebenso der Landeskirchliche Sparverein für Konfirmandenaussteuer in Sachsen. Ebenso wird der größte Teil der Ortsgruppen des Bundes als Gemeindebund oder Männerbund in der betreffenden Kirchgemeinde, wie bisher, weiterarbeiten. Mit dem nationalen Aufbruch und dem christlichen Bekenntnis des neuen Staates ist der größte Teil der außerkirchlichen Aufgaben des Bundes erledigt; er hofft, dass die gewaltig anwachsenden innerkirchlichen Aufgaben von der gesamten Landeskirche aufgenommen werden.«58

Für Münnich, so legt es der Schlusssatz dieser Erklärung nahe, würde es nun darum gehen, unter den veränderten politischen Verhältnissen alles das, was sein Engagement im Volkskirchlichen Laienbund bestimmt hatte, innerhalb seines ihm zugewiesenen Amtes fortzuführen. Dabei dürfte die aktuelle politische Entwicklung für ihn zunehmend enttäuschend gewesen sein, weshalb für ihn und die Gemeinde spätestens seit dem Einschnitt von 1937 galt: »Nach wie vor halten wir uns streng aus jeder kirchenpolitischen Tätigkeit heraus. Wir sind sorgsam bemüht, die bestehenden Gesetze des Staates und unserer Kirche zu beachten.«59 Eben dies wurde ihm dann auch in dem Entnazifizierungsbescheid bestätigt.

Der Kampf klingt aus Als 1945 der Zweite Weltkrieg endete und mit ihm die nationalsozialistische Herrschaft, hatte Münnich das sechzigste Lebensjahr überschritten. Seine Gesundheit war nicht mehr die allerbeste. Dennoch waren seine Aktivitäten und sein Interesse an gesamtkirchlichen Fragen ungebrochen. Im Hinblick auf den Arbeitsalltag eines Pfarrers enthalten die Schwarzenberger Akten für die letzten Kriegsjahre und vor allem für die Nachkriegszeit nur sporadische Notizen. So konnte eine Dienstverpflichtung Münnichs abgewendet werden. Im Rahmen

57

Mit Hugo Hickmann hatte Münnich indirekt 1945/46 wieder zu tun, als es um seine Rehabilitierung und Entnazifizierung ging. 58 Geschäftsverkehr mit dem Volkskirchlichen Laienbund für Sachsen betr., ergangen 1919 (­KGArch Lutherkirchgemeinde Glauchau, I XIII, 2). 59 So schreibt Münnich in einer Anzeige an seine vorgesetzten Dienststellen an das Landeskirchenamt am 29.1.1941, Kirchenpolitik ergangen 1918 (KGArch St. Georgenkirchgemeinde Schwarzenberg, Nr. 2, Bl. 293 ff.).

56

Christian Löhr

der mehrfachen und schließlich erfolgreichen Anträge auf »Uk-Stellung« (unabkömmlich) findet sich in den Akten der Superintendentur ein sowohl die Persönlichkeit Münnichs als auch die Situation in Schwarzenberg kennzeichnender Vorgang: In einer Durchschrift vom 12. Januar 1943 an das LKA wurde darauf hingewiesen, dass Münnich auf eigenen Wunsch in Schwarzenberg als »Oberpfarrer« bezeichnet werde. Dieses »besteht nicht zu Recht«. Die Bezeichnung sei amtlich ungültig und solle in amtlichen Schreiben nicht verwendet werden.60 Über besondere Aktivitäten Münnichs in der kurzen Zeit der unbesetzten Zone finden sich keinerlei Hinweise. Vom Herbst 1945 bis zum Herbst 1946 standen der Fall Sorgenfrei und die Rehabilitierung Münnichs im Mittelpunkt. 1949 feierte die St. Georgenkirche ihr 250. Kirchweihjubiläum. Im Vorfeld der Jubiläumsfeierlichkeiten beschäftigte sich Münnich intensiv mit chronikalischen Arbeiten, wie ein Schreibmaschinenskript mit zahlreichen handschriftlichen Korrekturen bezeugt. 1949 erschien eine Festschrift mit einem Vorwort von Münnich, in dem es am Ende heißt, die Festschrift sei nur ein »bescheidener Auszug aus dem in Arbeit befindlichen großen kirchlichen Chronikwerke«.61 Mitte des Jahres 1952 kam erstmals die Pensionierung Münnichs in den Blick, und zwar im Zusammenhang mit einer Ruhestandswohnung für ihn im Dachgeschoss des Pfarrhauses. Am 12. Juli 1952 verstarb in Schwarzenberg seine Frau Maria Marta, geb. Kempe, nach 42-jähriger Ehe. Aus der Ehe war eine Tochter namens Ruth hervorgegangen. Im November 1954 (Münnich war nun 70 Jahre alt) bat er um seine Emeritierung.62 Das LKA gab dem Ersuchen Münnichs statt und versetzte ihn zum 1. April 1955 in den Ruhestand. Münnich siedelte offensichtlich unmittelbar nach Antritt des Ruhestands in die Bundesrepublik über und nahm eine Wohnung in Stuttgart in der Nähe seiner Tochter. Von da aus besuchte er regelmäßig Schwarzenberg, wo er am 6. August 1956 Marie Erna Gündel heiratete, die ihm zuletzt in Schwarzenberg, nach dem Tode seiner ersten Frau, den Haushalt geführt hatte. In Stuttgart lebte er mit ihr noch über zwei Jahrzehnte. Im September 1977 gelangte über das Pfarramt Glauchau eine Ster60 Die Besetzung des Pfarramtes Schwarzenberg, Band II, 1934–1950, Rep. II Loc. XXVII, Nr. 84 (EphArch Schneeberg/Aue, Bestand Aue, I/1). Nichtsdestotrotz ist er in Schwarzenberg als Oberpfarrer in Erinnerung geblieben. 61 250 Jahre St. Georgenkirche Schwarzenberg im Erzgebirge, 1699–1949, o. D., S. 2. Das offensichtlich geplante größere Werk kam nicht mehr zur Ausführung. 62 Vgl. Personalakte Schwarzenberg (KGArch St. Georgenkirchgemeinde Schwarzenberg, Nr. 288, E I, 1a). Unter dem 5.1.1955 findet sich folgender Kirchenvorstandsbeschluss: »Punkt 4. Emeritierung des 1. Pfarrers. Der Herr Vorsitzende Pfarrer Münnich hat mit Schreiben vom 11. November 1954 um seine Emeritierung für den 31. März 1955 gebeten, Die vakante Stelle soll im Amtsblatt lt. Vorschrift der Landeskirche ausgeschrieben werden. Obwohl die Gründe des Emeritierungsgesuches gebilligt & anerkannt werden, nimmt man schweren Herzens Kenntnis. Herr Kirchvorst. Donner dankt dem Herrn Vorsitzenden für alle geleistete Arbeit im Namen des Kirchenvorstandes.«

Adolf Münnich

57

befallmitteilung nach Schwarzenberg, dass Münnich am 31. August 1977 in Stuttgart verstorben sei. Landesbischof Johannes Hempel kondolierte der Witwe in einem längeren persönlichen Brief am 22. September 1977. Das Bild Münnichs wäre unvollständig, blieben seine gesamtkirchlichen Aktivitäten in der Nachkriegszeit unerwähnt. Sie bezogen sich, was wohl kein Zufall ist, auf die Frage der Ausbildung des Pfarrernachwuchses und sein nachhaltiges, aber erfolgloses Bemühen, in die Liste der Mentoren für die Vikariatsausbildung aufgenommen zu werden. Münnichs Interesse an diesem Thema war alt. Er hatte zeitweilig, wenn auch nur für ein Jahr, als zweiter Lehrer am Missionshaus Leipzig gewirkt. Erstes Zeugnis seines Engagements nach Kriegsende in diesem Bereich ist ein persönlicher Brief Münnichs vom 3. Oktober 1945 an den Präsidenten des LKA, Geheimrat Kotte, in dem es um die künftige Ausbildung von jungen Menschen für den Pfarrdienst ging. Münnich nahm die Fahrt eines Gemeindegliedes und ehemaligen Polizeibeamten nach Dresden, dessen Wunsch nach Übernahme in den kirchlichen Beamtendienst er unterstützte, zum Anlass, dem LKA weitreichende Vorschläge zur Ausbildung des theologischen Nachwuchses in der Landeskirche zu unterbreiten. Ausgehend von eigenen Erfahrungen aus den Jahren 1943/44, wo er einen aus dem Heeresdienst beurlaubten Kandidaten innerhalb von vier Monaten auf die Zweite Theologische Prüfung vorbereitet hatte, entwickelte Münnich angesichts der Nachkriegssituation ein auf der direkten Beziehung zwischen Lehrpfarrer und Kandidat (Meister-Schüler-Modell) basierendes Konzept. Am Beginn sollte eine zweijährige Ausbildung in der Gemeinde unter Obhut eines Lehrpfarrers (mit vollem Altsprachenprogramm) stehen. Nach einem Colloquium sollte der maximal drei Semester umfassende letzte Schliff auf der Hochschule erfolgen. Die Vorteile lagen auf der Hand: stärkere Praxisorientierung, Verkürzung und Verbilligung, bessere Überprüfung der Eignung. Die Herausforderungen an die Lehrpfarrer wären immens gewesen. Außerdem verband Münnich dies mit einem Appell, brauchbare Pfarrbüchereien zu schaffen. Dies alles, schrieb er, weil er um die »Zukunft unserer lieben Kirche große Sorge« in sich trüge.63 Knapp vier Jahre später im Herbst 1949 wurde ihm die Ausübung des Mentorenamtes für junge Kandidaten verwehrt.64 Am 30. November 1949 fragte Münnich deshalb im LKA bei Oberlandeskirchenrat (OLKR) Gottfried Noth an, warum er als Mentor für den Kandidaten Neubert abgelehnt worden sei. Es

63 Das handschriftliche Schreiben (möglicherweise ein Entwurf) findet sich in Personalakte Schwarzenberg (KGArchiv St. Georgenkirchgemeinde Schwarzenberg; Nr. 288, E I, 1a, unpag.). 64 Im Herbst 1949 betrifft es das Mentorenamt für den Kandidaten Neubert, im Frühjahr 1950 für den Kandidaten Lippmann. Vgl. dazu den Schriftwechsel in Personalakte Schwarzenberg (KGArch St. Georgenkirchgemeinde Schwarzenberg, Nr. 288; E I, 1a); dort auch die folgenden Zitate.

58

Christian Löhr

entwickelte sich ein umfänglicher Briefwechsel in dieser Frage. Am 27. Februar 1950 sprach der Superintendent sein Bedauern darüber aus, dass Münnich auch für den Kandidaten Lippmann kein Mentorenamt übertragen wurde. Münnich akzeptierte die formale Begründung für seine Ablehnung (die Zahl der Mentoren solle nicht zu groß werden) nicht. Unter dem Datum des 3. April 1950 protestierte er auf dem Dienstwege und verlangte, »OLKR Noth [solle] endlich mit seiner wahren Begründung hervortreten«. Außerdem drohte er mit einer ­Beschwerde beim Präsidenten des LKA. Der Vorgang endete mit einem undatierten ­Schreiben Münnichs an OLKR Noth, in dem Münnich seinen Verzicht auf das Mentorenamt erklärte. Er schloss den Brief mit den Worten: »Ich glaube damit Ihren Wünschen zu entsprechen.« Wir gehen nicht fehl in der Annahme, dass diese Erfahrung, zusammen mit der Verzögerung seiner Rehabilitierung und einem immer wieder a­ ufbrechenden mangelnden Vertrauen in seine Amtsführung und Bekenntnistreue wegen seiner Zugehörigkeit zur NSDAP, die letzten Dienstjahre Münnichs in Schwarzenberg überschattet haben. Kennzeichnend dafür ist ein Brief Münnichs vom 21. April 1948 an Superintendent Siegmund betreffs einer Mitgliedschaft in der Pfarrer-­ Gebets-Bruderschaft. Münnich schrieb dort noch vor der Auseinandersetzung um das Mentorenamt: »Nach längerer Überlegung ist in mir der Entschluss gereift, Sie doch zu bitten, von meiner Aufnahme in diese Bruderschaft freundlichst abzusehen, denn ich habe nun seit bereits wohl zwei Jahren, d. h. seit meiner Bitte um Aufnahme in die Pfarrer-Bruderschaft der Bekennenden Kirche, den Eindruck gewonnen, dass ich für diese Bruderschaft augenscheinlich aus irgendwelchen, mir nicht bekannten Gründen, nicht tragbar bin. Wie ich innerlich stehe und wie ernst ich es meine, ist Ihnen ja, glaube ich, nun doch etwas näher bekannt geworden und an diesem inneren Zugehörigkeitsgefühl sowohl zur ›Bekennenden Kirche Jesu Christi‹ wie zur ›Gebets-Bruderschaft‹ kann auch die mir nachgerade unverständliche Haltung der gegenwärtigen Leitung der Bekennenden Kirche nichts ändern. In dem Sinne habe ich auch Amtsbruder Brause in Bockau geschrieben, dass mein Standpunkt nunmehr unabänderlich ist. Überdies bin ich ›amtlich‹ ja schon so alt, dass für die jugendlich vorwärts strebende Bekennende Kirche meine Mitgliedschaft vielleicht nur eine Belastung wäre.«65

Die Verbitterung, die aus diesen Zeilen spricht, ist unüberhörbar. Blicken wir abschließend noch einmal auf das Lebenswerk des Pfarrers, Theologen und Kirchenpolitikers Adolf Münnich zurück, so werden einige ­ Grundzüge deutlich: 1. Münnich wollte unter dem Eindruck der Umbrüche nach dem Ersten Weltkrieg seiner Kirche eine neue und starke Position verschaffen, indem er sie im Volk verankerte und vom Volk her neu aufbaute. Deshalb sein großes Interesse an allen Bildungsfragen und an der Publizistik.

65 Ebd.

Adolf Münnich

59

2. Sein Ziel war es, eine lebendige, bekenntnistreue, an Luthers Lehre und der Botschaft Christi orientierte deutsche Volkskirche zu schaffen, die eine Stütze des Staates sein sollte. 3. Während der beiden besonderen Kampfzeiten in der sächsischen Kirche (1933–1935 und ab 1937) versuchte er mit allen ihm sinnvoll erscheinenden Mitteln, seinen Gemeinden den inneren Frieden zu erhalten. 4. Selber eine Führernatur, war er ganz offensichtlich zunächst fasziniert von Hitler. Aus dieser anfänglichen Begeisterung wurde spätestens ab 1937 eine wachsende Distanz zur politischen Entwicklung, die sich darin zeigt, dass Münnich sich in seiner Arbeit streng an die gegebene Ordnung des Staates und der Kirche hielt. Offen bleibt die Frage, was er wirklich von dem Terror des nationalsozialistischen Regimes nach innen und nach außen wahrgenommen hat. 5. Auch nach dem Ende des Krieges verblieb Münnich in einer streng legalistischen Haltung. Dass seine Bekenntnistreue mit Hinweis auf seine NSDAP-­ Mitgliedschaft infrage gestellt wurde, vermochte er nicht zu verstehen. Deutlich wird aber auch die aus heutiger Sicht geradezu beklemmende Verblendung, in der Münnich wie viele seiner Amtskollegen gefangen blieb. Und es zeigen sich die Unfähigkeit und auch der Unwille der Kirche, der Frage nachzugehen, warum so viele ihrer Glieder und Mitarbeiter 1933 (und wohl nicht erst da) in der Ideologie des Nationalsozialismus etwas sehen konnten, dass sich mit dem Auftrag und Dienst der Kirche Jesu Christi in der Welt vereinen ließ. Es ist für die Nachgeborenen kaum mehr nachzuvollziehen, das Münnich nach 1945 gegenüber dem Landeskirchenamt zwar darauf hinweist, dass und in welchem Maße er unter dem nationalsozialistischen Regime gelitten habe, aber in keiner Formulierung zu erkennen gibt, dass er 1933 mit seinem Eintritt in die NSDAP eine schwerwiegenden geistlichen Irrweg eingeschlagen hatte. Mit seinem aus Blindheit geborenen Schweigen darüber verschloss er für sich selbst die Möglichkeit einer geistlichen Aufarbeitung eben dieser verhängnisvollen Entscheidung. Darin glich er seiner Kirche, die zwar unter dem Druck der äußeren Verhältnisse ein offizielles Schuldbekenntnis aussprach, es aber über Jahrzehnte nicht wirklich ratifizierte. Unbestritten jedoch ist (und das macht eine theologisch-geistliche Aufarbeitung seines Lebenszeugnisses umso dringlicher), dass Münnich mit seinem Dienst die Lutherkirchgemeinde in Glauchau und die St. Georgenkirchgemeinde in Schwarzenberg bis weit in die Nachkriegszeit hinein nachhaltig geprägt hat.





Gerhard Lindemann  Friedrich Coch: Der Weg einer »braunen Karriere« in der Landeskirche

Ohne den politischen Aufstieg des Nationalsozialismus wäre der in der Inneren Mission tätige Pfarrer Friedrich Coch nicht sächsischer Landesbischof geworden. Die Amtszeit des NSDAP-Funktionärs auf Gauebene währte, genau wie bei dem ebenfalls deutschchristlichen Reichsbischof Ludwig Müller, von 1933 bis 1945 und umfasste damit fast die gesamte Zeit des »Dritten Reiches«. Sie steht bis zu Cochs weitgehender kirchenpolitischer Kaltstellung 1935 für einen strikten Kurs einer Anpassung der Landeskirche an nationalsozialistische Prinzipien, woran sein treuer Gefolgsmann Johannes Klotsche nach der Abberufung des Landes­ kirchenausschusses 1937 wieder anknüpfte.

Cochs Weg in das sächsische Bischofsamt Am 11. Dezember 1887 wurde Coch im thüringischen Eisenach geboren. Nach dem Theologiestudium in Rostock und Leipzig war er von 1912 bis 1914 in Utzedel (Vorpommern) als Hauslehrer tätig. Theologisch zählte Coch offenbar zu den »positiven Vermittlungstheologen«.1 1914 übernahm er seine erste Pfarrstelle als Gefängnisseelsorger im sächsischen Hoheneck. Seit 1916 war er Feldgeistlicher und Militärgouvernementspfarrer im Ersten Weltkrieg. 1918 übernahm Coch die Pfarrstelle am Schwesternhaus in Arnsdorf bei Dresden, wechselte 1921 in ein Gemeindepfarramt in der Bergbaustadt Freiberg (St. Nikolai) und wurde 1927 Geistlicher im sächsischen Landesverein für Innere Mission in Dresden. Hier leitete er den landeskirchlichen Pressverband. Nominell war Coch auch Pfarrer an der Dresdner Frauenkirche. Dort übernahm er regelmäßig Vertretungsdienste.2 1 2

Dorothea Röthig, Niederschrift über die Befragung von Herrn Rektor Dr. Grundmann, Eisenach-Hainstein, am 19.7.1961 betreffend: Die Deutschen Christen in Sachsen vom 21.7.1961 (LKArch Dresden, 5/710 bei 700, Bl. 66–70, hier 66). Vgl. Hermann Klemm, Im Dienst der Bekennenden Kirche. Das Leben des sächsischen Pfarrers Karl Fischer 1896–1941, Göttingen 1986, S. 176, Anm. 98.

62

Gerhard Lindemann

1931 trat Coch in die NSDAP ein. Die sächsische NS-Gauleitung ernannte ihn 1932 zu ihrem Fachberater für kirchliche Angelegenheiten.3 Zugleich war der Theologe als Gauredner aktiv.4 Als Gaufachberater verfasste Coch Rundschreiben an NSDAP-Mitglieder in der sächsischen Pfarrerschaft. Darin sprach er sich für eine »organisatorische Gleichschaltung der Kirche« und für die Besetzung der kirchlichen Leitungsämter mit überzeugten Nationalsozialisten aus.5 Anfang Mai 1933 wurde Coch Landesführer der Arbeitsgemeinschaft nationalsozialistischer Pfarrer in Sachsen,6 bereits zuvor hatte er zu ihren Führungspersönlichkeiten gehört.7 Der Zusammenschluss war im Frühjahr 1931 in Chemnitz entstanden8 und gilt als Vorgängerorganisation der Deutschen Christen (DC) in der Landeskirche. Die Arbeitsgemeinschaft war bei ihrer Gründung eine Untergruppe des NS-Lehrerbundes (NSLB) und somit Teil des NS-Parteiapparates. Später wurde sie aus dem NSLB ausgegliedert.9 Sie gehörte zudem der Reichsarbeitsgemeinschaft nationalsozialistischer Geistlicher an.10 Bis April 1933 hatte sie lediglich 20 bis 30 Mitglieder, danach stieg die Zahl auf »einige Hundert« an.11 Den Deutschen Christen ging es um die Herstellung einer Synthese von Christentum und Nationalsozialismus. Auch in anderen Landeskirchen waren Kirchenfachberater der Partei auf Gauebene zugleich führende Deutsche Christen – in Hannover Gerhard Hahn oder in Westfalen Bruno Adler; der Reichsleiter der Glaubensbewegung DC Joachim Hossenfelder war zugleich Kirchenfachberater bei der NSDAP-Reichsleitung in München.12 Coch begann im Frühjahr 1933 mit größeren kirchenpolitischen Aktivitäten, denn der gesundheitlich angeschlagene, beinahe 75-jährige sächsische Landesbischof Ludwig Ihmels hatte am 21. April 1933 seinen Eintritt in den Ruhestand für den 30. Juni 1933 beantragt.13 In der von ihm redigierten »Sächsischen Evangelischen Korrespondenz« ergänzte Coch die Meldung von Ihmels’ Schritt mit dem Kommentar: »Nach Lage der Dinge ist freilich nicht anzunehmen, dass die jetzige 15. Landessynode den neuen Bischof

  3 Nach Röthig, Niederschrift Befragung Grundmann vom 21.7.1961, Bl. 66.   4 Vgl. Landesbischof Coch 50 Jahre alt. In: Sächsische Evangelische Korrespondenz, 30 (1937), Nr. 24 vom 17.12.1937.   5 Röthig, Niederschrift Befragung Grundmann vom 21.7.1961, Bl. 66.   6 Vgl. Sächsisches Kirchenblatt, 12.5.1933, Sp. 281.   7 Vgl. Röthig, Niederschrift Befragung Grundmann vom 21.7.1961, Bl. 66.   8 Vgl. Kurt Meier, Der evangelische Kirchenkampf, Band 1: Der Kampf um die Reichskirche, Halle (Saale) 1976, S. 74.   9 Vgl. Röthig, Niederschrift Befragung Grundmann vom 21.7.1961, Bl. 66. 10 Vgl. Meier, Kirchenkampf, Band 1, S. 546 f. 11 Röthig, Niederschrift Befragung Grundmann vom 21.7.1961, Bl. 66. 12 Vgl. Meier, Kirchenkampf, Band 1, S. 75, 547. 13 Vgl. Auszüge aus den Lebenserinnerungen des Präsidenten des Evang.-luth. Landeskirchenamtes (Landeskonsistoriums) Dresden, D. Dr. Friedrich Seetzen, »Aus meinem Leben«. Niederschrift abgeschlossen im Oktober 1939 (LKArch Dresden, 5/401, Bl. 001–044, hier 006).

Friedrich Coch

63

wählen wird.«14 Ganz folgerichtig forderte die Arbeitsgemeinschaft der NS-Pfarrer die Wahl von Ihmels’ Nachfolger durch eine neue Synode,15 in der man sich ganz offensichtlich eine größere Zahl an Sitzen erhoffte. Gegenüber dem Landeskonsistorium erhob die Arbeitsgemeinschaft am 25. April 1933 den Anspruch auf Anerkennung als »Standesvertretung der sächsischen Pfarrer«, »zum Zwecke der Gleichschaltung zwischen Staat und Kirche« auf eine unverzügliche Berufung von zwei NS-Pfarrern als Beigeordnete zum Landeskonsistorium mit vollem Stimmrecht und die Anwendung des neuen staatlichen Berufsbeamtengesetzes, das die Entfernung von Menschen jüdischer Herkunft und von politisch Andersdenkenden aus dem Staatsdienst vorsah, auf sämtliche landeskirchliche Beamten.16 Das Landeskonsistorium sagte am 12. Mai zu, dass Coch künftig bei gesetzgeberischen Angelegenheiten, die die Pfarrerschaft betrafen, mit beratender Stimme an seinen Sitzungen teilnehmen dürfe.17 Für die Vorbereitung der Bischofswahl war ein Gremium zuständig, das sich gemäß der Kirchenverfassung von 1922 aus Mitgliedern des Landeskonsisto­ riums und des Ständigen Synodalausschusses zusammensetzte. Am 6. Mai 1933 erhob Coch beim Landeskonsistorium Protest gegen die geplante Wahl, da die Synode in ihrer Zusammensetzung nicht mehr dem Geist der Zeit entspreche.18 Vertreter der NS-Pfarrerarbeitsgemeinschaft baten am 17.  Mai  1933 Ihmels um eine zeitliche Verschiebung seines Rücktritts. Zur Begründung verwiesen sie auf die Beratungen über eine neue Struktur des deutschen Gesamtprotestantismus. Welche Konsequenzen diese für die Landeskirchen und damit auch für die sächsische Kirchenverfassung haben werde, sei noch nicht klar. Nach einer entsprechenden Bitte des Landeskonsistoriums nahm Ihmels von seinen Rücktrittsgedanken am 19. Mai 1933 erst einmal Abstand. Das sorgte jedoch nicht für eine Beruhigung der kirchenpolitischen Situation in Sachsen.19 Am 29. Mai 1933 sprach sich Coch überdies im NS-Gauorgan »Der Freiheitskampf« gegen Friedrich von Bodelschwingh und für den Königsberger Wehrkreispfarrer Ludwig Müller, zugleich Vertrauensmann Hitlers in Fragen der evangelischen Kirche, als zukünftigem Reichsbischof aus.20

14 15 16 17 18 19 20

Sächsische Evangelische Korrespondenz (LKArch Dresden, 5/410, 1, Bl. 001). Vgl. Dorothea Röthig, Chronik des Kirchenkampfes in Sachsen [maschinenschriftliches Manuskript], Dresden 1960, S. 4. Auszüge Lebenserinnerungen Seetzen, Bl. 003 f. Vgl. ebd., Bl. 004. Vgl. Meier, Kirchenkampf, Band 1, S. 479. Vgl. Röthig, Chronik, S. 8 f. Vgl. Joseph Gauger (Hg.), Chronik der Kirchenwirren, Erster Teil: Vom Aufkommen der »Deutschen Christen« 1932 bis zur Bekenntnis-Reichssynode im Mai 1934, Wuppertal-Elberfeld 1934, S. 78.

64

Gerhard Lindemann

Überraschend plötzlich verstarb Ihmels am 7. Juni 1933.21 Dadurch entstand in der Dresdner Kirchenleitung ein Machtvakuum, wovon die mittlerweile nationalsozialistische sächsische Staatsregierung profitieren wollte. Während eines informellen Treffens einiger Mitglieder des sächsischen Arbeitskreises der Jungreformatorischen Bewegung in Leipzig am Tag von Ihmels’ Beisetzung, da­runter der Dresdner Pfarrer Karl Fischer, wurde berichtet, der populäre sächsische ­»Posaunengeneral«, Pfarrer Adolf Müller, wolle Coch in das Bischofsamt »verhelfen«. Als möglicher eigener Kandidat wurde der Dresdner Superintendent Hugo Hahn ins Gespräch gebracht, was aber wegen offenbarer positiver Äußerungen des Genannten in Predigten über den Nationalsozialismus verworfen wurde.22 Andererseits wurde Cochs Rolle als Pressepfarrer der Inneren Mission »positiv bewertet«. Letztlich war man sich der Ausweglosigkeit der Situation bewusst und ging »ratlos auseinander«.23 Bereits einen Tag nach der Trauerfeier für Ihmels24 erklärte Coch auf einer Pfarrerzusammenkunft in Meißen am 13. Juni 1933, er sei beauftragt, die DC nach preußischem Muster auch in Sachsen zu gründen und zu etablieren.25 Hugo Hahn berichtete später, Coch sei nunmehr als »Vertrauensmann des Reichsstatthalters« Mutschmann aufgetreten.26 Auf einer von circa 1 000 Personen besuchten Versammlung evangelischer Nationalsozialisten am 20. Juni 1933 in ­Dresden erklärte Coch in einer Rede, auf den Wunsch Mutschmanns hin gebe es in Sachsen keine eigene DC-Organisation, da jeder Nationalsozialist zugleich Deutscher Christ sei.27 Es solle keine Gleichschaltung der Kirche mit dem Staat, sondern mit der Volksgemeinschaft geben. Auch ein solcher Schritt bedeutete jedoch eine Anpassung der Kirche an Grundprinzipien des Nationalsozialismus. Die Versammelten forderten in einer Resolution an das Landeskonsistorium die Ernennung eines bewährten Nationalsozialisten zum Landesbischof und unter21 Vgl. Gerhard Lindemann, Die Evangelisch-lutherische Landeskirche Sachsens und der Nationalsozialismus. In: Kirchliche Zeitgeschichte, 18 (2005), S. 182–237, hier 196. 22 Hahn schrieb selber, dass er »Sympathien für den Nationalsozialismus hatte«. Erinnerungen Hahn, S. 950–1751 (LKArch Dresden, 5/402, 1, S. 1304). Am 5.3.1933 wählten er und seine Ehefrau erstmals die NSDAP. Vgl. ebd., S. 1306. 23 Röthig, Befragung von Pfarrer Georg Krause am 4.8.1959 über Ereignisse in der Kirchenkampfzeit vom 18.1.1961 (Abschrift, LKArch Dresden, 5/710 bei 700, Bl. 114–119, hier 114). 24 Vgl. Auszüge Lebenserinnerungen Seetzen, Bl. 011. 25 Vgl. Röthig, Chronik, S. 11. Vgl. auch Walter Grundmann 1961: »Coch sei zweifellos von ­Mutschmann protegiert worden.« Röthig, Niederschrift Befragung Grundmann vom 21.7.1961, Bl. 66. Vgl. auch ebd., Bl. 68: »Zwischen Mutschmann und Coch lief damals vieles auf dem ­Familienwege. Mutschmanns Adjutant (Rositz?) war ein Schwager von Seck.« 26 Erinnerungen Hahn, S. 950–1751 (LKArch Dresden, 5/402, 1, S. 1327). 27 Vgl. aber Röthig, Niederschrift Befragung Grundmann vom 21.7.1961, Bl. 68. Danach hatte Coch Mutschmann dazu bewogen, vorerst eine DC-Gründung für Sachsen »nicht zuzulassen«, weil er offenbar befürchtete, dass Pfarrer Mehlhose, der eine Gründung der Glaubensbewegung DC Sachsen anstrebte, dort die Leitung übernehmen würde.

Friedrich Coch

65

stützten »die Kandidatur des Pfarrers Coch«.28 Das deutet darauf hin, dass sich Coch selbst öffentlich für das Bischofsamt ins Gespräch gebracht hatte. An den Folgetagen gingen weitere Telegramme ähnlichen Inhalts im Landeskonsisto­ rium ein, darunter auch eine Botschaft von einer von 1 200 Deutschen Christen besuchten Veranstaltung im erzgebirgischen Annaberg.29 Gemeinsam mit seinem Rechtsberater, dem Dresdner Anwalt und späteren sächsischen Synodalpräsidenten Max Schreiter, forderte Coch am 26. Juni 1933 gegenüber dem Geheimen Konsistorialrat Hans Seyler als Stellvertreter des dienstlich abwesenden Konsistorialpräsidenten Friedrich Seetzen persönlich im Landeskonsistorium seine kommissarische Ernennung zum Landesbischof. Für den Fall einer Weigerung drohte er mit einem staatlichen Eingreifen.30 Am Abend des selben Tages forderten Schreiter und Coch auf einer eilig einberufenen Sitzung von Landessynodalausschuss und Landeskonsistorium zusätzlich ebenfalls bis zu einer Bischofsneuwahl auch die Übertragung der Kompetenzen aller kirchlichen Oberbehörden (Landeskonsistorium, Landeskirchenausschuss, Ständiger Synodalausschuss, Landessynode) auf Coch.31 Die kirchlichen Leitungsorgane – der Ständige Synodalausschuss und der Ältestenrat der Synode im Beisein der Mitglieder des Landeskonsistoriums – lehnten trotz einer telefonischen Intervention des sächsischen Ministerpräsidenten Manfred von Killinger zugunsten Cochs am 28. Juni 1933 dieses Ansinnen ab,32 allerdings auch einen Antrag des Dresdner Pfarrers Karl Martin Türke und eines Drittels der Synodalen auf Einberufung der amtierenden Landessynode. Stattdessen beschloss man eine rasche Neuwahl der Synode bei deutlicher Verkürzung der dafür geltenden Fristen.33 Schreiter lehnte dieses Entgegenkommen mit der Begründung ab, dass Wahlen zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur zu politischer Unruhe führten.34 Daraufhin ernannte, wie schon angedroht, der sächsische Innenminister Karl Fritsch in Übereinstimmung mit Gauleiter Mutschmann35 am 30. Juni 1933 Coch

28 29

Sächsisches Kirchenblatt 1933, Sp. 386 f. Vgl. Röthig, Chronik, S. 13. Allerdings lässt sich aus solchen Zahlen noch nicht schließen, dass Coch deshalb »große Teile der protestantischen Basis auf seiner Seite« wissen konnte (so Georg Wilhelm, Die Diktaturen und die evangelische Kirche. Totaler Machtanspruch und kirchliche Antwort am Beispiel Leipzigs 1933–1958, Göttingen 2004, S. 63). 30 Vgl. Röthig, Chronik, S. 12. 31 Vgl. ebd., S. 12 f. 32 Vgl. ebd., S. 13. 33 Vgl. ebd., S. 13 f. 34 Vgl. ebd., S. 18. Schreiter berichtete am 6.7.1933, der Hauptwiderstand sei vom Präsidenten der Landessynode und des Deutschen Evangelischen Kirchentags, Graf Kurt Woldemar Vitzthum von Eckstädt, einem Berufsoffizier, ausgegangen. Vgl. ebd., S. 18. 35 So Schreiter auf einer Versammlung sämtlicher Amtsträger der Landeskirche in Dresden am 6.7.1933. Vgl. ebd., S. 18 f.

66

Gerhard Lindemann

zum kommissarischen Landesbischof. Durch eine »Verordnung zur Behebung des Notstandes im kirchlichen Leben der evangelisch-lutherischen Landeskirche Sachsens« erhielt Coch, de facto ein Staatskommissar,36 diktatorische Vollmachten zur Leitung der Landeskirche, indem Fritsch ihm in Personalunion die Rechte und Kompetenzen des Landesbischofs, des Landeskonsistoriums, des Landeskirchenausschusses und des Ständigen Synodalausschusses übertrug.37 Ein an Coch gerichtetes Begleitschreiben bat diesen um eine sofortige Amtsübernahme.38 Einen Tag zuvor hatten Coch und Schreiter das Reichsinnenministerium aufgesucht und dort um Unterstützung ihres Anliegens gebeten.39

Coch als Exponent deutschchristlicher Nazifizierungspolitik Im Anschluss an seine Ernennung verfügte Coch die Auflösung aller gewählten kirchlichen Gremien, eine kommissarische Neubesetzung des Landeskirchenamtes mit seinen Getreuen, darunter auch der Dresdner Stadtrat Johannes Klotsche,40 sowie die Zwangsbeurlaubung von sieben Superintendenten und vierzehn Pfarrern, darunter auch die Geistlichen jüdischer Herkunft Ernst Lewek (Leipzig Nikolai; trotz einer Kriegsverwundung) und Hugo Wach (Lampertswalde; Kirchenbezirk Oschatz).41 Die sächsischen Gemeindeglieder bat der neue Landesbischof in einem Aufruf um ihre Mitwirkung bei dem Aufbau »einer evangelischen Kirche deutscher Nation und einer lebendigen sächsischen Volkskirche«.42 In seiner ersten ­Bischofspredigt bezeichnete er am 9. Juli 1933 Hitler als guten Hirten im Sinne

36

Vgl. Georg Prater (Hg.), Kämpfer wider Willen. Erinnerungen des Landesbischofs von Sachsen D. Hugo Hahn aus dem Kirchenkampf 1933–1945, Metzingen 1969, S. 22. 37 Vgl. Meier, Kirchenkampf, Band 1, S. 480. 38 Text in Carsten Nicolaisen (Bearb.), Dokumente zur Kirchenpolitik des Dritten Reiches, Band I: Das Jahr 1933, München 1971, S. 99. 39 Vgl. Meier, Kirchenkampf, Band 1, S. 480. 40 Als Dresdner Stadtrat hatte sich Klotsche auch mit Fragen der Inneren Mission befasst. Der Wechsel in die Landeskirche erfolgte auf Anregung von Justizminister Thierack. Vgl. Röthig, ­Befragung des ehemaligen Präsidenten des Ev.-Luth. Landeskirchenamtes Sachsens Johannes Klotsche am 11.12.1962 durch die Unterzeichnete vom 19.2.1963 (LKArch Dresden, 5/710 bei 700, Bl. 108 f., hier 108). Zu Klotsche vgl. Gerhard Lindemann, Johannes Klotsche. Ein Vertrauens­mann Mutschmanns an der Spitze der Landeskirche. In: Christine Pieper/Mike Schmeitzner/Gerhard Naser (Hg.), Braune Karrieren. Dresdner Täter und Akteure im Nationalsozialismus, Dresden 2012, S. 208–213. 41 Vgl. Lindemann, Landeskirche, S. 197. 42 Verordnung gegen die kirchliche Not, 1.7.1933. In: Kirchliches Gesetz- und Verordnungsblatt der evangelisch-lutherischen Landeskirche des Freistaats Sachsen [künftig: KGVBl], Nr. 11 vom 3.7.1933, S. 39.

Friedrich Coch

67

von Joh 10, 12–16.43 In einer Verordnung äußerte Coch den dringlichen Wunsch, künftig auf den Kirchtürmen neben der Kirchenfahne auch die Hakenkreuz- und die Sachsenflagge zu hissen.44 Am 21. Juli 1933 führte er für die Landeskirche den Hitlergruß ein, Geistliche in Amtskleidung waren davon vorerst noch ausgenommen.45 Nach der Abberufung von Staatskommissar August Jäger in Preußen hatte das sächsische Innenministerium Cochs Ernennung zum kommissarischen Landesbischof für Sachsen am 14. Juli 1933 ebenfalls aufgehoben,46 jedoch behielt Coch weitgehend seine Kompetenzen.47 Bei den sehr kurzfristig angesetzten Kirchengemeindewahlen am 23. Juli 1933 erhielten die Deutschen Christen durchschnittlich 75 Prozent der Sitze. Das war nicht zuletzt einer intensiven Unterstützung durch alle Ebenen der ­NSDAP zu verdanken.48 Dieser Erfolg wurde auch durch Veränderungen ermöglicht, die Coch an der Wahlordnung in Sachsen vornahm. Anmeldungen für die Wähler­liste brauchten nicht mehr einzeln zu erfolgen, sodass für Gruppen von Parteiorganisationen die Eintragung durch eine Person genügte. Im Falle von Listenwahlen sollte die Liste mit den meisten Stimmen sämtliche Sitze in der Kirchgemeinde­ vertretung erhalten. Zudem wurde traditionell der gewählte Kirchenvorstand durch Berufungen ergänzt. Das fiel nun nicht mehr in die Kompetenz der bisherigen, sondern der neu gewählten Kirchgemeindevertretung.49 Auch in der neuen Landessynode überwogen Deutsche Christen und Angehörige der Arbeitsgemeinschaft nationalsozialistischer Pfarrer. Am 11. August 1933 wählte sie Coch einstimmig zum Landesbischof.50 Ein »Ermächtigungsgesetz« übertrug ihm bis zum Inkrafttreten einer neuen Kirchenverfassung umfassende Vollmachten, dazu gehörte auch das Recht zur Neu- und Umbesetzung geist­ licher Stellen.51 Am 24. August 1933 entstand ein Jugendamt im Landeskirchenamt. Alle protestantischen Jugendverbände, Bünde, Vereine sowie Gruppen wurden nun

43

Vgl. Joseph Gauger (Hg.), Chronik der Kirchenwirren, Zweiter Teil: Von der Barmer Bekenntnis-Reichssynode im Mai 1934 bis zur Einsetzung der Vorläufigen Leitung der deutschen evangelischen Kirche im November 1934, Wuppertal-Elberfeld 1935, S. 202. 44 Vgl. Dritte Verordnung. Vom 4. Juli 1933. In: KGVBl, Nr. 11 vom 3.7.1933, S. 43. 45 Vgl. Lindemann, Landeskirche, S. 198. 46 Vgl. KGVBl, Nr. 14 vom 15.7.1933, S. 53. 47 Vgl. Lindemann, Landeskirche, S. 199. 48 Vgl. [Hans] Stamm, Landeskirchliche Rundschau. Wahlen zur Landessynode. In: Sächsisches Kirchenblatt, 83 (1933), Nr. 31 vom 4.8.1933, Sp. 459. 49 Vgl. Andreas P. Seidel, Erich Kotte (1886–1961). Kirchen- und staatskirchenrechtliche Entwicklungen von der Weimarer Republik bis zum Ende der fünfziger Jahre in der DDR, Tübingen 2016, S. 97. 50 Vgl. Meier, Kirchenkampf, Band 1, S. 481. 51 Vgl. Stamm, Landeskirchliche Rundschau. Ernennungsrecht des Landesbischofs. In: Sächsisches Kirchenblatt, 83 (1933), Nr. 35 vom 1.9.1933, Sp. 521.

68

Gerhard Lindemann

Cochs Führung unterstellt.52 Ein wehrkirchliches Amt war für die Verbindung zu den »Wehrverbänden«, insbesondere der SA, zuständig.53 Mitte August 1933 entstand schließlich eine eigene Organisation der sächsischen Deutschen Christen.54 Sie verstanden sich als »volksmissionarische Arbeits- und Stoßtruppe des nationalsozialistischen Kirchenregiments«. Ihren Vorsitz bzw. die Führung übernahm am 25. August 1933 ebenfalls Coch.55 Auch im deutschen Verbandsprotestantismus reüssierte Coch. Am 12. Oktober 1933 wurde er neben Reichsbischof Ludwig Müller in den Zentralvorstand des Gustav-Adolf-Vereins berufen,56 der evangelische Minderheiten im Ausland unterstützte und sich von der Mitarbeit führender Deutscher Christen einen ­Bedeutungsgewinn erhoffte.57 In der Landeskirche kam es unter der Ägide Cochs zu weiteren einschneidenden Veränderungen. Volksmissionarische Veranstaltungen in der ersten Oktoberwoche in ganz Sachsen58 richteten sich schwerpunktmäßig an den bislang nicht kirchlich gebundenen Teil der Bevölkerung. Thematische Schwerpunkte waren die »Fragen nach Volk, Blut und Rasse, nach Heimat und Staat«.59 Damit zog auch der Antisemitismus, ein Kernpunkt der nationalsozialistischen Ideologie, in die Landeskirche ein. Bereits für den traditionellen Israelsonntag am 10. Sonntag nach Trinitatis, dem 20. August 1933, untersagte das neue Kirchenregiment das Einsammeln der bislang üblichen Kollekte für die Judenmission. Die Judentaufe diene als Eingangstor für fremdes Blut in den »deutschen Volkskörper«, hieß es zur Begründung.60 Bei der Beisetzung des antisemitischen Publizisten Theodor Fritsch am 12. September 1933 erschien Coch in SA-Uniform und würdigte in einer Ansprache den Verstorbenen als »Gegner des Judentums«.61 In Orientierung an der Evangeli-

52 Vgl. Verordnung über Errichtung eines Jugendamtes im Evangelisch-lutherischen Landeskirchenamt Sachsens. In: KGVBl, Nr. 24 vom 30.8.1933, S. 87. 53 Fünfte Verordnung. Errichtung eines Wehrkirchlichen Amtes vom 8. Juli 1933. In: KGVBl, Nr. 13 vom 13.7.1933, S. 49. 54 So Schulungsbriefe der sächsischen DC vom 30.1.1934, S. 7 (Röthig, Chronik, S. 36). 55 Vgl. Seidel, Kotte, S. 103. 56 Vgl. Abgeordneten-Versammlung des Gustav-Adolf-Vereins. In: Die evangelische Diaspora. Zeitschrift des Gustav-Adolf-Vereins, 15 (1933), S. 354–383, hier 365 f. 57 Vgl. auch Meier, Kirchenkampf, Band 1, S. 82 f. 58 Vgl. auch Siegfried Hermle, Zum Aufstieg der Deutschen Christen. Das »Zauberwort« Volksmission im Jahre 1933. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte, 108 (1997), S. 309–341, hier 330 f. 59 Kirche im Volk. In: Sächsische Evangelische Korrespondenz, 26 (1933), Nr. 39 vom 2.10.1933. 60 Kirchliche Chronik. Judenchristliche Gemeinden. In: Neues Sächsisches Kirchenblatt, 40 (1933), Nr. 34 vom 20.8.1933, Sp. 540. 61 Aufstieg der NS-Bewegung. Vgl. http://www.versteckte-geschichte-markkleeberg.de/aufstieg-­ der-ns-bewegung (31.1.2017); Zu dem Nachruf für Theodor Fritsch. In: Sächsische Evangelische Korrespondenz, 27 (1934), Nr. 17 vom 7.5.1934 (dort Zitat).

Friedrich Coch

69

schen Kirche der altpreußischen Union erließ der sächsische Bischof wenige Tage später, am 16. September 1933, ein landeskirchliches Berufsbeamtengesetz. Es sah die Versetzung staatsfeindlicher Pfarrer oder Beamter in den Ruhestand vor. Für Geistliche und Beamte jüdischer Herkunft oder mit »Nichtariern« Verheiratete war ein solcher Schritt sogar zwingend. Coch erklärte zur Begründung, der Staat müsse der Kirche vertrauen können. Die Kirche habe bei der Erziehung des Volkes mitzuwirken. In einer »erneuerten Kirche« sei für Nörgler und Gegner der neuen Staatsordnung kein Raum. »Sie wirken als Hemmnis, und Hemmnisse müssen abgestellt werden.«62 Als solche Hemmnisse galten ganz offensichtlich auch Menschen jüdischer Herkunft. Das landeskirchliche Gesetz ging sogar zum Teil über die staatlichen Bestimmungen hinaus. Nach einer Intervention des sächsischen Volksbildungsministeriums sollte es keine Anwendung finden, solange nicht eine Zustimmung des Reichsinnenministeriums erfolgt war.63 Auf einer Sitzung der deutschen lutherischen »Kirchenführer« am 22. September 1933 sprach sich Coch für die Gründung »eigener judenchristlicher Gemeinden« aus. Der Missionsbefehl bleibe damit in Kraft. »Aber grundsätzlich gehören doch die Juden als Ausländer nicht in eine evangelische Kirche deutscher Nation hinein.« Eine solche Regelung habe nach seiner Auffassung den Vorteil, dass sich Juden nicht mehr aus Opportunitätserwägungen für eine Taufe entschieden. Eine wohl erwartete Kritik einiger Kollegen am sächsischen Berufsbeamtengesetz schwächte Coch mit dem Hinweis ab, die sächsische Verordnung enthalte Ausnahmeregelungen.64 Die nach dem formal aus gesundheitlichen Gründen Ende August 1933 vorzeitig erfolgten Ruhestandseintritt des 63-jährigen Auerbacher Superintendenten Viktor Kühn65 verbliebenen drei sächsischen Geistlichen jüdischer Herkunft »könnte« er »mit guter Begründung« in ihren Ämtern belassen.66 Im November 1933 gab Coch ein »Bekenntnis« zum »Arierparagrafen« ab. Das verband er mit der Forderung nach einer »deutschen Volkskirche, in der Pfarrer und Gemeinde eins sind in christlichem Geiste und nationalsozialistischem Wollen«. Erneut forderte er, nun jedoch öffentlich, den Zusammenschluss »getaufter Juden […] in judenchristlichen Gemeinden«. Die christliche Taufe dürfe nämlich nicht länger »als Einfallstor jüdischen Geistes ins deutsche Volkstum« 62 Ansprache des Landesbischofs an die Geistlichen der evangelisch-lutherischen Landeskirche, Beilage zu KGVBl, Nr. 27 vom 22.9.1933. 63 Vgl. Joachim Fischer, Die sächsische Landeskirche im Kirchenkampf 1933–1937, Göttingen 1972, S. 21. 64 Hannelore Braun/Carsten Nicolaisen (Bearb.), Verantwortung für die Kirche. Stenographische Aufzeichnungen und Mitschriften von Landesbischof Hans Meiser 1933–1955, Band 1: Sommer 1933 bis Sommer 1935, Göttingen 1985, S. 96 f. 65 Vgl. Gerhard Lindemann, Viktor Kühn. In: Hartmut Ludwig/Eberhard Röhm (Hg.), Evangelisch getauft – als »Juden« verfolgt. Theologen jüdischer Herkunft in der Zeit des Nationalsozia­ lismus. Ein Gedenkbuch, Stuttgart 2014, S. 186 f. 66 Braun/Nicolaisen (Bearb.), Verantwortung, Band 1, S. 96 f.

70

Gerhard Lindemann

missbraucht werden.67 Eine neue Verordnung vom 12. Februar 1934 minderte die bisherige leicht ab, indem mit einer Ehefrau jüdischer Herkunft Verheiratete in ihren Ämtern verbleiben konnten.68 Im Dresdner Landeskirchenamt wurden allerdings Anträge von Juden auf christliche Taufen nicht mehr bearbeitet.69 Zum Ausscheiden Deutschlands aus dem Völkerbund (14. Oktober 1933) erklärte die sächsische Kirchenregierung: »Lutherischer Geist will in Freiheit wachsen. Er kann nie in der Knechtschaft gedeihen.«70 Luther und Hitler stünden, so Coch, gleichermaßen für »eine Schicksalswende des deutschen Volkes«. Mit seiner Einigung des deutschen Volkes habe Hitler es zugleich aufnahmefähig für das christliche Evangelium gemacht. »So vollendet Hitler das Werk, das Luther begonnen hat.«71 Ende Oktober 1933 entstand der sächsische Pfarrernotbund, der sich vor ­allem gegen die Übertragung der staatlichen Berufsbeamtengesetzgebung auf die ­Kirche wandte. Die neue innerkirchliche Oppositionsgruppe versagte Coch die Anerkennung als »geistlicher Führer«. Zugleich verweigerte sie die Teilnahme an seiner feierlichen Amtseinführung am 10. Dezember 1933 in der Dresdner Frauenkirche.72 Mangels anwesender geistlicher Würdenträger aus anderen Landeskirchen73 war der Landesbischof gezwungen, sich selbst in sein Amt einzuweisen.74 Reichsbischof Müller war offiziell aus Krankheitsgründen verhindert.75 Er hatte allerdings aus Dresden mehrere Brieftelegramme mit der Bitte erhalten, Cochs Einweisung in das Bischofsamt zu verschieben,76 und wollte angesichts der heftigen Auseinandersetzungen um die Berliner Sportpalastkundgebung am 14. November 1933 vermutlich einem drohenden weiteren Konflikt ausweichen. Die Bischofseinführung stand somit ganz im Zeichen der Krise der Deutschen Christen. Cochs Grußwort an die Gemeinden stand unter dem Leitwort: »Mit Luther und Hitler für Glauben und Volkstum!«77 Der Dresdner »Freiheitskampf« hatte 67 Kundgebung! In: Neues Sächsisches Kirchenblatt, 40 (1933), Nr. 48 vom 26.11.1933, Sp. 753 f. 68 Vgl. Lindemann, Landeskirche, S. 202. 69 Vgl. Eberhard Röhm/Jörg Thierfelder, Juden, Christen, Deutsche, Band 2/I: 1935–1938, Stuttgart 1990, S. 74. 70 Text in Sächsisches Kirchenblatt, 83 (1933), Nr. 44 vom 3.11.1933, Sp. 657 f. 71 Coch, Luther und Hitler [Sächsische Evangelische Korrespondenz]. In: Die feste Burg. Gemeindeblatt für die Martin-Luther-Gemeinde zu Dresden, Nr. 22 vom 5.11.1933, S. 91. 72 Meier, Kirchenkampf, Band 1, S. 484. 73 Vgl. auch Besprechung Meisers mit Hollweg, Knolle, Koppmann u. a. (5.12.1933). In: Braun/ Nicolaisen (Bearb.), Verantwortung, Band 1, S. 18. 74 Vgl. Grußwort des Landesbischofs an die Gemeinden. Am Sonntag, dem 10. Dezember 1933, von allen Kanzeln des Landes zu verlesen. Beilage zu KGVBl, Nr. 36 vom 8.12.1933. 75 Offenbar hatten die Kirchenminister (Geistl. Ministerium) Müller entsprechend beeinflusst. Vgl. Röthig, Niederschrift Befragung Grundmann vom 21.7.1961 (LKArch Dresden, 5/710 bei 700, Bl. 66–70, hier 69). 76 Vgl. Röthig, Chronik, S. 56 f. 77 Grußwort des Landesbischofs an die Gemeinden. Am Sonntag, dem 10. Dezember 1933, von allen Kanzeln des Landes zu verlesen. Beilage zu KGVBl, Nr. 36 vom 8.12.1933.

Friedrich Coch

71

zuvor die NS-Formationen zu einem Massenaufmarsch aufgefordert. Zusätzliche Kundgebungen fanden auf dem Dresdner Neumarkt und in der Ilgen-Kampfbahn statt. Coch reagierte auf die Gründung des Notbundes mit dem Vorwurf, die auf politischem und ökonomischem Gebiet zurückgeschlagene »Reaktion« sei nun auf das vom Staat unkontrollierte Feld der Kirchenpolitik ausgewichen.78 Vor der Landessynode erklärte Coch am 10. Dezember 1933, man sei, verglichen mit anderen Landeskirchen, in Sachsen mit der kirchlichen Neuordnung schon sehr weit gekommen.79 In diesem Kontext standen auch die von dem sächsischen Oberkirchenrat Walter Grundmann, intellektuell der stärkste Kopf der sächsischen Deutschen Christen,80 konzipierten »28 Thesen der sächsischen Volkskirche«, von der Landessynode ebenfalls am 10. Dezember 1933 bei offener namentlicher Abstimmung 81 einstimmig angenommen.82 Sie enthielten ein Bekenntnis »zu Blut und Rasse«, die Forderung einer sich ausschließlich aus »Volksgenossen« zusammensetzenden Kirche und bejahten den »Totalitätsanspruch des nationalsozialistischen Staates« als »Ruf Gottes zu Familie, Volk und Staat«. Damit legitimierten sie kirchlicherseits das Selbstverständnis des NS-Staates und die Rassenideologie.83 Daraufhin regte der Rektor der Dresdner Diakonissenanstalt, Pfarrer Albrecht Ranft, die sächsische Pfarrerschaft an, Coch das Vertrauen zu entziehen, da er offen schrift- und bekenntniswidrige Thesen unterstütze.84 In einer Antwort an Ranft erklärte Grundmann am 29. Dezember 1933, seine Kritik an den Thesen bedeute eine Gehorsamsverweigerung gegenüber dem Landesbischof.85 Am g­ leichen Tag versandte die Leitung des Pfarrernotbundes Sachsen einen Einspruch von Oberkirchenrat D. Ernst Rietschel gegen die 28 Thesen mit der Begründung, dass Coch sie als maßgeblich für die kirchliche Verkündigung betrachtete.86 Überdies richtete der Notbund einen offiziellen Protest an den ­Präsidenten der Landessynode.87 78 79 80

So in einem Schulungsbrief der sächsischen DC. Vgl. Gauger (Hg.), Chronik, Band 1, S. 108. Vgl. Röthig, Chronik, S. 59. Zu Grundmanns Tätigkeit in Sachsen vgl. Gerhard Lindemann, Walter Grundmann. »Chef ideologe« der sächsischen Deutschen Christen. In: Pieper/Schmeitzner/Naser (Hg.), Braune Karrieren, S. 214–219. 81 So Röthig, Chronik, S. 60. 82 Vgl. Lindemann, Landeskirche, S. 205. Der Leipziger Theologieprofessor Horst Stephan beteiligte sich nicht an der Abstimmung, da Enthaltungen nicht als solche gewertet wurden. Vgl. Röthig, Chronik, S. 61. 83 Text in Siegfried Hermle/Jörg Thierfelder (Hg.), Herausgefordert. Dokumente zur Geschichte der Evangelischen Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 2008, S. 171–174. 84 Vgl. Offener Brief an die Pfarrer der Sächsischen Landeskirche. In: Sächsisches Kirchenblatt, 83 (1933), Nr. 52 vom 2.12.1933, Sp. 780–784. 85 Vgl. Grundmann an Ranft vom 29.12.1933 (Abschrift, LKArch Dresden, 5/100, Bl. 52–57, hier 52). 86 Vgl. Schreiben von Kirchbachs vom 29.12.1933 (LKArch Dresden, 5/100, Bl. 35); D. Rietschel, Oschatz, Einspruch gegen die 28 Thesen der sächsischen Volkskirche (ebd., Bl. 36). 87 Vgl. Junge Kirche, 2 (1934), S. 33.

72

Gerhard Lindemann

Reichsbischof Müller ernannte Coch am 25. November 1933 zum vierten (lutherischen) geistlichen Minister auf reichskirchlicher Ebene,88 offenbar weil er während der schweren Vertrauenskrise seines Kirchenregiments weitere Unterstützung dringend benötigte. Im Namen der nicht-deutschchristlichen lutherischen Kirchenführer sprach sich Bayerns Landesbischof Hans Meiser aus Bekenntnisgründen gegen diese Personalentscheidung aus.89 Coch trat das Amt allerdings gar nicht erst an, offiziell begründete er das mit der Unübersichtlichkeit der Situation.90 Die sächsischen DC wollten sich nicht in den Berliner Abwärtsstrudel mit hineinziehen lassen und trennten sich deshalb im Folgemonat endgültig von der Reichsleitung der Glaubensbewegung DC. Am 13. Dezember 1933 erfolgte die Umbenennung in »Volksmissionarische Bewegung Sachsens (Deutsche Christen)«.91 Bei Neuaufnahmen wurde ein feierliches Bekenntnis zu den 28 Thesen erwartet sowie die Erklärung der Bereitschaft, an ihrer Durchsetzung mitzuarbeiten.92 Das bedeutete jedoch keine Entschärfung des unter Coch verfolgten kirchenpolitischen Kurses – im Gegenteil: Die Politik einer schrittweisen »Nazifizierung« der Landeskirche unter bischöflicher Führung fand 1934 ihre Fortsetzung. Ab Januar wurden die Themen für die Pfarrkonferenzen einheitlich zentral vorgegeben. Über den Verlauf der Sitzungen hatten sie den Landesbischof zu unterrichten. Für den ersten Monat des Jahres lautete die Vorgabe »Die deutsche evangelische Kirche und der nationalsozialistische Staat«,93 im November 1934 behandelte man die »Bedeutung der Rassenforschung für Religion und Christentum«.94 Aufgrund der Entlassung des Landeskirchenamtspräsidenten Max Schreiter am 8. Januar 193495 erweiterte sich Cochs Machtposition in der Landeskirche abermals. Der Abberufung waren auch Auseinandersetzungen mit Coch über die »Oberherrschaft« im LKA vorausgegangen – beide hatten sich jeweils auf das Führerprinzip berufen.96 Den sogenannten Maulkorberlass des Reichsbischofs vom 4. Januar 1934, der unter anderem kirchenpolitische Kritik in Gottesdiensten untersagte,97 setzte Coch in Sachsen konsequent um. Nach einer gottesdienstlich verlesenen Erklä88 89 90 91 92 93 94 95 96 97

Vgl. Meier, Kirchenkampf, Band 1, S. 137. Vgl. Braun/Nicolaisen (Bearb.), Verantwortung, Band 1, S. 209, Anm. 11. Vgl. Röthig, Chronik, S. 53 f. Vgl. Meier, Kirchenkampf, Band 1, S. 485. Vgl. Allgemeine Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung, 67 (1934), Sp. 22. KGVBl, Nr. 40 vom 28.12.1933, S. 146. KGVBl, Nr. 24 vom 1.9.1934, S. 111. Vgl. Fischer, Landeskirche, S. 26. Röthig, Niederschrift Befragung Grundmann vom 21.7.1961 (LKArch Dresden, 5/710 bei 700, Bl. 66–70, hier 68). Die Absetzung bezeichnete Grundmann als »kirchenrechtlich […] unzulässig« (ebd.). Vgl. Hermle/Thierfelder (Hg.), Herausgefordert, S. 143.

Friedrich Coch

73

rung des Pfarrernotbundes, dem Ende Dezember 1933 bereits über die Hälfte der amtierenden sächsischen Superintendenten und 267 ordinierte Pfarrer angehörten,98 gegen die Verordnung Müllers99 erfolgte ab dem 24. Januar 1934 eine Vorladung einzelner Geistlicher vor die Bezirkskirchenämter und auch vor das Landeskirchenamt. Eine Woche später, am 31. Januar 1934, wurden die Dresdner Führungspersönlichkeiten des Pfarrernotbundes, darunter Hugo Hahn und seine Ehefrau Erika, Domprediger Arndt von Kirchbach und Pfarrer Karl Fischer, für wenige Tage inhaftiert.100 In einem Vortrag in der Leipziger Nikolaikirche am 1. Februar 1934 ging Coch auch auf das Gespräch Hitlers mit Vertretern der evangelischen Kirche am 25. Januar 1934 in Berlin ein.101 Der sächsische Landesbischof berichtete von der Verlesung des Inhalts eines abgehörten Telefongesprächs des Pfarrernot­ bundvorsitzenden Martin Niemöller durch den preußischen Ministerpräsidenten Hermann Göring zu Beginn des »Führerempfangs« und sprach von der ­»entscheidenden Niederlage« des Pfarrernotbundes und »einem entscheidenden Sieg der Deutschen Christen«. Dem Notbund warf Coch Staatsgefährdung vor. Hitler habe erkannt, dass hinter den DC »das Volk« stehe.102 Überdies erklärte Coch offen, es sei ihm und den DC 1933 ein wichtiges Anliegen gewesen, »dass nun auch die Kirche in das politische Leben hineingezogen wurde«, und bestätigte damit den Vorwurf seiner Kritiker, eine Anpassung der Landeskirche an die neue Staatsform herbeigeführt zu haben. Aufgrund des gegen diesen Kurs entflammten Widerstandes sei 1933 kirchlich gesehen zu einem »Jahr der Schande« geworden. Die kirchenpolitischen Gegner richteten sich gegen den Einzug von Führung und Disziplin in die Kirche sowie gegen ihre Einordnung »in das eine große Erlebnis: Deutschland«. Gegenüber Hitler hatte Coch erklärt, in Bekenntnisfragen habe innerkirchlich »im Grunde« stets Einigkeit geherrscht, und denunziatorisch geurteilt: »Wenn es trotzdem zu U ­ neinigkeit gekommen ist, dann muss es andere Gründe haben!«103 Vor seinen Zuhörern sprach sich der Landesbischof, nun explizit als Nationalsozialist, dafür aus, solange weiterzuarbeiten, »bis jedem evangelischen Christen Deutschland zum entscheidenden Erlebnis geworden ist«. Ausgenommen von

  98   99 100 101

Vgl. Junge Kirche, 2 (1934), S. 33; Röthig, Chronik, S. 67. Vgl. Fischer, Landeskirche, S. 27. Vgl. Klemm, Im Dienst, S. 200 f. Vgl. Der sächsische Landesbischof Coch über die kirchliche Lage. In: Allgemeine Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung, 67 (1934), Sp. 177–181, hier 177. Text auszugsweise in Carsten Nicolaisen (Bearb.), Dokumente zur Kirchenpolitik des Dritten Reiches, Band II: 1934/35. Vom Beginn des Jahres 1934 bis zur Errichtung des Reichsministeriums für die kirchlichen Angelegenheiten am 16. Juli 1935, München 1975, S. 29 f. 102 Der sächsische Landesbischof Coch, Sp. 179 f. 103 Ebd., Sp. 178.

74

Gerhard Lindemann

der anstehenden revolutionären Veränderung der Gesellschaft sei nur Christus, der Erlöser »aller Menschen«.104 Allerdings schlussfolgerte Coch im Sinne einer partikularistischen Ethik, aus dem Christusglauben ergebe sich »die Tat der Liebe an unserem Volke und in unserem Volke«. Diese bestand darin, den gesellschaftlichen Veränderungsprozess durch den christlichen Glauben zu vertiefen und zu erneuern: »Deutschland für Christus und Christus für Deutschland.«105 Mittlerweile gab es auch wieder eine gewisse Annäherung zwischen den sächsischen DC und der Berliner Reichsleitung,106 wohl auch weil ihre Krise beendet zu sein schien. Am 19. Februar 1934 bezeichnete sich Coch in einer Rede in der Universität Leipzig als »fanatischen Anhänger« der NSDAP. Von angehenden Pfarrern forderte er eine Beteiligung am Arbeitsdienst und die Mitgliedschaft in der SA. Er stellte in Aussicht, dass die sächsische Kirchenleitung es sich vorbehalte, Kandidaten, die dem Pfarrernotbund angehörten, nicht in den landeskirchlichen Dienst zu übernehmen, weil man die »Einheit des Volkes« nicht durch solche aus Sicht der DC riskanten Personalentscheidungen aufs Spiel setzen wolle.107 Bereits am 31. Januar 1934 hatte Coch in einem Aufruf an die Gemeinden alles, was den innerkirchlichen Frieden störe, das heißt im Widerspruch zum Kurs der Deutschen Christen stand, für staatsgefährdend erklärt. Wegen mangelnder Bereitschaft des Pfarrernotbundes zu unbedingtem Gehorsam gegenüber der Kirchenleitung Coch setzte der Bischof bis zum 11. April 1934 51 Pfarrer und Superintendenten ab oder beurlaubte sie. Kurz darauf verbot der sächsische Innenminister alle Versammlungen des Notbundes. Damit verstieß er auch gegen eine Anweisung des Reichsinnenministers vom Vortag.108 Einzelne Gespräche mit Coch, zuletzt am 16. März 1934 im Dienstzimmer des Reichsbischofs, brachten keine Annäherung.109 Bei den Chemnitzer Pfarrern Wilhelm Christoph Oehler und Gustav Roßbach bedankte sich Coch sogar ausdrücklich für eine von ihnen berichtete organisierte Störung einer Versammlung des Notbundes unter der Leitung von Hahn mit einer Rede Martin Niemöllers110 am 12. April 1934 in Chemnitz.111 Auch an den beiden Vortagen hatten Deutsche Christen Notbund-Veranstaltungen in Freital-Döhlen und in Plauen gestört.112 Im Folgejahr wurde der bischofstreue Gefolgsmann Roßbach Superintendent in Großenhain.113 104 Ebd., Sp. 179. 105 Ebd., Sp. 181. 106 Vgl. Kurt Meier, Die Deutschen Christen. Das Bild einer Bewegung im Kirchenkampf des ­Dritten Reiches, 3. Auflage Göttingen 1967, S. 76. 107 Der Theologe im Dritten Reich. In: Sächsisches Kirchenblatt, Nr. 9 vom 2.3.1934, Sp. 139–141. 108 Vgl. Fischer, Landeskirche, S. 27 f. 109 Vgl. Klemm, Im Dienst, S. 202 f. 110 Vgl. Bericht Studienrat Küntzelmann vom 13.4.1934 (LKArch Dresden, 5/101, 1, Bl. 034 a–034 b). 111 Vgl. Klemm, Im Dienst, S. 203 f. 112 Vgl. Röthig, Chronik, S. 81. 113 Vgl. Klemm, Im Dienst, S. 465.

Friedrich Coch

75

Ende April 1934 bildete sich aus dem Pfarrernotbund und der Laienvereinigung »Evangelische Volkskirche« die sächsische Bekenntnisgemeinschaft; am 6. Mai 1934 wandte sie sich öffentlich gegen die Eingliederung der Landeskirche in die Reichskirche vom 4. Mai 1934,114 gut zwei Wochen später erhob auch die Theologische Fakultät Leipzig gegen diesen Schritt Protest.115 Die kirchenorganisatorische Neuordnung zog auch die erneute Auflösung der sächsischen Landes­ synode nach sich. Das Nachfolgegremium wurde von bislang 74 auf gerade einmal 20 Mitglieder reduziert und durfte nur noch beratend tätig sein.116 Zur Barmer Theologischen Erklärung der Reichsbekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) vom 31. Mai 1934 bezog Coch im Namen des Landeskirchenamts in einem an alle sächsischen Pfarrer verschickten Flugblatt117 kritisch Stellung.118 Die bischöfliche Positionierung wurde inhaltlich offenbar von Walter Grundmann, weiterhin »Cheftheologe« der sächsischen Deutschen Christen, erarbeitet.119 Darin fand, wohl aus taktischen Motiven, zunächst wie in den Barmer Thesen eine Konzentration auf Christus statt, allerdings mit der Charakterisierung als Befreier »von den dunklen«, die Schöpfung zerstörenden »Mächten des Schicksals und des Todes«. Damit waren die Feinde des nationalsozialistischen Deutschlands gemeint,120 denn Hitler habe das deutsche Volk »aus Todesnot und bolschewistischem Chaos« gerettet. An die Barmer Erklärung erging der Vorwurf, sie habe dafür keine Dankesworte gefunden.121 Christus sei »deutsch« zu predigen, »damit die durch die nationalsozialistische Revolution aufgeweckten Menschen […] ihren Heiland und Erlöser finden als Kraft und Freude, als Leben und Trost«.122 Eine Kernthese Cochs lautete: »Das Evangelium ist ewig, aber nicht zeitlos, sondern will jeweils zeitbezogen sein.«123 1933 habe eine »neue Geschichtsepoche« eingesetzt, die auch die Kirche für sich in Anspruch nehme. Das schloss die Übernahme des Führerprinzips mit ein, allerdings ohne eine Inanspruchnahme von »Lehrautorität«.124 114 Nach einer Notiz von Hans Meiser soll Coch den mit der Eingliederungspolitik betrauten Rechtswalter August Jäger als »Geschenk des Staates an die Kirche« bezeichnet haben. Braun/ Nicolaisen (Bearb.), Verantwortung, Band 1, S. 279. 115 Vgl. Junge Kirche, 2 (1934), S. 473. 116 Vgl. Fischer, Landeskirche, S. 29, 115. 117 Vgl. Gerhard Niemöller, Die erste Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche zu Barmen, Band I: Geschichte, Kritik und Bedeutung der Synode und ihrer Theologischen ­Erklärung, Göttingen 1959, S. 183, Anm. 50. 118 Text ebd., S. 183–187. 119 Vgl. Hermann Klemm, Ich konnte nicht Zuschauer bleiben. Karl Fischers theologische Arbeit für die Bekennende Kirche Sachsens, Berlin (Ost) 1985, S. 25. 120 Niemöller, Die erste Bekenntnissynode, S. 184. 121 Ebd., S. 186. 122 Ebd., S. 187. 123 Ebd., S. 186. 124 Ebd., S. 185.

76

Gerhard Lindemann

Im Gegensatz zu den Barmer Thesen fehlte hier das kritische Potenzial des christlichen Glaubens. Die Kirche stand ganz im Dienst des nationalsozialistischen Weltanschauungsstaates. Dafür meinte man Martin Luther in Anspruch nehmen zu können, er sei nämlich für eine »lebendige, volksverbundene, christliche Kirche der deutschen Nation«.125 In einem anderen Zusammenhang erklärte Coch, der Unterschied zwischen der BK und der deutschchristlichen Reichskirchenregierung sei »kein kirchenpolitischer, sondern ein grundsätzlicher«.126 Am 5. Juni 1934 betonte er während einer Aussprache mit Notbundpfarrern erneut, ihm gehe es »um die Fortsetzung und Vollendung der Reformation«, die DC wollten »Kirchengeschichte […] machen«. Ein entscheidendes Kriterium für kirchenpolitisches Gestaltungshandeln sei das »Erleben unserer Zeit«.127 Zudem sprach er sich für eine Politisierung der Pfarrerschaft aus im Sinne »der Politik des Führers, die die Politik des deutschen Volkes ist«.128 Im Mai 1934 verpflichtete Coch die Pfarrer zum Eintritt in die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) und zu einem aktiven Engagement in dieser zunehmend in Konkurrenz zu der evangelischen Diakonie stehenden Organisation. Darüber hinaus sollten die Kirchenämter, Superintendenturen und Pfarr­ ämter das zentrale NSDAP-Blatt »Völkischer Beobachter« abonnieren.129 Dem Evangelischen Landesjugenddienst Sachsen ordnete das Landeskirchenamt die Durchführung von Sonnwendfeiern an.130 Am 7. September 1934 verfügte Coch die Zurruhesetzung des Vorsitzenden des sächsischen Bruderrates, Hugo Hahn, wegen der Weitergabe einer zum Ungehorsam gegen Reichsbischof Müller aufrufenden Bekanntmachung des Bruderrats der Reichsbekenntnissynode.131 Am 2. Oktober 1934 wurde auch der Dresdner Domprediger, der Bekenntnisgeistliche Arndt von Kirchbach, in den einstweiligen Ruhestand versetzt.132 Mit dem Argument, die braunen Parteigenossen würden sich, verbunden mit dem Vorwurf einer mangelnden Durchsetzungsfähigkeit, von ihm zurückziehen, hatte Coch bereits am 28. Juni 1934 um die Unterstützung des »Rechtswalters« der DEK, August Jäger, für sein Vorgehen geworben.133 125 Ebd., S. 186. 126 So der lutherische BK-Theologe Hans Asmussen am 2.7.1934. In: Braun/Nicolaisen (Bearb.), Verantwortung, Band 1, S. 305. 127 Stenogrammauszug. Aussprache zwischen NB- und DC-Pfarrern in Dresden am 5. Juni 1934 (LKArch Dresden, 5/320, Bl. 112–118, hier 118). 128 Ebd., Bl. 117. 129 Vgl. Lindemann, Landeskirche, S. 207. 130 Vgl. Verordnung über Jugendfeiern zur Sonnenwende am 23. und 24. Juni 1934. Vom 6. Juni 1934. In: KGVBl, Nr. 17 vom 8.6.1934, S. 74. 131 Vgl. Klemm, Im Dienst, S. 231. 132 Vgl. ebd., S. 233. Zu Arndt von Kirchbach vgl. den Beitrag von Karl-Hermann Kandler in diesem Band. 133 Vgl. Wilhelm, Diktaturen, S. 92 mit Anm. 216.

Friedrich Coch

77

Ab dem 1. Oktober 1934 ersetzte ein zentrales »Kirchliches Gemeindeblatt für Sachsen« die bisherigen Gemeindeblätter. Am 31. Oktober 1934, dem Reformationstag, wurde die Dresdner Frauenkirche, von Beginn an eine Bürgerkirche, in einer feierlichen »Domweihe« offiziell in Dom- und Frauenkirche umbenannt. Bei der Zeremonie war auch Reichsbischof Müller präsent. Trotz des massiven Vertrauensverlustes des Reichsbischofs aufgrund des Versuchs, auch die beiden süddeutschen Landeskirchen Bayern und Württemberg zwangsweise in die Reichskirche einzugliedern, stellte sich Coch damit demonstrativ hinter Müller.134 Es war offenkundig, dass sich eine Schwächung der Position des Reichsbischofs oder gar seine Amtsenthebung auch auf Cochs Zukunft in Sachsen negativ auswirken würde.135 Dieser dokumentierte seine Haltung am 6. November 1934 gemeinsam mit weiteren DC-Landesbischöfen während eines Empfangs bei Reichsinnenminister Wilhelm Frick.136 Zugleich stellte Coch eine veränderte Haltung der NSDAP auch gegenüber den Deutschen Christen fest. Am 5. Oktober 1934 hatte er in einer Denkschrift an Hitler beklagt, dass sich mittlerweile seitens der Parteistellen Distanzierungen gegenüber der Kirche und dem christlichen Glauben häuften. Funktionäre von Parteiorganisationen, aber auch der Deutschen Arbeitsfront sowie SA- und SS-Männer dürften sich nicht mehr kirchenpolitisch betätigen. Seit einiger Zeit fehlten Inhaber höherer staatlicher Ämter bei kirchlichen Großveranstaltungen, auf lokaler Ebene fänden sehr häufig NS-Veranstaltungen zeitgleich zu den sonntäglichen Gottesdiensten statt. Hinzu kamen vermehrte Behinderungen der kirchlichen Arbeit, wie das Verbot einer geistlichen Betreuung der jugendlichen Angehörigen des Reichsarbeitsdienstes und des Landjahres. Das stehe im ­Widerspruch zu der Wertschätzung der kirchlichen Mitarbeit am »Neubau unseres Volkslebens« durch den »Führer«. Dazu gehörte auch das Untersagen der Verwendung nationalsozialistischer Symbole auf kirchlichen Plakaten. Hingegen werde die Deutsche Glaubensbewegung, deren Ziel die Etablierung einer völkisch-germanischen Religiosität in Deutschland war,137 gegenüber den Kirchen bevorzugt, klagte der Dresdner Bischof, ihre offenen Angriffe auf den christlichen Glauben toleriere die Partei. Ganz im Sinn von Rosenbergs »Mythus des

134 Bereits im Sommer 1934 soll Coch erklärt haben, Müller »sitze fester denn je und den Juristen der Opposition würde demnächst das Handwerk gelegt werden.« Braun/Nicolaisen (Bearb.), Verantwortung, Band 1, S. 321. 135 Vgl. Kurt Meier, Der evangelische Kirchenkampf, Band 2: Gescheiterte Neuordnungsversuche im Zeichen staatlicher »Rechtshilfe«, Halle (Saale) 1976, S. 342. 136 Vgl. Meier, Kirchenkampf, Band 1, S. 512. 137 Vgl. Ulrich Nanko, Die deutsche Glaubensbewegung. Eine historische und soziologische Untersuchung, Marburg 1993.

78

Gerhard Lindemann

20. Jahrhunderts« sei in den von Coch aufgezeigten Phänomenen die Zielsetzung einer »Verkümmerung der evangelischen Kirche« zu erkennen.138 Mittlerweile gab es in der Landeskirche zunehmend mehr Stimmen, die Cochs Rücktritt vom Bischofsamt forderten.139 Eine Ende 1934 initiierte Befragung der sächsischen Pfarrer ergab, dass mit 769 bei rund 1 260 Geistlichen140 ­eine deutliche Mehrheit für Cochs Rücktritt votierte. Lediglich 41 stellten sich dezidiert hinter den Bischof.141 Trotz dieses deutlichen Vertrauensentzugs sah Coch jedoch keinen Anlass, auf sein Leitungsamt zu verzichten. Vornehmlich aus taktischen Gründen hatte er im Dezember 1934 die Leitung der sächsischen DC-Organisation an den Textilfabrikanten Dr. H. Jugel aus Neukirchen im Erzgebirge abgegeben.142 In einem Schreiben an die sächsischen Kirchenvorsteher drohte er solchen, die der Bekenntnisgemeinschaft beitraten, die Abberufung aus ihrem Amt an.143 Zugleich verschärfte sich das kirchenleitende Vorgehen gegenüber der ­Bekenntnisgemeinschaft, aber auch gegenüber der neu konstituierten Mittel­ gruppe.144 Ein weiterer Höhepunkt der rigorosen Politik unter Coch war die ­Reaktion der Landeskirche auf die sechswöchige Inhaftierung von 19 Geistlichen und einem Laien in dem Konzentrationslager Sachsenburg. Diese hatten sich am 31. März 1935 in einer Kanzelabkündigung gegen die germanisch-religiöse Deutsche Glaubensbewegung gewandt.145 Das Dresdner Landeskirchenamt begrüßte die staatlichen Maßnahmen gegen die Pfarrer.146 Bereits am 22. März 1935 hatte Coch Gauleiter Mutschmann um Unterstützung bei Maßnahmen gegen Notbundpfarrer gebeten. Zur Begründung hieß es, in den Bekenntnisgemeinden ­seien »insbesondere auch die Gegner des Nationalsozialismus zu finden«. Konkret griff Coch auch den durch ihn aus seiner Pfarrstelle entfernten Pfarrer ­jüdischer Herkunft Hugo Wach147 an, er hetze »in echt jüdischer Art«.148 Die Entlassung der Geistlichen aus der Haft erfolgte erst nach einer Intervention des Reichsinnenministeriums; doch blieben sie zunächst weiterhin vom

138 139 140 141 142 143 144 145 146

Meier, Kirchenkampf, Band 2, S. 17 ff. Vgl. Röthig, Chronik, S. 97–108. Vgl. ebd., S. 102. Vgl. Fischer, Landeskirche, S. 34 f. Vgl. Meier, Kirchenkampf, Band 2, S. 350. Schreiben vom 29.11.1934. Vgl. Röthig, Chronik, S. 103. Vgl. Fischer, Landeskirche, S. 35. Vgl. ebd., S. 37; Klemm, Im Dienst, S. 247–250. Vgl. Nachrichtendienst Landesbruderrat, nur für Mitarbeiter, Nr. A. 4 vom 2.5.1935 (LKArch Dresden, 5/102, Bl. 112 a). 147 Zu Wach vgl. Gerhard Lindemann, Hugo Wach. In: Röhm/Thierfelder (Hg.), Evangelisch getauft, S. 354 f. 148 Coch an Mutschmann vom 22.3.1935 (Entwurf, Abschrift, LKArch Dresden, 5/LBR 191, Bl. 032–034).

Friedrich Coch

79

Dienst suspendiert.149 Das hatte Coch am 11. Mai 1935 Mutschmann zugesagt.150 Letztlich wurde Cochs innerkirchliche Stellung jedoch weiter geschwächt, da die V ­ erhaftungsaktion eine Solidarisierung der kirchlichen »Mitte« mit der ­Bekenntnisgemeinschaft zur Folge hatte.151 Mit den zunehmenden antisemitischen Agitationen und gewaltsamen Übergriffen in der Öffentlichkeit im Vorfeld des Erlasses der Nürnberger Gesetze nahmen auch Cochs Aktivitäten in diesem Bereich wieder zu. Am 31. August 1935 wandte er sich gegen die Trauung eines Christen jüdischer Herkunft in der Dresdner Zionskirche.152 Anfang Oktober 1935 sicherte die landeskirchliche Nachrichten- und Pressestelle Julius Streichers antisemitischem Hetzblatt »Der Stürmer« in dessen Kampf gegen das Judentum ihre Bundesgenossenschaft zu. Man gab sich überzeugt, »dass der Jude seine unsauberen Hände weithin auch im gegenwärtigen Kirchenstreit stecken hat und das Vordringen des Nationalsozialismus auf religiös-kirchlichem Gebiet so sehr erschwert«, allerdings kritisierte man die jüngste Feststellung des Blattes – »die Kirchen beider Konfessionen stellen sich schützend vor den Juden« – als eine unzulässige Generalisierung.153

Weitgehende »Kaltstellung« unter dem Landeskirchenausschuss und dem Kirchenregiment Klotsche Kurz nach dem Erlass der Nürnberger Gesetze im September 1935 plante Coch »die Bildung besonderer juden-christlicher Gemeinden« in Sachsen.154 Doch dazu sollte es nicht kommen. Auf die Spannungen und Spaltungen innerhalb der evangelischen Kirche, deren versuchte Gleichschaltung mit dem NS-Staat insgesamt misslungen war, reagierte dieser mit der Etablierung von Kirchenausschüssen auf reichskirchlicher Ebene und in den meisten der unter deutschchristlichem Kirchenregiment stehenden Landeskirchen. Am 26. September 1935 bat Coch gemeinsam mit seinen DC-Bischofskollegen bei einer Zusammenkunft in Berlin Reichsbischof Müller um das Mandat zu einer Intervention bei Reichskirchenminister Hanns Kerrl, um eine drohende Entmachtung der Deutschen Christen in kirchlichen Leitungsämtern zu verhindern.155 Einen Monat später wandte sich der Landesbischof an den Chefjuristen 149 150 151 152 153 154

Vgl. Meier, Kirchenkampf, Band 2, S. 350. Vgl. Klemm, Im Dienst, S. 255, Anm. 122. Vgl. Wilhelm, Diktaturen, S. 123. Vgl. Röthig, Chronik, S. 120. Sächsisches Kirchenblatt 1935, Nr. 41 vom 11.10.1935, Sp. 649. Zit. nach Eberhard Röhm/Jörg Thierfelder, Juden – Christen – Deutsche, Band 2/I: 1935–1938, Stuttgart 1992, S. 84. 155 Vgl. Meier, Kirchenkampf, Band 2, S. 76 f.

80

Gerhard Lindemann

des ­Landesbruderrats, Erich Kotte, mit der Bitte um einen »internen ­Schlussstrich« und dem Vorschlag einer Kooperation zur Befriedung der Landeskirche, worauf Kotte wohl auch wegen eines abratenden Votums der bekenntnisorientierten Vorläufigen Kirchenleitung der DEK nicht einging.156 Im Zuge des neuen kirchenpolitischen Kurses der Reichsregierung erhielt auch Sachsen am 21. November 1935 einen Landeskirchenausschuss, der sich aus gemäßigten Vertretern der Bekennenden Kirche und der Deutschen Christen sowie aus Angehörigen der kirchenpolitisch neutralen »Mitte« zusammensetzte. Zu diesem Schritt hatte Minister Kerrl wohl die offenkundig gewordene distanziertere Haltung Mutschmanns gegenüber der Landeskirche ermutigt.157 Coch amtierte zwar trotz einiger Bedenken aus den Reihen des Reichskirchenausschusses158 weiterhin als Landesbischof, allerdings ohne kirchenleitende Kompetenzen – seit März 1936 war er hauptsächlich noch zu geistlichen Amtshandlungen berechtigt,159 allerdings waren sie jeweils gebunden an die Zustimmung des Landeskirchenausschusses.160 Bereits seit Oktober 1935 hatte Mutschmann die Staatsleistungen an die Landeskirche gekürzt. Eingaben Cochs an das Dresdner Volksbildungsministerium und das Reichskirchenministerium blieben unberücksichtigt. Ein von Coch gewünschter persönlicher Empfang beim Reichsstatthalter wurde ihm verwehrt.161 Unter anderem gegen die weitgehende Entmachtung Cochs sandte die Landes­tagung der sächsischen DC in Chemnitz mit angeblich 2 000 Teilnehmern am 28. Juni 1936 ein Protesttelegramm an den Landeskirchenausschuss, das mit dem Entzug des Vertrauens schloss162 und einen endgültigen Bruch mit dem Ausschuss darstellte. Solche Interventionen blieben jedoch ohne Erfolg.163 Dass Coch immerhin noch im Bischofsamt verblieb, empfanden hingegen die sächsischen Bekenntniskräfte trotz seiner offenkundigen »Kaltstellung«164 als eine »bittere Pille«.165 Die erste Synode der Bekennenden Evang.-Luth. Kirche Sachsens am 28. und 29. September 1935 hatte Coch und dem Landeskirchenamt eine »kirchenzerstörende Tätigkeit« vorgeworfen.166 Jedoch war man zugleich 156 157 158 159 160 161 162 163 164 165 166

Seidel, Kotte, S. 146. Vgl. Meier, Kirchenkampf, Band 2, S. 352; ders., Die Deutschen Christen, S. 352, Anm. 870. Vgl. Meier, Kirchenkampf, Band 2, S. 352. Vgl. ebd., S. 353. Vgl. ebd., S. 92. Vgl. ebd., S. 352, 455 f. Vgl. Landesbruderrat Sachsen, Hahn/Fischer, an Vertrauensleute vom 3.7.1936 (LKArch Dresden, 5/104, 1, Bl. 134). Vgl. Meier, Die Deutschen Christen, S. 116. Prater (Hg.), Kämpfer, S. 115. Klemm, Im Dienst, S. 259. Von der Kirche Not und der Bekennenden Kirche Recht. In: Kurt Dietrich Schmidt (Hg.), Die Bekenntnisse und grundsätzlichen Äußerungen zur Kirchenfrage, Band 3: Das Jahr 1935, Göttingen 1936, S. 219 f.

Friedrich Coch

81

überrascht, dass sich Mutschmann nicht für Coch starkgemacht hatte. Offenbar nahm der Reichsstatthalter dem Bischof übel, dass er die BK nicht effektiver bekämpft und sich gegen die Kürzung der staatlichen Finanzleistungen an die Landeskirche zur Wehr gesetzt hatte.167 Seine Entmachtung wertete Coch enttäuscht als einen »Treubruch« seitens der Partei.168 Die unter dem DC-Kirchenregiment vorgenommenen Dienstentlassungen wurden zurückgenommen.169 Bereits im Mai 1935 hatte ein positioneller Annäherungsprozess der sächsischen DC an die radikaleren Thüringer Nationalkirchler eingesetzt.170 In der Folge kam es zu Kooperationen auf den verschiedensten Ebenen.171 Auf die Kursveränderung, die im Wesentlichen auch dadurch motiviert war, dass das DC-Kirchenregiment in Thüringen weitgehend unangefochten war,172 ­deutete bereits ein Gespräch Cochs mit dem Geheimen Staatspolizeiamt Sachsen hin. Dort hatte der Landesbischof erklärt, sein langfristiges kirchenpolitisches Ziel sei die Gewinnung katholischer Christen als Glieder einer Deutsch-Evangelischen Reichskirche.173 Allerdings sprach sich Coch auf einer Zusammenkunft von DC-Bischöfen und -Führern im Juli 1935 in Goslar gegen eine »sofor­tige Verschmelzung« mit den Thüringer DC aus und votierte für eine Arbeits­ gemeinschaft.174 Auf einer DC-Tagung in Dresden am 11. August 1935 plädierten Coch und Grundmann, mittlerweile Landesleiter der sächsischen DC, für den nationalkirchlichen Weg einer überkonfessionellen, an der NS-Ideologie orientierten deutschen Einheitskirche.175 Das stieß innerhalb der sächsischen DC auf breiten Widerspruch, wurde von einem Teil als eine Abkehr vom »sächsischen Weg von 1933/34« angesehen und führte zu dem Aufruf an die Mitglieder, sich der Reichsbewegung Deutsche Christen, Gau Sachsen, die unter der Leitung von Dr.  Walther Schulze, Dresden, stand, anzuschließen.176 Die Nationalkirchler nannten sich Deutsche Christen in Sachsen.177

167 Vgl. Prater (Hg.), Kämpfer, S. 124. 168 Vgl. Röthig, Niederschrift Befragung Grundmann vom 21.7.1961 (LKArch Dresden 5/710 bei 700, Bl. 66–70, hier 67). 169 Vgl. Lindemann, Landeskirche, S. 215. 170 Vgl. Meier, Kirchenkampf, Band 2, S. 353. 171 Vgl. Aufruf und Lagebericht der Deutschen Christen Sachsens vom 22. April 1936. In: Kurt ­Diet­rich Schmidt (Hg.), Dokumente des Kirchenkampfes II. Die Zeit des Reichskirchenausschusses 1935–1937. Erster Teil, S. 615–618, hier 615 f. 172 Darauf verweist Kurt Meier, Die Deutschen Christen, S. 92 f. 173 Vgl. Wilhelm, Die Diktaturen, S. 112, Anm. 55. 174 Röthig, Niederschrift Befragung Grundmann vom 21.7.1961 (LKArch Dresden 5/710 bei 700, Bl. 66–70, hier 67). 175 Vgl. Klemm, Im Dienst, S. 298 mit Anm. 381; Meier, Die Deutschen Christen, S. 337, Anm. 556. 176 Aufruf und Lagebericht, S. 616 f. 177 Vgl. Röthig, Chronik, S. 138.

82

Gerhard Lindemann

In einer Rede vor NS-Pfarrern im Luther-Gemeindesaal in Leipzig erklärte Coch am 27. Februar 1936 die Kirchenausschüsse zu einem Übergangsphänomen in der staatlichen Kirchenpolitik. Ziel sei eine Kirche, in der Pfarrer in Partei­uniform die Gottesdienste hielten und die auf den Gebrauch des Alten Testaments verzichte.178 Mitte April 1936 wurde publik, dass sich die sächsischen DC dem von Thüringen stark dominierten »Führerring« angeschlossen hatten.179 Im gleichen Monat erklärten die 14 sächsischen DC-Superintendenten ihren Austritt aus der Bewegung.180 Auf einer Landesarbeitstagung der sächsischen DC in Chemnitz am 28. Juni 1936 erfolgte schließlich der direkte Anschluss der sächsischen DC an die Thüringer Kirchenbewegung DC. Damit gaben die Sachsen ihre organisatorische Eigenständigkeit endgültig auf.181 Das war offensichtlich auch eine Reaktion auf den am 8. Mai 1936 erfolgten Anschluss der Landeskirche an den den gemäßigten Flügel der Bekennenden Kirche repräsentierenden Lutherrat, was Coch als einen schweren Schlag empfand. In verschiedenen Schreiben nach Berlin kritisierte der Bischof den Landeskirchenausschuss und bestritt seine Existenzberechtigung.182 So sprach er gegenüber Reichskirchenminister Kerrl am 25. Mai 1936 von einer Auslieferung der Landeskirche an die Bekennende Kirche und einem »Anschlag auf die christliche Freiheit«.183 Auch wertete er den Schritt aus politischer Perspektive als »eine schwere Gefährdung der […] deutschen Volkseinheit«.184 Mitte Juli 1936 sprach er in einem an den Reichskirchenausschuss gerichteten Schreiben, das abschriftlich unter anderem auch an Kerrl und Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß ging, dem Landeskirchenausschuss jede weitere »Daseinsberechtigung« ab, da er seiner ­eigentlichen Aufgabe, zur Befriedung der Landeskirche beizutragen, nicht mehr nachkomme.185 Schließlich erklärte Coch am 20. Oktober 1936 schriftlich – unter seine Unterschrift setzte er ergänzend seine Mitgliedsnummer in der NSDAP – gegenüber dem Reichskirchenminister, er verweigere dem Ausschuss die weitere Anerkennung und werde künftig nicht mehr dessen Zustimmung für Predigten und

178 Vgl. ebd., S. 133 f. 179 Vgl. Meier, Die Deutschen Christen, S. 154. 180 Vgl. Nachrichtendienst Landesbruderrat Sachsen, Nr. A 28 vom 28.4.1936, S. 4 (LKArch Dresden, 5/104, 1, Bl. 068 f., hier 069R). Im März 1937 trat der Schneeberger Superintendent Walter Leßmüller den DC wieder bei. Vgl. Röthig, Chronik, S. 153. 181 Vgl. Meier, Die Deutschen Christen, S. 155. 182 Vgl. Meier, Kirchenkampf, Band 2, S. 354. 183 Röthig, Chronik, S. 140. 184 Erklärung Coch vom 25.5.1936. In: Vom Werden und Wachsen lutherischer Kirche Deutscher Nation. Erläuterung und Bericht. Als Manuskript gedruckt für die Glieder der Bekennenden Evang.-luth. Kirche Sachsens, Dresden o. D. [1936], S. 7 f., hier 8. 185 Text in Fischer, Landeskirche, S. 232.

Friedrich Coch

83

­ ffentliche Auftritte einholen. Die Letzterem zugrundeliegende Vereinbarung ö bezeichnete Coch als »Maulkorbverordnung«. Er sei nun »erst recht entschlossen […], die neue Kirche zu bauen, unter Umständen auch ohne die Mehrzahl der Pastoren, das eine klare Ziel vor Augen: Ein Volk – ein Glaube!«186 Am selben Tag wohnte Coch einer Großkundgebung der Kirchenbewegung Deutsche Christen im Dresdner Ausstellungspalast bei, ohne zuvor darüber den Landeskirchenausschuss informiert zu haben. Dort bekundete er in einer Ansprache unter anderem seine Treue zu Reichsbischof Müller.187 Kerrl, der einen »nicht durchweg« angemessenen Ton in dem Schreiben des Landesbischofs monierte, erklärte kühl, es bleibe hinsichtlich Cochs Amtstätigkeit bei dem Vereinbarten.188 Dennoch hielt Coch am 11. November 1936 auf einer Kundgebung des Bundes für Deutsches Christentum in Berlin eine Ansprache.189 Am 11. April 1937 beteiligte sich Coch gemeinsam mit Reichsbischof Müller aktiv an einer DC-Veranstaltung anlässlich der geplanten Kirchenwahlen in Dresden,190 bereits am 3. April 1937 hatte er sich am gleichen Ort öffentlich für die Wahl der DC ausgesprochen. Sie stünden für »eine neue Kirche […], die sich fröhlich und restlos einsetzt für den nationalsozialistischen Staat und [dessen] Weltanschauung«.191 Am 22. Mai 1937 sprach er in Leipzig auf einer Kundgebung der Thüringer DC.192 Eine in Stuttgart Ende Februar 1937 getätigte Äußerung Cochs, man habe mehr an Gemeinsamkeiten mit ehrlichen Vertretern der Deutschen Glaubensbewegung als mit Anhängern beider Flügel der BK,193 wurde auch in Sachsen publik. Auch nach der Wiedererrichtung der deutschchristlichen Herrschaft in der Landeskirche unter Johannes Klotsche im August 1937 blieb es, wie auch bei Cochs Bischofskollegen Adalbert Paulsen (Schleswig-Holstein) und Ernst ­Ludwig Dietrich (Nassau-Hessen)194, bei seiner weitgehenden Entmachtung.195

186 Text ebd., S. 233. 187 Vgl. Mitteilungsblatt des Landeskirchenausschusses Sachsen an die Geistlichen, Hilfsgeistlichen und Vikare vom 10.11.1936 (LKArch Dresden, 5/114, 1, Bl. 054–061, hier 056 f.). 188 Kerrl an Coch vom 17.11.1936. In: Fischer, Landeskirche, S. 234. 189 Vgl. Meier, Die Deutschen Christen, S. 149. 190 Vgl. Röthig, Chronik, S. 155 f. 191 Landeskirchenausschuss Sachsen an die Geistlichen, Hilfsgeistlichen und Vikare vom 21.4.1937, Materialsammlung (LKArch Dresden, 5/114, 1, Bl. 129–134, hier 134). 192 Vgl. Röthig, Chronik, S. 158. 193 Vgl. Landeskirchenausschuss Sachsen an die Geistlichen, Hilfsgeistlichen und Vikare vom 8.3.1937, Materialsammlung (LKArch Dresden, 5/114, 1, Bl. 107–113, hier 112). 194 Vgl. Kurt Meier, Der evangelische Kirchenkampf, Band 3: Im Zeichen des Zweiten Weltkrieges, Halle (Saale) 1984, S. 389. 195 Vgl. aber Äußerungen Cochs auf der Gautagung der DC am 27. und 28.3.1938. Vgl. Walter, Gottesfeier zur Landestagung der Deutschen Christen am 27. März 1938 in der Frauenkirche zu Dresden (LKArch Dresden, 5/106, 1, Bl. 076a).

84

Gerhard Lindemann

Jedoch machte er 1939 wieder häufiger von seinem Predigtrecht Gebrauch.196 Das hing auch mit der deutlichen Zunahme von Gottesfeiern in Sachsen zusammen.197 Der sächsische Landesbruderrat protestierte am 28. Februar 1939 bei Reichskirchenminister Kerrl gegen Cochs »planmäßiges Auftreten«, verbunden mit dem Anspruch, »als rechtmäßiger geistlicher Führer der Landeskirche zu sprechen«. Zudem erzwangen das Landeskirchenamt bzw. die Finanzabteilung für solche Veranstaltungen Cochs die Überlassung von Kirchengebäuden.198 Am 24. August 1939 drohte Klotsche sogar damit, Coch wieder mit der geistlichen Leitung der Landeskirche zu betrauen.199 Die Leipziger »Mitte« warnte am 2. Dezember 1939 in einem Brief an Landesbischof August Marahrens, Hannover, der dem Geistlichen Vertrauensrat der DEK angehörte, wo auch eine mögliche Neuordnung in Sachsen diskutiert wurde, eine Übertragung aller bischöflichen Kompetenzen an Coch würde in der Landeskirche auf heftigen Widerstand stoßen.200 Parallel versuchten die sächsischen DC über den Zwickauer Superintendenten Max Krebs, einen Bekannten Mutschmanns, Coch zu größerem Einfluss im Dresdner Landeskirchenamt zu verhelfen.201 Am 11. Oktober 1942 nahm Coch die Einweisung von Krebs in sein neues Amt als Superintendent von Dresden-Land vor,202 wo dieser dem von Mutschmann 1938 aus Sachsen ausgewiesenen Hugo Hahn nachfolgte. Ende November 1942 hielt Coch gemeinsam mit Reichsbischof Müller den festlichen Gottesdienst in der Dresdner Frauenkirche nach ihrer Renovierung.203 Im März und April 1943 versuchte Coch, der sich mittlerweile organisatorisch von den sächsischen Deutschen Christen gelöst hatte, wieder seine bischöflichen Kompetenzen voll wahrzunehmen. Dabei unterstützte ihn Staatssekretär ­Hermann Muhs vom Reichskirchenministerium. Ende März 1943 protestierte der Landesbruderrat gegen diese Versuche Cochs. Begleitet wurde der Protest von einer­Reihe von Eingaben an die Deutsche Evangelische Kirchenkanzlei.204 Anfang April 1943 erhob der Präsident der sächsischen BK-Synode, Landwirt und Gutsbesitzer Arno Häntzschel, in unterschiedlicher Begleitung persönlich

196 Vgl. Meier, Kirchenkampf, Band 3, S. 504. 197 Vgl. Landesbruderrat Sachsen, Zur Durchführung bestimmt, vom 21.2.1939 (LKArch Dresden, 5/107, Bl. 048). 198 Landesbruderrat, Fischer, an Kerrl vom 28.2.1939 (Abschrift, ebd., Bl. 050). 199 Vgl. Karl-Heinrich Melzer, Der Geistliche Vertrauensrat. Geistliche Leitung für die Deutsche Evangelische Kirche im Zweiten Weltkrieg?, Göttingen 1991, S. 123. 200 Vgl. Röthig, Chronik, S. 223. 201 Vgl. Wilhelm, Diktaturen, S. 69, Anm. 82. 202 Vgl. Röthig, Chronik, S. 260. 203 Vgl. Meier, Kirchenkampf, Band 3, S. 524. 204 Vgl. Röthig, Chronik, S. 261.

Friedrich Coch

85

Einspruch beim Reichskirchenministerium und bei Klotsche gegen Cochs öffentliche Auftritte als Landesbischof.205 Hingegen verhielten sich die kirchliche »Mitte« und die nicht zur BK gehörenden Superintendenten abwartend. Letztlich scheiterte jedoch dieser letzte Versuch Cochs, die geistliche Leitung der Landeskirche wieder deutlicher wahrzunehmen.206 Am 5. November 1944, einem Sonntag, meldete sich Coch freiwillig zum Dresdner Volkssturm. Dort teilte man ihm mit, für die Beteiligung von Geistlichen bestehe kein Bedarf – aufgrund der Sicherstellung der gottesdienstlichen Versorgung waren Pfarrer vom Dienst im Volkssturm befreit. Daraufhin unterbreitete der Bischof dem Reichskirchenministerium den Vorschlag einer weitgehenden Einstellung der kirchlichen Tätigkeit zugunsten des »totalen« Kriegseinsatzes. Die Verteidigung des Vaterlandes als wahrer Gottesdienst habe unbedingten Vorrang. Aus außen- und innenpolitischen Überlegungen hielt das Kirchenministerium eine solche Maßnahme für wenig ratsam.207 Die Übernahme der Trauerfeier für den Dresdner Superintendenten ­Ficker im Januar 1945 galt als ein erneuter Versuch Cochs, die geistliche Leitung der Landeskirche zu übernehmen.208 Nach der Bombardierung Dresdens am 13. Februar 1945 verlor der Landesbischof bis auf wenige Kleidungsstücke seinen Besitz und begab sich ins vogtländische Bad Elster. Die Landeskirche stellte ihm weder in Dresden noch in einem anderen Ort Räumlichkeiten zur Verfügung.209 Nach der Kapitulation des NS-Staates nahm ihn die amerikanische Besatzungsmacht fest. Schließlich kam er in ein Internierungslager für aus politischen Gründen Verhaftete in Hersbruck bei Nürnberg.210 Dort war Coch ein regelmäßiger Teilnehmer an den Lagergottesdiensten.211 Zum 1. Juli 1945 stellte das sächsische Landeskirchenamt die Gehaltszahlungen an den Landesbischof ein.212 Der Dresdner Pfarrer Lic. Franz Lau, vorläufiger geistlicher Leiter der Landeskirche, machte am 8. August 1945 Cochs Ehefrau Elisabeth deutlich, dass auch die Hoffnung auf eine Weiterbeschäftigung ihres Mannes in einem Pfarramt ziemlich aussichtslos sei.213

205 206 207 208 209 210

Vgl. ebd., S. 261 f. Vgl. ebd., S. 261. Vgl. Meier, Kirchenkampf, Band 3, S. 525. Vgl. Meier, Die Deutschen Christen, S. 333, Anm. 461. Vgl. Coch an Klotsche vom 11.4.1945 (Abschrift, LKArch Dresden, 2/581, Bl. 4). Vgl. Pfr. Helmut Landrock, Lippersdorf über Pockau, an LKA Dresden vom 27.9.1945 (LKArch Dresden, 2/581, Bl. 14). 211 Vgl. Dekan Monninger, Hersbruck, an Landeskirchenrat Ansbach vom 12.9.1945 (Abschrift, ­LKArch Dresden, 2/581, Bl. 12). 212 Vgl. LKA Sachsens, i. V. Willisch, an die Kasse vom 25.7.1945 (Durchschlag, LKArch Dresden, 2/581, Bl. 9). 213 Vgl. Vermerk Kotte vom 8.8.1945 (LKArch Dresden, 2/581, Bl. 10).

86

Gerhard Lindemann

Am 9. September 1945 verstarb Coch in Hersbruck an den Folgen einer ­Angina. An seiner Beerdigung beteiligten sich einige evangelische Geistliche aus der Umgebung des Ortes und der Kirchenvorstand der Gemeinde.214 Der ­Verstorbene hatte noch dafür gesorgt, dass das bischöfliche Amtskreuz, welches er weiterhin bei sich trug und das auch sein Vorgänger Ihmels getragen hatte, seinen Weg zurück nach Sachsen fand. Somit konnte es 1947 seinem Amtsnachfolger Hugo Hahn, schon während der NS-Zeit als »heimlicher« Bischof Sachsens geltend, überreicht werden.

214 Vgl. Dekan Monninger, Hersbruck, an Landeskirchenrat Ansbach vom 12.9.1945 (Abschrift, ­LKArch Dresden, 2/581, Bl. 12); Dekanat Hof an LKA Dresden vom 19.9.1945 (ebd., Bl. 13).



Konstantin Hermann Von den Deutschen Christen abgefallen: Otto Fügner

Fügners Entwicklung scheint eindeutig verlaufen zu sein. Seine anfängliche ­Begeisterung für den Nationalsozialismus gab er nach 1945 auch zu. Er schrieb vom »Umschwung«, der 1933 stattgefunden habe, und in seiner Selbsteinschätzung wird deutlich, wie er dachte: Er wollte nicht zu den Verlierern gehören, die zu kurz kommen würden, da sie sich nicht entschieden genug für die Nazis ausgesprochen hatten. »Auch das Fortkommen der vier Kinder war entscheidend«, beschrieb er ebenso wie den »Druck in der kleinen Gemeinde«, der stärker war als in großen, die ihn, von den anderen beobachtet, den Schritt machen ließen, den man von ihm erwartete.1 Er stellt sich in seiner gesamten Einschätzung in dieser Frage als durchaus anfangs begeistert, aber vor allem als Mitläufer dar, der einerseits den Versprechungen der Nationalsozialisten glaubte, andererseits auch aus Sorge um seine Kinder in die NSDAP eingetreten war.2 Dies erfolgte am 1. April 1933. Der Leipziger Superintendent Heinrich Oskar Gerhard Hilbert ­hatte unter seinen Pfarrern, so schreibt Fügner, darum geworben. Es ist durchaus glaubhaft, dass sich mancher dadurch erhoffte, Einfluss auf die Kirchenpolitik der Nationalsozialisten zu gewinnen. Fügner stand abseits und trat nach eigenen Angaben nicht aus politischen Gründen in die NSDAP ein, sondern weil die »Partei zum Staate erklärt wurde und es damit nur eine Richtung« gab.3 »Der Kirche war eine Chance geboten, die nicht versehen werden durfte«4, führte er weiter aus. Zweifellos dachten so tausende Pfarrer in Deutschland. Nicht selten beruht die Beurteilung von heute der ­damals Handelnden auf einer Fehleinschätzung: Demokratie oder Nationalsozialismus. Die Alternativen 1930 oder 1932 sahen aber anders aus, zumindest nach vielen Verlautbarungen der damals Lebenden: 1 2

Lebenslauf Fügner (LKArch Dresden, 2/1559, Bl. 6). Mitgliedsnummer 1 738 629 (Bundesarchiv, MFOK F0019). Die Ortsgruppe befand sich in ­Possendorf (11.1.1935/229). Seine Kinder waren keine NSDAP-Mitglieder, aber in den entsprechenden Jugendorganisationen Mitglied. 3 Lebenslauf Fügner (LKArch Dresden, 2/1559, Bl. 6). 4 Ebd.

88

Konstantin Hermann

Bolschewismus oder Nationalsozialismus. Die Demokratie hatte einen so schwachen Stand, dass sie als ernsthaft längerfristige Regierungsform vielen völlig als unwahrscheinlich erschien. Deutlich wird das immer wieder anhand der Kirchenzeitungen. Die Frage des Bolschewismus spielt eine wesentlich größere Rolle als die der Demokratie. Ganz so unpolitisch, wie er es 1945 schrieb, kann Fügner jedoch nicht gewesen sein. Es erscheint zumindest eigentümlich, dass ausgerechnet seine Akte aus dem Ephoralarchiv Dippoldiswalde sich nicht erhalten hat5 und dies auf die sowjetische Besatzungsmacht, die die Superintendentur besetzte, geschoben werden konnte. Glückliche Umstände, nur nicht für den Historiker. »Unpolitisch« meint Fügner sich auf die Partei bezogen; auf seine kirchenpolitischen Aktivitäten kann dies nicht gerichtet gewesen sein. Einen entscheidenden Hinweis auf den anfänglichen kirchenpolitischen ­Gestaltungswillen Fügners erhält man durch sein Handeln. Es war ohne Zweifel nicht unpolitisch, dass er 1933, im Jahr des »Umschwungs«, zum »Führer« der »Sorabia«, nun mit dem Führerprinzip, gewählt wurde, ebensowenig wie s­ eine Leitungsfunktion im sächsischen Männerwerk. Fügner schildert die Beweg­ gründe freilich anders. Er, der schon jahrelang bei den Evangelisch-Sozialen beheimatet war, sollte die Vereine in die neue Zeit führen und retten. Es wäre jedoch merkwürdig gewesen, wenn Fügner in der »ersten Begeisterung« für den ­Nationalsozialismus eben nicht so gehandelt hätte wie es staatskonform war – nationalsozialistisch. Fügner gehört zwar nicht zu den wichtigsten Protagonisten der Landeskirche in der Zeit nach 1933, aber auch nicht zu den unbedeutenden. Er erscheint vor 1933 nicht in kirchlichen Leitungsfunktionen, sei es in der Landeskirche selbst, bei den Evangelisch-Sozialen oder in Vereinen; die Amtskalender weisen von ihm als Pfarrer und Superintendent nur sehr wenige Vorträge nach, ganz anders als bei seinem Dippoldiswalder Vorgänger, dem Oberkirchenrat Max Michael (1867–1961). Fügner hätte auch einen anderen Weg einschlagen können. 1921 gehörte er zu den Amtsbrüdern, die mit einem der später exponiertesten Vertreter der ­Bekennenden Kirche in Sachsen, Karl Fischer (1896–1941), einen Hauskreis bildeten: neben Fügner und Fischer der Sadisdorfer Pfarrer Hermann Friedrich Gocht sowie Rudolf Friedrich.6 Am 14. Juni 1921, der ersten Zusammenkunft in ­Sadisdorf, traten, so Hermann Klemm, die Unterschiede deutlich hervor: Fischer galt als der radikalste, während Fügner eher verhalten war. Bei ihm traf man sich

5 6

Auskunft der Superintendentur Freiberg, die heute die Akten der ehemaligen Superintendentur Dippoldiswalde verwahrt. Andere Akten aus diesem Archiv wurden für den vorliegenden Beitrag nicht ausgewertet. Vgl. Hermann Klemm, Im Dienst der Bekennenden Kirche. Das Leben des sächsischen Pfarrers Karl Fischer 1896–1941, Göttingen 1986, S. 42.

Otto Fügner

89

zur zweiten Hauskonferenz, in Hennersdorf, zum damals hochaktuellen Thema Okkultismus. Der verlorene Krieg hatte zu einer Flucht ins Parapsychologische geführt, weg vom Drangsal der Erde und vom tradierten Glauben. Moritz Wilhelm Otto Fügner stammte aus Leipzig-Lindenau, einem jungen, damals noch selbstständigen Arbeiterviertel. Kein Zweifel besteht, dass er hier Prägungen für seine evangelisch-soziale Richtung erhielt. Geboren wurde er am 26. Ja­nuar 1890 als Sohn von Wilhelm Alwin Otto Fügner und seiner Frau Ernestine, geb. Weißschuh. Der 1930 verstorbene Vater war Lehrer an der 12. Bürgerschule und wohnte 1900 in der zweiten Etage des Hauses Lindenstraße 9 (heute Dreilindenstraße), in einem der typischen historistischen Häuser, das ihm mit einem a­ nderen Lehrer gemeinsam gehörte.7 Der Vater muss also über einige Mittel ­verfügt haben, obwohl die Volksschullehrer zu jener Zeit nicht viel verdienten. Otto Fügner, der spätere Pfarrer, hatte drei Geschwister; ein Bruder kam 1927 bei ­einem Motorradunfall ums Leben, eine Schwester war Gewerbelehrerin in Leipzig. Fügner ging auf die Thomasschule Leipzig und legte Ostern 1910 das Abitur ab. In seiner Vaterstadt immatrikulierte die Universität ihn im Fach Theologie. Die Erste Theologische Prüfung legte er im August 1914 ab (Hauptzensur IIIa), woran sich die Dienstzeit in der Armee bis 1916 anschloss. Über seinen Kriegseinsatz, den er als Unteroffizier beendete, ist nichts bekannt. Fügner absolvierte die ­Zweite Theologische Wahlfähigkeitsprüfung in Dresden im Oktober 1916. Seit dem 27. Februar 1916 war er in Hennersdorf (Superintendentur Dippoldiswalde). ­Seine Einweisung in Hennersdorf erfolgte am 1. November 1916. Am 7. August 1916 heiratete Fügner Frieda Zschunke (†17. Februar 1973), Tochter des Kaufmanns Otto Zschunke und dessen Ehefrau Anna, geb. Müller. Aus seiner Ehe gingen vier Kinder hervor, von denen die beiden Söhne umkamen: Wolfgang (*15. Oktober 1917) starb am 29. September 1937 bei einem Unfall, der Sohn Otfried (*7. August 1921) fiel am 18. Februar 1945 an der Ostfront. Die beiden Töchter Ursula (*22. Dezember 1919) und Liselotte (*9. Februar 1923) heirateten Ärzte.8 In Hennersdorf blieb Fügner zehn Jahre, bis er am 25. Juni 1925 das Pfarr­amt Possendorf in der gleichen Super­intendentur, wiederum für zehn Jahre, übernahm. So befand sich Fügner mit s­ einer Familie in der Nähe Dresdens; eine Nähe, die er zugunsten der ­Ausbildung seiner Kinder angestrebt hatte. War Hennersdorf fast rein landwirtschaftlich ­geprägt, befanden sich in Possendorf einiges Gewerbe und etwas Industrie. Es waren vor allem Arbeiter und Handwerker, die in seinem Kirchspiel wohnten.

7 8

Vgl. Adreßbuch Leipzig 1900, 1. Abt., S. 238, und 1. Abt., III. Abschnitt, S. 188. Bis 1898 wohnte Fügner in Lindenau auf der Leipziger Str. 10, 1. Etage. Mit Ziegler, mit dem Fügner das Haus kaufte, wohnte er bereits in der Leipziger Straße. Alle Angaben aus seiner Personalakte (LKArch Dresden, 2/1559, Bl. 24). Ursula Kirst wohnte um 1973 in Völklingen.

90

Konstantin Hermann

Fügner gehörte nach eigener Angabe sowohl in Hennersdorf als auch in ­Possendorf dem Gemeinderat und dem Fürsorgeausschuss an. Er habe dort »stets das Vertrauen aller Kreise gehabt«.9 Starke Betonung erfuhr seine evangelisch-soziale Prägung in Possendorf: »Aber die kirchliche Nothilfe, die ich ins Leben gerufen hatte, konnte ich nur aufbauen auf der persönlichen Kenntnis der sozialen Lage. Die soziale Lage war in meiner Arbeitergemeinde katastrophal. Der Lohn minimal, die Arbeitslosigkeit erschreckend, die Abhilfemaßnahmen gering.«10 Die Suche nach den Antworten in der sozialen Frage, die so viele P ­ farrer umtrieb, konnte auch zum Nationalsozialismus führen. Fügner galt aufgrund seiner Aktivitäten in den bürgerlich-konservativen Kreisen, die versuchten, seine Wahl zum Ersten Pfarrer von Possendorf zu verhindern, nach eigenen Worten als ­»Roter«. Am 18. Oktober 1928 hielt er auf der Hauptkonferenz Dippoldis­walde einen Vortrag »Die evangelischen Arbeitervereine« und erscheint sonst nicht mehr, ­außer am 10. November 1932 mit einem Bericht »über die Rüstzeit für den Kampf ­wider die Gottlosenbewegung«.11

Zäsur 1933 Der Schulterschluss mit den Nationalsozialisten war, wie bei den meisten Zeitgenossen Fügners, aus vielfältigen Gründen erfolgt, unter anderem aus politischen Gründen. Das Verhältnis der Landeskirche zum Freistaat war, gerade wenn er sozialdemokratisch regiert wurde, nicht unbelastet. Die Maßnahmen der Regierung Erich Zeigner in Bezug auf Trennung von Staat und Kirche und der Übernahme von kirchlichen Aufgaben hatten bei der Landeskirche zu einer starken Abwehrhaltung geführt. Die Nationalsozialisten hatten dagegen der Kirche eine stär­kere Stellung versprochen und Fügner war überzeugt, dass sie »für die christliche ­Erziehung und für die christliche Schule eintreten« wollte.12 Er sah eine Chance für die Kirche, die nicht vergeben werden sollte. Fügner gehörte neben ­Fischer, Gocht, Michael unter anderem zu den Rednern zur Debatte über die politisch gewollte Neugestaltung des Schulwesens (Reichsschulgesetz 1927). »Man müsse die Bekenntnisschule fordern, weil sie uns aufgezwungen ist.«13 Die Pfarrer wünschten sich keine Bekenntnisschule, die eine starke Trennung vom weltlichen Schulwesen bedeutete und sahen dies als Gleichmacherei des P ­ rotestantismus mit a­ nderen Religionen an.

  9 Lebenslauf Fügner (ebd., Bl. 5). 10 Ebd. 11 Amtskalender 1930, S. 147; Amtskalender 1934, S. 156. 12 Lebenslauf Fügner (LKArch Dresden, 2/1559, Bl. 6). 13 Klemm, Im Dienst, S. 110 ff.

Otto Fügner

91

Hinzu kam wohl eine generelle Unzufriedenheit mit den politischen Zuständen der Weimarer Republik im Reich, abgesehen von der sozialen Not, wie sie Fügner in seinem Kirchspiel sicher oft erlebt hat. Allerdings spielten auch die ­Sorgen des vierfachen Familienvaters eine Rolle, der davon schrieb, dass »ihre Ausbildung und ihr Fortkommen mit ausschlaggebend« waren.14 Der Druck, dass er sich zum Nationalsozialismus bekennen möge, war in der kleinen Gemeinde groß. »Außerdem ist ja bekannt, dass die Mitgliedschaft sogar ›erwünscht‹ war. (Sup. Hilbert)« schrieb Fügner als Erklärung und vielleicht auch als Entschuldigung. Allerdings stellte es Fügner so dar, als sei seine Frau Frieda ebenfalls erst 1933 Mitglied der NSDAP geworden – sie war jedoch bereits am 1. November 1932 eingetreten (Nr. 1 379 623).15 Um die Frauen hätten die Nazis schon länger geworben und so war sie unter Bezug auf die christliche Erziehung der Kinder in die Partei eingetreten. Viele Sachsen sahen es 1933 als taktisch klug an, der Kirche wieder beizutreten, da die Nationalsozialisten die Kirche einzubinden versuchten. Nachdem noch 1932 die Zahl der Eintritte 6 527, die der Austritte 29 023 betragen hatte, drehte sich das Verhältnis 1933 um: 92 413 zu 8 011. Allerdings blieb die Eintrittswelle auf die Jahre bis 1937 begrenzt; nun traten erstmals seit 1933 wieder mehr Menschen aus als ein (39 615 zu 4 940).16 Die mehrfach angeführte Rechtfertigungsschrift (bzw. Lebenslauf), die ­Fügner im November 1945 schrieb, stellt eines der typischen Beispiele ihrer Gattung dar. Sie gibt zu, was zugegeben werden muss (Mitgliedschaft, erste Begeisterung), stellt die innere Opposition dar und vergisst keine der Handlungen, die im Regime als nicht staatstragend gelten konnten. Es fehlt auch nicht der Hinweis, dass man bald nicht noch einmal in die NSDAP eingetreten wäre und man eigentlich von den anderen immer als »Linker« usw. bezeichnet wurde. Allerdings ist bei Fügner der Bruch 1936/37 durch den Austritt aus den Deutschen Christen (DC) überdeutlich, der aus den Erfahrungen der Vorjahre gespeist wurde. Es sind daher zwei Etappen im Leben dieses Pfarrers 1933 bis 1945 zu unterscheiden. Auffällig ist, dass Fügner vor 1936 wesentlich öfter in Erscheinung trat als nach seinem Austritt – so lassen zumindest die Quellen diese Aussage zu. Die Begeisterung für die politischen Veränderungen kulminierte im Jahr 1933 und in den ersten Monaten von 1934; danach wollte Fügner 1934/35 gemerkt haben, dass die Pfarrer und die Kirche nur Mittel zum Zweck der National­ sozialisten waren. Er entsann sich angeblich gar keiner Auseinandersetzungen in seinem Bezirk: »Ich habe die Welt ohne Christus jederzeit strikt abgelehnt.

14 15 16

Lebenslauf Fügner (LKArch Dresden, 2/1559, Bl. 6). Vgl. Bundesarchiv Berlin, NSDAP-Mitgliederkartei, Mitgliedschaft Fügner. Vgl. Junge Kirche, 6 (1938), S. 654.

92

Konstantin Hermann

Ich habe allerdings auch geglaubt, dass man zur gegebenen Zeit doch wirklich mit der Kirche im positiven Sinne Ernst machen würde. Einen sogenannten Kirchenstreit kenne ich nicht, weder im kleinen Raum, noch im Raum meines Kirchenbezirks. ­Irgendwelche Diffamierungen sind nicht vorgekommen, weder herüber noch hin­über.«17 1935 gehörten jedoch in Fügners Ephorie mindestens folgende Pfarrer der Bekennenden Kirche an: Walter Adam (Frauenstein), Ernst ­Friedrich Diet­rich (Hennersdorf), Bernhard Georg Exner (Schmiedeberg), Gerhard Gilbert (Schellerhau), J­ohannes Max August Müller (Sadisdorf), Werner Richter ­(Burkersdorf), Friedrich Helmuth Schubert (Hermsdorf) und der Vikar ­Rabast (ebenfalls Frauenstein).18 Und Fügner weiter: »Ich bin stets für brüder­ liche Ausein­andersetzung eingetreten und habe immer den Standpunkt vertreten, dass man als Christ bereit sein muss, sich auch mit dem Gegner zusammenzusetzen, um ihm zu helfen, seine Fehler zu Ende zu denken, oder ihn aber dazu zu zwingen, dass er erklärt, ich will nicht und dann ist natürlich alle Mühe umsonst.«19 Diese retrospektive imaginatio idealiter wird deutlich entwertet durch das Geschehen in seiner Ephorie selbst. In der Auseinandersetzung mit den Anhängern der Bekennenden Kirche z. B. im Frauensteiner Pfarramt am 25. Februar 1935, als Fügner als kommissarischer Superintendent als Vakanzvertretung einen DC-­Vikar installieren wollte, forderte er »Den Gehorsam verweigern, gibt es im Dritten Reiche nicht« und sagte gleich zu Anfang »Gemeutert wird im Dritten Reiche nicht!«20. Zunächst zog Fügner den Kürzeren und ging unverrichteter Dinge mit dem Satz: »Man sieht eben, Ihr seid Gegner des Dritten Reiches.«21 Der Superintendent konnte sich jedoch durchsetzen, so dass »sein« Vikar blieb. Fügner positionierte sich also bei einem der Höhepunkte des Kirchenkampfes recht eindeutig. Gerade von 1933 bis 1935 war Coch gegen politisch missliebige Pfarrer streng vorgegangen und versuchte, seine Autorität durchzusetzen. Ein Jahr später, am 23. April 1936, teilte Fügner schließlich dem Frauensteiner Pfarrer Walter Adam mit, dass er mit elf anderen Geistlichen die Mitgliedschaft bei den Deutschen Christen aufgegeben habe.22 Wie Markus Hein schrieb, rückte er dennoch nicht vom Nationalsozialismus ab.23 Die Mitgliedschaften und Funk17 Lebenslauf Fügner (LKArch Dresden, 2/1559, Bl. 8). 18 1936 wurden erwähnt: Adam, Gilbert, Müller, Richter, Schubert (LKArch Dresden, 5/104, Bl. 262, 287). 19 Lebenslauf Fügner (LKArch Dresden, 2/1559, Bl. 8). 20 Protokoll des Diakons Helmut Roscher vom 26.2.1935 (LKArch Dresden, 5/201, o. Fol.). 21 Vgl. Konstantin Hermann, Der »Kavallerist« der Bekennenden Kirche. In: Herbergen der Christenheit, (34/35) 2013, S. 195–212; siehe auch Helmut Roscher, Der Kirchenkampf in ­Frauenstein (LKArch Dresden, 5/710, 1, Bl. 136–139). 22 Vgl. Fügner an Adam vom 23.4.1936 (LKArch Dresden, Nachlass Adam). 23 Vgl. Markus Hein, Die sächsische Landeskirche nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ­(1945–1948). Neubildung der Kirchenleitung und Selbstreinigung der Pfarrerschaft, Leipzig 2002, S. 207.

Otto Fügner

93

tionen entsprechen im Wesentlichen den üblichen in der nationalsozialistischen Zeit. Fügner war Mitglied in der NS-Volkswohlfahrt (1936–1945), im Reichsbund Deutscher Frontsoldaten (Stahlhelm) stellvertretender Kassierer (1944) und ­Lehrer im Reichsluftschutzbund (1943/44). Fügner hatte in der NSDAP keine Funktion inne. Er wird jedoch für die Partei aufgrund seiner Autorität als Pfarrer lokal wichtig gewesen sein. So, wie es die spärlichen Quellen belegen, arbeitete er durchgängig mit den Nationalsozialisten zusammen, auch nach seinem Austritt aus den Deutschen Christen. Am 21. August 1933 weihte Fügner die Fahne der NSDAP-Ortsgruppe Freital mit dem Spruch »Ich will Dich segnen, und Du sollst ein Segen sein!«.24 Die Inhaltszusammenfassung der Rede Fügner spricht für sich – er sprach hier nicht mehr als Geistlicher, sondern als Nationalsozialist. Wie eng noch Jahre später die Beziehungen trotz Kirchenkampf und DC-Austritt waren, zeigt die Weihe des Denkmals für die Gefallenen des ­Ersten Weltkriegs in Höckendorf. Fügner weihte die Orgel, während der Kreisleiter von Dippoldis­walde das Mahnmal auf dem abgetrennten Teil des Pfarr­ gartens weihte.25 Seine Anordnung für seine Superintendentur vom 20. Juli 1944, einen D ­ ankgottesdienst für die »Erhaltung des Führers« abzuhalten, setzt dies konsequent fort. Jedoch blieb Fügner trotz solcher Aktivitäten zurückhaltend; er verfasste keine Kampfschriften für den NS-Staat und hielt auch keine Reden in diesem Sinne ab Mitte der 1930er-Jahre. Es war allzu verständlich und entspricht den meisten ausgefüllten ­Fragebogen, dass das Engagement für die Nationalsozialisten mit »erster Begeisterung«, ­»ehrlichem Willen« und ähnlichem kurz abgehandelt wurde, die Schilderung devianten Verhaltens dagegen wesentlich ausführlicher erfolgte. Das ist im ­ ­Nachhinein nicht zu verurteilen, muss aber bei der Interpretation ­dieser Art von Selbstbekenntnissen berücksichtigt werden. Unbekannt ist, wann er Landes­ bischof Coch und andere Protagonisten der Deutschen Christen in S­achsen kennengelernt hat. Da Fügner vor 1933 keine überregionalen Funk­ ­ tionen ­wahrnahm – im Gegensatz zu Coch, der unter anderem Geschäftsführer des evangelischen Landespresseverbands war (Vorsitzender war ­ Oberkirchenrat ­Michael, vorher Superintendent von Dippoldiswalde und direkter Amtsvorgänger von Fügner)26 –, kann nicht mehr rekon­struiert werden, welche B ­ eziehungen zu wem bestanden. Jugel hatte auf Vorschlag Cochs im November 1934 einen »Führungsstab« gebildet, in den Fügner berufen wurde. Neben ihm w ­ aren Martin Beier, Pfarrer Horst Fichtner, Friedhofsinspektor ­ Warnatzsch und ­Kirchenverwaltungssekretär Peter Mitglied.27 24 25 26 27

Der Freiheitskampf, Ausgabe Dresden, Nr. 199 vom 23.8.1933. Vgl. Amtskalender 1940, S. 132. Amtskalender 1931, S. 89. Kurt Meier, Der evangelische Kirchenkampf, Band 2: Gescheiterte Neuordnungsversuche im Zeichen staatlicher »Rechtshilfe«, Halle (Saale) 1984, S. 455.

94

Konstantin Hermann

Fügner war Synodaler der »Braunen Synode« am 11. August 1933, die Coch zum Landesbischof wählte. Otto Fügner schlug Max Schreiter als Präsidenten der Synode vor, dem ein »soldatisches Christentum« vorschwebte und der einstimmig gewählt wurde.28 Im Amtskalender zeigte sich Schreiter als »Goldfasan«, als NS-Amtsträger und Chef der NSDAP-Fraktion im Dresdner Stadtrat.29 Die Synode bestand zu über 90 Prozent aus neuen Teilnehmern, darunter alle Geistlichen.30 Fügner war nun ebenfalls erstmals Synodaler. Die »Braune Synode« sollte die Weichen stellen; dementsprechend gründlich war der Vorlauf durchgeplant: Coch setzte vorher das »Führerprinzip« in der Landeskirche durch und hob dafür »wesentliche Teile der Landeskirchenverfassung« auf. Im Wahlkompromiss bei den Kirchenwahlen im Reich hatten die Deutschen Christen 75 Prozent der Sitze beansprucht; die sächsischen DC-dominierten Kirchgemeindevertreter wählten die Mitglieder der »Braunen Synode«. Ein eigenes »Ermächtigungsgesetz« verschaffte Coch große Entscheidungs- und Handlungsfreiheit.31 Fügner war also in den ersten Jahren nach 1933 im profan- und kirchenpolitischen Sinne sehr umtriebig. Auf der Führerkonferenz des Landesverbands Evangelischer Arbeitervereine im Deutschen Evangelischen Männerwerk am 6. und 7. Januar 1934 sprach Fügner als Landesführer die Begrüßung und über »Den Weg der Kirche«, die sich von Liberalismus und neuer Orthodoxie distanzieren und »kämpfend gegen andere Götterlehren« sich einzig auf Jesus Christus Gottes Sohn beziehen sollte. Auch Walter Grundmann referierte auf dieser Tagung über »Die sächsische Volkskirche zum inneren Aufbau der Deutschen Evangelischen Kirche«. Die 28 Thesen der sächsischen Kirchenregierung wurden von den teilnehmenden »Führern« als geeignete Grundlage für den Bau einer ­neuen Volkskirche angesehen.32 Der Geschäftsführer des Landesverbandes Sachsen, Walter Gey, sprach von der Notwendigkeit, die in den Kirchgemeinden bestehenden Männervereine unter anderem zusammenzufassen, so wie die sächsische Kirchenleitung dies auch vorsah. Nach der Verordnung vom 26. März 1934 zum Landesführer bestimmt, war Fügner auch für die gesamte Literatur des Landesverbands zuständig. Der Landesverband hatte seinen Sitz auf der Ostra-Allee 24 in Dresden in der Wohnung von Gey.33 Die evangelischen Arbeitervereine und lokalen Verbände wurden 1933 in das Deutsche Evangelische Männerwerk zusammengeschlossen. Fügner schrieb, dass der Aufbau des Männerwerks seine 28

Hein, Landeskirche, S. 207; Kurt Meier, Der evangelische Kirchenkampf, Band 1: Der Kampf um die Reichs­kirche, Halle (Saale) 1976, S. 48. 29 Amtskalender 1934, S. 134. 30 Vgl. Manfred Gailus, Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche im Nationalen. Regionalstudien zu Protestantismus, Nationalsozialismus und Nachkriegsgeschichte 1930 bis 2000, Berlin 2006, S. 373. 31 Nach Meier, Kirchenkampf, Band 1, S. 471. 32 Die neue Volkskirche. In: Mann und Kirche, 2 (1934), S. 24. 33 Vgl. Amtskalender 1937, S. 154.

Otto Fügner

95

»eigenste Arbeit gewesen« sei und er alles kirchenpolitische ausgeschlossen habe. Er bezieht sich dabei auf die Zeit, als der Landeskirchenausschuss bereits bestand.34 Ganz so kirchenunpolitisch war j­ edoch die Arbeit zumindest in den Anfangsjahren nicht. Auf den Veranstaltungen des Männerwerkverbandes traf sich alles, was in der sächsischen Landes­kirche Rang und Namen hatte. In dem Schulungskurs im Mai 1934 referierten Landesbischof Coch, Grundmann und Gerhard Kubitz.35 Fügner war auch ­Moderator des »Dresdner Religionsgesprächs« vom 5. Juni 1934. Karl Fischer nahm ebenso daran teil wie Coch selber, daneben noch Grundmann, K ­ ubitz unter anderem.36

Als Superintendent in Dippoldiswalde Die Aktivitäten Fügners zugunsten der Deutschen Christen und seine Stellung zur NSDAP sollten bald den Lohn bringen. Pfarrer Joachim Zinßers Erinnerung »kirchenfeindlichen Bestrebungen der Partei gegenüber blieb er korrekt. Trotzdem verstand er es, sich bei der Vertretern der Partei anzubiedern« beschreibt die Haltung Fügners, nicht mehr als nötig anzuecken, den Willen zum Mitmachen zu zeigen und den anderen nicht zu vergrätzen – und das nach mehreren Richtungen hin. Fügner sah die Existenzgarantie der Kirche wohl nicht in der Haltung der Bekennenden Kirche (BK), sondern in der des gemeinsamen N ­ eben- und bisweilen Miteinanders mit dem NS-Staat. In eine ähnliche Richtung gingen die Erläuterungen der Entnazifizierungskommission vom 10. März 1947 zum Fragebogen Fügners über seine politische Vergangenheit: »Pfarrer Fügner ist durch seinen Beitritt zur NSDAP und seine nationalsozialistische Haltung zum Super­ intendenten aufgerückt. Der hat diese offizielle nationalsozialistische Haltung auch bis zuletzt beibehalten, so dass er noch am 20. Juli 1944 den Dankgottesdienst für die Erhaltung des Führers angeordnet hat. Das zu verdunkeln wäre ­wider die Wahrheit. Dem aber steht seine kirchliche Haltung gegenüber. Hat als Superintendent sein Amt treu gegen jeden Amtsbruder geführt und alle Geistlichen gegen jeden Angriff zu schützen versucht. In allen Klippen des Kirchenkampfes hat er die gemeinsamen Belange aller zu wahren gesucht. Gottesfeiern und nicht bekenntnisgemäße Amtshandlungen nicht durchgeführt. Wenn er ohne Pfarramtsleitung ins Pfarramt zurückkehrt, dann zu Recht und genügend geregelt.«37 1936 war ihm nach eigener Angabe das Parteiabzeichen entzogen worden; in den Unterlagen zu Fügner ist jedoch dazu nichts vermerkt. 34 35 36 37

Siehe u. a. den Nachlass von Martin Doerne, SUB Göttingen, Acc. Msc. 1973.15. Vgl. Elbtal-Abendpost vom 31.5.1934. Klemm, Im Dienst, S. 215. Lebenslauf Fügner (LKArch Dresden, 2/1559, Bl. 22 b).

96

Konstantin Hermann

Im April 1934 erhielt er den Auftrag, das Amt des Superintendenten von ­Dippoldiswalde kommissarisch zu verwalten. Es sollte, so nach eigenen Worten, damit verhindert werden, dass das Amt in »radikale Hände« kam. Damit können nur die Kräfte der Bekennenden Kirche gemeint sein. Das Landeskirchenamt war in der Hand der Deutschen Christen und Fügner war politisch so loyal, dass er als Superintendent entsandt werden konnte.38 Im Oktober 1935 wurde er – nach der ordnungsgemäßen Wahl zum Pfarrer von Dippoldiswalde – zum Superintendenten der Ephorie Dippoldiswalde ernannt. Obgleich »der Partei […] nicht hörig«, so Zinßer, stellte der Kommentar zu Fügners Fragebogen am 10. März 1947 klar fest, dass »Pfarrer Fügner durch seinen Beitritt zur NSDAP und seine nationalsozialistische Haltung zum Superintendenten aufgerückt« war. Doch Fügner hielt sich immer etwas zurück; seine einzige im Amtskalender überlieferte Rede nach 1933 war am 12. November 1936 auf der Dippoldiswalder Hauptkonferenz. Fügner widmete sich Joh 10, 29 und hielt einen Vortrag über »Völkische und kirchliche Verantwortung in unserer Zeit«.39 Im April 1935 verbreitete die Nachrichtenstelle der Staatskanzlei, die von vielen, auch überregionalen Zeitungen veröffentlicht wurde, Folgendes: Sie warf den evangelischen Pfarrern der Landeskirche vor, die »Autorität des Staates und der Bewegung zu schädigen«,40 sie gäben Material für die »Auslandshetzpresse« und störten durch eine übertriebene Darstellung der Lage den kirchlichen Frieden. 19 Pfarrer waren aus politischen Gründen in das KZ Sachsenburg eingeliefert worden. »Es blieb kein anderer Weg, als sie zur Vermeidung stärkerer Beunruhigung weiter Volkskreise in Schutzhaft zu nehmen.«41 Das Landeskirchenamt protestierte nicht. Der »Westdeutsche Beobachter« kommentierte dies am 24. April, nannte die BK-Pfarrer »Saboteure und Staatsfeinde im Priestergewand, Halbjuden«. Das NS-Blatt bezeichnete die Mitteilung der Staatskanzlei als »erfrischend: Das Konzentrationslager ist in solchen Fällen die einzig mögliche und wahrscheinlich lehrreiche Antwort!«42 Gauleiter Martin Mutschmann legte auf dem Gauparteitag am 26. Mai 1935 nach und forderte den Verzicht der Kirche auf jedes Wirken abseits des geistlichen Lebens: » […] dann liegt die Schuld einzig und allein bei jenen Geistlichen, die um sehr weltlicher Dinge willen das Christuswort vergessen haben: Unser Reich ist nicht von dieser Welt! […] Wir werden aber mit unduldsamer Härte dort eingreifen, wo irgendwelche sogenannte Diener Gottes glauben, einen Staat im Staate aufrichten zu können. Der Staat sind wir; einzig

38 Lebenslauf Fügner (ebd., Bl. 11). 39 Amtskalender 1938, S. 127. 40 Schutzhaft und Konzentrationslager für evangelische Pfarrer in Sachsen. In: Junge Kirche, 3 (1935), S. 413 f. 41 Ebd. 42 Nach ebd., S. 413.

Otto Fügner

97

und allein wir.«43 Als Mutschmann im September 1935 die Finanzmittel für die Landeskirche erheblich kürzte und Coch protestierte, wurde dieser vom Gauleiter nicht einmal empfangen.44 Die kirchenpolitische Lage war in Sachsen unhaltbar geworden. Reichskirchenminister Hanns Kerrl berief am 21. November 1935 einen Landeskirchenausschuss (LKAu) mit Mitgliedern der drei Richtungen DC, BK und der Mitte. Für zwei Jahre trat eine gewisse Beruhigung ein. Der LKAu konnte sogar den Beitritt der sächsischen Landeskirche an den BK-nahen Rat der Evangelisch-lutherischen Kirche Deutschlands am 8. Mai 1936 durchsetzen.45 Die an Bedeutung verlierenden DC in Sachsen radikalisierten sich und näherten sich der Thüringer Richtung an. Die DC spalteten sich in mehrere Strömungen. Der grundsätzliche Dissens war auf dem Dresdner Religionsgespräch vom 24. und 25. Februar 1936 deutlich zu spüren. Diese kirchenpolitische Entwicklung vollzog sich also in den Wochen und Monaten vor dem Austritt Fügners aus den DC im April 1936. Auch im Februar dieses Jahres hatten sich verschiedene Gruppen der Mitte in Berlin unter Leitung von Hermann Stahn zur Reicharbeitsgemeinschaft Evangelische Volkskirche zusammengeschlossen.46 Die sächsische Mitte wurde durch Bruhns und Mieth vertreten. Nur dem Namen nach bildete die sächsische Arbeitsgemeinschaft für die deutsche evangelische Volkskirche einen Teil der Reichsarbeitsgemeinschaft, die jedoch nur aus ehemaligen DC bestand. Die sächsische Arbeitsgemeinschaft brachte im April 1937 einen »Ruf zur Sammlung« heraus, der von Fügner und den Oberkirchenräten Johannes Jagsch und Wilhelm Engel unterzeichnet war. Die Gruppe berief sich auf den Artikel 1 der Verfassung der Deutschen Evangelischen Kirche vom 11. Juli 1933 und positionierte sich zwischen der BK und den DC, ohne jedoch »Mitte« zu sein. Die Termini »völkischer Lebensraum« und »positives Christentum« bilden in dem Aufruf wichtige Wegmarken. In der Zeit des Kirchenregiments Klotsche, in der Zeit der neuen Radikalisierungen 1937 bis 1939, können zu Fügners Wirken nur wenige Quellen ausfindig gemacht werden. Er selbst hat auch in seiner langen Stellungnahme auf diese Zeit keinen Bezug genommen, sondern setzte erst 1939 wieder ein, als es um seine Zurücksetzung als Erster Lazarettpfarrer ging. Er gehörte wie alle anderen Superintendenten auch zu den Unterzeichnern des Aufrufs des Landeskirchenausschusses vom 24. Februar 1937, der auf Hitlers Erlass zurückging, dass die Kirche sich eine neue Verfassung geben soll unter Ermächtigung Kerrls, eine Generalsynode einzuberufen. Von Fügners Denken und Handeln legen für die ersten Kriegsjahre die Mitteilungen der Landsmannschaft »Sorabia« Zeugnis ab. Als im August 1939 auf Reichsebene der Geistliche Vertrauensrat gebildet wurde, agierte die ­sächsische 43 44 45 46

Sächsische Pfarrer im Konzentrationslager. In: Sächsisches Kirchenblatt vom 7.6.1935, S. 361 f. Vgl. Meier, Kirchenkampf, Band 2, S. 455. Vgl. Klemm, Im Dienst, S. 56, 66. Vgl. ebd., S. 175. Der Aufruf ebd., S. 241. Vgl. auch Meier, Kirchenkampf, Band 2, S. 356.

98

Konstantin Hermann

BK zurückhaltend, da auf Landeskirchenebene Pendants installiert werden sollten.47 Fügner nahm als ehemaliger DC neben Gottfried Schönknecht an den G ­ esprächen mit den Pfarrern der BK und der Mitte teil. Als sächsische Superintendenten im September 1939 einen Vertrauensrat vorschlugen, ge­ ­ hörte Fügner zu den als Mitglied empfohlenen. Er trat nochmals 1944 besonders in ­Erscheinung, als er wegen der geplanten Versetzung von Ruth Lauber von ­Klotsche der ­»Machenschaften« beschuldigt wurde.48

Als Bundesführer der »Sorabia« Das alte Wendische Prediger-Collegium, die spätere Landsmannschaft »Sorabia« auf der Leipziger Moltkestraße 11, bestand 1933 bereits über 200 Jahre und ist damit die älteste Studentenverbindung in Deutschland überhaupt.49 Gerhard Graf hat in seinem Beitrag über die »Sorabia« die Anpassungen und den Kampf um das Fortbestehen der studentischen Vereinigung nach 1933 dargestellt. Die meisten Korporationen hatten die Machtübernahme der Nationalsozialisten ­begrüßt; nicht unbedingt, weil es Nationalsozialisten waren, sondern weil die Korporationen sich eine nationale Wende zum Besseren erhofften. Aber die meisten machten nur zu bereitwillig gemeinsame Sache mit den Nationalsozialisten. Doch wie in den anderen Bereichen des öffentlichen Lebens duldete auch hier das Regime keine Konkurrenz. Die Verbindungen wurden als anachronistisch dargestellt, als eine künstlich abgesonderte »Elite«, die mit dem Volk nichts mehr gemein hatte. Die Studenten waren aufgefordert, in die NS-Organisationen einzutreten. Sowohl einzelne Korporationen als auch Verbände konnten sich nicht lange wehren, um ihre Eigenständigkeit zu bewahren. Am sichersten schien zunächst der Beitritt in einen Verband. Die »Sorabia« stand wie andere Verbindungen auch nach 1933 vor den gleichen Problemen. Dass Johannes Ficker, Superintendent in Dresden, kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten Fügner anrief und ihn – nach eigenen Worten – bat, »durch meinen Namen Besitztum und Tradition der ältesten ­Deutschen Studentenverbindung zu erhalten«, war das Kalkül leicht zu durchschauen. Wenn überhaupt, dann konnte nur ein Nationalsozialist die ­»Sorabia« retten. Fügner hatte sich nach dem Bundesführerposten nicht gedrängt, aber fühlte sich dem Freund Ficker verpflichtet, der der Vorgänger Fügners war. Auch bei der

47 Vgl. Klemm, Im Dienst, S. 363. 48 Kurt Meier, Der evangelische Kirchenkampf, Band 3: Im Zeichen des Zweiten Weltkrieges, ­Göttingen 1984, S. 528. 49 Vgl. Gerhard Graf, Vom Wendischen Prediger-Collegium zur Landsmannschaft Sorabia. In: Lĕtopis, 1 (2006), S. 3–17.

Otto Fügner

99

»Sorabia« erfolgte die Gleichschaltung wie bei den anderen Studentenverbindungen. Dies geschah fast überall ohne wirklichen Widerstand, doch das ­Unbehagen bei allen Verbindungen war groß. In einem vertraulichen Rundschreiben vom 11. Dezember 1933, unterzeichnet von Fügner und seinem Stellvertreter Johannes Forberger, gaben sie ihrer Hoffnung Ausdruck, »unser Sorabenschifflein auch in Zukunft allein durch die wild brandenden Wogen steuern zu können«.50 Nun sei jedoch der Druck von der Deutschen Studentenschaft und dem National­ sozialistischen Deutschen Studentenbund (NSDStB) auf die Einzelkorporationen so massiv geworden, dass es notwendig sei, einen großen Zusammenschluss zu bilden. Die katholischen Verbände seien durch das Konkordat geschützt. ­Fügner sprach sich daher für den Anschluss an einen Verband aus, um das Überleben der »Sorabia« zu sichern. Ausdrücklich fürchtete er das Sterben der »Sorabia« und erinnerte dabei an »Wingolf« und »Stahlhelm«. »Wer seine Fahne in der Not verlässt, begeht Fahnenflucht!«51, hieß es mit dem Mut der Verzweiflung in dem Rundschreiben. Die Mitglieder beschlossen den Anschluss an die Deutsche Landsmannschaft. Dem gegenüber stehen die offiziellen Verlautbarungen und Aktivitäten. In einem Rundschreiben ordnete Christoph Truöl an, dass alle Aktiven und aufgenommenen Füchse in die SA, SS oder in den »Stahlhelm« einzutreten hätten.52 Wenn die Bundesbrüder nicht in der NSDAP waren, sollten sie in die SA eintreten. Der »Stahlhelm« galt als die unpolitischste aller drei Optionen. Die »Sorabia« ist Freundschaftsbund und Erziehungsgemeinschaft, die Mitglieder zu ehrenhaften deutschen Männern heranbilden will. Sie sollen zu Trägern des ­nationalsozialistischen Staates werden, lautete es in diesem Zusammenhang. Die »Sorabia« wollte weiterhin die Verbindung zur Lausitz und die kirchlichen In­ teressen pflegen, hieß es weiter. Fügner gab die Forderung des Allgemeinen Deutschen Waffenrings weiter, nach dem die Mitglieder weder »Judenstämmlinge« seien, noch jüdischen oder freimauerischen Organisationen angehören dürften. Die bürgerlichen Studentenverbindungen blieben den Nationalsozialisten ein Dorn im Auge. Der Druck wurde erhöht. 1935 erklärte der Reichsführer der Hitlerjugend (HJ), dass kein HJ-Angehöriger zugleich Mitglied einer Studentenverbindung sein dürfe.53 Man sah in ihnen »verlogene Alt-Heidelberg-Romantik, arbeiterfeindliches Feudalwesen« und sie »stünden außerhalb der Volksgemeinschaft«.54 Als sich am 21. Oktober 1935 die Deutsche Landsmannschaft dem NSDStB zur Verfügung stellte, waren die Würfel gefallen. Fügner stellte fest, dass 50 Sorabia, vertrauliches Rundschreiben vom 11.12.1933 (LKArch Dresden, 17/111, Bl. 9). 51 Ebd. 52 Sorabia, Rundschreiben Christoph Truöl vom 6.7.1933 an alle Mitglieder (ebd., Bl. 1). 53 Vgl. Reichs-Jugend-Pressedienst. Amtlicher Pressedienst des Jugendführers, Nr. 151 vom 7./8.7.1935. 54 Das vielverwendete Zitat findet sich u. a. bei Norbert Giovannini, Zwischen Republik und ­Faschismus. Heidelberger Studentinnen und Studenten, Weinheim 1990, S. 215.

100

Konstantin Hermann

aufgrund der Gesamtlage die »Sorabia« ebenfalls aufzulösen sei; eine ­Rückbildung in eine ­reine theologische Gesellschaft sei nicht möglich. Im Anschluss an die Semesterabschlusskneipe der »Sorabia« am 12. Juni 1936 löste Fügner die Verbindung auf; siebe Tagen später entging auch die gesamte Deutsche Landsmannschaft diesem Schicksal nicht. Das Sorabenblatt erschien jedoch weiter und bildete die publizistische Klammer der ehemaligen Soraben und führte so eine gewisse Organisationsform weiter. Die Führung der weiterhin bestehenden Altherrenschaft als Bund der ehemaligen Soraben gab Fügner aus Zeitgründen im Juni 1940 auf und übernahm das Amt des Stellvertreters. In demselben Monat hatte er die Gedenkrede auf den gefallenen Soraben Wolf Geuder halten müssen, das erste Opfer des neuen Krieges aus dem Kreise der »Sorabia«. Im Sorabenblatt sind immer wieder markige Worte zu finden. Wichtig sind jedoch die Nuancen. Wir wissen über die Todesanzeigen aus dem Zweiten Weltkrieg, dass die Wortwahl und -stellung der Weiheformel Rückschlüsse auf die Beziehung der Familie zum Staat möglich machen. Zwischen »Für Führer, Volk und Vaterland« und »Für Volk und Reich« konnten sich Welten befinden. Umso auffälliger ist die Grußformel, die Fügner im März 1940 im Sorabenblatt verwendet: »Gott schütze Volk, Führer und Reich«.55 Doch nach außen hin blieb Fügner loyal, rückversichernd und »hat diese ­offizielle nationalsozialistische Haltung auch bis zuletzt beibehalten, so dass er noch am 20. Juli 1944 den Dankgottesdienst für die Erhaltung des Führers angeordnet hat«.56 Als die sowjetische Armee 1945 Dippoldiswalde besetzte, beschlagnahmte diese das Gebäude der Superintendentur. Fügner erklärte dazu, dass die »Beschlagnahme für die Kommandantur nicht als Maßnahme gegen die Kirche oder gegen ihn persönlich angesehen werden könne. Die Auswahl erkläre sich damit, dass das Gebäude im Zentrum der Stadt liegt und geräumig sei. Er habe auch sonst keinerlei Beobachtung gemacht, dass irgendein Bedenken gegen seine Person besteht.«57 Franz Lau und Erich Kotte schrieben am 15. November 1945 Fügner, die Rücksicht auf das Wohl der gesamten Kirche erfordere, dass alle Superintendenten, die Parteigenossen waren und ihre Ämter vom Kirchenregiment Coch oder Klotsche erhalten hätten, ihre Funktionen abgeben müssten, und baten um schnellste Übergabe an den Glashütter Pfarrer Alfred Beer, bis ein kommissarischer Superintendent ernannt werden würde.58 Daraufhin sandte Fügner einige Tage später, am 24. November, seine Rechtfertigungsschrift, die eine wichtige Quelle der eigenen Sicht darstellt und auch in diesem Artikel eine tragende Rolle erhielt. 55 Sorabia, 27 (1940), Nr. 1, S. 1. 56 Lebenslauf Fügner, Kommentar (LKArch Dresden, 2/1559, Bl. 4). 57 Ebd. 58 Zu Kotte siehe Andreas P. Seidel, Erich Kotte (1886–1961). Kirchen- und Staatskirchenrecht­ liche Entwicklungen von der Weimarer Republik bis zum Ende der fünfziger Jahre in der DDR, Tübingen 2016.

Otto Fügner

101

Entnazifizierung und neues Pfarramt Auch Fügner wurde als NSDAP-Mitglied 1946 von seinem Superintendentenamt abgesetzt. Wie Markus Hein schreibt, fiel die Beurteilung nicht so eindeutig aus wie bei anderen – ein deutliches Zeichen für Fügners ambivalentes Verhalten.59 Auch die beurteilenden Amtsbrüder taten sich mit ihrer Entscheidung schwer. Als einer der wenigen Superintendenten war er viele Jahre gleichzeitig auch Vertrauensmann seiner Ephorie. Hein wies auf die organisierte Unterschriftensammlung zu Fügners Verbleiben in der Superintendentur hin.60 Dass Fügner tatsächlich ein Taktiker war und sich nach allen Richtungen absicherte, lässt sich aus vielen seiner Handlungen ableiten. Die Zeitzeugen sind sich deshalb in der Bewertung Fügners relativ einig. Joachim Zinßer bezeichnete ihn als »Typ des Gschaftshubers, der ganz gute verwaltungstechnische Fähigkeiten hatte und sich bemühte, auf taktischem Wege durch sein Verhandlungsgeschick Gegensätze auszugleichen«.61 Das Verfahren um Fügner ging weiter. Dieser hatte am 13. April 1947 die ­Dritte Pfarrstelle in Dresden-Leubnitz-Neuostra angetreten. Die Sitzung der Entnazifizierungskommission am 17. Januar 1948, bestehend aus Kleemann, Gottfried Knospe und Rudolf Poser, stellte fest, dass es bei der Versetzung in ein Pfarramt bleibt: »Wird bezeugt, dass er kein NS-Aktivist war, durch ­seine einwandfreie kirchliche Amtsführung wird seine Zugehörigkeit zu den DC ­aufgewogen, darf nicht in kirchlichen Führungsämtern tätig sein.«62 ­Fügner selbst schrieb, dass er nie der radikalen Thüringer DC-Richtung zuneigte und sich immer als Schüler von Ihmels sah. So trat Fügner als Zweiter Pfarrer am 15. Juli 1950 die Stelle in Dresden-Leubnitz-Neuostra an, wo er bis zu seinem Tod am 27. Oktober 1954 amtierte.63 Seine Witwe Frieda Fügner starb am 17. Februar 1973. Eine abschließende Bewertung Fügners fällt schwer. Einschätzungen wurden im vorliegenden Text gegeben. Fügner ist wie viele andere nur durch die politische und hier kirchenpolitische Situation der Weimarer Zeit und des beginnenden NS-Regimes zu verstehen. Die Lage zeigte sich für viele 1932 so hoffnungslos, dass scheinbar Hitler und seine Partei als die einzige Möglichkeit für eine Verbesserung schienen. Fügner verdeutlichte, dass die ersten Übergriffe, die Einweisungen von Pfarrern in die KZ, für Nachdenken sorgten und er als Entlastungs­zeuge vor dem 1934 eingerichteten Volksgerichtshof aussagte; den ­ dazugehörigen

59 60 61 62 63

Vgl. Hein, Landeskirche, S. 207. Vgl. ebd. Befragung Joachim Zinßer (LKArch Dresden, 5/710 bei 700, Bl. 221). Lebenslauf Fügner (LKArch Dresden, 2/1559, Bl. 23). Vgl. ebd., Bl. 24.

102

Konstantin Hermann

­ rozess und das Datum erwähnte Fügner nicht.64 Dennoch fand Fügner erst P 1936 den Weg von den DC hinaus und amtierte seit 1935 als ­Superintendent, wohlwissend, dass dies ohne seine Aktivitäten 1933 und 1934 nicht möglich gewesen wäre. Die Verfolgungen, die Auseinandersetzungen in der ­Kirche, die er als ­existenzbedrohend angesehen haben dürfte, führten bei ihm nicht zu einer Totalverweigerung, sondern verstärkten seine Haltung, von innen heraus, an ­seinem Platz, Veränderungen zu versuchen. Dass dies die Z ­ usammenarbeit mit den ­nationalsozialistischen Machthabern bedeutete, nahm Fügner in Kauf.

64

Vgl. ebd., Bl. 6.



Nikola Schmutzler Die Pfarrer Friedrich Bohland und Horst Ficker: Eine Gemeinde im Kirchenkampf

Die Kirchgemeinde Rodewisch im Vogtland ist ein Beispiel für eine Gemeinde, in der jeweils ein Pfarrer der Deutschen Christen (DC) und der Bekennenden Kirche (BK) amtierte. Der Kirchenkampf wurde in die Gemeinde hinein- und auf ihrem Rücken ausgetragen. Zu den jeweiligen kirchenpolitischen Überzeugungen gesellten sich die ­Charaktere der beiden Pfarrer, sodass nicht nur die Zugehörigkeit zu einer der beiden Kirchenkampfparteien, sondern auch die persönliche Abneigung das ­Verhältnis prägte. Da sich beides vermischt, ist es nicht immer leicht auszumachen, welche Handlungen aus kirchenpolitischer Überzeugung und welche aus persönlicher Abneigung geschehen sind.

Pfarrer Friedrich Bohland Friedrich Bohland war seit 1933 Pfarrer in Rodewisch. Er wurde am 23. April als Zweiter Pfarrer eingewiesen. Die Einweisung nahm Oberkirchenrat Karl Viktor Kühn, der damalige Superintendent der Ephorie Auerbach vor; es assistierte der Erste Pfarrer der Gemeinde, Ernst Loesche,1 der Pfarrer des Landeskrankenhauses Rodewisch Untergöltzsch, Gottfried Kretschmar, und der Ellefelder Pfarrer Johannes Müller. Bohland wurde 1894 in Mramorak im Temeser Banat (heute im serbischen Gebiet des Banats) geboren. Seine Vorfahren waren aus der Herrschaft Hessen-­ Darmstadt am Anfang des 19. Jahrhunderts in das damals unter österreich-ungarischer Herrschaft stehende Gebiet eingewandert. In seinem Lebenslauf schreibt Bohland, dass er »in der Heimat« zur ­Schule gegangen ist. Nach dem Studium der Theologie in Pressburg, Rostock und

1

Zu Loesche vgl. den Aufsatz von Mandy Rabe in diesem Band.

104

Nikola Schmutzler

­ edenburg war er für kurze Zeit Hilfsgeistlicher »in der Heimat«. Im Ersten O Weltkrieg diente er als freiwilliger Felddiakon. Nach dem Krieg war er Pfarrverweser einer Schwabengemeinde in Ecseny/Ungarn. Seit 1921 war Bohland Pfarrer in der Gemeinde Neuhaus im Burgenland, bevor er 1927 ins Vogtland wechselte, wo er Pfarrer in der Gemeinde Rebesgrün war, die sich in unmittelbarer Nähe zu Rodewisch befindet.2 Die Beziehung zur »Heimat« und die dort vorherrschende Diasporasituation scheinen nicht unerheblich für Bohlands politische Ausrichtung und seine Sehnsucht nach einem starken Deutschtum gewesen zu sein. Wann sich Bohland den DC angeschlossen hat und ob er der NSDAP angehörte, konnte aus den Akten nicht ermittelt werden. Der Erste Pfarrer der Gemeinde, Ernst Loesche, gehörte in den ersten Jahren des Kirchenkampfs noch den DC an und war auch der NSDAP gegenüber aufgeschlossen. Nachdem Loesche 1934 zum Superintendenten der Ephorie gewählt wurde, rückte Bohland in die erste Pfarrstelle von Rodewisch auf, mit der auch die Pfarr­ amtsleitung verbunden war. Die zweite Pfarrstelle blieb zunächst vakant und wurde durch den Vikar Edgar Hering verwaltet, der Mitglied der SA war. Die Neubesetzung der zweiten Pfarrstelle erwies sich als langwierig. Die in Aussicht genommenen Kandidaten zogen entweder zurück oder wurden abgelehnt. Die Besetzung der Stelle wurde virulent, als die leer stehende Dienstwohnung von der NSDAP-Kreisleitung für den Hauptmann der Gendarmerie, Teetzmann, beansprucht wurde.3 Am 16. September 1934 hielt der Pfarrer Horst Ficker die Predigt in einem Vorstellungsgottesdienst und wurde daraufhin von der Gemeinde als Zweiter Pfarrer gewählt. Er war vom Landeskirchenamt v­ orgeschlagen worden.4

Pfarrer Horst Ficker Julius Horst Ficker wurde 1906 in Werdau als Kaufmannssohn geboren. Er ­studierte von 1925 bis 1929 in Leipzig, Berlin und Tübingen Theologie und war daraufhin ein Jahr lang Mitglied des Predigerseminars in Lückendorf. Im ­Oktober 1930 wurde er als Hilfsgeistlicher nach Gelenau beordert, danach war er Vikar und schließlich Pfarrer in Bernsdorf (Oberlausitz). Am 14. Oktober 1934 wurde Horst Ficker in das Amt als Zweiter Pfarrer von Rodewisch eingeführt.

2 3 4

Vgl. Lebenslauf Bohland (EphArch Auerbach, Rodewisch Nr. 31/II, Bl. 54). Vgl. EphArch Auerbach, Rodewisch Nr. 31/II, Bl. 87–89. Vgl. ebd., Bl. 92–99.

Friedrich Bohland und Horst Ficker

105

Die Auseinandersetzungen zwischen Bohland und Ficker begannen sehr schnell nach dessen Einführung und weiteten sich auf die landeskirchlichen Strukturen aus. So erkannte Ficker als Folge der Dahlemer Bekenntnissynode weder den Superintendenten »Sie sind für mich ein Privatmann«5 noch andere landeskirchliche Dienststellen als für ihn weisungsberechtigt an, sondern allein den sächsischen Bruderrat der BK.6 Unklar bleibt, warum das Landeskirchenamt Ficker, der deutlich von der landes­kirchlichen Linie abwich, für Rodewisch vorgeschlagen hatte.7

Im Kirchenstreit Bei der vom 19. bis 20. Oktober 1934 tagenden Bekenntnissynode in Berlin-Dahlem hatte sich die BK von den bestehenden DC-Kirchenleitungen getrennt und daraufhin das kirchliche Notrecht ausgerufen; alleinig rechtmäßiges Kirchenregiment seien der Reichsbruderrat und die Landesbruderräte. Ficker fühlte sich zur BK gehörig und den Beschlüssen des sächsischen Bruderrates verpflichtet. ­Bereits in seiner zweiten Woche im Amt kam Ficker nicht mehr zu den dienstlichen Besprechungen ins Pfarramt, wozu Bohland ihn ausdrücklich eingeladen hatte. Bohland wertete dieses Verhalten zunächst als Zustimmung zu seiner ­Führung des Pfarramts.8 Doch bereits im November erstattete Bohland erstmals Anzeige gegen Ficker. Dieser habe im Wochengottesdienst am 8. November über das vom Landeskirchenamt herausgegebene Flugblatt »Um die Wahrheit«9 gesagt, dass es Unwahrheiten enthalte, wie er jederzeit auf Anfrage beweisen könne. Den Inhalt des Flugblatts habe er jedoch nicht wiedergegeben.10 Mit selbiger Post führte Bohland Zeugen an, die Gleiches über die Bibelstunde in derselben Woche berichteten, wobei einer der Zeugen zusätzlich erklärt habe, dass er von der biblischen ­Verkündigung Fickers »sehr ergriffen und erbaut« gewesen sei.11 Schon an dieser Stelle wird eine weitere Diskrepanz zwischen beiden Pfarrern deutlich: Ficker war der begabtere Prediger, der in der Gemeinde auch als solcher

  5 EphArch Auerbach, B/VI/2, Bl. 3.   6 Vgl. Brief der Bekenntnisgemeinschaft der Deutschen Evangelischen Kirche im Kirchenkreis Auerbach (Vogtland) vom 9.11.1934 (EphArch Auerbach, B/VI/3, Bl. 14).  7 Vgl. Pfeifer an den Staatsminister des Innern vom 16.4.1935 (EphArch Auerbach, B/VI/2, Bl. 55–57).   8 Vgl. Loesche an Ficker vom 16.1.1935 (ebd., Bl. 20).   9 Vgl. Kirchenkampf 1934–1957 (EphArch Auerbach, Kirchenkampf 1934–1957, Nr. 101, Bl. 39 f.). 10 Vgl. Protokoll über eine Besprechung im Pfarramt am 9.11.1934, abends 6 Uhr (EphArch ­Auerbach, B/VI/2, Bl. 2). 11 Ebd.

106

Nikola Schmutzler

geschätzt wurde, was ein anonymer, mit »die Gemeinde Rodewisch« unterzeichneter Brief zeigt. Darin wird die Befürchtung ausgesprochen, dass der »liebe […], neue […] Pfarrer Fickert [sic!]« versetzt werden soll. »Nein, Herr Lösche [sic!], wir bitten Sie gütigst, das zu unterbinden. Wir wollen Herrn Fickert behalten. Wir haben schon alles eingebüßt, wie Sie gegangen sind. Und nun wir einen ähnlichen Schatz gefunden haben, hat Herr Pohland [sic!] den Kirchenvorstand mit dem Vorstand der DC einberufen, um gegen ihn vorzugehen.« Grund dafür sei Bohlands Angst, dass sich die Gemeinde Ficker »zuwenden« würde. Viele Herzen habe er trotz der kurzen Zeit durch seine tief gehenden Predigten und Bibelabende gewonnen. Eher solle Pfarrer Bohland gehen, der für Rodewisch nicht passe, weil er zu bequem sei.12 Da Superintendent Loesche vorher Pfarrer von Rodewisch war, wandten sich auch in der Folgezeit Rodewischer Gemeindeglieder direkt an ihn. Immer wieder wurden dabei Parallelen zwischen Ficker und Loesche als Prediger und Seelsorger gezogen, obwohl ihre kirchenpolitischen Ansichten stark divergierten. Die Spannungen zwischen den beiden Pfarrern Ficker und Bohland waren auch für die Gemeinde schnell sichtbar geworden, denn es war in Rodewisch üblich, dass bei großen Gottesdiensten mit vielen Besuchern der Pfarrer, der den Gottesdienst leitete, von dem anderen Pfarrer bei der Ausspendung des Abendmahls unterstützt wurde. Am Buß- und Bettag (21. November 1934) war Ficker »erst nach schwierigen Verhandlungen bereit«,13 Bohland zu unterstützen. Am 1. Adventssonntag, dem 2. Dezember, verweigerte Ficker die Mitarbeit. Für den 2. Adventssonntag teilte er Bohland mit, dass er dessen Hilfe nicht wünsche. Daraufhin bat der Baumeister Arno Hecker, der der Rodewischer Ortsgruppe der DC angehörte, Ficker noch vor Gottesdienstbeginn schriftlich, Bohland »im Interesse der Kirchgemeinde« zur Ausspendung des Abendmahls hinzuzuziehen. Die »gemeinsame Arbeit gerade am Tisch des Herrn« sei geeignet, für Verständigung zwischen beiden zu sorgen.14 Eine Abschrift ging an die Superintendentur mit einem Begleitschreiben, in dem moniert wurde, dass der »heilige Friede« in Rodewisch gestört sei. »Es geht auf keinen Fall, dass ein zweiter, noch sehr junger Pfarrer bei seinem so kurzen Dasein dauernd versucht, Rechte des Pfarramtsleiters an sich zu reißen.«15 Den beiden Pfarrern war es jedoch nicht möglich, eine interne Klärung der Streitigkeiten oder einen Modus Vivendi zu finden. Während sich Ficker allen Gesprächen verweigerte und auch den Pfarrkonferenzen fernblieb, immer mit dem

12 Brief »der Rodewischer Gemeinde« an Loesche vom 24.11.1934 (EphArch Auerbach, B/VI/2, Bl. 4 f.). Dort auch Zitate (Fehler im Original). 13 Bohland an Superintendentur Auerbach vom 18.12.1934 (ebd., Bl. 8). 14 Hecker an Ficker vom 8.12.1934 (ebd., Bl. 6). Dort auch Zitate. 15 Hecker an die Superintendentur Auerbach vom 9.12.1934 (ebd., Bl. 7). Dort auch Zitate.

Friedrich Bohland und Horst Ficker

107

Hinweis, dass er nur dem Bruderrat unterstellt sei, versuchte Bohland mit der administrativen Autorität des Pfarramtsleiters die Oberhand zu behalten. Allerdings zeigte sich Ficker demgegenüber relativ unempfindlich. Regelmäßig ergingen nun Anzeigen des Pfarramtsleiters über das Verhalten Fickers an die Superintendentur. Die Kirchgemeindevertretung, die an einer Aussöhnung interessiert war, hatte zu ihrer Dezembersitzung 1934 Superintendent Loesche dazugebeten und den Pfarrern »zur Beilegung des Amtsbrüderlichen Streites«16 eine Aussprache auferlegt. Bürgermeister Otto Pfeifer, der Mitglied im Kirchenvorstand war, sollte dazu einladen und die beiden Pfarrer sowie Superintendent Loesche daran teilnehmen. Ficker erklärte kurz vor dem vereinbarten Termin dem Bürgermeister, dass er nicht teilnehmen werde. Pfarrer Bohland habe ihn vor der Kirchgemeinde­ vertretung als »unfeinen Menschen« bezeichnet. Nun fürchte er, dass er zur Beilegung des Streites gezwungen würde, ohne sein volles Recht zu erhalten, er fordere eine Klärung in der Kirchgemeindevertretung, so Fickers Begründung.17 Der Streit war auf der persönlichen Ebene angelangt. Alle weiteren Vorgänge sind immer von »der persönlichen Abneigung« der beiden Pfarrer mitbestimmt.

Die Kollektensache Silvester 1934 Loesche wandte sich daraufhin an Ficker mit der Bitte, ihn als den älteren Amtsbruder und Amtsvorgänger für eine Aussprache aufzusuchen. Einer Verhandlung vor der Kirchgemeindevertretung widersprach Loesche, da sie nicht der Ort sei, »wo diese Sache zur Erledigung gebracht werden kann. Bei der erregten Stimmung, die zur Zeit besteht, […] erst recht nicht.« Solches Vorgehen würde zu »noch größerem Nachteil des Rodewischer Gemeindelebens« führen.18 Ficker reagierte auf dieses Schreiben von Loesche nicht, die Situation blieb verfahren. Zu einem größeren Eklat führte die Sammlung und Einbehaltung einer Kollekte für die BK im Silvestergottesdienst durch Ficker. Damit hatte er sich e­ iner Amtsanmaßung schuldig gemacht, die durch Bohland zur Anzeige gebracht wurde. Der Superintendent leitete die Anzeige an den Bezirkskirchenamtsrat weiter und forderte diesen auf, schärfstens durchzugreifen, denn »Pfarrer Ficker zeigt schon seit Monaten eine überaus erregte und selbstherrliche notbündlerische Haltung«. Durch sein Handeln sei der Kirchenfrieden in Rodewisch bedroht, zudem versagt er sich allen Schlichtungsversuchen. »Am Telefon sagte er mir ganz kurz und bündig: ›Wissen Sie nicht, dass ich Gehorsamsverweigerer bin?‹«

16 Loesche an Ficker vom 20.12.1934 (ebd., Bl. 9). 17 Ebd. 18 Ebd. Dort auch Zitate.

108

Nikola Schmutzler

Die Kollektensammlung bezeichnete Loesche im weiteren Verlauf als »nahezu ein Stück Wildwest«. »Mit Kirchenkampf geistiger Art und mit regulärer Gehorsamsverweigerung hat der Fall nichts zu tun«, urteilte Loesche abschließend.19 Der Kirchenamtsrat Mosch unterschied bei dem Vorgang zwei Sachverhalte. Erstens: Die BK sei keine Körperschaft des öffentlichen Rechts, weshalb die Geldsammlung einer polizeilichen Genehmigung bedürfe, das gesammelte Geld sei durch die Polizei einzuziehen. Zweitens: Ficker habe sich dienstrechtlich schuldig gemacht, darüber müssten allerdings Superintendentur und Landeskirchenamt entscheiden, nicht der Kirchenamtsrat.20 Die Aussicht, dass die Polizei mit der Klärung beauftragt würde, führte dazu, dass sich Ficker bei Loesche einfand. Zunächst sprach er über sein Verhältnis zu Bohland, danach über die Kollektensache. Ficker erklärte, dass er nicht der Einzige gewesen sei, sondern alle Pfarrer im Land, die sich dem Bruderrat unterstellt hätten, wären gleichermaßen verfahren. Er bat darum, »doch nicht sofort die Polizeibehörde zu Rodewisch mit der Beschlagnahmung zu beschäftigen«,21 sondern erst das Landeskirchenamt zu informieren und abzuwarten, ob es eine Gesamtbehandlung gäbe. Loesche freute sich über den Besuch Fickers, der »bisher jeden Verkehr mit der Superintendentur abgelehnt hatte«,22 und hoffte, dass dadurch der Kirchenkampf in Rodewisch, der durch die persönlichen Zwistig­keiten der beiden Pfarrer außerordentlich belastet war, entschärft würde. So berichtete Loesche nicht nur dem Landeskirchenamt, sondern ebenfalls dem Rode­wischer Bürgermeister Pfeifer und dem Kirchenamtsrat in sehr versöhnlichem Ton über den Besuch Fickers.23 Die Frage, wie das Landeskirchenamt über die Kollektensache entscheiden würde, wurde sowohl auf »der landeskirchentreuen Seite«24 als auch auf der Seite des Notbunds mit Spannung erwartet. Gegen Ficker, so die Entscheidung des Landeskirchenamts, sollte im nicht förmlichen Dienststrafverfahren vorgegangen werden. Dafür sollte Ficker am 17. Januar 1935 in der Superintendentur vernommen werden; er erschien aber nicht, sondern teilte schriftlich mit, dass er »der Herrn Superintendent Loesche […] gegebenen Erklärung in der Kollektensache nichts mehr hinzuzufügen habe und auf dem Boden der Dahlemer B ­ eschlüsse stehe.«25 Dieses Nichterscheinen führte zur Auferlegung einer Geldstrafe von Aufsichtswegen von 100 RM. Die für die BK gesammelte Kollekte sollte 19 Loesche an Mosch vom 3.1.1935 (EphArch Auerbach, B/VI/2, Bl. 13). Dort auch Zitate. 20 Vgl. Mosch an Loesche vom 5.1.1935 (ebd., Bl. 14). 21 Loesche an das LKA vom 8.1.1935 (ebd., Bl. 15). 22 Ebd. 23 Vgl. Loesche an das LKA, an Pfeifer, an Mosch vom 8.1.1935 (EphArch Auerbach, B/VI/2, Bl. 15–17). 24 Loesche an das LKA vom 17.1.1935 (ebd., Bl. 21). 25 Loesche an das LKA vom 17.1.1935 (ebd., Bl. 22).

Friedrich Bohland und Horst Ficker

109

zudem vom Kirchkassierer bei der nächsten Gehaltszahlung einbehalten und an das Bezirkskirchenamt überwiesen werden.26 Ficker legte gegen die Entscheidung und gegen die Auferlegung der Geldstrafe Rekurs ein. Im März hob das Landeskirchenamt (LKA) die Entscheidung auf: »Wir müssen leider aus rechtlichen Erwägungen der Auffassung zuneigen, dass der Rekurs des Pfarrers Ficker von Rodewisch vom 28. Januar 1935 gegen die Festsetzung einer Zwangsstrafe […] begründet ist.«27 Dieser »Sieg« festigte die Stellung Fickers im Streit mit seinem Kollegen.

Kirchenkampf oder persönlicher Zwist? Bohland war am 11. Januar 1935 zu Loesche eingeladen, um sich seinerseits zu den Vorwürfen, die Ficker bei seinem Besuch bei Loesche gemacht hatte, zu äußern und eine schriftliche Stellungnahme abzugeben, da Gespräche zwischen den beiden Rodewischer Pfarrern immer noch unmöglich waren. Dementsprechend schroff fielen die Antworten Bohlands aus, die er auf die vorgetragenen Punkte machte. Diese Punkte sind nicht schriftlich erhalten, lassen sich aber durch die Antworten Bohlands rekonstruieren. Es zeigt sich dabei, dass beide Pfarrer ­äußerst gereizt und dünnhäutig auf Äußerungen jeglicher Art des jeweils anderen reagierten, ein Ausschnitt der Stellungnahme Bohlands soll das verdeutlichen: »1. Die Ausdrücke ›unfeiner Mensch‹, ›unfairer Mensch‹ habe ich nie gebraucht, weder in einer ­Sitzung noch sonst irgendwo. Ich bitte […] um glaubhafte Zeugen, die das gehört haben.   2. Ich kann mich nicht entsinnen, dass Herr Pfarrer Ficker mir jemals beim Mantelanziehen geholfen hat, geschweige denn, dass ich dabei die Worte gebraucht hätte: ›Er bessert sich schon, er wird schon anständig.‹ […] Auch für diese Behauptung bitte ich um Zeugen.   3. Ich habe nie die Absicht gehabt, Dienste zu ›befehlen‹ oder ›Vertretung zu fordern‹, ohne vorherige Vereinbarung. Ich habe anfangs gesagt, dass zu allen dienstlichen Besprechungen Herr ­Pfarrer Ficker doch regelmäßig ins Pfarramt kommen möge. Das ist aber nicht geschehen […]. Die Möglichkeit, seine Unzufriedenheit mit dem bestehenden Zustand kundzutun, hätte Herr Pfarrer Ficker mir gegenüber ja stets gehabt.«

In weiteren Punkten ging es um die Verbreitung von Gerüchten in Läden und in der Stadt. Die Stellungnahme endet: »6. Auch ich wünsche aufrichtigst völlige Bereinigung und amtsbrüderlichen Frieden.«28

26 Vgl. Markus Roser, Die St.-Petri-Kirche unter dem Zeichen des Hakenkreuzes. In: St.-Petri-­ Kirche Rodewisch. Geschichtliche Streifzüge. Hg. vom Förderverein zur Erhaltung der St.-Petri-­ Kirche, Rodewisch 2008, S. 140 f. 27 Coch an die Superintendentur Auerbach vom 11.3.1935. Zit. nach Roser, St.-Petri-Kirche, S. 141. 28 Loesche an Ficker vom 16.1.1935 (EphArch Auerbach, B/VI/2, Bl. 20).

110

Nikola Schmutzler

Eine Antwort von Ficker ist in den Akten nicht vorhanden. Aber der Streit zwischen den Rodewischer Pfarrern ging weiter und verschärfte sich noch. So finden sich in den Akten der Superintendentur Auerbach regelmäßige Schreiben von Bohland, die über mögliches Fehlverhalten und amtliche Verfehlungen Fickers berichteten. Exemplarisch wird hier aus dem Bericht vom 17. Februar 1935 zitiert: »1. Herr Pfarrer Ficker […] hat im heutigen Gottesdienst nicht über den vorgeschriebenen Text […] gepredigt. […] Er erklärte […], dass sie [die Kirche] nicht die hebräischen Worte: Amen, Halleluja, etc. oder gar das Alte Testament beseitigen dürfe. Das Kreuz und Kruzifix und die Kreuzesfahne dürfe nicht versteckt werden […].   4. Herr Pfarrer Ficker hat […] die im Abkündigungsbuch sich befindenden Bekanntmachungen betr. Besuch des Herrn Landesbischofs unterlassen. Er hat dafür die Veranstaltungen seiner Bekenntnisgemeinschaft bekanntgegeben. Seine Einleitung in der heutigen Predigt war unmissverständlich.«29

Bohland saß, um diese Informationen zu erhalten, während der Gottesdienste Fickers auf der Empore und stenografierte mit, teilweise verließ er die Gottesdienste demonstrativ nach der Predigt.30 Teilweise blieb er auch länger, um zu eruieren, ob Ficker für verhaftete Amtsbrüder betete. Ficker reagierte, indem er Bohland mit einem Schreiben am 28. März 1935 die Zusammenarbeit aufkündigte. Wie angespannt und unversöhnlich das Verhältnis inzwischen war, lässt sich an folgendem Schreiben erkennen: »Vor Gott werden Sie Rechenschaft geben müssen für jedes Tun, mit dem Sie die Kirche zerstören. Ich bedaure, dass Sie meine Bitte um persönliche Bereinigung fortgesetzt schänden. Dass Sie von sich aus jede christliche Gemeinschaft damit zerbrochen haben, bin ich genötigt, Ihnen auszusprechen. Sie machen mir ein gemeinsames Ausspenden des Herrenmahls unmöglich, Sie wollen mich also bitte nicht erwarten. Sie wollen bitte von einer Assistenz bei meinen Abendmahlsfeiern Abstand nehmen. Prüfen Sie Ihr bisheriges Handeln als Pfarramtsleiter, Seelsorger und Christ im Angesicht Jesu, vor dem ich Sie anklage. Sollten Sie meinen hier ausgesprochenen Bitten nicht nachkommen, werde ich der Gemeinde diesen Brief zur Kenntnis bringen müssen.«31

Neben den oben genannten Anzeigen finden sich dienstrechtlich schwerwiegendere. Pfarrer Ficker hatte wiederholt Urlaub genommen, ohne es – entsprechend des landeskirchlichen Dienstrechts – vorher in der Superintendentur zu beantragen. Dies hatte er seinem Kollegen und Pfarramtsleiter entweder gar nicht oder erst nach Urlaubsantritt schriftlich mitgeteilt. Die Gemeinde erfuhr in der Abkündigung im Sonntagsgottesdienst, wer die Vertretung übernahm. Entgegen der in der kirchlichen Ordnung vorgesehenen Praxis hatte Ficker selbstständig für diese Vertretung gesorgt. Dabei wurde sowohl das Dienstrecht 29 30 31

Bohland an Superintendentur Auerbach vom 17.2.1935 (ebd., Bl. 26). Vgl. anonymer Brief von »mehreren Rodewischer Gemeindegliedern« an Loesche o. D. (April 1935) (ebd., Bl. 63). Ficker an Bohland vom 28.3.1935 (ebd., Bl. 45).

Friedrich Bohland und Horst Ficker

111

verletzt, dem er sich als BK-Pfarrer nicht unterstellt sah, als auch Bohland als Pfarramtsleiter übergangen.32 Tatsächlich dienstrechtliche Folgen hatte das eigenmächtige Urlaubnehmen vom Mai 1935. Bohland erhielt nach der Abreise Fickers eine schriftliche Mitteilung über Urlaubszeit und Urlaubsvertretung. Er wandte sich damit an Loesche, der empfahl, eine Sondersitzung des Kirchenvorstands einzuberufen, an der er selbst teilnehmen würde. In der noch am gleichen Abend, 4. Mai, stattfindenden Sitzung wurden die Kräfteverhältnisse deutlich. Nachdem Bohland den Sachverhalt dargelegt und Loesche einige Ausführungen zur Rechtslage gemacht hatte, waren lediglich Bohland, der Bürgermeister Pfeifer und der Ortsgruppenvorsteher der DC, Arno Hecker, für eine Disziplinarmaßnahme. Der stellvertretende Vorsitzende, Rechtsanwalt Hellmuth Hoffmann, hatte bereits im Januar 1935 schriftlich erklärt, dass er der Bekenntnissynode beigetreten sei.33 Er war zum starken Fürsprecher Fickers und der BK geworden, und mehr und mehr hatten sich die Rodewischer Gemeindeglieder ebenso wie die Kirchvorsteher Ficker und der BK zugewandt.34 Über die Gründe lässt sich nur spekulieren. Klar ist, dass Ficker der charismatischere Mensch und Pfarrer war und auch sein Gottesdienst und seine Verkündigung knüpften an »traditionelle« Formen an, anders als bei Bohland, der bereits seit 1935 Gottesfeiern hielt.35 Dabei handelte es sich um gottesdienstähnliche Feiern, die deutschchristlich geprägt waren, aber andere inhaltliche Schwerpunkte setzten und auf wesentliche christliche Inhalte verzichteten. Hoffmann erklärte in der Kirchenvorstandssitzung, dass Loesche unter normalen Umständen zwar Recht hätte, aber zurzeit keine normalen Verhältnisse in der Kirche herrschten, da Kirchenstreit sei. Unter diesen Umständen müsse man Ficker die Verantwortung für seine Handlungsweise überlassen. Die anderen Kirchenvorstandsmitglieder stimmten Hoffmann zu, sodass es zu keinem Beschluss kam.36 Als Opposition dazu scharte am 6. Mai der Ortsgruppenvorsitzende der DC, Arno Hecker, einige andere Rodewischer Kirchgemeindeglieder hinter sich und schickte eine Anzeige an die Superintendentur, in der die sofortige Suspendierung Fickers gefordert wurde, ein Disziplinarverfahren sei einzuleiten, Ziel sei die Dienstentlassung.37 32 Vgl. Superintendentur Auerbach an das LKA vom 8.3.1935 (ebd., Bl. 38); Superintendentur Auer­bach an das LKA vom 7.5.1935 (ebd., Bl. 70). 33 Vgl. Bericht der Superintendentur Auerbach an das LKA vom 11.1.1935 (ebd., Bl. 18). 34 Vgl. Loesche an das LKA vom 5.3.1935 (ebd., Bl. 36). 35 Vgl. Roser, St.-Petri-Kirche, S. 166, dort auch ein Muster für eine Gottesfeier, S. 167–173. 36 Vgl. Bericht Loesches an das LKA vom 7.5.1935 mit dem Protokoll der Kirchenvorstandssitzung vom 4.5.1935 (EphArch Auerbach, B/VI/2, Bl. 71–73). 37 Vgl. Hecker an Superintendentur Auerbach vom 6.5.1935 (ebd., Bl. 77).

112

Nikola Schmutzler

Selbst der sonst langmütig agierende Superintendent Loesche plädierte für eine »kräftige Maßregelung Fickers«, ohne jedoch Ficker von Rodewisch zu entfernen. Eine solche Maßregelung wäre auch der geeignete Anlass, um den Kirchenvorstand aufzulösen, der inzwischen mehrheitlich zur BK gehörte und in Opposition zu Bohland stand.38 Seit dem offiziellen Übertritt Hoffmanns zur BK gab es Überlegungen, wie mit dieser Zusammensetzung umzugehen sei. Ein sich im Gegensatz zum Kirchenregiment befindlicher Kirchvorsteher hätte gegen sein bei der Einweisung abgegebenes Gelübde verstoßen; die zur BK gehörigen Kirchvorsteher müssten daher ihres Amtes enthoben werden.39 Trotz der Erfüllung aller formalen Vorgaben dauerte die Auflösung des Kirchenvorstandes bis zum 23. September 1935 an.40 Mit einem Schreiben des Landeskirchenamts vom 28. Mai 1935 kam es zur vorläufigen Dienstenthebung Fickers. Für die Dauer der Untersuchung wurden 25 Prozent des Gehalts einbehalten. In der Begründung finden sich die Punkte des unerlaubten Entfernens vom Amtssitz und der Vertretungsregelung »unter Umgehung des Pfarramtsleiters […]. Er hat dadurch und auch bei anderen Gelegenheiten dem Pfarramtsleiter seine Missachtung öffentlich in verletzender Weise bezeugt und dadurch dessen Ansehen in der Gemeinde beschädigt.« Des Weiteren werden genannt: »Am 1. April 1935 hat der Beschuldigte bei einer Vernehmung im Rathaus Rodewisch dem Bürgermeister Pfeifer erklärt, er werde die vom Staate verbotene Abkündigung einer von der Bekenntnisgemeinschaft verordneten Botschaft und die Fürbitte für die […] verhafteten Pfarrer unterlassen. […] Im Widerspruch zu dieser Zusicherung […] hat er […] für die ›unschuldig verhafteten Pfarrer‹ gebetet.«41 Dienstenthobenen Pfarrern waren die öffentliche Wortverkündigung und die Verwaltung der Sakramente untersagt. Ficker hielt trotzdem in seiner Wohnung Bibelstunden, Konfirmandenunterricht und Abendmahlfeiern. Zu einer solchen Abendmahlfeier kamen circa 80 Personen; es wurde ein silberner Kelch benutzt, »wie dies auch in der Kirche üblich ist« und für dessen Anschaffung die »Mitglieder der Bekenntniskirche« gesammelt hatten.42 Da der Zulauf immer größer wurde, mietete Ficker einen »gewerblichen Raum für Versammlungszwecke«. Da der Raum nach polizeilichen Vorschriften für Versammlungszwecke geeignet war, konnten geschlossene Versammlungen nicht verboten werden. »Damit hat Ficker deutlich die Trennung vollzogen«, resümier-

38 39 40 41 42

Superintendentur Auerbach an das LKA vom 7.5.1935 (ebd., Bl. 70). Dort auch Zitat. Vgl. Liebsch an Superintendentur Auerbach vom 31.1.1935 (ebd., Bl. 25). Vgl. ebd., Bl. 179. Landeskirchenamt E 59 Fi 39. Zit. nach Roser, St.-Petri-Kirche, S. 145 ff. Bericht des polizeilichen Oberkommissars Gruner vom 16.8.1935 (EphArch Auerbach, B/VI/2, Bl. 98). Dort auch Zitate.

Friedrich Bohland und Horst Ficker

113

te Loesche.43 In den Akten findet sich auch ein Veranstaltungsplan der »Ficker-­ Kirche« für August und September 1935. Darin wurde eingeladen zur Katechismuslehre, zum Konfirmandenunterricht, zur Bibelstunde, zum Männerabend, zum Jungmännerabend und zum Bibelkurs. Der Durchschnittsbesuch lag laut Anschreiben bei 400 Personen. »Rodewisch ist jetzt völlig zerwühlt«, so Loesche.44 Im Umgang mit dem Fall Ficker gab es von kirchlichen und staatlichen Stellen keine einheitliche Linie. Das widersprüchliche Handeln trieb teilweise eigenartige Blüten. Für das Begräbnis eines Rodewischer Gemeindegliedes war Ficker ausdrücklich gewünscht worden. Das Landeskirchenamt hatte dies verboten, es sollte für das Begräbnis von der Superintendentur jedoch ein Notbundpfarrer zur Verfügung gestellt werden. Am Begräbnistag hatte das sächsische Ministe­rium des Inneren dem Bürgermeister Rodewischs telefonisch mitgeteilt, man habe verfügt, dass Ficker die Amtshandlung vollziehen solle. Die Polizei sollte für den ordnungsgemäßen Vollzug sorgen. Loesche sah sich in seinen Bemühungen um »Befriedung« hintergangen und konstatierte: »Das Begräbnis wurde zu einer großen Sensation. Viele Hunderte strömten herbei, um Ficker zu begrüßen und ihn nach dem Begräbnis vom Friedhof nach seiner Wohnung im Talar im Zuge zu begleiten. Die landeskirchentreuen Kreise und die Superintendentur sind durch das Vorgehen des Ministe­ riums vor den Kopf geschlagen. […] Pfarrer Ficker und seine fanatischsten Anhänger haben es auf eine Kraftprobe ankommen lassen wollen. Es ging letzten Endes gar nicht um das Bekenntnis, sondern um die Person Fickers. […] Ficker hat erreicht, was er wollte: Er wollte einen Präzedenzfall schaffen, um die landeskirchliche Autorität und die Volksgemeinschaft in Rodewisch noch weiter zu zerstören.«45

Tatsächlich war Rodewisch durch den Kirchenkampf eine gespaltene, ­»zerwühlte« Gemeinde geworden. Zu einer einigermaßen geordneten Lage kam es peu à peu dank der Befriedungspolitik des Reichskirchenministers Hanns Kerrl. Per Einschreiben erhielt Ficker von Landesbischof Coch die Nachricht, dass er wieder amtieren dürfe, wenn er die Befriedungspolitik und den damit verbundenen Aufruf des Reichskirchenausschusses46 als verbindlich anerkenne. Ficker predigte zum ersten Mal wieder im Abendgottesdienst am 20. Oktober 1935. Durch die Befriedungspolitik fühlte sich Ficker in seinem Handeln bestätigt und stellte aus dieser bestärkten Position heraus Forderungen. Ein Brief Fickers lässt vermuten, dass es notwendig war, diese Forderungen zu stellen, da Bohland

43 44 45 46

Superintendentur Auerbach an das LKA vom 28.8.1935 (ebd., Bl. 102). Superintendentur Auerbach an Bezirkskirchenamt Zwickau (ebd., Bl. 104). Superintendentur an das LKA vom 17.9.1935 (ebd., Bl. 108). Text in Siegfried Hermle/Jörg Thierfelder (Hg.), Herausgefordert. Dokumente zur Geschichte der Evangelischen Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 2008, S. 303. Vgl. Gesetzesblatt der DEK Nr. 30 vom 19. Oktober 1935, S. 104.

114

Nikola Schmutzler

nach wie vor den Dienst Fickers zu behindern schien. Die Spannungen zwischen beiden Pfarrern bestimmten weiterhin das Geschehen, so zeigte nunmehr Ficker Bohland mehrfach beim Landeskirchenausschuss an.47 Ficker schrieb nach seiner Wiedereinsetzung: »Da mir zu Ohren gekommen ist, dass mir für die Benutzung des Gotteshauses am Sonntag, 3. Nov. 1935, vorm. 9 Uhr zum Hauptgottesdienst mit anschließender Abendmahlfeier erneut Schwierigkeiten bereitet werden sollen, bin ich zu meinem Bedauern genötigt, die Hilfe der Staatspolizei in Anspruch zu nehmen.«48 Es folgte ein Vorschlag zur Dienstregelung mit 16 Punkten. Unter anderem forderte Ficker das Recht, jeden zweiten Gottesdienst zu halten und am Jungmännerwerk, Männerwerk, Frauenbund und Großmütterchenwerk selbstständig beteiligt zu werden. Ebenso forderte er die Nutzung kirchlicher Räume, einen Schlüssel für Kirche und Orgel und die sofortige Wiederherstellung der Telefonanlage im Kirchgemeindehaus, in dem sich die Wohnung Fickers befand. Bohland berief sich in seiner Antwort auf die Arbeitsordnung für Pfarrer und Diakone von 1906, wonach er als Erster Pfarrer und Pfarramtsleiter über dem Zweiten Pfarrer steht und »Anspruch« auf besondere Gottesdienste erheben kann. Dieses Schreiben und die Antwort Fickers waren geeignet, den Versuch der Befriedung scheitern zu lassen.49 Die Befriedungspolitik wurde in Rodewisch dadurch erschwert, dass beide Pfarrer immer noch verfeindet waren. Diese ausgeprägte Feindschaft bestand seit 1935 und äußerte sich darin, dass beide Pfarrer nicht mehr miteinander sprachen, sondern sich über Dritte Nachrichten zukommen ließen bzw. schriftliche Nachrichten austauschten; sie grüßten sich nicht und sahen sich nicht an, wenn sie sich begegneten.50 Mediationsgespräche mit Vertretern des Landeskirchenausschusses ebenso wie Interventionen des Superintendenten blieben erfolglos. Zwar berichtete Bohland dem Landeskirchenausschuss: »Ich glaube hiermit erklären zu dürfen, dass die Versöhnung zwischen beiden Pfarrern von Rodewisch erfolgt ist«,51 doch weigerte sich Ficker noch in der gleichen Woche, mit Bohland das Abendmahl auszuspenden. Der Versuch, einen Ortskirchenausschuss einzusetzen, scheiterte.52 Die Lage spitzte sich so zu, dass Pfarrer Bohland mit dem 6. Oktober 1936 die Pfarramtsleitung entzogen wurde. Sowohl in Pfarramts- als auch in Kirchenvorstandsangelegenheiten durften Entscheidungen nur noch in Einklang mit der Superintenden-

47 48 49 50 51 52

Vgl. EphArch Auerbach, B/VI/2, Bl. 202–210. Ficker an Pfarramt Rodewisch vom 30.10.1935 (ebd., Bl. 182). Vgl. ebd., Bl. 182–188. Vgl. ebd., Bl. 99, 183. Bohland an Landeskirchenausschuss vom 2.3.1936 (ebd., Bl. 212). Vgl. ebd., Bl. 218, 221–231, 281–283.

Friedrich Bohland und Horst Ficker

115

tur Auerbach getroffen werden.53 Damit war Loesche faktisch der Pfarramtsleiter von Rodewisch geworden. Er war nun noch mehr als schon zuvor mit den Auseinandersetzungen der Pfarrer und der Gemeinde befasst. Er erstellte die Dienstpläne unter Berücksichtigung der jeweiligen Wünsche der Pfarrer, ­hörte bzw. las die immer neuerlichen gegenseitigen Vorwürfe und griff schlichtend in das ­Geschehen ein. Streitpunkte gab es immer wieder. Einer davon war der Konfirmandenunterricht im Jahr 1936: Da es nur einen großen Raum gab, in dem die Konfirmandenstunde gehalten werden konnte, sollten beide Pfarrer ihre Wünsche hinsichtlich Tag und Zeit mitteilen. Ficker erklärte sehr schnell, dass er dienstags seine Stunde halten wolle, aber auch bereit wäre, auf Donnerstag zu gehen, falls Bohland den Dienstag wünsche. Bohland wurde davon in Kenntnis gesetzt, reagierte aber nicht. Nachdem Loesche nun Ficker für Dienstag eingeteilt hatte, erklärte Bohland in einem ausführlichen Briefwechsel mit der Superintendentur, dass er an mehreren Tagen die Stunde halten wolle, auch dienstags in derselben Zeit wie Ficker. Loesche beschied ihm daraufhin: »Keinesfalls […] können Sie für sich das Recht in Anspruch nehmen, ausgerechnet zu der gleichen für die Konfirmanden des II. Bezirks [Fickers Seelsorgebezirk] angesetzten Zeit in dem gleichen ­Raume Konfirmandenunterricht zu halten. Sie sehen den ganzen Fall nur mit den Augen des kirchenpolitischen Gegners des Herrn Pfarrer Ficker. […] Es ist tief bedauerlich, welche Schwierigkeiten Sie in dieser Sache bereiten und welch ein umfänglicher Schriftwechsel deshalb bereits entstanden ist.«54 1939 wurde Ficker zur Wehrmacht eingezogen und war in den Kriegsjahren immer wieder lange von Rodewisch abwesend. Der persönliche Zwist beherrschte somit weniger vordergründig das Gemeindeleben. Trotzdem gab es immer wieder Forderungen aus der Gemeinde, dass in der Abwesenheit Fickers nicht nur deutschchristliche Gottesfeiern, sondern auch Predigtgottesdienste in der Kirche stattfinden müssten.55 Am 30. Januar 1942 starb Bohland nach kurzer, schwerer Krankheit unerwartet. Sein Nachfolger auf der Ersten Pfarrstelle wurde nicht, wie von Superintendentur und Gemeinde befürwortet, Ficker oder ein Mann der »Mitte«, sondern Gerhard Heinz Eckert, der der SA angehörte und wiederum ein Vertreter der DC war. So gingen die Unruhen in der Gemeinde weiter. Ficker blieb nach dem Krieg bis 1946 in Rodewisch. Danach wurde er Pfarrer in Reichenbach im Vogtland. Er war später Ökumenebeauftragter der sächsischen Landeskirche und starb 1992 in Brüheim bei Gotha.

53 54 55

Vgl. ebd., Bl. 272. Loesche an Bohland vom 16.6.1936 (EphArch Auerbach, B/VI/2 a, Bl. 97). Vgl. Briefe vom 19.1.1940, 18.2.1940, 27.3.1940 und 22.2.1941 (ebd., Bl. 239 f., 241, 242, 256).

116

Nikola Schmutzler

Die Rodewischer Situation war in der Zeit des Kirchenkampfes eine besondere, weil sie nicht nur durch die kirchenpolitischen Positionen der beiden Pfarrer, sondern vor allem durch deren persönliche Abneigung gegeneinander geprägt war. Ein Rodewischer Gemeindeglied schrieb darüber an Loesche: »Schon lange wollte ich mal mein Herz ausschütten, wegen dem lästigen Kirchenstreit mit unseren beiden Herrn Pfarrern, wie lange soll dies noch dauern, dass wieder mal Frieden einzieht in unserer Kirche. Wenn früher bei Herrn Pfarrer Bohland erschreckend viel leere Bänke sonntags zu finden waren, so ist dies auch jetzt sonntags bei Herrn Pfarrer Ficker der Fall. Nachdem nun der Streit im Kirchenvorstand durch die völlige Ausschaltung beigelegt ist, streiten und befehden sich die beiden Pfarrer immer weiter, wie vereinbart sich das als Pfarrer und ­Seelsorger?«56 Beide Pfarrer vertraten ihre Position fanatisch und zerstritten sich so auch mit Gemeindegliedern und dem Superintendenten.57 Letztendlich war die Gemeinde die Leidtragende, die durch den Streit innerlich und äußerlich ­ immer mehr zerrissen wurde.

56 57

Richard Geyer an Loesche vom 11.10.1936 (EphArch Auerbach, B/VI/2, Bl. 280). Vgl. dazu den Briefwechsel zwischen dem Vorsitzenden des Ortskirchenausschusses Pfeifer und Superintendent Loesche vom Dezember 1939 (EphArch Auerbach, B/VI/2a, Bl. 224–227).



Christoph Hanzig »Wir haben nichts zu verbergen!« – Der Anstaltspfarrer Johannes Axt und die NS-»Euthanasie« in der Landesanstalt Großschweidnitz

Die sächsische Landesanstalt Großschweidnitz war während des Zweiten Welt­ krie­ges vielfältig in die nationalsozialistische Vernichtung von geistig b ­ ehinderten und psychisch kranken Menschen verwickelt. Einerseits diente sie während der »Aktion T4« 1940/41 als »Zwischenanstalt«. Etwa 2 500 M ­ enschen wurden von Großschweidnitz zur Ermordung in die Tötungsanstalt Pirna-­Sonnenstein ­transportiert. Andererseits starben in den Kriegsjahren mehr als 5 500 K ­ ranke direkt in der Landesanstalt. Frauen, Männer und Kinder aus dem ganzen ­ ­Deutschen Reich und aus diversen besetzten Ländern fanden dort den Tod – die meisten von ihnen durch gezielte Übermedikationen oder systematische Unterversorgung. Im Jahr 2014 fand eine erste stichprobenartige Erfassung der während des Zweiten Weltkrieges verstorbenen Patientinnen und Patienten der Landesanstalt Großschweidnitz für die Gedenkstätten Pirna-Sonnenstein und Großschweidnitz statt. In den Patientenakten fiel dabei, neben dem ­ärztlichen Personal, ein weiterer, unerwarteter Akteur auf.1 Mehrfach fanden sich Briefe des Anstaltspfarrers Johannes Axt, dessen Schreiben an Angehörige v­ erstorbener Kranker an die verschleiernden »Trostbriefe« der »Aktion T4« e­ rinnerten. Auch das schnelle Ansteigen der Sterbezahlen seit Kriegsbeginn konnte dem erfahrenen Anstaltspfarrer nicht entgangen sein. Es ergaben sich die Fragen, welche Funktion Axt in der Landesanstalt während des Zweiten Weltkrieges hatte und was er von den Verbrechen wusste.

1

Vgl. Christoph Hanzig, »Th: Isolierung, Luminal, Kostveränderung« – Ergebnisse einer Probe­ erfassung von 570 Patientenakten der Landesanstalt Großschweidnitz. In: Maria Fiebrandt/ Dietmar Schulze (Hg.), »Euthanasie« in Großschweidnitz – Regionalisierter Krankenmord in Sachsen 1940–1945, Köln 2016, S. 81–97, hier 94 f.

118

Christoph Hanzig

Werdegang bis zur Versetzung nach Großschweidnitz Johannes Axt wurde am 21. April 1883 in Dresden geboren. Sein Vater ­Theodor arbeitete als Landgerichtsbeamter und seine Mutter Marie war Musiklehrerin. Axt verbrachte seine Kindheit und Jugend in der Hauptstadt des König­reiches Sachsen. Seit 1893 besuchte er das Gymnasium zum Heiligen Kreuz, wo er im Kreuzchor sang und sein Abitur ablegte. 1903 begann er ein Studium der ­Evangelischen Theologie an der Universität Leipzig, das er 1907 mit der ­Ersten Theologischen Prüfung abschloss. Danach hatte er für ein halbes Jahr eine Stelle als Hauslehrer im Schloss Chartreuse bei Thun in der Schweiz inne. Am 1. Oktober 1907 trat er beim Leib-Grenadier-Regiment Nr. 100 in Dresden seinen einjährigen Militärdienst an. Nach dessen Ende ging er zurück nach Leipzig an das Predigerkollegium St. Pauli. Außerdem war er als Nachmittagsprediger an der Universitätskirche tätig. Seine theologische Ausbildung schloss er 1909 mit der großen theologischen Staatsprüfung ab, die dem Zweiten Theologischen Examen entsprach. Mit der Übernahme der Stelle als Hilfspfarrer in der Landesanstalt Waldheim am 1. Juli 1910 trat er in den staatlichen Anstaltsdienst ein und begann damit seine mehr als fünf Jahrzehnte andauernde Arbeit in vorwiegend psychiatrischen Einrichtungen in Sachsen. Für die spezielle Arbeit als Anstaltspfarrer, dessen Gemeinde sich neben den Beamten und Angestellten in erster Linie aus den Patienten zusammensetzt, ­zeigte er schon zu Beginn seiner Tätigkeit Talent und Interesse. Dies belegen die ersten Bewertungen seiner Vorgesetzten. In einem Bericht vom 4. Dezember 1910 an den Konsistorialrat und Hofprediger Erwin Arthur Kretzschmar schrieb sein Vorgesetzter aus Waldheim, dass Axt zwar noch eine etwas abstrakte und wissenschaftliche Sprache in seinen Predigten benutzen würde, aber es sei »wohl auch zu spüren, wie die Wahrnehmungen in der speziellen Seelsorge in Einzelheiten auf seine homiletische Tätigkeit einwirken«.2 Schon wenige Monate später übernahm er von Dezember 1910 bis Februar 1911 zusätzlich die Position als Anstaltspfarrer in der Heil- und Pflegeanstalt Sonnenstein. Auch hier zeigte sich der Anstaltsdirektor Georg Ilberg zufrieden mit der Arbeit des Pfarrers. Ilberg berichtete an das Sächsische Innenministerium: »Pastor Axt hat sich in kurzer Zeit hier sehr gut eingerichtet und versorgt den geistlichen Dienst mit großem Geschick und sichtlichem Interesse an der Psychiatrie. Auch in die Geschäfte des Pflegerheims hat er sich schnell hineingefunden und versteht Autorität mit Freundlichkeit vortrefflich zu verbinden.«3 Bereits zehn Monate nach dem Beginn seiner Tätigkeit in Waldheim wurde er als Pfarrer in die Strafanstalt Zwickau versetzt. Nach dem geglückten beruflichen 2 3

Schröter an Kretzschmar vom 4.12.1910 (SächsHStA Dresden, 13859/148, Bl. 17). Ilberg an Königliches Ministerium des Inneren vom 15.1.1911 (ebd., Bl. 16).

Johannes Axt

119

Einstieg heiratete er am 20. Juni 1911 die neun Jahre jüngere Gertrud Jacob in Bühlau. Bis zur Geburt des ersten Kindes sollten jedoch noch zehn Jahre ver­ gehen. Sohn Helmut wurde 1921 geboren. Den Ersten Weltkrieg erlebte Axt von Beginn an aktiv mit. Im August 1914 gehörte er zunächst dem Königlich-Sächsischen Infanterie-Regiment 133, ­später dann dem Landsturmbataillon 85 an. 1915 wurde er zum Offizier befördert und diente schließlich bis 1917 als Divisionspfarrer. Für seine im Krieg geleisteten Dienste in der Krankenpflege wurde ihm am 5. April 1918 die Rote-Kreuz-­ Medaille 3. Klasse verliehen. 1917 reklamierte ihn das Sächsische Innen­ ministerium, um ihn als Anstaltspfarrer und stellvertretenden Anstaltsdirektor in Bräunsdorf bei Freiberg einzusetzen. Die Abberufung traf seine Militärgemeinde hart, was sich in dem Schreiben eines Eduard Meyer an das Innenministerium manifestiert. Der Absender betonte die hohe Meinung der Truppe von ihrem Divisionspfarrer und welche moralische Bedeutung er für sie hatte. »Zu einer Zeit, wo der furchtbare Krieg seinen Höhepunkt erreicht zu haben und es überall auf eine Zusammenfassung aller Kräfte an der geeigneten Stelle anzukommen scheint, soll uns der Mann, der unser ganzes Vertrauen besitzt, der so viel Leid und Sorgen mit uns geteilt, so vielen von uns gelegentlich unserer Kriegstrauung segnend die Hand auf ’s Haupt gelegt hat, der immer die rechten Worte fand, aufzurichten und zu trösten, der an so vielen Gräbern gefallener Gatten und Väter und Brüder uns als treuer Freund zur Seite gestanden und Gottes Wort immer wieder zu einem Quell der Kraft zum weiteren Durchhalten gemacht hat, uns genommen werden.«4 Mehr als 80 Personen hatten die Bitte unterschrieben. Doch der Appell, Axt bis zu einem Waffenstillstand in seiner Kriegsgemeinde zu belassen, fand beim Sächsischen Innenministerium kein Gehör. Axt musste zurück in den Anstaltsdienst. Bräunsdorf diente bei seiner Gründung 1824 als Waisenhaus, wenig später wurde die Einrichtung dann als Erziehungsanstalt genutzt. Daher bildeten nun hauptsächlich Zöglinge die Gemeinde von Pfarrer Axt. Nach dem Kriegsende und der langsamen Modernisierung der Gesellschaft in der Weimarer Repu­ blik, die auch in den sächsischen Landesanstalten Einzug hielt, fiel Axt erstmals ­negativ auf. Ein anonymes Beschwerdeschreiben in seiner Personalakte offenbart, wie sehr er in den alten moralischen Strukturen des Kaiserreichs verhaftet blieb. Bei einer Trauerfeier für eine 23-jährige Frau Anfang der 1920er-Jahre stellte er die Verstorbene als abschreckendes Beispiel für die anwesende Jugend dar. In seiner Trauerrede bezeichnete er den Tod der Frau als Folge ihres großstädtischen Lebenswandels, der schließlich auch ein uneheliches Kind hervorbrachte. Der Briefschreiber klärte auf, dass die Frau zwar einige Jahre in Leipzig gewohnt

4

Meyer an Sächsisches Ministerium des Inneren vom 23.6.1917 (ebd., Bl. 32).

120

Christoph Hanzig

und ein uneheliches Kind hatte, aber der Kindsvater sich um das Kind kümmern würde und eine Hochzeit durchaus in Aussicht stand. Schließlich sei sie auch nicht an den Folgen ihres Lebenswandels, sondern einer Operation verstorben. Mit deutlichen Worten schließt der Brief: »Hatte Herr Pfarrer Axt nicht die verfluchte Pflicht und Schuldigkeit, sich erst nach der Todesursache zu erkundigen, ehe er ein falsches Zeugnis ablegte an der Bahre einer Toten? Hatte er, selbst wenn er etwas Unmoralisches in einem unehelichen Kind erblickt, nicht allen Grund, nach dem Mantel der christlichen Nächstenliebe zu greifen […]?«5 Im Vergleich zu seinem Konflikt mit dem neuen seit 1923 amtierenden Anstaltsdirektor in Bräunsdorf war dieser Vorgang jedoch fast harmlos. Mit dem vergleichsweise jungen Anstaltsdirektor Herbert Hesselbarth geriet Axt 1924 in einen heftigen Streit, nachdem ein in der Pfarrersfamilie für Aufwartedienste eingesetzter Zögling dem Direktor Bericht über diverse Aussagen von Axt und seiner Frau Gertrud erstattete. Die Eheleute Axt hatten mehrfach vor dem Zögling abschätzig über Hesselbarth gesprochen. Zu den schwerwiegenderen Vorwürfen gehörte eine von dem Zögling wie folgt wiedergegebene Aussage von Gertrud Axt über einen neuen Lehrer: »Der ist durch den Direktor hierhergekommen, weil er auch sozial, auch so ein Roter ist.«6 Außerdem hätte Pfarrer Axt dem Zögling eine Zeitschrift gegeben, in der Hesselbarth verspottet wurde. Axt konnte mit den progressiven Erziehungsmethoden des Anstaltsdirektors nicht umgehen und zeigte dies offen. Doch Hesselbarth wollte die Situation nicht eskalieren lassen und meldete die Vorgänge zunächst nicht. Er konfrontierte Axt zwar mit den Vorwürfen, wollte die Sache aber dabei bewenden lassen, solange ihm keine neuen Vorkommnisse bekannt würden. Axt antwortete dem Direktor schriftlich, er und seine Frau seien »über die Aussagen Trägers selbstverständlich entrüstet, da sie nicht nur eine Niedrigkeit der Gesinnung offenbaren, die wir dem T. kaum zugetraut hätten, sondern auch von A bis Z ein Lügengewebe darstellen […]. Tatsache ist das, dass T. selbst ­meiner Frau gegenüber gelegentlich kindisch mokante Bemerkungen über Sie gemacht hat, die er aber nun weiter ausgeführt, als von uns getan hinstellt […]. Da jeder hier arbeitende Erzieher weiß, wie solch Zöglingsklatsch und -tratsch zu beurteilen ist, und T. selbst auch bei anderen Zöglingen als ein nicht normaler und nicht ernst zu nehmender Mensch gilt, halte ich es für unter meiner Würde, seinem Gerede ein Gewicht beizulegen, das es in den Augen der Sachkundigen wenigstens nicht verdient und verzichte für mein Teil darauf, Antrag auf Bestrafung zu stellen, die ohne dies nicht den geringsten erzieherischen Erfolg haben dürfte.«7

Nicht nur, dass Axt die Vorwürfe umdrehte, er warf Hesselbarth indirekt Inkompetenz vor, solche »fantastischen Lügen« im Gegensatz zu den Erziehern und Zöglingen ernst zu nehmen. Sein generöser Verzicht auf eine Strafforderung vollendete das von Axt gezeichnete Bild der Vorfälle. 5 6 7

Anonymer Brief, ca. 1921 (ebd., Bl. 39). Aussage von Herbert T. vom 21.12.1924 (Abschrift, ebd., Bl. 43). Axt an Hesselbarth vom 30.12.1924 (Abschrift, ebd., Bl. 45).

Johannes Axt

121

Keine zwei Wochen später eskalierte der Streit zwischen den Familien Axt und Hesselbarth endgültig. Erneut berichtete der Zögling von einem beiläufigen Gespräch zwischen ihm und Frau Axt. Diesmal hatten sie den Eheleuten Hesselbarth vorgeworfen, dass eine von Frau Hesselbarth erlittene Fehlgeburt tatsächlich eine Abtreibung, also faktisch eine Straftat, gewesen sei. Nun meldete Hesselbarth die Vorfälle dem Arbeits- und Wohlfahrtsministerium und wollte darüber hinaus auch juristisch gegen Gertrud Axt vorgehen. Allerdings schlug er Axt bereits kurze Zeit später vor, die Sache mit einem Friedensrichter zu klären und auch den Antrag auf ein Disziplinarverfahren beim Ministerium zurückzuziehen, falls die Eheleute Axt eine Erklärung mit dem Eingeständnis abgeben würden, missverständliche Äußerungen vor dem Zögling getätigt zu haben. Axt bestritt jedoch weiter jegliches Fehlverhalten und erklärte, dass weder seine Frau den Termin vor dem Friedensrichter wahrnehmen werde, noch sie eine entsprechende Erklärung abgeben würden. Letztendlich entschied sich das Sächsische Arbeits- und Wohlfahrtsministerium, kein Dienststrafverfahren gegen Axt einzuleiten. Aufgrund der Vorgeschichte des Zöglings glaubte das Ministerium dessen Aussagen nicht.8 Die zum Teil widersprüchlichen Aussagen von Axt, auf die Hesselbarth das Ministerium explizit hingewiesen hatte, blieben unbeachtet. Hintergrund für den Konflikt zwischen Axt und Hesselbarth war der grundlegend verschiedene Erziehungsansatz der beiden. In einem Artikel zum 100-jährigen Bestehen der Landesanstalt 1924 beschrieb Hesselbarth neben der historischen Entwicklung der Anstalt auch die pädagogisch-wissenschaftliche Neuorientierung seit seiner Übernahme des Direktorenpostens ein Jahr zuvor. Bei der Weiterentwicklung der erzieherischen Methoden stand unter anderem die »Beseitigung jeglichen militärischen Drills und aller dominierenden religiösen Tendenzen« auf seiner Agenda.9 Damit befand sich der neue Anstaltsdirektor auf dem damaligen Standpunkt der regierenden sächsischen Sozialdemokratie, die die Trennung von Kirche und Staat in allen gesellschaftlichen Bereichen forcierte.10 Mit anderen Worten passten die Erfahrungen und Einstellungen des Anstaltspfarrers nicht mehr zur Erziehungsarbeit in Bräunsdorf. Mit dieser Ausbootung konnte Axt nicht zufrieden sein, und es ist durchaus wahrscheinlich, dass er seinem Unmut auch Ausdruck verlieh. Nach der Entscheidung des Ministeriums mussten Hesselbarth und Axt noch ein Jahr nebeneinander wirken. Zum 1. Juli 1926 wurde der Anstaltspfarrer in die Landesanstalt Großschweidnitz versetzt, wo nun hauptsächlich wieder Psychiatriepatienten zu seiner Gemeinde gehörten.   8 Vgl. Arbeits- und Wohlfahrtsministerium an Hesselbarth vom 16.6.1925 (ebd., Bl. 61).  9 Hesselbarth, Zum 100-jährigen Bestehen der Landeserziehungsanstalt Bräunsdorf. In: Zeitschrift für Kinderforschung, 2/1924, Nr. 2, S. 131–137. 10 Vgl. Mike Schmeitzner, Wilhelm Buck – Moderator des »linksrepublikanischen Projekts« (1920–1923). In: Mike Schmeitzner/Andreas Wagner, Von Macht und Ohnmacht – Sächsische Ministerpräsidenten im Zeitalter der Extreme 1919–1952, Beucha 2006, S. 89–124, hier 96.

122

Christoph Hanzig

Tätigkeit in der Landesanstalt Großschweidnitz bis zum Ende des ­Zweiten Weltkrieges Hochmotiviert ging Axt in seiner neuen Wirkungsstätte an die Arbeit. Wie bereits vor dem Ersten Weltkrieg war er an den therapeutischen Maßnahmen der Psychiatrie interessiert. So beantragte die Anstaltsdirektion beispielsweise 1927, Axt zu einem psychotherapeutischen Kongress abordnen zu dürfen, da dort neben Erörterungen der Psychoanalyse auch »ein umfassendes und anschauliches Bild der in der Seelenbehandlung in Frage kommenden Methoden unter anderem auch der Seelsorge« gegeben werde.11 Im selben Jahr hielt Axt ­einen Vortrag über psychotherapeutische Erziehungslehre. Auch die Landesanstalt Großschweidnitz vertrat durchaus moderne therapeutische Ansätze, jedoch war die Anstaltskirche ein integraler Bestandteil des dortigen Alltags und sollte nicht, wie in Bräunsdorf zuvor, zurückgedrängt werden. Nicht nur die Durchführung der regelmäßigen Gottesdienste oblag ihm, sondern auch an kulturellen Veranstaltungen in der Einrichtung beteiligte sich Axt in den 1920er-Jahren.12 Beruflich und privat erging es Axt in Großschweidnitz besser. 1927 konnte er sich mit seiner Frau über die Geburt des zweiten Sohnes Werner freuen. Das Jahr 1933 stellte auch für Menschen mit Behinderung und geistigen Behinderungen in den deutschen Heil- und Pflegeanstalten eine Zäsur dar. Rassenhygienische Maßnahmen, wie das am 14. Juli 1933 verabschiedete »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« (GzVeN), hatten erhebliche Folgen für die in Großschweidnitz hospitalisierten Patienten. Männer und Frauen, die durch das GzVeN als »erbkrank« angesehen wurden, durften ohne ein durchgeführtes »Erbgesundheitsverfahren« nicht entlassen werden. Axt erhob keinen Einspruch gegen die nationalsozialistische Rassenhygiene. Allerdings gehörte er auch nicht zu den »Märzgefallenen«, die 1933 massenhaft in die NSDAP drängten. Als Weltkriegsveteran trat er lediglich im April 1933 in den »Stahlhelm« ein, dem er bis zu dessen Auflösung angehörte. Ab 1934 gehörte er der NS-Volkswohlfahrt und ab 1936 dem Reichsluftschutzbund an. In die NSDAP ist Axt auch in späteren Jahren nicht eingetreten. Auch seine k­ irchenpolitische Einstellung war ambivalent. Er trat zwar nicht den Deutschen Christen bei, gehörte jedoch dem NS-Pfarrerbund an.13 Dieser unterstützte in Sachsen,

11 Dr. Ackermann an Sächsisches Ministerium des Inneren vom 30.3.1927 (SächsHStA Dresden, 13859/148, Bl. 71). 12 Vgl. Holm Krumpolt, Die Auswirkungen der nationalsozialistischen Psychiatriepolitik auf die sächsische Landesanstalt Großschweidnitz im Zeitraum 1939–45, Med. Diss, Leipzig 1994, S. 55 f. 13 Vgl. Fragebogen der Entnazifizierungskommission der evang.-luth. Landeskirche Sachsens vom 6.3.1947 (LKArch Dresden, 2/1023, Bl. 4).

Johannes Axt

123

trotz »gewisser Verirrungen« der Deutschen Christen, deren Landesbischof ­Friedrich Coch, weil sein Kurs richtig sei: »Ganz kirchlich, ganz deutsch, ganz nationalsozialistisch.«14 Aus seiner fehlenden NSDAP-Mitgliedschaft lässt sich jedoch nicht ableiten, dass er der NS-Gesundheitspolitik ferngestanden hätte, im Gegenteil wirkte er seit 1937 aktiv in »Erbgesundheitsverfahren« mit. Das Erbgesundheitsgericht Bautzen ernannte ihn am 5. August 1937 zum Sammelpfleger für die Landesanstalt Großschweidnitz.15 Von nun an oblag es also Axt, die allgemein geringen Rechte der Patienten der Landesanstalt Großschweidnitz im Sterilisationsverfahren zu wahren, soweit sie keinen anderweitigen gesetzlichen Vormund besaßen. Nur ein Fall ist überliefert, bei dem er seine Möglichkeit als Verfahrenspfleger nutzte und gegen einen Sterilisationsbeschluss Beschwerde einlegte. Das Erbgesundheitsgericht Bautzen unter Vorsitz von Amtsgerichtsdirektor Dr. Werner Kühn hatte am 10. Juni 1939 die Zwangssterilisation von Ilse G. wegen Schizophrenie beschlossen. Allerdings hatte Axt schon im Verfahren das ärztliche Gutachten aus Großschweidnitz angezweifelt. Im Beschluss wurde der Einwand von Axt festgehalten: »Es könne bei der Beantragten das Vorliegen einer Schizophrenie zur Zeit nicht mit Sicherheit behauptet werden. Nach seiner Überzeugung handele es sich vielmehr bei der G. um eine seelische Erkrankung, die auf einen seelischen Schock zurückzuführen sei, den die Beantragte bei dem Besuch des Aufklärungsfilmes über Geschlechtskrankheiten ›SOS‹ erlitten habe.«16 Dem etwas merkwürdigen Argument folgte das Gericht nicht, sondern stützte sich auf die ärztliche Meinung. Doch Axt akzeptierte das Urteil nicht und legte am 4. Juli 1939 Beschwerde ein, um den Fall der nächsten und letzten Instanz, dem Erbgesundheitsobergericht Dresden, vorzulegen. Sein Einspruch hatte Erfolg, denn mit Beschluss des Erbgesundheitsobergerichts wurde das Verfahren im September 1939 eingestellt und die Patientin damit nicht zwangssterilisiert.17 Ausgehend von diesem Fall darf nicht geschlossen werden, dass Axt das ­GzVeN abgelehnt hätte. Es zeigt zunächst nur, welchen Einfluss ein Verfahrenspfleger haben konnte. Er war nicht einfach Statist im »Erbgesundheitsverfahren«. Bei der Erfassung aller im Zweiten Weltkrieg in der Landesanstalt Großschweidnitz verstorbenen Patientinnen und Patienten konnten 13 Verfahren vor dem Erbgesundheitsgericht Bautzen nachgewiesen werden, in denen Axt die Rechte

14 Vertrauenskundgebung für den Landesbischof Coch – Tagung der nationalsozialistischen ­Pfarrer in Dresden. In: Der Freiheitskampf vom 1.12.1933, S. 3. 15 Vgl. Ernennungsbeschluss des Erbgesundheitsgerichts Bautzen vom 5.8.1937 (StFilA Bautzen, 50047/4.9, Bl. 5). 16 Beschluss Erbgesundheitsgericht Bautzen vom 10.6.1939 (SächsHStA Dresden, 10822/F4635, Bl. 31). 17 Vgl. Beschluss Erbgesundheitsobergericht Dresden vom 15.9.1939 (ebd., Bl. 34).

124

Christoph Hanzig

der Frauen und Männer vertreten sollte.18 Der oben geschilderte Fall, in dem er sich gegen die Zwangssterilisation aussprach, war dabei singulär. Ansonsten akzeptierte er stets die Urteile des Gerichts. Da bei einigen dieser Fälle nicht nur die Anzeige sowie das Gutachten von einem Arzt aus Großschweidnitz gestellt wurde und Pfarrer Axt als Verfahrenspfleger die betroffene Person vertreten sollte, sondern zum Teil auch die Großschweidnitzer Anstaltsdirektoren als Beisitzer am Erbgesundheitsgericht über die Zwangssterilisation mitentschieden, war ein häufiger Dissens in der Beurteilung der »Erblichkeit« auch kaum zu erwarten. Trotz aller Einschränkungen der Arbeit der Erbgesundheitsgerichte durch den Krieg arbeitete das Erbgesundheitsgericht Bautzen bis zum Dezember 1944.19 Aus Anlass der Einstellung der Arbeit des Gerichtes teilte Axt nochmal seine Sicht auf das GzVeN mit, es habe ihm »innere Genugtuung bereitet, im Dienste einer Sache stehen zu dürfen, die sich so segensreich erwiesen hat wie das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Wir Anstaltspfarrer haben es herbeigesehnt bereits seit 1915!« Er fuhr fort: »Besonders wertvoll ist es mir aber gewesen, gerade als Pfarrer immer wieder darauf hinweisen zu können, dass die Sterilisation nicht dem Wesen des Christentums widerspricht, sondern dass das Christentum, zu dessen Ethik das Hauptmotiv die Rücksicht auf den anderen, ›die selbstverleugnende Liebe‹, das Opfer geradezu gebietet, welches das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses von dem Einzelnen fordert.«20 Für die Gesunderhaltung des »Volkskörpers« empfand Axt die Zwangssterilisationen als notwendiges »Opfer« der Betreffenden, das sich mit der christlichen Nächstenliebe ohne Probleme vereinbaren ließ. Damit stand er in der evangelischen Kirche nicht isoliert da. Die Innere Mission stand – auch zwangsweisen – Sterilisationen durchaus offen gegenüber.21 Durch die Veränderungen in der Behandlung von Psychiatriepatienten seit 1933 trat der eigentlich seelsorgerliche Dienst der Anstaltspfarrer langsam in den Hintergrund. Seit 1937 versuchte der sächsische Innenminister Theodor Fritsch die Anstaltsgemeinden aufzulösen und die dort tätigen Pfarrer aus dem Staatsdienst zu entlassen bzw. in den Wartestand zu versetzen. Dies hätte also auch Axt

18 Vgl. Opferdatenbank der Landesanstalt Großschweidnitz 1939–1945 (Archiv Gedenkstätte Großschweidnitz e. V.). 19 Vgl. Boris Böhm, Das Erbgesundheitsgericht Bautzen und die Praxis der nationalsozialistischen Zwangssterilisationen in Ostsachsen. In: Nationalsozialistische Zwangssterilisationen in Sachsen. Hg. von der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, Dresden 2016, S. 78–105, hier 84. 20 Axt an das Erbgesundheitsgericht beim Amtsgericht Bautzen vom 5.1.1945 (StFilA Bautzen, 50047/4.9, Bl. 7). 21 Vgl. Jochen-Christoph Kaiser, Widerspruch und Widerstand gegen die Krankenmorde. In: Klaus-Dietmar Henke (Hg.), Tödliche Medizin im Nationalsozialismus – Von der Rassenhygiene zum Massenmord, Köln 2008, S. 171–183, hier 180.

Johannes Axt

125

als Staatsbeamten betroffen. Letztlich untersagte das Reichsinnenministerium dieses Vorgehen im Dezember 1938.22 Dennoch musste Axt immer mehr Aufgaben übernehmen, die mit der eigentlichen seelsorgerlichen Arbeit nichts zu tun hatten. Nach dem Amtsantritt des neuen Anstaltsdirektors Alfred Schulz im Mai 1939 und dem Kriegsbeginn im September des Jahres wurde diese Entwicklung nochmals verstärkt. Neben der geschilderten Tätigkeit als Pfleger in ­Sterilisationsverfahren führte er die erbbiologische Abteilung und die Bibliothek der Anstalt, war Vormund von mehreren Anstaltspatienten und verkartete die Kirchenbücher für die Schaffung sogenannter Dorfsippenbücher. Eine weitere Aufgabe, die im Laufe des Krieges immer mehr Zeit in Anspruch nahm, war die Abwicklung der Korrespondenz mit den Angehörigen verstorbener Kranker der Einrichtung. Anstaltsdirektor Schulz teilte bereits Ende des Jahres 1941 mit, dass sich die seelsorgerliche Tätigkeit von Axt »vor allem auf Begräbnisfeiern erstreckt«.23 Obwohl das Sterben in der Landesanstalt noch lange nicht seinen Zenit erreicht hatte, bestanden die Hauptaufgaben des Anstaltspfarrers bereits zu diesem Zeitpunkt in der Durchführung der Beerdigungen und dem Briefwechsel mit den Hinterbliebenen. Axt trat nicht von allein in Kontakt mit den Angehörigen der Verstorbenen. Er wurde erst aktiv, wenn sich Familienmitglieder mit Fragen oder Beschwerden an die Anstalt wendeten, nachdem sie die Todesnachricht aus der Anstalt erhielten. In seinen Antworten ging Axt jedoch nicht nur auf die jeweiligen Anfragen oder Probleme ein, sondern fügte immer ähnlich lautende Erläuterungen zum Ablauf der Trauerfeier ein. Nicht zuletzt fehlte in keinem seiner Briefe der Hinweis, dass der Tod für die Verstorbenen eine »Erlösung« darstelle. Einige Angehörige dankten dem Anstaltspfarrer, wenn er ihnen solche Nachrichten schickte oder sich bei persönlichen Besuchen der Hinterbliebenen um sie kümmerte.24 Doch nicht alle Verwandten empfanden den Tod als »Erlösung« der Patienten, womit sie wiederum auf Unverständnis bei Axt stießen. Johanna L. antwortete auf die Standardformulierung von Axt, dass ihre in Großschweidnitz verstorbene Schwester keineswegs ein Siechtum auszustehen hatte und Axt sich irren müsse. Die Antwort des Pfarrers fiel klar aus: »Meine Ansicht, dass der Tod Ihrer lieben Schwester eine Erlösung bedeutet, halten Sie für einen ›großen Irrtum‹. Ja, Frau L., da ist nichts zu machen. Da steht Ansicht gegen Ansicht. Nur bin ich insofern im Vorteil, als ich die Ärzte auf meiner Seite habe. Sie sind als Schwester zu optimistisch. Wir haben aber in Hunderten und Tausenden von Fällen den Ablauf der Krankheiten beobachtet und sind 22 Vgl. Reichsminister des Inneren an Reichsstatthalter in Sachsen vom 24.12.1938 (SächsHStA Dresden, 13859/148, unpag.). 23 Schulz an Sächsischen Minister des Inneren vom 24.11.1941 (ebd., Bl. 103). 24 Vgl. Liese G. an Axt vom 9.2.1944 (Sächs.HStA Dresden, 10822/F4351, Bl. 11).

126

Christoph Hanzig

nicht ohne inneres Widerstreben (dazu haben wir unsere Patienten viel zu lieb!) schließlich im Laufe von Jahren dazu gekommen, dass wir uns keine Illusionen mehr machen. Doch das wird an Ihrer Meinung nichts ändern.«25 Seine Antwort zeigt, dass Axt durchaus Kenntnis von den gezielten Tötungen von Kranken in Großschweidnitz hatte. Offensichtlich stand er im Austausch mit dem ärztlichen Personal und beide Seiten stimmten in der Beurteilung der ­Patienten überein. Die letzte, nicht genannte, Konsequenz aus dieser Einstellung war, die »Erlösung« der Patienten herbeizuführen. »Liebe« spielte dabei keine Rolle. Entscheidend war, unruhige und pflegeaufwendige Kranke loszuwerden. Über die Kriegsjahre nahmen die Sterbezahlen in der Landesanstalt deutlich zu. Bei der Alltäglichkeit des Sterbens in Großschweidnitz nahm die Organisation der Trauerfeiern und Beerdigungen viel Zeit in Anspruch, wie Axt in einem Fall unfreiwillig zugab. Nach dem Tod einer Kranken wurde die Todesnachricht fälschlicherweise an die Familie einer fast namensgleichen Patientin geschickt. Die falsche Familie machte sich nun auf den Weg nach Großschweidnitz, um an der Trauerfeier teilzunehmen. Offensichtlich wurde der Fehler erst nach der Ankunft durch die Angehörigen entdeckt. Nach der Rückkehr aus Großschweidnitz schaltete die Familie die Innere Mission ein, die bei Pfarrer Axt wiederum nach dem Grund für die Verwechslung fragte. Axt begann sein Antwortschreiben an den Stadtverein für Innere Mission Dresden deutlich verstimmt: »Ihr Brief vom 17. Februar d. J. hat mich schwer geärgert.«26 Axt begründete den Fehler mit der hohen Arbeitsbelastung durch die vielen Sterbefälle, sodass solche Verwechslungen vorkommen könnten. In der Folge zählte er fünf Gründe für seine Verärgerung auf, von denen zwei mehr über die Situation und die Alltäglichkeit des Sterbens in der Landesanstalt verrieten: »1) Ihr Brief erweckt zum Mindesten den Anschein, als ob das Versehen unserer Anstaltskanzlei ein völlig unbegreifliches sei. Wenn aber wie hier in einer einzigen Nacht 500 Kranke zugeführt wurden und auch tagsüber immer wieder Sammeltransporte eintreffen, sodass wir zur Zeit hier fast 2 000 Kranke haben, dann darf ein so begreiflicher Irrtum wohl auch volles Verständnis finden bei denen, denen auch schon Irrtümer unterlaufen sind. […] 3) Was nun die alte gebrechliche Mutter anbelangt, so möchte ich dazu folgendes sagen: Wir wollen doch auf der Erde bleiben! Ich kann mir darum nicht vorstellen, dass die Mutter der B. durch eine Todesnachricht in Schrecken und Aufregung versetzt werden konnte. Sie würde wohl, wie so viele andere Mütter in dem Falle auch, froh und dankbar sein, dass ein Leben, das kaum noch lebenswert war, sein Ende gefunden hat. Ja, es würde ihr gerade als Mutter wahrscheinlich eine große Beruhigung sein, vor eigenem Heimgange die hoffnungslos Kranke gut aufgehoben zu wissen. Ich habe in dieser Beziehung einige Erfahrung. […] Wir sind doch hier in dieser Beziehung keine Laien.«27

25 Axt an Johanna L. vom 4.4.1945 (SächsHStA Dresden, 10822/F6989, Bl. 131). 26 Axt an Stadtverein für Innere Mission Dresden vom 23.2.1944 (ebd., 10822/F4191, Bl. 34). 27 Ebd.

Johannes Axt

127

Aus solch einer Formulierung spricht, abgesehen von der kritiklosen Über­ nahme der nationalsozialistischen Terminologie »lebensunwertes Leben«, seine vollkommene Abstinenz von ehrlich empfundener Empathie den Angehörigen gegenüber. Axt konnte oder wollte sich nicht vorstellen, dass das Ableben der Kranken letztlich nicht mit Erleichterung aufgenommen wurde. Zwei Monate später erhielt die Familie eine zweite Todesnachricht. Diesmal lag kein Fehler vor. Doch nicht nur solche Fehler mussten von Axt abgefedert werden. Eine Mutter fragte in Großschweidnitz an, wie es möglich sei, dass ihre beiden Söhne binnen zwei Monaten an einer Lungenentzündung starben. Axt erläuterte die Zusammenhänge wie folgt: »Solche Lungenentzündungen sind jetzt leider sehr häufig. Und da die körperliche Widerstandsfähigkeit im 6. Kriegsjahre eben doch nicht mehr die frühere ist, führen solch schwere Erkrankungen sehr leicht zum Tode.«28 Tatsächlich war »Lungenentzündung« die Haupttodesursache der Patienten und Patientinnen in Großschweidnitz während des Krieges und bei minderjährigen Kranken in der »Kinderfachabteilung« sogar überproportional häufig.29 Allerdings waren diese meist absichtlich durch überdosierte Beruhigungsmittel hervorgerufen worden. Auch in diesem Fall fielen die Brüder der tödlichen Behandlung von Dr. Arthur Mittag in der »Kinderfachabteilung« in Großschweidnitz zum Opfer. Während Axt hier noch versuchte, eine schlüssige Erklärung zu finden, antwortete er auf eine kritische Nachfrage in einem anderen Fall deutlich schroffer: »Ebenso abwegig ist Ihre Äußerung, dass wir vielleicht Grund haben könnten, irgendetwas, was hier geschieht, nicht bekannt werden zu lassen. Wir haben nichts zu verbergen!«30 In den letzten Kriegsmonaten 1945 stiegen die Todeszahlen in Großschweidnitz nochmals stark an. Außerdem wurde die Kommunikation mit den Verwandten immer schwieriger. So konnten die Angehörigen nicht mehr per Telegramm, sondern nur noch per Brief über Todesfälle informiert werden. Briefe gingen jedoch mehrfach verloren oder kamen deutlich zu spät an, was verstärkt zu Beschwerden führte und damit wieder mehr Arbeit für Axt bedeutete. Auf Vor­würfe, dass die Anstalt die Verwandten absichtlich nicht benachrichtigte, reagierte der Pfarrer gereizt: »Sie schreiben: ›Ich hatte allerdings erwartet und bin sehr erstaunt, dass ich nicht gleich vom Tod der Heimgegangenen benachrichtigt ­wurde.‹ Ja, meine liebe Frau L., glauben Sie denn wirklich im Ernste, dass wir, wenn eine unserer Patientinnen hier stirbt, die Angehörigen nicht auf dem schnellsten Wege in Kenntnis setzen von dem Tode? Das ist doch nicht Ihr Ernst!«31

28 29 30 31

Axt an Frau S. vom 14.3.1945 (ebd., 10822/10333, unpag.). Vgl. Hanzig, Th: Isolierung, S. 89. Axt an Lina E. vom 27.3.1945 (ebd., 10822/8795, Bl. 99). Axt an Johanna L. vom 14.4.1945 (ebd., 10822/F6989, Bl. 131).

128

Christoph Hanzig

Ein weiteres Konfliktfeld waren die Beerdigungen auf dem Anstaltsfriedhof in Großschweidnitz. Die Trauerfeiern führte Axt, zumindest wenn sich Angehörige angemeldet hatten, in der Parentationshalle auf dem Anstaltsfriedhof durch. An der Beerdigung konnten die Hinterbliebenen in der Regel jedoch nicht mehr teilnehmen, weil diese erst nachmittags bzw. am Abend vorgenommen wurden. Da keine Übernachtungsmöglichkeiten in Großschweidnitz vorhanden waren, mussten die Angehörigen zuvor schon wieder abreisen. Dieses ungewöhnliche Vorgehen schürte Skepsis. Auch hier versuchte Axt die Sorgen einer Mutter zu zerstreuen: »Wer hat Ihnen denn gesagt, dass die Angehörigen unserer verstorbenen Kranken der Beerdigung nicht beiwohnen dürfen? […] Die Sache liegt doch vielmehr so: Wir haben zu der Zeit, wo die Trauerfeier in der Halle beendet ist […] aus kriegsbedingten Gründen keine Träger zur Verfügung. […] Die Beerdigungen müssen also aus dem angeführten Grunde zu einer für uns günstigeren Zeit erfolgen, also am Nachmittage. […] Lassen Sie sich also nicht in Unruhe versetzen durch die Leute, die nie hier waren, aber ›gehört haben, dass wir die Entschlafenen nach der Feier wieder aus dem Sarge nehmen, um sie ohne diesen der Erde zu übergeben‹. Das ist unglaublicher Unsinn!!«32 Wenige Monate später musste Axt jedoch gegenüber einer anderen Mutter, die diverse Vorwürfe gegen die Anstalt geäußert hatte, zugeben, dass die Beerdigungen nicht mehr in der üblichen Form stattfinden könnten: »Was haben Sie uns da für einen seltsamen Brief geschrieben. Als Sie hier waren, habe ich doch alles mit Ihnen besprochen. Und nun haben Sie hinterher allerlei törichte Gerüchte gehört. […] Dass Ihr Sohn an einer Lungenentzündung verstorben ist, hatte ich Ihnen ausdrücklich versichert. Ich pflege nicht zu lügen. […] Was die Beschaffung von Särgen anbelangt, so müssen Sie bedenken, dass wir jetzt hier in unserem Gebiete, das frontnahes Gebiet geworden ist, unter ganz besonderen Verhältnissen leben. […] Nichts geht uns mehr gegen das Gefühl, als wenn wir, durch die Verhältnisse gezwungen, unseren Kranken eine Entbehrung auferlegen müssen. Wir haben infolgedessen auch noch vor ganz kurzer Zeit unsere Kranken ›friedensmäßig‹ bestattet. Zurzeit ist das aber nicht mehr möglich. Das tut uns selbst furchtbar leid, ist aber nicht zu ändern. Es ist jetzt hier in mancher Beziehung wie im Felde. Da draußen an der Front müssen auch die Bestattungen so einfach wie möglich vorgenommen werden. Was tut es schließlich?! Es bleibt GOTTES Erde, in der die lieben Toten ruhen, und der Herr GOTT wird einmal, wenn er sie ruft, nicht nach dem mehr oder weniger prunkvollen Sarge fragen, in dem sie bestattet wurden.«33 Wie die Beerdigungen genau verliefen, ist wenig bekannt. Allerdings reichte das Areal des Friedhofs, trotz einer Erweiterung 1941, nicht mehr für die

32 33

Axt an Frau M. vom 4.10.1944 (ebd., 10822/F5389, Bl. 21). Axt an Frau G. vom 5.3.1945 (ebd., 10822/9042, Bl. 11).

Johannes Axt

129

Anzahl verstorbener Kranker aus, sodass ab 1943 keine Einzelbestattungen mehr möglich waren und stattdessen zwei bis vier Verstorbene in einem Grab beerdigt werden mussten.34 Dementsprechend führte die Friedhofsverwaltung die Beerdigungen zu einem Zeitpunkt durch, zu dem die Angehörigen nicht mehr in Großschweidnitz sein konnten. Ebenso unwahrscheinlich ist die Annahme, Axt hätte für alle verstorbenen Patientinnen und Patienten eine würdige Trauerfeier gehalten, wenn sich keine Angehörigen anmeldeten. Bei mehr als 5 500 Toten in den Kriegsjahren war dies gar nicht möglich.

Kriegsende und Nachkriegsjahre Großschweidnitz blieb lange von Kriegseinwirkungen verschont. Erst am 7. Mai 1945 war die Rote Armee so nahegekommen, dass die Anstalt evakuiert wurde. Während die Verantwortlichen die nicht transportfähigen Patienten mit einer nur rudimentären Versorgung in der Einrichtung zurückließen, brach der große Teil des Anstaltspersonals mit den gehfähigen Kranken am 7. Mai im sogenannten Treck, der eher einem Himmelfahrtskommando glich, in Richtung Sudetenland auf.35 Einige der Patienten wurden auch einfach entlassen und auf die Straße gesetzt. Anstaltspfarrer Axt ging mit auf den Treck, der nach wenigen Tagen die Anstalt wieder erreichte. Einige der sich selbst überlassenen Patienten fanden den Weg in die zum Teil weit entfernte Heimat nicht und blieben verschollen. Kritik an diesem Vorgehen stieß bei Axt auf wenig Verständnis: »Wir haben Ihnen bereits mitgeteilt, dass Ihr Sohn infolge der Kriegsereignisse hier am 7.5. entlassen worden ist. Sie begreifen das nicht. Wenn Sie aber einen Begriff von der Lage hätten, wie sie hier in den Tagen war, dann würden Sie auch die von uns getroffene Maßnahme verstehen. Wir wurden Kriegsgebiet, die Russen besetzten die Anstalt. Es blieb also nur eins übrig, den Kranken, die laufen konnten und harmlos waren, die Möglichkeit zu bieten, nach Hause zu gehen. Das haben wir denn auch getan.«36 Auch mehr als sechs Monate nach Kriegsende kam ihm nicht der Gedanke, dass eine Übergabe an die sowjetischen Truppen die für die Patienten wohl schonendere Variante gewesen wäre. Ansonsten änderte sich in seinen Formulierungen in den ­Briefen an die Angehörigen verstorbener Patienten nichts. Für ihn war der Tod der ­Patienten in den Kriegsjahren immer noch eine »Erlösung«. 34 35 36

Vgl. Der NS-Krankenmord in Großschweidnitz – Dokumentation zu den Toten, den Todesumständen und der Bestattung (Archiv Gedenkstätte Großschweidnitz e. V., S. 5 f.). Vgl. Hagen Markwardt/Dietmar Schulze, Die Landesanstalt Großschweidnitz im Jahr 1945. In: Maria Fiebrandt/Dietmar Schulze (Hg.), »Euthanasie« in Großschweidnitz, Köln 2016, S.111– 125, hier 115. Axt an Frau L. vom 23.12.1945 (SächsHStA Dresden, 10822/7128, unpag.).

130

Christoph Hanzig

An die Tante des im April in der »Kinderfachabteilung« gestorbenen Siegfried V. schrieb er am 27. Oktober 1945: »Ich habe am 25. 4. d. J., 10.45 Uhr, die Trauer­ feier für Siegfried gehalten. Er war in unserer schönen Kapelle mit viel ­Liebe aufgebahrt. Der Sarg war innen mit Blumen ausgelegt. Die F ­ eier war umrahmt von Harmoniumspiel und Gesang. […] Dass der Tod für den bedauernswerten Kranken, dem nicht zu helfen war, eine Erlösung bedeutet, darin werden auch Sie mit uns übereinstimmen. Gott, der Herr, hat es also wohl gut gemeint mit dem Kinde, als er es hienieden abrief und heimholte in das Vaterhaus, das droben ist. Siegfried wäre hienieden dem Kampfe ums Dasein niemals ­gewachsen gewesen.«37 Axt blendete das mörderische System der NS-Psychiatrie, die in der Landesanstalt Großschweidnitz willfährig umgesetzt wurde, komplett aus. Der Brief macht überdies deutlich, dass er weiterhin sozialdarwinistische Begrifflichkeiten wie »Kampf ums Dasein« verwendete. Auf Postkarten eines ehemaligen Patienten, der sowohl die Kriegszeit als auch seine ungeordnete Entlassung am 7. Mai 1945 überlebte und sich nun mit einigen Bitten an den mittlerweile verhafteten Anstaltsdirektor Alfred Schulz richtete, antwortete Axt: »Durch einen Zufall kommen Ihre hierher geschriebenen Karten in meine Hände. Sie werden von den Adressaten keine Antwort erhalten. […] Ich möchte aber als Ihr Pfarrer nicht unterlassen, Ihnen ein paar Zeilen und mit diesen ein paar gute Ratschläge zu senden. 1.) Seien Sie froh und dankbar, dass Sie bei Verwandten Unterkunft gefunden haben. Viele scheuen heute keine Mühe und kein Opfer, ihre Angehörigen zu finden. […] 2.) Lernen Sie arbeiten. Hier in der Anstalt haben Sie es als Kranker nicht gemusst. Sie sind viel herumgestrichen ganz nach Herzenslust. Das Leben draußen ist härter. Wer da nicht die Zeit nutzt und schafft, kommt schnell unter die Räder. Also nicht klagen, sondern sich die Anerkennung und Achtung seiner Mitmenschen verdienen durch Bewährung. Schattenseiten gibt es überall im Leben, wo Licht ist!«38

Ist der erste Ratschlag noch als nüchterner Blick auf die Nachkriegszeit interpretierbar, so ist der zweite »gute Ratschlag« an Zynismus schwer zu überbieten. Der Mann hatte den Krieg in der Anstalt sehr wahrscheinlich nur überlebt, weil seine Arbeitsleistung als gut eingeschätzt wurde und er deshalb eine bessere ­Versorgung erhielt. Was Axt als »herumstrolchen« bezeichnete, ­waren Postgänge, die der Patient für die Anstalt erledigte und für die ihm freier Ausgang gewährt wurde.39 Spätestens seit dem Dresdner »Euthanasie«-Prozess 1947, in dem zwei Ärzte sowie einige Schwestern aus Großschweidnitz zu Haftstrafen verurteilt wurden, waren die Verbrechen in der Landesanstalt der Öffentlichkeit bekannt.40 37 38 39 40

Axt an Tante von Siegfried V. vom 27.10.1945 (ebd., 10822/10662, unpag.). Axt an Rudolph N. vom 13.9.1945 (ebd., Landesanstalt Großschweidnitz 10822/6184, Bl. 296). Vgl. Eintrag in der Krankengeschichte von Rudolph N. vom Oktober 1944 (ebd., unpag.). Vgl. allgemein zum Prozess Boris Böhm/Gerald Hacke (Hg.), Fundamentale Gebote der Sittlichkeit – Der »Euthanasie«-Prozess vor dem Landgericht Dresden 1947, Dresden 2008.

Johannes Axt

131

Axt wurde scheinbar weder von den sowjetischen noch von den sächsischen Ermittlungsbehörden im Vorfeld des Prozesses befragt, obwohl er sicher interessante Angaben zum Sterben in der Anstalt hätte machen können. Trotz der Kooperation von Pfarrer Axt bei der Vertuschung der NS-»Euthanasie« in Großschweidnitz blieb er auch nach dem Krieg für die Anstaltsgemeinde zuständig. Allerdings nicht mehr als Beamter, sondern seit dem 1. April 1946 in landeskirchlicher Anstellung.41 Jedoch musste er sich einem Entnazifizierungsverfahren durch die Evang.-luth. Landeskirche unterziehen. Axt gab dabei an, dass er 1943 ein Predigtverbot wegen widerständiger Handlungen in der Anstalt erhalten habe.42 Dementsprechend fiel das Urteil der Entnazifizierungskommission aus: »Axt hat sich im NS-Pfarrerbund nicht aktivistisch betätigt. Seine einwandfreie kirchliche Haltung führte zu einer gegensätzlichen Stellungnahme gegenüber dem Nationalsozialismus. Im Zusammenhang damit wurde er gemaßregelt. Die Kommis­sion hat keine Bedenken gegen seine Weiterbeschäftigung.«43 Ein halbes Jahr nach dem Urteil des Dresdner Landgerichts gegen Ärzte und Schwestern aus Großschweidnitz hinterfragte die Kommission die Rolle von Axt in der Anstalt nicht. Stattdessen bescheinigte sie dem Anstaltspfarrer, wohl aufgrund des angeblichen Predigtverbots, eine Distanz zum NS-Regime. Tatsächlich untersagte das sächsische Innenministerium Axt schon im Januar 1942 die kirchliche Tätigkeit in der Anstalt.44 Jedoch nicht, weil er sich widerständig geäußert oder verhalten hatte, er sollte sich als Beamter einfach auf seine anderen Aufgaben in der Anstalt konzentrieren. Ein »Predigtverbot« im engeren Sinn hatte er nicht erhalten. Axt und seine Frau behielten auch weiterhin ihre Wohnung auf dem Anstaltsgelände. In den 1950er-Jahren schien er sich auch in das neue System eingegliedert zu haben. So gab er bei den Wahlen zur DDR-Volkskammer im Oktober 1954 offen seine Stimme ab.45 Nur widerwillig trat er nach seiner Pensionierung 1959 die Anstaltsgemeinde an seinen Nachfolger ab. Bis Ende April 1961 war er noch als Altersvikar in den Krankenanstalten Großschweidnitz tätig.46 Die Morde in der Anstalt während des Zweiten Weltkrieges leugnete er bis zuletzt.47

41 42

Vgl. Personalbogen Johannes Axt, o. D. (LKArch Dresden, 2/1023, Bl. 1). Vgl. Fragebogen der Entnazifizierungskommission der evang.-luth. Landeskirche Sachsens vom 6.3.1947 (ebd., Bl. 6). 43 Beschluss Entnazifizierungskommission der evang.-luth. Landeskirche Sachsens vom 16.1.1948 (ebd., Bl. 5). 44 Vgl. Sächsischer Minister des Inneren an Dr. Schulz vom 5.1.1942 (SächsHStA Dresden, 13859/148, Bl. 104). 45 Vgl. Den Frieden wählen – Eine Selbstverständlichkeit. In: Neues Deutschland vom 19.10.1954, S. 3. 46 Vgl. Personalbogen Johannes Axt, o. D. (LKArch Dresden, 2/1023, Bl. 2). 47 Vgl. Erinnerungen an Pfarrer Axt von Pfr. i. R. Manfred Wugk, o. D. (Archiv Gedenkstätte Großschweidnitz e. V.).

132

Christoph Hanzig

Seine letzten Lebensjahre verbrachte er als Patient wegen Altersdemenz ausgerechnet in einer psychiatrischen Klinik, nämlich in Arnsdorf. Dort starb er am 28. Dezember 1970. Beerdigt wurde er allerdings an seiner alten Wirkungsstätte auf dem Anstaltsfriedhof in Großschweidnitz.

Fazit Johannes Axt entschied sich aus Überzeugung für den ungewöhnlichen seelsorgerlichen Dienst in den sächsischen Anstalten. In Verbindung mit seinen Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg manifestierten sich bei ihm sozialdarwinistische und rassenhygienische Vorstellungen. Ohne Vorbehalte stellte er sich als Anstaltspfarrer seit 1937 direkt in den Dienst nationalsozialistischer Bevölkerungspolitik, indem er als Verfahrenspfleger in Sterilisationsverfahren auftrat. Ganz im Sinne der NS-Rassenhygiene verstand er dabei seine Rolle nicht als Wahrer individueller Rechte, sondern verstand die Zwangssterilisationen als notwendiges »Opfer« der Betroffenen für die Gesunderhaltung der »Volksgemeinschaft«. Mit demselben Argument, mit dem Axt die Zwangssterilisationen rechtfertigte, konnte er auch die NS-»Euthanasie« in Großschweidnitz mit seinem christlichen Gewissen verbinden. Im Krieg war es nicht mehr genug, seine körperliche Unversehrtheit zu »opfern« und auf Kinder zu verzichten, sondern nun musste das »lebensunwerte Leben« im Sinne der Nächstenliebe für die notleidende Allgemeinheit gegeben werden. Zumal das irdische Leben der Kranken für den Pfarrer nur eine Zwischenstation darstellte. Dass die Ärzte die Patientinnen und Patienten durch Nahrungsentzug und Medikamente töteten und nicht Gott sie »erlöste«, spielte für ihn letztlich keine Rolle. Über diese ideelle Unterstützung hinaus missbrauchte er seine Vertrauensposition, die er als Anstaltspfarrer für die Angehörigen innehatte, um die tatsächlichen Umstände der Todesfälle zu verschleiern. Die Briefe konnten die trösten, bei denen die Täuschung wirkte. Für diejenigen, die einen unnatürlichen Tod zumindest vermuteten, mussten die Worte des Pfarrers wie Hohn klingen, insbesondere nachdem Axt auch nach dem Krieg bei seinen Formulierungen in den Briefen blieb. Bis zum Ende seiner beruflichen Laufbahn blieb Axt Großschweidnitz verbunden. Die verhängnisvolle Geschichte der Landesanstalt im Rahmen der NS-»Euthanasie« und seine eigene Verstrickung darin reflektierte er nie.

Die »Mitte«



Nikola Schmutzler Johannes Herz: Mitbegründer der sächsischen »Mitte«

Als am 11. August 1933 die »Braune Synode« in Dresden zusammentrat, war Johannes Herz 56 Jahre alt und seit 30 Jahren Pfarrer der sächsischen ­Landeskirche. Johannes Heinrich Herz wurde am 13. Juni 1877 in Leutersdorf in der Oberlausitz als erstes Kind des Pfarrers Paul David Herz und seiner Frau Elisabeth geboren. In die Fußstapfen seines Vaters tretend studierte er Theologie in Tübingen, Marburg und Leipzig. In Marburg lernte er die liberale Theologie kennen,1 sie sollte den Theologen Herz nachhaltig prägen. Nach dem Studium, einer Zeit als Hauslehrer in Eisenach und einem Pfarr­ vikariat in der Oberlausitz wurde Herz 1904 Pfarrer in Chemnitz. Im gleichen Jahr heiratete er Paula Katharina Satlow, die Tochter des Pfarrers Paul Rudolph Satlow. Mit seinem Schwager Gerhard Satlow verband Herz die gemeinsame ­Heimat, die Mitgliedschaft in der Societas Sorabica – der Lausitzer Predigergesellschaft – und die Arbeit im evangelisch-sozialen Bereich. In Chemnitz war Herz an der Gründung der Sächsischen Evangelisch-Sozialen Vereinigung (SESV) beteiligt, einer späteren Landesvereinigung des Evangelisch-Sozialen Kongresses (ESK). Auf dem Gebiet des Sozialen Protestantismus machte sich Herz einen Namen als Vorsitzender der SESV, später als General­ sekretär des ESK. Es gelang ihm, den Kongress nach dem Ersten Weltkrieg wiederzubeleben und zu einer neuen, zweiten Blüte zu führen. Als Kenner der sozia­len Lage war Herz in den 1920er-Jahren weithin bekannt; für seine Verdienste auf diesem Gebiet wurde er 1927 mit der Ehrendoktorwürde der Universität Jena ausgezeichnet. Nach dem Ersten Weltkrieg war Herz in den Leitungsgremien des 1922 entstandenen Deutschen Evangelischen Kirchenbundes, der Dachorganisation des landeskirchlichen Protestantismus, tätig: Als Delegierter bei den Kirchentagen seit 1919 war er Führer der liberalen Gruppe; außerdem wurde er vom K ­ irchentag 1

Vgl. Johannes Herz an die Stiefmutter Cäcilie Herz vom 9.12.1909 (Staatsarchiv Leipzig, ­Nachlass Herz [StAL, Na Herz], 10/3).

136

Nikola Schmutzler

1924 in den Deutschen Evangelischen Kirchenausschuss (DEKA) gewählt. Der DEKA war das geschäftsführende und vollziehende Organ des Deutschen Evangelischen Kirchenbundes. Der DEKA schickte Herz als Abgeordneten zur ökumenischen Weltkonferenz »Life and work« (»Praktisches Christentum«), die unter der Leitung des Erzbischofs von Uppsala, Nathan Söderblom, 1925 in Stockholm stattfand. Als Vertreter des Kirchenbundes saß Herz seit 1931 im Verwaltungsrat der Evangelisch-sozialen Schule in Berlin-Spandau. Dort wurden soziale Berufsarbeiter geschult, außerdem fanden soziale Lehrkurse für Theologen statt. Auf landeskirchlicher Ebene gehörte Herz zu den Modernisierern nach dem Ersten Weltkrieg. Der politische Umschwung nach 1918 bedeutete für die Kirchen einen radikalen Bruch und brachte die Notwendigkeit mit sich, sich neu bzw. überhaupt zu definieren. Bei der Frage nach der Trennung von Kirche und Staat spielten zudem große Ängste mit. Man fürchtete eine Art Französische Revolution in Deutschland, die einen laizistischen Staat nach sich ziehen würde, in dem man als Kirche einen neuen Platz finden müsse. Die Evangelisch-lutherische Landeskirche Sachsens hatte zusätzlich mit einer sozialdemokratischen Landes­ regierung zu kämpfen. Dies führte zu einer gewissen Lähmung der Kirchenleitung, die scheinbar nicht auf die angekündigten Maßnahmen der Regierung wie Einstellung der Staatsleistungen, Enteignung der Friedhöfe und Wegfall des Religions­unterrichts reagierte.

Kirchenpolitische Wirksamkeit in der Zeit der Weimarer Republik Zusammen mit dem sächsischen Landesverband der Kirchlich-sozialen Konferenz (KSK) hatte die SESV unter der Leitung von Herz Theologen und Laien für den 18. November 1918 zu einer Zusammenkunft eingeladen, um über die Neuordnung der Landeskirche zu beraten: »Da unser Konsistorium gegenüber den angekündigten Maßnahmen der neuen Machthaber auf kirchlichem Gebiet in Passivität und Untätigkeit versauert, entschlossen wir Vorsitzenden der beiden sozialen Vereinigungen [SESV und KSK], P.  D. Jeremias und ich, uns, die Mobilisierung und Demokratisierung der Kirche anzugehen.«2 Das Ergebnis war ein Aktionsausschuss, dem Herz und der Leipziger Pfarrer und Altorientalist Alfred Jeremias als gleichberechtigte Vorsitzende vorstanden. Ziel war eine möglichst schmerzarme Trennung von Kirche und Staat; vor a­ llem sollte die Kirche als Volkskirche erhalten und nicht zu einer Bekenntnis- oder Freikirche werden. Dafür suchte der Aktionsausschuss unter anderem 2

Rundbrief Johannes Herz an seine Geschwister vom 17.1.1919 (StAL, Na Herz, 9/1).

Johannes Herz

137

das Gespräch mit dem damaligen Volksbeauftragten für Kultus und Unterricht, ­Wilhelm Buck.3 Die Auseinandersetzungen zwischen Staat und Kirche zogen sich durch die gesamte Zeit der Weimarer Republik. Die Landeskirche sah sich in schweren weltanschaulichen Kämpfen, es gab eine rege Kirchenaustrittsbewegung, deren Werben durch Kirchenaustrittsgesetze des Staates begünstigt wurde.4 Johannes Herz hatte sich als Redner zur Verfügung gestellt, der bereit war, in Kirchenaustrittsversammlungen aufzutreten, um die Sache der Landeskirche zu vertreten. Herz war durch die öffentlichen religiösen Diskussionsabende, die die SESV seit 1904 regelmäßig in Arbeiterkneipen veranstaltet hatte, mit der Situation vertraut und darin geübt, in einem kirchenkritischen Umfeld als Fürsprecher für Kirche und Religion aufzutreten, aufzuklären und mit Vorurteilen aufzuräumen. Mit dem von der sächsischen Volkskammer am 22. Juli 1919 verabschiedeten Übergangsgesetz für das Volksschulwesen wurde der Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach abgeschafft: »Religionsunterricht wird in der Volksschule nicht mehr erteilt.«5 Dieser Versuch, den Einfluss der Kirche in der Schule zu verdrängen, wurde durch das Reichsgericht am 4. November 1920 für verfassungswidrig erklärt. Der Streit wurde trotz der Rechtssicherheit auf der untersten Ebene weitergeführt.6 Im März 1919 wurde Johannes Herz als Kandidat des Wahlbezirks Leipzig-Ost in die Zehnte Synode der Landeskirche gewählt und dort zugleich in den erweiterten Synodalausschuss. Das Stichwort »Rechtskontinuität« bestimmte alle Verhandlungen, diese war wichtig, um gegenüber der Landesregierung als Kirche bestehen zu können. Fast ängstlich war man darauf bedacht, so viel als möglich aus der Zeit vor Krieg und Revolution in die neue Situation zu übernehmen, was reformwillige Kräfte wie Herz ärgerte. Sie sahen die Chance eines wirklichen Neuanfangs vergeben. So bei der Frage, wer die Synode wählen dürfe und wie viel Mitspracherecht Laien haben sollten. Bis heute basiert die Zusammensetzung der sächsischen Landessynode auf dem Vorschlag, den Herz für den Aktionsausschuss erstellt und in die Verhandlungen des Kirchentags 1919 und der Synode eingebracht hatte: ein Drittel Pfarrer und zwei Drittel Laien.7

3 4 5 6 7

Vgl. Nikola Schmutzler, Evangelisch-sozial als Lebensaufgabe. Das Leben und Wirken von ­Pfarrer Johannes Herz (1877–1960), Leipzig 2013, S. 175–186. Vgl. ebd., S. 204–208. Übergangsgesetz für das Volksschulwesen vom 22. Juli 1919, § 2. In: Sächsisches Gesetz- und Verordnungsblatt, 15 (1919), S. 171. Vgl. zum Religionsunterricht Schmutzler, Evangelisch-sozial, S. 276–287. Vgl. Johannes Herz/Alfred Jeremias (Hg.), Denkschrift des freien Arbeitsausschusses der sächsischen ev.-luth. Landeskirche zur Mitarbeit bei der bevorstehenden kirchlichen Neuordnung, Leipzig 1918, S. 25–33.

138

Nikola Schmutzler

Herz wurde in der Synode in den Verfassungsausschuss gewählt und übernahm das Amt des Schriftführers. Diesem Ausschuss oblag die schwierige Aufgabe, eine neue Verfassung für die sächsische Landeskirche zu erarbeiten. In der Schlusssitzung der Synode wurde die für die Handlungsfähigkeit der Landeskirche wichtige Wahl des Synodalausschusses vorgenommen. Die drei weltlichen Synodalen, Friedrich Seetzen, Hofrat Arthur Löbner, Alfred von Nostitz-Wallwitz, und die drei geistlichen, Superintendent Johannes Neumann, Johannes Herz und Ludwig Ihmels, bildeten zusammen mit fünf Vertretern des Landeskirchenamtes das neue Kirchenregiment. Sie übernahmen die Aufgaben der vormaligen in evangelicis beauftragten Staatsminister. Bei der Wahl zur Elften Landes­synode unterlag Herz Pfarrer Erich Stange, auch eine erhoffte Berufung durch das Landeskonsistorium erfolgte nicht, damit schied Herz aus der Synode und dem ­Synodalausschuss aus. Ob seine liberale Haltung den Ausschlag dafür gegeben hat, muss offenbleiben.8

Aufgaben im Pfarramt Seit 1915 war Johannes Herz Pfarrer in der noch jungen Gemeinde Leipzig ­Gohlis-Nord. Die Gemeinde war erst zwei Jahre zuvor aus der Friedensgemeinde ausgegründet worden. Vieles war noch provisorisch, der Gemeinde fehlten eigene Räume, zum Gottesdienst versammelte sie sich in einem »Betsaal«, dabei handelte es sich um die Aula einer am Rand des Gemeindegebiets liegenden Schule. Das Aufgabenfeld für Herz war groß. Eine der ersten war die Gründung einer »Kinderbewahranstalt« in der Gemeinde. Herz hatte dem Frauenverein seine Beobachtung mitgeteilt, dass zu viele Kinder tagsüber unbeaufsichtigt seien, weil der Vater im Feld und die Mutter auf Arbeit wären, dem sollte abgeholfen werden. Der Vorschlag fiel auf fruchtbaren Boden, und zusammen mit dem Frauenverein und dem Kirchenvorstand wurde er umgesetzt: 1917 konnte eine Kinderbewahranstalt als Hildegardstift9 eröffnet werden. Eigene Gemeinderäume erhielt man erst nach dem Ersten Weltkrieg durch die Anmietung und den späteren Kauf eines ehemaligen Soldatenheims. Das Heim sollte eine Übergangslösung sein, da mit dem Bau einer eigenen Kirche zugleich neue Gemeinderäume entstehen sollten. Bis heute dient allerdings das ehemalige Soldatenheim in 8

9

Walther Feurich sah den Grund für das Ausscheiden von Herz darin, dass er als erster liberaler Theologe im Kirchenregiment zu liberale Thesen vertrat. Vgl. Walther Feurich, »Überleitung« oder Neuanfang? Zur kirchlichen Umgestaltung in Sachsen 1918/19. In: Walter Bredendiek (Hg.), Zwischen Aufbruch und Beharrung. Der deutsche Protestantismus in politischen Entscheidungsprozessen, Berlin (Ost) 1978, S. 63–89, hier 86. Benannt nach Hildegard Bleichert (1855–1928), die für die Kinderbewahranstalt 10 000 Mark gestiftet hatte.

Johannes Herz

139

der Hans-Oster-Straße als Gemeindehaus, in dem inzwischen auch der Kindergarten untergebracht ist. Wie wichtig und identitätsstiftend diese Räume für die Gemeinde waren, lässt sich daran ablesen, dass der Kirchenvorstand beschlossen hatte, mit der Einweihung der Räume die Namensgebung der Gemeinde als ­»Versöhnungsgemeinde« zu verbinden.10 Seit ihrer Gründung hatte die Gemeinde Spenden für den Bau einer eigenen Kirche gesammelt. Zwar hatte die Stadt Leipzig 1920 der Gemeinde ein Grundstück für den Bau als Patronatsgeschenk überlassen, um sich weiterhin das Kollaturrecht zu erhalten, doch hatte sich der Baubeginn durch den Ersten Weltkrieg und die Inflation immer weiter verzögert. 1928 wurde ein Architektenwettbewerb mit sehr genauen Angaben über die neue Kirche ausgelobt. Herz hatte sich im Vorfeld intensiv mit modernen Kirchenbaukonzepten wie dem Wiesbadener Programm11 auseinandergesetzt und seine Ideen in die Ausschreibung einfließen lassen. Die Kirche wurde schließlich von dem Architekten Hans Heinrich Grotjahn gebaut. An der Innenausstattung waren der Leipziger Bildhauer Alf Brumme und der Berliner Maler Odo Tattenpach maßgeblich beteiligt. Über das Programm der Kirche und dessen Intention berichtete Herz ausführlich in der Festschrift zur Weihe und in dem Buch »Ein moderner evangelischer ­Kirchenbau«.12 Darin kommt deutlich das damals moderne liberale theologische Profil von Herz zum Ausdruck. So sollte der Innenraum nicht mit »altchristlichen, der heutigen Gemeinde unverständlichen und zur Schablone gewordenen Symbolen – Monogramm Christi, A und O, Taube, Fisch, Ähre, Weintraube usw. – sowie [den] üblichen aus der katholischen Zeit überkommenen Altar- und Kanzelbehängen überfrachtet werden«.13 Den Kirchenraum dominiert eine vier Meter hohe Christusplastik, die Christus als den Überwinder von Kreuz und Tod darstellt. Der rechte Arm weist zum Himmel und damit auf Gott hin. Diese Geste konnte ­jedoch in den folgenden Jahren durchaus missverständlich gedeutet werden.

10

Vgl. Eine moderne evangelische Kirche und die Versöhnungsgemeinde. Hg. vom Ev.-luth. Kirchenvorstand der Versöhnungsgemeinde Leipzig-Gohlis, Leipzig 1994, S. 55–59; Akten der zuständigen Superintendentur (Ephoralarchiv Leipzig [EphAL], I–B 130, Schrank 8, Bl. 84 f.). 11 Das Wiesbadener Programm forderte die Einheit von Altar, Kanzel und Orgel, möglichst auf der Mittelachse des Kirchenraums. Vgl. Harold Hammer-Schenk, Kirchenbau IV. 19. und frühes 20. Jahrhundert. 4. Die großen Pfarrkirchen. 3. Das Wiesbadener Programm. In: Theologische Realenzyklopädie, Band 18, Berlin (West) 1989, S. 498–514, hier 507. 12 Vgl. Versöhnungsgemeinde und Versöhnungskirche. Festschrift zur Weihe der Versöhnungskirche in Leipzig-Gohlis, Leipzig 1932; Architekt B. D. A. Hans Heinrich Grotjahn, Ein moderner evangelischer Kirchenbau. Die Versöhnungskirche in Leipzig. Mit einer Einleitung von Johannes Herz, Berlin 1932. 13 Grotjahn, Kirchenbau, S. 23.

140

Nikola Schmutzler

Politisches Engagement Johannes Herz war schon 1909 in Chemnitz als Kandidat des Freisinnigen Volksvereins14 für die Landtagswahl politisch aktiv gewesen. Er hatte überraschend ­Besuch von Mitgliedern des Vereins erhalten, die ihn gebeten hatten, die Kandidatur zu übernehmen. Herz hatte sich nach einigem Zögern bereit erklärt, aber nur unter gewissen Bedingungen. So müsse klargemacht werden, dass er der P ­ artei nicht angehöre, sondern wegen seiner evangelisch-sozialen Betätigung und seiner Haltung in der Schulfrage als Kandidat ausgewählt worden sei. Er würde sich nicht als Parteimann verpflichten und sich auf keinerlei Einzelheiten des Parteiprogramms festlegen lassen. Trotzdem hielt der Verein an der Kandidatur von Herz fest. Erwartungsgemäß unterlag Herz den anderen Kandidaten. Nach einer Auseinandersetzung mit dem Verein überwarf sich Herz mit selbigem und zog sich zunächst aus dem politischen Geschehen zurück. Es blieb »ein recht trüber [Eindruck]; der tiefe Eindruck von der völligen geistigen und sittlichen Versumpfung unseres politischen Lebens; krasse Unkenntnis und Oberflächlichkeit, schäbige Kampfesweise und Unwahrhaftigkeit auf allen Seiten«.15 Mit der liberalen Politik blieb Herz allerdings in Verbindung durch ­seine Arbeit im ESK und der daraus resultierenden Bekanntschaft mit Friedrich ­ ­Naumann und Martin Rade. So kam es, dass er im Dezember 1918 wegen der Kirchenfragen in den Vorstand der Leipziger Deutschen Demokratischen Partei (DDP) gewählt worden war. Im Frühjahr 1920 unterzeichnete Herz einen Aufruf an die Pfarrer, der sie zum Eintritt in die DDP bewegen sollte. Dieses Vorgehen fand selbst bei seinen Freunden wenig Zustimmung. 1931 geriet Herz erstmals in eine Auseinandersetzung mit der NSDAP. Er war mit einigen anderen Vätern beim Rektor der Thomasschule, die zwei seiner ­Söhne besuchten, vorstellig geworden, um ein Verbot der Zeitschrift des Nationalsozialistischen Schülerbundes (NSS) zu erreichen, außerdem erging ein Aufruf an die Eltern. Durch die »Parole. Kampfblatt der Leipziger Jugend« werde die Autorität von Schule, Lehrern und Elternhaus untergraben. Zudem führe die aggressive politische Agitation zu einer Verrohung innerhalb der Schülerschaft. In der Schule sei es Schülern durch ministerielle Verordnung verboten, Abzeichen politischer Parteien zu tragen und politische Zeitschriften zu lesen, zu kaufen, zu verkaufen und sich überhaupt parteipolitisch zu betätigen,16 der NSS aber dürfe ungehindert arbeiten. 14 Bei dem Freisinnigen Volksverein handelte es sich um eine linksliberale politische Partei. Vgl. Walter Tormin, Geschichte der deutschen Parteien seit 1848, Stuttgart 1968, S. 111 ff.; Wolfgang Schmierer, Freisinnige Volkspartei. In: Gerhard Taddey (Hg.), Lexikon der deutschen Geschichte, 2. Auflage Stuttgart 1983, S. 385. 15 Rundbrief Herz an seine Geschwister vom 24.11.1909 (StAL, Na Herz, 9/1). 16 Vgl. Dr. jur. Kremnitzer an Herz vom 14.10.1931 (Universitätsarchiv Leipzig, Nachlass Herz [UAL, Na Herz], 32/1, unpag.).

Johannes Herz

141

Daraufhin titelte die »Parole« in der nächsten Ausgabe: »Verbot des NSS? Ist das wahr, Herr Pfarrer Herz?« Unter dieser Überschrift behauptete der Redakteur Horst Knöpke, dass Herz Unterschriften für ein Verbot des NSS sammle. Diese Aussage war verbunden mit der Anfrage an die Kirchenbehörde, ob sie dieses Vorgehen billige und ob auch die evangelische Kirche gedenke, sich auf Kriegsfuß mit dem Nationalsozialismus zu begeben.17 Dieser Artikel hatte zur Folge, dass sich der Leipziger Architekt Robert Koppe beim Superintendenten Oberkirchenrat Gerhard Hilbert über Herz beschwerte. Hilbert antwortete jedoch freundlich, dass die Behauptung unwahr sei und Herz kein Verbot des NSS anstrebe, sondern seine Anfrage rein pädagogischer Natur gewesen sei und nicht als politische Aktion eingestuft werden dürfe. Etwa zur gleichen Zeit wurde Herz vonseiten des in Dresden herausgegebenen »Der Freiheitskampf – Amtliche Tageszeitung der N.S.D.A.P. Gau Sachsen« angegriffen: Der beim Bau der Versöhnungskirche mit der Innenausgestaltung beauftragte Odo Tattenpach sei eingeschriebenes Mitglied der Kommunistischen Partei.18 Diesen Vorwurf griff die »Parole« auf und schrieb unter dem Titel »Pfarrer Herz, ein Kommunistenfreund?«: »Die Familie Herz wird allmählich zu einem öffentlichen Skandal. […] Wie lange bleibt Herr Dr. Herz noch evangelischer Pfarrer? Im Dritten Reich ist für solche Herren kein Platz mehr! Wann greift die zuständige Kirchenbehörde nun endlich ein?«19 Herz stellte daraufhin am 8. Januar 1931 Strafantrag gegen den verantwortlichen Schriftleiter Knöpke. Da dieser eine von Herz eingesandte Berichtigung druckte, wurde die Anzeige hinfällig.20 Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler und dem Ermächtigungsgesetz begannen die Nationalsozialisten mit der Gleichschaltung der Gesellschaft. Um das in der Kirche umsetzen zu können, wurden im Juli 1933 reichsweit Kirchenwahlen durchgeführt, bei denen die Glaubensgemeinschaft Deutsche Christen (DC)21 gewann und damit die kirchenleitenden Gremien wie Synode und Kirchenvorstände besetzen konnte. Die DC hatten massive Unterstützung von der NSDAP erhalten. Für die meisten Gemeinden waren Einheitslisten aufgestellt worden, deren Zusammensetzung vor allem durch die DC diktiert worden

17 Vgl. Parole. Kampfblatt der Leipziger Jugend, 10 (1931), S. 1 f. Ein Exemplar befindet sich EphAL, I–B 131, Schrank 8, Bl. 31. 18 Freiheitskampf – Amtliche Tageszeitung der N.S.D.A.P. Gau Sachsen vom 14. November 1931 (Abschrift, EphAL, I–B 130, Schrank 8, Bl. 165). Der Vorwurf blieb noch lange Mittel regionaler nationalsozialistischer Propaganda, ist aber unwahr. 19 Parole, 12 (1931), S. 4. 20 Vgl. UAL, Na Herz, 32/1, unpag. 21 Zu den Deutschen Christen vgl. Kurt Meier, Die Deutschen Christen. Das Bild einer Bewegung im Kirchenkampf des Dritten Reiches, Halle (Saale) 1967.

142

Nikola Schmutzler

war.22 Johannes Herz überlegte, in der Versöhnungsgemeinde tatsächliche Wahlen durchführen zu lassen. »Aber nun habe ich Deinen Andeutungen entnommen, dass doch eine möglichst große Sache aufgezogen und ein ›richtiger Kampf‹ entfacht werden soll«, schrieb ihm sein Kollege an der Versöhnungskirche Hermann Steiner und schloss die Frage an, ob sich dieser Kampf lohne, da mit einer Korrektur »von oben« zu rechnen sei. Auch mache er sich große Sorgen um das Wohlbefinden von Herz, da sich dieser von einem Kampf in den nächsten stürze, ohne sich Ruhe zu gönnen.23 Am 20. Juli 1933 wurden die Wahlliste der DC und der kirchgemeindliche Wahlvorschlag zurückgezogen, sodass nur noch die Einheitsliste als Wahlvorschlag übrig blieb und sich damit eine Wahl erübrigt hatte.24 Im Dezember 1933 hatten fünf Kirchvorsteher der Versöhnungsgemeinde eine Eingabe an den Superintendenten Hilbert gerichtet, in der die Stellung von den Pfarrern Herz und Hermann Steiner zu Adolf Hitler und dem national­ sozialistischen Staat kritisch angefragt wurde. Daraufhin führte Hilbert mit Herz und Steiner ein Gespräch, in dessen Verlauf eine Erklärung entstand, in der die beiden Pfarrer erklärten, dass »sie selbstverständlich durchaus auf dem Boden des national-­sozialistischen Staates Adolf Hitlers sich stellen und diesem Staate ebenso selbstverständlich zu dienen entschlossen sind. Ihre Aufgabe in der Gemeinde erkennen sie aber dahin, dass sie – in Übereinstimmung mit einem Wort Adolf Hitlers – nicht Politik, sondern Seelsorge treiben. Eben deshalb erstreben sie in erster Linie den Frieden.«25 Dieses Lippenbekenntnis zu Hitler war unterlegt mit dem Unterton, dass die Pfarrer nicht daran dachten, sich in der Gemeinde den Gleichschaltungsbestrebungen zu unterwerfen. Nach dieser Erklärung und einer Unterredung der Beschwerdeführer mit dem Superintendenten war die Beschwerde erledigt.26 In der Versöhnungsgemeinde war der dritte Pfarrer Feodor Kriewald DC-Mitglied und sah sich als Bindeglied zwischen den Pfarrern Herz und Steiner und den DC-Gemeindegliedern, wobei die Beteiligung der meisten von ihnen schnell erlahmte. Sie waren lediglich dem Aufruf der Partei gefolgt, um die Kirchenwahlen zu beeinflussen.27

22 Vgl. Herz an Walter Kluge vom 29.8.1933 (Akten der Kirchgemeinde Leipzig Gohlis-Nord, F 1). 23 Vgl. Steiner an Herz vom 18.7.1933 (UAL, Na Herz, 31/1), dort auch Zitat. 24 Vgl. Pfarramt der Versöhnungsgemeinde an Bezirkskirchenamt Leipzig-Stadt vom 21.7.1933 (Akten der Kirchgemeinde Leipzig Gohlis-Nord, F 1). 25 Gesprächsprotokoll vom 19.2.1934 (Abschrift, EphAL, I – B 130, Schrank 8, Bl. 176). 26 Vgl. Bezirkskirchenamt Leipzig an Evang.-luth. Landeskirchenamt Sachsen vom 26.2.1934 (EphAL, I–B 131, Schrank 8, Bl. 34). 27 Vgl. Katharina Herz, Rundbrief Nr. 1024 vom 14.11.1933 (StAL, Na Herz, 11/2).

Johannes Herz

143

Im »Kirchenkampf« Im Januar 1934 hatte sich in Leipzig eine Gruppe von »Zwischenfrontlern« – zwischen BK und DC stehend – zusammengefunden. Zunächst suchten sie die Nähe der Notbundpfarrer, mit ihnen gemeinsam wandten sie sich in einem Schreiben an Landesbischof Friedrich Coch gegen die Versetzung des Superintendenten von Dresden-Land, Hugo Hahn, in den Ruhestand.28 Als aber die Notbund­ pfarrer im Oktober 1934 beschlossen, die »Dahlemer Haltung« konsequent einzunehmen, sahen sich die »Zwischenfrontler« gezwungen, einen anderen Weg einzuschlagen. »Wir müssen zu einer Konstituierung einer Gruppe der Mitte in kürzester Zeit kommen«,29 schrieb Pfarrer Oskar Bruhns im November 1934 an Johannes Herz. Beigefügt waren fünf Thesen, wie eine solche Gruppe aussehen könne. Nach mehrfacher Überarbeitung der Thesen ging am 9. November 1934 ein von Herz verfasstes und von 39 Leipziger Pfarrern unterzeichnetes Schreiben an alle sächsischen Pfarrer, in dem vor einer durch die kirchenpolitische Entwicklung drohenden Spaltung gewarnt wurde. Noch bestehe die Möglichkeit der inneren Bereinigung der entstandenen Konflikte und der Erneuerung aus rein kirchlichen Kräften. Dazu bedürfe es einer Änderung des Kurses und eines Personalwechsels an der Spitze der Landeskirche, außerdem müssten sich alle aufbauwilligen Kräfte über Parteiinteressen hinweg sammeln. Nur so sei eine völlige Spaltung der Gemeinden und der Landeskirche abzuwenden.30 Eine konstituierende Versammlung sollte am 11. November stattfinden. In der gleichen Zeit hatte der Notbund ein Notkirchenregiment gebildet, ­außerdem war aus dem LKA ein Schreiben ausgegangen, in dem auf die Rechtmäßigkeit der Wahl Cochs hingewiesen und Disziplinarmaßnahmen bei Nichtanerkennung angedroht wurden.31 Aufgrund der Überzeugung, dass der kirchliche Friede nur durch den Rücktritt Cochs und des Kirchenregiments hergestellt werden könne, verfassten ­Johannes Herz, Oskar Bruhns und Heinrich Schumann ein Schreiben an die sächsischen Pfarrer, das in der Frage gipfelte: »Schließen Sie sich unserer Überzeugung an, dass der Herr Landesbischof Coch und seine Kirchenregierung das Opfer bringen und ihre Ämter niederlegen müssen?« Am Schreiben war ein Stimmzettel angebracht, der bis zum 4. Dezember 1934 an den Notar Rudolf Junghanns als ­einer

28 29 30 31

Vgl. Schreiben von 28 Leipziger Pfarrern an Landesbischof Coch vom 29. September 1934. In: Joachim Fischer, Die sächsische Landeskirche im Kirchenkampf 1933–1937, Halle (Saale) 1972, S. 199, Dok. 20. Bruhns an Herz vom 5.11.1934 (UAL, Na Herz, 32/2). Vgl. Rundschreiben vom 9.11.1934 (ebd.). Vgl. Rundschreiben des Landeskirchenamts OKR Müller (ebd.).

144

Nikola Schmutzler

neutralen Amtsperson geschickt werden sollte.32 Die Auszählung ergab, dass sich von circa 1 200 Pfarrern 720 gegen Coch aussprachen, 41 für Coch stimmten und sich 63 enthielten. Die übrigen antworteten nicht. Das Ergebnis wurde Coch am 8. Januar 1935 mitgeteilt, eine Abschrift ging an das Ministerium des Innern in Sachsen, die Deutsche Evangelische Kirche und den Reichsinnenminister. Unterschrieben hatten Herz, Bruhns, Schumann und Fritz Mieth, die sich als »Kleeblatt«, als Führung der entstehenden »Mitte« etablieren sollten. Coch erkannte die Abstimmung jedoch nicht an, sondern teilte allen Geistlichen der Landeskirche mit, dass er »das Opfer bringen und auf seinem Posten bleiben werde«, durch seinen »Rücktritt würde auch nur ein illegaler Zustand geschaffen werden«.33 Die »Mitte« jedoch begann sich nun zu formieren. Unter der Überschrift »Wie behandeln wir die gegenwärtigen kirchlichen Vorgänge und unsere Stellung dazu innerhalb unserer Gemeinden?« entstand ein vorläufiges Programm. Darin wurde der Rücktritt des Reichsbischofs Ludwig Müller und des Landesbischofs Friedrich Coch gefordert und die Bildung einer Kirchenleitung unter dem Bischof der hannoverschen Landeskirche, August Marahrens, begrüßt.34 Im Mai 1935 fand eine Besprechung zwischen Vertretern der Bekennenden Kirche (BK) und der »Mitte« in Krummenhennersdorf statt, um zu prüfen, ob man gemeinsam eine vorläufige Kirchenleitung für Sachsen bilden könne. Das Hauptziel der »Mitte« war, eine Spaltung zu verhindern und die kirchenpolitischen Streitigkeiten aus den Gemeinden fernzuhalten. Deshalb hatte Herz Richtlinien zur Überwindung der kirchenpolitischen Gegensätze innerhalb der Pfarrerschaft aufgestellt. Der erste Punkt lautete: Feststehen auf Schrift und Bekenntnis, der zweite: Treue zum »Dritten Reich« und seinem Führer.35 Nur innerhalb dieser Grenzen waren die Vertreter der »Mitte« bereit, sich zu bewegen. Die Gespräche führten zu keiner Einigung, es kam auf beiden Seiten zu Verstimmungen. Die Notbundpfarrer meinten, dass sich die Pfarrer nun nicht mehr zwischen BK und DC entscheiden müssten, sondern den bequemen, aber unwirksamen Mittelweg gehen könnten. Dagegen sahen die »Mitte«-Pfarrer in der unnachgiebigen ­»Dahlemer Haltung« der BK die Spaltung der Landeskirche vorgezeichnet. Als der im Juli 1935 zum Reichskirchenminister ernannte Hanns Kerrl anfing, in den verschiedenen Landeskirchen kirchenleitende Ausschüsse zur Neuordnung und Befriedung einzusetzen, arbeiteten BK und »Mitte« in Sachsen wieder 32 Schreiben von 129 Pfarrern der Mittelgruppe an die Geistlichen der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Sachsens 26.11.1934. In: Fischer, Landeskirche, S. 197 f., Dok. 18 (auch UAL, Na Herz, 32/2). 33 Rundbrief Coch vom 30.11.1934 (UAL, Na Herz, 32/2). 34 Vgl. Endgültige Fassung der »Mitte« vom 4.1.1935 (UAL, Na Herz, 32/3). 35 Vgl. Richtlinien zur Überwindung der kirchenpolitischen Gegensätze innerhalb der Pfarrerschaft (UAL, Na Herz, 32/2).

Johannes Herz

145

enger zusammen.36 Herz unterbreitete Kerrl den Vorschlag, den DEKA als kirchenführendes Organ wiederzubeleben, um die Kirche zu einen.37 Der Vorschlag blieb allerdings unbeantwortet. Am 28. November 1936 bildeten »Mitte« und BK einen Vertrauensrat zur Unterstützung des Landeskirchenausschusses unter dem Vorsitz von Oskar Bruhns.38 Vonseiten der »Mitte« gehörten ihm das »Kleeblatt« Bruhns, Schumann, Herz und Mieth, seitens der BK Hugo Hahn, Karl Fischer, Georg Prater und Hermann Klemm an. Im Januar 1937 trat der den DC nahestehende Superintendent Karl Semm als »Unabhängiger« in den Vertrauensrat ein. Auch auf ephoraler Ebene wurde versucht, Vertrauensausschüsse zu bilden.39 Unter der Leitung von Landeskirchenausschuss, Vertrauensrat und ephoralen Vertrauensausschüssen gelang eine weitgehende Befriedung der sächsischen Landeskirche. Schon Ende 1936 zeichnete sich ab, dass die Kirchenausschusspolitik ­Kerrls scheitern würde. Nachdem der Vorsitzende des Reichskirchenausschusses, Wilhelm Zoellner, im Februar 1937 von seinem Amt zurückgetreten war, wurde von Hitler die Wahl einer Generalsynode verordnet, damit sich die Kirche »in voller Freiheit nach eigener Bestimmung des Kirchenvolkes sich selbst die neue Verfassung und damit eine neue Ordnung«40 geben könne. Johannes Herz war vom Rat der Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (»Lutherrat«) als Reichsredner für Wahlkampfveranstaltungen in Mecklenburg und Thüringen vorgesehen.41 Die Wahlvorbereitungen waren jedoch im Sommer 1937 verboten worden, als sich immer deutlicher abzeichnete, dass die DC nicht gewinnen würden. Ein Wahltermin wurde nie bekannt gegeben. Am 10. August 1937 war der sächsische Landeskirchenausschuss von Kerrl abberufen worden. Die Dienstaufsicht führte nun Oberkirchenrat Johannes ­Klotsche. Aber weder BK noch »Mitte« erkannten Klotsche als rechtmäßiges ­Kirchenregiment an. Es gab verschiedene Eingaben an Kerrl und Hitler.

36 Vgl. Gesetz zur Sicherung der Deutschen Evangelischen Kirche vom 24.9.1935. Abgedruckt in Siegfried Hermle/Jörg Thierfelder (Hg.), Herausgefordert. Dokumente zur Geschichte der Evangelischen Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 2008, S. 294 f. 37 Vgl. Herz an Kerrl vom 30.9.1935 (UAL, Na Herz, 32/3). 38 Anders als der vom Reichskirchenministerium eingesetzte Landeskirchenausschuss war der Vertrauensrat ein aus der Kirche heraus gebildetes Gremium. Er ist nicht zu verwechseln mit dem 1939 auf Reichsebene eingesetzten Geistlichen Vertrauensrat. 39 Vgl. Hermann Klemm, Im Dienst der Bekennenden Kirche. Das Leben des sächsischen Pfarrers Karl Fischer 1896–1941, Göttingen 1986, S. 295. 40 Wahlerlass Hitler vom 15.2.1937. In: Hermle/Thierfelder (Hg.), Herausgefordert, S. 423. 41 Vgl. Geiger an Herz vom 9.4.1937; zustimmende Antwort Herz vom 16.4.1937 (UAL, Na Herz, 33/1).

146

Nikola Schmutzler

Angesichts dieser Entwicklungen richtete Herz ein Schreiben, »betreffend die gegenwärtige Lage der Sächsischen Landeskirche«, an Staatssekretär Otto Meissner in der Kanzlei Hitlers.42 Darin stellte Herz dar, dass von den 1 200 sächsischen Pfarrern etwa 800 der »Mitte« angehörten, welche den Radikalismus von BK und DC ablehnten, aber volles Vertrauen zum Landeskirchenausschuss hätten: »Dem Einfluss dieser Mittelgruppe ist es vor allen Dingen zu verdanken, dass sich in Sachsen auch der sächsische Landesbruderrat hinter den L[andes]K[irchen]Ausschuss stellte und freiwillig auf alle kirchenregimentlichen Ansprüche verzichtete. Gerade unsere ständige Fühlungnahme mit der BK hat Sachsen seit Dez[ember] 1935 zu einer Kirche gemacht, in der weithin Ordnung und Frieden herrscht.« Auch mit Vertretern der DC habe man Gespräche führen wollen, diese seien aber auf Druck »von oben« von den DC abgesagt worden. In der augenblicklichen Situation bestehe die Gefahr, dass sich viele »Mitte«-Pfarrer durch die Installation des »Systems Klotsche« der BK zuwenden würden, was eine verhängnisvolle Radikalisierung zur Folge haben würde. Herz bat Meißner abschließend darum, diese Entwicklung durch die Absetzung von »Coch und Konsorten« zu verhindern.43 Die Eingaben blieben erfolglos, das »System Klotsche« wurde nicht abgesetzt. Rigide ging dieser mit Disziplinarmaßnahmen gegen diejenigen vor, die sich ihm widersetzten. Der Vorschlag, den Vertrauensrat gegen Klotsche als Notkirchenregiment auszurufen, scheiterte am Widerstand der »Mitte«.44 Zum endgültigen Bruch zwischen BK und »Mitte« kam es nach dem Erlass der 17. Durchführungsverordnung (DVO) des Gesetzes zur Sicherung der Deutschen Evangelischen Kirche am 10. Dezember 1937.45 Sie übertrug dem Leiter der obersten kirchlichen Verwaltungsbehörde – in Sachsen Johannes Klotsche – die Leitung der Landeskirche.46 Somit war aus dem LKA eine reine Verwaltungsbehörde geworden und das »System Klotsche« weiter gestärkt. Vertreter der BK verfassten daraufhin eine Kanzelerklärung gegen Klotsche und die von ihm verhängten Disziplinarmaßnahmen, doch die »Mitte« weigerte sich, die Erklärung zu verlesen: »Nachdem sich schon seit längerer Zeit für die Zusammenarbeit von BK und Mitte in Sachsen steigende Schwierigkeiten ergeben hatten, haben wir Vertreter der Mitte uns neuerdings von den Plänen der BK grundsätzlich geschie-

42

Meissner war bereits Leiter des Präsidentenbüros in der Weimarer Republik und arbeitete 1925 unter Reichsgerichtspräsident Walter Simons, der nach dem Tod Friedrich Eberts die Amtsgeschäfte führte. Diese Bekanntschaft wird Herz unter anderem bewogen haben, Meissner als Adressaten zu wählen. 43 Herz an Meissner vom 2.8.1937 (UAL, Na Herz, 33/2; dort auch Zitat). 44 Vgl. Kurt Meier, Der evangelische Kirchenkampf, Band 3: Im Zeichen des Zweiten Weltkrieges, Halle (Saale) 1984, S. 357. 45 17. Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Sicherung der Deutschen Evangelischen Kirche (10.12.1937). In: Hermle/Thierfelder (Hg.), Herausgefordert, S. 440 f. 46 § 2. Vgl. ebd., S. 441.

Johannes Herz

147

den. Wir haben klar und deutlich erklärt, dass wir aus sehr ernsten Erwägungen heraus da nicht mitgehen können und dass nach unserer Überzeugung davon die Kirche nur Schaden haben wird«,47 schrieb Herz im Februar 1938. Da durch diese Weigerung die Erklärung von weniger als der Hälfte der Pfarrer verlesen wurde, blieb die Wirkung mäßig. Im März schrieb Herz an Kerrl, wie die 17. DVO ergänzt werden müsse, um eine wirkliche Befriedung der Landeskirche zu erreichen. Es müsse eine ­geistliche Leitung eingesetzt werden, die nicht aus einem kirchenpolitischen Lager – damit meinte Herz nur BK und DC – komme und die Wortverkündigung, Seelsorge, theologische Prüfungen, Aus- und Fortbildung unter sich habe.48 Auch im von »Mitte« und BK gebildeten Vertrauensrat gab es »Misstrauen, Aneinandervorbeireden und Missverstehen«.49 Man einigte sich trotzdem da­rauf, weiter zusammenzuarbeiten, nun mit verstärktem Interesse an der Ausbildung der Kandidaten. Der Vertrauensrat hatte einen Fünferrat eingesetzt, dem Herz seit 1937 angehörte. Das Gremium nahm denjenigen Kandidaten, die sich nicht vom landeskirchlichen Prüfungsausschuss prüfen lassen wollten, in München das Examen ab. Außerdem war es die Aufgabe des Fünferrats, die Kandidaten, die sich nicht dem Landeskirchenamt unterstellen wollten, in Vikariate zu vermitteln. Die BK wollte sich mit der »Mitte« dahingehend einigen, dass die in München geprüften Kandidaten von BK- und »Mitte«-Superintendenten ordiniert werden sollten. Dagegen sperrten sich die »Mitte«-Superintendenten, da sie – so der Vorwurf der BK – sich scheuen würden, gegen geltendes Recht zu verstoßen, und »immer noch das Heil von Verhandlungen im Kirchenministerium« erwarteten.50 So empfahl auch Herz den Kandidaten, für die er keine geeignete Stelle fand, bei der eine Unterstellung unter das LKA nicht notwendig war, sich dem LKA zu unterstellen. Lieber sollten sie das Evangelium rein und lauter verkündigen, als auf der Straße zu stehen, Dresden und damit die Kontrolle durch das LKA sei weit weg.51 Der Kirchenkampf wurde mit Beginn des Zweiten Weltkriegs weniger heftig geführt, da Hitler verfügt hatte, keine innenpolitischen Unruheherde zu erzeugen. Doch blieb der sächsische Gauleiter Martin Mutschmann bei seinem kirchenfeindlichen Kurs. Der Christliche Verein junger Männer (CJVM) und das Männerwerk wurden von ihm aufgelöst, konfessionelle Schulen geschlossen und alle Kindergärten der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) unterstellt. Das betraf auch den Kindergarten »Hildegardstift« der V ­ ersöhnungskirchgemeinde

47 48 49 50 51

Herz an Pokojewski vom 10.2.1938 (UAL, Na Herz, 33/3). Vgl. Herz an Kerrl vom 11.3.1938 (ebd.). Protokoll der Sitzung des Vertrauensrats im Januar 1938 (ebd.). Bericht von Hahn vom April 1938. In: Fischer, Landeskirche, S. 266 f., Dok. 147. Vgl. Akte »Kandidatenbetreuung 1937/1938« (UAL, Na Herz, 19/3).

148

Nikola Schmutzler

Gohlis, den Herz 1917 gegründet hatte.52 Christliche Zeitschriften konnten mit der vorgeschobenen offiziellen Begründung Papiermangel nicht erscheinen. Auch das Organ des ESK »Evangelisch-sozial« war davon betroffen, der Herausgeber Herz wurde von der Reichsschriftleiterliste gestrichen.53 Das dargestellte Handeln von Herz, das als exemplarisch für die »Mitte« angesehen werden kann, zeigt, wie der Versuch, sich innerhalb der gesetzlichen Vorgaben zu bewegen, zu einer Lähmung führen kann und Aktionen wie das Misstrauensvotum gegen Coch letztendlich wirkungslos machen. Für Herz sind auch seine liberale Prägung zu nennen, die mit ihr einhergehende Toleranz und seine auf Verständigung beruhende und nach Verständnis suchende Haltung. Prüfstein für das Handeln müsse sein, ob es tatsächlich dem Aufbau der Gemeinde diene oder das Gemeindeleben erschüttere.54 Diese Ausgleichsbemühungen waren aber auch ein Grund dafür, dass die Landeskirche aus dem Kirchenkampf relativ unbeschadet herausging.

Nach dem Krieg Nach dem Zweiten Weltkrieg war die sächsische Landeskirche beauftragt worden, sich selbst von nationalsozialistischen Pfarrern zu reinigen. In jeder Ephorie sollte dafür ein Kollegium aus vier bis fünf Pfarrern, geistliche Vertrauenskreise genannt, gebildet werden. Johannes Herz war in den Vertrauenskreis, der für die Selbstreinigung in der Ephorie Leipzig-Stadt zuständig war, gewählt worden.55 Die Selbstreinigung geschah allerdings sehr seelsorgerlich, immer wieder wurde die Landeskirche von den Besatzern gedrängt, härter bei der Entnazifizierung durchzugreifen und das ganze Prozedere schneller zu beenden.56 Nach dem krankheitsbedingten Rücktritt von Oskar Bruhns wurde Herz im Dezember 1945 zum stellvertretenden Superintendenten für den Kirchenbezirk Leipzig-Stadt gewählt. Auf landeskirchlicher Ebene arbeitete er im Verfassungsausschuss mit und war Synodaler der 16. Sächsischen Landessynode. Das für Herz seit 1917 wichtige Eintreten für die Erhaltung des Friedens bekam in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg einen starken Schub und eine ganz neue politische Heimat. Eine Radikalisierung scheint bei Herz durch die 52 53 54 55

Vgl. Schmutzler, Evangelisch-sozial, S. 80 f. Vgl. ebd., S. 163–167. Vgl. Unsere Haltung (UAL, Na Herz, 33/3). Vgl. Georg Wilhelm, Die Diktaturen und die evangelische Kirche. Totaler Machtanspruch und kirchliche Antwort am Beispiel Leipzigs 1933–1958, Göttingen 2004, S. 241. 56 Vgl. dazu ausführlich Markus Hein, Die sächsische Landeskirche nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs (1945–1948). Neubildung der Kirchenleitung und Selbstreinigung der Pfarrerschaft, Leipzig 2002.

Johannes Herz

149

Eindrücke des Zweiten Weltkriegs und den Verlust seines jüngsten Sohnes, der gefallen war, eingetreten zu sein. So ließ er sich in der SBZ und später der DDR, wenn es um den Frieden ging, geradezu blindlings von den politischen Machthabern, die sich als Bewahrer des Friedens inszenierten, vereinnahmen. Diese wiederum wussten sich auf Befürworter in den Reihen derer angewiesen, die dem neuen System insgesamt ablehnend oder zumindest abwartend gegenüberstanden. Seit 1949 fand die »Friedensarbeit« in der SBZ/DDR institutionelle Formen. So wurden staatlich organisierte Friedenskundgebungen gehalten. Dafür waren auch Pfarrer als Redner eingeladen, die dabei jedoch nach dem Willen der Kirchenleitung größte Zurückhaltung üben sollten.57 Johannes Herz ließ sich durch diese Weisungen und Ermahnungen nicht in seinem Eifer für die Friedenssache bremsen, immer wieder betonte er die Überparteilichkeit dieser Arbeit. Seine Friedensarbeit fand in den offiziellen Friedensgremien der DDR ihre institutionelle Anbindung. So gehörte er dem Kreisfriedensrat und dem Kreisfriedenskomitee Leipzig, dem Landesfriedenskomitee Sachsen bis 1952, danach dem Bezirksfriedensrat und dem Deutschen Friedensrat (DFR) an. An den Deutschen Friedensrat angebunden war der christliche Arbeitskreis für die Erhaltung des Friedens, dessen Mitbegründer und zeitweiliger Vorsitzender Herz war. Seinen Höhepunkt erreichte Herz’ »Kampf um den Frieden« 1950, als er auf dem sowjetisch dominierten Weltfriedenskongress von Warschau als deutscher Vertreter in den Weltfriedensrat (WFR) gewählt wurde. Christliche Existenz, so der Tenor seiner Äußerungen in dieser Zeit, muss geprägt sein von dem unbedingten Willen zum Frieden. Politisch war Johannes Herz seinen liberalen Anfängen treu geblieben und in der Nachfolgepartei der DDP, der LDP, zu Hause, zu deren Gründungsmitgliedern er zählte. Vonseiten der Kirche wurde Herz weiter für soziale Fragestellungen zurate gezogen. So verfasste er im Oktober 1946 die Richtlinien zur Neugestaltung der sozial-kirchlichen Arbeit der Evangelischen Kirche in Deutschland58 und erhielt einen Sitz in der Kammer für soziale Ordnung der EKD.59 Im Jahr 1953 bat Johannes Herz das Landeskirchenamt um seine Emeritierung zum 30. September.60 Am 31. Oktober wurde er in den Ruhestand versetzt. Bis zu seiner Emeritierung am 1. November 1953 verwaltete Johannes Herz trotz seines hohen Alters von 76 Jahren das Pfarramt der Versöhnungsgemeinde. 57 58 59 60

Vgl. Protokoll der Ephoralkonferenz vom 18.3.1949 (EphAL, I–C 18, Schrank 1, Fach 2, Bl. 217). Vgl. Richtlinien (AESK, A II 25b; UAL, Na Herz, 29/1). Die Richtlinien entstanden in Zusammenarbeit mit Prälat Schoell. Auf der Sitzung am 22.3.1949. Vgl. Karl-Heinz Fix (Bearb.), Die Protokolle des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Band 3: 1949, Göttingen 2006, S. 113. Vgl. Herz an Evang.-luth. Landeskirchenamt Sachsens vom 29.5.1953 (Akten der Kirchgemeinde Leipzig Gohlis-Nord, F I).

150

Nikola Schmutzler

Nach kurzer und schwerer Herzkrankheit starb Katharina Herz am 13. März 1955. Ihr Tod traf Johannes Herz schwer. Er sei nunmehr allein, wie er in mehreren Briefen mitteilte.61 Am 6. November 1960 starb Johannes Herz in Leipzig. Er wurde im Familiengrab auf dem Gohliser Friedhof beigesetzt, in dem bereits sein Sohn Wilfried, sein Bruder Reinhard und seine Frau Katharina lagen.

61

Vgl. UAL, Na Herz, 3/4.



Mike Schmeitzner  Oskar Bruhns: Ein »ehrlicher Makler« im Kirchenkampf?

Heute nahezu unbekannt, war Oskar Bruhns vor 1945 einer der einflussreichsten und bekanntesten Pfarrer in Sachsen. Als Vertreter der kirchlichen »Mitte« in Leipzig war er dort Pfarramtsleiter von St. Nikolai, dazu stellvertretender Superintendent von Leipzig und bis 1938 Vorsitzender des Vertrauensrates, eines Zusammenschlusses von Vertretern der »Mitte« und der Bekennenden Kirche (BK) zur Abwehr der radikalen nationalsozialistischen Deutschen Christen (DC) in Sachsen. Überdies bekleidete er den Posten eines Vizepräsidenten des Gustav-Adolf-Vereins (GAV), dem als Unterstützungswerk für die deutsche Auslandsdiaspora erhebliche Bedeutung zukam. Sein Engagement in diesem Verein resultierte ganz wesentlich aus dem Umstand seiner eigenen baltendeutschen Verwurzelung, die er übrigens mit Hugo Hahn, dem späteren Landesbischof, gemeinsam hatte. Doch Bruhns war gleichzeitig auch Mitglied der NSDAP und seit 1938 geschätzter Verhandlungspartner von Reichskirchenminister Hanns Kerrl, was eine zeitweilige Amtsenthebung in Sachsen durch das dortige braune Kirchenregiment Johannes Klotsches jedoch ebenso wenig ausschloss wie einen zeitweiligen Verlust der NSDAP-Mitgliedschaft. Wie aber lässt sich eine derartige Konstellation erklären, die sich – zumindest auf den ersten Blick – auszuschließen scheint? Und daraus folgend: Welchen kirchenpolitischen Kurs hat Bruhns seit Beginn des »Dritten Reiches« eigentlich verfolgt? Unterlag dieser Kurs zeitlichen Konjunkturen und Wandlungen? Wenn ja, wie waren diese motiviert? Und welche Rolle spielte hierbei seine baltendeutsche Herkunft?1

1

Ich danke Prof. Dr. Joachim Schneider, dem Enkelsohn von Oskar Bruhns, für die gewährte Einsicht in den Nachlass seines Großvaters.

152

Mike Schmeitzner

Baltendeutsche Herkunft und sibirisches Schicksal: »Visitenkarten« für den Leipziger Gustav-Adolf-Verein Ohne die Welt des multiethnischen historischen Baltikums ist Oskar Bruhns So­zialisierung und kirchenpolitische Prägung kaum zu erklären. Er wurde am 31. März 1881 im estnischen Nissi als Sohn des evangelischen Pfarrers Emil Bruhns geboren. Von seinen acht Geschwistern starben bereits vier im Kindesalter, darunter der erstgeborene Sohn Immanuel. Der Familienpatriarch Emil Bruhns war der Enkel eines im 18. Jahrhundert nach Reval (heute Tallinn) eingewanderten mecklenburgischen Bäckers. Spätestens seit der Ordination von Emil Bruhns zum evangelisch-lutherischen Pfarrer und der Übernahme mehrerer Hektar Ackerfläche zur Selbstbewirtschaftung gehörte die Familie zur deutschen Oberschicht im Baltikum. Diese soziale und ethnische Verankerung brachte die Familie in ein spezifisches Verhältnis zum russischen Staat und zur estnischen Mehrheitsbevölkerung. Als Teil des deutschen Wirtschafts- und Bildungsbürgertums im Baltikum stemmte sich die Familie gegen die strikten Russifizierungsbemühungen des neuen, autokratisch auftretenden Zaren Alexander III. wie gegen das erwachende Nationalbewusstsein der mehrheitlich ländlich und bäuerlich geprägten Esten. Es war diese Konstellation, die bis zum Untergang des »Russischen Reiches« 1918 zur Verschärfung der nationalen Verhältnisse beitrug und das spezifische, durch die Traditionen des Deutschen Ritterordens geprägte D ­ iaspora-»Deutschtum« in einen gleichfalls nationalistisch geprägten Abwehrmodus manövrierte. Die evangelisch-lutherische Kirche, die auch die allermeisten Esten mit umfasste, betrachtete sich dabei gerade mit Blick auf die Russifizierungsbemühungen des russischen Staates und seiner orthodoxen Kirche selbst als Bollwerk.2 Um einen national-deutschen Bildungsgang seiner Kinder zu gewährleisten, unterrichtete der xenophob geprägte Familienpatriarch diese zuerst selbst und schickte sie danach auf deutsche evangelische Schulen in St. Petersburg. Auch Oskar Bruhns legte – zusammen mit einem älteren Bruder Hugo Hahns – auf der deutschen St. Annenschule in St. Petersburg sein Abitur ab, um anschließend in die beruflichen Fußstapfen seines Vaters zu treten: Er studierte zwischen 1900 und 1905 an der Universität Dorpat (Estland) Theologie und hörte ein Semester Vorlesungen an der Berliner Theologischen Fakultät, wo seit 1888 der gebürtige Balte Adolf [von] Harnack Kirchengeschichte lehrte. Dass Bruhns in Dorpat überhaupt noch in deutscher Sprache studieren konnte, hatte damit zu tun, dass die dortige evangelisch-lutherisch geprägte Theologische Fakultät als einzige von

2

Vgl. Hugo Bruhns, Beiträge zu einer Geschichte der Familie Bruhns, Neubrandenburg 1910, S. 47–54 (NL Oskar Bruhns); Oskar Bruhns, Kindheitserinnerungen, S. 30 [maschinenschriftliches Manuskript] (NL Oskar Bruhns). Das Manuskript entstand ca. 1941/42.

Oskar Bruhns

153

der Russifizierung ausgenommen worden war.3 Nach der Absolvierung eines Probejahres in der Pfarrei seines Vaters wurde Oskar Bruhns Anfang 1907 in der Domkirche von Reval zum evangelisch-lutherischen Pfarrer ordiniert. 1907 bis 1909 arbeitete er als dritter Pfarrer an der Johanniskirche zu Reval, wo er gleichzeitig auch als Geistlicher die Gefängnisse und Altersheime »bediente«. 1909 wurde er an das Kirchspiel St. Petri in Jerwen berufen. Hier hatte er in einem Einzugsbereich von 27 Dörfern in deutscher und estnischer Sprache zu predigen und überdies die dazugehörenden Landschulen zu »inspizieren«.4 Ein Dreivierteljahr nach Beginn des Ersten Weltkrieges wurde der drei Sprachen fließend beherrschende Pfarrer (Deutsch, Estnisch, Russisch) unter fadenscheinigen Vorwänden als Staatsfeind verhaftet und nach mehreren Monaten Haft von einem russischen Kriegsgericht zu lebenslanger Verbannung nach ­Sibirien verurteilt. Mit einem derart drakonischen Vorgehen gegen deutschstämmige Staatsbürger versuchte die russische Regierung auf die äußerst verlustreich verlaufenen Schlachten gegen die deutschen Armeen öffentlichkeitswirksam zu reagieren – mit Schlägen gegen die vorgebliche »Wühlarbeit« von inneren ethnischen Feinden. Für den damals 34-jährigen Familienvater bildete die Verurteilung eine tief greifende Zäsur, die sich auch gesundheitlich auswirken sollte. Noch während seines Transports nach Sibirien erkrankte er an der Lunge und erlebte mehrere lebensgefährliche Blutstürze. Nur durch die Hilfe seiner Frau Anna (geb. Sachsendahl), die er 1904 in Dorpat kennengelernt, 1907 geheiratet hatte und die ihn auf dem Transport begleitete, kam er am Verbannungsort in Südsibirien überhaupt lebend an. Dort erholte er sich aufgrund des günstigen Klimas relativ schnell, wobei er die Familie (seine beiden Töchter kamen 1916 nach, 1918 wurde die dritte Tochter geboren) zuerst als Bienenzüchter und Fischhändler durchzubringen versuchte. Erst nach der Februar­revolution 1917 und der dadurch ermöglichten Amnestie fand er eine Anstellung als Verwaltungsleiter einer Kooperative in der Kreisstadt Minusinsk. Da wegen des Bürgerkrieges an eine schnelle Rückkehr in die estnische Heimat nicht zu denken war, nahm er 1919 in Jekaterinburg eine Stelle als Pfarrer und Lehrer an einem deutschen Gymnasium an.5

3 4 5

Vgl. Erich Donnert, Die Universität Dorpat-Jurev 1802–1918. Ein Beitrag zur Geschichte des Hochschulwesens in den Ostseeprovinzen des Russischen Reiches, Frankfurt a. M. 2007, S. 58–69 und 90–95. Lebenslauf von Pfarrer D. Oskar Bruhns, o. D. [1946] (LKArch Dresden, 42/361, Bl. 4); Lebenslauf Pfarrer D. Oskar Alexander Bruhns, ca. 1934 (PfA St. Nikolai Lpz., 2.1.24, Bl. 1); Bruhns, Beiträge, S. 70 f.; vgl. auch Bruhns, Kindheitserinnerungen, S. 30. Vgl. Lebenslauf von Pfarrer D. Oskar Bruhns, o. D. [1946] (LKArch Dresden, 42/361, Bl. 4); Hugo Bruhns, Beiträge zu einer Geschichte der Familie Bruhns. Erste Fortsetzung, Neubrandenburg 1929, S. 17–24.

154

Mike Schmeitzner

Erst im Sommer 1920 glückte der Familie die Rückkehr nach Estland. Hier hatten sich die Verhältnisse jedoch grundlegend gewandelt: Aus der russischen Vorkriegsprovinz war ein souveräner Staat geworden, in dem die Deutschen eine Minderheit, aber nicht mehr die bevorrechtigte Elite bildeten. Der deutsche Einfluss wurde nun auch auf dem Land und in der Kirche gebrochen, was die beruflichen Aussichten des Rückkehrers deutlich verschlechterte und die nationalen Vorurteile und Zerrbilder noch einmal beträchtlich befeuerte. Für Emil Bruhns war dies alles nur ein Werk der Esten, Russen, »Roten« und Juden.6 Auf die »glorreiche« Vergangenheit der Deutschen schien eine düstere Zukunft zu folgen. So nahm Oskar Bruhns im Frühjahr 1921 einen »Ruf« des Gustav-Adolf-Vereins in Leipzig an, der dort seinen zentralen Sitz hatte. Vorübergehend lebte er mit seiner Familie in der Wohnung Hugo Hahns in Worbis,7 der ebenfalls von Estland nach Deutschland gewechselt war. Beide Familien verband ein enges Verhältnis, nicht zuletzt auch durch die vorübergehende Pfarrtätigkeit Hugo Hahns in Nissi, der Heimatgemeinde von Bruhns.8 Nach Leipzig umgezogen, entfaltete Bruhns zuerst als Wanderredner für den GAV und ab Anfang 1922 zugleich auch als vierter Pfarrer an der Markuskirche in Leipzig-Reudnitz ein reges Engagement. Zur Vortrags- und Sammeltätigkeit kam bald eine enorme publizistische Arbeit, die auch um die eigenen Erfahrungen in Russland k­ reiste.9 Hierbei thematisierte er unter anderem die Neuordnung in Estland, die für ihn – als Mitbetroffenen – lediglich ein Akt der »ungeheuerlichen Willkür« war, begangen von Esten an Deutschen. Sich für dieses bedrohte »Deutschtum« ­einzusetzen, war sein selbst gestellter Auftrag.10 Schon 1922 rückte er als Schriftführer in den Vorstand des einflussreichen Leipziger Zweigvereins des GAV auf, 1928 wurde er dort Heinrich Roehlings Stellvertreter und im selben Jahr dann Schriftführer im Centralvorstand.11  6 Emil Bruhns, Erinnerungen, S.  178–181 [maschinenschriftliches Manuskript] (NL Oskar Bruhns). Die Erinnerungen entstanden von 1916–1918 und 1922/23. Emil Bruhns starb 1928 in seiner estnischen Heimat.   7 Bei Worbis handelt es sich um eine Kleinstadt mit relevanter evangelischer Gemeinde im katholisch geprägten Eichsfeld.   8 Vgl. Emil Bruhns, Erinnerungen, S. 186 f.   9 Vgl. u. a. Oskar Bruhns, Ausblicke auf die kirchliche Erneuerung Russlands. In: Die evangelische Diaspora, 3 (1921/22), S. 37–44; ders., Die Lage der deutsch-evangelischen Kirche und des Deutschtums in Estland. In: ebd., S. 83–87; ders., Darf ein deutscher Diasporapfarrer seine Gemeinde im Stich lassen?. In: ebd., S. 143–147; ders., Deutsche Bauern in Sibirien. In: ebd., 6 (1924), S. 103–109; ders., Die »res graecae« im Baltenland. Der Versuch des russischen Imperialismus, die baltischen Provinzen gewaltsam in seinem Staatskirchentum zu unterwerfen. In: ebd., 9 (1927), S. 126–138. 10 Bruhns, Lage, S. 84. 11 Vgl. Bruhns, Beiträge, S. 24; Bericht des Leipziger Hauptvereins der evang. Gustav-Adolf-Stiftung über das Jahr 1924 und über die 76. Jahreshauptversammlung in Borna 1925 (EZA Berlin, 200/1/1.104, Bl. 16); Bericht des Leipziger Hauptvereins der evang. Gustav Adolf-Stiftung über das Jahr 1929 und über die 81. Jahreshauptversammlung in Oelsnitz i. V. 1929 (ebd., Bl. 242).

Oskar Bruhns

155

Wie erfolgreich Bruhns’ Arbeit in jener Zeit gewesen sein muss, zeigt allein sein Auftritt auf dem Jahresfest des Wurzener Gustav-Adolf-Zweigvereins im Jahre 1928. Die Veranstaltung, an der auch der damalige Pfarrer der Leipziger Thomaskirche, Hugo Hahn, teilnahm, fand in dem kleinen Örtchen Lüptitz statt und entfaltete dort eine durchaus große Resonanz.12 Während Hahn – als Baltendeutscher gleichfalls rühriges GAV-Mitglied – die Festpredigt hielt, trat Bruhns als Redner in der »Nachversammlung« in Erscheinung. Noch in der Ankündigung des »Wurzener Tageblattes« hieß es über den Redner, dass dieser keiner »weiteren Empfehlung« bedürfe, er sei der »ausgesprochene Liebling aller, die ihn in Thallwitz, Remt oder Wurzen gehört haben«.13 Dieselbe Zeitung lobte nachher Bruhns’ Vortrag über dessen Erlebnisse »während der Zaren- und Kommunistenherrschaft« in Russland als »seltenen Genuss«: »Man würde nie müde werden, ihm zuzuhören. In anhaltender Spannung lauschte alles seinen anschaulichen, bewegten Worten, wie er als Verfolgter und Schwerkranker unter Leiden und Entbehrungen mit Verbrechern und Mördern in einer Zelle zusammengeschlossen, und nur eins ihn durchhielt und ihm durchhalf: Gottes Wort und Gottvertrauen.«14 Noch im selben Jahre – 1928 – initiierte Bruhns eine Sammlung, die ihn endgültig zu den bekanntesten Männern des Gustav-Adolf-Vereins machen ­sollte: Anlässlich der anstehenden Hundertjahrfeier des GAV 1932 schlug er dem Centralvorstand vor, eine Jubiläumssammlung unter dem Motto »Eine Million in Groschen« in die Wege zu leiten. Eine solche Sammlung, so rechnete Bruhns seinen Vorstandskollegen vor, benötige drei Jahre. Und: »Wenn 50 000 Büchsen in Deutschland und etwa 10 000 im Auslandsdeutschtum untergebracht werden, dann ist das Jubiläumswerk der Hilfe fürs Auslandsdeutschtum gesichert.«15 Tatsächlich wurde Bruhns’ Idee Wirklichkeit: Bis zum Jubiläum 1932 hatten circa 84 000 Sammler mehr als eine Million Reichsmark zusammengetragen.16 Auch Bruhns selbst war im Reich wie auf Auslandsfahrten aktiv geworden – allerdings um den Preis, dass er sich auf einer Mittelmeerreise wieder mit Tuberkulose infizierte. Ungeachtet dessen vermochte er den Erfolg seiner Bemühungen auf der Hundertjahrfeier in Leipzig (September 1932) zu genießen. Zudem verlieh ihm die Theologische Fakultät der Universität Leipzig die Ehrendoktorwürde.17 12 13

Vgl. Wurzener Tageblatt und Anzeiger vom 18.5.1928, S. 2. Wurzener Tageblatt und Anzeiger vom 11.5.1928, S. 5. In demselben Artikel hieß es über Hugo Hahn, er sei der »Bruder des in der baltischen Märtyrergeschichte berühmten Pfarrers und Universitätsprofessors Hahn in Dorpat«. 14 Wurzener Tageblatt und Anzeiger vom 18.5.1928, S. 2. 15 Werbematerial für Gustav-Adolf-Vorträge. Anlässlich der Jubiläums-Sammlung, herausgegeben von Pfarrer Oskar Bruhns, Leipzig 1929, S. 21. 16 Vgl. Bericht über die 77. Hauptversammlung des Evangelischen Vereins der Gustav-Adolf-Stiftung in Leipzig vom 18. bis 20. September 1932, Leipzig 1932, S. 520. 17 Vgl. Lebenslauf von Pfarrer D. Oskar Bruhns, o. D. [1946] (LKArch Dresden, 42/361, Bl. 4); ­Reisebericht Pfarrer Bruhns vom April 1932 (EZA Berlin, 200/1/1795, Bl. 40). Der Bericht bezieht sich auf die Mittelmeerreise, die Bruhns 1931 unternommen hatte.

156

Mike Schmeitzner

Allerdings ließ seine Rede, die er in Leipzig vor der GAV-Hauptversammlung hielt, den politisch-personellen Kontext seiner eigenen Bemühungen um das »Auslandsdeutschtum« deutlich werden. Geradezu empathisch klangen Sätze, die »Zuversicht«18 in eine neue Gemeinschaft von deutschen evangelischen Menschen zu vermittelten suchten, aber auch ein wenig an die 1931 errichtete »Harzburger Front« aus Nationalsozialisten und Konservativen erinnerten: »Als wir uns gestern am Völkerschlachtdenkmal durch die Menschenmassen hindurchbewegten, um unseren Platz einzunehmen auf den Stufen des Denkmals, da wurde es an einer Stelle fast kritisch. Es war nicht möglich, die Menschen zurückzudrängen, und alle Überredungskünste scheiterten. Und da hat sich in aller Schnelligkeit vor meinen Augen eine Kette jugendlicher Helfer gebildet, die einander die Hand reichten und den Weg frei machten für die Vertreter des Gustav-Adolf-Vereins, den Centralvorstand. Und was ich da sah, war für mich ein wundervolles Erlebnis. Als ich mir die Leute näher ansah, die sich da die Hand gereicht hatten, da stand der Pfadfinder neben dem Nationalsozialisten, der Stahlhelmmann neben dem Jungdeutschen, und die christliche Jugend reichte die Hand den vielen Helfern, die der Gustav-Adolf-Verein gestellt hatte. Alle waren sie eins, alle bildeten sie eine Kette der Helfer, um ein Werk zu fördern, vielleicht ohne es zu wissen, aber doch in freudiger Hilfsbereitschaft: unser Werk.«19

Eine ungewöhnliche Konstellation: Als NSDAP-Mitglied gegen Landesbischof Coch und die Deutschen Christen Den Antritt der Regierung Hitler, die sich zuerst aus Nationalsozialisten und Konservativen zusammensetzte, konnte Bruhns nur aus der Ferne verfolgen, nämlich aus Italien, wo er sich seit Herbst 1932 aufhielt. Dort »bediente« er als »Reconvaleszent nach schwerer Lungenkrankheit«20 die auslandsdeutsche evangelische Gemeinde Abbazia bei Triest. Trotz der geografischen Distanz erreichten ihn die Auswirkungen des anbrechenden »Dritten Reiches« schnell: Nach eigener Darstellung machte sich in seiner Gemeinde ein »starker Zustrom von Nationalsozialisten aus dem Reich« bemerkbar, der ihn dazu veranlasst habe, dort im Juni 1933 der NSDAP beizutreten. Er habe mit diesem Schritt Vorurteile, die gegen das Christentum bestanden hätten, abbauen wollen. Im Rückblick brachte er aber auch die eigene Einstellung und Sozialisierung ins Spiel: Als »Volksdeutschem« schien ihm die »nationale Seite der Bewegung eine selbstverständliche Forderung zu enthalten«, ebenso in »Fragen der Reinhaltung des Blutes«. In diesem Punkt habe das »Parteiprogramm [der NSDAP] nur das […] enthalten, was wir

18 Bericht über die 77. Hauptversammlung des Evangelischen Vereins der Gustav-Adolf-Stiftung in Leipzig vom 18. bis 20. September 1932, Leipzig 1932, S. 523. 19 Ebd., Bl. 522 f. 20 Bruhns an den Leipziger Polizeipräsidenten vom 4.10.1945 (LKArch Dresden, 2/1323, Bl. 4).

Oskar Bruhns

157

gefühlsmäßig in der uns gegebenen Abwehrstellung im Auslandsdeutschtum bejahten«. Überdies hätten ihn als Großstadtpfarrer, der »in das seelische Elend des Proletariats tiefe Einblicke getan« habe, die »sozialen Einrichtungen und Pläne der Bewegung« beeindruckt.21 Wie man sieht, war es ein ganzes Bündel an Gründen, die Bruhns veranlasst hatten, der NSDAP beizutreten. Allerdings dürfte die eigene völkische Einstellung der alles entscheidende Punkt für diesen späten, nur mehr im Ausland möglichen Beitritt gewesen sein.22 Im Spätsommer 1933 nach Leipzig zurückgekehrt, entwickelte sich Bruhns jedoch nicht zum direkten Gefolgsmann des gerade erst eingesetzten neuen Landesbischofs Friedrich Coch, eines fanatischen Nationalsozialisten und NSDAP-­ Funktionärs. Er schloss sich auch nicht den jetzt Ton angebenden Deutschen Christen an, die als nationalsozialistische Fraktion versuchten, die Landeskirche von innen zu erobern. Beides hätte aufgrund seiner NSDAP-Mitgliedschaft und seiner völkischen Verwurzelung durchaus vermutet werden können, womit die Frage im Raum steht, was Bruhns eigentlich davon abgehalten hat. Antworten darauf können hier nur angedeutet werden, da keine eindeutigen Befunde existieren. Womöglich zögerte Bruhns deshalb mit einer eindeutigen Festlegung, weil er als führendes Vorstandsmitglied des GAV sich nicht voreilig fraktionell binden wollte. Tatsächlich verfolgte ja der GAV seit 1933 die Linie, die innerkirchlichen Konflikte nicht in den eigenen Reihen auszutragen – trotz seiner vielfältigen Anpassungsleistungen an den NS-Staat.23 Bruhns selbst machte nach dem Mai 1945 sein (angeblich) schnell zerrüttetes Verhältnis zu Coch dafür verantwortlich, dass er auf Gegenkurs gegangen sei. Coch habe von ihm ganz zu Anfang »Kadavergehorsam« gefordert, den er nicht leisten wollte; »germanische Treue« hätte er schon leisten wollen.24 Zum anderen dürften auch seine baltischen Erfahrungen mit in die Entscheidungsfindung eingeflossen sein: Er und seine Familie hatten in Estland zur ­Zarenzeit die russisch-orthodoxe Kirche stets als bedrohliches Staatsinstrument wahrgenommen, wohingegen die »eigene« deutsche evangelische Kirche selbst Jahrzehnte später als ein autonomes Bollwerk in Erinnerung blieb.25 Inwieweit sein landsmannschaftliches und über das GAV geprägte Verhältnis zu Hugo

21 Bruhns an Oberkirchenrat Kotte [?] vom 20.7.1945 (LKArch Dresden, 2/1323, Bl. 2). 22 Während es im Reich aufgrund des Massenzustroms schon seit Mai 1933 eine Mitgliederaufnahmesperre für die NSDAP gab, waren Aufnahmen in den Auslandsgliederungen der Partei auch späterhin noch möglich. 23 Vgl. Norbert Friedrich, Der Gustav-Adolf-Verein in der Zeit des Nationalsozialismus. Eine Skizze. In: ders./Traugott Jähnichen (Hg.), Sozialer Protestantismus im Nationalsozialismus. Diakonische und christlich-soziale Verbände unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, Münster 2003, S. 55–67, hier 59–66. 24 Bruhns an Oberkirchenrat Kotte [?] vom 20.7.1945 (LKArch Dresden, 2/1323, Bl. 2). 25 Vgl. Bruhns, Kindheitserinnerungen, S. 30.

158

Mike Schmeitzner

Hahn, dem Wortführer der späteren sächsischen BK, den eigenen innerkirchlichen Standort beeinflusst hat, muss offenbleiben. Auffällig ist jedoch, dass Bruhns’ Sonderverhältnis zu Hahn in keiner Weise gelitten hatte, wie frühe Quellen zeigen. Von gemäßigten DC-Vertretern wurde bereits in einem frühen Stadium des Kirchenkampfes sorgsam registriert, dass in den jenseits der BK existierenden Kreisen sich Bruhns als Einziger zu Hahn bekannte.26 Bruhns’ spätere Positionierung im Kirchenkampf war freilich auch mit ­seinem Leipziger Pfarrstellenwechsel untrennbar verbunden gewesen: Im September 1934 wechselte er von der Markus-Gemeinde im Arbeitervorort Reudnitz an die innerstädtische und über Leipzig hinaus bekannte Gemeinde St. Nikolai, was ­einen erheblichen Prestigegewinn bedeutete, zumal er dort als Pfarramtsleiter amtierte. Dass es überhaupt zu diesem Wechsel kommen konnte, war jedoch auch auf die beschleunigte Amtsenthebung seines dortigen Vorgängers Theodor Kühn zurückzuführen, der als einer der führenden Männer der Leipziger BK ­zuvor sogar Kritik an den Vorgängen des »Röhm-Putsches« geäußert h ­ atte.27 Allerdings hatte Kühn das 65. Lebensjahr schon Anfang März 1934 erreicht, sodass ein Wechsel ohnehin anstand.28 Ohne Cochs Zutun hätte Bruhns diese Stelle freilich nicht erhalten. Das zeigt jedenfalls ein Schreiben des Dresdner Ober­kirchenrates Gerhard Kubitz, der schon Ende März 1934 gegenüber der zuständigen Leipziger Superintendentur erklärte: »Der Herr Landesbischof beabsichtigt, für die 1. Pfarrstelle der Nikolaikirche in Leipzig Herrn Pfarrer Bruhns von der Markuskirche in Leipzig zu ernennen und Herrn Pfarrer Tzschucke zum Pfarramtsleiter an St. Markus. Die Superintendentur wolle mit dem Patrone und den Kirchgemeinden Fühlung nehmen, ob sie mit dieser Regelung einverstanden sind.«29 Die Leipziger Superintendentur und die betroffenen Gemeinden zeigten sich geneigt, sodass einem Wechsel nun nichts mehr im Wege stand.30 26 In einem Brief von Erich Knabe (DC) an Heinrich Schumann (»Mitte«) hieß es dazu: »Ich sprach auch mit jedem Bruder, den ich traf, ob man nicht für Hahn etwas tun sollte. Überall – außer Bruhns – straffe Ablehnung und Erzählungen vom Desaster des Dresdner Kampfes, die mich betrüben und wenig hoffen lassen.« Knabe an Schumann vom 21.10.1934 (LKArch Dresden, 5/391, 2, Bl. 3048). 27 Georg Wilhelm, Die Diktaturen und die evangelische Kirche. Totaler Machtanspruch und kirchliche Antwort am Beispiel Leipzigs 1933–1958, Göttingen 2004, S. 484 f. 28 Das Landeskirchenamt hatte Kühn »nach seiner Pensionierung im Frühjahr 1934 eine Weiterbeschäftigung im Amt zugestanden«, diesem aber nach seinen Äußerungen zur »Röhm-Aktion« Anfang August 1934 »Amtsbefugnis und Gehalt entzogen«. Ebd., S. 93. Zu Kühns Lebensdaten und beruflichem Werdegang vgl. Markus Hein, Die sächsische Landeskirche nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges (1945–1948). Neubildung der Kirchenleitung und Selbstreinigung der Pfarrerschaft, Leipzig 2002, S. 40. 29 Kubitz an Superintendentur Leipzig I vom 28.3.1934 (EphA. Lpz., I-B202.01, Das Pfarramt zu St. Nicolai 1, Pfarrstelle 1886–1946, Bl. 188). 30 Eine Wahl bzw. eine Ausschreibung der Pfarrstelle hat es nach den eingesehenen Unterlagen nicht gegeben; diese war aufgrund der übertragenen Kompetenzen auf den Landesbischof

Oskar Bruhns

159

Ungeachtet dieser Umstände durfte Bruhns im Jahre 1934 als ein durchaus ernst zu nehmender Bewerber gelten: Er war durch seine Spitzenposition im GAV und seine bekannte Rolle bei der Hundertjahrfeier des Vereins ein im Leipziger Protestantismus weithin geachteter Mann, der als NSDAP-Mitglied zudem für eine grundsätzlich positive Haltung gegenüber dem NS-Staat bürgte. Zudem hatte er sich gegenüber Landesbischof Coch bislang durchaus loyal verhalten. Die Verhältnisse, die Bruhns in seiner neuen Gemeinde antraf, waren allerdings alles andere als einfach, gerade mit Blick auf seine Pfarrerschaft:31 Er selbst befand sich in der »schwierigen Lage, zwischen den Lagern, in denen die Pfarrer und auch Gemeindemitglieder standen, ausgleichen zu müssen«.32 Als Pfarramtsleiter und bald auch als aktiver Vertreter der kirchlichen »Mitte« in Sachsen bemühte er sich zumindest in der ersten Zeit um eben diesen Ausgleich. Doch das Verhältnis zwischen seinem Zweiten und Dritten Pfarrer war da bereits zerrüttet: Denn während der DC-Funktionär Friedrich Israel, der sich im April 1935 bezeichnenderweise in »Ostarhild« umbenannte,33 sich als »Speerspitze« der DC in der Gemeinde verstand,34 agierte der BK-Pfarrer und »Halbarier« Ernst ­Lewek gegen die Zumutungen vonseiten der DC. Bereits Ende 1933 hatte er die Schriftleitung des »Nikolaiboten« an Israel/Ostarhild »abtreten« müssen.35 Im Kirchenkampf zogen Bruhns und Lewek häufig am selben Strang, doch erhielt das Verhältnis in den späteren Jahren erhebliche Blessuren – und zwar durch Bruhns völkische Gesinnung. Die vierte Pfarrstelle bekleidete seit 1936 Martin Küchler, der dem sächsischen Pfarrernotbund angehörte.36 Als auf Leweks Stelle 1939 der bereits dort tätige Vikar Johannes Schäfer berufen werden sollte, wurde dies von außen, vom Leipziger NS-Stadtrat, verhindert, da Schäfer Mitglied der »Bekennenden Kirche« war.37

(Spätsommer 1933) vermutlich gar nicht mehr vonnöten. Ich danke Herrn Maik Thiem vom Ephoralarchiv Leipzig für nochmalige Nachforschungen in diesem speziellen Fall. Das Landeskirchenamt in Dresden hatte am 23.8.1934 Bruhns’ Wechsel formal bestätigt, seine Amtseinweisung erfolgte am 8.9.1934 (NL Oskar Bruhns). 31 Zur Stellung der vier Pfarrer an der Nikolaikirche und ihrer kirchlichen Laufbahn vgl. Pfarrerverzeichnis nach dem Stande vom 28. Februar 1939 zum Handbuch der Kirchenstatistik der evangelisch-lutherischen Landeskirche Sachsens, Dresden 1939, S. 55. Seit 1938 verstärkte der damals 27-jährige Johannes Schäfer als Vikar die Nikolai-Gemeinde. Vgl. ebd. 32 Klaus Fitschen, Eine Demokratie, zwei Diktaturen: Die Nikolaigemeinde von 1918 bis 1989. In: Armin Kohnle (Hg.), St. Nikolai zu Leipzig. 850 Jahre Kirche in der Stadt, Petersberg 2015, S. 114–128, hier 119. 33 Vgl. Wilhelm, Diktaturen, S. 106. 34 Fitschen, Eine Demokratie, S. 119. 35 Ebd. 36 Vgl. Georg Prater (Hg.), Kämpfer wider Willen. Erinnerungen des Landesbischofs von Sachsen D. Hugo Hahn aus dem Kirchenkampf 1933–1945, Metzingen 1969, S. 348. 37 Fitschen, Eine Demokratie, S. 121.

160

Mike Schmeitzner

Eine erste schwache Positionierung hatte Bruhns bereits am Ende des Jahres 1933 vorgenommen, als er nach heftigen innerkirchlichen Auseinandersetzungen in Leipzig einen Aufruf mit unterzeichnete, der sich gegen »Verdächtigungen des Gegners« und für eine gemeinsame Arbeit aussprach. Hatten diesen Aufruf auch Vertreter der BK und DC unterschrieben,38 kam es ein Jahr später zur Bildung einer dritten Fraktion, die als »Mitte« in die sächsische Kirchenkampfgeschichte einging. Bruhns’ führende Rolle dabei war auf die »drohende Kirchenspaltung« in Sachsen zurückzuführen, die sich dadurch abzuzeichnen schien, dass sich die sächsische BK von der DC-Landeskirchenleitung lossagte und, in Übereinstimmung mit den Beschlüssen der Reichsbekenntnissynode von Berlin-Dahlem im Oktober 1934, ein eigenes »Notkirchenregiment« zu bilden begann. In dieser ­Situation organisierten sich die Leipziger Pfarrer Oskar Bruhns, Johannes Herz, Fritz Mieth und Heinrich Schumann als »Mitte« mit dem Ziel, die Fronten zu überbrücken. Nach einem gemeinsamen Protestbrief an Coch wegen der Suspendierung des Dresdner Superintendenten Hahn, der aufgrund seiner vormaligen Arbeit an der Thomaskirche als »ehemaliger Leipziger Amtsbruder«39 Solidarität erfuhr, ging Bruhns mit einem Brief an Herz vom 5. November 1934 in die ­Offensive: »Weil ein Abwarten für die Zukunft unserer Kirche äußerst gefährlich werden könnte«, müssten »wir […] zur Konstituierung einer Gruppe der Mitte in kürzester Zeit kommen«.40 In fünf Thesen plädierte Bruhns für die Bewahrung der Landeskircheneinheit »auf dem Boden des evangelisch-lutherischen Bekenntnisses«, wobei er zugleich die »Vergewaltigung des in Gott gebundenen Gewissens« ablehnte; es gelte, eine »unanfechtbare rechtliche Grundlage für unsere Kirche zu schaffen« – und zwar jenseits von Willkür und »Putschversuchen«! Was genau er unter »Mitte« verstand, wird anhand seiner – sehr stark auf Äquidistanz bedachten – Erklärung deutlich, »alle Zusätze und artfremden Entlehnungen aus dem Katholizismus« (wie die »diktatorische Gewalt des Bischofs«) und aus der »reformierten Glaubenslehre« (wie »die Gleichsetzung von allgemeinem Priestertum der Gläubigen und Parlamentarismus«) abzulehnen.41 Die schließlich von Herz überarbeiteten Thesen verlangten nicht weniger als »eine grund­ legende Änderung des Kurses und einen Personenwechsel in den führenden ­Stellen unserer Landeskirche«.42 38 39 40 41 42

Wilhelm, Diktaturen, S. 88. Brief von 28 Leipziger Pfarrern (an der Spitze der Unterschriften stehen Schumann und Bruhns) an Coch vom 29.9.1934 (LKArch Dresden, 5/391, 1, Bl. 3049 f.). Unterschrieben hatten auch Pfarrer der BK wie Ernst Lewek. Bruhns an Herz vom 5.11.1934 (LKArch Dresden, 5/391, 1, Bl. 3077). Thesen Bruhns vom 5.11.1934 als Anhang (LKArch Dresden, 5/391, 1, Bl. 3078). Schreiben Herz, vom 9.11.1934. Zit. nach Nikola Schmutzler, Johannes Herz. Zwischen Anpassung und Widerstand. Gab es einen Weg der »Mitte«? In: Günther Heydemann/Jan Erik Schulte/Francesca Weil (Hg.), Sachsen und der Nationalsozialismus, Göttingen 2014, S. 283–299, hier 287; dies., Evangelisch-sozial als Lebensaufgabe. Das Leben und Wirken von Pfarrer Johannes Herz (1877–1960), Leipzig 2013, S. 251.

Oskar Bruhns

161

In einem ersten Brief vom 17. November 1934 forderten 48 der Leipziger »Mitte« nahestehende Pfarrer – mit Bruhns an der Spitze – von Coch die Aufhebung sämtlicher bisheriger Suspendierungen und eine »grundlegende Änderung der Zusammensetzung des Landeskirchenamtes«.43 Am 24. November 1934 initiierten dann Herz, Bruhns und Schumann ein Misstrauensvotum gegen den Landesbischof und dessen Kirchenregierung: Von »weniger als 1200 Geistlichen« nahmen 873 an der notariell beglaubigten Umfrage teil; 763 votierten für eine Ämterniederlegung, 41 dagegen, 63 enthielten sich der Stimme, über 300 hatten sich nicht beteiligt.44 Trotz des eindeutigen Misstrauensvotums blieb Coch im Amt. In einem Brief an Bruhns ließ er diesen aber wissen, dass ihn dessen »führende persönliche Stellungnahme« in dieser Frage »ganz besonders schmerze«45, hatte er doch noch im Frühjahr 1934 Bruhns’ innerkirchliche Karriere mit vorangetrieben. Bruhns seinerseits nahm nachträglich für sich in Anspruch, »alle Versammlungen der ›Mitte‹« geleitet zu haben, in denen die »Erteilung eines Misstrauensvotums [gegen Coch] vonseiten der Pfarrerschaft […] besprochen und beschlossen« worden sei.46

Ein »ehrlicher Makler« im Kirchenkampf? Vorsitzender des Vertrauensrates von BK und »Mitte« Die Aktion gegen Coch und dessen Kirchenregiment hatte zwar gezeigt, dass der Landesbischof von Mutschmanns Gnaden kaum noch über Rückhalt in der sächsischen Pfarrerschaft verfügte. Doch kam gerade dabei das Dilemma der »Mitte« deutlich zum Ausdruck: Anders als die BK beließen es ihre Vertreter bei dieser Misstrauenskundgebung – den Aufbau eigener Strukturen lehnten sie ebenso ab wie die Beteiligung an denen der BK.47 Die Frage der »Gehorsamsverweigerung« gegenüber dem Kirchenregiment Coch war auch die zentrale Differenz auf einer ersten Zusammenkunft der führenden Männer von BK und »Mitte« im Mai 1935. In inhaltlicher Hinsicht war man sich hingegen weitgehend einig, wie gerade auch die deutlichen Einlassungen von Bruhns zeigten: »Am untragbarsten am Kirchenregiment Coch ist, dass es die nationalsozialistische Ethik über die christliche stellt. Wenn in eine Kirche von ganz ­unkirchlichen 43 Brief an Coch vom 17.11.1934 (LKArch Dresden, 5/391, 1, Bl.  2001). Die 48 Unterzeichner, unter ihnen der Vorsitzende des Leipziger GAV-Hauptvereins Heinrich Roehling und Erich Knabe, waren nicht alphabetisch sortiert. 44 Bruhns, Schumann, Herz und Mieth an Coch vom 8.1.1935 (LKArch Dresden, 36/168, Bl. 1). Wilhelm, Diktaturen, S. 86, nennt die Zahl von 769 Pfarrern, die sich gegen Coch aussprachen. 45 Coch an Bruhns vom 26.1.1935 (LKArch Dresden, 36/168, Bl. 2). 46 Bruhns an Oberkirchenrat Kotte [?] vom 20.7.1945 (LKArch Dresden, 2/1323, Bl. 2). 47 Schmutzler, Johannes Herz, S. 289.

162

Mike Schmeitzner

Gesichtspunkten aus hineinregiert wird, dann wird die Kirche zerstört.« Auch vor dem Hintergrund solcher Aussagen warben die BK-Führer Johannes Ficker und Hugo Hahn bei der »Mitte« dafür, dem Landesbischof (wenigstens) die »geistliche Autorität« zu verweigern sowie »mit allen Amtsbrüdern zusammenzukommen und einig zu werden«.48 Dass eine solche Entwicklung schneller Fahrt aufnahm als vielleicht vermutet, hatte mehrere Gründe: Da war zum einen der couragierte Einsatz von Vertretern der »Mitte« für eine Wiedereinsetzung von inhaftierten Pfarrern der BK – Bruhns selbst spielte hierbei eine hervorgehobene Rolle, zumal seine Gemeinde mit der Verhaftung Leweks direkt betroffen worden war.49 Da war zum anderen die Gründung des Reichskirchenministeriums Mitte 1935, das auf zentraler Ebene Bewegung in die festgefahrenen Kirchenfronten brachte. Denn der neue Minister Hanns Kerrl (NSDAP), dem an einer Einigung im Rahmen des NS-Staates gelegen war, wies nunmehr alle Landesregierungen an, die ihrerseits verfügten Zwangsmaßnahmen aufzuheben; er initiierte zugleich die Gründung von Kirchenausschüssen auf Reichs- und Landesebene, die von nun an die Kirchen zu vertreten und zu leiten hätten – natürlich im Einvernehmen mit NSDAP und NS-Staat. Zu einer solchen Zusammenfassung der drei unterschiedlichen Fraktionen kam es in Sachsen erst im Spätherbst 1935 und auf entschiedenen Druck von führenden Vertretern der »Mitte«, die – wie Bruhns – sogar das Reichskirchenministerium zu einem Eingreifen bewegten:50 Im Landeskirchenausschuss (LKAu) waren nunmehr Mitglieder von BK, »Mitte« und DC vertreten. Vorsitzender wurde der Dresdner Superintendent Johannes Ficker (BK). Landesbischof Coch blieb im Amt, wurde aber entmachtet.51 Das neue Gremium spiegelte die innerkirchlichen Machtverhältnisse wider, was mit einer Vertreter-Mehrheit aus BK und »Mitte« zum Ausdruck kam – die DC waren mit zwei gemäßigten Mitgliedern repräsentiert. Um den eingeschlagenen Weg und die Stellung des neuen Gremiums zu festigen, initiierten »Mitte« und BK im Sommer und Herbst 1936 eine Umfrage unter allen sächsischen Pfarrern, die Bruhns wiederum an vorderer Front begleitete. 971 Pfarrer bekundeten darauf ihr Vertrauen in den LKAu; sie wandten sich gleichzeitig gegen Cochs 48 Besprechung in Krummenhennersdorf am 13. und 14.5.1935 (LKArch Dresden, 5/391, 1, Bl. 1091 und 1094). Zur Bedeutung der Tagung vgl. Schmutzler, Evangelisch-sozial, S. 254 f. 49 Vgl. Schriftwechsel zwischen Bruhns, Herz, Schumann mit Coch und Liebsch vom 3.7., 8.7., 31.7. und 12.8.1935 (LKArch Dresden, 36/168, Bl. 34–45). 50 Beilage 6 von Johannes Hertz, o. D., vermutlich nach 1945 (LKArch Dresden, 5/391, 7, Bl. 65). 51 Vgl. Joachim Fischer, Die sächsische Landeskirche im Kirchenkampf 1933–1937, Göttingen 1972, S. 42–88; Hermann Klemm, Im Dienst der Bekennenden Kirche. Das Leben des sächsischen Pfarrers Karl Fischer 1896–1941, Göttingen 1986, S. 287–308; Kurt Meier, Der Evangelische Kirchenkampf, Band 2: Gescheiterte Neuordnungsversuche im Zeichen staatlicher »Rechtshilfe«, Halle (Saale) 1976, S. 351–357; Karl-Hermann Kandler, Kirchengeschichte Freibergs 1933–1945, Beucha 2011, S. 19 f.

Oskar Bruhns

163

Rückkehr.52 Aus dieser Aktion ging schließlich ein gemeinsamer »Vertrauensrat« der sächsischen Pfarrer »zur Unterstützung« des LKAu hervor. Die Gründung erfolgte Ende November 1936 in Leipzig.53 Den Vorsitz übernahm Oskar Bruhns, der einige Wochen zuvor zum stellvertretenden Superintendenten von Leipzig54 und zum stellvertretenden Präsidenten des GAV gewählt worden war,55 was ­seine innerkirchliche Verankerung noch einmal deutlich aufwertete. Stellvertreter wurde der Dresdner BK-Vertreter Karl Fischer, weitere Mitglieder ­waren vonseiten der BK Hugo Hahn, Hermann Klemm und Georg Prater, vonseiten der ­»Mitte« Heinrich Schumann (seit 1936 Leipziger Superintendent), Johannes Herz und Fritz Mieth.56 Die Schaffung eines gemeinsamen Daches war erst möglich geworden, als die Frage einer Anerkennung der Landeskirchenleitung (Coch) irrelevant geworden war. Die Berufung von Bruhns an die Spitze dieses Gremiums kann zum einen als personelles Äquivalent zum LKAu-Vorsitz betrachtet werden, den mit Ficker ein Vertreter der BK innehatte, zum anderen aber auch als Wertschätzung über die Kreise der »Mitte« hinaus. Allerdings musste er im Februar 1938 aus gesundheitlichen Gründen den Vorsitz an seinen Leipziger Kollegen Schumann abgeben,57 der damit endgültig zum einflussreichsten Vertreter der »Mitte« in Sachsen aufstieg. Der »Vertrauensrat«, der regelmäßig in den Wohnungen von Bruhns und Fischer tagte,58 sah seine besondere Aufgabe in der »Pflege der Pfarrbruderschaft«, der »Betreuung des theologischen Nachwuchses« und der »Verwaltung der gemeinsamen Hilfskasse«. Er bezeichnete sich selbst als »Ort des Austausches und der Verständigung« über alle anstehenden »Maßnahmen«. Nach Möglichkeit sollten hier »gemeinsame Parolen und Aktionen angestrebt« werden.59 Doch das Gremium war nicht nur eine interne Plattform zur Abstimmung von BK und »Mitte« gegenüber der Politik des LKAu. Sofort nach seiner Gründung ging er auch daran, gemeinsame Versammlungen »zu brennenden Fragen der 52 Vgl. Vertrauensrat an LKA vom 28.11.1936 (Abschrift, LKArch Dresden, 5/391, 2, Bl. 4010). 53 Nachrichtendienst des Landesbruderrates der Bekennenden Evang.-luth. Kirche Sachsens, Nr. 37 vom 9.12.1936 (LKArch Dresden, 5/104, 3, Bl. 104250). 54 Bruhns war auf der Ephoral-Konferenz vom 11.6.1936 gegen Kandidaten von DC und BK mit 43 von 66 Stimmen gewählt worden. Pikant an der Wahl war der Umstand, dass Ostarhild den DC-Kandidaten Georg Faber in Vorschlag brachte – und damit gegen seinen Pfarramtsleiter. Protokoll der Ephoral-Konferenz vom 11.6.1936 (EphA. Lpz., I-C.1.0017, Bl. 171 f.). Vgl. auch Wilhelm, Diktaturen, S. 133 f. 55 Die evangelische Diaspora, 19 (1937), S. 206. 56 Vgl. Nachrichtendienst des Landesbruderrates der Bekennenden Evang.-luth. Kirche Sachsens, Nr. 37 vom 9.12.1936 (LKArch Dresden, 5/104, 3, Bl. 104250). 57 Vgl. Protokoll der Sitzung des Vertrauensrates vom 23.2.1938 (LKArch Dresden, 5/391, 4, Bl. 6009). 58 Vgl. Einladungen von Bruhns vom 30.4., 22.5. und 4.6.1937 (LKArch Dresden, 36/117, Bl. 83; 112). 59 Protokoll der Sitzung des Vertrauensrates vom 23.2.1938 (LKArch Dresden, 5/391, 4, Bl. 6009).

164

Mike Schmeitzner

g­ egenwärtigen kirchlichen Lage« zu organisieren.60 In einem ihrer ersten Rundschreiben forderten Bruhns und Fischer zudem die »lieben Brüder« auf, die »Treue gegen den Herrn der Kirche und sein Evangelium« als »Grundgesetz der ganzen Kirche« hochzuhalten, was die »deutliche und sichtbare Trennung von allen« fordere, die das »Alte Testament, den Apostel Paulus und anderes Glaubensgut preisgeben oder angeblich für einige Zeit zurückstellen« wollen.61 Gerade in Leipzig fielen die Aktionen von LKAu und »Vertrauensrat« auf fruchtbaren Boden; hier konnten schnell die DC »in die Defensive« gedrängt werden.62 Doch bekam ihr Kampf gegen die radikalere Thüringer Spielart der DC, der sich die sächsischen DC-Anhänger angeschlossen hatten, im August 1937 infolge der »gewaltsamen Entfernung« des LKAu eine völlig neue Dimension. Die Einsetzung des NSDAP- und DC-Funktionärs Johannes Klotsche als Leiter des Landeskirchenamtes unterminierte den mühsam gefundenen Kompromiss von 1935. Als wenige Tage nach diesem Gewaltakt von sächsischer staatlicher Seite die Mitglieder des LKAu auch noch vom Reichskirchenminister förmlich abberufen wurden, standen beide Gremien auf verlorenem Posten. Entschließungen, die Bruhns und Fischer im Namen des »Vertrauensrates« zugunsten der Legitimität des LKAu verfassten, liefen nun ins Leere. Der Vorgang selbst bedeutete in der Tat nichts anderes als die »Auslieferung der sächsischen Landeskirche« an eine innerkirchliche Minorität, wie Bruhns und Fischer in einer Eingabe an Hitler konstatierten.63 Der weitere Kampf gegen Klotsche gestaltete sich von nun an schwierig.64 Seit Sommer 1937 befand sich Bruhns aber noch aus anderen Gründen unter Druck: Im Mai und Juni hatte er im »Sächsischen Kirchenblatt« vier Leitartikel veröffentlicht, von denen vor allem sein Beitrag »Gibt es eine allgemeine Grundlage der Sittlichkeit?« eine breite Resonanz erzielte: Laut Bruhns wurde das Blatt polizeilich eingezogen und er selbst einem achtstündigen Verhör »in der Gestapo unterzogen, das mit einer Verwarnung endete wegen ›versteckter Angriffe auf die nationalsozialistische Rassenlehre und das völkische Sittenbewusstsein‹«.65 Tatsächlich hatte Bruhns die Christen vor »jeder Erweichung und Relativierung der Sittlichkeit« gewarnt; die Entscheidung »über gut und böse« könne nicht bei »jeder Gruppe der Menschheit« liegen, sondern bei Gott dem Schöpfer als »Quelle des Rechtes«. Als Negativbeispiel benannte er das bolschewistische Regime, das 60 Vertrauensrat, Bruhns und Fischer, an Amtsbrüder vom 27.2.1937 (LKArch Dresden, 36/117, Bl. 133). 61 Rundschreiben von Bruhns und Fischer vom 14.12.1936 (LKArch Dresden, 5/391, 2, Bl. 4002). 62 Wilhelm, Diktaturen, S. 137. 63 Fischer, Landeskirche, S. 260 f. 64 Vgl. Beilage 6 von Johannes Hertz, o. D., vermutlich nach 1945 (LKArch Dresden, 5/391, 7, Bl. 65). 65 Bruhns an Landeskirchenamt Dresden vom 10.10.1945 (LKArch Dresden, 2/1323, Bl. 5).

Oskar Bruhns

165

das allgemeingültige Moralprinzip zugunsten eines partikularen Moralprinzips aufgegeben habe und damit selbst politischen Mord in eine »Heldentat« verwandle.66 Wer wollte, konnte dieses historische Gleichnis als versteckte Kritik am Nationalsozialismus lesen. Bruhns selbst hatte dies 1935 bereits getan. Anfang 1939 wurde er wegen einer ganz ähnlichen Äußerung seines Amtes enthoben. Interne Kritik am neuen Kurs des Landeskirchenamtes und Eigeninitiative in Leipzig hatten überdies zu einem gegen Bruhns gerichteten juristischen Verfahren geführt, das erst im Frühjahr 1938 niedergeschlagen wurde. Anlass war Bruhns’ Abbestellung des sächsischen »Kirchlichen Gemeindeblattes« gewesen, das von Oberkirchenrat Heinrich Seck, einem radikalen Anhänger der DC Thüringer Richtung, redigiert wurde. Stattdessen hatte Bruhns ein eigenes Medium mit dem Titel »Kirchliche Nachrichten der Nikolaigemeinde« in Umlauf gebracht, was formal als Zeitungsneugründung galt und nach Verordnungen des Reichspropaganda­ ministeriums vom Juni 1937 unzulässig schien.67 Doch schon im Dezember 1937 hatte er nach Aufgabe der Schriftleitung durch Seck eingelenkt, nicht ohne aber den Verlag um Mitteilung darüber zu bitten, ob dies nur eine Übergangserscheinung sei oder demnächst die Schriftleitung »wieder in die Hände eines extremen Thüringer Deutschen Christen« gelegt werde, der »unseren Gemeinden Artikel vorsetzt wie ›Der Verrat an Luther und der Mythus des 20. Jahrhunderts‹«. Die Nikolai-Gemeinde habe solche Kurswechsel »nachgerade satt«.68

Die Macht des Völkischen: Der »Fall« Lewek So sehr Bruhns auch bereit war, »extreme« Einflüsse aus den Reihen der DC abzuwehren – und das hieß konkret: dreiste Anbiederungen an den NS-Chefideologen Alfred Rosenberg durch Leute wie Seck69 oder aber Versuche einer völligen Unterwerfung der Kirche unter den NS-Staat –, so wenig war Bruhns doch geneigt, die eigene völkische Gesinnung auch nur teilweise zu revidieren oder auf Distanz zum »Dritten Reich« zu gehen. Das Lehrbeispiel dafür war zweifellos der »Fall« Lewek, der Bruhns allerdings selbst betraf, und zwar nicht nur, weil er tief in seine Kirchgemeinde eingriff, sondern ihn auch für wenige Wochen die 66 Oskar Bruhns, Gibt es eine allgemeingültige Grundlage der Sittlichkeit? In: Sächsisches Kirchenblatt vom 6.6.1937, S. 1. 67 Strafsache gegen Pfarrer Oskar Bruhns 1938 (BA Berlin, R 3001/128668, Bl. 1–4). Der Oberstaatsanwalt beim Landesgericht Leipzig und der Generalstaatsanwalt beim Oberlandesgericht Dresden hatten Ende Februar bzw. Anfang März 1938 die Einstellung des Verfahrens beantragt. Das Reichsjustizministerium trat diesem Votum Ende März 1938 bei. 68 Bruhns an Wilhelm und Bertha von Baensch-Stiftung Dresden vom 11.12.1937 (PfA. St. Nikolai Lpz., 3.7.5.6.). 69 Vgl. dazu den Artikel von Heinrich Seck, Der Verrat an Luther und der Mythus des 20. Jahrhunderts. In: Kirchliches Gemeindeblatt für Sachsen, November 1937, S. 112 f.

166

Mike Schmeitzner

NSDAP-Mitgliedschaft kostete. Am 1. November 1937 hatte ihn der ­Leipziger Kreisleiter der NSDAP, Ernst Wettengel, höchst selbst und per »einstweiliger Verfügung« aus der NSDAP ausgeschlossen. Als Begründung führte er die besondere Beziehung zu Bruhns’ Kollegen Lewek an, die nur aufgrund intimer Kennerschaft und somit durch Denunziation an die Spitze der NSDAP-Kreisleitung gelangt sein konnte. So hieß es in dem Schreiben: »Sie haben in Ihrer Eigenschaft als Pfarrer ein Flugblatt ›An unsere Leser‹, dessen Inhalt die gegenwärtige kirchenpolitische Lage betrifft, gemeinsam mit dem jüdischen Mischling I. Grades, Lewe[c]k, unterzeichnet.« Auch sonst unterhalte er mit Lewek »Beziehungen, die über das zwischen Kollegen notwendige Maß hinausgehen, die unbedingt parteischädigend« seien. Dies aber sei »unwürdig«.70 Bruhns postwendend erfolgter Einspruch argumentierte auf zwei Ebenen, wobei seine Argumentation auf der ersten Ebene mit Blick auf die Schilderung inner­ kirchlicher Konflikte und Notwendigkeiten durchaus nachvollziehbar erschien – zumal er hier auch noch den vermuteten Denunzianten präsentierte. Auf der zweiten Ebene thematisierte er allerdings seinen eigenen völkischen Standpunkt, der eben auch – und davon wird noch die Rede sein – bei der weiteren beruflichen Zukunft Leweks eine Rolle spielte. Zuerst räumte er ein, mit Lewek dienstlich zu verkehren, da er zu ihm in einem vorgesetzten Verhältnis stehe; »rein privaten gesellschaftlichen Verkehr« stellte er jedoch »entschieden in Abrede«. Das gemeinsam unterzeichnete Flugblatt sei deswegen zustande gekommen, weil beide – er und Lewek – das (von Seck geleitete) »Kirchliche Gemeindeblatt« abgelehnt hätten – im Gegensatz zu Pfarrer Ostarhild. Darauf thematisierte er seine eigene positive Einstellung zur »Einführung des Arierparagrafen in der Kirche«. Dabei verwies er auf ein eigenes Gutachten vom Sommer 1937 und seine aus den »Erfahrungen der Diaspora« gewonnene Überzeugung, dass ein »andersvölkischer Pastor nicht das Vertrauen« genieße, wie »es für seine Aufgaben notwendig« sei.71 Auf der Basis dieser Argumentation »musste« Bruhns bereits am 10. Dezember 1937 in seine Rechte als NSDAP-Mitglied wieder eingesetzt werden, zumal ihm sein zuständiger Ortsgruppenleiter ein »gutes Zeugnis« ausgestellt hatte.72 Doch mit dem Hinweis auf seine völkische Einstellung hatte er das Stichwort dafür gegeben, wie er sich in Zukunft zu Lewek zu verhalten gedachte. In dem von ihm selbst genannten Gutachten für den LKAu vom Sommer 1937 hatte er – wenig verwunderlich – auf eine Tagung des GAV verwiesen, auf der die Frage, »ob ohne Schaden für die Gemeinde andersvölkische Pfarrer amtieren können«, deutlich beantwortet wurde: Solange ein Volk nicht zu »völkischem Selbstbe70

Wettengel an Bruhns vom 1.11.1937 (Staatsarchiv Leipzig, 22067 NS-Archiv des MfS, Bezirksverwaltung Leipzig, Obj. 13 ZA 08140). Vgl. auch Wilhelm, Diktaturen, S. 141. 71 Beschluss des NSDAP-Kreisgerichts Leipzig in der Sache Bruhns vom 10.12.1937 (Staatsarchiv Leipzig, 22067 NS-Archiv des MfS, Bezirksverwaltung Leipzig, Obj. 13 ZA 08140). 72 Ebd.

Oskar Bruhns

167

wusstsein erwacht« sei, sei an eine solche Möglichkeit durchaus zu denken. »Im Maße des Erwachens des völkischen Selbstbewusstseins« eines Volkes werde eine solche Konstellation aber immer »fragwürdiger«. Diese »von allen Seiten als richtig anerkannten Erfahrungen« [!] zwängen zu einer »Revision der kirchlichen Einstellung zum Arierparagrafen«, wobei letztlich auch die »Frage nach der tatsächlichen Berechtigung« der »Ablehnung der Nichtarier« durch die Gemeinde keine Rolle spiele, da es sich doch um reine »Gefühlsurteile« handele. Wo der Pfarrer »nicht mehr voll der Gemeinde dienen« könne, müsse er »um des Evangeliums willen weichen«.73 Man mag die These vertreten, dass Bruhns mit dieser Argumentation die Frage nach der Anwendung des »Arierparagrafen« auf die Pfarrerschaft »aus dem theologischen Bereich in den Bereich der Seelsorge vor Ort« verlagert haben mochte.74 Doch hatte er sich – ähnlich wie DC-Vertreter75 und lutherische Volkstumstheologen wie Paul Althaus und Werner Elert im Erlanger Gutachten vom September 193376 – eben auch die völkisch-rassistische Sicht auf jene Pfarrer zu eigen gemacht, die jüdischer Herkunft waren. Er hatte »Blut« und »Rasse« über das religiöse Bekenntnis gesetzt. Für den LKAu wie für seine Kollegen von der »Mitte« und der BK war das gerade in einer so sensiblen Frage wahrlich keine Hilfe, im Gegenteil: Er brachte sie in dieser Frage in das Fahrwasser der ohnehin rassistisch argumentierenden DC. Sicher hatte seine Herkunft aus dem »Baltendeutschtum« diese völkische Sicht beeinflusst, aber als unabänderliches »Schicksal«, das quasi automatisch rassistisch argumentieren ließ, kann diese Herkunft nicht bezeichnet werden – das Beispiel Hugo Hahns, aber auch das seines Bruders Leo Bruhns, der dank seiner italienischen Erfahrungen zum Liberalen avancierte, zeigen dies deutlich. Anders als im Sommer 1935, als Bruhns sich noch für ein Weiteramtieren von Lewek und der anderen inhaftiert gewesenen Pfarrer eingesetzt hatte, wollte er ihm im Jahre 1938 keine Hilfe mehr zuteilwerden lassen. Offensichtlich spielte dabei die Frage der Suspendierung Leweks allein aus rassischen Gründen die entscheidende Rolle: Im Februar 1938 hatte Klotsche – ein »radikaler Antisemit«77 – Lewek von seinem Pfarramt wie von allen »Dienstleistungen« für die Landeskirche ausgeschlossen; die Bezüge sollten ihm – mit Rücksicht auf seinen Status als Freiwilliger und Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg – jedoch weiter 73

Gutachten Bruhns’ für den Landeskirchenausschuss vom 16.7.1937 (LKArch Dresden, 5/391, 5, Bl. 7336–7339, hier 7338 f.). 74 Wilhelm, Diktaturen, S. 186. 75 Vgl. auch Eberhard Röhm/Jörg Thierfelder, Juden – Christen – Deutsche. Band 3: 1938–1945, Teil 1, Stuttgart 1995, S. 311. 76 Abgedruckt in Siegfried Hermle/Jörg Thierfelder (Hg.), Herausgefordert. Dokumente zur Geschichte der Evangelischen Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 2008, S. 164–167. 77 Röhm/Thierfelder, Juden, S. 306.

168

Mike Schmeitzner

gezahlt werden.78 Da Lewek diese erneute Diskriminierung nicht hinnehmen wollte, wandte er sich vertrauensvoll an Bruhns, seinen unmittelbaren Vorgesetzten an St. Nikolai, mit dem er jahrelang in einer innerkirchlichen Front gegen Ostarhild gestanden hatte. Von Bruhns erhoffte er sich Beistand gegen Klotsche, wobei er Bruhns völkische Sicht zu berücksichtigen versuchte: Sein Fall, so Lewek, sei nämlich nicht der eines »Rassejuden«, sondern der eines Deutschen – es gebe doch seit März 1933 die »Sonderstellung des Mischlings mit Frontkämpfer­ eigenschaft« und er sei eben »nicht nur deutscher Frontkämpfer, ich bin auch Kriegsfreiwilliger von 1914, Träger des E. K. und vor allem Kriegsopfer«. Er leide auch noch »heute« unter den »Folgen meiner schweren Verwundung«. Warum »in aller Welt« solle er »dann nicht deutscher Pfarrer« sein?79 Obwohl er Bruhns alle militärisch-patriotischen Argumente an die Hand gegeben und wohl auch ganz bewusst die rassebiologische Argumentation verwendet hatte, um seinen Fall im positiven Licht zu zeichnen, konnte sich Bruhns zu keiner Unterstützung durchringen. »Hin- und hergerissen zwischen persönlicher Zuneigung zu seinem Amtskollegen Lewek und grundsätzlichen Überlegungen«,80 machte er Klotsche gegenüber die Mitteilung, dass er keinen »brauchbaren Vorschlag habe finden können, […] den ›Fall Lewek‹ zum Abschluss zu bringen«; er sei nicht in der Lage gewesen, ein »in Aussicht gestelltes Memoran­ dum abzufassen«.81 Dies war nichts anderes als ein Offenbarungseid, denn er hätte – ungeachtet des wenige Wochen zurückliegenden Novemberpogroms – sich Leweks Argumentation zu eigen machen können, samt der dort geschilderten militärischen Karriere, die doch in diesem Land so stark gewichtet wurde. So konnte Klotsche den »Fall« beschleunigen, im Frühjahr 1939 eine eigene »Lex Lewek« schaffen und denselben in den Wartestand versetzen.82 Obwohl Bruhns immerhin jetzt Widerspruch anmeldete,83 kündigte der Kirchenvorstand ein Jahr später Leweks Dienstwohnung, was bei einer Familie mit sieben Kindern katastrophale Auswirkungen zeitigen musste.84 1944 wurde Lewek dann sogar zur Zwangsarbeit verpflichtet.

78 79 80 81 82 83

84

Klotsche an Lewek vom 2.2.1938 (EZA Berlin, 1/1321, Bl. 42). Lewek an Bruhns vom 28.11.1938 (ebd., Bl. 44 f.). So die durchaus zutreffende Bemerkung bei Röhm/Thierfelder, Juden, S. 309. Bruhns an Klotsche vom 29.11.1938 (EZA Berlin, 1/1321, Bl. 46). Röhm/Thierfelder, Juden, S. 311. Vermerk Friedrich Werners über eine Unterredung mit Bruhns am 26.7.1939 in Berlin (EZA Berlin, 1/1360). Bruhns hatte in dem Gespräch mehrere Fälle von Versetzungen angesprochen, die nach seiner Ansicht darauf zielten, eine geistliche Leitung der DC in Sachsen aufzurichten. In dem Gespräch hatte Bruhns nun erstmals Lewek als »halbarischen Kriegsteilnehmer und Schwerkriegsverletzten« gewürdigt. Fitschen, Eine Demokratie, S. 119; Röhm/Thierfelder, Juden, S. 311.

Oskar Bruhns

169

Kirchliche Einheit zu nationalsozialistischen Konditionen? Die Godesberger »Wende« des Oskar Bruhns Im Frühjahr 1938 hatte Bruhns seinen mentalen Tiefpunkt erreicht: Alle inner­ kirchlichen Einigungsversuche schienen mit der Zerschlagung des LKAu und der Aufrichtung des Kirchenregimes Klotsche hinfällig geworden zu sein; parteipolitische und juristische Pressionsversuche hatten ihm ebenso zugesetzt wie gesundheitliche und innerkirchliche Probleme in St. Nikolai. Im Februar 1938 war schließlich ein beachtlicher Teil der zur »Mitte« neigenden Leipziger Pfarrer dem Vorbild der BK-Geistlichen gefolgt und hatte Kanzelabkündigungen »über die Folgen der Einsetzung von Klotsche zum Diktator der […] Landeskirche« vorgenommen. Diese Art der öffentlichen Bekenntnisform war »gegen den Rat der Leitung der ›Mitte‹« erfolgt, also auch gegen den von Bruhns, der im Zuge dieser Entwicklung gar von einer »erschreckenden Radikalisierung der Pfarrerschaft« sprach. In einem Brief an Friedrich Werner, den Leiter der Kirchenkanzlei der Deutschen Evangelischen Kirche, erklärte ein frustrierter Bruhns, es sei ihm »nicht gleichgültig«, nach fünfjährigen Ausgleichsversuchen »nicht nur das Vergebliche meiner Bemühungen einsehen« zu müssen, sondern auch Zweifel zu haben, »ob nicht ein stures ›Nein‹ gegenüber Experimenten in der Kirche von Anfang an richtiger gewesen wäre«. Von der empörenden DC-Machtpolitik in Sachsen fühle er sich nur mehr »verhöhnt«:85 »Ich bin zwar nicht Sachse, kenne aber das Volk aus fast 20-jähriger Arbeit in der sächsischen Landeskirche. Aus dieser meiner Kenntnis heraus muss ich warnen, die Loyalität und Gemütlichkeit zu überschätzen. Gewiss sind sie beides, aber sie können es nicht vergessen, wenn jemand glaubt, es nicht nötig zu haben, auf sie Rücksicht zu nehmen. Und ich glaube, dass dieser sehr empfindliche Punkt vielfach durch die ganze rücksichtslose Art, wie man mit der […] Landeskirche glaubte umspringen zu können, aufs Schmerzlichste getroffen ist und dass die Folge weder dem Staat noch der Partei, hinter der sich die Herren Klotsche und Gefährten gerne verstecken, günstig sein werden. […] Wie kann man als Nationalsozialist [glauben] Volksgemeinschaft zu fördern, wenn man durch eine Herausforderung nach der anderen unzählige Volksgenossen reizt, […] die jede Volksgemeinschaft […] zerstören muss. […] Ich verwahre mich […] dagegen, dass die Folgen dieser Politik später denen zur Schuld angerechnet werden, die aus männlich-deutschem Geist, wie ihn der Nationalsozialismus unserem Volke wieder beschert hat, sich tapfer solchen Missgriffen und Herausforderungen widersetzen werden.«86

Solche und ähnliche Klagen, die auch Reichskirchenminister Kerrl erreichten, mögen mit dazu beigetragen haben, Bruhns in eine letzte Einigungsoffensive des Berliner Ministeriums einzubinden, die sich stark auf die »Mitte« stützte. Als

85 Bruhns an Werner vom 29.3.1938 (EZA Berlin, 1/1360). 86 Ebd.

170

Mike Schmeitzner

Vertreter der »Volkskirchlichen Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Evangelischen Kirche« wurde er im Herbst 1938 »durch eine für mich ganz unerwartete Berufung des Ministers« zum »Mitglied des Arbeitskreises zur Vorbereitung der Synode« bestellt, der sich mit Rechtsfragen beschäftigen sollte.87 Als einer der führenden Männer der »Mitte« und überzeugter Anhänger des völkischen Gedankens schien er aus Kerrls Sicht gewiss der richtige Vertreter zu sein. Auch mit Blick auf die antikirchliche Haltung von Teilen der NSDAP und der SS kam es Bruhns darauf an, das »Unternehmen des Ministers« zu unterstützen, um die »äußere Einheit und damit die Widerstandsfähigkeit und Geltung der Kirche in unserem Volke wiederherzustellen«.88 Im Auftrag des Ministers versuchte er um die Jahreswende 1938/39, Bausteine zur »Befriedung der Kirche« zu entwerfen: So sollte über eine Vorsynode wieder eine geistliche Leitung etabliert und dazu Kirchengerichte, Schiedsstellen und ein wirksamer Minderheitenschutz geschaffen werden.89 Mitten hinein in diese Einigungsbemühungen platzte allerdings ein erneuter Konflikt zwischen Bruhns und Klotsche, der genau diese Bemühungen zu unterlaufen drohte und überdies Bruhns’ Abhängigkeit von Kerrl noch einmal deutlich forcierte. Ausgerechnet während eines Vortrags auf der Tagung der »Volkskirchlichen Arbeitsgemeinschaft« am 4. Januar 1939 in Berlin hatte Bruhns die »Frage der geistlichen Leitung« thematisiert und darin seine eigene Erfahrung mit einer (noch) existierenden geistlichen Leitung im Baltikum mit der nun fehlenden geistlichen Leitung in Sachsen kontrastiert. Klotsche ließ darauf Bruhns umgehend beurlauben. Er habe – so die Unterstellung – die kirchenpolitischen Zustände in Sachsen mit denen in Sowjetrussland verglichen.90 Es war Kerrl, der sich in dieser Situation hinter Bruhns stellte und so dessen Wiedereinsetzung ermöglichte. Dass Kerrl in diesem Konflikt sogar Klotsches Rücktritt forderte,91 zeigt wiederum, wie wichtig ihm Bruhns als Vertreter der »Mitte« war. Zweifellos vermochte sich Kerrl mit seinem Eingreifen in Sachsen auch in hervorragender Weise als »überparteilicher« Kirchenminister und ­»Einigungsmotor« zu inszenieren. 87

Bruhns an Geheimrat Kotte vom 3.12.1938 (LKArch Dresden, 5/LBR 101, 1, Bl. 101079 f.). Zur Entstehung und Ausdifferenzierung der Arbeitsgemeinschaften und Arbeitskreise vgl. Meier, Kirchenkampf, Band 2, S. 376 f.; ders., Der evangelische Kirchenkampf, Band 3: Im Zeichen des Zweiten Weltkrieges, Göttingen 1984, S. 65 f. 88 Rundschreiben von Bruhns u. a. »an alle Amtsbrüder Sachsens« vom 13.12.1938 (LKArch Dresden, 5/LBR 101, 1, Bl. 101099). Unterschrieben hatten auch Herz und Schumann aus Leipzig. 89 Meder an Landesbruderrat vom 12.1.1939 (LKArch Dresden, 5/LBR 101, 1, Bl. 101180). 90 Vermerk Kronenberg vom 24.1.1939 über den Vortrag von Pfarrer Bruhns am 4.1.1939 (EZA Berlin, 1/1271, Bl. 22). In der Diskussion darauf angesprochen, habe Bruhns erwidert, »dass er selbstverständlich einen solchen Vergleich nicht habe ziehen wollen«. Ebd. Eine inhaltlich leicht abweichende Wiedergabe von Bruhns Vortrag gibt Meier, Kirchenkampf, Band 3, S. 503. 91 Vgl. Schriftwechsel Kerrl–Klotsche vom 17., 20. und 22.1.1939 (EZA Berlin, 1/1271, Bl. 15–21).

Oskar Bruhns

171

Wie weit Bruhns im Rahmen der »volkskirchlichen« Einigungsbemühungen jetzt auf Kerrl, Werner und die gemäßigten DC bereit war zuzugehen, verdeutlichen mehrere Rundschreiben, Vorträge und die im März 1939 veröffentlichte »Godesberger Erklärung« von DC und Arbeitsgemeinschaft. Führende Vertreter der BK, die – wie die Landesbischöfe Hans Meiser und Theophil Wurm – berechtigte Vorbehalte gegen die Art und Weise dieser Einigungsbemühungen formulierten, verdächtigte er nun als Einigungsverweigerer, denen es doch nur um ihre Pfründe ginge. Die völkisch geprägte »Godesberger Erklärung«, die zwar vorgab, den Kirchenstreit zu befrieden, aber darin den »christlichen Glauben« als den »unüberbrückbaren religiösen Gegensatz zum Judentum« bezeichnete und »internationales Kirchentum« wiederum als »politische Entartung des Christentums«, hatte er wohl nicht mit ausgearbeitet, doch grundsätzlich gebilligt.92 Dass auch Klotsche, der Zerstörer der sächsischen Kirche, die revidierte »Erklärung« mit unterzeichnete,93 durften seine Gegner wohl zu Recht als Hohn empfunden haben. Da sich letztlich nur die Kirchenführer der gemäßigten und radikalen DC aus den Ländern und Provinzen zu dieser »Erklärung« bekannten, blieb das Einigungswerk Makulatur. Doch führte Bruhns Engagement für Kerrl, Werner und die Arbeitsgemeinschaft nicht nur zu einer starken Entfremdung zwischen ihm und der BK, sondern auch vom GAV: In einem Briefwechsel mit dem württembergischen Landesbischof Wurm musste sich Bruhns vorhalten lassen, mit seinen Einigungsbemühungen naiv gehandelt zu haben: »Wir können nur staunen über den rosaroten Optimismus derer, die offenbar zum Verständnis des ganzen der Kirche aufgezwungenen Kampfes noch nicht durchdrungen sind und immer noch meinen, man könne mit einigen Organisationsänderungen den Frieden schaffen.«94 Wesentlich persönlicher war dagegen der Brief Karl Fischers gehalten, mit dem Bruhns bis Anfang 1938 den sächsischen Vertrauensrat geleitet hatte. Mit Blick auf Bruhns Briefe und die von ihm mit unterzeichneten »reichskirchlichen Rundschreiben«, könne er – Fischer – »nicht schweigen«, andererseits »auch nicht viel sagen, weil durch alle diese Dinge jede gemeinsame Basis zu weiteren Besprechungen unmöglich gemacht« worden sei. »Sie scheiden sich so bewusst von uns, dass wir immer wieder spüren, wie unsere Hände, die wir über den Graben hinüberstrecken möchten, einfach nicht angenommen werden. […]

92 Godesberger Erklärung abgedruckt in Hermle/Thierfelder (Hg.), Herausgefordert, 466 f.; J. an Oberkirchenrat vom 6.7.1939 (LKArch Dresden, 5/LBR 101,2, Bl. 101267). 93 Abgedruckt in Hermle/Thierfelder (Hg.), Herausgefordert, S. 467 ff. 94 Wurm an Bruhns vom 20.2.1939 (Abschrift, LKArch Dresden, 5/LBR 101, 1, Bl. 101193 f.). Statt »aufgezwungen« war in der Abschrift von »aufgedrungen« die Rede, was zweifellos ein Übertragungsfehler war.

172

Mike Schmeitzner

Sie ahnen nicht, wie schmerzlich es auch gerade mir persönlich ist, dass unsere Hoffnung auf die Zusammenarbeit mit Ihnen so enttäuscht worden ist.«95 Noch schmerzlicher als dieser Abschiedsbrief muss Bruhns die Niederlegung seiner Ämter im GAV getroffen haben: Zwar hieß es in dem Protokoll des Centralvorstandes, Bruhns habe »mit Rücksicht auf seine Beteiligung an den kirchenpolitischen Auseinandersetzungen der letzten Zeit seine Ämter zur Verfügung gestellt, um das Gustav-Adolf-Werk aus den Rückwirkungen solcher Betätigung unter allen Umständen herauszuhalten«. Doch zeigten Diskussion und Beschlussfassung, wie wenig Rückhalt er für seine letzten Aktionen hier noch hatte. Einstimmig war der Centralvorstand der Meinung, Bruhns’ Rücktrittsersuchen anzunehmen, um der »Gefahr« einer Schädigung des Werkes »vorzubeugen«! Dass bei dieser Sitzung führende BK-Mitglieder nicht einmal anwesend waren, spricht ebenfalls eine deutliche Sprache.96 Obwohl sich Bruhns im Zuge dieser Konflikte um eine Differenzierung eigener Positionen bemühte,97 blieb sein Aktionsradius künftig auf Leipzig beschränkt. Hier vermochte er die eigene Stellung zu befestigen – unter anderem durch weitere Zugeständnisse an die DC, denen er in der Nikolaikirche eigene »Deutsche Gottesfeiern« einzuräumen bereit war.98 An seiner Arbeit wurde er allerdings immer wieder aufgrund eines Lungenleidens und dadurch bedingter Erholungsphasen im Riesengebirge behindert. Mit Kriegsbeginn am 1. September 1939 war der Kirchenkonflikt ohnehin eingefroren worden, weitere Herausforderungen fanden so nicht statt. Allerdings nahm er die – im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes – vollzogene Umsiedlung der Baltendeutschen zum Anlass, seine autobiografischen Arbeiten wieder aufzunehmen. In seinen Manuskripten »Sterne über Sibirien« und »Kindheitserinnerungen« versuchte er, den »Balten« ein »kleines Denkmal in Worten« zu setzen und über seine eigene Verbannung detailliert Auskunft zu geben. Dabei zeigte sich schnell, dass sich seine völkische Einstellung verhärtet hatte und antisemitische Ressentiments noch deutlicher

95

Fischer an Bruhns vom 1.3.1939 (LKArch Dresden, 5/LBR 101, 1, Bl. 101199). Vgl. auch Klemm, Im Dienst, S. 338. 96 Niederschrift über die Sitzung des Centralvorstandes [des GAV] vom 25.2.1939 (EZA Berlin, 200/2/1502). Verhindert waren u. a. Johannes Ficker, Carl-Friedrich Goerdeler und August Marahrens. Nach einigen Monaten Karenz setzte sich Prof. Dr. Hans Gerber – der Präsident des GAV – für Bruhns’ Wiederberufung in den Centralvorstand ein, was auch geschah. Vgl. Jahresbericht des Centralvorstandes des Evangelischen Vereins der Gustav-Adolf-Stiftung über das Vereinsjahr 1939/40, erstattet vom Generalsekretär des Centralvorstandes Pfarrer Herbst, Leipzig 1940, S. 7. 97 Die Frage der »Toleranz«, die in der revidierten »Erklärung« vom 4.4.1939 angesprochen worden war, wollte er nun (sicher vor dem Hintergrund der sächsischen Erfahrungen) näher erläutert und institutionell abgesichert wissen. Vgl. Aé, Boeters, Bruhns, Laag, Petersmann an Werner vom 18.4.1939 (LKArch Dresden, 5/391,4, Bl. 6132).   98 Vgl. Fitschen, Eine Demokratie, S. 121.

Oskar Bruhns

173

zum Tragen kamen. Ungeachtet dessen bewahrte er sich eine gewisse Distanz zum sächsischen Gauregime des Martin Mutschmann, das in seinen Texten als Negativfolie hin und wieder eine Rolle spielte. Für Bruhns waren die Baltendeutschen ein »ausgesprochenes Herrenvolk«, aber eben nicht im Sinne eines »Typus Mutschmann« – Gewalt und Egoismus hätten ihnen nämlich fern gelegen; ihr »Wahlspruch« sei »noblesse oblige« gewesen. Allerdings – und hier kam seine völkische Diktion zum Ausdruck – habe dieses »Herrenvolk« gar keine »Rassegesetzgebung« benötigt; diese habe sich bei ihnen als »vollkommen überflüssig« erwiesen, da man selbst auf eine »Reinhaltung des Blutes« höchsten Wert gelegt habe. Gerade weil ihr »rasse­ mäßiger Typus […] der nordische« gewesen sei, habe es mit den Esten als »andersvölkischer Unterschicht« keine Mischung geben können, wobei diese »das Beste […] fraglos den Deutschen zu verdanken« hätten, und zwar vornehmlich auf religiösem Gebiet. Anders als bei seinen ersten autobiografischen Veröffent­ lichungen aus der Zeit vor 1933 machte er nun auch nicht mehr vor antisemitischen Stereotypen Halt – die Rede war nun von »jüdischen Kommissaren« und »den Juden« mit ihrer »Rachgier«, »Rachsucht« und ihrem »unersättlichen Machthunger«.99 Als am 4. Dezember 1943 US-amerikanische Bomber das Leipziger Stadtzentrum verwüsteten, befand sich Bruhns »auf Urlaub im Riesengebirge« – vermutlich, um sein Lungenleiden weiter auszukurieren. Seine Frau und seine Tochter Sibylle erlebten jedoch den Bombenangriff im Waschhaus der Dienstwohnung, das »als Luftschutzraum eingerichtet« war. Bruhns’ Familie kam bei dem Angriff mit dem Schrecken davon. Eine Bombe hatte lediglich das Waschhaus erschüttert, und mehrere Stabbrandbomben, die das Kirchendach durchschlagen hatten, erwiesen sich als Blindgänger.100 Zurück in Leipzig, nahm Bruhns den Bombenangriff zum Anlass, um für einen absehbaren Frieden zu predigen. Der Kreislauf der Gewalt müsse ein Ende haben, da doch »auf Terror stets mit noch größerem Terror« geantwortet werde. Christen sollten »Friedenstifter sein, denn ihr Haupt« sei der »Friedefürst«, der »sanft über sein Reich« herrsche. Allerdings lag für ihn die Beendigung des Krieges nicht nur in deutscher Verantwortung, da man doch mit der »berüchtigten Rachsucht der Juden« zu rechnen habe.101

  99 Oskar Bruhns, Kindheitserinnerungen, S.  28–31; ders., Sterne über Sibirien, S.  197 und 205 [maschinenschriftliches Manuskript]. Beide Manuskripte wurden ca. 1941/42 verfasst (NL O ­ skar Bruhns). 100 Friedrich Ostarhild, Die Nikolaikirche im Flammenmeer. Der Angriff auf Leipzig am 4.12.1943 erlebt im Nikolaipfarrhaus, Leipzig 1944 [maschinenschriftlich], S. 1–5. 101 Oskar Bruhns, Predigt: 3. Sonntag nach Epiphanias [23.1.1944], Röm. 12, 17–21 (NL Oskar Bruhns).

174

Mike Schmeitzner

Ein frühes Ende 1945 Nach Ende des Krieges und der Überwindung des »Dritten Reiches« spielte Bruhns aufgrund seiner NSDAP-Mitgliedschaft keine führende Rolle mehr. Laut Schumann habe Bruhns das Amt des stellvertretenden Superintendenten »sofort nach dem Einmarsch der Amerikaner […] zur Verfügung gestellt« und diese Entscheidung in einem Schreiben an das Leipziger Konsistorium vom 13. August 1945 »wiederholt«.102 Einen schriftlichen Rücktritt Bruhns’ von seinem Amt hatte es tatsächlich aber erst am 13. August gegeben,103 bereits seit Mai war auch aus den eigenen Reihen der Ruf nach personellen Konsequenzen laut geworden – so etwa von Theodor Kühn, dem BK-Vertreter und Vorgänger von Bruhns als Pfarramtsleiter an St. Nikolai.104 Doch noch drei Tage vor seinem schriftlichen Rücktritt hatte Bruhns am 10. August gemeinsam mit Herz und Mieth Schumanns Stellung auf der Leipziger Ephoral-Konferenz zu befestigen versucht. Es war Bruhns, der nach einer Verteidigungsrede von Herz die Pfarrer aufforderte, »ihr Vertrauen zur Führung ihres verehrten Superintendenten durch Erheben von den Plätzen zu bekunden«. Bis auf »wenige Ausnahmen« stellte sich die Pfarrerschaft tatsächlich hinter Schumann, der vorher auch der Kritik vonseiten der BK-Vertreter ausgesetzt gewesen war.105 Während es in den folgenden Monaten der »Mitte« gelang, ihre Leipziger Stellung zu bewahren, indem sie zum Beispiel Herz als Bruhns’ Nachfolger durchsetzen konnte, musste Bruhns nunmehr auch seinen Posten als Pfarramtsleiter von St. Nikolai zur Verfügung stellen. In seinem Kampf um diese Position wurde er allerdings vonseiten der »Mitte« unterstützt. Schumann hatte dabei die Richtung vorgegeben, als er Bruhns auf einer weiteren Ephoral-Konferenz seine »außerordentliche Dankbarkeit« für die gemeinsame und in »größter Sachlichkeit« erledigte Amtsführung bekundete.106 In zahlreichen Schreiben unter anderem an das Dresdner Landeskirchenamt und den Leipziger Oberbürgermeister wurden von Bruhns selbst wie von engen Weggefährten seine Verdienste im Kirchenkampf gegen die DC im Allgemeinen und gegen Coch und Klotsche im Besonderen gewürdigt sowie alle erlittenen Demütigungen und Amtsenthebungen aufgezählt. Der Ambivalenz seines Verhaltens im Kirchenkampf wie im »Dritten Reich« als Ganzem wurde eine solche Deutung aber nur zum Teil gerecht – über seine Wandlungen nach 1938 und seine Stellung zum »Arierparagrafen«

102 103 104 105 106

Protokoll der Ephoral-Konferenz vom 21.9.1945 (PfA. St. Nikolai Lpz., 3.7.5.6, Bl. 139). Vgl. Hein, Landeskirche, S. 227. Vgl. ebd., S. 40 f. Protokoll der Ephoral-Konferenz vom 10.8.1945 (PfA. St. Nikolai Lpz., 3.7.5.6, Bl. 131). Protokoll der Ephoral-Konferenz vom 21.9.1945 (ebd., Bl. 139).

Oskar Bruhns

175

schwiegen sich diese Quellen aus.107 Bruhns selbst, der noch Anfang Dezember 1945 seinem jüngeren Bruder Friedrich über die »rigoros« gehandhabte Entnazifizierungspraxis vor Ort berichtete und um seine eigene berufliche Zukunft fürchtete,108 verlor nur wenige Wochen später den Kampf gegen sein langwieriges Leiden: Der von seiner Lungenkrankheit schwer gezeichnete Mann erlitt in der Nacht »vom Heiligen Abend zum 1. Weihnachtsfeiertag […] einen schweren Blutsturz, so dass er von den Seinen Abschied nahm«. Trotz ärztlicher Hilfe ist er am 29. Dezember 1945 »plötzlich verstorben«, wie Schumann nach Dresden berichtete. Es war – so Schumann weiter – »wie ein Wunder«, dass Bruhns, der »nie geklagt hat, trotz seines Leidens das leisten konnte, was er geleistet hat«. Mit ihm habe Leipzig »einen seiner besten Pfarrer verloren«.109 Tatsächlich war der gerade einmal 64 Jahre alt gewordene Bruhns der rechte Flügelmann der »Mitte« gewesen, der sich nach 1938 bereitgefunden hatte, auch mit Kräften der DC zu kooperieren. Hierin unterschied er sich etwa vom liberalen Flügelmann Johannes Herz. War Bruhns dennoch ein »ehrlicher Makler« im Kirchenkampf gewesen? Für die ersten Jahre nach 1933 kann ihm ein solches Engagement gewiss nicht abgesprochen werden. In dieser Zeit bemühte er sich nach Kräften und in enger Kooperation mit der sächsischen BK, die weltanschaulichen, personellen und strukturellen kirchenpolitischen Zumutungen vonseiten der DC und von Teilen seiner eigenen Partei, der NSDAP, abzuwehren oder aber in ihren Reichweiten zu begrenzen. Ähnliches lässt sich für die Jahre nach 1937/38 nicht mehr behaupten. Dies hatte vor allem mit seiner immer stärker hervortretenden völkischen Einstellung zu tun, die ihn nun viel öfter einen Schulterschluss mit den DC suchen ließ. Das von ihm vertretene Postulat der unbedingten Kircheneinheit mag ihn in dieser Tendenz bestärkt haben. Den Umstand, dass eben diese Kircheneinheit nur mehr zu eindeutig nationalsozialistischen Konditionen zu bewerkstelligen war, nahm er dabei (billigend) in Kauf.

107 Vgl. etwa Schumann an Zeigner vom 22.8.1945; Bruhns an Oberkirchenrat Kotte vom 20.7.1945; Bruhns an Leipziger Polizeipräsident vom 4.10.1945 (LKArch Dresden, 2/1323, Bl.  24). In ­einem der Schreiben wurde der Versuch unternommen, Bruhns, Parteimitgliedschaft ab 1937 als erloschen zu betrachten, was nachweislich nicht zutraf. 108 Oskar Bruhns an Friedrich Bruhns vom 6.12.1945 (NL Oskar Bruhns). In dem Brief heißt es u. a.: »Hoffentlich hat es damit [gemeint ist die Entfernung als Pfarramtsleiter] sein Bewenden und es erfolgt nicht eine Amtsentlassung wie bei Pfarrer Ostarhild […].« 109 Schumann an Landeskirchenamt Dresden vom 15.1.1946 (LKArch Dresden, 2/1323, Bl. 10).



Mandy Rabe Ernst Loesche

Johannes Dankegott Ernst Loesche wurde am 25. September 1887 in Groitzsch bei Leipzig als Sohn des Pfarrers Bernhard Loesche geboren. 1912 begann er seinen kirchlichen Dienst als Hilfsgeistlicher beim Landesverein für Innere Mission in Dresden. Nach seiner Ordination im Juli 1914 wurde er zunächst Anstaltsvikar an der Brüderanstalt in Moritzburg, wenig später dort zum Leiter der »Anstalt für erwachsene Burschen« berufen. Nach dieser für ihn prägenden Anfangszeit als junger Theologe im Umfeld der Inneren Mission übernahm er 1916 seine erste Gemeindepfarrstelle als Archidiakon in Rochlitz, wo er neun Jahre tätig war, bevor er 1925 Pfarramtsleiter der Kirchgemeinde Rodewisch im Vogtland wurde. Während seiner wiederum neunjährigen Wirkungszeit in Rodewisch setzte sich Loesche für eine vollständige Erneuerung der Kirche, die infolge eines Attentats stark beschädigt war,1 und den Neubau eines Kirchgemeindehauses ein. Neben diesen Baumaßnahmen legte er einen weiteren Schwerpunkt seiner pfarramtlichen Tätigkeit auf die Ausgestaltung des örtlichen Gemeindeblattes »Heimatklänge«, für welches er von 1926 bis 1933 als Hauptschriftleiter fungierte und das sich in dieser Zeit sachsenweit verbreitete. 1934 wurde er in die Nachbargemeinde Auerbach berufen, wo er neben der Pfarramtsleitung auch die dazugehörige Superintendentur übertragen bekam. Am 11. März 1947 starb Ernst Loesche an den Folgen einer Lungenentzündung.2 1

2

Es handelte sich um einen Brandanschlag im Jahr 1925, nachdem bereits 1921 das Rathaus durch einen Sprengstoffanschlag vernichtet wurde. Vgl. Loesche an Landeskirchenamt, o. D. [August 1945] (LKArch Dresden, 2/1810, Bl. 2–4, hier 4); Siegfried Walther, Die St.-Petri-­Kirche zu Rodewisch. In: St.-Petri-Kirche Rodewisch. Geschichtliche Streifzüge. Hg. vom Förderverein zur Erhaltung der St.-Petri-Kirche Rodewisch, Rodewisch 2008, S. 9–60, hier 46. Vgl. Heimatklänge, August 1939 (KGArch Auerbach/V., II g 4, Bl. 96); Markus Hein, Die sächsische Landeskirche nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges (1945–1948). Neubildung der Kirchenleitung und Selbstreinigung der Pfarrerschaft, Leipzig 2002, S. 194 f.; Sächsisches Pfarrerbuch. Die Parochien und Pfarrer der Ev.-luth. Landeskirche Sachsens (1539–1939). Im Auftrage des Pfarrervereins für Sachsen bearb. von Pfr. a. D. Reinhold Grünberg (Freiberg),

178

Mandy Rabe

Nach diesem kurzen biografischen Überblick soll es nun im Folgenden speziell und ausführlich um die Person Ernst Loesches in der Zeit des Nationalsozialismus gehen. Dabei werden zunächst seine Wahl und Einführung als Superintendent der Ephorie Auerbach, sodann einzelne Momente des »Kirchenkampfes«3 in der Auerbacher Ephorie beleuchtet, die Loesches Zuordnung zur kirchenpolitischen »Mitte« rechtfertigen. Abschließend wird das Kriegsende mit seinen ­konkreten Folgen für Loesche in den Blick genommen.

Die Wahl Ernst Loesches zum Superintendenten der Ephorie Auerbach Wie bereits erwähnt, wurde Ernst Loesche 1934 zum Superintendenten der Ephorie Auerbach berufen. Die Einführung erfolgte am 4. Februar durch den neuen Landesbischof Friedrich Coch, den Loesche noch aus der gemeinsamen Zeit bei der Inneren Mission kannte und der seine Anwesenheit in Auerbach nutzte, um nach der gottesdienstlichen Einweisung eine »Volksmissionarische Kundgebung« abzuhalten, die es ihm im Gegenüber zum Gottesdienst ermöglichte, »freier von der Leber weg zu reden […] [vom] Kampf um die Volkskirche«.4 Diese Verquickung von feierlicher Einführung mit deutschchristlicher Propaganda geschah nicht ganz zufällig, gehörte Loesche doch selbst den Deutschen Christen (DC) an und ließ die Verlesung seines Lebenslaufes im Rahmen der Einführung münden in das deutschchristliche Programmwort: »Vorwärts mit Luther und Hitler für Glauben und Volkstum!«5 Des Weiteren unterzeichnete er im Vorfeld der Wahl, die bereits am 10. Oktober 1933 stattfand,6 eine Erklärung der NSDAP, mit welcher er sich »für den Fall, dass [er] zum 1. Pfarrer von Auerbach gewählt werde«, der Partei gegenüber verpflichte, »in den Opferstock der Partei« einzutreten und sich »nach Aufhebung der Mitgliedersperre zur Partei« anzumelden. Im Parteisinne vorbildlich änderte er die auf die Zukunft zielende Verpflichtung bezüglich seiner Frau ab, wonach der Satz dann l­autete:

3

4 5 6

Band 2: Die Pfarrer der ev.-luth. Landeskirche Sachsens (1539–1939). Abteilung I (A–L), Freiberg 1939/40, S. 548, welches fälschlicherweise das Jahr 1933 als Beginn von Loesches Super­ intendentenzeit angibt. Eine Diskussion der Begrifflichkeit des »Kirchenkampfes« ist im Rahmen dieses Beitrages nicht möglich. Es soll aber an dieser Stelle auf die Ambivalenz dieses Begriffes aufmerksam gemacht werden, weshalb er auch durchgängig in Anführungsstriche gesetzt wird. Zur Diskussion der Begrifflichkeit vgl. Joachim Mehlhausen, Nationalsozialismus und Kirchen. In: Theologische Realenzyklopädie, Band 24 (1994), S. 43–78, hier 43 f. LKArch Dresden, 36/117, Bl. 39. Vgl. auch das Einladungsschreiben an die Amtsbrüder vom 24.1.1934 (KGArch Auerbach/V., V a 6, Bl. 83). So berichtet es die NSDAP-Zeitung »Der Freiheitskampf« vom 6.2.1934 (KGArch Auerbach/V., V a 6, Bl. 89). Vgl. Heimatklänge, November 1933 (KGArch Auerbach/V., II g 3, Bl. 8).

Ernst Loesche

179

»Meine Frau hat niemals dem Luisenbund angehört, sondern ist Mitglied der NS Frauenschaft und dort Kulturreferentin.«7 Die seelsorgerliche Tätigkeit ­werde er so ausüben, »wie es der Führer Adolf Hitler verlangt«, was sich besonders daran zeigen sollte, innerhalb der Volksgemeinschaft keine einkommensbedingten Unterschiede zu machen. Dass er alle seine Handlungen »im guten Einvernehmen mit der Leitung der Ortsgruppe Auerbach der NSDAP« und der Kirchgemeindevertretung vornehmen wolle, gelobte Loesche innerhalb dieser ­Erklärung ebenso wie die Förderung der Glaubensbewegung Deutsche Christen und die Hilfe zur Beseitigung der Zersplitterung im kirchlichen Leben.8 Trotz dieser deutschchristlichen Verortung lässt sich Loesches Übernahme der Auerbacher Superintendentur nicht als der kirchenpolitische Schachzug ansehen, als der er nach 1945 vor allem vonseiten der Bekennenden Kirche (BK) gern dargestellt wurde.9 So lässt sich die Verzögerung der Einführung in Verbindung mit dem einstimmigen Ergebnis der vorangegangenen Wahl des seit neun Jahren in der Ephorie ansässigen und darum auch weithin bekannten Pfarrers nicht in Einklang bringen mit der Deutung, er sei als deutschchristlicher Wunschkandidat aufgestellt und der Gemeinde aufgezwungen worden.10 Hinzu kommt, dass Loesche zunächst nur als Erster Pfarrer von Auerbach, nicht aber als Superintendent der Ephorie vom Landeskirchenamt bestätigt worden war, sodass im Kirchenvorstand sogar die Frage aufkam, ob Auerbach etwa den Sitz der Superintendentur abgeben müsste.11 Loesches Bewerbung auf die Auerbacher Pfarrstelle lässt sich nicht vom deutschchristlichen Standpunkt aus bewerten, sondern muss vielmehr als in Kontinuität zu seinen offensichtlichen Wechselambitionen stehend beschrieben werden, die sich unter anderem daran zeigen, dass er sich im April 1933 auf die Pfarrstelle in Eibenstock beworben hatte. Dass diese Bewerbung nicht glückte, war für den Ellefelder Pfarrer und Leiter der Auer­bacher Pfarrkonferenz, Johannes Müller, sogar ein Grund zur Freude,   7

Ursprünglicher Wortlaut der Erklärung: »Meine Frau wird sich nicht im Luisenbund betätigen, sondern sich der NS Frauenschaft anschließen.«   8 NSDAP-Verpflichtung Loesches vom 9.10.1933 (KGArch Auerbach/V., V a 6, Bl. 73). Dort auch Zitate.  9 Vgl. u. a. Rasche an vorläufigen Ausschuss der Ev.-luth. Kirche für Südwest-Sachsen vom 3.7.1945 (LKArch Dresden, 2/1810, Bl. 35); Loesche an Landeskirchenamt vom 10.11.1946 (ebd., Bl. 71 f.). 10 Zur Wahl standen neben Loesche die Pfarrer Hermann Theodor Walter Kötzschke (Reichenbach) und Eugen Adolf Münnich (Glauchau). Kötzschke war der Kirchgemeindevertretung zu alt, Münnich zu unsympathisch. Vgl. Beschluss der Kirchgemeindevertretung vom 10.10.1933 (KGArch Auerbach/V., V a 6, Bl. 74). Dass die Bewerbung auf die Auerbacher Pfarrstelle rite, im Rahmen eines Dreiervorschlages erfolgte, bezeugte 1946 auch Willy Gerber, für den die Verzögerung der Bestätigung belegt, »dass Loesche nicht ohne weiteres der dem Kirchenregiment Coch genehme Mann gewesen ist« (LKArch Dresden, 2/1810, Bl. 48). 11 Vgl. Briefe des Kirchenvorstandes Auerbach an das Landeskirchenamt vom 8. und 19.12.1933 (KGArch Auerbach/V., V a 6, Bl. 75, 77).

180

Mandy Rabe

weil ­Loesche ­somit der Ephorie erhalten bliebe.12 Für Loesches Amtsantritt in Auer­bach lässt sich demnach eine breite Zustimmung feststellen, die jenseits aller kirchenpolitischen Zuordnungen bestand, zumal die Problematik des »Kirchenkampfes« für Auerbach erst infolge der Dahlemer Bekenntnissynode und dem dort verabschiedetem Notkirchenrecht zutage trat. Loesches Mitgliedschaft bei den Deutschen Christen erschließt sich aus den Akten vor allem hinsichtlich seiner volksmissionarischen Ausrichtung. So schreibt Loesche in seiner »Erklärung über meine Stellung zur nationalsozialistischen Bewegung«: »So habe ich gleich vielen anderen, treu auf dem Boden des Bekenntnisses stehenden Pfarrern und Laien, besonders auch aus den Gemeinschaften, die ebenfalls den ›Deutschen Christen‹ beigetreten waren, mir von dieser Bewegung eine neue, lebendige Durchdringung unseres Volkes mit den Kräften des Evangeliums erwartet. In diesem Sinne habe ich auch als damaliger Pfarrer von ­Rodewisch bejahend Stellung genommen zu der Volksmissionarischen Bewegung ›Deutsche Christen‹ und dem Neuwerden der Kirche auf dem Boden des alten ­Evangeliums.«13

In diesem Zusammenhang kommt er auf seine Empfänglichkeit für den Nationalsozialismus zu sprechen: »Schon als Schüler und Student stark sozial interessiert und besonders für Friedrich Naumann14 und Adolf Damaschke15 eingenommen, widmete ich mich später als Pfarrer von Rochlitz mit ganz besonderem Eifer der sozialen Arbeit, sodass mein Ephorus, Dr. Buchwald,16 mir im Zeugnis vom Jahre 1921 ›meine persönliche Fühlung mit den Armen und Ärmsten und mein freundliches Nachgehen hinter den der Kirche Entfremdeten‹ besonders dankte. […] Meine soziale Arbeit veranlasste die Deutsche Demokratische Partei, an mich heranzutreten, mich zu ihrem Mitglied und Redner zu werben und schließlich auf die Liste der Kandidaten für die Weimarer Nationalversammlung zu setzen. Als Anhänger Friedrich Naumanns, der damals die geistige Leitung dieser Partei hatte, glaubte ich an der Erfüllung der christlichen und sozialen Aufgaben auf diesem Wege wirkungsvoll mitarbeiten zu können. Meine Erfahrungen als ehemaliger Berufsarbeiter der Inneren Mission, besonders das Elend, in das ich als Leiter des Röder-Hofes und des Heide-Hofes in Moritzburg hatte hineinschauen müssen, bestärkten mich darin. […] Als ich 1925 in die Arbeiter-Gemeinde Rodewisch i. V. als Pfarramtsleiter gewählt wurde, trat mir dort in erschreckender Weise Arbeitslosigkeit und Kirchenentfremdung entgegen. […] Täglich gingen Arbeitslose bei mir ein und aus, um in ihrer drückenden wirtschaftlichen Not Abhilfe zu bekommen. Als 1933 die NSDAP aufkam und in ihrem Programm sich als Arbeiter-Partei auf dem Boden des positiven Christentums vorstellte, glaubte ich gleich vielen anderen, dass hier tatsächlich jetzt endlich ein Weg der Abhilfe geschaffen würde. Mein ­Auerbacher Ephorus, Oberkirchenrat Dr. Kühn,17 und zahlreiche andere Amtsbrüder und kirchliche Laien ­meinten dasselbe.«18 12 13 14 15 16 17 18

Vgl. Müller an Synodalen Kießling (Aue) vom 6.4.1933 (EphArch Auerbach/V., C VI/8c, u ­ npag.). Loesche an Landeskirchenamt, o. D. [August 1945] (LKArch Dresden, 2/1810, Bl. 2–4, hier 2). Datiert ist diese Erklärung nicht. Sie bezieht sich jedoch auf eine Verordnung vom 17.8.1945 und dürfte zeitnah verfasst worden sein. Friedrich Naumann (1860–1919), evangelischer Theologe und liberaler Politiker. Adolf Damaschke (1865–1935), Pädagoge und Bodenreformer. Georg Buchwald (1859–1947). Viktor Kühn (1870–1945). Loesche an Landeskirchenamt, o. D. [August 1945] (LKArch Dresden, 2/1810, Bl. 2–4, hier 3 f.).

Ernst Loesche

181

Dass es Loesche demnach nicht um die kirchenpolitische Dimension, sondern vielmehr um die volksmissionarische Motivation der Gruppierung der Deutschen Christen ging, wird auch anhand eines Protokolls der Auerbacher Pfarrkonferenz vom März 1934 deutlich, auf welcher er betonte, dass die Predigt keine politische Abhandlung sein dürfe, sondern stattdessen das Erleben der Zeit widerspiegeln müsse. Um die entkirchlichten Massen wieder zu erreichen, dürfe auch an der Gottesdienstzeit nicht zu starr festgehalten werden. Es sollten vielmehr, »um die Männer zu gewinnen«, Gottesdienste zu besonderen Zeiten neu eingerichtet werden. Zudem müsse der ganze Gottesdienstrahmen zeitgemäß werden, was unter anderem bedeute, dass Abkündigungen und Gebete kurz gehalten sein sollten.19 Nach dem bisher Dargestellten dürfte deutlich sein, dass es wesentlich zu kurz greift, Loesches Mitgliedschaft bei den Deutschen Christen zum Indikator dafür zu machen, dass er nicht rechtmäßig in das Amt des Superintendenten gekommen sei.20 Angebrachter erscheint die Frage, warum es überhaupt zur Neubesetzung der Auerbacher Superintendentur, die seit 1921 von OKR Lic. Dr. Viktor Kühn bekleidet wurde, kam. Auch hierfür wurde ein kirchenpolitisches Motiv vermutet: Kühn sei 1933 »wegen halbjüdischer Abstammung« zwangsemeritiert worden.21 Doch ist diese Begründung nicht stimmig, denn der »Arierparagraf« wurde zwar durch die »Verordnung der Herbeiführung eines kirchlichen und nationalsozialistischen Berufsbeamtentums«22 im September 1933 auch in der Kirche eingeführt, hatte jedoch auf Kühn keinerlei Auswirkung, da dieser selbst bereits im Juni gesundheitsbedingt um seine Emeritierung bat. So ­wurde vom Landeskonsistorium am 13. Juni 1933, dem »Gesuche des Pfarrers und Superintendenten« entsprechend, genehmigt, dass »dieser wegen eingetretener, durch bezirksärztliches Zeugnis bescheinigter dauernder Dienstunfähigkeit in den ­Ruhestand versetzt wird und sein Amt am 30. September 1933 niederlegt«.23 Gegenüber den Kirchenvorständen und Kirchgemeindevertretungen sowie den Amtsbrüdern der Ephorie teilte Kühn daraufhin am 19. Juni mit, dass er »nach etwa 40-jähriger Dienstzeit infolge eines 36-jährigen Lungenleidens und sehr ernsten Herzleidens« nicht mehr imstande sei, sein Amt so zu verwalten, wie er es seinem Gewissen vor Gott und Menschen schuldig sei.24

19 Vgl. Sitzungsprotokoll (EphArch Auerbach/V., C VI/8c, unpag). Dort auch Zitat. 20 Vgl. u. a. Rasche an Vorläufigen Ausschuss der Ev.-luth. Kirche für Südwest-Sachsen vom 3.7.1945 (LKArch Dresden, 2/1810, Bl. 35); Loesche an Landeskirchenamt vom 10.11.1946 (ebd., Bl. 71 f.). 21 Hein, Landeskirche, S. 194, Anm. 30. 22 KGVBl 1933, S. 99 f. 23 Ev.-luth. Landeskonsistorium an das Bezirkskirchenamt Auerbach vom 13.6.1933 (KGArch ­Auerbach/V., V a 6, Bl. 60). 24 Kühn an Kirchenvorstände und Kirchgemeindevertretungen bzw. Amtsbrüder vom 19.6.1933 (KGArch Auerbach/V., V a 6, Bl. 61 bzw. 62).

182

Mandy Rabe

Anders erinnert sich Gotthilf Lenk, ein ehemaliger Pfarrer der Ephorie, der im Rahmen der sächsischen Kirchenkampfkommission 1961 einen Bericht über die »Vorgänge beim Amtswechsel in der Ev.-luth. Superintendentur Auerbach i. V. in den Jahren 1933 und 1946« verfasste und Kühn von seiner Persönlichkeit her als »Typus eines Kirchenfürsten« beschrieb: »Energisch, eigenwillig, der sich wenig sagen ließ, der aber in seinem Amtsbereich auf Ordnung und Disziplin seiner Pfarrer und kirchl[ichen] Mitarbeiter hielt, […] eine Führernatur: kantig, bei allem Bemühen zu gewinnen eher abweisend, aber ernstlich bemüht, der Gemeinde und dem Kirchenkreis nach bestem Können zu dienen und gegen alle gerecht zu sein.« Er führte für Kühns Emeritierung weder dessen angeschlagene Gesundheit noch einen antisemitischen Hintergrund an. Stattdessen verortete er Kühns Persönlichkeitsstruktur innerhalb des gesellschaftlichen Umbruchs der frühen 1930er-Jahre, dem Kühn nicht mehr gewachsen gewesen sei: Wohl w ­ egen seiner Gewohnheit, das Gefühl seiner Hörer und Hörerinnen anzusprechen und Ordinationen zu sentimentalen Dramen zu stilisieren, habe sich Superintendent Haan (Leisnig)25 seinerzeit an Oberkonsistorialrat Dr. Seetzen gewandt, um Kühns Abberufung aus Auerbach zu erreichen, »was auch geschehen sei«. Vor dem Hintergrund der geänderten Geisteshaltung in der Gemeinde sei »die Abhalfterung von OKR Kühn zu sehen. Wenn einer missliebig war, musste er ohne Rettung über die Klinge springen.«26 Ließe man Kühns eigenes Ruhestandsgesuch außer Acht, bliebe aber auch bei diesem Erklärungsversuch offen, warum man dann den ohnehin 1935 bevorstehenden Ruhestandseintritt Kühns nicht abwarten konnte und ihn stattdessen kirchenregimentlich gemaßregelt hätte. Will man derartige Erklärungsmuster nicht vollständig der Rezeptionsgeschichte nach 1945 anheimgeben, wonach ein Personalwechsel in den Jahren 1933/34 selbstredend im Opfer-Täter-Schema zu deuten ist, Kühn demnach Opfer und Loesche Täter des Nationalsozialismus sei, oder andererseits Kühn unterstellen, sein Gesundheitszustand sei nur ein Vorwand gewesen, lassen sich beide Quellen möglicherweise insofern harmonisieren, dass sich Kühn selbst aufgrund seines Gesundheitszustandes dem gesellschaftlichen Umbruch nicht mehr gewachsen sah, also nicht mehr die Kraft aufbringen konnte, die seiner Meinung nach nötig gewesen wäre, um in dieser neuen Zeit seine Ephorie zu führen. Die Zeitungsberichte von seiner gottesdienstlichen Verabschiedung am 27. August sind voller Lob, dankbarer Erinnerung und guter Wünsche ohne jeglichen kirchenpolitischen Beigeschmack.27

25 26

Johannes Haan (1899–1971). Gotthilf Lenk, Vorgänge beim Amtswechsel in der Evang.-luth. Superintendentur Auerbach i. V. in den Jahren 1933 und 1946 (LKArch Dresden, 5/710, 1, Bl. 5 f., hier 5). 27 Vgl. Zeitungsartikel der Auerbacher Zeitung und der Göltzschtal-Zeitung vom 27. und 28.8.1933 (KGArch Auerbach/V., V a 6, Bl. 70 f.).

Ernst Loesche

183

Loesche als Pfarrer der »Mitte« im »Kirchenkampf« in der Ephorie Auerbach Nachdem im vorangegangenen Teil deutlich geworden ist, dass die Ernennung Ernst Loesches zum Superintendenten der Ephorie Auerbach trotz seiner Zugehörigkeit zu den Deutschen Christen nicht kirchenpolitisch zu deuten ist, soll es nun darum gehen, Loesches Wirken in Auerbach kirchenpolitisch zu verorten. Eine wesentliche Rolle spielt dabei sein Austritt aus den Deutschen Christen im April 1936, den er zusammen mit elf weiteren Superintendenten vollzog.28 Als nach Jahresfrist sein Auer Kollege Walter Leßmüller seine Mitgliedschaft wieder anmeldete und dies dem Landeskirchenausschuss anzeigte, fühlte sich Loesche durch dessen Formulierung, die DC-Superintendenten hätten zur Befriedung der Kirche das Opfer des Austritts gebracht, genötigt, seinen eigenen Standpunkt klar zum Ausdruck zu bringen: »Mein Austritt aus den Deutschen Christen war kein Opfer mehr, sondern geschah aus voller Überzeugung und ist endgültig. Ich stehe zum Landeskirchenausschuss.«29 Ausschlaggebend für diesen Schritt war nach seinen eigenen Angaben das Abdriften der Volksmissionarischen Bewegung hin zu den Thüringer Deutschen Christen. So schrieb er im September 1936 an den Bautzener Pfarrer und späteren Superintendenten Ernst Schneider, den Vorsitzenden der Deutschen Pfarrer­ gemeinde Sachsen, der weiterhin den Deutschen Christen angehörte, dass es ihm vollkommen unmöglich sei, die Thüringer Richtung mitzumachen: »Ich war Deutscher Christ und bin wegen der Thüringer Richtung ausgetreten.«30 Doch dürfte das nicht der einzige Grund für seinen Austritt gewesen sein. War die volksmissionarische Ausrichtung der Deutschen Christen Loesches grundlegende Motivation für seine Zugehörigkeit, so war von dieser Ausrichtung in der Auerbacher Ephorie wenig zu spüren. Im Gegenteil: Mit Falkenstein und Rodewisch gehörten gleich zwei Gemeinden zur Ephorie, in denen der »Kirchenkampf« besonders heftig ausgetragen wurde, da sich in diesen Gemeinden jeweils ein BK- und ein DC-Pfarrer gegenüberstanden, die sich gegenseitig – häufig auch auf Kosten der Gemeinde – bekämpften und auch den Superintendenten jeweils gegen den Kollegen zu vereinnahmen suchten.31 Loesche versuchte mithilfe von

28 Es handelte sich um die Superintendenten Budra (Borna), Fröhlich (Leipzig-Land), Fügner (Dippoldiswalde), Jagsch (Löbau), Krebs (Zwickau), Leßmüller (Aue), Roßbach (Großenhain), Schönknecht (Grimma), Semm (Plauen), Thomas (Kamenz) und Werner (Leisnig). 29 Rundschreiben des Landeskirchenausschusses vom 18.3.1937 mit der Erklärung Leßmüllers vom 8.3.1937 und der Reaktion Loesches vom 9.3.1937 (LKArch Dresden, 5/114, 1, Bl. 118 = 119 = 36/36, Bl. 131 = 36/70, Bl. 46). 30 Loesche an Schneider vom 30.9.1936 (EphArch Auerbach/V., E I/27, Bl. 50 f.). Vgl. weiterhin Loesche an Landeskirchenamt, o. D. [August 1945] (LKArch Dresden, 2/1810, Bl. 2–4). 31 Zur Situation in Rodewisch vgl. den Beitrag »Eine Gemeinde im Kirchenkampf« von Nikola Schmutzler in diesem Band.

184

Mandy Rabe

unzähligen Aussprachen, zwischen beiden Lagern zu vermitteln, ohne eine der beiden Fronten zu bevorzugen. Dieses Bestreben zur Vermittlung lässt sich bei Loesche bereits für 1932 nachweisen, wenn er erklärt, dass er nach wie vor der Ansicht sei, »dass wir Pfarrer in heutiger ungeheuren Entscheidungszeit immer nur das uns Einende und nie das Trennende zu erstreben haben«.32 Auch bekundete er im November 1935 dem neu eingesetzten Reichskirchenminister Hanns Kerrl gegenüber seine »Bereitwilligkeit zur Mitarbeit an der Befriedung sowohl in Falkenstein und den übrigen vom Kirchenstreit betroffenen Gemeinden« seiner Ephorie als auch überhaupt in seiner »alten angestammten sächsischen Landeskirche«.33 Seine Vermittlungsversuche führten jedoch 1936 aufseiten des Pfarrernotbundes der Ephorie zum Vorwurf der Unwahrhaftigkeit, weswegen es Ende Januar/Anfang Februar zu einer dreitägigen Aussprache zwischen diesen mit Loesche kam, deren relevante Inhalte im Folgenden dargestellt werden sollen.34 So sprach der Lengenfelder Pfarrer Theodor Beyrich im Namen aller Anwesenden davon, dass sie »den Eindruck der Schwankung [hätten], und zwar der Entscheidung für das Regiment Coch, als dort die Macht lag, des Abrückens von Coch und seinen Maßnahmen aber seit Einsetzung des L[andes]K[irchen]Ausschusses, den er für gut heiße«. Loesche antwortete, dass er Amt und persönliche Haltung trenne, woraufhin aber die Notbundpfarrer Samuel Kleemann (Werda), Karl Leyn (Bergen) und Horst Ficker (Rodewisch) entgegneten, dass sie wegen dieser lavierenden Haltung den Eindruck der Führerlosigkeit gewonnen hätten, die in dieser entscheidungsvollen Zeit zum Verhängnis werde. Loesches angeblich neutrale Haltung sei voller DC-Gebahren, wobei er aber hin und wieder den Eindruck vermittle, er stünde hinter den Anliegen der Bekenntnisgemeinschaft. Es müsse »unausbleiblich zu einem Doppelspiel« führen, als Pfarrer Deutscher Christ zu sein, als Landesverbandskreisleiter aber neutral sein zu müssen. »Denn DC oder BDM35 oder Bekenntnisgemeinschaft seien eben doch Überzeugungsdinge.« Dass Loesche der Meinung sei, auf beiden Seiten im »Kirchenkampf« sei nur das Beste gewollt worden, reiche nicht aus, die Haltung des Balancierens sei untragbar. Auf Kleemanns Frage hin, ob er sich als Deutscher Christ die Führung einer Ephorie in den bevorstehenden Geisteskämpfen zutraue, entgegnete Loesche, dass er erst das theologische Gespräch zwischen dem Landeskirchenausschuss und den Thüringer DC abwarte und »von dessen Ergebnis seine Zuge32 33 34

Loesche an Schönberg vom 20.5.1932 (EphArch Auerbach/V., C VI/8c, unpag.). Loesche an Kerrl vom 18.11.1935 (EphArch Auerbach/V., Kirchenkampf 1934–1957, Bl. 36). Zum Folgenden vgl. Protokoll über Aussprache vom 29.1., 31.1. und 10.2.1936 (EphArch Auerbach/V., Kirchenkampf 1934–1957, Einlage, S. 1–11). Dort auch Zitate. 35 BDM stellt die Abkürzung von »Bund der Mitte« dar und wurde im despektierlichen Sinne in bewusster Analogie zum »Bund Deutscher Mädel« verwendet. Vgl. Mandy Rabe, Zwischen den Fronten. Die »Mitte« als kirchenpolitische Gruppierung in Sachsen während der Zeit des Nationalsozialismus, Leipzig 2017, S. 134.

Ernst Loesche

185

hörigkeit und Haltung abhängig« mache. Entscheidend sei für ihn die Frage des Anschlusses an die Thüringer DC, den er nicht mitmachen ­könne. Sein ursprüngliches Hoffen sei zwar enttäuscht worden, dennoch halte er am Reichskirchen­ideal der DC fest, »wenn auch unter Ablehnung des Thüringer Zieles«. Spannend ist in diesem Zusammenhang die Rückfrage von Pfarrer Leistner (Rodewisch-Untergöltzsch), warum er nicht »um der unter dem DC-Regiment leidenden Brüder willen BDM-Stellung eingenommen« habe, um Führer der Ephorie sein zu können. Eine unmittelbare Antwort auf diese Frage gab Loesche nicht. Im weiteren Verlauf der Aussprache kam man auf die Geltung des Obrigkeitsgehorsams nach Röm 13 und auf Loesches »sturen Gehorsam« zu sprechen. Dennoch scheint diese Rückfrage Früchte getragen zu haben: Ein Vierteljahr später folgte der Austritt aus den DC, und in den Folgejahren lässt sich Loesche als Vertreter der »Mitte« nachweisen. So gehörte er zu denjenigen Superintendenten, die durch Beschluss vom 29. September 1937 beurlaubt wurden, weil sie dem neuen deutschchristlichen Kirchenregiment Klotsche/Kretzschmar nicht genehm waren. Eine Auflistung der Betroffenen, die der Landesvorsitzende der Bekennenden Kirche und spätere Landesbischof Hugo Hahn im Juni 1938 anfertigte, macht deren kirchenpolitische Zuordnung deutlich. Während die Super­ intendenten Johannes Ficker (Dresden), Arndt von Kirchbach (Freiberg), OKR Kurt Lindner (Glauchau), Karl Hammerschmidt (Werdau), OKR Dr. Alfred Meyer (Rochlitz) und Walter Berg (Bautzen) zu den amtsenthobenen Notbundbrüdern zu rechnen sind, werden die Superintendenten Willy Gerber (Chemnitz), Ernst Loesche ­(Auerbach), Reinhold Semm (Plauen) und der stellvertretende Superintendent Martin Meinel (Bad Schandau) »aus den Reihen der Mitte« angeführt.36 Im Mai 1938 erscheint Loesche des Weiteren als Mitglied des Zehner-Ausschusses der »Mitte«. Im Zusammenhang mit dem von Klotsche angeordneten Eid auf Hitler erging von diesem Arbeitskreis ein Schreiben an »unsere Vertrauensmänner«, welches dafür warb, »den Eid vor der geordneten Stelle nachzuholen und auch im gesamtkirchlichen Interesse auf die Amtsbrüder vom Notbund in diesem Sinne brüderlich einzuwirken«. Zudem solle man sich nicht an den von der B ­ ekennenden Kirche geplanten Bittgottesdiensten beteiligen, »zumal die dafür zur Verlesung vorgelegte Erklärung freikirchliche Tendenzen enthält, die bei allen Schwierigkeiten der kirchlichen Lage der Gegenwart grundsätzlich im Interesse der Aufrechterhaltung der Volkskirche nicht zu vertreten« seien. Die gegenwärtigen Versuche des Kirchenregiments Klotsche, Kultus und Lehre deutschchristlich zu beeinflussen, seien wie die generellen sächsischen Verhältnisse der Gegenwart »untragbar«, weshalb man für ihre Ä ­ nderung eintreten müsse.37

36 37

Bericht aus der Ev.-luth. Kirche in Sachsen vom 1.6.1938 (LKArch Dresden, 5/106, 1, Bl. 141 a). LKArch Dresden, 5/106, 1, Bl. 141 d. Dort auch Zitate.

186

Mandy Rabe

Nachdem Loesches Entwicklung zur kirchenpolitischen »Mitte« dargestellt wurde, soll als Wirkungsfeld dieser Ausrichtung die Konferenzarbeit thematisiert werden. Zur Ephorie Auerbach gehörten mit der Auerbacher Konferenz und der Klingenthaler Konferenz zwei Pfarrkonferenzen, wovon letztere bis auf wenige Kriegsjahre durchgängig existierte, während in der erstgenannten der »Kirchenkampf« so heftig tobte, dass zeitweilig keine Zusammenkünfte stattfinden konnten. Als Auslöser dieser Auseinandersetzungen kann die Verabschiedung des Notkirchenrechts im Rahmen der Dahlemer Reichsbekenntnissyno­de vom ­Oktober 1934 angesehen werden. Zwar gab es in Falkenstein bereits im ­November 1933 kirchenpolitische Streitigkeiten zwischen dem Zweiten und Dritten Pfarrer, doch ging es dabei, wie sich der damalige Pfarramtsleiter Johannes Voigt 1958 erinnerte, »wenigstens in den ersten Stunden […] nicht um Glaubensdinge ideologischer Art […], sondern um persönliche Machenschaften eines Pfarrers gegen einen anderen«.38 Einschneidender war die Umsetzung der Dahlemer Beschlüsse, die für Sachsen bedeuteten, dass die »bisherigen amtlichen Konferenzen […] nicht mehr besucht« werden und an ihre Stelle »Konferenzen der Bekenntnisgemeinschaft« treten sollten.39 So erklärte Leyn als Vertrauensmann der Bekenntnisgemeinschaft der Ephorie gegenüber dem Konferenzleiter Johannes Müller »zugleich im Namen der Brüder« Beyrich (Lengenfeld), Ficker (Rodewisch), Kleemann (Werda), Lenk (Rempesgrün), Paul (Rebesgrün), Rappe (Tannenbergsthal), Schwabe, Voigt (beide Falkenstein) und Weidauer (Hammerbrücke) unmittelbar nach der Dahlemer Synode: »Es geht uns […] nicht um menschliches Rechthabenwollen, sondern um das große Wagnis, eine Kirche zu bauen in der Kraft des Glaubens. Wir können darum eine Kirchenregierung nicht anerkennen, die das mit Anwendung äußerer Gewalt tun wollte. Wir können deshalb auch die Konferenz nicht besuchen, […] unsere Stellung ist fest.«40 Loesche wandte sich daraufhin an die genannten Pfarrer – so auch im Dezember 1934 an Ficker mit der Bitte um eine Aussprache: »Sie haben mir schriftlich und auch mündlich erklärt, dass Sie keine Weisungen der Superintendentur mehr entgegennehmen. Dies hängt mit dem gegenwärtigen Kirchenstreit zusammen. Lassen wir das jetzt einmal beiseite. Sehen Sie bitte in mir den viel älteren Amtsbruder […] und kommen Sie als Amtsbruder zum Amtsbruder. Sie haben nach unsrer Aussprache ja weiterhin völlig freie

38 39 40

Erinnerungen von Johannes Voigt vom 9.1.1958 (LKArch Dresden, 5/710, 1, Bl. 427–430, hier 427). Die zweite Pfarrstelle hatte Paul Goldhan (DC), die dritte Wolfgang Schwabe (Notbund) inne. Rundschreiben des Landesbruderrates vom 1.11.1934 (LKArch Dresden, 36/57, Bl. 18). Leyn an Müller vom 10.11.1934 (EphArch Auerbach/V., C VI/8c, unpag.). Vgl. auch die Erklärung der Bekenntnisgemeinschaft, keine Weisungen von der Superintendentur mehr annehmen zu wollen, und die Abbestellung des Gemeindeblattes: Leyn an Loesche vom 3.11.1934 (EphArch Auerbach/V., B VI/3, Bl. 6).

Ernst Loesche

187

­ ntschließung. Ich will Ihnen keine Weisungen geben, die der Vorgesetzte als bindend erteilt. Mir E liegt ausschließlich daran, nichts unterlassen zu haben, was den Frieden herstellen kann. Ich meine doch, dass wir Pfarrer in dieser Richtung nichts unterlassen dürfen.«41

An der Konferenzsituation änderte sich jedoch lange Zeit nichts. Dauerhaft fehlten die acht BK-Pfarrer.42 Auch der Umbruch durch die Einsetzung des Landeskirchenausschusses brachte keine Annäherung. An eine Beteiligung sei »nicht zu denken«, da »bis zur Stunde noch alles beim Alten« geblieben sei.43 Erst im Dezember 1936 findet sich der Protokolleintrag, dass die Konferenz »zum ersten Mal seit langer Zeit wieder Amtsbrüder aus dem Lager der Bekenntnisfront« sehe.44 Doch bedeutet diese Notiz keine Befriedung der Konferenz, da seit diesem Zeitpunkt die DC-Pfarrer fernblieben und in der Folge auch nicht mehr eingeladen wurden, was nach dem neuerlichen Umbruch der deutschchristliche stellvertretende Superintendent und Auerbacher Pfarramtskollege Loesches, Gerhard Braunschweig, zum Anlass nahm, dem Landeskirchenamt mitzuteilen, dass von einer regelrechten Sitzung nicht mehr die Rede sein könne:45 »Die Auerbacher Pfarrkonferenz hat schon seit Frühjahr 1937 nicht mehr ordentlich getagt, da 6 Mitglieder, die zur Deutschen Pfarrergemeinde gehören, überhaupt nicht mehr eingeladen worden sind. […] Lediglich auf Treiben einer bestimmten Gruppe, die sich dem damaligen Landeskirchenausschuss gefällig erweisen wollte, sind diese 6 derartig behandelt worden. […] Jetzt ist aber die Konferenz, oder genauer gesagt ihr Rumpfparlament, nach dem Bericht des Vorsitzenden weiter zerfallen. Bekenntnisfront und Mitte (mit Superintendenten Loesche), die in der Konferenz nach Ausschluss der Deutschen Pfarrergemeindeglieder unter sich sein wollten, scheinen auseinandergefallen zu sein. Der Fluch der bösen Tat!«46

Im Umfeld des 25-jährigen Amtsjubiläums Loesches trat die Konferenz im Sommer 1939 wieder wenige Male zusammen, bevor sie während des Krieges hauptsächlich aufgrund von kirchenpolitischen Spannungen nur noch zweimal tagte.47

41 Loesche an Ficker vom 20.12.1934 (EphArch Auerbach/V., B VI/2, Bl. 9). Vgl. Protokoll der Konferenz vom 3.12.1934 (EphArch Auerbach/V., C VI/8c, unpag.). 42 Bei den acht BK-Pfarrern handelte es sich um die oben genannten, abzüglich Rappe und ­Weidauer, die der Klingenthaler Konferenz angehörten. 43 Kleemann an Müller vom 16.1.1936 (EphArch Auerbach/V., C VI/8c, unpag.). 44 Protokoll der Konferenz vom 7.12.1936 (EphArch Auerbach/V., B VII/3, Bl. 32). 45 Vgl. Braunschweig an das Landeskirchenamt vom 4.10.1937 (EphArch Auerbach/V., B VII/3, Bl. 65). 46 Braunschweig an das Landeskirchenamt vom 21.1.1938 (EphArch Auerbach/V., B VII/3, Bl. 77). Bei den sechs Mitgliedern der »Deutschen Pfarrergemeinde« handelt es sich um die Pfarrer Bohland (Rodewisch), Braunschweig (Auerbach), Goldhan (Falkenstein) und Ruhland (Auerbach) sowie die Vikare Gössel (Falkenstein) und Haupt (unbekannt). 47 Vgl. Protokoll vom 24.9.1941 (EphArch Auerbach/V., B VII/3, Bl. 164); Konferenzeinladung vom 28.10.1943 (ebd., Bl. 174). Die Konferenz zur Feier des Amtsjubiläums 1939 beinhaltete ein Bekenntnis der Pfarrerschaft mit Ausnahme der DC-Pfarrer zu Loesche. Vgl. Loesche an Lau vom 29.10.1946 (LKArch Dresden, 2/1810, Bl. 67–69, hier 68).

188

Mandy Rabe

Zwar forderte Loesche den neu ernannten Konferenzleiter Friedrich Klemm auf, zur Konferenz einzuladen, da der Abstand sonst zu groß würde.48 Dieser sah sich dazu aber nicht in der Lage, weil die Konferenz »nicht zuerst eine offiziöse Einrichtung mit rein sachlichen Zwecken« sei, »sondern eine Gesinnungsgemeinschaft, die nur bestehen kann in einem Kreis, der Bruderschaft sein oder werden will. Diese Voraussetzung ist zur Zeit nicht gegeben«.49 Bei der Klingenthaler Konferenz kam es im Juli 1944 zur ersehnten Wiederbelebung, was Loesche mit »besonderer Freude und herzlichem Dank« zur Kenntnis nahm.50

1945 und die Folgen für Ernst Loesche Wie sehr sich in der Auerbacher Ephorie und besonders innerhalb der Auerbacher Konferenz die Fronten verhärtet hatten, zeigt sich besonders im Umfeld der beginnenden Entnazifizierung und Selbstreinigung der Landeskirche nach 1945. Trotz seiner schriftlichen Stellungnahme zur nationalsozialistischen Bewegung51 wurde auch Loesche im November 1945 vom Superintendentenamt beurlaubt, nachdem er vorher kurzzeitig sogar die Superintendentur Glauchau anstelle des abgesetzten Superintendenten Fritz Schulze verwaltete.52 Zum 1. Mai 1946 ­wurde Loesche dann abberufen, wobei ihm die »Möglichkeit einer Nachprüfung durch einen Feststellungsausschuss offengelassen« wurde, die Loesche auch in Anspruch nahm.53 Zum Sachbearbeiter wurde Oberpfarrer Gustav Alwin Mürbe (Hochkirch bei Löbau) ernannt, zum Anklagevertreter der nunmehrige Falkensteiner Pfarrer Horst Ansorge, an dem es auch war, eine Anklageschrift anzufertigen, mit der sich dieser allerdings über die Maßen Zeit ließ. Loesche, der seit dieser Verfahrenseröffnung vom 27. Juli 1946 täglich mit der Einberufung zur Verhandlung rechnete, schrieb unterdessen mehrfach an das Landeskirchenamt. Aufgrund der unerwartet anstehenden Operation seines doppelseitigen Leistenbruches bat er um die zügige Zusendung der Anklageschrift, da ihm »eine weitere Hinausziehung der Angelegenheit seelisch unerträglich« sei. »Bei der Ordnung meiner Dinge duldet an erster Stelle die Klärung [der] Anschuldigun48 Vgl. EphArch Auerbach/V., B VII/3, Bl. 175. Klemm wurde neuer Konferenzleiter, nachdem Müller am 29.5.1942 bei Loesche um Entbindung von der Konferenzleitung gebeten hatte, der dieser nur unter großem Bedauern zustimmte (EphArch Auerbach/V., B VII/3, Bl. 171 f.). 49 Klemm an Loesche vom 1.6.1944 (EphArch Auerbach/V., B VII/3, Bl. 176). 50 Loesche an Wallmann vom 31.7.1944 (EphArch Auerbach/V., B VII/3, Bl. 180). 51 Loesche an Landeskirchenamt, o. D. [August 1945] (LKArch Dresden, 2/1810, Bl. 2–4). 52 Vgl. Hein, Landeskirche, S. 195; 220. 53 Lau an Loesche vom 27.7.1946 (LKArch Dresden, 2/1810, Bl. 45). Geprüft werden sollte, »ob kirchliche Tatbestände vorliegen, die die Übertragung eines anderen Ephoralamtes ausschließen« (ebd.). Vgl. auch Loesche an Landeskirchenamt vom 2.1.1947 (ebd., Bl. 82) sowie Hein, Landeskirche, S. 195.

Ernst Loesche

189

gen und Beleidigungen, die dem Landeskirchenamt so bedeutsam erschienen, dass es mir, ohne eine Untersuchung darüber mit mir anzustellen, daraufhin ein legal erworbenes Auerbacher Ephoralamt genommen hat, nunmehr keinen Aufschub weiter.«54 Da Ansorge aber erst im Dezember 1946 mit der Verfassung der Anklageschrift begann,55 konnte Loesche diese Bitte nicht erfüllt werden, was ihn schwer enttäuschte, zumal er mehrfach die Bereinigung seiner »Ehrensache« anmahnte; er wolle jederzeit sein Haus bestellt haben.56 Auch die Auerbacher CDU hatte sich mit einer Eingabe an das Landeskirchenamt für Loesche eingesetzt, worauf als Antwort erfolgte, »dass Herr Superintendent Loesche die geistliche Führung des Kirchenbezirkes Auerbach nicht wieder wird übernehmen können […], dass politische Momente [aber] höchstens indirekt bei den Spannungen zwischen ­Superintendent Loesche und der Pfarrerschaft des Kirchenbezirkes Auerbach mitgewirkt haben«.57 Diese Spannungen hatten sich in den Kriegsjahren intensiviert, wie aus der Anklageschrift, die Ansorge am 7. März 1947 bei ­Mürbe einreichte, hervorgeht.58 So stammte das gesamte Belegmaterial bis auf eine Aus­ nahme aus den Jahren 1943 bis 1945.59 Im Rahmen der Anklageschrift griff Ansorge einen Brief Klemms, den dieser im Juli 1945 an Loesche gerichtet hatte, im besonderen Umfang auf. Dass Klemm – anders als Ansorge – Loesche bereits zehn ­Jahre kannte, ihn als Mitbruder in seinen »hohen Fähigkeiten« schätzte und ihm auch bleibend dankbar war »für den Einsatz in meinen Kämpfen«, ließ er in seiner ­Rezeption des Briefes aber ebenso beiseite wie Klemms Feststellung, dass es »ohne Zweifel« sei, dass er »dem Klotscheregiment gegenüber auch öfter energisch und tatkräftig das Recht der wahren Kirche vertreten« habe.60 Während Ansorge primär Klemms Darstellung einzelner konkreter Auseinandersetzungen übernahm, soll im Folgenden der Fokus auf Klemms Beschreibung von Loesches Persönlichkeit liegen. Besonders aufschlussreich erscheint Klemms Einschätzung, worin das eigentliche Unglück bestehe, nämlich dass Loesche »immer wieder das äußere juristische Recht […], Autorität und Geltung in der formalen

54

Loesche an Landeskirchenamt vom 17.9.1946 (LKArch Dresden, 2/1810, Bl. 45). Vgl. die ärztliche Bescheinigung (ebd., Bl. 61). 55 Vgl. Ansorge an Lau vom 3.1.1947 (ebd., Bl. 84). 56 Vgl. Loesche an Lau vom 29.10.1946 (ebd., Bl. 67–69), 31.10.1946 (ebd., Bl. 70), 10.11.1946 (ebd., Bl. 71 f.), 2.1.1947 (ebd., Bl. 82). 57 Landeskirchenamt an CDU Auerbach, 21.5.1946 (ebd., Bl. 5). Vgl. auch ein weiteres Schreiben der Auerbacher CDU an das Landeskirchenamt vom 15.1.1947, die sich gegen die Einsetzung des neuen Superintendenten Walter Taut aussprach, weil Loesches Situation noch immer nicht geklärt sei (ebd., Bl. 85). 58 Zum Folgenden vgl. Anklageschrift, o. D. (ebd., Bl. 6–43). 59 Die Ausnahme bilden Zitate aus den »Heimatklängen« von 1933/34. 60 Klemm an Loesche vom 20.7.1945 (LKArch Dresden, 2/1810, Bl. 36–40, hier 36).

190

Mandy Rabe

Ordnung« sehe und suche und dabei nicht verstehe, »wo es um seelische Not geht«.61 »Zahlreiche Zerwürfnisse der letzten Jahre« seien immer so entstanden, dass Loesche »diese Seelenlosigkeit, d. h. Lieblosigkeit, verursachte […] oder duldete«.62 Des Weiteren habe Loesche »einen gefährlichen Hang zur Diplomatie«. Gefährlich deshalb, weil sich damit sein »starkes Geltungsbedürfnis« verbinde und weil er sich bei seinem »leidenschaftlichen Temperament, ohne es zu wollen, in Widersprüche« verwickle. Weil man nie wüsste, ob er an einem anderen Tag eine andere Meinung zur selben Sache haben würde, verlangten die Kollegen schriftliche Äußerungen. Loesche hingegen fordere stattdessen immer wieder unverbindliche mündliche Besprechungen, durch die dann das Unangenehme in der Schwebe gelassen würde.63 Zudem habe er »die Eigenart, sehr viel zu reden und den andern schwer zu Wort kommen zu lassen«. Je nach der Gefühlsdisposition höre er manches gar nicht oder fasse es »stark subjektiv verfärbt« auf, sodass etwas ganz anderes daraus entstehe.64 Zu einer ähnlich gearteten Einschätzung gelangte auch der ehemalige Falkensteiner Pfarrer Johannes Voigt: »Der ­schwerste charakterliche Fehler von L[oesche] war wohl, dass er ins Angesicht einem jeden recht gab. Das machte ihn zum Führer untauglich. Er war immer auf der Seite des geringsten Widerstandes.«65 Die Anklageschrift bekam Ernst Loesche nicht mehr zur Kenntnis. Er verstarb am 11. März 1947 in seinem 59. Lebensjahr. Seine Frau, Ella Anna Sidonie Loesche, geb. von Besser, die zwei Jahre nach ihrem gefallenen Sohn auch ihren Mann verlor, gab der Todesanzeige mit Hi 4,3f 66 und Mt 5,9 67 zwei Bibelstellen bei, die Loesches Charakter aus einer anderen Perspektive beleuchteten.68 Mit Ernst Loesche gehörte aufgrund seiner ambivalenten Persönlichkeit ein Mann zur »Mitte«, den man im Rückblick womöglich als »Mitläufer« bezeichnen könnte, der den kirchenpolitischen Herausforderungen seiner Zeit nicht in dem Maße gewachsen war, wie es der Lage der Auerbacher Ephorie entsprochen hätte. »In ruhigen Zeiten wäre er«, so Lenk, »ein annehmbarer Ephorus gewesen.«69

61 Ebd. 62 Ebd., Bl. 37. 63 Vgl. ebd., Bl. 13, 40. 64 Ebd., Bl. 37. 65 Bericht Voigts vom 7.4.1946 (LKArch Dresden, 2/1810, Bl. 18). 66 Hi 4, 3 f.: Siehe, du hast viele unterwiesen und lässige Hände gestärkt, deine Rede hat die ­Gefallenen aufgerichtet. 67 Mt 5, 9: Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen. 68 Vgl. Todesanzeige Loesche (LKArch Dresden, 2/1810, Bl. 100). Ella Loesche lehnte Laus Angebot, ihr Rede und Antwort zu stehen, ab. Vgl. Lau an Frau Loesche vom 13.3.1947 (ebd., Bl. 95). Sie selbst verstarb am 29.4.1964 (ebd., Bl. 102). 69 Gotthilf Lenk, Vorgänge beim Amtswechsel in der Ev.-luth. Superintendentur Auerbach i. V. in den Jahren 1933 und 1946 (LKArch Dresden, 5/710,1, Bl. 5 f., hier 6).



Mandy Rabe Willy Gerber

Franz Willy Gerber wurde am 21. April 1895 als Sohn des Bankbeamten Otto Gerber und dessen Frau Agnes Marie, geb. Sparing, in Dresden geboren. Nach dem Abitur 1914 am humanistischen König-Georg-Gymnasium in Dresden begann Gerber mit dem Studium der Theologie an der Universität Leipzig, das er im ­Februar 1917 im Rahmen der kriegsbedingten Notprüfung mit der Note 2a abschloss. Von April bis August 1917 leistete Gerber innerhalb der Soldatenheimarbeit an der Ostfront seinen Wehrdienst. Am 4. August 1917 begann sein Vikariat in der Mariengemeinde in Zwickau, wo er bis zum Jahresende 1918 blieb. Das folgende halbe Jahr war er als Hilfsgeistlicher im erzgebirgischen Zöblitz t­ ätig. Nach seinem Zweiten Theologischen Examen im Sommer 1919, welches er in ­allen Teilleistungen mit der Note 1 bestand, versah er dort bis April 1926 den Pfarrdienst. Während seiner Zöblitzer Zeit heiratete Gerber seine erste Frau Charlotte Katha­ rina, geb. Schreiber, und bekam mit ihr drei Töchter. Nach ihrem Tod 1961 heiratete Gerber drei Jahre später seine zweite Frau Lisa Johanna Gertraud, geb. Beyer. Von April 1926 bis November 1929 war Gerber Missionsinspektor am Leipziger Missionshaus, bevor er am 1. Dezember 1929 Erster Pfarrer der Jakobigemeinde in Chemnitz wurde. Zwei Jahre später wurde ihm zusätzlich das Superintendentenamt für die Ephorie Chemnitz-Stadt übertragen. Im Rahmen der kirchenpolitischen Befriedung wirkte Gerber von November 1935 bis August 1937 als Vertreter der »Mitte« im Landeskirchenausschuss für die Evangelisch-lutherische Landes­ kirche Sachsens mit. Nach dessen Auflösung wurde Gerber wie auch ­andere ­Superintendenten und Pfarrer vom neuen Kirchenregiment Klotsche beurlaubt. Erst 1940 wurde er wieder in sein Ephoralamt eingesetzt. 1953 wurde Gerber als Oberlandeskirchenrat in das Landeskirchenamt berufen. Auf eigenen Wunsch wurde er zum 1. Oktober 1964 in den Ruhestand verabschiedet. Gerber starb am 9. Mai 1980 im Alter von 85 Jahren.1 1

Vgl. LKArch Dresden, 2/ 866, Bl. 1–3, 9, 242; Markus Hein, Die sächsische Landeskirche nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges (1945–1948). Neubildung der Kirchenleitung und Selbstrei-

192

Mandy Rabe

Im Folgenden soll die Person Willy Gerbers vor allem in der Zeit des Nationalsozialismus ausführlicher dargestellt werden. Dies ist aus der Perspektive des wissenden Rückblicks ein lohnenswertes Unterfangen, da es sich bei Gerber um den einzigen Superintendenten handelte, der trotz einer Mitgliedschaft in der NSDAP nach 1945 sein »Amt behielt und dies auch in derselben Ephorie wie zur Zeit des Nationalsozialismus«.2 Für diese Ausnahme, die für Markus Hein »ein Zeichen für die wirkliche Integrität Gerbers«3 ist, spielen Gerbers Frömmigkeit und theologische Ausrichtung eine nicht zu unterschätzende Rolle, weswegen auf diesen Aspekt besonders eingegangen werden soll.

Der Einfluss von Gerbers Frömmigkeit auf seine Gemeindearbeit Gerbers Interesse für den Pfarrberuf wurde nach seinen eigenen Angaben vor allem durch den Schülerbibelkreis geweckt. Während seines Th ­ eologiestudiums galt sein besonderes Interesse der Missionswissenschaft.4 Auch nach dem S­ tudium ließ ihn die Missionsthematik nicht los, wie sich an seiner zwischenzeitlichen Tätigkeit als Missionsinspektor zeigt, wo er vor allem der Äußeren Mission verpflichtet war. Seine Wahl zum Ersten Pfarrer der Chemnitzer Jakobigemeinde 1929 verstand er jedoch als eine göttliche Korrektur seines Weges, der nun »nicht in die Weite der Mission, sondern in die Enge heimatlicher Arbeit gehen sollte«.5 Anlass dafür war, dass er eine geplante Vortragsreise in das französische Elsass-Lothringen nicht antreten konnte, da ihm am Tage seiner Gastpredigt in der Jakobikirche das bereits erteilte Visum wieder entzogen worden war. Fortan widmete sich Gerber dem Bereich der Inneren Mission, wenn er auch versuchte, dem Frauenmissionskreis der Gemeinde die Realität der Afrikamission nahezubringen. Dieser hatte sich bisher mit erbaulichen Geschichten begnügt, aber stets

nigung der Pfarrerschaft, Leipzig 2002, S. 204 f.; Sächsisches Pfarrerbuch. Die Parochien und Pfarrer der Ev.-luth. Landeskirche Sachsens (1539–1939). Im Auftrage des Pfarrervereins für Sachsen bearb. von Pfr. a. D. Reinhold Grünberg (Freiberg), Band 2: Die Pfarrer der ev.-luth. Landeskirche Sachsens (1539–1939). Abteilung I (A–L), Freiberg 1939/40, S. 232. Dort wird fälschlicherweise Gerber als Superintendent von Chemnitz-Land aufgeführt. 2 Hein, Landeskirche, S. 205. 3 Ebd. 4 Vgl. LKArch Dresden, 2/866, Bl. 3 f. 5 Willy Gerber, Erlebtes – Erstrebtes an St. Jakobi in Chemnitz 1929–1943, S. 4 (KGArch Chemnitz-Jakobi, 21/5/1). Bezeichnenderweise verwies Gerber nur in diesen Lebenserinnerungen anlässlich seines 25-jährigen Ordinationsjubiläums auf die Deutung göttlicher Fügung. Gegenüber dem Landeskirchenamt teilte er drei Jahre später (1946) mit, er habe »gesundheitlich den Reisedienst nicht aus[gehalten] und [sei] darum 1929 wieder ins Gemeindeamt zurückgekehrt«. (LKArch Dresden, 2/866, Bl. 5 f.). Für den Hinweis auf die Existenz dieser Lebenserinnerungen Gerbers danke ich recht herzlich Benjamin Krohn.

Willy Gerber

193

eifrig für die Äußere Mission gespendet.6 Gerbers missionarisches Streben zielte einerseits auf die Verkirchlichung der Gemeindeglieder, andererseits auf die Hinzugewinnung von Menschen, die sich von der Kirche entfremdet hatten. Hintergrund für Ersteres war die liberale Theologie, die sein Vorgänger, Oberpfarrer Martin Alfred Eger, pflegte und die für Gerber, der Eger sehr wohl persönlich schätzte, Ursache allen Übels im Gemeindeleben war. Dass in den einzelnen Gemeindekreisen kaum gesungen, gebetet oder die Bibel gelesen wurde, war für den betont positiv-lutherisch geprägten Gerber Anlass genug, das ansonsten blühende Vereinsleben der Jakobigemeinde umzugestalten. So bewirkte er den Anschluss des vormals bewusst unabhängigen Frauenbundes der Gemeinde an den Landesverband für Christlichen Frauendienst »und damit die Einführung von geistlichem Lied, regelmäßigem Schriftwort und Gebet und Zuleitung des gesamten kirchlichen Schrifttums des Landesverbandes«.7 Ebenso erreichte er die Freihaltung des Sonntagvormittags für den Gottesdienstbesuch, wohingegen bis dato viele weltliche Vereine im Bereich der Ephorie den Oberpfarrer8 auch für Veranstaltungen am Sonntagmorgen einluden oder der Frauenmissionsverein der Gemeinde seine Ausflüge stets am Sonntagvormittag machte. Hand in Hand mit Gerbers Anliegen der gottesdienstlichen Sonntagsheiligung ging der Wunsch nach einer würdevolleren Ausgestaltung der Gottesdienste und einer angemessenen Würdigung der Sakramente. So führte Gerber sowohl die agendarisch vorgeschriebene Schlussliturgie wieder ein als auch die ungekürzte Abendmahls­liturgie, die sein Vorgänger auf ein Minimum reduziert hatte. Auch das Sakrament der Taufe sollte wieder aufgewertet werden. Statt des Taufvollzuges an einem wackligen Holztisch in der Sakristei holte Gerber die Taufe in den Kirchenraum zurück, indem er den aufgrund seiner Deplatzierung lange Zeit unbenutzten Taufstein der Gemeinde in die Mitte des Altarplatzes rücken ließ. Den Altar selbst wollte er »durch eine helle Anstrahlung zum Mittelpunkt des gottesdienstlichen Raumes« machen.9 Dieses Vorhaben beschäftigte ihn länger als zehn Jahre und konnte erst 1942 endgültig umgesetzt werden.10 Die ersten Versuche waren gescheitert, weil durch die interimistische Beleuchtung tiefe Schatten entstanden und »ein so ­grelles, unliturgisches Licht reklamemäßig in   6

Vgl. Gerber, Erlebtes, S. 10, 28 f. Zu einer direkten Anbindung an die Innere Mission kam es erst kriegsbedingt im September 1939, als Gerber den einberufenen Stadtmissionsdirektor vertrat und die Leitung der Stadtmission und ihrer Heime und Anstalten übernahm. Vgl. dazu ebd., S. 80 f.   7 Ebd., S. 14.   8 »Oberpfarrer« wurde der Erste Pfarrer der Jakobigemeinde seit 1844/48 genannt, nachdem das Superintendentenamt, welches vorher mit dieser Pfarrstelle verbunden war, nicht an den damaligen Ersten Pfarrer verliehen werden sollte und deswegen zunächst der Nikolai-, später der Paulusgemeinde angegliedert wurde. Vgl. ebd., S. 4, 33.   9 Gerber, Erlebtes, S. 12. 10 Der Altar wurde vergoldet, die Figuren bunt bemalt und ein neuer Altarteppich angeschafft. Vgl. ebd., S. 91 f.

194

Mandy Rabe

den Mittelpunkt fiel«,11 dass man sie wieder entfernte. Welche Bedeutung Gerber dem Altarraum zuwies, zeigt sich in besonderer Weise auch an seiner Ablehnung der bislang in der Jakobikirche aufgeführten Laienschauspiele. Als Begründung führte Gerber an: »Werden ­Laienspiele in der Kirche aufgeführt, so entstehen meines Erachtens folgende Gefahren: Das Schauspielerische verdeckt das Liturgische, die sichtbare Handlung der Menschen nimmt bei den Gemeindegliedern das Verständnis weg für die sichtbare Handlung Gottes im Sakrament, und die von Menschen gespielten Worte entwerten gar leicht das sonst im Gottesdienst nur gesprochene Wort, ganz zu schweigen von der Einführung unechter Dinge an der Stätte, an der nur Echtestes zu sein ein Recht hat (Kostüme, Bärte usw.).«12 Der Steigerung der Kirchlichkeit nach innen fühlte sich Gerber auch als Superintendent gegenüber seiner Pfarrerschaft verpflichtet. Deshalb sah er dieses Amt nicht als Verwaltungsamt an, sondern als »Dienst theologischer, geistlicher, seelsorgerlicher, brüderlicher Art an den Pfarrern der Stadt und ihren Häusern […], bei dem ein Stück Verwaltungsarbeit selbstverständlich, aber nebensächlich ist«.13 Regelmäßige Matutin-Feiern14 am Montagmorgen gehörten zu diesem Dienst ebenso wie Pfarrer-Bibelstunden. Zum Bedauern Gerbers waren nur wenige Geistliche der Ephorie für dieses gemeinsame Morgengebet empfänglich. So kamen in den Jahren bis zum Kriegsbeginn 12 bis 15 von 58 Pfarrern des Kirchenbezirks wöchentlich zusammen, in den Kriegsjahren dann circa acht von 38. Als Grund für ihr Fernbleiben gaben die Geistlichen neben Zeitverlust auch die Ablehnung der nicht mehr zeitgemäßen liturgischen Form der Matutin-­Feier an, welche aber Gerber sehr wichtig war. Seiner Einschätzung nach wäre der »Kirchenkampf«15 nicht so heftig ausgefallen, wenn die Pfarrerschaft eine durch die Matutin gefestigte betende Gemeinschaft gewesen wäre.16 Das Streben Gerbers nach Verkirchlichung innerhalb der Kirche korrespondiert mit seinem Anliegen, durch Volksmission Menschen neu zur Kirche hinzuführen. So richtete er 1932 mit der »Herberge zur Heimat« einen Treffpunkt für arbeitslose Männer ein und schuf durch die Anbindung der bis dato vagabun11 Ebd., S. 12. 12 Ebd., S. 27 f. Im Original mit Unterstreichungen. Krippen- und sonstige geistliche Laienspiele waren nur noch in den Gemeindesälen gestattet. 13 Ebd., S. 38. 14 Als Matutin wird das erste Stundengebet des Tages nach klösterlicher Tradition bezeichnet. Sie ist gleichbedeutend mit der Vigil. Von »Matutin« leitet sich die für das Morgengebet im evangelischen Bereich übliche Bezeichnung »Mette« her. 15 Eine Diskussion der Begrifflichkeit des »Kirchenkampfes« ist im Rahmen dieses Beitrages nicht möglich. Es soll aber an dieser Stelle auf die Ambivalenz dieses Begriffes aufmerksam gemacht werden, weshalb er auch durchgängig in Anführungsstriche gesetzt wird. Zur Diskussion der Begrifflichkeit vgl. Joachim Mehlhausen, Nationalsozialismus und Kirchen. In: Theologische Realenzyklopädie, Band 24, Berlin 1994, S. 43–78, hier 43 f. 16 Vgl. Gerber, Erlebtes, S. 39.

Willy Gerber

195

dierenden Chemnitzer Stadtmission an die Jakobigemeinde einen verbindlicheren Anlaufpunkt; unter anderem wurde in der Gemeinde ein soziales Hilfswerk eingerichtet. Auch in der Wortverkündigung wollte Gerber keine Chance zur Volksmission ungenutzt lassen. Diesem Ziel dienten auch Grabreden und Schulanfängergottesdienste.17 Um die ortsansässigen Akademiker, von denen sich nur wenige zur Gemeinde hielten, zu gewinnen, initiierte Gerber »Altfreunde-­ Abende der ›Deutsch-Christlichen-Studenten-Vereinigung‹« (DCSV) in seiner Wohnung, um sie »zum Mutterboden einer Akademiker-Mission in Chemnitz werden« zu lassen.18

Gerbers Mitgliedschaft in der NSDAP und bei den Deutschen Christen Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass sich Gerber im besonderen Maße angesprochen fühlte, als der Leipziger Superintendent OKR D. Gerhard Hilbert bei einer Ephorenkonferenz im Frühjahr 1933 mahnte, dass angesichts der neuen Zeit insbesondere die jüngeren Superintendenten »nicht neben dieser großen, heraufkommenden politischen Partei stehen blieben, sondern, wenn sie es politisch bejahen könnten, dann von innen mitzuarbeiten versuchen sollten«.19 Gerber, der zu dieser Zeit der jüngste Ephorus und bis zu diesem Zeitpunkt noch an »keiner einzigen Veranstaltung der Partei« teilgenommen hatte,20 trat in der Folge in die NSDAP ein.21 Im November 1945 erklärte er, bald nach 17 18

19

20 21

Vgl. ebd., S. 47. Ebd., S. 5, 48. Dort auch Zitate. Die DCSV wurde 1897 gegründet, war Mitglied des Christlichen Weltstudentenbundes und existierte bis zu ihrem Verbot 1938. Sie hat nichts mit der kirchenpolitischen Gruppierung der Deutschen Christen zu tun. Vgl. Haejung Hong, Die Deutsche Christliche Studenten-Vereinigung (DCSV) 1897–1938. Ein Beitrag zur Geschichte des protestantischen Bildungsbürgertums, Marburg 2001; Karl Kupisch, Studenten entdecken die Bibel. Die Geschichte der Deutschen Christlichen Studenten-Vereinigung (DCSV), Hamburg 1964. Gerber, Erlebtes, S. 53. Eventuell erinnerte sich Gerber an dieser Stelle falsch. Die entscheidende Ephorenkonferenz, die auch andere Superintendenten als Auslöser für ihren NSDAP-Beitritt benannten, fand am 11.12.1930 in Leipzig statt. Hilbert sprach dort zum Thema »Die völkische Bewegung und wir Geistlichen«. Vgl. Hein, Landeskirche, S. 192 f. Da Gerber aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu den Ephoren der Landeskirche zählte, ist davon auszugehen, dass Hilbert womöglich mehrfach für einen Parteieintritt warb, eventuell auch im Rahmen einer weiteren Ephorenkonferenz im Frühjahr 1933. Gerber an Landeskirchenamt vom 13.11.1945 (LKArch Dresden, 2/866, Bl. 24 f., hier 24). Vgl. Beantwortung des Fragebogens des Landeskirchenamtes durch Gerber vom 23.2.1947 (ebd., Bl. 67–71). Die Angaben zum NSDAP-Eintritt Gerbers sind widersprüchlich. Während Gerber selbst 1945, in Andeutung auch in den Lebenserinnerungen 1943, das Frühjahr 1933 benennt, datiert Markus Hein den Parteieintritt in das Jahr 1929 und äußert die Vermutung, Gerber sei nur aufgrund seiner Parteizugehörigkeit Superintendent geworden. Leider fehlt bei Hein ein Quellenverweis (vgl. Hein, Landeskirche, S. 204). In der Zentralkartei des Bundesarchivs ist der 1.5.1933 als Eintrittsdatum vermerkt (BArch [ehem. BDC], 31XX, Gerber, Willy, 21.4.1895).

196

Mandy Rabe

seinem Parteieintritt habe er erkannt, dass er »hinsichtlich der Vertretung kirchlicher Belange in der Partei ohnmächtig war, und dass dort ein Kurs gegen die Kirche gesteuert wurde«. Dennoch blieb er weiterhin NSDAP-Mitglied, was er nach Kriegsende damit rechtfertigte, dass ein Austrittsverbot bestanden habe.22 Ein solches existierte jedoch nicht. Zum Parteieintritt gesellte sich die Zugehörigkeit zu den Deutschen Christen, was Gerber 1945 ebenfalls mit seiner volksmissionarischen Ausrichtung erklärte. Für den Beitritt in »die neue volksmissionarische Bewegung, die den Namen ›Deutsche Christen‹ führte«, entschieden sich aus gleicher Motivation auch Superintendent Arno Spranger (Annaberg), Superintendent Andreas Fröhlich (Leipzig-Land), der 1931 »infolge seiner engen Verbundenheit mit [Gerber] zum Evangelisten in der Jakobikirche gemacht worden war, der junge hochbegabte Dr. theol. Walter Grundmann, den [Gerber] kurz vorher in der Lutherkirche getraut hatte, und der als DCSVer von seiner Studienzeit an mit [Gerber] verbunden war, und eine Reihe anderer«.23 Auch wenn Gerber gegen Jahresende 1933, vermutlich infolge des Berliner Sportpalastskandals, aus den Deutschen Christen wieder austrat, war er doch während seiner Mitgliedschaft nicht untätig. So veranstaltete er zusammen mit der Kreisleitung der NSDAP anlässlich des Reformationsfestes 1933 eine Massenversammlung in der Chemnitzer Sachsenhalle, die eine volksmissionarische Aktion großen Stils sein sollte.24 Über 50 000 Besucher nahmen teil. Gerber merkte an, dass diese Veranstaltung »zwar nicht geistlich in die Tiefe ging, aber doch ein sehr lauter Ruf zur Sache Luthers war«.25 Im Vorfeld wurden Ansteckbroschen mit Lutherkopf und sächsischer DC-Parole »Mit Luther und Hitler für Glaube und Volkstum« verkauft. Gerade das zweifache »und« in dieser Formulierung sei, so Gerber, »für den Geist jener Tage kennzeichnend«26 gewesen. Neben Landesbischof Coch, der im Braunhemd sprach und der Masse die dreimalige feierliche Bejahung zu Luther und Kirche, deutschem Volk und der Sache Hitlers entlockte, kam auch Gerber zu Wort. Über seine Rede war am nächsten Tag Folgendes in der Chemnitzer Lokalpresse zu lesen:

22

Gerber an Landeskirchenamt vom 13.11.1945 (LKArch Dresden, 2/866, Bl. 24 f., hier 24). Wie sich Gerbers Parteimitgliedschaft gestaltete, ist ungewiss. Eventuell hat die Ortsgruppe der NSDAP die Mitgliedschaft des Ephorus als Erfolg gewertet. Ein Aushängeschild der Partei war er jedoch nicht, da nur wenige von seiner Mitgliedschaft wussten. Zu einem Parteiausschluss kam es aber ebenso wenig. Vgl. ebd., Bl. 25, sowie Mitteilung des Geistlichen Vertrauensrates der Ephorie Chemnitz-Stadt vom 4.12.1945 (LKArch Dresden, 2/866, Bl. 28). 23 Gerber, Erlebtes, S. 55. 24 Vgl. zum Folgenden ebd., S. 55 f., sowie die auszugsweise Abschrift aus dem Chemnitzer Tageblatt und Anzeiger Nr. 303 vom 1.11.1933 (LKArch Dresden, 5/222, Bl. 3). 25 Gerber, Erlebtes, S. 56. 26 Ebd.

Willy Gerber

197

»Wir sind, so bekennt er, an einem einzigartigen deutschen Reformationsfest hier versammelt und wollen diesen Tag, über dem der Name Martin Luther steht, bis zu unserem letzten Lebenstage nicht vergessen! Den Sinn der Geschichte Luthers für unsere Zeit und unser Leben kennzeichnet er als ein Zwiefaches: Als Zeugnis dessen, was es heißt, ein Christ zu sein. Als Deutschen, der sein Volk zum Nationalbewusstsein rief, lässt er ihn vor den Menschen erstehen, der trotz aller Anfeindung deutsch bis in die Tiefe blieb, Deutscher sein, heiße bei Luther angefeindet werden von der Welt, heiße bei ihm eingegliedert sein in das Volk, dessen Organisation der Staat ist. Er habe das herrliche Wort geprägt, dass Gott von Zeit zu Zeit unserem Volk den Führer schenkt, der wie ein Wundermann ist. Wenn wir auf Luther als den Deutschen schauen, so rufe er uns zu einem begeisterungsvollen Ja zu unserem Volkskanzler. Als Christ aber habe Luther in allem die Stimme Gottes gehört; dass wir aus Blut und Rasse, aus Volk und Nation, aus Haus und Herd und Familie die Stimme Gottes hörten, dazu rufe uns Martin Luther. […] Luther, der Christ und der Deutsche, weise uns zur Höhe hinauf, zur Höhe eines freudigen Ja zu Führer, Volk und Gott. Den Sinn der Geschichte Luthers lasst uns, so schließt der Prediger, alle so bejahen und die Hand erheben. Treue zu Volk und Vaterland und seinem Führer, Treue zu Gott, dem Heiland und seinem Evangelium! Und die zahllosen Tausenden erheben sich. Mit erhobener Hand sprechen sie als Gelöbnis und Schwur: ›Ja, wir geloben es!‹, um dann gemeinsam den Choral ›Großer Gott, wir loben dich!‹ anzustimmen.«27

Gerber, der sich Ende 1933 von den Deutschen Christen lossagte, weil er deren Geist doch als primär politisch und nicht biblisch einschätzte, bereute die Monate seiner Mitgliedschaft jedoch nicht. Hätte er »den Versuch vollen Mitgehens mit der neuen Bewegung in kirchlicher Hinsicht nicht gemacht«, so bekennt Gerber in seinen Lebenserinnerungen von 1943, würde ihn »das jetzige totale Abgerücktsein der Öffentlichkeit von der Kirche gewissensmäßig belasten und die Frage unbeantwortet […] erhalten, ob nicht die Distanzierung der Kirchenleute von Anfang an den Kreisen Oberwasser gegeben hätte, die gegen das Christentum waren«.28 In der Jakobigemeinde fand das Leben seinen normalen Fortgang, »auf allen Gebieten kirchlicher Gemeindearbeit ist es irgendwie weitergegangen, und doch ist kein noch so geringes Stück kirchlicher Arbeit ohne den schweren Schlagschatten geblieben, der von der Kirchenpolitik her darauf fiel«.29 Diese Einschätzung der konkreten Situation vor Ort verdankt sich nicht zuletzt Gerbers Einfluss auf seine Gemeinde. Während »alles im Bereich kirchlichen Lebens irgendwie zu Kirchenpolitik wurde«,30 schlug Gerber nach seinem Austritt aus den Deutschen Christen einen gemäßigten, die Gemeinde vor Zersplitterung bewahrenden Weg ein. Obwohl er sich von den Deutschen Christen enttäuscht sah, empfand er ­keine Notwendigkeit, sich der sich formierenden Bekennenden Kirche a­ nzuschließen. 27 Abschrift aus Chemnitzer Tageblatt und Anzeiger Nr. 303 vom 1.11.1933 (LKArch Dresden, 5/222, Bl. 3). Im Original mit Hervorhebungen. 28 Gerber, Erlebtes, S. 58. Eventuell kann der sogenannte Sportpalastskandal als entscheidender Auslöser für Gerbers Austritt aus den Deutschen Christen angesehen werden. 29 Ebd., S. 49. 30 Ebd.

198

Mandy Rabe

Dies lässt sich wahrscheinlich damit begründen, dass er selbige primär als eine ­kirchenpolitische Gegenbewegung verstand, wohingegen ihn nicht die Kirchenpolitik, sondern das Anliegen der Volksmission zu den Deutschen Christen gebracht hatte. Seine Entscheidung, nicht der Bekennenden Kirche beizutreten, h ­ atte für Gerber zur Folge, dass er den Vorsitz in der Chemnitzer Konferenz, einer der fünf sächsischen Landespfarrkonferenzen, niederlegen musste. Diese betont lutherische Pfarrkonferenz hatte sich 1877 »als eine Konferenz von Pfarrern und Laien« gegründet, um »für die Erhaltung der reinen Lehre des göttlichen Wortes und der sächsischen Landeskirche als einer dem lutherischen Bekenntnis verpflichteten Kirche einzutreten«.31 Seit 1931 war Gerber ihr Vorsitzender. Die Konferenz, die Gerber auch in seinem Wesen sehr nahe kam, beschloss 1935, dass nur ein BK-Mitglied die Position des Vorsitzenden innehaben dürfe, sonstige Eignungen wurden hintangestellt. Da man an Gerbers Theologie nichts auszusetzen hatte, wurde zwar vonseiten der BK um ihn geworben – 1946 war sogar die Einschätzung zu hören, dass die BK einen Mann wie Gerber gebraucht hätte, sie wäre vor allem in der Chemnitzer Region auf sein Format angewiesen gewesen –,32 doch konnte sich Gerber nicht für diesen Schritt entscheiden. Er legte stattdessen sein Amt als Vorsitzender der Konferenz nieder, besuchte aber weiterhin, »wenn auch nicht leichten Herzens«, nach wie vor alle ihre Versammlungen.33

Gerber als Gründungsmitglied der »Mitte« und seine Mitarbeit im ­Landeskirchenausschuss Viel mehr als die Bekennende Kirche sagten Gerber die Pläne von vier Leipziger Kollegen zu, die ihn im Herbst 1934 baten, »einen Kreis sächsischer Pfarrer zu sammeln und zu führen, die fern vom deutschchristlichen Wesen in der Glaubenshaltung und Theologie vieler Brüder der Bekennenden Kirche mit Bewusstsein sich fernhielten von jeglichen Gedanken einer Loslösung von der Großkirche, und die von innen her an einer geistlichen Erneuerung der sächsischen Landeskirche arbeiten wollten«.34 Zusammen mit dem späteren Superintendenten von Leipzig-Stadt, D. Heinrich Schumann, sowie Oskar Bruhns,35 Johannes Herz36 und dem Direktor der Inneren Mission, Fritz Mieth, gründete Gerber in der Folge die sächsische Gruppierung der »Mitte«, die als ein Zusammenschluss 31 32 33 34 35 36

LKArch Dresden, 5/223, unpag. Vgl. dazu auch Nikola Schmutzler, Evangelisch-sozial als Lebensaufgabe. Das Leben und Wirken von Pfarrer Johannes Herz (1877–1960), Leipzig 2013, S. 40 f. Hermann Weisser an den Landesbruderrat vom 28.1.1946 (LKArch Dresden, 2/866, Bl. 45). Gerber, Erlebtes, S. 54, 66 f. Ebd., S. 61. Zu Bruhns vgl. den Beitrag von Mike Schmeitzner in diesem Band. Zu Herz vgl. den Beitrag von Nikola Schmutzler in diesem Band.

Willy Gerber

199

von Pfarrern den »Kirchenkampf« bewusst aus den Gemeinden heraushalten wollte.37 Vertreter dieser »Mitte« waren es dann auch, die im Rahmen der kirchenpolitischen Befriedung unter Reichskirchenminister Hanns Kerrl in den Jahren 1935 bis 1937 im Landeskirchenausschuss für die Evangelisch-lutherische Landeskirche Sachsens die meisten Mitglieder stellten. Zu ihnen gehörte auch Willy Gerber.38 Obwohl ihm nahegelegt wurde, sich während seiner Mitarbeit beim Landeskirchenausschuss von der Gemeindearbeit beurlauben zu lassen, versuchte er, seine Chemnitzer Aktivitäten aufrechtzuerhalten. Zu Einschränkungen kam es dennoch, da Gerber »täglich, von ganz wenigen Ausnahmetagen […] abgesehen, früh nach Dresden fuhr und erst abends zurückkehrte«, sodass er nur solche Arbeit in der Gemeinde leisten konnte, »die sich auf Abend-, Nachtund Sonntagsstunden verlegen ließ«.39 Das waren die Verwaltungs- und Kirchenvorstandsarbeit, die gottesdienstliche Verkündigung, die Bibelstunde, der Konfirmandenunterricht und der Dienst in der Bezirkshelferschaft.40 Einige ephorale Verpflichtungen übernahm der stellvertretende Superintendent Pfarrer Oertel.41 Für diverse Kasualien sprang ein emeritierter Pfarrer ein. Aufschlussreiche Einblicke in die Ausschussarbeit Gerbers gewährt dessen eigene Zusammenstellung von Handlungslinien für diese T ­ ätigkeit:42 Als erstes und wesentliches Ziel führte Gerber an, dass »durch persönliche Verhandlungen an Ort und Stelle alles geschehen« sollte, »um die durch den Kirchenkampf entstandenen Verbitterungen, Absetzungen, Amtsverhinderungen, Kirchenvorstands-Konflikte und Ähnliches auszugleichen«. Aussprachen, so hielt die zweite Richtlinie fest, seien in diesem Zusammenhang gegenüber kirchenamtlichen Verordnungen das geeignetere Mittel, um die erstrebte Bruderschaft der Pfarrer zu erreichen, wozu auch die Organisation von Pfarrerrüstzeiten zähle. Diese Aussprachen sollten, wo dies nur möglich sei, nicht schriftlich, sondern mündlich in brüderlicher Atmosphäre geführt werden. Gerbers Streben nach Verkirchlichung fand sich vor allem im vierten Punkt wieder, der vom Bemühen sprach, »die Landeskirche vom Innersten her geistlich neu werden zu lassen, so gewiss das ­freilich nur durch Christus geschehen kann und nicht durch menschliches ­Bemühen«. Evangelisationen nach dem von Gerber 1931 durchgeführten Chemnitzer 37

Zur »Mitte« vgl. Mandy Rabe, Zwischen den Fronten. Die »Mitte« als kirchenpolitische Gruppierung in Sachsen während der Zeit des Nationalsozialismus, Leipzig 2017. 38 Zum Landeskirchenausschuss vgl. Joachim Fischer, Die sächsische Landeskirche im Kirchenkampf 1933–1937, Göttingen 1972, S. 42–88. Neben Gerber lassen sich sowohl OKR Adolf Wendelin als auch Erich Knabe der »Mitte« zuordnen. Mit Sup. Johannes Ficker (Dresden-Stadt) und Horst Fichtner waren jeweils ein Vertreter von BK und DC am Landeskirchenausschuss beteiligt, wobei Ficker als BK-Vertreter die Leitung des Ausschusses innehatte. 39 Gerber, Erlebtes, S. 69. 40 Vgl. ebd., S. 70. 41 Erich Oertel (1872–1947), Erster Pfarrer in Chemnitz-Pauli. 42 Zum Folgenden vgl. ebd., S. 70–74.

200

Mandy Rabe

­ orbild sollten in der gesamten Landeskirche dafür sorgen, »das Wort Christi in V einer besonderen Klarheit und Eindringlichkeit in der Landeskirche neu verkündigen zu lassen«. Um die Isolation der Landeskirche zu überwinden, plädierte Gerber – zunächst gegen den Widerspruch anderer Ausschussmitglieder – für einen Zusammenschluss mit den anderen lutherischen Kirchen Deutschlands, welcher in Form des Lutherischen Rates auch zustande kam. Das Gremium umfasste sowohl die sogenannten »intakten« lutherischen Landeskirchen als auch lutherische Bekenntnisgemeinschaften aus weiteren Kirchen. Trotz dieser starken kirchlichen Ausrichtung sah man sich in der Pflicht, so die sechste Richtlinie, auch zu Staat und Partei Kontakte zu knüpfen und zu pflegen. Nachdem sich der Reichskirchenausschuss aufgelöst hatte, waren auch die Tage des sächsischen Landeskirchenausschusses gezählt. Dass die Mitglieder gewillt waren, trotz ihrer offiziellen Absetzung als eigentlich rechtmäßige Kirchenleitung weiterzuarbeiten, hatte disziplinarische Konsequenzen. Gerber und Ficker wurden, wie auch weitere Superintendenten aus den Reihen der Bekennenden Kirche und der Mitte, die den Landeskirchenausschuss weiterhin unterstützt hatten, von ihrem Ephoralamt beurlaubt.43 Gerber blieb nichts anderes übrig, als sich wieder auf sein Gemeindepfarramt in der Jakobikirche zu konzentrieren, für das es sich als sehr nützlich erwies, dass er sich von diesem während der Ausschusszeit nicht hatte beurlauben lassen. Er hatte somit »die Verbindung mit dem Mutterboden der Kirchgemeinde nicht verloren und konnte deshalb nach dem Ende der Ausschusszeit ohne irgendwelches Empfinden der Entfremdung wieder ausschließlich in der Jakobi-Gemeinde arbeiten, wie [er] das von 1929 an bis zur Übertragung des Ephoralamtes getan hatte«.44 In sein Superintendentenamt wurde Gerber kriegsbedingt erst am 1. März 1940 wieder eingeführt.45 Seiner Wahrnehmung nach hatte dieses Amt nun aber bei der Bevölkerung einen geringeren Status als noch drei Jahre zuvor: Es gebe »bis tief in die Gemeinde hinein kaum noch Verständnis für das Superintendentenamt«. Darin sah Gerber ein deutliches Zeichen für eine umfassende Verweltlichung des ganzen Lebens. Man habe sich diesem Amt gegenüber innerlich entfernt, weswegen die Konfirmanden »den gordischen Knoten durchgehauen« hätten und den Amtsträger nur noch mit seinem Namen nennen würden.46 Auch könne er nicht mehr wie vormals auf seine Pfarrerschaft einwirken, da die sich »von der großen kirchlichen Linie Distanzierenden den ausdrücklichen Schutz des Landeskirchenamtes genießen«. Das mache die vormals üblichen Visitatio-

43 Vgl. Bericht aus der Evang.-luth. Kirche in Sachsen vom 1.6.1938 (LKArch Dresden, 5/106, 1, Bl. 141). 44 Gerber, Erlebtes, S. 70. 45 Vgl. ebd., S. 85. 46 Vgl. ebd. Dort auch Zitate.

Willy Gerber

201

nen unmöglich und erschwere auch die Zusammenarbeit in den Ephoralkonferenzen.47 Während einerseits die Amtstheologie entwertet wurde, steigerte sich andererseits – ebenso kriegsbedingt – kontinuierlich der sonntägliche Gottesdienstbesuch, was sich auch in steigenden Kollekteneinnahmen widerspie­gelte.48 Statt von Verweltlichung ließe sich also eher von einer Umwertung sprechen: Die Würde des Amtes wich der Sehnsucht nach geistlicher Verkündigung, die den verbreiteten existenziellen Ängsten begegnen konnte. Gerber führte in der Folge auch mehrere Andachtsangebote in das Gemeindeleben ein. Seit dem 1. November 1939 gab es tägliche Abendandachten, die den Text der fortlaufenden Bibellese behandelten. Zusätzlich fanden seit August 1941 allmorgendlich um 7 Uhr liturgische Morgengebete mit der Kirchenjahreslese statt. Bereits seit 1938 traf sich ein kleiner Kreis jeweils am Samstagabend zur Wochenschlussandacht, die dem Berneuchener liturgischen Formular folgte.49 Diese geistliche Ausrichtung Gerbers in Verbindung mit seinen administrativen Fähigkeiten, die er sowohl im Pfarr- und Ephoralamt als auch während seiner Mitgliedschaft im Landeskirchenausschuss unter Beweis stellte und die ihn als einen integren Charakter ausweisen, sind als Gründe dafür zu benennen, dass er als allseits geachtete Persönlichkeit als einziger Superintendent der sächsischen Landeskirche sein Ephoralamt 1945 trotz seiner nationalsozialistischen Vergangenheit unverändert behalten konnte.50

Gerbers Verbleib im Amt des Superintendenten nach 1945 Auch Gerber erhielt das an alle sächsischen Superintendenten gerichtete ­Schreiben vom 15. November 1945. Es enthob alle Ephoren, »die Mitglieder der ­NSDAP gewesen sind oder durch das Kirchenregiment Coch/Klotsche einst ihre Ämter erhalten haben«,51 ihres Superintendentenamtes. Doch kam er dieser Aufforderung gewissermaßen zuvor, indem er innerhalb der Erklärung zu seiner Parteizugehörigkeit anbot, »ohne Bitterkeit die Arbeit in andere Hände« zu legen, wenn »eine ernste Prüfung« seines Falles sein »Weggehen […] im Interesse der Kirche wünschenswert erscheinen« lasse.52 Gerber war deswegen sachsenweit der einzige Superintendent, »der 1945 bereit war, vorbehaltlos die Konsequenzen aus seiner Haltung und seiner Stellung zu ziehen«.53 Jedoch verstand er es sehr 47 48 49 50 51 52 53

Ebd., S. 86. Vgl. ebd., S. 89. Vgl. ebd., S. 90. Vgl. Hein, Landeskirche, S. 205. Landeskirchenamt an Gerber vom 15.11.1945 (LKArch Dresden, 2/866, Bl. 23). Gerber an Landeskirchenamt vom 13.11.1945 (ebd., Bl. 24 f., hier 25). Hein, Landeskirche, S. 205.

202

Mandy Rabe

wohl, seine persönliche Eignung für das Chemnitzer Stadtephoralamt besonders herauszustellen und in die Waagschale zu werfen, denn er wollte, so schrieb er in selbiger Erklärung, gerne in seinem »jetzigen Amte bleiben«, »um der Menschen hier willen, um der zerstörten Stadt willen, die meine lokale Kenntnis weithin im kirchlichen Dienst braucht«. Ferner führte er an, dass er »nach dem Verbrennen fast aller Akten der Einzige« sei, der aus dem »letzten anderthalben Jahrzehnt alles Geschehene weiß«, da er nach dem Amtswechsel der beiden Amtsbrüder Anacker und Hellner der einzige verbliebene Geistliche sei.54 Bereits am 4. Dezember 1945 erfolgte vom Geistlichen Vertrauenskreis der Ephorie Chemnitz-Stadt die Einschätzung, dass »Herr Superintendent Gerber nicht nur in seinem Pfarramt zu belassen ist, sondern dass auch sobald wie möglich seine Wiedereinsetzung in das Superintendentenamt erfolgen möchte«.55 Außer den Gründen, die Gerber selbst benannte, seien für diese Entscheidung Gerbers starke Stellung als Vertrauensperson und Seelsorger berücksichtigt worden. Außerdem sei seine Parteimitgliedschaft nur wenigen bekannt gewesen. Stattdessen habe »er dem Nationalsozialismus aktiv Widerstand geleistet«, sodass »die Verordnung vom 17.8.45 auf ihn keine Anwendung findet«.56 Anhand dieser Einschätzung dürfte besonders Eines deutlich werden – so sehr aus ­heutiger ­Perspektive der verwendete Widerstandsbegriff zu hinterfragen ist –, nämlich dass Gerbers Stellung als Superintendent der Ephorie Chemnitz-Stadt nahezu unangefochten war.57 Diese Lage dürfte auch Gerber selbst so eingeschätzt haben, war er es doch, der es auf der Ephorenkonferenz, die vom 12. bis zum 14. September 1945 in Dresden stattfand und die Möglichkeiten zum Umgang mit der eigenen NS-Vergangenheit zum Thema hatte, für die sauberste Lösung hielt, »dass alle P[artei]G[enossen]-Ephoren ihr Amt dem Kirchenregiment zur Verfügung ­stellen, und das Kirchenregiment von sich aus dann entscheidet und handelt, und dass sie d ­ a­rin zugleich ein Vertrauensvotum für das Kirchenregi-

54

Gerber an Landeskirchenamt vom 13.11.1945 (LKArch Dresden, 2/866, Bl. 24 f., hier 25). Gemeint sind Johann Gotthold Anacker (geb. 1894, seit 1933 Dritter, seit 1937 Zweiter Pfarrer an der Jakobikirche) und Kurt Hans Hellner (geb. 1900, seit 1937 Dritter Pfarrer an der Jakobi­ kirche). Chemnitz wurde durch Luftangriffe schwer beschädigt. Zur kirchlichen Situation in Chemnitz zur Zeit des Nationalsozialismus vgl. Benjamin Krohn, Illusionen und Spaltungen. Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Chemnitz während des Nationalsozialismus. In: Chemnitz in der NS-Zeit. Beiträge zur Stadtgeschichte 1933–1945. Hg. vom Stadtarchiv Chemnitz, Leipzig 2008, S. 123–144. 55 Mitteilung des Geistlichen Vertrauensrates der Ephorie Chemnitz-Stadt vom 4.12.1945 (­ LKArch Dresden, 2/866, Bl. 28). 56 Ebd. 57 Eine Ausnahme bildet das Schreiben Hermann Weissers an den Landesbruderrat vom 28.1.1946 (LKArch Dresden, 2/866, Bl. 45), das er im Namen weiterer Mitglieder der Chemnitzer Bekennenden Kirche verfasste.

Willy Gerber

203

ment erbringen«.58 Anders sah die Lage zum Beispiel im Annaberger Kirchen­ bezirk aus. So argumentierte Superintendent Spranger, »er könnte ›das Opfer, um seine Entlassung zu bitten‹, nicht bringen, da er und andere sich immer bemüht hätten, ›die Kirche von innen zu bauen‹. Wenn er jetzt um seine Entlassung bäte, würde er sich und seine Verkündigung unglaubwürdig machen«.59 Gerber hatte derartige Bedenken nicht. Nachdem seine politische Rehabilitierung erfolgt war, wurden ihm am 17. Juli 1946 »die ephoralen Funktionen wieder in aller Form […] übertragen«.60 Eine zeitweise Amtsenthebung folgte noch einmal vom 14. Februar 1947 bis zum November 1948 aufgrund der Bestimmungen der Kontrollrats-Direktive Nr. 24.61 Gerber, der sich nach wie vor seiner Kompetenzen bewusst war, teilte bezüglich dieses neuerlichen Beschlusses dem Landeskirchenamt mit, dass er aufgrund seiner Gesamteinstellung »jede Versetzung von Chemnitz hinweg in ein anderes Amt in der Landeskirche vorbehaltlos annehmen werde«, doch würde er »den Erneuerungsbau der Jakobikirche, nachdem er nun soweit vorgeschritten ist, noch zu Ende führen«, da »kaum ein von außen Kommender sich in die Fülle der Dinge jetzt so leicht hineinarbeiten« könne. Außerdem hätte er »gern eine Reihe von Arbeiten, die hier angepackt sind, noch verwirklicht«.62 Am 15. November 1948 wurde Gerber dann endgültig wieder in sein Ephoralamt eingesetzt, bevor er 1953 als Nachfolger für Gottfried Noth, der zum Landesbischof gewählt worden war, als Oberlandeskirchenrat ins Landeskirchenamt berufen wurde.63 Willy Gerber verstand es im besonderen Maß im Zusammenspiel seiner theologischen lutherischen Überzeugung, seiner kirchlich gesinnten, geistlichen Ausrichtung und seines einnehmenden Charakters, seine Person in die jeweilige kirchenpolitische Situation einzubringen, welche für ihn zwar stets den Horizont bildete, jedoch nie zum Fundament wurde.

58

59 60 61 62 63

Samuel Kleemann, Die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens vom Zusammenbruch des Deutsch-Christlichen Kirchenregiments im Mai 1945 bis zur Aktionsfähigkeit der neugebildeten verfassungsmäßigen kirchlichen Körperschaften im April 1948. Interne maschinenschriftliche Studie im Auftrag des Evangelisch-lutherischen Kirchenamtes Sachsens mit Anmerkungen und zwei Nachträgen, o. O. [Dresden] 1973, S. 127. Zitat nach Hein, Landeskirche, S. 154. Vgl. auch Hein, ebd., S. 167. Ebd., S. 154 unter Zitation von Kleemann, Landeskirche, S. 126 f. Landeskirchenamt an Gerber vom 17.7.1946 (LKArch Dresden, 2/866, Bl. 55). Vgl. Landeskirchenamt an Gerber vom 14.2.1947 (ebd., Bl. 62 f.). Zur Direktive Nr. 24 des Alliierten Kontrollrats vgl. Hein, Landeskirche, S. 127 ff. Ihr Wortlaut ist im Internet abrufbar unter http://www.verfassungen.de/de/de45-49/kr-direktive24.htm, 18.8.16. Gerber an Landeskirchenamt vom 3.3.1947 (LKArch Dresden, 2/866, Bl. 64). Vgl. Hahn an Gerber vom 17.9.1953 (ebd., Bl. 121) sowie Anstellungsurkunde vom 30.10.1953 (ebd., Bl. 128).



Die Bekennende Kirche



Karl-Hermann Kandler  Arndt von Kirchbach

Geboren wurde Arndt von Kirchbach am 30. Januar 1885 in Dresden als zweiter Sohn des Finanzrates Carl von Kirchbach und seiner Frau Agnes von Tschirschky und Boegendorf. Zeit seines Lebens blieb er dem sächsischen Adel verbunden. Von 1894 an besuchte er das Vitzthum-Gymnasium in Dresden, das er zu ­Ostern 1903 als Primus Omnium verließ. Er schlug zunächst die militärische Laufbahn ein. 1904 wurde er bereits Leutnant, 1910 Kompanieoffizier und ab 1911 wurde er zum Generalstabsoffizier ausgebildet. 1909 heiratete er Sibylla von der Planitz und bekam mit ihr zwei Kinder.1

Vom Ersten Weltkrieg bis zu Hitlers Machtantritt (1914–1933) Während des Ersten Weltkrieges war er an verschiedenen Einsatzorten tätig – an der Westfront, in Konstantinopel, zuletzt in Belgien. Im November 1916 w ­ urde er zum Generalstabsoffizier ernannt. Die Abdankung des Kaisers war für ihn »ein völliger Zusammenbruch dessen, was uns groß und teuer gewesen war«.2 Weihnachten 1918 konnte er mit seiner Familie in Dresden verleben. Seine Frau litt enorm unter den politischen Ereignissen, verstärkt durch die Erleb­nisse des Mangels während der letzten Kriegsjahre. Er musste aber zunächst nach B ­ erlin zurückkehren.

1

2

Von Kirchbachs Lebenserinnerungen liegen in fünf Teilen vor: Arndt von Kirchbach, Lebens­ erinnerungen. Pietate et Armis. Eigenverlag Dr. Eckart von Kirchbach, Göppingen-Jeben­ hausen. Diese Erinnerungen hat er für seine Familie geschrieben. Sie sind sehr persönlich gehalten. Das Originalmanuskript enthält handschriftliche Ergänzungen. Es liegt im Archiv des Landeskirchenamtes in Dresden. Da die Druckausgabe nicht nach Seiten zählt, sondern nach Nummern, die offensichtlich den Seiten des Manuskriptes folgen, werden in den Zitaten diese Nummern genannt. Nur Zitate werden im Folgenden nachgewiesen. Von Kirchbach, Lebenserinnerungen, Nr. 248.

208

Karl-Hermann Kandler

Pfarrer Buchholz fragte ihn nach dem Silvestergottesdienst, an dem er teilgenommen hatte, ob er nicht Theologie studieren wolle. Er kannte ihn von seiner Zeit als Offizier im Armeeoberkommando 3 und hatte häufig an dessen Gottesdienst teilgenommen. Dadurch war ein Vertrauensverhältnis entstanden. »Ich fühlte die Verantwortung dafür, dass Gott mich mit unverbrauchten Kräften aus dem Kriege herausgeführt hatte.«3 Die Ereignisse der folgenden Tage brachten die Antwort. Am 2. Januar 1919 erfuhr er, dass es seiner Frau sehr schlecht ginge. Nach Dresden zurückgekehrt, fand er sie nicht mehr unter den Lebenden. Seine Kinder, acht und sechs Jahre alt, konnte er in guter Obhut lassen. Für ihn stand nun der Entschluss zum Theologiestudium fest: »Ich hatte in den Monaten des Zusammenbruchs deutlich gesehen, dass die größte Not des deutschen Volkes in dem Abfall vom Glauben lag. Die Erneuerung meines Volkes, dem ich dienen wollte, musste dort einsetzen.«4 Er reichte sein Abschiedsgesuch ein und zog somit einen Strich unter seine bisherige Laufbahn. Er entschloss sich zum Studium in Greifswald. Hier konnte er mit seinen Kindern zusammenleben. Da von Kirchbach aber später in der sächsischen Landeskirche seinen Dienst aufnehmen wollte, wechselte er 1920 nach Leipzig. Unter den Professoren beeindruckten ihn Karl Girgensohn und der ältere Paul Althaus. Zugleich nahm er Verbindung zur Deutschen Christlichen Studentenvereinigung (DCSV) auf. In ihr hatte er »den mir zusagenden Kreis gefunden«.5 Besondere Förderung fand er durch den jungen Leipziger Pfarrer Erich Stange. Mit dem etwa gleichaltrigen Theologieprofessor Gerhard Kittel und mit Ernst Sommerlath, der damals noch am Missionsseminar lehrte, fühlte er sich eng verbunden. In dieser Zeit lernte er die Kriegerwitwe Esther Gräfin zu Münster-Langelage, geb. von Carlowitz, kennen, die auch in Leipzig studierte. Nach kurzer Verlobungszeit heirateten sie im Sommer 1921. Sie brachte eine Tochter mit in die Ehe. Ein Jahr später legte von Kirchbach sein Erstes Theologisches Examen ab und wurde Hilfsgeistlicher bei Erich Stange in Leipzig, der gerade zum Reichswart des Evangelischen Jungmännerwerks gewählt worden war. 1923 legte er sein Zweites Theologisches Examen vor dem Landeskonsistorium in Dresden ab. Eine Anstellung zu finden erwies sich wegen der Wohnungsfrage für eine Vikarsfamilie mit vier Kindern als schwierig – inzwischen war dem Ehepaar eine Tochter geschenkt worden. Nach zwischenzeitlicher Reisetätigkeit für die DCSV erhielt er im Herbst 1923 den Ruf zur vikarischen Vertretung des Zweiten Pfarrers von Roßwein. »Wegen hocharistokratischer Gesinnung« lehnte der Kirchenvorstand seine Anstellung ab, doch hielt das Landeskonsistorium an seiner Abordnung fest. Er wurde am 7. Oktober 1923 in Roßwein ordiniert. Der 3 4 5

Ebd., Nr. 157, 181, 251. Ebd., Nr. 252. Ebd., Nr. 264.

Arndt von Kirchbach

209

Erste Pfarrer dieser Gemeinde war ein tüchtiger und energischer Mann, ein vorzüglicher Prediger, aber er erwartete, dass die Gemeinde zu ihm kam. Anders von Kirchbach. Getrieben von der Not der Zeit sah er die Notwendigkeit der Mission auch in der Heimat und damit den Zugang zu den Menschen. Es war die Zeit der schärfsten Inflation. Da die Gemeinde ihn kaum bezahlen konnte, musste er reihum bei Gemeindegliedern essen, für ihn eine herrliche Gelegenheit, die Gemeinde kennenzulernen. Weil der Erste Pfarrer schon am 1. November in den Ruhestand trat, musste er von da an beide Pfarrstellen vertreten. Da er bei seinem Dienstantritt in Roßwein Ablehnung erfahren hatte, sah er sich für die Zeit nach dem Vikariat nach einer anderweitigen Aufgabe um. Ihn lockte die frei werdende Stelle eines Vereinsgeistlichen beim Landesverein für Innere Mission. Es gab mancherlei Schwierigkeiten – vor allem bei der Wohnungssuche. Jetzt wollte ihn der Kirchenvorstand nicht ziehen lassen. Dafür war es zu spät. Auch spürte er einen deutlichen Ruf Gottes in die neue vor ihm liegende Aufgabe. Der Wechsel nach Dresden war auch für die Familie gut. Seine Frau Esther hat ihre spätere ­Arbeit ganz aus dem Dresdner Arbeitsfeld entwickelt, und die Kinder hatten ­bessere Möglichkeiten zum Schulbesuch. In das Jahr 1923 fiel die Gründung des Lutherischen Weltkonventes, des ersten weltweiten Zusammenschlusses der Lutherischen Kirchen. An diesem Vorgang war Erich Stange ebenso stark beteiligt wie Ludwig Ihmels, der inzwischen zum sächsischen Landesbischof gewählt worden war. »Diese Gründung entsprach dem ganz, was ich für notwendig und dringend geboten hielt.«6 Da die Dresdner Stelle mit Jahresbeginn 1924 frei, in Roßwein aber noch kein Nachfolger im Amt war, sah sich von Kirchbach genötigt, zunächst in Roßwein zu bleiben und zweimal in der Woche nach Dresden zu fahren. Am 21. Januar 1924 erfolgte seine Einführung als Vereinsgeistlicher in Dresden. Das Arbeitsgebiet umfasste die Bereiche Pressearbeit und Volksmission. Zugleich wurde er Vorstandsmitglied des von Professor Hugo Hickmann gegründeten Volkskirchlichen Laienbundes. Zahlreiche volksmissionarische Aufgaben – Evangelisationen, Rüstzeiten, Volkshochschularbeit – galt es zu aktivieren. 1925 war er ­Delegierter der Weltkonferenz der männlichen Jugend in Helsinki. So festigte sich sein ökumenisches Engagement, das durch seine Tätigkeit bei Erich Stange ­begonnen hatte. Drei Jahre später wurde ihm die Zweite Dompredigerstelle übertragen. Als Dom galt damals die Dresdner Sophienkirche, die bis 1918 als evangelisch-lutherische Hofkirche diente. Nach dem Ende der Monarchie war die Hofkirchengemeinde in Auflösung begriffen. Das Landeskonsistorium wollte von Kirchbach offensichtlich diese neue Aufgabe übertragen, damit er, der gewissermaßen aus

6

Ebd., Nr. 311.

210

Karl-Hermann Kandler

dieser Gemeinde herausgewachsen war, sie zusammenhalte. Sein Nachfolger als Vereinsgeistlicher wurde der Freiberger Pfarrer Friedrich Coch, der spätere deutschchristliche Landesbischof. In sein neues Amt wurde von Kirchbach von Landesbischof Ihmels eingeführt, dessen Vertrauen er ebenso spürte wie seine geistliche Vollmacht. Ihm war klar, hier galt es nicht, Neuerungen einzuführen, sondern die agendarische Ordnung mit Leben zu erfüllen. Er bat darum, ihm auch die Studentenseelsorge zu übertragen. Sie war ein neues Arbeitsgebiet, das für Dresden mit seinen zahlreichen Hochschulen wichtig zu werden versprach. Zugleich baute er mit seiner Frau eine übergemeindliche Jugendarbeit auf. ­Außerdem wurde er zur Leitung von Rüstzeiten gerufen. Geistliche Heimat fand er in der liturgischen Bewegung der Michaelsbruderschaft. Seine Frau, die zweimal Zwillinge geboren hatte, befasste sich immer wieder mit religiös-literarischen Fragen und gab ein diesbezügliches erstes Buch heraus, dem weitere folgten, wie auch Beiträge in der Zeitschrift »Der getreue Eckart. Halbmonatsschrift für das deutsche Volk«, die seit 1923 erschien. Sie hatte weitreichende Verbindungen zur literarischen Welt dieser Zeit. Dadurch und durch die von ihr betriebene Frauen­ arbeit ist sie weit über Sachsens Grenzen hinaus bekannt geworden. Ihr Mann, Arndt von Kirchbach, war in der lutherisch-liturgischen Arbeit, in der Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Konferenz, in der Jungmännerarbeit und im Verein für Kirchliche Kunst aktiv, auch durch Beiträge in der Zeitschrift »Werk und Feier«. Zu seinen Aufgaben kam 1929 noch die eines Sekretärs des Lutherischen Weltkonventes hinzu. Er bedauerte lebhaft, dass ein Fortschreiten auf dem Weg zu einer sowohl deutschen als auch weltweit einigen Lutherischen Kirche, die über eine lockere Interessenvertretung hinausging, kaum zu erkennen war. Zunehmend gewann, vor allem auch durch die 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise, die nationalsozialistische Bewegung an Bedeutung. »Die Jugend, nicht nur die arbeitslose, der ein Umschwung zu geordneter Arbeit das heißeste Anliegen war, wurde durch die Entschlossenheit des Auftretens mitgerissen. In den Reden Hitlers [...] wurden Ziele gezeigt, denen jeder zustimmen konnte.«7 In der Studentenarbeit musste er sich mit den durch diese Bewegung vorgetragenen Gedankengängen auseinandersetzen. Vor allem das Schlagwort vom »positiven Christentum« weckte Vertrauen in christlichen Kreisen. Nachdenklich wurde von Kirchbach, als er eine Rede Hitlers in Dresden mit anhörte, in der dieser vom Hass gegen die Feinde Deutschlands sprach. »Für mich war [...] jene ­Begegnung entscheidend für größte Zurückhaltung dieser dämonisch wirkenden Bewegung gegenüber.«8

7 Ebd., Nr. 401. 8 Ebd.

Arndt von Kirchbach

211

Währenddessen ging die vielseitige Arbeit in Dresden weiter. Sie wurde unterbrochen durch seine Teilnahme an der Weltkonferenz der männlichen ­Jugend 1931 in Kanada, die ihn tief beeindruckte. Er nutzte diese Reise sowohl als ­Presseberichterstatter als auch dazu, die Verbindung zum amerikanischen Luthertum zu vertiefen. Zurückgekehrt sahen er und seine Frau sich in eine Auseinandersetzung um den Paragraf 218 Strafgesetzbuch (Abtreibungen) verstrickt. Stürmisch forderten die Kommunisten schon damals dessen Aufhebung. Dagegen sprach in Dresden ­Esther von Kirchbach auf einer kirchlichen Kundgebung als Vertreterin der ­Mütter, die für die Ehrfurcht vor dem ungeborenen Leben eintraten. Die Kommunisten warfen ihr vor, »sie habe nur aus bürgerlicher Geborgenheit, ohne Herz für die Nöte des Volkes gesprochen«.9 Die Aufhebung des Paragrafen 218 s­ cheiterte.

Der Beginn des Kirchenkampfes (1933–1935) Viele Kirchenvertreter meinten angesichts der Berufung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933, »es habe eine große Stunde für die Kirche geschlagen, die Verbindung mit breiten Schichten des Volkes wiederzufinden«; zeichneten sich doch auch »begrüßenswerte Folgen« ab wie der »Kampf gegen Schmutz und Schund«. Zugleich gewannen innerkirchliche Probleme an Gewicht. Die Deutschen Christen (DC) ließen erkennen, dass ihnen »die politischen Anliegen weit über die des Glaubens gingen«.10 Von Kirchbach schrieb an Stange und unterbreitete ihm den Vorschlag eines sofortigen Zusammenschlusses der deutschen lutherischen Kirchen, verbunden mit der Aufforderung an die Kirche der altpreußischen Union, sich ihrer Verfassung entsprechend klar in lutherische und reformierte Gemeinden zu scheiden. Es sollte ein Erzbischof gewählt werden. Er wollte also eine klare konfessionelle Trennung und damit eine einheitliche lutherische Kirche Deutschlands. Während maßgebende Leute des Luthertums zustimmten, lehnten die Vertreter der Union ab. Bei der Bildung einer Reichskirche wurden diese Wünsche nicht erfüllt. In Sachsen bemühte sich von Kirchbach ­darum, Erich Stange als Nachfolger des soeben verstorbenen Landesbischofs ­Ihmels aufzubauen. Obwohl Stange gute Chancen hatte, kam es anders. Am 1. Juli 1933 wurde vom Staat entgegen aller kirchlichen Ordnung das Landeskonsistorium beurlaubt und Coch als kommissarischer Bischof eingesetzt. Die von den DC durchgesetzten »28 Thesen der sächsischen Volkskirche«, der Angriff gegen das Alte Testament und die Einführung des sogenannten Arierparagrafen   9 10

Ebd., Nr. 427. Ebd., Nr. 431.

212

Karl-Hermann Kandler

auch in der Kirche wurden von vielen Pfarrern und Laienchristen als klarer Verstoß gegen das Bekenntnis erkannt. Das führte zu deren Zusammenschluss in einem Notbund, dessen Mitglieder sich allein an die Heilige Schrift und an die Bekenntnisse gebunden wussten. So entstand die Bekennende Kirche (BK). Von Kirchbach war ständiges Mitglied des sächsischen Landesbruderrates und Stellvertreter seines Vorsitzenden Superintendent Hahn in Dresden.11 Von Kirchbach musste erfahren, dass er als Führer des Jugendwerkes als nicht mehr tragbar galt, weil er kein Nationalsozialist war. Im landeskirchlichen ­Gemeindeblatt »Christenkreuz und Hakenkreuz«, das 1933 erstmals erschien, wurden die Notbundpfarrer als »finstere Reaktion« bezeichnet. Bis April 1934 wurden 51 sächsische Geistliche verhaftet, unter ihnen auch von Kirchbach, abgesetzt oder beurlaubt.12 Anlass dafür war, dass er mit Superintendent Hahn und anderen Gleichgesinnten eine Erklärung aufgesetzt hatte, in der die Ablehnung des Judentums durch die Kirche ebenso gerügt wurde wie die Kritik am Alten Testament und die Überspitzung des Führertums in der Kirche. Von Kirchbachs Telefongespräche waren abgehört, sein Haus durchsucht worden. Zwei Tage später wurden die Verhafteten zwar wieder entlassen, aber die Nachricht von der Verhaftung hatte sich mit Windeseile verbreitet; es gab sogar eine Anfrage des Christlichen Studentenweltbundes beim Auswärtigen Amt. Trotzdem wurden Hahn und er dienstenthoben und angeklagt mit dem Ziel der Entfernung aus dem Amt, dazu auf das halbe Gehalt gesetzt. Es gab aber eine Welle des Vertrauens und mancherlei finanzielle Hilfe für die Familie. Zwar wurde bald das Verfahren eingestellt, aber seine Versetzung wurde angekündigt. Diese wurde am 28. September 1934 zum 1. Oktober verfügt.13 Nach einem Bekenntnistag am 28. April 1934 in Ulm wurde nun für den 27. bis 31. Mai eine reichsweite Synode der Bekennenden Kirche in Barmen ­einberufen. Unter den sächsischen Delegierten waren Hahn und von Kirchbach. Die sechs Thesen, die Karl Barth zusammen mit den beiden lutherischen Theologen Asmussen und Breit erarbeitet hatte, wurden angenommen und als eine »ungeheure Stärkung« empfunden. »Diese geistlichen Grundlagen haben sich in den Kämpfen der folgenden Jahre als entscheidende Hilfe bewährt.«14 Im August 1934 nahm von Kirchbach an der Tagung der Konferenz für praktisches Christentum in Fanø teil. Die Weltchristenheit wurde auf die Vorgänge in Deutschland aufmerksam. Die Fürbitte vieler Christen stärkte die Haltung der BK und zeigte die Verbundenheit über alle Grenzen hinweg. 11 Vgl. Hermann Klemm, Im Dienst der Bekennenden Kirche. Das Leben des sächsischen Pfarrers Karl Fischer 1896–1941, Göttingen 1986, S. 172, 228, 237, 282; Karl-Hermann Kandler, ­Kirchengeschichte Freibergs 1933–1945, Beucha/Markkleeberg 2011, S. 12–17. 12 Kandler, Kirchengeschichte, S. 14. 13 Vgl. Verfügung vom 28.9.1934 (LKArch Dresden, 5/LBR 142, Bl. 004, 016 f., 019). 14 Von Kirchbach, Lebenserinnerungen, Nr. 443.

Arndt von Kirchbach

213

Seinen angeordneten Stellenwechsel sabotierte das Landeskirchenamt; vielmehr wurde er zum 1. Oktober 1934 in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Wenige Tage später nahm von Kirchbach an der Reichsbekenntnissynode in Berlin-Dahlem teil. Ein bekenntniskirchlicher Rat der Deutschen Evangelischen Kirche wurde gebildet. Von Kirchbach unternahm in seinem Auftrag mehrere Vortragsreisen. Er unterstützte Pfarrer der BK, so in Netzschkau Pfarrer Gotthold Tzschucke, der einer starken Gruppe der DC gegenüberstand, ebenso den gemaßregelten Pfarrer Johannes Roch von der Dresdner Martin-Luther-Kirche. Als das Landeskirchenamt versuchte, ein Gemeindeblatt für alle Gemeinden verbindlich einzuführen, gab es Widerstand. Buchhändler Max Müller in Chemnitz gelang es, ein Gemeindeblatt der BK herauszugeben. Esther von Kirchbach übernahm in ihm den »Briefkasten«, durch den sie seelsorgerlich wirken konnte. Als am 17. März 1935 von allen Kanzeln der BK in Deutschland eine Abkündigung gegen die Vorstellungen Alfred Rosenbergs von einer »Deutschen Religion« verlesen wurde, kam es zu neuen Kämpfen. Zahlreiche Pfarrer wurden verhaftet. Zwar war von Kirchbach am 4. März mitgeteilt worden, sein einstweiliger Ruhestand sei aufgehoben, doch wurde vier Wochen später erneut ein Dienststrafverfahren gegen ihn eingeleitet. Trotzdem übernahm er weiterhin Vertretungsdienste dort, wo Pfarrer die Gemeinden hatten verlassen müssen. Das Kirchenregiment musste erkennen, dass sein oft ungesetzliches Eingreifen in den Gemeinden zum Vertrauensverlust führte. In einem Schreiben vom 26. Februar 1935 beklagte von Kirchbach die »unglaubliche Nachlässigkeit und Unwahrhaftigkeit [...], die sich das Landeskirchenamt in meinem Falle hat zuschulden kommen lassen«. Er zählte auf, was ihn zu diesem Urteil führte, nämlich seine Verhaftung »angeblich wegen Erregung von Unruhe« am 31. Januar 1934, die Suspendierung vom Amt wegen des Rundbriefes »an die Brüder zwischen den Fronten«15 am 3. Februar und die Kürzung seines Gehalts um die Hälfte auf Verordnung des Reichsbischofs schon ab dem 4. Januar. Die Suspendierung sei zwar am 28. April aufgehoben worden, jedoch mit der Maßgabe seiner Versetzung, bis dahin bleibe er beurlaubt. Er selbst schlug als Stelle Dresden-Strehlen vor, doch erfolgte darauf nichts, jedoch wunderte sich der Landesbischof am 7. September im Gespräch mit von Kirchbach, dass sich dieser nicht beworben habe. Darauf antwortete er, er bewürbe sich sofort, ­würde die Beurlaubung aufgehoben. Aber das Landeskirchenamt versetzte ihn am 28. September 1934 in den vorläufigen Ruhestand. In einem Schreiben vom 29. Oktober an das Landeskirchenamt erklärte von Kirchbach, er stünde zwar auf dem Boden der Beschlüsse der Bekenntnissynode von Dahlem, habe aber

15

Ebd., Nr. 439 b–453 b, besonders 439 b, 440 b, 443, 451, 452 b, 453 b. Vgl. von Kirchbach an das LKA vom 29.10.1934 (LKArch Dresden, 5/LBR 142, Bl. 004 a).

214

Karl-Hermann Kandler

nie gefordert, dass auch der Landesbischof auf diesen Beschlüssen stehen ­solle.16 Weiter berichtete von Kirchbach über Eingriffe in sein Predigtrecht in der S­ o­phienkirche.17 Kaum war die Versetzung in den einstweiligen Ruhestand am 4. März 1935 aufgehoben, wurde gegen ihn am 3. April ein förmliches Dienststrafverfahren eingeleitet, weil er im Auftrag der BK für den erkrankten Gemeindepfarrer von Frauenstein einen Vikar als Vertreter eingesetzt hatte.18 Am 4. Juli 1935 erfolgte seine Verurteilung auf Amtsenthebung, gegen die das Landeskirchenamt am 29. Juli Berufung einlegte und am 5. September den Antrag auf Dienstentlassung stellte, wogegen er wiederum Berufung einlegte. Nach Einsetzung des Landeskirchenausschusses waren diese Anträge gegenstandslos.19

Einsetzung des Landeskirchenausschusses und Übertragung des ­Superintendentenamtes in Freiberg an von Kirchbach (1935–1937) Auf der für den 28./29. September 1935 einberufenen sächsischen Bekenntnis­ synode, zu deren Beginn von Kirchbach die Andacht hielt, wurde ein Landesbruderrat gebildet, der sich als rechtmäßige Leitung der Landeskirche erklärte. Da die innerkirchliche Lage völlig durcheinandergeraten war und die DC ­keinen Rückhalt mehr hatten, verfügte Reichskirchenminister Hanns Kerrl einen Einigungsversuch. Der »Dahlemer« Flügel der BK blieb misstrauisch, er wollte »von staatlichen Eingriffen wie der Bildung der Kirchenleitung nichts wissen«. In Sachsen erklärte sich jedoch die BK zur Mitarbeit im Landeskirchenausschuss bereit, um das »Angebot einer Atempause auszunutzen«. Das wurde von der preußischen Bekennenden Kirche heftig kritisiert. So fragte der Berliner Pfarrer Eitel-Friedrich von Rabenau von Kirchbach am 23. Februar 1937, ob er nun auch das Gesetz von Rasse, Blut und Boden anerkenne, wenn er behaupte, dass das Staatsgesetz unter die anzuerkennende Ordnung des Staates falle. In seiner Antwort begründete er die Haltung der sächsischen BK, an der auch er festhalte.20 Deren Zusage zur Mitarbeit im Landeskirchenausschuss wurde dadurch erleichtert, dass der Dresdner Superintendent Johannes Ficker, »der bewusst in unseren Reihen stand«, die Leitung übernehmen sollte. Selbst die beiden DC-Vertreter waren »uns kirchlich sehr nahe«. Sowohl die intakten lutherischen Landeskirchen als auch die eigenen Juristen standen dazu, sodass es gelang, den Weg »ohne Bruch mit dem Reichsbruderrat« zu gehen. Die Delegierten der Bekenntnis­

16 17 18 19 20

Vgl. ebd. Vgl. LKArch Dresden, 5/LBR 142, Bl. 006–010. Vgl. ebd., Bl. 027 f.; von Kirchbach, Lebenserinnerungen, Nr. 452b. Vgl. LKArch Dresden, 5/LBR 142, Bl. 064–072, 086; ebd., 5/281, Bl. 092 f. LKArch Dresden, 5/281, Bl. 106–109.

Arndt von Kirchbach

215

synode in Dresden vertrauten der Haltung des Landesbruderrates unter der Leitung von Superintendent Hahn.21 Der Landeskirchenausschuss entmachtete Coch gänzlich, »ihm wurde die Kirchenleitung entzogen«. Die beurlaubten bzw. entlassenen Geistlichen wurden wieder in ihre Ämter eingesetzt. Hahn amtierte erneut in der Frauenkirche, von Kirchbach in der Sophienkirche. Coch schrieb an von Kirchbach, da der Reichskirchenminister eine »radikale Befriedung ohne Sieger und Besiegte« wünsche, sei er bereit, von Kirchbach »in Ihrem bisherigen Amte weiter zu beschäftigen«, und fragte ihn, ob er sein Amt in der Sophienkirche oder in der neuen Domkirche, also der Frauenkirche, ausüben wolle.22 Im Herbst 1935 war von Kirchbach noch in Kassel zu einem Treffen des Jungmännerwerkes, es ging um die »Neuordnung der Verkündigung an die Jugend«.23 Anfang 1936 bat ihn ein jüdischer Ingenieur, der mit einer Christin verheiratet und dessen Kinder getauft waren, um Taufunterricht. Es gab keinen Anlass anzunehmen, dass die Taufe nur aus Kalkül gewünscht wurde. So vollzog er in der Sakristei der Sophienkirche die Taufe. Doch der Kirchner berichtete dies dem Landeskirchenamt »gerade an dem Tage, an dem man dort meine Ernennung zum Superintendenten von Freiberg vollziehen wollte«. Es gab Bedenken bei den DC-Mitgliedern des Kirchenausschusses. Von Kirchbach musste ausführlich berichten. Dabei erfuhr er, was man mit ihm vorhatte. Da der Freiberger Oberbürgermeister Dr. Werner Hartenstein, der von Kirchbach von der Militärzeit gut kannte und in der NSDAP Ansehen genoss, sich günstig für ihn ausgesprochen hatte, kam seine Ernennung doch zustande.24 Seine Aufgabe in der Führung des Jungmännerwerkes behielt er. Die Freiberger Wohnung musste dringend restauriert werden. Es galt, unter erbärmlichen Verhältnissen die Arbeit aufzunehmen, der Umzug konnte erst später erfolgen. In diesen Wochen traf ihn ein schwerer Schlag. Seine Tochter Agnes aus erster Ehe war verschwunden und wurde tot im Wald aufgefunden. Sie war wohl depressiv. Nähere Umstände werden nicht genannt. Von Kirchbach sah in seiner neuen Stelle eine »große und schöne Aufgabe«. Leider gab es im Kirchenvorstand der Domgemeinde parteifreundliche Leute, die ihm mit Zurückhaltung begegneten. Die Einführung erfolgte am 21. Juni 1936 durch Superintendent Ficker. Von Kirchbach berichtet begeistert vom Dom mit seiner Goldenen Pforte (diesem »reifsten Denkmal romanischer Bild­ hauerei auf deutschem Boden«), von der Triumphkreuzgruppe, der sogenannten ­Tulpenkanzel und der großen Silbermannorgel.25

21 22 23 24 25

Von Kirchbach, Lebenserinnerungen, Nr. 453 f.; siehe Kandler, Kirchengeschichte, S. 12–34. LKArch Dresden, 5/281, Bl. 092. Von Kirchbach, Lebenserinnerungen, Nr. 455. Ebd., Nr. 457; Ephoralarchiv Freiberg, Sign. 854, 2795. Von Kirchbach, Lebenserinnerungen, Nr. 457 f.

216

Karl-Hermann Kandler

In einem Schreiben, das er kurz nach seiner Amtseinführung verfasste, ­wandte er sich an die Gemeinden seines Kirchenkreises. Es lautet: »Am 2. Sonntag nach Trinitatis bin ich in das Amt eines Superintendenten des Kirchenkreises Freiberg eingewiesen worden. Es liegt mir daran, allen Pfarrern, Kirchenmusikern und Kirchenbeamten, allen Kirchenpatronen, Kirchenvorständen und Kirchgemeindevertretern, auch denen, die nicht an der Feier haben teilnehmen können, ein Wort herzlichen Grußes zu sagen. Der Herr der Kirche, der uns alle, jeden an seiner Stelle zum Dienst der Gemeinde berufen hat, schenke uns seinen Geist, der allein Gemeinde zu bauen und uns immer fester zusammenzuführen vermag. Die gegenwärtige Stunde erfordert stärksten Einsatz einer klaren christlichen Verkündigung. Was von den Kanzeln klingt, muss im Leben bewährt werden. Daran sind alle Glieder der Gemeinde beteiligt. Unser geistliches Ringen gilt vor allem dem heranwachsenden Geschlecht. Wir bedürfen dabei der Mitwirkung christlich entschiedener Lehrerpersönlichkeiten. Ihnen gilt ein besonderer Gruß. Der Johannistag, der uns auf die Höhe des Jahres geführt hat, ist seit alters her ein Tag volksverbundener Frömmigkeit und guter deutscher Volkssitte. Er mahnt uns mit seinem Wort ›Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen‹ daran, dass wir nicht durch unsere Art dem Wachstum der ­Gemeinde Christi hinderlich werden. In diesem Geiste trete ich mein Amt an und erbitte das Vertrauen aller Glieder unseres Kirchenkreises. Nehmt mich und meinen Dienst in eure Fürbitte auf. Der Herr fördere aber das Werk unserer Hände! von Kirchbach, Superintendent«26

Die Aufgabe, die vor ihm lag, war groß. Der Kirchenbezirk umfasste 52 Kirchen mit 43 Geistlichen. Dazu musste die Jugendarbeit umgestaltet und stärker an das kirchliche Amt gebunden werden. Dagegen gab es Bedenken angesichts der deutschchristlich eingestellten Pfarrer.27 Von Kirchbach besuchte eine Tagung in Waldenburg, auf der es um die »organische Gliederung der Volkskirche« ging, konkret um die Taufpraxis und ihre kirchliche Glaubwürdigkeit. Professor Martin Doerne, Systematischer Theologe in Leipzig, hielt hier seinen berühmten Vortrag, in dem er den Gedanken der Verschiebung der Konfirmation auf ein höheres Lebensalter vorschlug. Dieser Gedanke wurde jedoch als undurchführbar erkannt, der Gedanke Esthers, umgekehrt das Alter vorzuverlegen, konnte nicht weiter verfolgt werden. »Es wurde die Konfirmation als ein ungangbarer Weg zu innerer Erneuerung der Kirche beiseitegelassen.«28 Von Kirchbach setzte sich »für eine dynamische, den vorhandenen geistlichen Kräften und Ämtern entsprechende Sammlung der Gemeinden ein«. Das erfordere aber eine Zurüstung in den Gemeinden und durch Freizeiten und könne nicht von oben organisiert werden, sondern müsse geistlich unter einer festen geistlichen Leitung wachsen.

26 27 28

Archiv der Evang.-Luth. Kirchgemeinde St. Petri/Freiberg, ohne Sign. Vgl. von Kirchbach, Lebenserinnerungen, Nr. 457. Ebd., Nr. 462.

Arndt von Kirchbach

217

In Freiberg waren von Kirchbach die Pfarrer, die dem Notbund angehörten, bestens bekannt. Unter ihnen waren etliche jüngere Pfarrer. Einige hatten aber bei all ihrer treuen Gesinnung ihre Gemeinde nicht fest hinter sich. Einige Pfarrer gehörten zwar dem Notbund nicht an, waren aber innerlich an das Bekenntnis der Kirche gebunden und dienten treu ihrer Gemeinde. Nur wenige standen dem neuen Superintendenten ausgesprochen ablehnend gegenüber, so vor allem Karl Eichenberg (Freiberg, St. Jakobi) und Rudolf Benndorf (Colmnitz). Von Kirchbach schreibt: »Ich habe ehrlich versucht, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Aber es zeigte sich, dass sie meine Sprache in geistlichen Dingen nicht verstanden oder verstehen wollten.« Noch mehr belastete es ihn, dass einige Pfarrer dazu neigten, »den Mantel nach dem Winde zu hängen, bald zustimmten, bald dem Parteidruck nachgaben«.29 Er bemühte sich auch, die Konventsarbeit neu zu beleben. Dabei gab es große Schwierigkeiten, die entgegengesetzten Meinungen zu Bibelarbeiten und Vorträgen zusammenzubringen. In der Domgemeinde kümmerte er sich vor allem um die Gemeindediakonie, um den Konfirmanden­ unterricht, um Kirchenferne und um kinderreiche Familien. Überhaupt lag ihm die Jugendarbeit sehr am Herzen, für die er ja beste Voraussetzungen mitbrachte. Doch durch die Inkorporation der kirchlichen Jugendverbände in die Hitler­ jugend war diese Arbeit schweren Belastungen ausgesetzt. Deshalb führte er eine Pfarrerrüstzeit zu Problemen der Jugendarbeit durch. Auch für die Volks­ mission setzte er sich ein. Er erreichte, dass ein Evangelisationswagen in mehreren ­Gemeinden des Kirchenkreises im Einsatz war. Die Zusammenarbeit mit dem Zweiten Pfarrer am Dom, Edmund Sachsenweger, bezeichnete er als »vorbildlich«, auch wenn dieser nicht den Weg zur BK gefunden habe.30 Durch Besuche in den Pfarrhäusern bemühte er sich um Vertrauen, übrigens auch zu den Kirchenpatronen, die weithin seiner Arbeit positiv gegenüberstanden, selbst dort, wo sie der NSDAP angehörten. Als er beim Kreisleiter der Partei einen Antrittsbesuch machte, wurde er kühl empfangen. Es gab dann auch kaum noch Begegnungen mit ihm. Doch das Verhältnis zum Freiberger Oberbürgermeister Dr. Hartenstein, ebenfalls Parteigenosse, war von gegenseitigem Verständnis geprägt. Erhebliche Schwierigkeiten gab es mit DC-Pfarrern. So ­ verweigerte der Colmnitzer Pfarrer Benndorf ihm den Dienst in seiner Kirche, obwohl ­ dem Superintendenten das Kanzelrecht in seinem Kirchenkreis zusteht. Benndorf und Eichenberg versagten auch eine Vertrauenserklärung für den L ­ andeskirchenausschuss.31

29 30 31

Ebd., Nr. 457, 467. Ebd., Nr. 458, 464, 472; Ephoralarchiv Freiberg, Sign. 2400. Vgl. von Kirchbach, Lebenserinnerungen, Nr. 471.

218

Karl-Hermann Kandler

Auch der Fortbildung der Vikare und Kandidaten nahm er sich mit Hingabe an. Predigten sowie Kasualansprachen wurden vorgelegt und praktische Fragen der Seelsorge und Amtsführung besprochen. Wiederholt geriet von Kirchbach in Schwierigkeiten mit den Nationalsozialisten. Er vermied es möglichst, den Hitlergruß zu verwenden, was in Freiberg durch ein Ausweichen auf den Bergmannsgruß »Glück auf« verhältnismäßig leicht war. Vor allem Pfarrer Eichenberg nahm an von Kirchbachs Haltung Anstoß. So, als von Kirchbach Kritik übte an der Verleihung des Nationalpreises an Alfred Rosenberg durch Hitler. Denn, so Eichenberg, Hitler sei »viel zu groß und zu genial, als dass man sich ein solches Urteil [...] anmaßen dürfe«. Rosenberg verstehe mehr vom Christentum und vom echten Luthergeist, als es ihm der Lutherische Rat zubillige. Diese Kritik wies von Kirchbach entschieden zurück.32 Als Eichenberg in der Jakobikirche Landesbischof Coch ohne Meldung an den Superintendenten predigen lassen wollte, empfahl er, dies zu verweigern. Ebenso untersagte er Eichenberg, eine von ihm angesetzte Mitgliederversammlung der Deutschen Christen als offizielle Veranstaltung der Kirche zu bezeichnen.33

Von Kirchbachs Beurlaubung vom Superintendentenamt (1937–1945) Nach nur wenig mehr als einem Jahr Dienstzeit in Freiberg wurde am 29. September 1937 durch das Landeskirchenamt, unterschrieben von dessen »Leiter« Oberkirchenrat Johannes Klotsche, von Kirchbach mitgeteilt, dass er von seinem Amt beurlaubt sei. Am 10. August war der Landeskirchenausschuss entmachtet, Klotsche als Präsident des Landeskirchenamtes ernannt und ihm die Befugnisse des Landeskirchenausschusses übertragen worden. Begründet wurde die Beurlaubung damit, dass er dem Landeskirchenamt ungehorsam sei, er kritisiere die Abberufung des Landeskirchenausschusses und habe die mit abberufenen Super­ intendenten und Pfarrer zu sich eingeladen, »um die praktische Durchführung von Maßnahmen zu erörtern, mit dem Ziel, das von den mit abberufenen Mitgliedern des Landeskirchenausschusses erörterte gesetzwidrige Nebenregiment praktisch zu unterstützen«. Er beeinflusse auch weiterhin die Pfarrerschaft und habe über den Treueid auf den Führer gesagt, es könne Fälle geben, »wo man aus der Verpflichtung gegen Gott [...] nicht den Anordnungen der weltlichen ­Obrigkeit folgen könnte«. Damit habe er bewiesen, dass er »nicht rückhaltlos zu Staat und Bewegung stehe«.34 Am 2. Oktober 1937 musste er die Geschäfte an

32 33 34

LKArch Dresden, 5/254, Bl. 84, 88 f.; ebd., 5/LBR 142, Bl. 102. Vgl. Ephoralarchiv Freiberg, Sign. 6018. LKArch Dresden, 5/281, Bl. 116; ebd., 5/LBR 142, Bl. 102.

Arndt von Kirchbach

219

Pfarrer Eichenberg, dem vom Landeskirchenamt eingesetzten kommissarischen Superintendenten, übergeben. Dieser war in Polizeibegleitung erschienen. Am 4. Oktober wurde von Kirchbach durch sechzehn Pfarrer des Kirchenkreises das Vertrauen ausgesprochen. Sie wehrten sich gegen seine Beurlaubung, da er »unser volles Vertrauen besitzt«, während Eichenberg als kommissarischer Superintendent »in seiner nationalkirchlichen Haltung unser Vertrauen nicht besitzt«. Sie müssten ihm ihre »Gefolgschaft versagen«.35 Von Kirchbach wurde untersagt, Pfarrkonferenzen einzuberufen und Visita­ tionen durchzuführen. Da er sich nicht daran hielt, wurde er am 12. Dezember ins Landeskirchenamt einbestellt. Er begründete seine Haltung damit, dass er sich geistlich verpflichtet fühle, sein ihm vor dem Altar übertragenes Amt auszuüben. Inzwischen hätten ihm aus dem Kirchenbezirk 35 Pfarrer das Vertrauen ausgesprochen, fünf geschwankt und fünf hätten sich für Pfarrer Lic. Paul Schwen, der bisher sein Vertreter war, ausgesprochen. Ein Schreiben, das fast 1 000 Unterschriften trug, sprach sich für sein Verbleiben im Amt aus. Er selbst beschwerte sich am 16. Dezember beim Reichskirchenminister über ein Verbot einer Arbeitsgemeinschaft mit Kandidaten und Pastoren, auf der Predigtentwürfe besprochen werden sollten, durch Eichenberg und den Oberbürgermeister. Er habe sich dieser Anordnung gebeugt und die Eingeladenen abbestellt.36 Eingeleitet wurde das förmliche Dienststrafverfahren am 28. Januar 1938 mit dem Ziel der Entfernung aus dem kirchlichen Amt und der Kürzung seines Einkommens um 50 Prozent, weil er weiter die geistliche Leitung des Kirchenbezirks Freiberg gegen die Anordnung Klotsches ausgeübt habe. So hatte er beispielsweise am 2. Januar 1938 in Großwaltersdorf drei Vikare der BK ordiniert.37 Gegen die Einleitung des Dienststrafverfahrens legte er Widerspruch ein. Der Rat der Evangelisch-Lutherischen Kirche versicherte ihm in einem Schreiben der »Fürbitte einer großen Gemeinde«; man fühle sich mit ihm und der ihm gestellten Aufgabe verbunden.38 In dem Text heißt es weiter: »Die in der Kirche tätigen Kräfte gegen die sich auf Schrift und Bekenntnis aufbauende lutherische Kirche glauben, ihre Zeit sei gekommen, den Kampf jetzt mit aller Rücksichtslosigkeit einer Entscheidung im nationalkirchlichen Sinne entgegenzuführen.« Er dankte für die »stärkenden und teilnehmenden Worte gegenüber meiner neuerlichen Beurlaubung«.39

35 Ebd., Bl. 104. 36 Vgl. von Kirchbach an das Reichskirchenministerium vom 16.12.1937 (LKArch Dresden, 5/LBR 142, Bl. 106 ff.). 37 Vgl. LKArch Dresden, 5/281, Bl. 116, 130–133. 38 Ebd., Bl. 145; Joachim Fischer, Die sächsische Landeskirche im Kirchenkampf 1933–1937, Halle (Saale) 1972, S. 265. 39 LKArch Dresden, 5/281, Bl. 112.

220

Karl-Hermann Kandler

Am 5. Februar 1938 teilte von Kirchbach Oberlandeskirchenrat Erich Kotte, einem Juristen, der auch von seinem Dienst im Landeskirchenamt beurlaubt war und im Dienst der BK stand, mit, dass die Kirchgemeindevertreter der Domgemeinde ihn gefragt hätten, ob er gewillt sei, im Dom zu predigen. Er habe dies bejaht. Man wolle in Berlin vorstellig werden mit der Bitte, seine Maßregelung rückgängig zu machen.40 Doch der Oberbürgermeister bat ihn, nicht im Dom zu amtieren, da er sonst mit einem Polizeieinsatz dagegen vorgehen müsse. Andererseits bat der Kirchenvorstand das Landeskirchenamt am 4. Februar 1938 darum, von Kirchbach möge bis zur Erledigung des Dienststrafverfahrens die vorläufige Dienstenthebung mit Rücksicht auf den Abschluss des Konfirmandenunterrichts aussetzen und ihn im Amt bis dahin belassen. Eichenberg wandte sich entschieden dagegen. Klotsche schrieb dem Oberbürgermeister, dass das Verfahren in aller Schärfe durchgeführt werden müsse. Offensichtlich hat von Kirchbach aber noch Gottesdienste im Dom gehalten, denn am 26. Februar wurde ihm das ­Betreten des Doms und des Domgemeindehauses zur Vor­nahme von Amtshandlungen verboten.41 Darauf wandte er sich in einem Schreiben an Generalfeldmarschall Hermann Göring mit Hinweis auf seine militärische V ­ ergangenheit.42 Als der Oberbürgermeister von Kirchbach zum Ko-Vorsitzenden des Dombauvereins berief, beschwerte sich die Hitlerjugend, Bann 182 (Freiberg), ­darüber und sprach ihr Missfallen aus: »Die Jugend kann nicht verstehen, dass ein Mann, der zu denen gehört, die erst in den letzten Tagen von Herrn Minister Kerrl als Außenseiter gebrandmarkt wurden, zum Mithüter eines der gewaltigen Kunstwerke, in dem wir ein Heiligtum sehen, gemacht wird. Unser Vertrauen als Hüter des Domes besitzt Herr von Kirchbach nicht.« Am 18. Oktober 1937 verteidigte Oberbürgermeister Dr. Hartenstein seine Haltung in einem Schreiben an den Kreisleiter der NSDAP damit, er habe dem Dompfarrer von Kirchbach die Frage stellen müssen. Der Kreishauptmann habe gemeint, ohne leitende Mitarbeit des Dompfarrers sei der Dombauverein wohl nicht möglich.43 Von Kirchbach war zwar von seinem Dienst als Superintendent beurlaubt, aber nicht dienstentlassen. Der als kommissarisch eingesetzte Vertreter, Pfarrer Eichenberg, beschwerte sich mehrfach im Landeskirchenamt darüber, dass von Kirchbach predige; er sei zwar dazu nicht berechtigt, tue es aber.44

40 41 42 43 44

Vgl. von Kirchbach an Kotte vom 5.2.1938 (LKArch Dresden, 5/281, Bl. 139). Vgl. LKArch Dresden, 5/281, Bl. 148; Domarchiv Freiberg, Sign. 1245. Vgl. LKArch Dresden, 5/281, Bl. 152 f. Stadtarchiv Freiberg, Sign. I XXIII 70. Vgl. Ephoralarchiv Freiberg, Sign. 4198. Vgl. Domarchiv Freiberg, Sign. 1245.

Arndt von Kirchbach

221

Da von Kirchbach nicht mehr in Freiberg amtieren konnte, bemühte er sich, andernorts zu amtieren, so bei der Lutherischen Freikirche in Breslau. Eine mögliche Berufung nach Hannover lehnte er ab.45 Am 4. Juni 1938 beschloss das Landeskirchenamt, dahingehend zu wirken, dass von Kirchbach »aus dem Kirchenamte zu entfernen« sei,46 und überwies am 7. Juni das Verfahren an das Kirchengericht, das dann auf seine Dienstenthebung urteilte.47 Das Urteil ist vom Kirchenvorstand von Kirchbach offensichtlich am 15. Dezember 1938 mitgeteilt worden. Ja, er durfte nicht einmal die Beerdigung eines alten Bergmannes durchführen, den er ein Jahr zuvor zur Goldenen Hochzeit eingesegnet hatte. Die Familie hatte ihn um diesen Dienst gebeten.48 Gegen das Urteil legte von Kirchbach Berufung ein, die seine Rechtsanwälte am 3. Januar 1939 und von Kirchbach selbst am Folgetag mit einem Schreiben an den Disziplinarhof der Deutschen Evangelischen Kirche in Berlin begründeten. Dieser verfügte dann – nach Kriegsbeginn – die Einstellung des Verfahrens, doch lehnte das Landeskirchenamt dieses Urteil am 18. November 1939 ab. Das ganze Verfahren bezeichnete von Kirchbach als einen Schlag in das Gesicht des Reichskirchenministers. Klotsche kam mit seiner Ablehnung nicht durch. Er »ersuchte« am 25. Juli 1940 von Kirchbach, »sich der Wahrnehmung von Superintendentengeschäften zu enthalten«, und teilte der Freiberger Superintendentur mit, die Führung der Geschäfte des Superintendenten erfolge wie bisher.49 Da inzwischen auch Pfarrer Eichenberg zum Kriegsdienst eingezogen worden war, hatte dieser Pfarrer Dr. Hermann Brause (Freiberg/St. Petri) mit der Aufgabe der Wahrnehmung der Superintendenturgeschäfte betraut. Obwohl Dr. Brause am 14. Dezember 1945 vor dem Vertrauensausschuss des Landeskirchenamtes bezeugte, er habe weder der NSDAP noch den Deutschen Christen angehört, hatte er 1938 in einem Schreiben erklärt: »Ich habe meine nationalsozialistische Gesinnung unter Beweis gestellt.«50 Jedenfalls nahm er die ihm gestellte Aufgabe ganz im Sinne der Nationalsozialisten wahr. Auch er wurde von der großen Mehrheit der Pfarrerschaft des Kirchenbezirks nicht anerkannt. Insgesamt muss festgestellt werden, dass sich der Kirchenkampf nach der Beurlaubung bzw. Dienst­ enthebung von Kirchbachs in Freiberg und im ganzen Freiberger Kirchenbezirk ­erheblich verschärft hatte. Es gelang weder Eichenberg noch Dr. Brause, die Lage zu beruhigen. 45 46 47 48 49 50

Vgl. von Kirchbach, Lebenserinnerungen, Nr. 500. LKArch Dresden, 5/281, Bl. 159. Ebd., Bl. 162. Vgl. von Kirchbach, Lebenserinnerungen, Nr. 505. LKArch Dresden, 5/281, Bl. 215, 242. Ephoralarchiv Freiberg, Sign. 3756; Sign. 5325. Eine Berufungsurkunde Brauses vom Landes­ kirchenamt liegt nicht vor, doch hat er von 1939 bis 1945 diese Funktion ausgeübt, wie sich aus den Unterschriften zahlreicher Schreiben ergibt.

222

Karl-Hermann Kandler

Vom Kriegsdienst aus sandte von Kirchbach ab 1940 Hirtenbriefe an die ­Pfarrerschaft. Gerade dies aber war Anlass für Klotsche, ihm die Ausübung von Geschäften eines Superintendenten zu verwehren. Am 12. Januar 1943 untersagte er ihm für die Dauer seiner Wehrmachtsdienstleistung alle, auch seelsorger­ liche, Maßnahmen. Als Brause darauf von einem Pfarrer angeschrieben wurde, weshalb von Kirchbach diese Geschäfte nicht ausüben dürfe, schrieb dieser am 5. Juli 1940: »Wohl ist das Verfahren gegen Herrn von Kirchbach in die Amnestie gefallen und somit eingestellt worden, noch nicht aber ist er in seine Ämter eingesetzt.« Das geschehe erst, wenn er von seinem Wehrmachtsdienst zurückgekehrt sei unter der Voraussetzung, dass er sich dem Landeskirchenamt unterstelle. Erst am 3. Oktober 1940 teilte Brause der gesamten Pfarrerschaft mit, dass das Verfahren eingestellt worden sei. Pfarrer Lic. Schwen beschwerte sich über diese Mitteilung, war doch im Schreiben des Landeskirchenamtes davon keine Rede; er erklärte dabei seine Verbundenheit mit von Kirchbach.51 In der Zeit, die von Kirchbach beurlaubt war, hat er mehrfach Tagungen und Rüstzeiten geleitet. Die volksmissionarisch-geistliche Zurüstung war ihm ein Herzensanliegen. Dazu gehörte eine Tagung Anfang Oktober 1937 in Waldenburg über Fragen des Katechumenats, Anfang 1938 eine des Berneuchner Kreises. Er unternahm eine Berichtsreise nach Württemberg und nahm zu Pfingsten an der Reichstagung des Jungmännerwerks teil. Auch Rüstzeiten besuchte er, so in Niederrödern, in Wittenberg und in Ostpreußen. Dabei standen Bibelarbeiten und Andachten im Mittelpunkt. Im Herbst 1938 unternahm er im Auftrag der Michaelsbruderschaft eine Reise nach Österreich. Dieser folgte eine Evangelisationswoche in Bitterfeld. Weiter bemühte er sich auf vielfältige Weise um kirch­ liche Kunst, vor allem um Literatur und Kirchenmusik.52

Von der Wiedereinsetzung von Kirchbachs in das Superintendentenamt bis zum Lebensende (1945–1963) Als Wehrmachtspfarrer war von Kirchbach zunächst bei der 256. Infanterie-Division tätig, dann ab 1942 am Standort Straßburg im Elsass. Im Juli 1945 kehrte er aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft nach Freiberg zurück und nahm seine Tätigkeit als Super­intendent und als Pfarrer am Dom wieder auf. Zuvor hatten sofort nach Kriegsende mehrere Pfarrer Dr. Brause aufgefordert, von seiner Funktion als stellvertretender Superintendent zurückzutreten, da er »weder das Vertrauen der Mehrheit der Pfarrer« besessen noch sich dieses durch seine Amtsführung er-

51 52

LKArch Dresden, 5/281, Bl. 242, 250, 253, 267, 275, 279. Vgl. von Kirchbach, Lebenserinnerungen, Nr. 500–511.

Arndt von Kirchbach

223

worben habe. Doch klanglos ging er nicht. Für ihn übernahm die kommissarische Leitung des Kirchenbezirks Pfarrer Walter Mitscherling (Freiberg/St. Nikolai), der der BK angehörte. Als von Kirchbach nach Freiberg zurückkehrte, fand er relativ geordnete Verhältnisse vor. Die Wiederaufnahme seiner Amtstätigkeit teilte er am 26. Juli 1945 dem Kreiskirchenamt mit. Das Landeskirchenamt gab seiner Freude über seine Rückkehr und seine Wiederaufnahme des Superintendentenamtes Ausdruck.53 Waren auch die Verhältnisse als relativ geordnet anzusehen, so lag doch eine große Aufbauarbeit nach Kriegsende vor von Kirchbach. Schon wenige Monate später, am 19. Februar 1946, starb seine Frau Esther nach knapp 25-jähriger Ehe. Ihre Schwester Elisabeth Charlotte verw. Gräfin von Wallwitz heiratete er dann 1952. Zum 1. Februar 1953 ließ er sich emeritieren und hielt am Ostersonntag 1953 seinen letzten Gottesdienst im Freiberger Dom. Er setzte sich damit aber nicht zur Ruhe, sondern übernahm ein Altersvikariat in Tragnitz bei Leisnig, bis er dann 1962 nach Goslar übersiedelte. Dort starb seine dritte Frau. Kurz darauf ist er am 28. Februar 1963 in Goslar verstorben.54 In seiner Erklärung vor der Vertrauenskommission des Landeskirchenamtes erklärte er am 16. November 1945, er sei nie Mitglied der NSDAP gewesen, habe jedoch als Studentenpfarrer und Jugendführer versucht, auf die völkisch gesinnte Jugend einzuwirken, um sie zu einer ehrlichen Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben zu bringen. Von Anfang an sei er gegen die Deutschen Christen eingestellt gewesen und habe sich der Jungreformatorischen Bewegung angeschlossen. Er habe im Gedankenaustausch mit Martin Niemöller gestanden und sei an der Gründung des Pfarrernotbundes beteiligt gewesen. Als Kriegspfarrer habe er den Zweiten Weltkrieg vom ersten bis zum letzten Tag miterlebt. Er habe sich diesem Dienst nicht entziehen können, da er kein kirchliches Amt in der Heimat habe ausüben dürfen. Er habe »nie unmittelbar Grausamkeit gegen die Bevölkerung miterlebt«, aber Einspruch gegen die Tötung von angeblich lebensunwertem Leben erhoben. »In meiner Verkündigung habe ich nach besten Kräften den Vollgehalt des Evangeliums von Jesus Christus zur Geltung zu bringen versucht.« Das Urteil der Entnazifizierungskommission vom 18. Juli 1947 lautete auf »unbegrenzte Weiterbeschäftigung«: »Der Kampf, den Herr Superintendent von Kirchbach gegen das deutschchristliche Kirchenregiment und gegen den Nazismus geführt hat, ist weithin bekannt. Die Kommission sieht deshalb seine unbegrenzte Weiterbeschäftigung als selbstverständlich an.«55

53 Ephoralarchiv Freiberg, Sign. 2400. 54 Vgl. von Kirchbach, Lebenserinnerungen, Lebensdaten, Teil I, S. 6 f. Die Lebenserinnerungen von Kirchbachs reichen bis 1939; die Lebensdaten hat der Herausgeber den Aufzeichnungen seines Vaters vorangestellt. 55 LKArch Dresden, 2/802, Bl. 6, 18.



Roland Biewald Friedrich Delekat

Der Weg zum »pädagogischen Theologen« Die Person Friedrich Delekats ist in einem Sammelband zu sächsischen ­Pfarrern in der NS-Zeit in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich. Zum einen ist Delekat »Pfarrer« nur insofern, als er ordinierter Theologe ist, das aber im (staatlichen) Hochschuldienst. Jedoch ist er auch Mitglied der Bekennenden Kirche und wirkt dort reichsweit an verantwortlicher Stelle mit, indem er Delegierter der Barmer Bekenntnissynode 1934 ist, das »Schulwort« der Bekennenden Kirche mit erarbeitet und dieses 1936 auf der Vierten Reichsbekenntnissynode in Bad Oeynhausen vorträgt. Des Weiteren ist Delekat Grenzgänger zwischen Theologie, (Erziehungs-)Philosophie und Pädagogik. Seine Professur an der Technischen Hochschule (TH) Dresden trägt die Widmung »Außerordentlicher Lehrstuhl für Religionswissenschaft« und wäre heute wohl mit einem Religionswissenschaftler besetzt worden. Damals verstand man darunter einen (evangelischen) Theologen, der, wie bereits sein Vorgänger Paul Tillich, systematisch-theologisch und religionsphilosophisch profiliert war und die Theologie in einem weiten Sinne im Rahmen der Lehrerbildung vertreten konnte. Delekats Profil hat sich bis zu seiner Dresdner Zeit in Richtung Pädagogik entwickelt, was ihm an diesem Lehrstuhl und auch für die Arbeit in der Bekennenden Kirche sehr zugutekam. Erst später, nach dem Zweiten Weltkrieg, konzentriert er sich im Rahmen seiner ­Professur in Mainz wieder ganz auf die Systematische Theologie, allerdings nie als »Dogmatiker«. Die folgende Darstellung konzentriert sich auf die Zeit Friedrich Delekats an der TH Dresden. Zunächst erfolgt eine kurze biografische Hinführung bis zu dieser Zeit, und am Schluss steht ein stichpunktartiger Ausblick seines weiteren Werdegangs. Friedrich Delekat wurde am 4. April 1892 in Stühren (Hannover) geboren. Sein Vater war dort, wie schon sein Großvater, Dorfschullehrer. Ab 1903 erhielt er Privatunterricht bei Pastor Schaumann in Heiligenfelde. Er bestand die

226

Roland Biewald

­ ufnahmeprüfung am Alten Gymnasium in Bremen und blieb bis zum Abitur im A Jahr 1911 dort. Er entschied sich für ein Studium der Theologie und Philosophie, das er in Tübingen begann. Dort beeindruckte ihn vor allem Adolf Schlatter. An der Philosophischen Fakultät begegnete er dem dort lehrenden Nationalökonomen Robert Wilbrandt, der später sein Kollege an der Kulturwissenschaftlichen Abteilung der TH Dresden war und der als sogenannter Kathedersozialist galt. 1912 wechselte Delekat nach Berlin, wo er seine spätere Frau kennenlernte, und 1913 nach Göttingen. Die verbreitete Kriegsbegeisterung holte auch ihn ein, sodass er sich im November 1914 als Kriegsfreiwilliger meldete. 1915 wurde er in Galizien verwundet und verbrachte einige Zeit im Lazarett in Dessau, kehrte aber 1916 zurück ins Feld nach Frankreich, wo er erneut und diesmal schwer verwundet wurde. Ein Lazarettaufenthalt in Mainz folgte. Neben dem Soldatendienst legte er 1917 das Erste Theologische Examen ab. Nach der Ablehnung seiner ­Bewerbung in Hannover wurde er in Schlesien zur Prüfung zugelassen. Das Kriegsende erlebte er schließlich in Göttingen. Seinen Vorbereitungsdienst begann er 1919 in Marklissa a. Queis in der Nähe von Görlitz. Zur Vikarsausbildung gehörte damals auch ein Kurs am Lehrerseminar, wo Delekat seine erste Begegnung mit der Pädagogik hatte, die ihn von da ab neben der Theologie beschäftigte. Das Zweite Theologische Examen legte er 1919 in Breslau ab. Im gleichen Jahr wurde er von der Theologischen Fakultät Marburg zum Lic. theol. mit einer Arbeit über den Mystiker Pierre Poiret promoviert. Es folgte die Versetzung nach Laurahütte (Oberschlesien) und die Ordination in Breslau. 1919 bekam Delekat eine Pfarrstelle in Priebus (Kreis Sagan) übertragen, wo er bis 1923 wirkte. Während dieser Zeit (1920) heiratete er Hedwig, geb. Bickel, in Berlin. Dort war gerade das Religionspädagogische Institut neu gegründet worden, weil die Kirche aufgrund von Spannungen mit der staatlichen Lehrerbildung die religionspädagogische Ausbildung der Vikare selbst in die Hand nahm. Der damalige Oberkirchenrat Otto Dibelius berief Friedrich Delekat 1923 an dieses Institut, dessen Leitung er ab 1924 übernahm. In dieser Zeit war er Gasthörer an der Philosophischen Fakultät und arbeitete mit dem Erziehungsphilosophen Eduard Spranger zusammen an Pestalozzi-Studien. 1926 – ein Jahr vor dem 100-jährigen Pestalozzijubiläum – erschien Delekats Pestalozzi-Buch.1 Die Berliner Philosophische Fakultät promovierte Delekat 1925 zum Dr. phil., und 1929 habilitierte er sich dort.2 Das Werk »Von Sinn und Grenzen bewußter Erziehung. Ein Versuch zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen Christentum und Erziehung«, das

1 2

Vgl. Friedrich Delekat, Johann Heinrich Pestalozzi. Der Mensch, der Philosoph und der Erzieher, Leipzig 1926. Die Habilitationsschrift trägt den Titel »Über die historischen und systematischen Grundlagen des Problems der Erziehbarkeit« und beschäftigt sich v. a. mit Grundbegriffen der Nikomachischen Ethik.

Friedrich Delekat

227

ursprünglich als Habilitationsschrift gedacht war, erschien 1927. 3 Spranger hatte seine Veröffentlichung gefördert, zugleich aber davon abgeraten, diese Schrift als Habilitationsschrift einzureichen. Offensichtlich war sie ihm zu wenig »philosophisch«. Das Buch erlebte 1967 eine zweite Auflage,4 was beweist, dass Delekat grundlegende und immer wiederkehrende Fragen des Verhältnisses von Theologie und Pädagogik behandelt hatte.

Delekats Berufung nach Dresden und seine Wirksamkeit an der ­Technischen Hochschule Nach dem Weggang Paul Tillichs 1929 war der außerordentliche Lehrstuhl für Religionswissenschaften an der Kulturwissenschaftlichen Abteilung der TH Dresden frei geworden. Als Nachfolger wurde Friedrich Delekat berufen, der zu dieser Zeit als wissenschaftlicher Leiter des Religionspädagogischen Instituts der Evangelischen Kirche in Berlin wirkte. Delekat hatte Theologie und Philosophie studiert, war Dr. phil. und Lic. theol. und erschien so für diesen Lehrstuhl besonders geeignet, auf dem er Theologie in einem weiten Sinne als »Religionswissenschaft« zu vertreten hatte und der besonders auf die Lehramtsstudiengänge ausgerichtet war. Auf dem Gebiet der Pädagogik lagen bereits Veröffentlichungen Delekats vor, die ihn als Pestalozzikenner und -verehrer auswiesen und in denen theoretische Fragen der Pädagogik auf dem Hintergrund des christlichen ­Glaubens bewegt wurden.5 In Berlin begann er auch seine Habilitationsschrift »Über die historischen und systematischen Grundlagen des Problems der E ­ rziehbarkeit«,6 die er 1929 erfolgreich beendete. Die Zeit am Religionspädagogischen Institut in Berlin brachte Delekat überhaupt erst mit pädagogischen Fragen in Berührung, für die er sich schnell ­begeisterte. Die Gründung des Instituts durch die Kirche war eine Reaktion auf 3 4 5

6

Friedrich Delekat, Von Sinn und Grenzen bewußter Erziehung. Ein Versuch zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen Christentum und Erziehung, Leipzig 1927. 2. Auflage Heidelberg 1967. So z. B. die Dissertation: Delekat, Pestalozzi; 2., erweiterte Auflage ebd. 1928; ders., Von Sinn und Grenzen bewußter Erziehung. Mehrere Aufsätze zu Pestalozzi, z. B. ders., Pestalozzi. In: Die Erziehung, 1 (1926), S. 553–569; ders., Die Methode Pestalozzis und das Problem der religiösen Erziehung. In: Monatsblätter für den evangelischen Religionsunterricht, 20 (1927), S. 49–59; ders., Pestalozzi und die Kulturkritik seiner Zeit. In: Die Evangelische Pädagogik, 2 (1927), S. 49–54; ders., Der lebendige Pestalozzi. In: Pädagogisches Zentralblatt, 7 (1927), S. 65–67; ders., Pestalozzi und Kant im Lichte der gegenwärtigen Kulturkrise. In: Deutsche Lehrerzeitung, 40 (1927), S. 297–301; ders., Artikel »Christentum und Erziehung«. In: Pädagogisches Lexikon, Leipzig 1928, Band 1, Sp. 805–821. Friedrich Delekat, Über die historischen und systematischen Grundlagen des Problems der ­Erziehbarkeit, Philosophische Habilitationsschrift, maschinenschriftlich, 214 Bl., Berlin 1929.

228

Roland Biewald

die nach 1919 entstandene Situation der Trennung von Staat und Kirche mit ihren Auswirkungen auf das Schulwesen. Dort, wo Theologen noch im ­Schulwesen mitwirkten, also zum Beispiel als Leiter von konfessionellen Schulen oder als Religionslehrer, wurde jetzt nach einer pädagogischen Qualifikation gefragt, die man ­bisher vernachlässigt hatte. Das Religionspädagogische Institut sollte zum einen diese Qualifikation vermitteln, zum anderen auch die katechetische Ausbildung der Pfarrer übernehmen. Delekat wurde 1923 aus dem Pfarramt in Schlesien an das neu gegründete Institut berufen. Da er sich seiner unzureichenden Kenntnisse auf dem Gebiet der Pädagogik bewusst war, besuchte er gastweise pädagogische Seminare bei Eduard Spranger an der Berliner Universität. Spranger wurde für Delekat zum prägenden pädagogischen Lehrer, der ganz schnell das Interesse an dieser Wissenschaft und an Pestalozzi im Besonderen weckte. Sofort begann er mit seiner Arbeit über Pestalozzi, die er 1926 als Dissertation einreichte und später ausbaute. Für die Dresdner Berufung war diese Zeit in Berlin wohl die entscheidende Etappe in Delekats akademischer Entwicklung. Ursprünglich Theologe mit systematischem, aber auch historischem und philosophischem Interesse, wurde er nun zum pädagogisch engagierten Theologen, der die evangelische Kirche immer wieder auf ihre kulturelle Rolle hinwies. Delekat nahm 1929 den Ruf nach Dresden an und ging in eine für ihn noch unklare berufliche Zukunft, denn seine Aufgaben und Herausforderungen an der TH waren ihm noch nicht völlig klar. Ihm wurde gesagt: »Man brauche [...] weniger einen abgestempelten Wissenschaftler als einen Mann, der den Problemen der Gegenwart gegenüber offen sei. Dass dies bei mir zutreffe, habe mein Auftreten in Leipzig bewiesen. Ich bekam völlig freie Hand für die Lösung meiner neuen Aufgabe, die sich später als sehr kompliziert und vielfältig erwies.«7

7

Friedrich Delekat, Lebenserinnerungen, Bonn 1971 (maschinenschriftlich, vervielfältigt, gebunden), S. 151. In seinen Lebenserinnerungen begründet Delekat seine Berufung nach Dresden auch mit einer Episode, die sich kurz zuvor in Leipzig zugetragen hat. Er war zum Philosophenkongress um einen Vortrag gebeten worden, weil man auf sein Pestalozzi-Buch aufmerksam geworden war. Sein Vortrag »Was ist und wie entsteht Gemeinschaft?« fiel angeblich bei den Gelehrten durch, stieß aber bei den Studenten auf großen Zuspruch. Er muss in Leipzig einiges Aufsehen erregt haben, woraufhin man in Dresden auf ihn aufmerksam wurde. »Nicht lange danach bekam ich aus Dresden die Anfrage, ob ich bereit sei, den frei gewordenen Lehrstuhl für Religionswissenschaften an der Technischen Hochschule anzunehmen. Technische Hochschule? Daran hatte ich nie gedacht, noch weniger hatte ich eine Vorstellung davon, was dort von mir erwartet wurde. [...] Dort [in Dresden] erfuhr ich, dass das, was man mir in Leipzig verübelt hatte, in Dresden der Grund meiner Berufung gewesen war. Gemäß dem plattdeutschen Sprichwort: Wat den einen sin Ul is, is den annern sin Nachtigall.« Ebd., S. 150 f. Auch Episoden wie diese mögen ein Körnchen historische Wahrheit enthalten.

Friedrich Delekat

229

Zwar war Delekat nicht der erste Theologe an der TH, aber es haftete dennoch weiterhin die Wahrnehmung von etwas »Exotischem« an diesem Lehrstuhl.8 Die Kulturwissenschaftliche Abteilung war aus der Allgemeinen Abteilung hervorgegangen und stark ausgebaut worden, auch um die Kulturinteressen der Stadt ­Dresden zu fördern. Sie hatte zur Zeit des Eintritts von Delekat vierzehn Lehrstühle (neun Ordinariate und fünf Extraordinariate). Der aus dieser Zeit wohl bekannteste Kollege Delekats ist der Romanist Victor Klemperer. Allerdings wurde das Erstarken der Kulturwissenschaften in Dresden auch mit Argwohn betrachtet. Vertreter der technischen Wissenschaften selbst fürchteten um das besondere Profil der Hochschule, vor allem, weil auch schon in den 1920er-Jahren Bestrebungen im Gange waren, durch die Gründung einer Medizinischen Fakultät die Hochschule zur Universität auszubauen. Das forderte zudem den Widerstand der Leipziger Universität heraus, die in Dresden eine Konkurrentin heranwachsen sah. An einzelnen Vorgängen lässt sich das gut nachweisen. Zum Beispiel wurde der Kulturwissenschaftlichen Abteilung in Dresden nicht gestattet, den »Dr. phil.« zu verleihen. Stattdessen wurde hier der »Dr. cult.« verliehen – ein in der akademischen Landschaft durchaus merkwürdiger Titel. Ein weiterer Grund für den Ausbau der Kulturwissenschaftlichen Abteilung war die Eingliederung der (Volksschul-)Lehrerausbildung in die Universität Leipzig und die TH Dresden. Die Lehrerseminare waren (nach 1919) aufgehoben worden, um den Lehrern eine vollakademische Ausbildung zu ermög­ lichen. In Dresden führte das zu einem Zustrom von Lehramtsstudenten mit der Konsequenz, die Kulturwissenschaften entsprechend erweitern zu müssen. Die Einrichtung des planmäßigen außerordentlichen Lehrstuhls für Religionswissenschaften, den von 1925 bis 1929 Paul Tillich innehatte, ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Delekat trat nun 1929 die Nachfolge Tillichs an. Einerseits ließ man ihm freie Hand, seine Lehr- und Forschungstätigkeit zu profilieren, andererseits waren natürlich durch Tillich Prägungen entstanden und auch Erwartungen geweckt worden. Delekat ist sich dessen bewusst. Er wusste, dass sich Tillich vorwiegend religionsphilosophischen Themen gewidmet hatte. Er hingegen wollte den Akzent seiner Arbeit auf die Ausbildung der zukünftigen Volksschullehrer setzen. Das war in Anbetracht seiner Berliner Zeit gut nachvollziehbar.

8

»Als ich bei der ersten offiziellen Feier einem der älteren technischen Kollegen begegnete und mich ihm vorstellte, meinte er in unverfälschtem Sächsisch: ›So, Sie sind der neie Deoloche? Denn ist ja de Himmelsleiter färtsch.‹ Der Jurist und die drei Nationalökonomen, vielleicht auch noch die Sprachwissenschaftler und der Historiker mochten an einer Technischen Hochschule ein Existenzrecht haben. Aber schon die Philosophie erschien als eine überflüssige Sprosse auf dieser Kulturleiter. Und nun gar noch ein Theologe!« Ebd., S. 153.

230

Roland Biewald

Dennoch sah er die besondere Aufgabe der Kulturwissenschaftlichen Abteilung der TH auch gegenüber der Allgemeinbildung der Technikstudenten und den Bildungsbedürfnissen der Stadt Dresden. Es waren im Grunde drei verschiedene Zielgruppen, auf die er seine Lehrtätigkeit auszurichten hatte: »Ich unterschied später in meinen Vorlesungen drei Kategorien von Hörern: Lehrerstudenten, Techniker und ›meine Damen und Herren‹.«9 In den Vorlesungsverzeichnissen der zehn Semester, die Delekat in Dresden gelehrt hatte, spiegelte sich das wider. Seine Lehrveranstaltungen waren zu einem Teil allgemeinbildender Art, zum größeren Teil aber für die Lehramtsstudierenden gedacht. Auch für die Lehramtsstudierenden war »Religion« nur ein Wahlfach (es wurden keine Religionslehrer ausgebildet), sie bildeten aber wohl den größeren Teil seiner Zuhörerschaft. Ihnen gegenüber sah er sich in einer wirklich »religionspädagogischen« Rolle, denn aufgrund der oben schon angesprochenen geschichtlichen Vorgänge war bei den Volksschullehrern eine antiklerikale Haltung vorherrschend. Sie empfanden die Abschaffung der geistlichen Schulaufsicht und ihre universitäre Ausbildung als Emanzipation und Aufwertung des Lehrerstandes. Delekat hatte ihnen gegenüber nicht nur das gesamte Gebiet der Theologie zu vertreten, sondern er wurde außerdem als Repräsentant der Kirche gesehen. Diese Rolle nahm er gern an und füllte sie mit Genauigkeit im theologischen Denken und mit Behutsamkeit in der pädagogischen Vermittlung aus. In der Anfangszeit seiner Dresdner Lehrtätigkeit hatte er sehr mit dem Umstand zu kämpfen, dass er »Schmalspurtheologie« betriebe, der ein gewisser ­Dilettantismus anhaftete. Es war »ein wenig Exegese, ein wenig Kirchengeschichte, etwas Dogmatik und alles unter dem Gesichtspunkt: Wie sage ich es dem Kinde? Zudem, was war ich selber? Ganz sicher auch kein zünftiger Theologe, sondern ein theologisch-pädagogisches Chamäleon, von dem man nicht wusste, in welche Fakultät es eigentlich gehört.«10 Delekat stand dem Problem gegenüber, das heute in der Religionspädagogik mit dem Schlagwort »Elementarisierung« bezeichnet wird. Hier kamen ihm ­seine Pestalozzistudien zugute. Die Arbeit an der TH war für den Theologen immer wieder eine Herausforderung zur Elementarisierung und zum Verständlichmachen theologischen Denkens. Die Begegnungen mit Naturwissenschaftlern und Technikern waren für beide Seiten bereichernd, da sie über den Horizont der eigenen Wissenschaft mit ihrem jeweiligen Wahrheitsanspruch hinaussahen. »Auch sonst war der Umgang mit den Technikern und einigen Industriellen, die man bei akademischen Festen traf, für mich von Nutzen. Sie hatten eine ganz andere Sorte von Intelligenz, die mir bis dahin nicht begegnet war. Als wir näher miteinander bekannt wurden, war ich überrascht, wie viel   9 10

Ebd., S. 154. Ebd., S. 155.

Friedrich Delekat

231

Christen es unter ihnen gab und was ihnen am Christentum wichtig war. Von Theologie verstanden sie wenig oder nichts. Aber als der Kirchenkampf begann, waren sie ein wenig stolz darauf, dass auch von der Technischen Hochschule einer dabei war. Natürlich! Denn die Maschine begann nun zu brummen, und man hörte am Ton, dass sie auf hohen Touren lief.«11

Delekat als Theologe in der Bekennenden Kirche Das letzte Zitat leitet zu einem neuen Gesichtspunkt über, unter dem das Wirken Friedrich Delekats in Dresden zu betrachten ist: die Zeit der national­ sozialistischen Herrschaft. Sie brachte für den Lehrkörper der Technischen Hochschule, insbesondere der Kulturwissenschaftlichen Abteilung, Entlassungen und ­Emeritierungen aus politischen Gründen mit sich. Friedrich Delekat sah sich nun nicht mehr nur als Hochschulprofessor, sondern als bekennender Christ, für den die Wahrheit seiner Lehre unmittelbare Auswirkungen im gesellschaftlichen Kontext hat. Politisch engagierte er sich nach seinem Eintritt 1931 im »Christlich-sozialen Volksdienst«, einer nationalkonservativen Partei mit vielen evangelischen ­Mitgliedern, indem er als Wahlredner auftrat. Er fand aber seine Rolle als ­politischer Redner nicht und stellte die aktive Mitarbeit in dieser Partei nach der Machtübernahme Hitlers ein.12 Wichtiger und nachhaltiger wurde für ihn die Mitarbeit im Pfarrernotbund (PNB) und der aus diesem gegründeten Bekennenden Kirche (BK). Was lässt sich aus den vorhandenen Quellen (Sitzungsprotokolle, Synodal­ akten, Lebenserinnerungen etc.) über Friedrich Delekats Rolle in der BK in ­Sachsen und in Deutschland erschließen?

Seine Selbstwahrnehmung Mitgliedschaft im PNB und in der BK

Delekat gab zu erkennen, wegen seiner Tätigkeit im Staatsdienst kurzzeitig gezögert zu haben, in den PNB einzutreten. Dahinter stehen zum einen die Tatsache, dass er nicht Pfarrer im kirchlichen Dienst war, und zum anderen die Angst vor Repressalien oder anderen negativen Konsequenzen. Seine Sorge um »Sein oder Nichtsein der Kirche« war jedoch ausschlaggebend für ihn, sich dem Notbund anzuschließen. Zunächst nahm er an den ersten Versammlungen in

11 12

Ebd., S. 158. Ebd., S. 159 f.

232

Roland Biewald

Privat­wohnungen teil. Bereits 1934 fuhr er als sächsischer Delegierter zur Ersten Reichsbekenntnissynode nach Barmen. Als er nach der Augsburger Synode 1935 ins Visier der politischen Führung geriet und sich wie andere Professoren, die an der Synode teilgenommen hatten, dazu äußern sollte, ob er Mitglied der BK sei, bejahte er dies und »kehrte […] die Spitze der Argumentation um«. Auf die vorsichtige Nachfrage eines Hochschulbeamten, ob er den Text so abschicken wolle, bejahte er auch dies bestimmt.13 Daran ist zu erkennen, dass Delekat seine Mitgliedschaft hoch schätzte, sich offen zu ihr bekannte und auch die direkte Konfrontation durchaus nicht scheute, aber Anstrengungen unternahm, um seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Predigttätigkeit

Delekat wollte Predigtarbeit übernehmen und wurde, laut Hermann Klemm,14 deshalb in den Kreis derjenigen aufgenommen, die im Künstlerhaus in ­Loschwitz, einem Zentrum der BK, predigten. Klemm stellt hier auch einen mehr oder weniger ursächlichen Zusammenhang zur Suspendierung Delekats durch Mutschmann her, der sich im Abgleich mit den anderen Dokumenten nicht bestätigen lässt. Die Predigten erscheinen ab 1934, während die Suspendierung 1936 erfolgt. Delekat selbst äußerte sich sehr wertschätzend über die Predigtarbeit und ­Gemeindeerfahrung, die er machen konnte, und brachte zum Ausdruck, dass er das rechte Predigen trotz Pfarramtsausbildung erst in der Zeit der BK richtig e­ rlernte. Theologischer Ratgeber

Delekat ging davon aus, in der Frage des Verhältnisses von Staat und Kirche von Anfang an15 mehr Weit- und Klarsicht gehabt zu haben als die meisten Mitglieder der BK. Es sei ihm daher auch ein Bedürfnis gewesen, seinen Brüdern, denen oft die rechte Perspektive und Einstellung fehlte, Rat zu geben – wenn er schon keine Führungsrolle übernehmen konnte. Er selbst legte hier, bei der Beratungs- und Diskussionstätigkeit während der Konferenzen der Notbundbrüder, einen seiner persönlichen Aufgabenschwerpunkte. Diese Rolle nahm er auch deutschlandweit wahr, indem er die Arbeit der BK sachlich durch Vorträge über Theologie und Pädagogik begleitete. Hier lag laut Selbsteinschätzung sein anderer Aufgabenschwerpunkt. 13 14 15

Ebd., S. 183. Vgl. Hermann Klemm, Im Dienst der Bekennenden Kirche. Das Leben des sächsischen Pfarrers Karl Fischer 1896–1941, Göttingen 1986, S. 233. Vgl. bereits Friedrich Delekat, Die Kirche Jesu Christi und der Staat, Berlin 1933.

Friedrich Delekat

233

Verfasser von Publikationen und Flugschriften

1935 verfasste Delekat die Flugschrift »Ich bin der Herr dein Gott, du sollst keine anderen Götter haben neben mir«,16 welche einige Zeit darauf verboten wurde. Nachdem er Redeverbot erhalten hatte, konzentrierte er sich auf seine Publikationen, unter anderem die »Glaubenslehre«.17 Nach dem Reiseverbot arbeitete er daran, für das Isenhagener Kirchenbuch alle Sonn- und Festtagsandachten zu verfassen. 1939 arbeitete er an der Schrift »Der gegenwärtige Christus«.18 Laie oder Pfarrer?

Delekat sah sich selbst wahrscheinlich nicht in der Rolle des Laien innerhalb des Bruderrats, die ihm jedoch aus formalen Gründen zugewiesen worden ist. ­Darauf deutet eine seiner Aussagen im Rahmen des sächsischen Kirchentags 1937 hin. Unter den Anwesenden befanden sich Pfarrer und Laien. Delekat richtete sich mit seiner Aussage direkt an die Laien und formulierte Aufgaben, die diese in den Gemeinden übernehmen sollten. Dafür wählte er nicht die Formulierung »wir«, die ihn in die Gemeinschaft der Laien einbezogen hätte. Stattdessen sprach er davon, dass »Sie, meine lieben Brüder« jetzt diese Aufgaben erledigen sollten, und distanzierte sich somit von der Gruppe. In seinen Lebenserinnerungen heißt es zudem, dass sich die Mitarbeit im Pfarrernotbund zunächst schwierig gestaltete, weil er Professor und nicht Pfarrer war. Auch in Anbetracht seiner selbstgewählten Schwerpunktsetzung und der von ihm übernommenen Aufgaben und Funktionen bleibt zu vermuten, dass er selbst Probleme hatte, sich in das Muster von Pfarrer oder Laie, welches durch die Struktur der BK vorgegebenen war, einzuordnen. Nicht ernst genommen?

Delekats heftige Äußerungen im Disput um die Entscheidung bezüglich der neuen Kirchenleitung 1937 und deren Kommunikation nach innen und außen enthalten eine aufschlussreiche Formulierung. Nachdem er sich erneut für eine entschiedene und klare kirchliche Haltung eingesetzt hatte, beschwerte er sich:

16 17 18

Vgl. ders., Ich bin der Herr dein Gott, du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Bete sie nicht an und diene ihnen nicht! Volksverbundenheit und Gottesglaube im Neuen Testament, Dresden 1935. Vgl. ders., Der christliche Glaube, Wuppertal-Barmen o. J. [1939]. Vgl. ders., Der gegenwärtige Christus. Versuch einer Theologie der Geschichte, Stuttgart 1949. Abgeschlossen im Frühjahr 1943. Vgl. Henrik Simojoki, Evangelische Erziehungsverantwortung: Eine religionspädagogische Untersuchung zum Werk Friedrich Delekats (1892–1970), Tübingen 2008, S. 293, Anm. 46.

234

Roland Biewald

»Ich habe es satt. Jedes Mal, wenn ich was gesagt habe, wird abgestimmt und die Sache geht auseinander.«19 Auch der Verlauf des gesamten Diskussionsgeschehens gibt Hinweise darauf, dass die Fürsprecher der klaren Linie höflich, aber bestimmt ignoriert wurden. Insofern bliebe zu fragen, ob es sich um eine ein­malige Situa­tion handelte und ob sich die BK-Führung grundsätzlich gegen Delekat als Person oder als Vertreter einer bestimmten Haltung (Unterstellung, er sei ein Dahlemit) richtete. Delekat beschrieb in seinen Lebenserinnerungen, dass er aufgrund seines »niedersächsischen Temperaments« und der Professoren-Denkart bei den sächsischen Mitbrüdern aneckte. Seine Hilfsangebote wurden gern angenommen, während er von Entscheidungen ausgegrenzt wurde. Er führt dies jedoch nicht nur auf seine Person, sondern auch auf seine radikale Haltung zurück, mit der er den Kirchenkampf nicht als »innerkirchliche Angelegenheit, sondern als eine Auseinandersetzung zwischen Kirche und Staat« bewertete. Wie Delekat damit zurechtkam, sehr selektiv gehört und beachtet zu werden, lässt sich nur vermuten. Öffentlich äußerte er wohl, wie aus den Lebenserinnerungen zu schließen ist, zuweilen seinen Unmut. Auch wenn er in den Lebens­ erinnerungen das Verhältnis zur BK als schwierig bezeichnet, zog er nicht die Konsequenz, aus der BK auszuscheiden, obgleich über deren Ausrichtung und Auftrag durchaus inhaltliche Differenzen bestanden.

Delekat – ein »Bekenntnistheologe«? Delekats Wirken innerhalb der Bekennenden Kirche ist weniger das eines Pfarrers, wiewohl er auch eine Reihe von Predigten gehalten hat, sondern mehr das eines theologischen Impulsgebers. Nach einer Bekenntnistheologie muss man also in seinen Schriften suchen, aber auch in seiner Kommissionstätigkeit für die BK, zum Beispiel in Form der Vorbereitung des »Schulwortes« für die Vierte ­Bekenntnissynode. Daher werden an dieser Stelle einige theologische Schlaglichter aus Schriften, die im Zusammenhang mit der Tätigkeit der BK s­ tehen, zusammengetragen, um Delekats Bekenntnistheologie zu skizzieren. Zum Kirchenkampf

Im Gegensatz zu vielen anderen Mitgliedern der BK begreift Delekat seinen Kampf von Anfang nicht als »innerkirchliche Angelegenheit« zur Erhaltung der reinen Lehre und Abgrenzung gegen staatliche Vereinnahmung, »sondern als 19

Bericht über die Sitzung des Landesbruderrates am 12.8.1937 in Leipzig, 14 Uhr, S. 6 (LKArch Dresden, 5/LBR 152, Bl. 171).

Friedrich Delekat

235

eine Auseinandersetzung zwischen Kirche und Staat«.20 Daher hält er den Kirchenkampf auch eher mit den antiken Christenverfolgungen als mit der Reformationszeit für vergleichbar.21 Der Kampf richte sich nicht gegen Einzelpersonen, sondern gegen System und Partei.22 Freilich geht es ihm auch um eine Auseinandersetzung mit den Deutschen Christen (DC). Delekat beschrieb die DC als »eine religiöse Richtung, die ­außerhalb des christlichen Bekenntnisses steht«.23 Die DC haben in Bezug auf das Verhältnis von Staat und Kirche und den »Weg zur Volksgemeinschaft […] keine klaren Einsichten und Grundsätze«,24 handeln also nicht richtig, und somit gilt es, sich ihnen entgegenzustellen. Die Haltung, so zu tun, als sei man eigentlich staatstreu, führe nur mit kleineren Beschwerden einzelne Stiche gegen den Staat aus und lehne die DC nur aus theologischen und kirchlichen Gründen ab, erwies sich mit der Länge des Kirchenkampfes für Delekat jedoch als nicht mehr tragfähig.25 Delekat vertrat die Auffassung, dass die BK »ein Pfund […] bekommen« habe, mit dem es »zu wuchern«26 gelte. Die BK soll in ihrem Auftreten nach außen und innen Stärke, Klarheit und Entschlossenheit zeigen, weil sie das ihr offerierte »Kapital« sonst aufs Spiel setze. Die Kirche übe durch die Predigt mit Einbezug aktueller Beispiele ihr »Wächteramt […] gegenüber dem Staate aus«.27 Dies sei ihre Pflicht. Mit dem Werk »Der gegenwärtige Christus«28 will Delekat den »geistigen Ertrag des Kirchenkampfes«29 zusammenfassen. Es handelt sich um eine geschichtsphilosophische Reflexion über die Ideologie des 18./19. Jahrhunderts, welche die ideelle Basis der NS-Politik trägt. Diese sei als säkularisierte Form der christlichen Eschatologie zu verstehen. Aus der Gesamtheit seiner Äußerungen geht hervor, dass es Delekat auf der ­einen Seite sehr wohl um eine »Erneuerung der Kirche von innen her« geht. ­Andererseits macht er deutlich, dass sich kirchliches Handeln darin nicht erschöpfen kann. Er tritt nachdrücklich für eine politische Kirche ein. In einem Schreiben von 1934 an Hans Asmussen, Mitglied des Reichsbruderrates der 20 Ebd. 21 Vgl. ebd., Bl. 173. 22 Vgl. ebd., Bl. 174. 23 Bericht über die Sitzung des Landesbruderrates am 12.8.1937 (LKArch Dresden, 5/LBR 152, Bl. 169 R). 24 Abschrift der Stellungnahme Delekats vom 12.1.1935 zu einer Anzeige aufgrund eines Vortrags am 11.12.1934 (LKArch Dresden, 36/72, Bl. 198). 25 Vgl. Delekat, Lebenserinnerungen, S. 175. 26 Bericht über die Sitzung des Landesbruderrates am 12.8.1937 (LKArch Dresden, 5/LBR 152, Bl. 171). 27 Delekat, Lebenserinnerungen, S, 186. 28 Vgl. ders., Der gegenwärtige Christus. Versuch einer Theologie der Geschichte, Stuttgart 1949. 29 Ders., Lebenserinnerungen, S. 201.

236

Roland Biewald

BK, äußert Delekat, dass es nicht um das Bekenntnis gehe, sondern um die ­»politisierte oder nichtpolitisierte Kirche«. Zur Frage der Kirchenleitung

Delekat verweist darauf, dass die Entscheidung auf dem sächsischen Kirchentag bezüglich der Leitung weitreichende Konsequenzen haben wird, derer sich vor allem der am 9. August 1937 durch den deutschchristlichen Oberkirchenrat Johannes Klotsche gewaltsam aus dem Landeskirchenamt vertriebene, aber formal noch weiter amtierende Landeskirchenausschuss (LKAu) bewusst sein sollte.30 »Ich fühle mich verpflichtet, Sie in diesem Augenblick darauf hinzuweisen, dass das, was heute angefangen ist, wahrscheinlich Folgen hat. Wer der Meinung ist, dass er dazu nicht genügend gerüstet sei, sage es beizeiten! Ich hätte es deswegen gewünscht, wenn heute einer der Herren des Ausschusses dagewesen wäre und erklärt hätte, ich bin mir der Verantwortung bewusst, ich bin bereit, sie zu übernehmen und, wer mir nachfolgen will, der folge mir nach.«31

Die Thüringer DC, Klotsche und Oberlandeskirchenrat Willy Kretzschmar, der Vorsitzende der Finanzabteilung beim Dresdner LKA, der seit Juni 1937 auf die Entmachtung des Landeskirchenausschusses hingearbeitet hatte,32 stehen als solche außerhalb des christlichen Bekenntnisses und können nicht als Kirchenleitung anerkannt werden, so Delekat.33 Er plädiert dafür, den Landeskirchenausschuss in Verbindung mit dem Vertrauensrat in einem offiziellen Schreiben an die Ministerien und an Hitler als anerkannte kirchliche Leitung Sachsens auszurufen. Hugo Hahn gibt demgegenüber zu bedenken, dass sich der Landeskirchenausschuss (noch) nicht als solcher verkünden lassen möchte. Woraufhin Delekat die dahinter zu vermutende Scheu des LKAu, Verantwortung und ­Leitungsaufgaben zu übernehmen, kritisiert.34 Delekat formuliert eine Abkündigung für die Gemeinden, die klar zur Treue zum LKAu und zur Nichtanerkennung der durch die politische Führung eingesetzten Geistlichen aufruft. Darüber gerät er in Disput mit Hahn, der sich in der Sache wesentlich gemäßigter und verhaltener äußern möchte – aus Furcht, den »Gesamtwiderstand im Keime [zu] ersticken«.35 Delekat bleibt seiner klaren

30 Vgl. Protokoll des sächsischen Kirchentags vom 12.8.1937 (LKArch Dresden, 5/LBR 152, Bl. 167 R). 31 Ebd. 32 Vgl. Kurt Meier, Der evangelische Kirchenkampf, Band 2: Gescheiterte Neuordnungsversuche im Zeichen staatlicher »Rechtshilfe«, 2. Auflage Göttingen 1984, S. 356 f. 33 Vgl. Bericht über die Sitzung des Landesbruderrates am 12.8.1937 (LKArch Dresden, 5/LBR 152, Bl. 169 R). 34 Vgl. dass. (ebd., Bl. 170). 35 Dass. (ebd., Bl. 171).

Friedrich Delekat

237

­ inie treu und meint, dass der »Widerstand, der dadurch im Keime erstickt wird, L […] keinen Pfennig wert«36 sei. Positionierung innerhalb der BK – Delekat ein »Dahlemit«?

Diese Gruppe innerhalb des Pfarrernotbundes sowie seiner sächsischen Abteilung übte Kritik am Kurs des Landesbruderrats (LBR) in Sachsen, welcher aus pragmatischen Gründen dem Lutherrat und dem Landeskirchenausschuss gegenüber aufgeschlossen war.37 Delekat »neigte«38 laut Hahn der Gruppe der Dahlemiten zu. In der konkreten Diskussion um die Kirchenleitung in Sachsen vertrat Delekat die radikale Position der Dahlemiten, war also für eine Kirchenleitung durch den Landeskirchenausschuss statt durch die beiden deutschchristlichen Laien, den mittleren Verwaltungsbeamten Klotsche und den Juristen Kretzschmar, die vom stellvertretenden Staatssekretär eingesetzt worden waren.39 Allerdings ist der zurückhaltenden Formulierung Hahns zu entnehmen, dass ­Delekat nicht vollständig dahinter stand und definitiv nicht zur Führungsriege der Strömung gehörte. Hahn ordnet Delekat zudem außerhalb der im sächsischen Pfarrer­ notbund vertretenen Gruppen (streng konfessionelle Lutherane, ­ Liberale) ein;40 er war Konfessionalismus gegenüber abgeneigt41 und setzte sich für die Ökumene ein. Zwei-Reiche-Lehre

Delekats Theologie basiert nach eigenen Aussagen im Wesentlichen auf der Zwei-Reiche-und-zwei-Regimenter-Lehre, aus der er schlussfolgert: »Sie­ [= die christliche Lehre] schreibt dagegen nicht vor, dass er [= der Christ] sich für ­irgendeine Staatsform zu begeistern hat.«42 Die Christen müssten zwischen dem Reich Gottes und dem irdischen Reich unterscheiden und klare Vorstellungen von »Wesen und von der Aufgabe der Kirche« haben.43 36 Ebd. 37 Vgl. Georg Prater (Hg.), Kämpfer wider Willen. Erinnerungen des Landesbischofs von Sachsen D. Hugo Hahn aus dem Kirchenkampf 1933–1945, Metzingen 1969, S. 108; Klemm, Im Dienst, S. 269 f. 38 Prater (Hg.), Kämpfer, S. 108. 39 Vgl. Bericht über die Sitzung des Landesbruderrates am 12.8.1937 (LKArch Dresden, 5/LBR 152, Bl. 169 R). Vgl. Klemm, Im Dienst, S. 300–308. 40 Vgl. Prater (Hg.), Kämpfer, S. 34. 41 Vgl. Klemm, Im Dienst, S. 228, Anm. 389. 42 Stellungnahme Delekats vom 12.1.1935 zu einer Anzeige aufgrund eines Vortrags am 11.12.1934 (Abschrift, LKArch Dresden, 36/72, Bl. 197). 43 Vgl. ebd. – Freilich muss man den Zweck dieser Äußerungen beachten: Was das Wesen und die Aufgabe der Kirche sind, bleibt offen.

238

Roland Biewald

Positives Christentum

Anlässlich einer Predigt führt Delekat seine Gedanken zum »Positiven Christen­ tum« aus.44 Der Begriff könne politisch oder dogmatisch verstanden werden. Im politischen Sinne findet sich der Begriff im Parteiprogramm der NSDAP, wo er allerdings inhaltlich nicht näher bestimmt wird. Gemeint ist dort ein positives Verhältnis des Staates zum Christentum (Artikel 24) – allerdings, wie sich in den im Artikel 24 gemachten Einschränkungen und auch eindrücklich in der Realität zeigte, nur dann, wenn die Kirchen ideologisch »gleichgeschaltet« sind. Das dogmatische Verständnis bedeutet hingegen für Delekat, sich allein auf Gott und Christus zu verlassen und auf keinen weiteren »Namen«. Nur die Kirche habe das Recht, diesen Begriff zu definieren, weil es ja um das Wesen des C ­ hristentums geht. »Schulwort«

Die Vierte (und letzte reichsweite) Bekenntnissynode in Bad Oeynhausen (17.–22. Februar 1936) verabschiedete ein »Wort zur Schulfrage«,45 an d ­ essen Erarbeitung Delekat maßgeblich beteiligt war. Ihm kam auch die Aufgabe zu, dieses Wort auf der Synodalversammlung zu präsentieren und zu erläutern.46 Wesentliche Gedanken zu schulpolitischen Grundsätzen fanden sich bereits in seiner Hamburger Rede »Der Anteil der Kirche am Werk der Erziehung« von 1936,47 die der Erziehungskammer vervielfältigt vorlag. Gegen eine (in der ­nationalsozialistischen Schule vorherrschende) Glaubenshaltung der Selbstverherrlichung, so Delekat, müsse das Bekenntnis zu Jesus Christus als Grundlage aller echten Erziehung gesetzt werden. Die entscheidende Frage sei, ob sich die Schule (noch) als christliche Bekenntnisschule definiert. Wenn nicht, müssen die Gemeinden und die Eltern sowie die verbliebenen christlichen Lehrer aufgerufen werden, dieses Bekenntnis einzufordern. Den Lehrern, die in Gewissensnot ­geraten sind, habe die Kirche beizustehen.

44 Vgl. Delekat, Lebenserinnerungen, S. 183. Erstmalig hat sich Delekat dazu in einer Predigt in der Elisabethkirche in Breslau geäußert [1935 oder 1936]. Diese Predigt liegt nicht mehr vor, wohl aber eine mit dem Titel »Was ist positives Christentum?«, die in Dresden gehalten wurde. Vgl. ders., Was ist positives Christentum? In: Ich glaube, darum rede ich. Glaubenszeugnis einer mitbekennenden Gemeinde. Zwölf Predigten, Berlin o. J. [1936], S. 88–99. 45 Siehe Wilhelm Niemöller, Die Vierte Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche zu Bad Oeynhausen. Text – Dokumente – Berichte, Göttingen 1960, S. 115–121. 46 Vgl. Karl Immer (Hg.), Vierte Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche, Wuppertal-Barmen o. J. (1936), S. 10–15; Niemöller, Vierte Bekenntnissynode, S. 238 ff., 241–253. 47 EZA Berlin, 611/22, Bl. 11.

Friedrich Delekat

239

Freiheit des Gewissens für Synodale

Unter dem Eindruck, dass innerhalb der BK so etwas wie ein Gewissensdruck entstehen könnte (oder schon entstanden war), plädiert Delekat eindringlich für die Gewissenfreiheit der Synodalen der Bekenntnissynode. Diese Freiheit habe die Kirche als ihr Gut zu bewahren.48 Es sei die »ganz entscheidende Frage, ob es dieser […] Synode gelingt, dass sie jede Form eines Zwanges, eines Druckes auf die Gewissen ausschaltet, und dass sie unter keinen Umständen in den Fehler verfällt, der überall ringsumher in der Welt begangen wird, dass in irgendeiner Weise die Gewissen bedrückt werden. Denn davon hängt die Zukunft der Synode, davon hängt die Zukunft der Kirche ab. Die Kirche ist in Deutschland der einzige Ort, an dem heute kein Druck auf den Gewissen lastet, und darum hat sie zu kämpfen und, wenn wir da die Dinge nicht rein und sauber halten durch die Art, wie wir uns gegeneinander betragen, dann nützt alles, was wir tun, nichts.«49 Ökumene

Delekat hoffte sehr auf die Ökumene als Weg für die Erneuerung der Kirche und brachte sich deshalb in Vorbereitungsarbeiten für die Kirchenkonferenz in Oxford 1937 ein.50 Danach wurde er nochmals für Übersetzungsarbeiten nach Genf geholt, wo man den Deutschen jedoch schon mit einem gewissen Misstrauen begegnete. Nach Martin Niemöllers Verhaftung (1. Juli 1937) kehrte er nach Dresden zurück. Drei Tage später wurde ihm der Pass abgenommen, sodass weitere Auslandsreisen und auch die Teilnahme an der Konferenz in Oxford nicht möglich waren. Nach 1939/40 engagierte sich Delekat in der Una-Sancta-Bewegung.51 Die ursprünglich angedachte Intensität legte sich schnell wieder. Stärkung und Einbindung der Laien/Gemeinde

Delekat geht davon aus, dass ohne die Unterstützung der Laien – auch in kirchenpolitischen Fragen – nichts zu gewinnen ist. Daher plädiert er für eine transparente Informationspolitik auf Augenhöhe.52

48 49 50 51 52

Vgl. Klemm, Im Dienst, S. 273; Niemöller, Vierte Bekenntnissynode, S. 281 f. Niemöller, Vierte Bekenntnissynode, S. 281 f. Vgl. Delekat, Lebenserinnerungen, S. 192. Vgl. ebd., S. 201. Vgl. Klemm, Im Dienst, S. 301; Protokoll des sächsischen Kirchentags vom 12.8.1937 (LKArch Dresden, 5/LBR 152, Bl. 167 R).

240

Roland Biewald

Pfarrerausbildung

Delekat wirkte an dem Beschluss der Reichsbekenntnissynode in Augsburg 1935 »Vorbildung und Prüfung der Pfarrer der Bekennenden Kirche« maß­ geblich mit.53

Zusammenfassung Friedrich Delekat ist ohne Zweifel dem kirchlichen Widerstand gegenüber dem Nationalsozialismus zuzuordnen. Widerstand kann sich freilich in sehr unterschiedlichen Formen äußern. Delekat erscheint im historischen Rückblick vor allem als theologischer Vordenker und Vertreter einer Bekenntnistheologie, die christologisch argumentiert. Kompromisslosigkeit zeigte er gegenüber deutschchristlichen und antijüdischen Tendenzen innerhalb der evangelischen Kirche. Gegenüber den staatlichen Behörden verhielt er sich jedoch taktierend, sodass ihm härtere Konsequenzen als das Redeverbot und die Versetzung in den ­Ruhestand erspart blieben. Seine Stellung als Hochschulprofessor und damit als Staatsbeamter mögen zu dieser Haltung beigetragen haben. Als ordinierter Pfarrer sah er sich aber auch immer als »Kirchenmann«, der im Rahmen der sächsischen Bekennenden Kirche und im Rahmen der Reichsbekenntnissynoden Verantwortung übernahm. Insbesondere nach der Emeritierung wird dieses Zugehörigkeitsgefühl deutlich. So fand er nach dem faktischen Berufsverbot in der Württembergischen Kirche Zuflucht. Dass Delekat in den Akten der sächsischen BK als »Laie« geführt wird, hat nur den formalen, heute nicht mehr ganz nachvollziehbaren Grund, dass er kein aktiver Pfarrer der Landeskirche war. Sein Wirken im Rahmen der reichsweiten Bekennenden Kirche war immerhin auch für die sächsische Landeskirche von Bedeutung, da sich die BK gegenüber einer überwiegend deutschchristlichen Kirchenleitung behaupten musste. Schließlich ist es auch für die Technische Hochschule im historischen Rückblick ein Glücksfall, dass der letzte dort wirkende Theologe ein aktives Mitglied der Bekennenden Kirche war. Die damalige Kulturwissenschaftliche Abteilung hatte einige ­Professoren in ihren Reihen, die in Konflikt mit dem nationalsozialistischen Staat ­gerieten, leider aber auch solche, die dessen Ideologie vertraten.

53

Vgl. Klemm, Im Dienst, S. 256.

Friedrich Delekat

241

Biografischer Ausblick auf die Zeit nach Delekats Wirken in Dresden 1943 übernahm Delekat eine Pfarrstelle in Stuttgart-Feuerbach in ­Württemberg, einer der sogenannten intakten Landeskirchen. Er wurde zweimal versetzt. Nach einem Luftangriff im Oktober 1944 war das Pfarrhaus ausgebombt, und die ­Familie Delekat lebte in provisorischen Unterkünften. 1945 wurde ihm eine Lehrstuhlvertretung für Systematische Theologie in Heidelberg anvertraut. Er versuchte, wieder nach Sachsen zurückzukehren, ­ ­eventuell an die Universität Leipzig. Diese Bemühungen blieben jedoch erfolglos. 1946 erhielt er einen Ruf an die wieder gegründete Universität Mainz. Dort wirkte er bis 1966 als Professor für Systematische Theologie. Friedrich Delekat verstarb am 30. Januar 1970 in Mainz.

Politisch und »rassisch« verfolgte Theologen



Lisa Jenke Rudolf Stempel

»Wir dürfen und müssen Abschied nehmen von wirkungslosen Theorien. Wir dürfen und müssen Abschied nehmen von den großen Aufforderungen an ­andere. Wir dürfen uns bevollmächtigen lassen zu wirkungsvollen Werkzeugen des Friedens Gottes [...]. Der Friede fängt bei uns an. Es ist eine schlechte Sache Politiker und Politik zu beurteilen ohne ­Eigenengagement. Die Rede: Wir können ja nichts tun, ist vom Teufel. Wir können viel tun. Wir haben viel Macht, ja sogar viel Vollmacht. Wie wir am Arbeitsplatz mit Menschen umgehen, wie wir mit Gequälten umgehen, wie wir Anwälte der Entrechteten werden, das fragt Gott uns!«1 Prof. Dr. Dr. h.c. Joachim Rogge (Bischof der schlesischen Oberlausitz von 1986–1994)

Ein Mann, der versuchte nach dieser Weisheit zu leben, war Heinrich Rudolf Stempel. Schon kurz nach der Machtübernahme Hitlers leistete Stempel Widerstand. Er wurde als erster sächsischer Pfarrer ins Konzentrationslager gebracht.2

Biografie bis 1933 Heinrich Rudolf Stempel wurde am 25. April 1879 in Pulsnitz/Lausitz (Sachsen) als Sohn des Kaufmanns Alfred Stempel und dessen Frau Flora geboren. Er wuchs dort als zweites ihrer drei Kinder und einziger Sohn auf und besuchte die Bürgerschule in Pulsnitz, danach das Progymnasium in Meißen, die Fürstenschule St. Afra und das Gymnasium in Schneeberg. Nach seinem Schulabschluss ­studierte er Theologie in Kiel, Berlin und Leipzig.3 Anschließend konnte er

1 2 3

Joachim Rogge zitiert nach Der Sonntag vom 23.11.1986, S. 4. Vgl. Thomas Mielke, Märtyrer der Kirche bekommt Gedenkstätte. In: Sächsische Zeitung ­Region Zittau vom 14./15.11.2009, S. 15. Vgl. Werner Oehme, Rudolf Stempel – ein Geheimbündler? In: Standpunkt. Evangelische ­Monatsschrift, 12 (1984), S. 91 f., hier 91.

246

Lisa Jenke

z­ wischen Mai und Dezember 1906 eine Weltreise antreten,4 auf der er Amerika, Japan, China, Java, Ceylon, Indien und Ägypten besuchte. In Amerika traf er unter anderem den amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt zum Lunch.5 Diese Reise brachte eine große Erweiterung von Stempels kulturellem und politischem Blickfeld mit sich.6 Als er zurückkam, war er drei Jahre (zwischen 1907 und 1909) als Lehrer, Hauslehrer und bei der Inneren Mission beschäftigt.7 In dieser Zeit (1908) legte er auch sein Zweites Theologisches Examen ab. 1909 trat er schließlich seine erste Stelle als Zweiter Pfarrer in Neukirch am Hochwald an. Im selben Jahr heiratete er Dorothea Knaur, mit der er zwei Töchter und einen Sohn hatte.8 Sie war eine sehr intelligente Frau, die aus der Familie des bekannten Leipziger ­Verlegers Theodor Knaur stammte.9 Rudolf Stempel beteiligte sich rege an öffentlichen politischen Diskussionen und lernte bei dieser Gelegenheit den führenden SPD-Politiker August Bebel kennen. In den Gemeinden, bei denen er tätig war, initiierte er mehrere so­ ziale Projekte (Aufbau einer Volksbibliothek, Bau eines Schwimmbades, Gründung ­einer Gemeindediakonie, Angebot von Sprach-, Stenographie-, Kunstgeschichts-, Hauswirtschafts- und Krankenpflegekursen usw.) und förderte somit vor allem die Jugend- und Erwachsenenbildung.10 Kurz vor dem Ersten Weltkrieg im Mai 1914 bekam Rudolf Stempel eine eigene Pfarrstelle in Liebenau bei ­Lauenstein, wo er jedoch nur bis zum Kriegsausbruch tätig war.11 Während des Krieges arbeitete er in der Garnisonsgemeinde Bautzen12 und betreute dort neben der Gemeinde mehrere Kriegseinrichtungen (drei Lazarette, zwei Gefangenen­ lager und ein Soldatenheim).13 Anschließend wurde Rudolf Stempel wieder Pfarrer in Liebenau. 1923 wechselte er seine Pfarrstelle und war ab diesem Zeitpunkt bis zu seinem Tod am 19. Oktober 1936 in Gröba bei Riesa tätig.14

 4 Vgl. Björn Mensing, Todesopfer des Nationalsozialismus. In: ders./Heinrich Rathke (Hg.), ­Mitmenschlichkeit, Zivilcourage, Gottvertrauen. Evangelische Opfer von Nationalsozialismus und Stalinismus, Leipzig 2003, S. 81–189, hier 81. Stempels Weltreisebericht hat sich erhalten, ist jedoch in Stenografie verfasst.   5 Vgl. Lisa Jenke, Gespräch über den Großvater Heinrich Rudolf Stempel, Pfarrhaus Niederoderwitz am 11.2.2010.   6 Vgl. Oehme, Rudolf Stempel, S. 91.   7 Vgl. Mensing, Todesopfer, S. 41.   8 Vgl. Oehme, Rudolf Stempel, S. 91.   9 Vgl. Jenke, Gespräch 11.2.2010. 10 Vgl. Mensing, Todesopfer, S. 41–42; Werner Oehme, Märtyrer der evangelischen Christenheit 1933–1945. 29 Lebensbilder, 3. Auflage Berlin (Ost) 1985, S. 21. 11 Vgl. Oehme, Rudolf Stempel, S. 91. 12 Vgl. Mensing, Todesopfer, S. 42. 13 Vgl. Oehme, Rudolf Stempel, S. 91. 14 Vgl. Mensing, Todesopfer, S. 41 f.

Rudolf Stempel

247

Theologisches Profil Pfarrer Rudolf Stempel war ein sehr frommer Mann.15 Dies spiegelt sich auch in seiner intensiven täglichen Bibellese wider, während der er »betend Gottes Wort las mit der Bitte um Licht und Heilung«16. Seine Ansichten gestalteten sich doch eher konservativ, meint sein Enkel Bernhard Stempel, der sich an die Erzählungen seines Vaters erinnert. Er beschreibt ihn außerdem als sehr sozial eingestellt,17 was sich in seinen zahlreichen gemeinnützigen Projekten zeigt. An erster Stelle standen dennoch Wort und Gebet.18 »Beides gehörte für ihn zusammen, denn betend empfing er, was er weitergeben sollte, und er selbst stellte sich in G ­ laubensgehorsam als erster unter das göttliche Wahrheitslicht.«19 Eng mit ­diesem sozialen Anspruch verbunden ist die Volksmission, die Rudolf Stempel betrieb. Er versuchte, angelehnt an den liberalen Theologen Friedrich Naumann, bei dem er während seines Studiums in Berlin arbeitete,20 die kirchenferne Arbeiterschicht zu erreichen. Dabei schloss er sich jedoch nicht mit den Nationalsozialisten zusammen (wie andere in der Kirche), die eine ähnliche Arbeit taten, diese aber mit einem anderen Ziel verbanden.21 Ein weiterer Ansatz Naumanns war es, die kirchenferne Arbeiterschicht auch zu missionieren.22 Diesen Anspruch setzte Rudolf Stempel ebenfalls um, indem er seine Zustimmung zur Einladung des amerikanischen Evangelisten Ludwig (Luis) Graf gab.23 Es entsprach Stempels sozialer Haltung, dass er sich an dem Schweizer reformierten Theologen Leonhard Ragaz orientierte, der die religiös-sozialistische Bewegung in der Schweiz mitbegründet hatte.24

15 Vgl. Jenke, Gespräch 11.2.2010. 16 Dorothea Stempel, Lebenslauf von Rudolf Stempel. In: Afranisches Ecce. Totengedenkschrift des Altschülerkreises der ehemaligen Fürsten- und Landesschule St. Afra zu Meißen, 42 (1937), S. 5. 17 Vgl. Jenke, Gespräch 11.2.2010. 18 Vgl. Stempel, Lebenslauf von Rudolf Stempel, S. 5. 19 Ebd. 20 Vgl. Mensing, Todesopfer, S. 42. 21 Vgl. Friedrich Großmann, Gedenkwochenende an inhaftierte Pfarrer. In: Der Sonntag vom 23.11.1986, S. 4. Rüdiger Weyer schreibt, dass die politische Entscheidung für Friedrich Naumann ein wichtiges Kriterium für das Verhältnis Kirche – Staat darstellt. Das Bemühen Naumanns besteht darin, das Proletariat für die Kirche zu begeistern, außerdem sei er nicht antisemitisch. Vgl. Rüdiger Weyer, Kirche – Staat – Gesellschaft in Autobiographien des ­Kirchenkampfes, Waltrop 1997, S. 220 f. 22 Vgl. Weyer, Kirche, ebd. 23 Vgl. Friedrich Großmann, »Ein weiser Jude, unser Führer in bewegter Zeit«. Rudolf Stempel 1879–1936. In: Juden und Christen Kinder eines Vaters. Beiträge zur Pogromnacht 9./10. ­November 1938. Hg. von der Kirchlichen Bruderschaft Sachsens, Dresden 1988, S. 51–56, hier 52 f. 24 Vgl. Jenke, Gespräch 11.2.2010.

248

Lisa Jenke

Ein weiteres theologisches Vorbild, mit dem sich Stempel intensiv beschäf­ tigte, war Sadhu Sundar Singh, ein indischer Erweckungsprediger.25 Er setzte sich vor allem mit dem Buch von Friedrich Heiler über Sadhu Sundar Singh auseinander.26 Heiler war sehr beeindruckt von Sadhu Sundar Singh und bezeichnete diesen sogar als wahren Gottesboten.27 Von ihm könnte Stempel vor allem zu seinem Missionseifer inspiriert worden sein. Sundar Singh hatte den tiefen Wunsch, als christlicher Sadhu die frohe Botschaft weiterzusagen, und führte aus diesem Grund mehrere Missionsreisen durch.28 Stempel trat zwar selbst keine Missionsreisen an, aber er unterstützte eine evangelische Missionsveranstaltung in der eigenen Gemeinde.29 Hinzu kommt, dass Stempel einige Jahre zuvor bei der Inneren Mission beschäftigt war.30 Welche Tätigkeit er dort konkret ausübte, ist jedoch unklar. Für Stempel wurde vor allem die Feindesliebe ein wichtiges theologisches Th ­ ema.31 Er zeigte zum Beispiel nie Hass gegenüber den Nationalsozialisten. Ein weiteres theologisches Thema, mit dem sich Stempel beschäftigte, war der Heilige Geist. Er pflegte gelegentlich mit den Worten »maran atha«, das heißt: »Der Herr ist nahe« zu grüßen.32 Dieser Gruß drückte vermutlich weniger die Naherwartung Stempels aus als die Gegenwart des Heiligen Geistes.33 Stempel sagte man nach, dass er die Geistesgaben der Gebetsheilung und der prophetischen Rede habe.34 Seine Zeitgenossen meinten, seine prophetische Gabe darin zu erkennen, dass er bereits kurz nach der Machtübernahme Hitlers vorhersagte, dass dieser den Krieg wolle und ihn verlieren werde. Diesen Punkt leitete er von der wirtschaftlichen Situation Amerikas ab, die er bei seiner ­Weltreise von 1906 beobachtet hatte. Des Weiteren stellte er die Vermutung an, dass Deutschland in Besatzungszonen aufgeteilt werde.35 Die Geistesgabe der Gebetsheilung wurde ihm von seinen Gemeindegliedern zugesprochen, weil er durch Gebet erreichen konnte, dass eine Konfirmandin und ein Eisenbahner ­geheilt wurden.36 25 Vgl. Mensing, Todesopfer, S. 41 f. 26 Vgl. Stempel, Lebenslauf von Rudolf Stempel, S. 5. 27 Vgl. Paul Gäbler, Sadhu Sundar Singh. Eine historisch-kritische Untersuchung, Leipzig 1937, S. 11 f. 28 Vgl. ebd., S. 54. 29 Vgl. Großmann, Ein weiser Jude, S. 52 f. 30 Vgl. Mensing, Todesopfer, S. 41. 31 Vgl. Stempel, Lebenslauf von Rudolf Stempel, S. 5. 32 Vgl. Dorothea Stempel, Brief an einen hohen Beamten des sächsischen Ministeriums vom 30.1.1934. In: Oehme (Hg.), Märtyrer, S. 24 ff., hier 24. 33 Vgl. Jenke, Gespräch 11.2.2010. Dieser Gruß wurde von den Nationalsozialisten als Zeichen für einen Geheimbund gedeutet. 34 Vgl. Großmann, Gedenkwochenende, S. 4. 35 Vgl. Jenke, Gespräch 11.2.2010. 36 Vgl. Stempel, Lebenslauf von Rudolf Stempel, S. 5.

Rudolf Stempel

249

Der biblische Vers, nach dem er handelte und den man über sein Leben ­schreiben kann, steht in der Apostelgeschichte: »Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.«37 Dieser Satz motivierte ihn, sehr entschlossen gegen die Verordnungen der Nationalsozialisten einzutreten. Diese Überzeugung R ­ udolf Stempels wurde stark beeinflusst durch die Beschäftigung mit den baltischen Märtyrern als Verfolgte der Bolschewiki. Hierbei stellte er sich selbst die Frage, wie weit er für seine Überzeugung und seinen christlichen Glauben gehen würde.38 Die Beschäftigung mit diesem Thema, im Vorfeld der eigenen Konfronta­ tion mit einer solchen Situation, ließ ihn vermutlich in der NS-Zeit noch entschiedener auftreten. Stempels Art zu predigen wird von seiner Frau als »freimütig, vom Geist ­geführt und unerbittlich ernste Entscheidung für Gott fordernd«39 beschrieben.

Position zum Nationalsozialismus Ab dem Beginn der NS-Regierung stellte sich Stempel klar gegen Hitler. Er »nahm [...] gegen den Terror der Nazis Stellung und forderte Freiheit für Andersdenkende«.40 Seine deutliche Position wird in der Bezeichnung der Umzüge der NSDAP und der Sturmabteilung (SA) als »widerliche Faschingsparaden«41 deutlich. Dorothea Stempel schilderte in einem Brief an einen hohen Beamten42 mit indirekten Worten die Stellung ihres Mannes zum Nationalsozialismus. Sie schrieb über die »mit der rein kirchlichen Einstellung [...] [ihres] Mannes gegebene ­Zurückhaltung von aller politischer Mitarbeit«.43 Hier wird deutlich, dass Stempel nicht prinzipiell gegen die Nationalsozialisten ist, sondern eher gegen das, was die Nationalsozialisten und deren Regierung tun, weil es, in seinen ­Augen, gegen den göttlichen Willen gerichtet bzw. mit diesem nicht vereinbar ist. Dies spiegelt sich in mehreren Aussagen des Briefes wider, unter anderem in dem Satz über seinen Predigtstil, »dass es uns in unserer Wirksamkeit auf nichts anderes ankommt als auf ein wahrhaftiges und lebendiges Glaubensleben, das in ­unbedingtem ­Gehorsam sich unter den Willen Gottes stellt«.44 Dies ist wiederum 37 38 39 40

Apg 5, 29. Vgl. Stempel, Lebenslauf von Rudolf Stempel, S. 5. Stempel, Brief an einen hohen Beamten des sächsischen Ministeriums vom 30.1.1934, S. 24 . Rüdiger Rost, Ein sächsischer Pfarrer stellte sich 1933 den Nazis entgegen. Zur Erinnerung an Rudolf Stempel – einem gebürtigen Pulsnitzer. In: Dieter Rostowski (Hg.), Lausitzer Almanach 3. Unvergessene und verdienstvolle Persönlichkeiten der Lausitz, Kamenz 2008, S. 14–19, hier 16. 41 Ebd. 42 Wer dieser hohe Beamte ist, konnte ich leider nicht feststellen, da unklar ist, wo sich der Brief im Original befindet. 43 Stempel, Brief an einen hohen Beamten des sächsischen Ministeriums vom 30.1.1934, S. 24. 44 Ebd., S. 25.

250

Lisa Jenke

eine deutliche ­Abgrenzung zum Nationalsozialismus, der Allmacht für sich beansprucht, Stempel beugt sich jedoch nur der Allmacht Gottes. Auch der zweite Geistliche der Gemeinde, Pfarrer Karl Rasche, betonte in ­einem Brief an die NSDAP-Gruppe des Ortes, dass Pfarrer Stempel nichts gegen die Partei habe.45 Wahrscheinlich kann man davon ausgehen, dass Stempel vor allem das ­nationale Bewusstsein der Nationalsozialisten, wie viele seiner Zeitgenossen, schätzte. Mit dem immer deutlicher werdenden wahren Charakter des Nationalsozialismus verstärkte sich Stempels kritische Haltung gegenüber Hitler und der NSDAP weiter.

Verhältnis zum Pfarrernotbund und zur Bekennenden Kirche Pfarrer Stempel trat nie der Bekennenden Kirche (BK) oder dem Pfarrernotbund bei,46 obwohl der Zweite Pfarrer von Riesa-Gröba, Pfarrer Karl Rasche, Mitglied der BK war. Erklärungen dafür sind in seinen Aufzeichnungen nicht zu finden. Ein Grund dafür könnte sein, dass er durch den Beitritt zur BK noch angreifbarer geworden wäre und die Kirchengemeinde schützen wollte. Wiederum lässt sich dieses Argument leicht entkräften, da er sich auch in anderen Punkten, wie zum Beispiel mit einem von ihm verfassten Zeitungsartikel zu Apg 5, 38 f., selbst angreifbar gemacht hatte. Eine andere Ursache dafür, dass er nicht Mitglied der BK wurde, könnte darin bestanden haben, dass er aus rein theologischen Gründen nicht beitrat. Dies wäre verständlich, wenn er zum Beispiel die dezidiert lutherische Prägung der sächsischen BK nicht nachvollziehen wollte. Die BK war außerdem vielen liberalen Theologen wie Stempel, der stark durch Friedrich Naumann geprägt war, zu eng.47 Stempels Frau äußerte sich zu diesem Thema und sagte, dass der Rückzug des Pfarrernotbundes von Stempel sie sehr verunsicherte.48 Das deutet wiederum auf einen Versuch Stempels hin, Kontakt aufzunehmen. Hier ist jedoch auch die Frage zu stellen, ob der Pfarrernotbund aus irgendeinem Grund nicht mit den Aktivitäten von Stempel konform ging. Die BK Sachsen äußerte sich kaum zu Pfarrer Stempel. Es gibt lediglich einen Hinweis auf eine Verbindung. Stempel stand zum Beispiel mit einem der führenden Köpfe der BK Sachsens in Kontakt, Pfarrer Karl Fischer. Fischer übernahm die Pfarrstelle Stempels in Liebenau, nachdem dieser nach Riesa-Gröba gewech45 Vgl. Brief Rasches an die NSDAP-Gröba, z. H. Herrn Oberingenieur Kraut vom 15.3.1933 ­(Abschrift von Friedrich Großmann, bei dem sich der Nachlass Stempel befindet). 46 Vgl. Großmann, Ein weiser Jude, S. 54. 47 Vgl. Mensing, Todesopfer, S. 42. 48 Vgl. Großmann, Ein weiser Jude, S. 54.

Rudolf Stempel

251

selt war. Die beiden schienen sich gut verstanden zu haben, denn Familie Stempel wurde zu Fischers Hochzeit eingeladen. Des Weiteren findet sich ein Hinweis darauf in einer Formulierung in einem Buch von Hermann Klemm über Fischer, der schreibt: »der [Stempel] nur leider im gleichen Jahr Fischer den Schmerz ­antat, in seine letzte Gemeinde Riesa-Gröba umzuwechseln«.49 Der Zweite Pfarrer der Kirchengemeinde Riesa-Gröba, Karl Rasche, welcher der BK angehörte, setzte sich ebenfalls nur sehr wenig für seinen Amtsbruder Stempel ein. Obwohl beide theologisch ähnliche Auffassungen vertraten und sehr stark bibelorientiert waren, gestaltete sich ihr Verhältnis nicht besonders gut. Vermutlich lag es daran, dass Rasche auch gern das Amt des Ersten Pfarrers innegehabt hätte, welches Stempel bekam, da Rasche angeblich noch zu jung war.50 Unterstützung erhielt Pfarrer Rudolf Stempel nur von seiner Familie und einem Teil der Gemeinde, die eine Eingabe an den Riesaer NSDAP-Kreisleiter machte, damit ihr Pfarrer nach seiner Rückkehr aus Gefängnis und Konzentra­ tionslager wieder ins Amt eingesetzt werde.51

Zeitungsartikel zu Apostelgeschichte 5, 38 f. Der Zeitungsartikel zu Apg 5, 38 f. wurde am 13. Januar 1934 in der belletristischen Gratisbeilage zum »Riesaer Tageblatt« unter der Rubrik »Bibelbetrachtung« aus »Erzähler an der Elbe« veröffentlicht. Pfarrer Stempel wollte mit diesem Artikel die breite Masse erreichen. Dieser Beitrag war der Grund, den verhassten und als kommunistisch52 erachteten Pfarrer in Schutzhaft zu nehmen.53 Die Öffentlichkeit wusste wohl nichts von diesem Vorwand, wie die Äußerung von Stempels Frau vermuten lässt: »Nachdem zu meinem großen Befremden noch immer nicht eine Aufhebung der Schutzhaft meines Mannes erfolgt ist, muss ich annehmen, dass doch sehr schwerwiegende Anklagen zu seiner Verhaftung geführt haben.«54 Wahrscheinlich war bei der Verhaftung schon klar, dass der ­Artikel als Verhaftungsgrund nicht ausreichend sein würde. Dorothea Stempel vermutete, »dass die Hauptanklage in der Behauptung der Zugehörigkeit [...] ­[ihres] Mannes zu einem Geheimbund besteht«.55 49 Hermann Klemm, Im Dienst der Bekennenden Kirche. Das Leben des sächsischen Pfarrers Karl Fischer 1896–1941, Göttingen 1986, S. 67. 50 Vgl. Jenke, Gespräch 11.2.2010; Lisa Jenke, Gespräch über den Großvater Heinrich Rudolf Stempel, Pfarrhaus Zittau am 5.3.2010. 51 Vgl. Oehme, Märtyrer, S. 24. 52 Vgl. Großmann, Ein weiser Jude, S. 54. 53 Vgl. ebd., S. 51. 54 Stempel, Brief an einen hohen Beamten des sächsischen Ministeriums vom 30.1.1934, S. 24. 55 Ebd.

252

Lisa Jenke

Der Satz »Deshalb soll uns in dieser bewegten Zeit ein weiser Jude Führer sein, dessen aufrichtiges Anliegen es war gerecht zu leben und seinem göttlichen Herrn die Ehre zu geben, die ihm gebührt«56 bzw. der ganze Artikel waren ausschlaggebend für die Reaktion der Nationalsozialisten.57 Bei dem weisen Juden spielt Stempel auf den Rat des Pharisäers Gamaliël aus dem Hohen Rat an, der darüber spricht, wie mit den Anhängern Jesu Christi zu verfahren ist.58 An welchen Aspekten sich die Nationalsozialisten stießen, wird nun in der Interpretation des Zeitungsartikels thematisiert. Dabei wird der eben zitierte Satz im Mittelpunkt stehen, aber auch weitere Textabschnitte werden analysiert, da sicher nicht ausschließlich dieser Satz zur Schutzhaft führte.59 Ein Jude als Führer konnte bei den Nationalsozialisten nur auf Ablehnung stoßen. Landesbischof Coch hatte ein halbes Jahr vorher, am 16. September 1933, das Berufsbeamtengesetz auf landeskirchlicher Ebene erlassen. Dieses schrieb vor, dass jüdische Geistliche und Beamte bzw. diejenigen, die mit einem Juden oder einer Jüdin verheiratet waren, in den Ruhestand zu versetzen waren.60 Ein zweiter Punkt besteht darin, dass Stempel in seinem Artikel die Alleinherrschaft Gottes proklamierte: »Das heißt mit anderen Worten, nur der hat ein ungetrübtes Urteil über die Tagesgeschichte, der frei ist von leidenschaftlicher Befangenheit, der die eine Wirklichkeit klar ins Auge fasst; Gott regiert.«61 Das Wort »regiert«, das geistlich und weltlich verwendet werden kann, wird hier für Gott gebraucht und untergräbt somit Hitlers alleinigen Herrschaftsanspruch. Im gleichen Atemzug wirft Stempel den Nationalsozialisten und deren Anhängern vor, dass sie keine »ungetrübte Weltsicht« haben. Der dritte Punkt, der von den Nationalsozialisten sehr kritisch betrachtet worden sein könnte, ist Stempels Warnung, »dass wir uns nicht mitschuldig machen an einer falschen Führung des Volkes«.62 Neben der offensichtlichen Kritik (falsche Führung) fordert Rudolf Stempel hier die Bevölkerung klar dazu auf, die Regierung und das Handeln der Nationalsozialisten zu hinterfragen und, wenn nötig, Protest zu üben. Dieser Gedanke taucht auch schon im vorhergehenden 56

Rudolf Stempel, Bibelbetrachtung aus »Erzähler an der Elbe«. Belletristische Gratisbeilage zum Riesaer Tageblatt. In: Riesaer Tageblatt vom 13.1.1934, zit. nach Großmann, Ein weiser Jude, S. 57. 57 Vgl. Großmann, Ein weiser Jude, S. 51. 58 Vgl. Apg 5, 34. 59 Zur Verhängung der Schutzhaft führte wahrscheinlich nicht nur der Artikel, sondern auch andere Begebenheiten, an denen sich die Nationalsozialisten bei Pfarrer Rudolf Stempel störten (z. B. die Taufe einer 65-jährigen Jüdin, eine Predigtreise nach Böhmen und sein verweigerter Hitlergruß). Vgl. Großmann, Ein weiser Jude, S. 54. 60 Vgl. Gerhard Lindemann, Die Evangelisch-lutherische Landeskirche Sachsens im National­ so­ zialismus. In: Kirchliche Zeitgeschichte. Internationale Zeitschrift für Theologie und ­Geschichtswissenschaft, 18 (2005), S. 182–237, hier 200 f. 61 Stempel, Bibelbetrachtung, S. 57. 62 Ebd.

Rudolf Stempel

253

Satz auf, wenn er schreibt: »Und wir tun wohl daran, nach diesem weisen Gotteswillen zu forschen, um nicht einer Täuschung anheimzufallen, die so leicht als Frucht idealen Strebens in Erscheinung tritt.«63 Hiermit legt er ebenso die anfängliche kirchennahe Haltung der Nationalsozialisten offen. Sie versprachen der Kirche sehr viel. Das Einzige, was sie in Wirklichkeit wollten, war die »totale Macht« und somit eine Gleichschaltung der Kirchen. Der vierte Punkt, der zu Konflikten mit den Nationalsozialisten führte, ist das Problem des Allmachtsanspruches. Es wird im letzten Abschnitt des Zeitungsartikels thematisiert. Stempel ging auf die Alleinherrschaft Gottes ein, indem er den ersten Teil des Vaterunsers zitierte.64 Neben den bereits genannten deutlichen Aspekten gibt es schwächere Hinweise auf Kritik am Nationalsozialismus. Zum Beispiel bringt er seine Überzeugung, dass es sich beim Nationalsozialismus um eine schlechte Regierung handelt, mit folgenden Sätzen zum Ausdruck: »Er [Gott] hat die wahre Gemeinde Christi durch die Jahrhunderte hindurchgetragen, oft durch schwere Kämpfe und große Irrungen hindurch, aber er hat sie bewahrt in allen Bedrängungen. Sie wird sich auch in diesen Tagen erweisen als der lebendige Gotteszeuge.«65 Die Wortgruppe »in diesen Tagen« spielt deutlich darauf an. Mit diesem Satz machte er der Gemeinde auch Mut, dass sie am Richtigen festhält. Ein weitere Ermutigung findet sich in dem Satz: »Lasst uns ihm [Gott] hingegeben sein in weltüberwindendem Glauben.«66 Hier ruft er dazu auf, sich trotz all der weltlichen Missstände nicht vom Glauben abzuwenden und auf das Himmelreich zu hoffen. Die Nationalsozialisten könnten in diesem Punkt daran Anstoß genommen haben, da sie sich vom eschatologischen Himmelreich distanzierten bzw. sogar abwendeten und das tausendjährige Reich Hitlers proklamierten. Stempel macht in seinem Zeitungsartikel weiterhin deutlich, wie wichtig das Handeln jedes Einzelnen in dieser Zeit ist: »Jedwedes Urteil, sei es bejahend oder verneinend, wirkt sich aus bei unserem Nächsten.«67 Hiermit wollte er sagen, ­jeder Einzelne, der sich den Nationalsozialisten entgegenstellt, ermutigt andere, dies auch zu tun. Der Artikel zeigt ebenso die Erkenntnis Stempels, dass Gott ihn auf diesen Weg des Bekennens und Leidens geführt habe. Dies wird deutlich, indem er schreibt: »Wenn Gott regiert auch in den menschlichen Begebenheiten der Zeitgeschichte, so liegt ein tiefer Sinn in allem Geschehen, so hat göttliche Weisheit das Wort.«68

63 Ebd. 64 Ebd., S. 58. 65 Ebd., S. 57 f. 66 Ebd., S. 58. 67 Ebd., S. 57. 68 Ebd.

254

Lisa Jenke

Der Artikel weist, rein sprachlich betrachtet, keinen aggressiven oder aufrührerischen Charakter auf. Er fordert lediglich das Handeln ein. Durch den biblischen Bezug und im Vergleich zum Umgang mit Jesus erhält der Beitrag eine besondere Nachdrücklichkeit für Christen, die sich ja stark an der Bibel orientieren. Interessanterweise enthält der Artikel ein Wort des nationalsozialistischen Sprachgebrauchs – »Volksgenossen«. Hierbei handelt es sich um einen Begriff, der stark durch die NS-Propaganda geprägt wurde, auch wenn es ihn schon vor dem Entstehen der NSDAP gab. Stempel verwendet dieses Wort eher in einem unbelasteten nationalen Sinne und meint damit seine Mitbürger. Stempel versucht, in diesem Artikel nicht die Leute durch verdeckte Hinweise anzusprechen, sondern bringt sein Anliegen mit deutlichen klaren Worten auf den Punkt. Nach seiner Verhaftung hält Stempel weiterhin an der Weisheit des Gamaliël fest. Dies schreibt er auch in einem Brief an den Landesbischof am 2. April 1934.69

Weitere »Aktionen« gegen die Nationalsozialisten Im Jahr 1932 beschloss der Kirchenvorstand, dass politische Parteien in geschlossenen Formationen bzw. in Uniform die Kirche nicht betreten dürfen. Ähnliche Beschlüsse lassen sich zu dieser Zeit auch in anderen sächsischen Kirchgemeinden finden. Nachdem zum Reformationsfest 1932 SA-Truppen sich diesem Verbot widersetzten, wurden sie in Riesa-Gröba der Kirche verwiesen.70 In einem Brief des Kirchenvorstandes an das Konsistorium schreibt dieser, dass das uniformierte Betreten der Kirche nicht der Ehre Gottes in seinem Haus entspricht.71 Sie wollen, »dass alles, was die Einigkeit der Glieder seiner [Gottes] Kirche hindert, hinweg getan werde, vor allem in seinem Hause und vor seinem Altar«.72 Werner Oehme spricht in seiner Publikation davon, dass »man die in Gröba tobenden Parteistreitigkeiten nicht in die Kirche tragen wollte«.73 Der Beschluss des Kirchenvorstandes wurde später noch verschärft, es durften überhaupt keine uniformierten Personen die Kirche mehr betreten. Dies widerspricht zum Teil auch dem Ziel Stempels, gerade kirchenferne Menschen zu erreichen. Ein anderer Punkt, an dem die Nationalsozialisten Anstoß nahmen, war das Unterlassen des Hissens der Hakenkreuzfahne am 1. Mai 1933.74 69

Vgl. Rudolf Stempel, Brief ans Landeskirchenamt vom 2.4.1934. In: Oehme, Märtyrer, S. 31; zit. nach ebd., S. 32. 70 Vgl. ebd., S. 22 f. 71 Vgl. Kirchenvorstand Gröba, Brief an das Konsistorium über die Superintendentur vom 29.12.1932, Abschrift durch Friedrich Großmann (Nachlass Stempel). 72 Ebd. 73 Oehme, Märtyrer, S. 23. 74 Vgl. Großmann, Ein weiser Jude, S. 53.

Rudolf Stempel

255

Konsequenzen aus Stempels Handeln Stempel wurde am 1. Juli 1933, neben anderen Pfarrern, durch Landesbischof Coch beurlaubt. Am 15. Juli 1933 setzte man ihn jedoch wieder, durch einen Beschluss der Landesregierung, in den Dienst ein. Nach der Veröffentlichung seines Zeitungsartikels verhaftete man Pfarrer Stempel am 21. Januar 1934 und brachte ihn für neun Tage ins Riesaer Gefängnis. Anschließend wurde er am 30. Januar 1934 in das KZ Burg Hohnstein eingeliefert.75 Dort misshandelte und folterte man ihn, »dem 53-Jährigen wurden zum Beispiel die Hände zerschlagen«76 und er wurde vermutlich mit chemischen Mitteln behandelt, die sein Gedächtnis schwächten.77 Am 8. Februar entließ man ihn. Im Nachhinein erfuhr Dorothea Stempel, dass nach der genauen Prüfung des Artikels durch einen Beamten die Haltlosigkeit der Anzeige festgestellt wurde.78 Nach seiner Entlassung wollte das Landeskirchenamt Stempel in eine andere Gemeinde versetzen. Dagegen wehrte er sich gemeinsam mit einigen Gemeindegliedern heftig und konnte schließlich (nach Bildung des Landeskirchenausschusses) den Dienst in der Gemeinde Riesa-Gröba wieder antreten.79 Der Grund für die Versetzung Stempels sollte die mangelhafte Arbeit mit kirchenfernen Menschen sein. Das Landeskirchenamt schrieb Stempel, dass er besser in einer Gemeinde aufgehoben sei, deren Haltung komplett christlich sei und nicht ­kirchenentfremdet.80 Diese Begründung spottet Stempel, der sich während seiner ganzen Amtszeit um die Mission von kirchenfernen Menschen bemühte, und ist deshalb als Argument nicht tragbar. Seine Antwort vom 2. April 1934 fiel auch dementsprechend zynisch aus, indem er schrieb: »Sie meinen, dass es meiner Anlage besser entspräche, eine religiös angeregte Gemeinde zu betreuen, und wollen mir freundlich behilflich sein, eine solche zu finden.«81 Die Proteste erreichten Stempels Verbleib in Riesa-Gröba, wobei er jedoch an den Spätfolgen der Folterung am 19. Oktober 1936 im Universitätsklinikum Leipzig starb.82 75 Ebd., S. 54 f. Für nähere Informationen zu Burg Hohnstein als Konzentrationslager vgl. Kurt Schubert, Die Burg Hohnstein als Konzentrationslager. In: Hans Hofmann (Hg.), Burg und Stadt Hohnstein. Jugendherberge »Ernst Thälmann«, Dresden 1954, S. 15 ff.; Carina Baganz, Das Konzentrationslager Hohnstein. In: Günter Morsch (Hg.), Von der Sachsenburg nach ­Sachsenhausen. Bilder aus dem Fotoalbum eines KZ-Kommandanten, Berlin 2007, S. 55–61. 76 Mielke, Märtyrer. 77 Vgl. Oehme, Rudolf Stempel. Über diese Misshandlungen und Folterungen hat Stempel selbst nie gesprochen, da er beim Verlassen des Konzentrationslagers einen Schweigeeid ablegen musste – diese Angaben stammen von Mithäftlingen aus Hohnstein. Vgl. Oehme, Märtyrer, S. 34. 78 Vgl. Oehme, Märtyrer, S. 27. 79 Vgl. Großmann, Ein weiser Jude, S. 54 f. 80 Vgl. Oehme, Märtyrer, S. 30. 81 Stempel, Brief ans Landeskirchenamt vom 2.4.1934, S. 31. 82 Vgl. Großmann, Ein weiser Jude, S. 54 f.

256

Lisa Jenke

Natürlich hatte das Handeln Stempels auch erhebliche Konsequenzen für seine Familie. Sie wurde von den Nationalsozialisten überwacht. Das führte soweit, dass sich die Familie einen Rottweiler anschaffte und diesen frei im Garten des Pfarrhauses laufen ließ, um die Mithörer vom Spalier im Garten zu vertreiben.83 Diese Bespitzelung beschreibt Dorothea Stempel in einem Brief wie folgt: »Wir konnten den Verdacht aufgrund verschiedener Beobachtungen nicht loswerden, in unserem eigenen Haus nicht unbeobachtet zu sein, sondern auch dort beim vertraulichen Zusammensitzen von einem Spion abgehorcht zu werden.«84 Es gibt auch zahlreiche falsche bzw. fragwürdige Quellen zu Stempels Biografie. Beispielsweise finden sich über den Tod Stempels falsche Angaben in der ­Literatur. In der Monografie »Im Namen der Menschlichkeit« von Carlheinz von Brück, dem Quellenwerk »Damit Deutschland lebe« von Walter A. E. Schmidt und dem Aufsatz von Kurt Schubert »Die Burg Hohnstein als Konzentrations­ lager« wird beschrieben, dass Pfarrer Stempel im KZ Hohnstein so stark auf s­ eine gichtigen Hände geschlagen wurde, weil er sie beim Appell nicht vorschrifts­ mäßig halten konnte, dass ihm die Adern platzten und er daraufhin verblutete.85 Fragwürdige Angaben kann man auch zu Stempels Verhaftung finden. Klemm nennt beispielsweise als Grund für die Inhaftierung die Unterstützung linksorientierter Bürger. Hierbei beruft er sich auf einen Artikel von Oehme im »Sonntag«.86 Dieser berichtet jedoch überhaupt nicht von einer solchen Hilfe.87 Sicherlich kann dies aber auch ein Grund gewesen sein, jedoch wurde für die Öffentlichkeit stets der Gamaliël-Artikel als Ursache angeführt.

Pfarrer Rudolf Stempel – ein Märtyrer? Der Begriff Märtyrer kommt vom altgriechischen Wort μάρτυς, welches übersetzt »Zeuge« heißt. Diese Frage kann aufgrund der verschiedenen Positionen zum Märtyrerbegriff sehr kontrovers diskutiert werden. Zur Beurteilung dieser Frage werden an dieser Stelle die Begriffsdefinitionen von Lehmann, Oehme, Moll und der Antike herangezogen.

83 84 85

86 87

Vgl. Jenke, Gespräch 11.2.2010. Stempel, Brief an einen hohen Beamten des sächsischen Ministeriums vom 30.1.1934, S. 25. Vgl. Carlheinz von Brück, Im Namen der Menschlichkeit. Bürger gegen Hitler, Berlin (Ost) 1964, S. 89 f.; Walter A. E. Schmidt, Damit Deutschland lebe. Ein Quellenwerk über den ­deutschen antifaschistischen Widerstandskampf 1933–1945, Berlin (Ost) 1958, S. 295; ­Schubert, Die Burg Hohnstein, S. 16. Vgl. Klemm, Im Dienst, S. 67. Vgl. Werner Oehme, Bekenner der Kirche. In: Der Sonntag vom 2.5.1971, S. 4.

Rudolf Stempel

257

Das Argument, das für eine Bezeichnung als Märtyrer spricht, ist, dass Stempel seine Protesthaltung im Nationalsozialismus mit dem Tod bezahlte. Dafür, dass er nicht als Märtyrer anzusehen ist, spricht, dass er sein Leben nicht freiwillig oder bewusst hingab. Gegen die Anwendung des Märtyrerbegriffes auf Rudolf Stempel spricht zudem, dass beispielsweise das Gesetz zum Nichtbetreten der Kirche durch uniformierte Formationen nur zum Schutz und nicht zum Protest gedacht war. Zum Protest wurde es erst bei seiner kompromisslosen Anwendung zum Reformationsfest 1932. Nach der Definition von Hartmut Lehmann handelt es sich bei Pfarrer Heinrich Rudolf Stempel um einen Märtyrer. Lehmanns Kriterien sind die ­Verpflichtung, dem christlichen Glauben treu ohne Wenn und Aber zu folgen, die ­Tatsache, dass Märtyrer vor ihrem Tod gequält und gefoltert wurden, ­Märtyrer nicht in gesellschaftlicher Isolation leben dürfen und uns Zeugnisse aus ihrem Leben hinterlassen haben müssen.88 Diese Punkte erfüllt Pfarrer Heinrich Rudolf Stempel. Es existieren wenige Zeugnisse aus seinem Leben, aber es gibt sie. Als weiteres Merkmal – und als das für mich persönlich entscheidendste – nennt Lehmann das Streben nach Wahrheit, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Frieden.89 Bei Pfarrer Rudolf Stempel stand eindeutig das Streben nach göttlicher Wahrheit im Vordergrund. Aus dem Kriterium, christliche Märtyrer leben nicht in gesellschaftlicher Isolation, leitet Lehmann ab, dass sie sich für bedrohte, gefährdete und notleidende Menschen einsetzten.90 Dies kann man von Stempel nur bedingt behaupten. Er setzte sich zwar für seine Mitmenschen ein, dies ist jedoch nicht der vorrangige Auslöser für seine Inhaftierung in das KZ Hohnstein und seinen damit verbundenen Tod. Nach Werner Oehme handelt es sich bei Pfarrer Stempel ebenfalls um einen Märtyrer, da er ihn in seiner Publikation »Märtyrer« mit aufgenommen hat. ­Seine Definition ist sehr weit: Unter Märtyrern versteht er Menschen, die »um des Glaubens und ihres Einsatzes für Verfolgte und Gefährdete willen den Tod erleiden mussten«.91 Eine strengere Definition für den Begriff findet sich bei Helmut Moll. Seine Kriterien sind der gewaltsame Tod, der Glaubens- bzw. Kirchenhass der Verfolger und die Annahme des Willens Gottes trotz Lebensbedrohung.92 Letzteres erfüllt Stempel eindeutig, die ersten beiden sind streitbar. Stempel starb keinen gewaltsamen Tod, sondern an den Folgen der Folterung. Der zweite Aspekt, der 88 Vgl. Hartmut Lehmann, Christliche Märtyrer im 20. Jahrhundert. Eine Einführung. In: Hans Maier (Hg.), Martyrium im 20. Jahrhundert, Annweiler 2004, S. 9–21, hier 14–19. 89 Vgl. ebd., S. 20. 90 Vgl. ebd., S. 16. 91 Oehme, Märtyrer, Klappentext. 92 Vgl. Helmut Moll (Hg.), Zeugen für Christus. Das deutsche Martyriologikum des 20. Jahrhunderts, Band 1, Paderborn 2006, S. XXXI–XXXIII.

258

Lisa Jenke

zweifelhaft erscheint, ist der Glaubens- bzw. Kirchenhass der Verfolger. Von den Nationalsozialisten geht in der frühen Zeit des Nationalsozialismus noch kein Glaubenshass aus. Im Parteiprogramm der NSDAP vom 24. Februar 1920 wird zwar bereits deutlich, dass die Nationalsozialisten nur eine Kirche nach ihren Vorstellungen dulden. Dies wird an den Worten aus Paragraf 24 deutlich: »Wir fordern die Freiheit aller religiösen Bekenntnisse im Staat, so weit sie nicht dessen Bestand gefährden.«93 Gleichzeitig befindet sich in diesem Paragrafen ein Widerspruch. Erst wird die Freiheit aller religiösen Bekenntnisse gefordert, im nächsten Satz werden die Juden jedoch ausgeschlossen: »Sie [die NSDAP] bekämpft den jüdisch-materialistischen Geist.«94 Der Kirchenhass richtet sich also eher gegen die Widerständler und nicht gegen »die eigene Kirche« der Deutschen Christen. Man kann also nicht von einem allumfassenden Kirchenhass sprechen, dieser existierte nur teilweise. Da Stempel aber den Widerständlern angehörte, kann er auch nach Molls Definition als Märtyrer bezeichnet werden. In der Antike waren das Wahrheitszeugnis, die Beharrlichkeit sowie Überzeugung, für den eigenen Glauben zu sterben (teilweise sogar Todessehnsucht), und die Verfolger, die glauben, dass die Überzeugung des Märtyrers falsch sei, die typischen Kriterien eines Märtyrers.95 Hier kann man sehen, dass sich die Grundidee des Märtyrerbegriffs über Jahrtausende hinweg nicht verändert hat. Stempel erfüllt diese Eigenschaften zum großen Teil. Die Beharrlichkeit, für seine Überzeugung zu sterben, war sicher gegeben, da er kompromisslos handelte. Jedoch kann man nicht von einem Todeswillen sprechen. Er stand in keiner direkten Anklage und starb deswegen. Eine Beurteilung fällt schwer, da unklar ist, wie deutlich er den Tod als Folge seines Handelns voraussah. Tendenziell gehört Heinrich Rudolf Stempel, zumindest den meisten Defini­ tionen nach, zu den christlichen Märtyrern.

Schlussbemerkung Wenn man sämtliche Fakten (das bewusste Eintreten gegen den Nationalsozialismus, das Beharren auf seinen Aussagen usw.), Vermutungen und Hypothesen zusammenfasst, kristallisiert sich heraus, dass Pfarrer Heinrich Rudolf Stempel ein aufrichtiger Mensch war, der versuchte, seinem Gott bis in die letzte Konsequenz hinein treu zu bleiben. Für ihn zählte die Tatsache, erst Gott, dann der 93 Das Parteiprogramm der NSDAP (20.2.1920). In: Siegfried Hermle/Jörg Thierfelder(Hg.), ­Herausgefordert. Dokumente zur Geschichte der Evangelischen Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 2008, S. 29–32, hier 31. 94 Ebd. 95 Vgl. Peter Gerlitz, Martyrium I. In: Theologische Realenzyklopädie, Band 22, Berlin 1992, S. 196–202, hier 197.

Rudolf Stempel

259

Rest. Für die nach ihm Lebenden hat er die Frage »Kann man kompromisslos seinen Glauben leben?« bejaht. Es ist mutig und bewundernswert, dass Pfarrer Rudolf Stempel und seine Frau96 trotz des enormen Druckes und der psychischen Belastung keine Kompromisse eingingen und dass Rudolf Stempel sogar im Konzentrationslager noch die Kraft hatte, als Seelsorger bzw. Missionar und Prediger tätig zu sein.97 Die ­mutigste Aussage war jedoch, die Nationalsozialisten als »satanischen Widerstand«98 zu bezeichnen. Die Frage, ob er ein Märtyrer war oder nicht, wäre ihm wahrscheinlich gleichgültig gewesen, er lebte selbstlos und widmete einen großen Teil seines Lebens dem Dienst am Nächsten, sei es durch seine sozialen Projekte oder durch den Zeitungsartikel, der seinen Mitmenschen im Nationalsozialismus die Augen öffnen sollte für das, was gerade geschieht. Pfarrer Stempel erreichte, dass seine Mitmenschen auf das politische Problem aufmerksam gemacht wurden, und er motivierte sie, sich dem Nationalsozialismus entgegenzustellen. Welch wichtiges Vorbild er für kommende Generationen wurde, ist in den zahlreichen Zeitungsartikeln über ihn ersichtlich. Besonders sein Enkel Andreas Stempel betonte, dass das politische Engagement Vorbild für sein eigenes politisches Wirken während der DDR-Zeit war und auch seine Berufswahl als Pfarrer beeinflusste.99 Seine Nachwirkung wird außerdem an der Gedenktafel, die man anlässlich seines 50. Todestages an der Kirche in Pulsnitz anbrachte, und an der ihm gewidmeten Stele auf dem Friedhof in Pulsnitz deutlich. Die aktuellste Würdigung seines Widerstandes stellt jedoch die Benennung des christlichen Schulzentrums Riesa nach ihm im August 2011 dar.100

  96 Das wird v. a. in einer Aussage in einem Brief Dorothea Stempels deutlich, in dem sie schreibt: »Ich fühle mich [...] nun doch gedrungen, meine Scheu und Zurückhaltung fallenzulassen und über unsere Glaubensstellung, denn hier bin ich mit meinem Manne in einem Geiste verbunden, ein offenes Wort zu sagen.« (Stempel, Brief an einen hohen Beamten des sächsischen ­Ministeriums vom 30.1.1934, S. 25 f.) An dieser Stelle macht sie deutlich, dass ihr Mann und sie mit dieser Überzeugung nicht allein stehen, sondern dass es sich um eine »neutestamentliche Überzeugung, die von allen Glaubensführern der christlichen Kirchengeschichte [...] vertreten worden ist« (ebd.), handelt.   97 Vgl. Oehme, Rudolf Stempel, S. 92.   98 Stempel, Brief an einen hohen Beamten des sächsischen Ministeriums vom 30.1.1934, S. 26.  99 Vgl. Lisa Jenke, Gespräch über den Großvater Heinrich Rudolf Stempel, Superintendentur ­Meißen am 14.2.2013. 100 Vgl. Christliches Schulzentrum »Rudolf Stempel« Riesa e. V., Über uns. http://www.schul zentrum-riesa.de/ueberuns.htm (24.8.2017).



Konstantin Hermann Häftling in Dachau: Walter Kaiser

Unter den politisch verfolgten Pfarrern der Evangelisch-lutherischen Landes­ kirche sticht Walter Kaiser heraus. Er war nicht »nur« Opfer von Gehaltskür­ zung, Zwangs- und Ruhestandsversetzung wie viele andere seiner Amtsbrüder, sondern jahrelang Häftling des KZ Dachau. Dabei stand er ebenso wie ­viele andere nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten zunächst ­deren kirchenpolitischer Richtung nahe: Noch 1933 und 1934 gehörte Kaiser den Deutschen Christen an. Nach 1945 engagierte er sich in der Politik, um das vorher Geschehene sich nie wieder wiederholen zu lassen. Es gibt, was die Stellung zur Nachwelt angeht, zwei Typen von Menschen: Die einen, die vor dem Tod alles Schriftliche vernichten, was Aufschluss über ihr Leben gibt, und die anderen, die umfangreiche Aufzeichnungen hinterlassen. Kaiser gehörte zu den letzteren, zu denen, die für sich und die Familie ihr Leben dokumentierten. Sein Nachlass, der in der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden verwahrt wird, ist überaus vielfältig.1 Von besonderem Wert sind Kaisers Tagebücher und die vielen Briefe aus seiner Haftzeit im KZ Dachau. Für diesen Beitrag wurden vor allem diese Quellen ausgewertet, da sie, im Gegensatz zu den anderen in dieser Publikation vorgestellten Theologen, sehr detailliert über das Erlebte Kaisers berichten. Diese Quellen geben umfassender Auskunft als die staatlichen Unterlagen, auch wenn man erstere besonders mit der gebotenen Quellenkritik behandeln muss. Kirchenpolitische Fragen erörterte Kaiser in den Tagebüchern indes kaum; neben den privaten und familiären Berichten widmete sich Kaiser auch politischen Fragen, die intime Einblicke in seine Überzeugungen erlauben. Die Pflege des Gedenkens durch schriftliche Aufzeichnungen zeigt sich auch darin, dass Kaiser eine 174-seitige Lebens­chronik über seinen Vater schrieb und er sich ebenso für Geschichte interessierte, was er in Gemeindeabenden und vergleichbaren Veranstaltungen einbrachte. 1

Vgl. SLUB, Mscr. Dresd. App. 1197. Eine Übersicht über den Nachlass gibt: http://digital. slub-dresden.de/fileadmin/data/330144766/330144766_tif/jpegs/330144766.pdf (25.6.2017).

262

Konstantin Hermann

Jugendjahre und die Waldenburger Zeit Walter Corneille Josef Kaiser wurde in eine Pfarrerfamilie hineingeboren. Er war Sohn des Dr. Karl Richard Kaiser, als er 1884 in Lößnitz das Licht der Welt erblickte. Walter Kaisers Vater wurde später zum Geheimen Kirchenrat ernannt. Diese einflussreiche Stellung des Vaters, der sein Vorbild war, und die enge ­Beziehung zu ihm prägten den Sohn und dessen Lebensweg. Karl Richards und seines Bruders Karl Rudolfs Vater Johann Friedrich Carl Kaiser (1810–1882) am­ tierte von 1844 bis 1852 in Hammerunterwiesenthal als Pfarrer. Dessen Vater war Scharwerksmaurer gewesen. Hammerunterwiesenthal war eine der Exulantensiedlungen des 17. Jahrhunderts. Bald nach der Geburt von Walter Kaiser, nämlich bereits 1885, ging die Familie in die Industriestadt Aue. Dort verlebte er nach eigenen Worten eine heitere und angeregte Jugend mit seinen fünf Geschwistern. 1894 übernahm der Vater die Superintendentur Radeberg. Walter Kaiser bezog als Schüler die Fürsten­ schule St. Afra in Meißen und erhielt am 21. März 1905 das Reifezeugnis ausgehändigt. Hier genoss er nach eigenen Worten die »trefflichste Erziehung durch die Klassik zu vaterländisch-christlich-protestantischem Denken und Handeln«. »Das im Durst der Wahrheit betriebene Studium der Theologie und Philosophie führte mich 1905/1906 nach Rostock.«2 Kaiser besuchte dort Vorlesungen unter anderem bei dem Professor für das Alte Testament Justus Köberle und bei dem Lutherforscher Wilhelm Walther. Die Reisen durch die Heimat Fritz Reuters, so Kaiser weiter, bis nach Kopenhagen und Stockholm im Zusammenhang mit der Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Konferenz weiteten seinen Blick für Volk und Kirche. Am 27. Juli 1908 wurde er an der Universität Leipzig eingeschrieben und war in seinem ersten Semester zugleich Hauslehrer auf Schloss Kuckuckstein bei dem Kammerherrn Hans Adolph von Carlowitz (1. Oktober 1908 bis 3. April 1909). Kaiser nannte die Professoren Albert Hauck, Otto Kirn, Ludwig Ihmels und Rudolf Kittel, die sein Denken nachhaltig beeinflussten. Den Vorbereitungsdienst absolvierte Kaiser von Ostern 1909 bis zum 1. Oktober 1910 am Predigerkolleg St. Pauli in Leipzig. Ordiniert wurde Kaiser am 30. April 1911 im vogtländischen Schöneck.3 Kaiser heiratete am 16. Juli 1914 Erna Anna Melusine Hirsch (­ 1894–1969), Tochter des Apothekers Ludwig Hirsch. 1916 wurde Kaiser Pfarrer von Waldenburg und Seelsorger vom Amtsgericht und im Krankenhaus. Dies ist insofern eine Besonderheit, da Waldenburg zu den Schönburgischen Besitzungen gehörte (Linie Schönburg-Waldenburg), die bis zur Aufhebung durch die sächsische Verfassung 1920 Sonderrechte besaßen. Günther Fürst von 2 3

LKArch Dresden, 2/ 711, Bl. 4. Vgl. Tagebuch II (1910−1912), 30.4.1911 (SLUB, Mscr. Dresd. App. 1197); Amtskalender 1912, S. 178.

Walter Kaiser

263

Schönburg-­Waldenburg (1887–1960) machte sein Schloss zu einem Treffpunkt von Künstlern, Historikern und Dichtern. Kaiser und der Fürst kannten sich – eine Beziehung, die später noch Bedeutung erlangen würde. Anders als die anderen Schönburger Linien, die im 19. Jahrhundert zum Katholizismus konvertierten, blieb die Waldenburger evangelisch. Ab 1920 trat Kaiser mit Beiträgen im »Sächsischen Kirchenblatt« hervor.4 Auch hatten Kaiser die sozialen Aspekte, sowohl in der Gemeinde, die von Arbeitern dominiert war, als auch die Tätigkeit im Krankenhaus geprägt. 1914 war Kaiser in die christlich-soziale Bewegung Adolf Stöckers eingetreten. Im Ersten Weltkrieg wurde im Schloss Waldenburg ein Genesungslazarett für 40 bis 50 Soldaten eingerichtet. Der örtliche Frauenverein gründete eine Kriegsküche; die Geistlichen wie Kaiser arbeiteten in der Kriegerfürsorge.5 Das Ende der Dienstjahre in Waldenburg zeichnete sich 1930 ab, als sich Kaiser auf die Erste Pfarrstelle zu St. Johannis in Plauen bewarb.6 Der Grund dafür lag darin, dass in Waldenburg keine Erste Pfarrstelle frei war. Die Situation verschärfte sich für Kaiser und seine Arbeit, als die Stadt im August 1931 zahlungsunfähig wurde. »Das verarmte Volk«, schrieb Kaiser, aber auch »Deutschland vermag nicht das rechte Maß zu halten! Sittlicher Tiefstand!«7 Kaiser war zu der Zeit, vom 1. April 1931 bis 10. Juli 1932, Generalvikar und sah sich dem deutlich jüngeren Max Johannes Fleischhack wohl zurückgesetzt, als dieser die Pfarrei Waldenburg erhielt.8 Kaiser beschrieb die Jahre in Waldenburg trotz »toter Kirchlichkeit und slawischer Zurückhaltung« als »reiche Pastoratszeit«.9 Außerdem habe Kaiser durch die Vergütung in dieser Zeit seine Schulden deutlich reduzieren können. Das Tagebuch aus jener Zeit belegt Kaisers Trennung in Gut und Böse. Die Guten geben der evangelischen Religion Raum in Gesetz und Staat, der »Bosheit (Marxismus in Staatspartei und weiter links) weiter den Tod geben«.10 Begeistert schrieb Kaiser am 30. Januar 1933 um 21 Uhr 30, unter dem Eindruck der seit 19 Uhr marschierenden Nationalsozialisten: »Hitler Adolf, der Gefreite des Weltkriegs, endlich Reichskanzler! Mein Gebet steigt für ihn auf.«11 Kaiser schilderte am 9. März ebenso begeistert, wie am Waldenburger

 4 Vgl. Wehr und Waffe zum Kampf mit den »Sekten«. In: Sächsisches Kirchenblatt vom 11.6.1920, S. 364−368; Goldene Worte fürs Pastorherz jung und alt. In: Sächsisches Kirchenblatt vom 3.6.1921, S. 225; Der Kaufmann in der Landeskirche. In: Sächsisches Kirchenblatt vom 22.8.1924, S. 224−228.   5 Vgl. Amtskalender 1917, S. 168.   6 Vgl. Tagebuch III (1912−1937), 14.4.1930 (SLUB, Mscr. Dresd. App. 1197).   7 Ebd., 15.4.1931.   8 Vgl. ebd., 10.7.1932.  9 Ebd. 10 Ebd. 11 Ebd., 30.1.1933.

264

Konstantin Hermann

Rathaus die schwarz-weiß-rote und die Hakenkreuzfahne wehten.12 Es war der Tag der gewaltsamen Landtagsbesetzung, angeführt von Manfred von Killinger und Martin Mutschmann. Im Mai 1933 veröffentlichte Kaiser im »Sächsischen Kirchenblatt« einen kurzen Beitrag über die biblische Gestalt Josua.13 Es waren Monate der Selbstreflexion Kaisers, der sich fragte, was seine Zukunft sei angesichts der unbefriedigenden Stellung in Waldenburg. Deutlich wird bei Kaiser stets die Vereinigung der Themen in jener Zeit: dienstliche Angelegenheiten, private Sorgen und Politik – hier Hitler. Hinzu trat die gute Nachricht, dass Kaiser nochmals Vater wurde, mit Jürgen Adolf Corneille, in einer schweren, aber glücklichen Geburt. Die Namensgebung Adolf kann auf die politische Einstellung Kaisers verweisen, da dieser Name vorher nicht in der ­Familiennamensgebung erscheint. Der kleine Jürgen starb bereits am 20. Oktober 1933 an hohem Fieber. Die Frage nach dem »Warum?« stellte sich Kaiser wie jedem anderen Elternteil, der sein Kind verliert. Der Pfarrer flüchtete sich in die Gewissheit: »Er ist der Herr«.14 Jürgen war nach Viktor, Gottfried und Irmengard das vierte Kind Kaisers gewesen. Überhaupt war das Jahr 1933 für Walter Kaiser schwierig; neben dem Tod des Kindes musste Kaiser finanzielle Hilfe von der Superintendentur Glauchau erbitten, da die Schulden zu groß geworden waren. Es war sicher eine günstige Fügung, dass Kaiser nur wenige Wochen später, am 23. November, die Nachricht erhielt, dass er die Pfarrstelle in Dresden-Leuben erhalten würde. Nicht zuletzt bedeutete der Umzug auch die räumliche Trennung von Jürgens Grab, wie Kaiser schrieb.15 Die Freude war bei ihm dennoch groß: »Heute, im Erscheinungsfeste 1934, kommt endlich die amtliche Kunde von Sup. Hahn-Dresden, dass meine Wahl in Dresden bestätigt ist.«16 Bis zur Einweisung in das neue Amt vergingen nun nur noch wenige ­Wochen. Am 29. März verabschiedete sich Kaiser von Günther von Schönburg-Waldenburg, von dem er einige Abschiedsgeschenke erhielt.17 »Christ sein heißt Kämpfer sein« titelte das »Heidenauer und Dresden-Pirnaer Tageblatt« über die Einweisung Kaisers in Dresden.18 Der Superintendent war Arthur Schuhknecht, die Amtsbrüder Adolf Arthur Wend und Karl Johannes Rudolf Richter traten mit einem biblischen Weihespruch hervor. Kaiser betonte in seiner Predigt über Joh 11,25 das Miteinander als »Christen der deutschen Heimat, aber auch der ewigen H ­ eimat. […] Wir müssen als Deutsche Christen dafür sorgen, dass unser

12 13 14 15 16 17 18

Vgl. ebd., 9.3.1933. Vgl. Sächsisches Kirchenblatt vom 26.5.1933, S. 305. Tagebuch III (1912−1937), 22.10.1933 (SLUB, Mscr. Dresd. App. 1197). Vgl. ebd., 23.11.1933 (SLUB, Mscr. Dresd. App. 1197). Ebd., 6.1.1934. Vgl. ebd., 29.3.1934. Heidenauer und Dresden-Pirnaer Tageblatt, Nr. 88, vom 16.4.1934, S. 1.

Walter Kaiser

265

­ eutsches Vaterland in seinem Bestande erhalten bleibt, aber ebenso kämpfen, d dass uns das himmlische Vaterland nicht verloren gehe.«19 Hier findet sich ­Kaisers Bekenntnis zu den Deutschen Christen (DC), das so explizit in den Ego-Dokumenten nicht genannt wird. Als Vertreter des Kirchenvorstandes begrüßte Kühnert dann Kaiser am Altar. Kühnerts »braune Uniform verlieh seinen Worten erhöhte Bedeutung«, so die Zeitung, der sich einen »Mann des Volkes wünschte«, wie Adolf Hitler selbst, so Kühnert. Es war demnach also nicht nur eine kirchliche, sondern eine politische Veranstaltung. Kaiser bemerkte über seinen neuen Amtsbezirk Niedersedlitz, der ihn stark an Waldenburg erinnerte, dass dieser ein »ehemaliger Hort der KPD« und der Kirchenbesuch mäßig sei. Kaiser war in Waldenburg Amtsnachbar von Siegfried Leffler, der auch in den schönburgischen Landen Propagandatermine für die Deutschen C ­ hristen ­Thüringer Richtung abhielt. Als Leffler am 17. Januar 1934 in seiner ­Gemeinde Niederwiera sprach, wurde den Teilnehmern deutlich, dass bei Leffler im ­Gegensatz zu Coch und anderen sächsischen DC-Mitarbeitern die »Hetze« des Pfarrernotbundes und der Bekennenden Kirche im Vordergrund standen, ­Leffler warb jedoch in positiver Sicht für die DC; von seinem Standpunkt aus gesehen.20 ­Kaiser schätzte Leffler, aber es gelang letzterem nicht, Kaiser für die DC-Seite Thüringer Richtung zu gewinnen.21 Zu dieser Zeit, am 9. Januar 1934, war Kaiser nach eigener Auskunft bereits dem Pfarrernotbund beigetreten. Inwieweit das mit der Aussage Kaisers übereinstimmt, lediglich vom Herbst 1933 bis Ende 1934 bei den DC gewesen zu sein, ist nicht mehr aufzuklären.22 Im ­April 1934 übernahm Kaiser die Pfarramtsleitung vertretungsweise. Adolf Müller wollte ihn zum Austritt aus dem Notbund animieren, damit Kaiser die Erste Pfarrstelle h ­ aben könne. Kaiser lehnte jedoch ab.23 Pfarrer Karl August Rabe, der am 16. September 1934 in Leuben eingewiesen wurde, trat aus Enttäuschung über den Landesbischof ­einige Zeit später bei den DC aus. Dieser hatte Kaiser als ­Leiter der Pfarrkonferenz abgesetzt.

19 20 21 22 23

Tagebuch III (1912−1937), 5.10.1934 (SLUB, Mscr. Dresd. App. 1197). Vgl. Schönburger Tageblatt vom 17.1.1934. Vgl. auch LKArch Dresden, 5/810, Bl. 18 f. Vgl. Befragung Walter Kaiser (LKArch Dresden, 5/710 bei 700, Bl. 90−94 b, hier 90). Vgl. Befragung Walter Kaiser (LKArch Dresden, 2/711, Bl. 6). Vgl. Befragung Walter Kaiser (LKArch Dresden, 5/710 bei 700, Bl. 90−94 b, hier 90).

266

Konstantin Hermann

Als Pfarrer in Dresden-Leuben Die kirchliche Gemeinde Dresden-Leuben war zu Kaisers Amtsantritt noch ungeteilt. Er entsann sich 1961, dass aufgrund der Kirchenwahlen vom 23. Juli 1933 eine starke NS-Fraktion bestand und von den 42 Mitgliedern der Kirchgemeinde­ vertretung nur drei nicht in Uniform auftraten.24 Die vier Pfarrer (Kaiser, Rabe, Richter, Wend) in der Gemeinde waren zwar menschlich sehr verschieden, aber leisteten passiven Widerstand. Dies gilt auch für Pfarrer Walter Adam, der als Nachfolger von Wend in die Gemeinde kam. Als Kaiser am 8. September 1935 zum ersten Mal die Hauptversammlung des Vereins ehemaliger Fürstenschüler besuchte, wurde ihm mitgeteilt, dass auch in der Fürstenschule St. Afra der Geist des Nationalsozialismus Einzug gehalten habe. »St. Afra würde seines evangelischen Charakters entkleidet, die Andachten fallen weg in Zukunft, die HJ [Hitlerjugend] sei an Afra antikirchlich.« ­Kaiser schloss den Tagebucheintrag mit der vielsagenden Sentenz »Sic transit gloria mundi«.25 NS-kritische Passagen treten in Kaisers Tagebuch seit 1935 vermehrt auf, als er zum Beispiel im Oktober 1935 schrieb, dass die »Unteramtsstellen der NSDAP nicht ehrlich in ihrer Stellung zum Christentum [seien] oder unfähig die grundsätzliche Klarheit zu geben«.26 Auch zeigt sich in den Aufzeichnungen, wie Kaiser der Rückgang christlichen Lebens in der Öffentlichkeit erkannte. Der Verlust an Sittlichkeit und an der Stellung der Kirche sind immer wiederkehrende Themen, die Kaiser mit tiefer Sorge beschäftigten. »Die Kirche als der älteste Bestandteil der deutschen Kultur ist von seiner Vergangenheit schwer, ja zu schwer belastet.«27 Und einige Wochen später: »Die Seele des deutschen Volkes verkümmert, wenn es so weitergeht. Die sittlichen Grundlagen jedes Staates sind eben Gerechtigkeit für alle, Wahrheit über alles, Freiheit jeder Persönlichkeit.«28 Als Kaiser am 30. April 1936 seiner 25 Jahre im geistlichen Amte gedachte, fasste er dieses Vierteljahrhundert zusammen: »Kaiser und Reich auf dem Höhe­punkt, Krieg und Sieg und Niederlage 1914–1918, Staat von Weimar im Zeichen von Versailles 1918–1933. Landeskirche, Christsein, Gottesfurcht ein Gespött, 1933−? etliche sagen ›in Ewigkeit‹ Drittes Reich, Adolf Hitler, der wirklich edle und einfache Führer, seit 1931 arbeite ich für ihn ohne braunes Ehrenkleid und die Seinen. Herrliche Erfolge, Arbeit in Fülle, Ordnung, Wehrmacht in ­Wasser, Erde und Luft, endlich Deutschland unser bis an die Grenze. Und nun die Zukunft? Ein National- oder ein sozialistischer Staat, das ist die bitterernste

24 25 26 27 28

Vgl. ebd., Bl. 90. Tagebuch III (1912−1937), 8.9.1935 (SLUB, Mscr. Dresd. App. 1197). Tagebuch III (1912−1937), 17.10.1935 (SLUB, Mscr. Dresd. App. 1197). Tagebuch III (1912−1937), 9.8.1935 (SLUB, Mscr. Dresd. App. 1197). Tagebuch IV (1938−1949), 7.9.1938 (SLUB, Mscr. Dresd. App. 1197).

Walter Kaiser

267

F ­ rage.«29 Die tiefe Unsicherheit Kaisers über den Nationalsozialismus und Hitler selbst, trotz der vorangegangenen Sätze, wird klar, als Kaiser wenige Sätze später schreibt: »Hitlers Leibstandarte SS ist geschlossen zur ›Deutschen Glaubensbewegung‹ übergetreten. Hitler der Mann mit zwei Gesichtern«. Kaiser bezeichnete den Nationalsozialismus als »KPD in braunem Kleid« und Hitler als »politischen Mystiker«. Der Pfarrer wandte sich auch gegen das Führerprinzip, das lediglich in der »Kampfzeit« seine Richtigkeit gehabt habe. Statt eines Führers müssten die »besten Männer aller Deutschen« regieren; auch im Landeskirchenausschuss, so Kaiser.30 Die Distanzierung, die ohnehin schon deutlich aus diesen Zeilen spricht, verstärkte sich in den Jahren immer weiter. Am Schluss des Tagebuchs, am 5. Januar 1938, nannte Kaiser den bereits erwähnten Kaufmann Johannes Kühnert aus Dresden-Niedersedlitz, der offenbar denunziert und als stellvertretender Vorsitzender aus dem Kirchenvorstand von Dresden-Leuben entlassen worden war und aufgrund der Entgegnung des Reichskirchenministeriums dort einen Widerspruch eingereicht hatte: »Die Ehre jedes ehrlichen Deutschen ist heutzutage in der Hand jedes Denunzianten. Es gibt kein Recht mehr, vielmehr hat der Pg. [Parteigenosse] immer Recht.« Schon am 9. August 1936 hatte Kaiser als »alter Förderer [der Nationalsozialisten]« die »Wahrheit über das Dritte Reich« in seinem Tagebuch niedergeschrieben, »mit mehr Trauer«.31 Kaiser schloss Hitler noch weitgehend von seiner Kritik aus, aber der NSDAP, ihren Führern und der Politik galt Kaisers Ablehnung. Bei einem Besuch Kaisers im sächsischen Volksbildungsministerium fiel ihm Oberregierungsrat Dr. Fränkel auf, ein »weltoffener Mann«, von denen es augenscheinlich nicht mehr so viele in diesem Ministerium gab.32 Es hatte zwischen Kaiser und Kühnert vorher Auseinandersetzungen gegeben, die von Jahr zu Jahr immer stärker wurden. Kühnert lehnte die Einsetzung des Landeskirchenausschusses 1935 ab, während Kaiser diesen Schritt begrüßte. Parteiamtlichen Stellen wurde jedoch Kaisers Äußerung bei einem Konfirmandenbesuch hintertragen, dass Reichskirchenminister Hanns Kerrl bisher seine Sache gut gemacht habe, aber nun nicht mehr.33 Kaiser hatte Hugo Hahn wohl Anfang des Jahres 1936 kennengelernt. Hahn sah darin »eine freudige Erfahrung des Verstehens mit Ihnen«.34 Inwieweit Hahn und Kaiser weiteren Kontakt hatten, ist unbekannt. Die DC und die Parteistellen verübelten Kaiser dessen Widerstand bei der gewaltsamen Beseitigung des Landeskirchenausschusses 1937.35 Ein Typoskript mit den Schilderungen von 29 30 31 32 33 34 35

Tagebuch III (1912−1937), 29.4.1936 (SLUB, Mscr. Dresd. App. 1197). Tagebuch III (1912−1937), 29.4.1936 (SLUB, Mscr. Dresd. App. 1197). Tagebuch III (1912−1937), 9.8.1936 (SLUB, Mscr. Dresd. App. 1197). Tagebuch III (1912−1937), 13.10.1936 (SLUB, Mscr. Dresd. App. 1197). Vgl. Befragung Walter Kaiser (LKArch Dresden, 5/710 von 700, Bl. 90−94 b, hier 90). Brief vom 8.2.1936 (SLUB, Mscr. Dresd. App. 1197, B II, 31). Vgl. Befragung Walter Kaiser (LKArch Dresden, 5/710 von 700, Bl. 90–94b, hier 90).

268

Konstantin Hermann

Pfarrer Erich Knabe und anderen über die gewaltsame Auflösung des Landeskirchenausschusses am 7. August 1937 findet sich in Kaisers Tagebüchern. Kaiser selbst erhielt von Stapoleitstelle Dresden die Aufforderung, sich am 6. September 1937 dazu zur Befragung im Polizeipräsidium einzufinden, augenscheinlich ohne ­weitere Maßnahmen – aber Kaiser wusste, dass man ihn beobachtete. Mitte September 1938, also zwei Wochen vor dem Anschluss des Sudeten­ landes an Deutschland, fuhr Kaiser mit seiner Frau nach Bad Gottleuba und hielt in seinem Tagebuch fest, dass Sudetendeutsche »unverhofft« im Quartier waren. Gleichzeitig zeigte sich Kaiser erschüttert über die »abgehärmten Gesichter von Männern und Frauen der Industrie. Opfer fürs Vaterland in aller Stille!«36 War schon die Bemerkung Kaisers über die Sudetendeutschen ein Signal, wurde er am 30. September, am Tage der Besetzung des Sudetenlandes deutlicher, als er seine Überzeugung äußerte, dass dieser Schritt Europa Gewinn bringen würde, da dieser gemäß des »Willens des lebendigen Gottes« sei. Hierin sah Kaiser, wie Politiker biblische Moral bejahten: Sachlichkeit, Gerechtigkeit, Wahrheit. Kaiser war tatsächlich der Überzeugung, die im Wesentlichen aus der Tatsache resultierte, dass die Mächte Europas das Münchner Abkommen verhandelt hatten, dass dies ein positives Signal sei, aus dem »bleibende Zusammenarbeit für Europa erwachsen« könne. Diese Hoffnung währte indes nur kurz. »Am Geld hängt ja der Fluch des Krieges« hatte Kaiser am 5. Oktober 1934 geschrieben. Am 1. September 1939 begann Deutschland den Zweiten Weltkrieg; Kaisers Sohn Gottfried kämpfte bei Radom und an der Weichsel. Kaiser sah den Grund in dem siegreichen Feldzug in der technischen Überlegenheit und der Bildung der deutschen Soldaten gegenüber den »tapferen Polen«, wie er schrieb.37

Im KZ Dachau Am 23. Januar 1941 wurde Kaiser verhaftet.38 Grund hierfür waren zwei Leichenpredigten, die Kaiser gehalten hatte. Da einer der Toten ein prominentes P ­ arteimitglied aus Dresden-Leuben war, war Kaiser quasi Aufmerksamkeit ­sicher. Beschuldigt wurde Kaiser, mit diesen Äußerungen den »Wehrwillen des deutschen Volkes« brechen zu wollen. Weitere Ursache für die Ermittlungen und Verhaftung war vorgeblich eine Rede Kaisers, in der er Hitler mit Luther verglich.39 Kaiser wurde zunächst in der Zelle 60 im Dresdner Polizeigefängnis 36 37 38 39

Tagebuch IV (1938−1949), 18.9.1938 (SLUB, Mscr. Dresd. App. 1197). Tagebuch IV (1938−1949), 2.10.1939 (SLUB, Mscr. Dresd. App. 1197). Eigene Angabe von Kaiser (LKArch Dresden, 5/710 von 700, Bl. 90−94 b, hier 94). Bei R ­ eimund Schnabel, Die Frommen in der Hölle. Geistliche in Dachau, Berlin (Ost) 1966, S. 251, der 26. März 1941. Brief vom 22.7.1941 (SLUB, Mscr. Dresd. App. 1197, B II, 32 [f]).

Walter Kaiser

269

festgehalten und dann im Gefängniswagen über Chemnitz, Plauen, Hof und ­München nach Dachau gefahren. Im Juni 1941 erhielt Erna Kaiser die Mitteilung vom Lagerkommandanten des KZ Dachau, dass sich ihr Mann seit dem 5. Juni in »Schutzhaft« mit der ­Nummer 25 658 befinde.40 Der Fürst von Schönburg hatte Erna Kaiser bereits im Frühjahr besorgt um Auskunft gebeten, ob es stimme, dass sich ihr Mann in Schwierigkeiten befinde.41 Nach der gewünschten Auskunft ging der Fürst davon aus, dass – da sich Kaiser stets korrekt verhalten habe, auch der Obrigkeit gegenüber – es sich nur um einen Fall persönlicher Feindschaft oder sonstiger Gehässigkeit handeln könne. Auch Hugo Hahn nahm Anteil an dem Schicksal Kaisers. Gegen Kaiser wurde ein Disziplinarverfahren eingeleitet. Fürst von Schönburg-Waldenburg bemühte sich durch Beauftragung eines Rechtsanwaltes, Kaiser zu helfen. Er unterstützte die Familie auch mit Lebensmittellieferungen. Der Kontakt zwischen beiden Familien hielt den ganzen Krieg über hindurch. Doch alle Interventionen halfen nichts. Laut Nachricht vom Oktober 1941 befanden sich sechs sächsische Geistliche in Haft: Johannes Wagner (Chemnitz), Oswald Husar (Zschopau), Kaiser, Paul Helm (Medingen), Erich Hellmut Johne (Kleinrückerswalde) und Karl Friedrich Tzschucke (Leipzig). Bis auf einen trugen diese Pfarrer das rote Abzeichen für politische Häftlinge. Am 10. November 1941 wurde Pfarrer Paul Richter aus Wilsdruff verhaftet und nach Dachau gebracht, wo er am 13. August 1942 starb. Ihm ist in dem Band »Märtyrer der evangelischen Christenheit« gedacht.42 Die wichtigste Quelle für Kaisers Haft in Dachau bildet der Briefwechsel. In den Briefen aus Dachau an seine Söhne dominieren theologische, philosophische und alltägliche Themen, zum Beispiel Fragen nach der Familie und Freunden. Politische Themen konnte Kaiser in sehr allgemeiner Form ansprechen, so zu Europa oder zur Wirtschaft. Nur wenig konnte er aufgrund der Zensur zum Lagerbetrieb schreiben. Im J­anuar 1943 wechselte Kaiser wieder in den Block 26, den ­»Pfarrerblock«.43 Der Glaube und die Gewissheit an die göttliche Gerechtigkeit sind immer wiederkehrende Motive in Kaisers Briefen, und, wie Viktor Kaiser ausdrückte, Mut, Vertrauen und Zuversicht.44 Über die Bedingungen in der Haft informierte ­Reimund ­Schnabel 1966 in seinem Buch »Die Frommen in der ­Hölle« ­ausführlich, wenn auch aus naher christlicher Perspektive.45 ­Kaiser, 40 Karte vom 5.6.1941 (SLUB, Mscr. Dresd. App. 1197 B I, 4). 41 Vgl. Brief vom 29.4.1941 (SLUB, Mscr. Dresd. App. 1197, B II, 32 [a]); Brief vom 4.5.1941 (ebd., [b]). 42 Werner Oehme, Märtyrer der evangelischen Christenheit 1933–1945. 29 Lebensbilder, Berlin (Ost) 1979, S. 83−99. 43 Vgl. Brief vom 10.1.1943 (SLUB, Mscr. Dresd. App. 1197, B I, 3, Nr. 16). 44 Vgl. Brief vom 6.4.1943 (SLUB, Mscr. Dresd. App. 1197, B I, 2, Nr. 41). 45 Schnabel, Die Frommen. Zu Kaiser ebd., S. 154, 251. Schnabel gibt als Datum des Schutzhaftbeginns den 30. Mai 1941 an. Siehe auch Bedrich Hoffmann, And who will kill you…: The chro-

270

Konstantin Hermann

so Schnabel, gehörte zu den aktiven Geistlichen in Dachau. Die Schilderungen des allgemeinen Lagerlebens können kaum umfangreicher wiedergegeben werden als wie es durch Schnabel geschah. Kaisers Erlebnisse, die er berichtete, sind ebenso eindrücklich. Mit gebrochenem Bein wurde er acht Wochen in die Tbc-Abteilung gelegt, wo er e­ ines Tages einen Spucknapf eines Tbc-Kranken in seinem Bett fand. Neue Wäsche ­bekam Kaiser nicht und musste bis zum Ende der Liegezeit in diesem Bett ­bleiben.46 Kaiser waren die Folgen seiner Haft für seine Kinder völlig klar, als er zum Beispiel schrieb, dass sie als Kinder aus diesem Elternhause gegen den Strom schwimmen müssten.47 Die Anrede der Söhne lautete stets »Mein lieber, verehrter Vater!« Die Innigkeit und Dankbarkeit der Söhne wird in jedem Schreiben deutlich. Die Sorgen gingen dabei in beide Richtungen; von den Söhnen zu dem Vater im Konzentrationslager; vom Vater zu den Söhnen, die beide als Soldaten ihren Dienst taten, wenn Viktor auch »nur« als Schreiber in der Etappe. »Nun lese ich alle OKW-Berichte mit Gedanken an dich«, schrieb Kaiser an einen seiner ­Söhne.48 Wie bedrückend die Niederlage von Stalingrad auf Viktor wirkte, verdeutlichen die Zeilen: »Du wirst ja sicher durch die Presse von all den ungeheuren Ereignissen im Osten vernommen haben! Es heißt jetzt, tapfer durchzuhalten und nicht das Vertrauen zu dem Höchsten verlieren.«49 Gleichzeitig bemängelte Viktor, wie wenige Kenntnisse der Deutsche von der Sowjetunion habe und damit kein Verständnis für die wirkliche Lage hätte. Ab 1944 wurden die Söhne immer deutlicher in ihren Briefen; Gottfried war in jenem Jahr in Heinrich Lahmanns Sanatorium in Dresden-Weißer Hirsch angestellt. Viktor schrieb verheißungsvoll angesichts eines Bomberüberflugs über Oschatz, wo er stationiert war: »Ich bin in großer Sorge um Dresden. Es ist ja eine der ganz, ganz wenigen deutschen Städte, die noch verschont geblieben sind. Ich kann mir nicht denken, dass gerade diese so einzigartig schöne Stadt verschont bleiben soll.«50 Als der Bombenangriff 1945 erfolgte, war die Mutter gerade verhaftet worden und wurde im Polizeipräsidium festgehalten. Doch für sie bedeutete der Bombenangriff Befreiung, da sie daraufhin entlassen wurde.51

46 47 48 49 50 51

nicle of life and sufferings of priests in the concentration camps, Poznan 1994. Hoffmann gibt auch die Gründe der Inhaftierung Kaisers an. Vgl. S. 458; Guillaume Zeller, The Priest barracks. Dachau, 1938−1945, San Francisco 2017. Vgl. LKArch Dresden, 2/711, Bl. 5 f. Vgl. Brief vom 28.11.1943 (SLUB, Mscr. Dresd. App. 1197, B I, 2, Nr. 28). Brief vom 15.11.1942 (ebd., Nr. 1). Brief vom 23.2.1943 (ebd., Nr. 40). Brief vom 25.3.1944 (ebd., Nr. 62). Vgl. Brief vom 16.3.1945 (SLUB, Mscr. Dresd. App. 1197, B II, 32 [t]).

Walter Kaiser

271

Schutz fand Kaiser während seiner Inhaftierung beim kommunistischen ­Stubenältesten, der ihn vor einer Typhuserkrankung rettete. Auch ein SS-Mann, Sohn eines Pfarrers aus dem Elsass, achtete auf Kaiser. Kaiser versuchte mit ­einem Antrag an das Landeskirchenamt im Juli 1943, in den Wartestand versetzt zu werden. Damit wären ihm trotz KZ-Haft alle erworbenen Rechte eines ­Beamten zugunsten von Frau und Kindern erhalten geblieben. »Nach Kriegs­ ende wird dann die endgültige Entscheidung über meine Zukunft fallen.«52 Das ­Landeskirchenamt lehnte jedoch am 8. September ab.53 Kaiser notierte auf einem Zettel im DIN-A5-Format, was er in der Schutzhaft gebraucht habe. Es war nicht viel: Mütze, Decke, Hosen, aber auch Pergamentpapier, um Brot einzuwickeln, Kissen, ein Paar Wollstrümpfe und andere Alltäglichkeiten, die in der Haft nicht alltäglich waren.54 Schwierig stellt sich indes die Rekonstruktion der Entwicklung der politischen Anschauungen Kaisers dar. Als Victor Spindler aus Coburg Heiligabend 1944 unbekannterweise an die Frau Walter Kaisers schrieb und sie im Auftrag ihres Mannes bat, ihm regelmäßig Brot und andere Lebensmittel zu senden, aber auch Kleidung, da Kaiser nie Pakete erhalte, äußerte sich Spindler wie folgt: »Ihr Gatte steht noch immer auf NSP Boden [wohl NS-Partei gemeint], deshalb verstehe ich nicht, warum Ihr Gatte noch nicht entlassen ist. Sie haben doch auf jeden Falle dort Verbindungen mit Leitern der Partei, wie Kreisleiter, Oberbürgermeister, Gauleitern etc.«55 Spindler empfahl die Kontaktaufnahme mit dem Kommandanten der SS; davon und von den Fürsprechern hinge es ab, ob Kaiser freikäme. Spindler bat die Frau Kaisers, diesen Brief »dem Feuer zu übergeben und zu vernichten, was Sie mich unbedingt wissen lassen wollen«.

Nach 1945 Aufgrund von Himmlers Befehl wurde Kaiser wie die anderen Pfarrer nach­ einander aus dem KZ Dachau entlassen. Himmler hatte damit gehofft, seine Position bei den Westalliierten verbessern zu können. Am 3. April entlassen, traf Kaiser bereits am 4. April 1945 im kriegszerstörten Dresden ein und zeigte sich erschüttert über den Anblick der Stadt.56 Bereits kurze Zeit später war Kaiser Verwaltungsmitarbeiter in Dresden-Leuben sowie des kirchlichen Vertrauensrates 52 53 54 55 56

Brief vom 17.7.1943 (SLUB, Mscr. Dresd. App. 1197, B I, 2, Nr. 20). Brief vom 25.9.1943 (ebd., Nr. 23). Vgl. SLUB, Mscr. Dresd. App. 1197, A I, 4. Brief vom 24.12.1944 (SLUB, Mscr. Dresd. App. 1197, B II, 34 f.). Vgl. Brief vom 7.6.1945 (SLUB, Mscr. Dresd. App. 1197, B II, 34, h [2]). Am 6.2.1946 schrieb er in sein Tagebuch »Wieder Heimat« – Altleuben 13 und verfasste einen Bericht über die letzten Jahre.

272

Konstantin Hermann

von Dresden. Schon im Juni 1945 zeichnete sich ab, dass er auch Beauftragter für kirchliche Angelegenheiten beim Stadtrat werden würde. Der Kirchenvorstand wählte Kaiser als Ersten Pfarrer der Himmelfahrtskirche Dresden-Leuben. Die Geschwindigkeit der Vergabe politischer Ämter zeigt die Sonderrolle Kaisers, die vor allem lokal und regional wirkte. Welche Dimensionen dies annahm, ­verdeutlicht die Frage der Amtsnachfolge von Landesbischof Coch. Als es 1945 um die Neuwahl des sächsischen Landesbischofs ging und Hahn aufgrund seiner baltischen Abkunft bei der sowjetischen Besatzungsmacht zunächst kaum durchsetzbar erschien, brachte am 28. November 1945 Staatssekretär Emil Menke-­ Glückert (1878–1948) Walter Kaiser ins Spiel. Mit Kaiser solle das Bischofsamt kommissarisch besetzt werden, bis sich die politische Situation geklärt habe.57 Kaiser erwartete, dass die neue Synode, die ein neues Kirchengesetz beschließen müsse nur von den Pfarrern gewählt werden dürfe. Interessanterweise hielt Kaiser an der Vorkriegskonstruktion fest, wenn er schrieb, dass Sachsen eine ­Kirche bleiben solle, jedoch die selbstständigen evangelischen Landeskirchen »wieder in der bewährten Weise sich zusammenschließen zur föderativen Reichskirche unter machtvollem und bibeltiefem Reichsbischof«.58 Nicht wenige Pfarrer traten in die CDU ein, um politisch nicht den gleichen Fehler wie vor 1933 zu begehen, nämlich, die Demokratie nicht genügend unterstützt zu haben. Auch Kaiser vollzog diesen Schritt, im Sinne Adolf Stöckers, wie er schrieb, im christlich-sozialen Sinne. Die Mitarbeit in der CDU leitete Kaiser von dem in Dachau gefassten Gedanken ab, dass »Rom und Wittenberg schon in Dachau einig zu gemeinsamer Tat« gewesen seien.59 Pfarrer Kaiser wurde ausführlich als Befürworter des Volkentscheides zur Enteignung der Nazi- und Kriegsverbrecher zitiert.60 Triebfeder dieses »Ja« war seine Sorge um die Erhaltung des kürzlich errungenen Friedens. Kaiser wurde damit Teil des Kampfes gegen »den Faschismus«, was implizit zur Einheitsfront der »antifaschistisch-demokratischen Parteien« führen sollte. Auf dem »Tag der Opfer des Faschismus« am 29. September 1945, der in der feierlichen Beisetzung der NS-Opfer im Garten des Japanischen Palais mündete, hielten Kaiser und Paul Gruner Ansprachen. Auf der Großkundgebung sprachen unter anderem Rudolf Friedrichs, der parteilose Dresdner Oberbürgermeister Johannes Müller, Franz Dahlem für die KPD, Otto Buchwitz (SPD), Hermann Kastner für die LDP und Hugo Hickmann für die CDU.61 57 58 59 60 61

Vgl. Besprechung vom 28.11.1945 (LKArch Dresden, 2/540, Bl. 31). Brief vom 11.6.1945 (SLUB, Mscr. Dresd. App. 1197, B II, Bl. 30 b). Brief vom 5.7.1945 (ebd., Bl. 28). Vgl. Tägliche Rundschau vom 18.6.1946, S. 2. SLUB, Mscr. Dresd. App. 1197, A I, 4 (Beilage). Siehe auch Markus Hein, Die sächsische Landeskirche nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs (1945–1948). Neubildung der Kirchenleitung und Selbstreinigung der Pfarrerschaft, Leipzig 2002, S. 31.

Walter Kaiser

273

Von der SED bzw. dem Kulturbund war Kaiser einer der auserwählten Theologen, die 1949 für ein »Initiativ-Komitee der Pfarrer« vorgesehen waren, um eine Spaltung der Landeskirche zu erzielen. Wurde davon Abstand genommen, gelang der Nationalen Front mit den Pfarrerkonferenzen einen Einbruch in die Pastorenschaft zu erzielen. Unter dem Deckmantel der Friedenssicherung, gegen Atomwaffenrüstung und mit proklamierter Überparteilichkeit fand auch eine dieser Konferenzen in Dresden statt. Kaiser nahm an dieser Tagung »Friede sei mit Euch. Eine historische Tagung sächsischer Pfarrer im Landtagsgebäude zu Dresden am 27. Juni 1950« teil, ebenso wie Johannes Herz und Ernst Lewek. Kaiser war damit einer von 50 Pfarrern, die sich in die politische Linie der Nationalen Front einreihten.62 Diese 50 Pfarrer waren lediglich der Rest von 190 eingeladenen Pfarrern. Der Rest (»eine ganze Reihe Herren«) hatte sich entschuldigt, wie Otto Schön, der Vorsitzende des Landesausschusses Sachsen der Nationalen Front, in der Eröffnungsrede ausführte.63 Als Delegierter der Vereins der Verfolgten des Naziregimes (VVN) reiste Kaiser zum Deutschen Volkskongress für Einheit und gerechten Frieden nach Berlin, der am 6. und 7. Dezember 1947 im Admiralspalast tagte (Karte Nr. 1871).64 Kaiser blieb Zeit seines Lebens in den politischen Gremien, vor allem denen der CDU, engagiert. Zur gleichen Zeit beleuchtete die Entnazifizierungskommission Walter ­Kaisers Verhalten und beschloss die Weiterbeschäftigung. Zwar sei Kaiser kurze Zeit Mitglied bei den Deutschen Christen gewesen; diese Zeit wurde nach M ­ einung Hugo Hahns, Gottfried Knospes und Rudolf Posers durch »­ seine sonstige einwandfreie Haltung völlig aufgesogen«.65 Kaiser wurde am 1. November 1957 in den Ruhestand versetzt. Am 16. Juli 1967 starb er, wohnhaft in der Bergmannstraße 12 in Dresden. Fünf Jahre zuvor hatte Walter Kaiser eine Ehrenurkunde der Nationalen Front erhalten.66 Im Gespräch mit der »Union« betonte Kaiser, wie Kommunisten und Geistliche im KZ Dachau zueinanderfanden. Zwar habe ihm sein Wirken nach 1945 auch G ­ egnerschaft eingetragen, aber Kaiser sah seine Aufgabe im Brücken bauen ­zwischen Christen und Nichtchristen, zwischen Staat und Kirche.

62 Georg Wilhelm, Die Diktaturen und die evangelische Kirche. Totaler Machtanspruch und kirchliche Antwort am Beispiel Leipzigs 1933–1958, Göttingen 2004, S. 292 f. 63 Christ sein heisst Kämpfer für den Frieden sein! Eine historische Tagung sächsischer Pfarrer im Landtagsgebäude zu Dresden am 27. Juni 1950, Dresden 1950, S. 3. 64 Vgl. undatierter Zeitungsausschnitt (SLUB, Mscr. Dresd. App. 1197, A I, 4). 65 Befragung Walter Kaiser (LKArch Dresden, 5/710, Bl. 90−94 b, hier 91). 66 Vgl. Die Union vom 8.12.1962.



Gerhard Lindemann Heinrich Gottlieb: Deutsch-völkisches Engagement – als »Jude« verfolgt

Jugend und erste Pfarramtstätigkeit in Böhmen Bei Heinrich Gottlieb handelt es sich um einen der vier während der NS-Zeit amtierenden und aus dem Pfarramt gedrängten bzw. entfernten Pfarrer jüdischer Herkunft aus der sächsischen Landeskirche.1 Im sogenannten Drei-Kaiser-Jahr, am 10. Oktober 1888, erblickte Gottlieb das Licht der Welt. Sein Vater Karl Josef Gottlieb war Missionar und Lehrer an deutschen evangelischen Auslandsschulen. Seine Mutter Cäcilie Therese, gebo­rene Dubina, war die Tochter eines in England praktizierenden deutschen Arztes und kam auch dort zur Welt.2 Getauft wurde Gottlieb in der Berliner Bethlehems­ kirche, die im 18. Jahrhundert böhmische Exulanten errichtet hatten – ein Vorfahre von Gottliebs späterer Ehefrau hatte dem ersten Kirchenvorstand der Gemeinde angehört. Nach dem frühen Tod seines Vaters wuchs Gottlieb bei ­Verwandten in Österreich auf.3 In Prag und Brünn besuchte er deutsche Gymnasien. Anschließend studierte er Theologie und Philosophie in Wien und ­Halle/ Saale. Auf die Erste Theologische Prüfung in Wien folgte 1911 das Vikariat in Prag an der deutschen evangelischen Gemeinde St. Michael. In Aussig (Elbe) legte er das Zweite Theologische Examen ab. Er blieb in Böhmen und war seit 1912 Pfarrer in den deutschen evangelischen Gemeinden Hohenelbe im Riesengebirge und Bodenbach-Tetschen an der Elbe (seit 1919). Hier betätigte er sich als ­Diasporapfarrer neben seinen Aufgaben in der Gemeinde im ­Evangelischen 1

2 3

Vgl. insgesamt Hans-Joachim Kandler, Kirche und Juden während des deutsch-christlichen Kirchenregiments in Sachsen 1933–1945. In: Theologische Versuche, XIV (1985), S. 93–103; Hartmut Ludwig/Eberhard Röhm (Hg.), Evangelisch getauft – als »Juden« verfolgt. Theologen jüdischer Herkunft in der Zeit des Nationalsozialismus. Ein Gedenkbuch, Stuttgart 2014, S. 136 f., 186 f., 218 f., 356 f. Vgl. Lebenslauf Gottlieb vom 27.2.1948 (LKArch Dresden, 2/490, Bl. 4). Vgl. Julie Gottlieb, Lebenslauf 1951 [Heinrich Gottlieb] (LKArch Dresden, 42/470, Bl. 2 f., hier 2).

276

Gerhard Lindemann

Bund, im ­Gustav-Adolf-Verein und im Lutherverein zur Erhaltung deutscher evangelischer Schulen im Ausland. Dieses Engagement setzte er auch in ­Dresden fort.4 »Im Vorpostenkampf der deutschen evangelischen Glaubensgenossen im Ausland habe ich die weltweite Bedeutung des Heilandsglaubens kennengelernt«, erklärte Gottlieb 1948 seinen Einsatz.5 Zudem betätigte er sich als Ortsgruppenführer im Bund der Deutschen, als Sonnwendredner und war in der Turn­bewegung aktiv.6 Gottlieb gehörte auch zu den aktiven Mitgliedern eines Pfarrerkreises um den Warnsdorfer Pfarrer Lic. Otto Waitkat, Herausgeber der völkisch geprägten evangelischen Monatsschrift »Deutscher Glaube«.7 Auf deren Titel­seite prangten ein Kreuz und ein Hakenkreuz. Das stand für Waitkats Konzeption einer Synthese von germanischem und christlichem Glauben.8 Bald war Gottlieb in der deutschsprachigen Bevölkerung Nordböhmens als ein »ernster Mahner zur Besinnung auf deutsches Wesen« bekannt.9

Pfarramtstätigkeit und Fortsetzung des völkischen Engagements in Dresden 1929 wechselte Heinrich Gottlieb in die sächsische Landeskirche und übernahm eine Pfarrstelle an der Trinitatiskirche in der Dresdner Johannstadt,10 einer kontinuierlich wachsenden Gemeinde mit vier Pfarrstellen.11 In Sachsen war man auf Gottlieb aufmerksam geworden, weil es sich bei ihm um »einen geschickten Redner voll deutsch-evangelischem Pathos« handelte. Somit schien er ein guter Ersatz für den 1928 70-jährig in den Ruhestand getretenen Pfarrer Franz Theodor Blanckmeister zu sein, der ebenfalls in der Gustav-Adolf-Arbeit aktiv war.12

  4  5   6   7

Vgl. Lebenslauf Gottlieb vom 27.2.1948 (LKArch Dresden, 2/490, Bl. 4). Ebd. Vgl. Gottlieb an Staatssekretär Muhs vom 6.9.1939 (Durchschrift, LKA Eisenach, A 193–2). Vgl. Kurt Augustinus Huber, Das religiös-kirchliche Leben der Sudetendeutschen (1918–1938). In: ders., Katholische Kirche und Kultur in Böhmen. Ausgewählte Abhandlungen. Hg. von ­Joachim Bahlcke und Rudolf Grulich, Münster 2005, S. 311–342, hier 340.   8 Vgl. Landesbischof Sasse an Reichskirchenministerium (RKM) vom 25.8.1939 (LKA Eisenach, A 193-2); Sasse an Stahn (RKM) vom 25.1.1940 (ebd.). Genauer Titel der Zeitschrift: Deutscher Glaube. Eine Monatsschrift für die deutschen evangelischen Gemeinden in den ­Sudetenländern. Erscheinungsort war Reichenberg.   9 Gottlieb an Staatssekretär Muhs vom 6.9.1939 (Durchschrift, LKA Eisenach, A 193-2). 10 Vgl. Lebenslauf Gottlieb vom 27.2.1948 (LKArch Dresden, 2/490, Bl. 4). Gottliebs Witwe schrieb 1951: »1928 wurde er aufgefordert, sich um eine Pfarrstelle an der Dresdner Trinitatiskirche zu bewerben.« Julie Gottlieb, Lebenslauf 1951 [Heinrich Gottlieb] (LKArch ­Dresden, 42/470, Bl. 2 f., hier 2). 11 Vgl. Hermann Klemm, Im Dienst der Bekennenden Kirche. Das Leben des sächsischen Pfarrers Karl Fischer 1896–1941, Göttingen 1986, S. 126. 12 Ebd., S. 125.

Heinrich Gottlieb

277

Spätestens 193313 galt Gottlieb als ein überzeugter Anhänger des National­ sozialismus und als Deutscher Christ (DC). Das hing offenbar damit zusammen, dass er sich von einer starken politischen Stellung des Nationalsozialismus Vorteile für den Weg und die gesellschaftliche Position der Kirchen erhoffte.14 In dem am 23. Juli 1933 neu gewählten Kirchenvorstand der Trinitatisgemeinde unterstützte Gottlieb die Position der Deutschen Christen, eine gewisse Zeit sogar als einziger der dem Gremium angehörenden Pfarrer.15 Bei der Gründung einer DC-Gruppe im Gemeindesaal der benachbarten Andreaskirche am 7. November 1933 war Gottlieb präsent und sprach ein ­allerdings vorsichtig gehaltenes Schlusswort. Das dürfte wohl damit zusammengehangen haben, dass der Referent, Oberlandeskirchenrat Adolf Müller, den »Arierparagrafen« verteidigt und die »Reinhaltung des Blutes« als »Gottesdienst« bezeichnet hatte.16 Regierungsrat a. D. Richard Fischer, Mitglied der Trinitatisgemeinde und ehemaliger Kirchenvorsteher, meinte 1958, »durch eine besonders hervortretende nationalsozialistische Haltung« wollte Gottlieb seine jüdische Herkunft »verbergen«. Gottlieb leitete auch einen Literaturkreis in der Gemeinde. Auf Veranlassung des Seelsorgers spendete die Gruppe regelmäßig für die SA.17 Offenbar galt er nun als »Nazipfarrer«.18 Gottliebs Gottesdienste erfreuten sich eines guten ­Besuchs, was mit seiner hohen rhetorischen Kompetenz zusammenhing.19

13 Ferdinand Mattausch, Bodenbach, Oberlehrer i. R. und ehemaliger Obmann des Deutschen Turnverbandes, schrieb am 11.1.1940 an Hermann Göring von einem »Bekenntnis zum Führer aus den Tagen vor der Machtergreifung«. Schreiben vom 11.1.1940 (Abschrift, LKA Eisenach, A 193-2). 14 Vgl. Gottlieb an Landeskirchenamt (LKA) Dresden vom 15.10.1945 (LKArch Dresden, 2/490, Bl. 3). 15 Vgl. Klemm, Im Dienst, S. 263. 16 Ebd., S. 183 f. 17 Dorothea Röthig, Befragung von Herrn Regierungsrat a. D. Richard Fischer, ehemaliges ­Mitglied des ­Kirchenvorstandes der Trinitatisgemeinde zu Dresden, über den Kirchenkampf in der Trinitatisgemeinde am 25.3.1958 durch die Unterzeichnete (LKArch Dresden, 5/710 bei 700, Bl. 54). Vgl. auch Klemm, Im Dienst, S. 264. 18 Gottlieb an Muhs vom 6.9.1939 (Durchschrift, LKA Eisenach, A 193-2). 19 Vgl. Röthig, Befragung von Herrn Regierungsrat a. D. Richard Fischer am 25.3.1958 (LKArch Dresden, 5/710 bei 700, Bl. 54). Vgl. auch Klemm, Im Dienst, S. 264.

278

Gerhard Lindemann

Vergeblicher Kampf Gottliebs gegen seine Suspendierung vom ­Pfarramt durch Mutschmann und Klotsche Aufgrund seiner jüdischen Herkunft – er galt nach den Nürnberger ­Gesetzen als »Volljude«20 – wurde ihm ein Eintritt in die NSDAP oder in eine ihrer Gliederungen verweigert. Auch eine Mitgliedschaft bei den DC oder im NS-Pfarrerbund lag nicht vor.21 1938 erfolgte auf Veranlassung von ­Reichsstatt­halter Martin M ­ utschmann22 Gottliebs Beurlaubung vom aktiven Pfarrdienst, jedoch erhielt er von der Landeskirche weiterhin die vollen Bezüge. Auch s­ eine Dienstwohnung konnte er behalten.23 Die Gemeinde »hing »nach wie vor mit unveränderlicher Liebe und Treue« an ihrem Pfarrer.24 Die gegen Ende des ­Jahres 1938 unternommenen Bemühungen Gottliebs um eine Pfarrstelle in der »­ intakten« württembergischen Landeskirche scheiterten.25 Ausgerechnet der thüringische Landesbischof Martin Sasse, ein dezidierter Deutscher Christ und Antisemit, der den Novemberpogrom 1938 mit einer kommentierten Zitatensammlung aus Luthers Schrift »Von den Juden und ihren Lügen« gerechtfertigt hatte,26 setzte sich bei höheren Staatsstellen für Gottlieb ein. Sasse hatte Gottlieb während seiner zweijährigen Pfarrtätigkeit in Nordböhmen kennen- und als »eine Erzstütze des Deutschtums überhaupt« schätzen gelernt. Deshalb verwendete Sasse sich Ende August 1939 für Gottlieb beim Reichskirchenministerium. Es handle sich um einen Kollegen, der »tatsächlich im Deutschtumskampf drüben seinen Mann gestanden hat wie nur einer und dem völkischen Wesen lebte«. Gottlieb gehöre zu den aktiven »Vorkämpfern […] für eine deutsche Entscheidung, die der vorige Herbst brachte«.27 Damit war die Eingliederung des Sudetenlandes in das Deutsche Reich im Anschluss an das Münchner Abkommen vom 30. September 1938 gemeint. In Gottliebs Fall sei »kameradschaftliches« Handeln geboten, schloss der Thüringer Landesbischof.

20 Vgl. Gerhard Lindemann, Heinrich Gottlieb. In: Ludwig/Röhm (Hg.), Evangelisch getauft, S. 136 f., hier 136. 21 Vgl. Fragebogen (LKArch Dresden, 2/490, Bl. 8 R). 22 Vgl. Lebenslauf Gottlieb vom 27.2.1948 (ebd., Bl. 4). 23 Vgl. Lindemann, Gottlieb, S. 136. 24 Julie Gottlieb, Lebenslauf 1951 (LKArch Dresden, 42/470, Bl. 2 f., hier 2). 25 Vgl. Siegfried Hermle/Rainer Lächele, Die Evangelische Landeskirche in Württemberg und der »Arierparagraph«. In: dies./Albrecht Nuding (Hg.), Im Dienst an Volk und Kirche. Theologiestudium im Nationalsozialismus. Erinnerungen, Darstellungen, Dokumente und Reflexionen, Stuttgart 1988, S. 179–214, hier 206. 26 Vgl. Gerhard Lindemann, »All seine Sorge galt dem Gedanken, einen Einklang herzustellen zwischen dem Dritten Reich und der Kirche.« Der Thüringer Landesbischof Martin Sasse. In: Manfred Gailus/Clemens Vollnhals (Hg.), Für ein artgemäßes Christentum der Tat. Völkische Theologen im »Dritten Reich«, Göttingen 2016, S. 151–169, hier 162 f. 27 Sasse an Reichskirchenministerium vom 25.8.1939 (LKA Eisenach, A 193-2).

Heinrich Gottlieb

279

Zwischenzeitlich war der Dresdner Pfarrer sogar dank Sasses Vermittlung im Eisenacher Landeskirchenrat im Archiv und im Kirchenbuchwesen beschäftigt gewesen.28 Schon zuvor hatten Gefährten »aus der gemeinsamen Kampfzeit« im ­Sudetenland sich zugunsten Gottliebs mit Zuschriften an den Reichssportführer von Tschammer und Osten gewandt. Nach dem deutschen Einmarsch in Polen schöpfte Gottlieb offenbar die Hoffnung, angesichts des – aufgrund der zum ­Heeresdienst eingezogenen Pfarrer – einsetzenden Personalbedarfs wieder amtieren zu können, und wandte sich mit einem entsprechenden Antrag an das Dresdner Landeskirchenamt. Dieses erklärte sich zu einer Aufhebung der Beurlaubung bereit.29 Oberlandeskirchenrat Kretzschmar verwies Gottlieb an Staatssekretär Hermann Muhs im Reichskirchenministerium,30 dessen Zustimmung nach Auffassung des Kirchenbeamten erforderlich war. Wenige Tage später schrieb Gottlieb in diesem Sinne nach Berlin und beklagte den Zwang, »in Schicksalstagen, wie sie unser Volk jetzt erlebt, untätig sein zu müssen«.31 Überdies bat er Sasse, sich bei Muhs für ihn zu verwenden.32 Kurz vor dem Jahreswechsel zu 1940 informierte Gottlieb Sasse, das Kirchenministerium befürworte eine Wiederaufnahme seiner Pfarramtstätigkeit, jedoch verweigerte Sachsens Reichsstatthalter Martin Mutschmann weiterhin seine Zustimmung.33 Mittlerweile hatten sich Ferdinand Mattausch, ehemals Führer der sudetendeutschen Turnerschaft, und der Ortskirchenausschuss der Dresdner Trinitatisgemeinde an Reichsminister Hermann Göring zugunsten von Gottlieb gewandt.34 Daraufhin fragte auch Sasse noch einmal nach und bat Ende Januar 1940, Reichskirchenminister Hanns Kerrl möge sich zugunsten Gottliebs an Göring wenden. Der Eisenacher Bischof bezeichnete Gottlieb nun sogar als »Stütze allen völkischen Denkens in Böhmen« und zeigte sich dessen gewiss, »dass das nordische Element mindestens 90-prozentig in ihm vorherrschend ist«.35 Seit seiner Suspendierung vom Pfarramt durch das Kirchenregiment Klotsche hatte Gottlieb in Dresden unter »Maßregelungen, Bedrückungen ­ und Bedro­hungen« vonseiten staatlicher Ämter und Dienststellen der NSDAP zu leiden. Auch wurde ihm mit der Einlieferung in ein Arbeitslager gedroht.36 28 Vgl. ebd. 29 Vgl. Gottlieb an Muhs vom 6.9.1939; Gottlieb an Sasse vom 29.12.1939 (Durchschrift, LKA ­Eisenach, A 193-2). 30 Vgl. Gottlieb an Sasse vom 9.9.1939 (ebd.). 31 Gottlieb an Muhs vom 6.9.1939 (Durchschrift, ebd.). 32 Vgl. Gottlieb an Sasse vom 9.9.1939 (ebd.). 33 Vgl. Gottlieb an Sasse vom 29.12.1939 (ebd.). 34 Vgl. Gottlieb an Sasse vom 12.1.1940 (ebd.); Mattausch an Göring vom 11.1.1940 (Abschrift, ebd.). 35 Sasse an Stahn (RKM) vom 25.1.1940 (ebd.). 36 Gottlieb an LKA Dresden vom 15.10.1945 (LKArch Dresden, 2/490, Bl. 3).

280

Gerhard Lindemann

Dies oder gar eine KZ-Haft konnte in der Endphase des Krieges offenbar dadurch abgewendet werden, dass der Dresdner Superintendent Johannes Ficker, ein Mann der Bekennenden Kirche und von 1935 bis 1937 Vorsitzender des ­sächsischen ­Landeskirchenausschusses, auf Bitten Kretzschmars, der mittler­ weile nach Karlsruhe versetzt worden war, Gottlieb »in aller Stille« beschäftigte.37 Es ­handelte sich um kleinere Aufgaben, vor allem ging es um die Aufarbeitung ­ rchivbeständen.38 von A

Letzte Kriegsjahre und beruflicher Wiedereinstieg nach der Befreiung In den letzten Kriegsjahren39 ging Gottlieb zum Nationalsozialismus und zu den Deutschen Christen stärker auf Distanz. Zunehmend störte ihn ihre antichristliche Haltung.40 Bei dem schweren Luftangriff auf Dresden am 13./14. Februar 1945 verlor Gottlieb die Dienstwohnung und seinen gesamten Besitz.41 Gemeinsam mit seiner Ehefrau Julie, einer aus Österreich stammenden Lehrerin42 – Gottliebs erste Frau Anna war Konzertsängerin gewesen43 –, hatte er den Angriff im Freien, »zwischen Kirche und Friedhof liegend«, überlebt.44 Im Anschluss an das Inferno bezog das Ehepaar ein Notquartier in Dresden-Zschachwitz.45 Unmittelbar nach Kriegsende konnte Gottlieb seine Pfarramtsgeschäfte wieder in vollem Umfang aufnehmen46 und versah diese von Zschachwitz aus.47 Wenige Wochen später bat er im Juli 1945 um die Versetzung auf eine Pfarrstelle am Rande Dresdens oder in einer Kleinstadt, weil er auf den Gesundheitszustand seiner Frau Rücksicht nehmen wollte.48 Hinzu kam, dass die Zahl der Kirchenmitglieder

37 Dorothea Röthig, Ergänzungen zur Befragung von Oberlandeskirchenrat Willy Kretsch­mar – Dresden von Ende 1957 vom 15.1.1962 (LKArch Dresden, 5/710 bei 700, Bl. 124). 38 Vgl. Vermerk Kandler am 2.7.1945, Besprechung im Landeskirchenamt mit Herrn Pfarrer Gottlieb (LKArch Dresden, 2/490, Bl. 2 R); Julie Gottlieb, Lebenslauf 1951 (LKArch Dresden, 42/470, Bl. 2 f., hier 2). 39 Vgl. Lebenslauf Gottlieb vom 27.2.1948 (LKArch Dresden, 2/490, Bl. 4). Dagegen zeitlich unbestimmter Gottlieb an LKA Dresden vom 15.10.1945: »Bald.« (Ebd., Bl. 3). 40 Vgl. Gottlieb an LKA Dresden vom 15.10.1945 (ebd., Bl. 3).; dort auch Hinweis auf »kurze ­Erklärung über […] Stellung zur NSDAP« (ebd.). 41 Vgl. Lebenslauf Gottlieb vom 27.2.1948 (LKArch Dresden, 2/490, Bl. 4). 42 Vgl. ebd. 43 Vgl. Klemm, Im Dienst, S. 127. 44 Julie Gottlieb, Lebenslauf 1951 (LKArch Dresden, 42/470, Bl. 2 f., hier 2 R). 45 Vgl. Fragebogen (LKArch Dresden, 2/490, Bl. 8). 46 Vgl. Lebenslauf Gottlieb vom 27.2.1948 (ebd., Bl. 4). 47 Vgl. Julie Gottlieb, Lebenslauf 1951 (LKArch Dresden, 42/470, Bl. 2 f., hier 2 R). 48 Vgl. Vermerk Kandler am 2.7.1945, Besprechung im Landeskirchenamt mit Herrn Pfarrer ­Gottlieb (LKArch Dresden, 2/490, Bl. 2 R).

Heinrich Gottlieb

281

an Trinitatis aufgrund der weitgehenden Zerstörung des Gemeindebezirks von 34 000 auf circa 8 000 gesunken war.49 Vielleicht aus Mitleid oder aufgrund einer früher bestehenden Verbundenheit oder in Erinnerung an die Vorstöße Sasses zu seinen Gunsten vor und während des ersten Kriegsjahres setzte sich Gottlieb am 2. Juli 1945 beim ­Landeskirchenamt dafür ein zu erwägen, ob von dort »aus im Bedarfsfall etwas geschehen ­könnte, um Herrn Klotsche und seine Familie vor wirtschaftlicher Not zu bewahren«.50 1945 berief die Landeskirche Gottlieb auf eine Pfarrstelle in der ostsächsischen Kleinstadt Löbau.51 Dort hatte sich ein Oberkirchenrat und Superintendent, der mit Gottlieb befreundet war, für ihn verwandt.52 Die Gemeinde begegnete ihm offenbar mit Aufgeschlossenheit.53 Im August 1945 kehrte Gottliebs einziger Sohn Hans (von Beruf Gärtner), der schon am sogenannten Polenfeldzug teilgenommen hatte,54 von der Ostfront zurück. Seit der Niederlage der Wehrmacht bei Stalingrad hatte er als vermisst gegolten.55 Auf Bitten des Landeskirchenamtes56 verblieb Gottlieb nicht lange in Löbau, sondern wurde im März 1948 Erster P ­ farrer in Bad Elster.57 Das zeigt, dass man ihm auch eine ­Pfarramtsleitung ­zutraute. Zuvor hatte die Entnazifizierungskommission der Landeskirche am 16. Ja­nuar 1948 ohne »Bedenken« auf »Weiterbeschäftigung« entschieden: »Gottlieb hat zwar 1933 versucht, der NS-Weltanschauung auch in seiner kirchlichen ­Arbeit Verständnis entgegenzubringen, wurde aber aufgrund seiner Abstammung von den NS-Dienststellen in eine ablehnende Stellung gegenüber dem National­ sozialismus hineingezwungen. Er ist von der NSDAP verschiedentlich verfolgt worden.«58 Am 30. September 1950 erlitt Gottlieb einen schweren Herzanfall, an dessen Folgen er am 17. Dezember 1950 in seinem neuen Wirkungsort Bad Elster starb.59

49 50

Vgl. Julie Gottlieb, Lebenslauf 1951 (LKArch Dresden, 42/470, Bl. 2 f., hier 2 R). Vermerk Kandler am 2.7.1945, Besprechung im Landeskirchenamt mit Herrn Pfarrer Gottlieb (LKArch Dresden, 2/490, Bl. 2). 51 Vgl. Lebenslauf Gottlieb vom 27.2.1948 (LKArch Dresden, 2/490, Bl. 4). 52 Vgl. Julie Gottlieb, Lebenslauf 1951 (LKArch Dresden, 42/470, Bl. 2 f., hier 2 R). 53 Vgl. ebd. 54 Vgl. Gottlieb an Muhs vom 6.9.1939 (Durchschrift, LKA Eisenach, A 193-2). 55 Vgl. Lebenslauf Gottlieb vom 27.2.1948 (LKArch Dresden, 2/490, Bl. 4). 56 Vgl. Julie Gottlieb, Lebenslauf 1951 (LKArch Dresden, 42/470, Bl. 2 f., hier 2 R). 57 Vgl. LKA Sachsen, Oehme, an Pfarrer i. R. Giebner vom 22.3.1968 (LKArch Dresden, 2/490, Bl. 13). 58 Sitzung der Entnazifizierungskommission (Kleemann, Knospe, Poser) am 16.1.1948 (LKArch Dresden, 2/490, Bl. 9). 59 Vgl. Julie Gottlieb, Lebenslauf 1951 (LKArch Dresden, 42/470, Bl. 2 f., hier 3); Rechnungsstelle LKA, in Vertretung Renner, an Bezirkskirchenamt/Superintendentur Oelsnitz vom 22.12.1950 (LKArch Dresden, 2/490, Bl. 5).

282

Gerhard Lindemann

Gottlieb erlebte noch mit, dass die sächsische Landessynode während ­ihrer ­ersten Tagung nach dem Krieg am 18. April 1948 eine »Erklärung zur Schuld am jüdischen Volk« verabschiedete, in der es unter anderem hieß: »Auch unsere sächsische Kirche hat zur Verfolgung der Juden, selbst der christlichen, beigetragen. Seit 1933 wurde durch die damalige Kirchenführung planmäßig der Weg beschritten, die Judenchristen aus der kirchlichen Gemeinschaft auszuschließen. Viele Pfarrer und Gemeinden haben dazu geschwiegen, ja manche haben sich an dieser Haltung sogar persönlich beteiligt.«60 Vermutlich wird er diese recht klare Aussage als eine Art öffentliche Wiedergutmachung seitens der sächsischen ­Landeskirche auch seiner Person gegenüber angesehen haben.

60

Abgedruckt in Irena Ostmeyer, Zwischen Schuld und Sühne. Evangelische Kirche und Juden in SBZ und DDR 1945–1990, Berlin 2002, S. 316 f.



Konstantin Hermann Der Individualpsychologe Erhard Starke

Zu den Biografien der Pfarrer in der NS-Zeit gehören auch diejenigen, denen das amtliche Wirken von 1933 bis 1945 untersagt war. Erst in der Verknüpfung der Zeit davor und danach wird die große Lücke des erzwungenen, zwölf ­Jahre währenden Leerlaufs deutlich. Kontrafaktische Geschichtsschreibung könnte fragen, was wäre wenn … Welche Wirkung hätten jene entfalten können, abgesehen von den erlittenen Repressalien? Dies galt vor allem für jene Pfarrer, die nicht mehr unter dem Dach der Kirche arbeiteten, die den kirchlichen Dienst vor 1933 quittierten. Es gab nur wenige Pastoren, die den sicheren Hafen der L ­ andeskirche verließen, um zu weltlichen Arbeitgebern zu wechseln. Wir k­ önnen bei solchen Pfarrern ­intensive geistige Auseinandersetzungen mit der Kirche und dem Luthertum voraussetzen, die sie zu diesem Schritt bewogen. In den Fällen, die ­bekannt sind, schwelte der innere Konflikt, die Unzufriedenheit, mehrere ­Jahre, bevor sie in ­einem solchen Schritt kulminierten. Im 20. Jahrhundert hingen ­solche Entscheidungen nicht selten mit der Kirchenpolitik im Sinne profaner Agenden zusammen. Nur wenig kann man davon erahnen, wenn man die dem Charakter des Pfarrerverzeichnisses von Reinhold Grünberg geschuldeten kurzen Passagen liest: »23 legt nieder«.1 Von Erhard Starke selbst ist nichts überliefert. Beim B ­ ombenangriff am 13. und 14. Februar 1945 auf Dresden verlor Starke seine ­gesamte Habe, so dass auch kein schriftlicher Nachlass von ihm existiert.

Die frühen Jahre In der Superintendentur Zwickau wurde am 27. Oktober 1923 vermerkt, dass der Zweite Pfarrer von Kirchberg, Erhard Starke, sein Gesuch um Entlassung aus dem landeskirchlichen Dienst gestellt habe und sowohl auf Gehalt, auf den Ruhestand 1

Reinhold Grünberg, Sächsisches Pfarrerbuch, Freiberg 1940, S. 897. Mit der Enkelin von Erhard Starke führte der Verfasser ein längeres Telefonat.

284

Konstantin Hermann

als auch auf die Amtsbezeichnung Pfarrer und die Ausübung jeder geistlichen Tätigkeit innerhalb der sächsischen Landeskirche verzichten wolle.2 Starke ­hatte in einem Schreiben das Landeskonsistorium, das spätere Landeskirchenamt, ­benachrichtigt, dass er zum Leiter der staatlichen Schwesternschaft Arnsdorf ernannt worden ist und daher sein Pfarramt zum 31. Oktober 1923 ­niederlegt.3 Das Landeskonsistorium hatte jedoch keine Einwände, dass er den Pfarrertitel weiterführt und Starke könne auch mit Genehmigung der Superintendentur ­gelegentlich innerhalb der Landeskirche Amtshandlungen vornehmen.4 Erhard Starke bekannte sich: In einer der Hochzeiten der Auseinandersetzung zwischen Landeskirche und Freistaat hatte sich der Sozialdemokrat mit der Niederlegung seines Pfarramtes zum Staat bekannt. Diese enge Bindung an die ­Sozialdemokratie war das Ausschlaggebende – in jeder Hinsicht. Die Sozialisation und die Erfahrungen als Bezirksseelsorger im geistlichen Hilfsdienst an der Philippuskirche im Arbeiterbezirk Leipzig-Lindenau dürften Starkes Blick für soziale Herausforderungen geschärft haben. Der am 9. Oktober 1888 in Leipzig geborene Erhard war Sohn des Kaufmanns Carl Richard Otto Starke und dessen Frau Kathinka, geb. Körner. Von 1895 bis 1899 besuchte Erhard Starke die 3. Höhere Bürgerschule in Leipzig, von 1899 bis 1908 die Thomasschule. Als Einjährig-Freiwilliger, was auf eine privilegierte Stellung schließen lässt, absolvierte er im 7. Infanterieregiment 106 seinen Wehrdienst von Michaelis 1908 an. Die sieben Semester Theologiestudium absolvierte Starke in Leipzig und Rostock. Ostern 1913 legte er die Erste Theologische ­Prüfung (pro candidatura et licentia concionandi) ab, Ostern 1915 die Wahlfähigkeitsprüfung für das geistliche Amt. Das bereits erwähnte Amt an der ­Philippuskirche trat Starke am 20. September 1913 an.5 Über sein dortiges ­Wirken ist nichts bekannt. Am Sonntag, den 8. August 1913, wurde Starke vom Kirchenvorstand der Kirchgemeinde zum Ersten Diakon und Pfarrer von Burkersdorf/Kirchberg ­gewählt. Als Starke nach Kirchberg kam, amtierte der 1866 geborene Paul ­Georg Müller (†1936) als Superintendent von Zwickau erst drei Jahre, ebenso der ­Erste Pfarrer von Kirchberg, Karl Hermann Theodor Kühn (*1861). Kirchberg ­wurde Starkes neue Heimat, bis 1923. Die sichere Stelle dürfte dazu beigetragen ­haben, dass Starke am 6. Dezember 1915 heiratete. Aus der Ehe entsprangen zwei ­Töchter, Magdalene und Johanna.

2 3 4 5

Vgl. Vermerk Sup. Zwickau vom 27.10.1923 (LKArch Dresden, 2/1696, Auszug aus der Besetzungsakte Kirchberg, Bl. 9). Vgl. Starke an Landeskonsistorium Dresden vom 31.10.1923 (Auszug, ebd., Bl. 9 b). Vgl. Landeskonsistorium vom 20.11.1923 (ebd.). Vgl. Grünberg, Pfarrerbuch, S. 897; Amtskalender 1914, S. 163; Amtskalender 1915, S. 189; Amtskalender 1916, S. 188.

Erhard Starke

285

Kirchberg erlebte wie die meisten anderen Gemeinden im 19. Jahrhundert ­einen großen Bevölkerungszuwachs. Auch in Kirchberg hatte die Kirche vor 1914 spürbar Mühe, die Arbeiter noch ansprechen zu können. Heraus aus der ­Kirche! – im doppelten Sinn war dies die Devise: Arbeiter traten aus der ­Kirche aus, ­Pfarrer erkannten, dass man aus der Kirche heraustreten müsse, um die ­Arbeiter wieder zu erreichen. Starke führte in Kirchberg religiöse Besprechungsabende ein, die nicht in der Kirche stattfanden, um keine Barriere zu errichten, sondern den Arbeitern den Weg in die Kirche zu öffnen. Der Veranstaltungsleiter warf bei diesen Gesprächen eine religiöse Frage auf, die dann diskutiert wurde. Ob die Veranstaltungen einen größeren Erfolg hatten, ist unbekannt.6 Diese ­Erfahrungen dürften bei Starke zu tiefem Nachdenken geführt haben. Es unterliegt dabei kaum einem Zweifel, dass Starke auch die »Amtskirche« für die geringe Anziehungskraft verantwortlich machte. 1887 war der erste sächsische Evangelische Arbeiterverein in Werdau gegründet worden. Es war der nochmalige Versuch, die Arbeiterschaft für die Kirche zu gewinnen. Zehn Jahre später schlossen sich die Vereine zu einem Landesverband zusammen. 1904 entstand die Sächsische Evangelisch-Soziale Vereinigung. Es war auch dem Schock der Reichstagswahl von 1903 begründet, als bis auf einen Wahlkreis (Zittau) alle Wahlkreise an die SPD fielen.

Das Reformationsgedenkjahr 1917 Starkes erste größere Schrift »Vom ewig schaffenden Gott« von 1917 ist nicht überliefert. Seine Grundgedanken dazu lassen sich jedoch anhand eines Beitrags im »Neuen Sächsischen Kirchenblatt« gut nachvollziehen, der auf seiner Broschüre beruht. Wenn Jesus’ Zentralgedanke vom Reich Gottes auch der christliche Zentralgedanke werden würde, so Starke im Juni 1917, würde die Kirche endlich lebendiger werden. Schon zu dieser Zeit stellte er die Schweizer Reli­ giösen Sozialisten als Leitbild für die deutschen Gemeinden dar.7 ­Starke hatte zu dieser Zeit seine Prägung ausgebildet, die im Grundsatz lebenslang gleich blieb. Bereits im Ersten Weltkrieg gehörte er zu den entschiedenen Friedensbefürwortern als Mitglied der »Liga für Menschenrechte« und des »Bundes evangelischer ­Friedensfreunde« (Adolf Deißmann, Berlin). Starke war mit Carl Mennicke und dem Dresdner Pfarrer Carl Mensing (1863–1953) (»Bund für

6 7

Vgl. Erhard Starke, Religiöse Besprechungsabende in Kirchberg. In: Neues Sächsisches ­Kirchenblatt vom 11.3.1917, S. 156. Die für die Abende von Starke verwendete, selbst verfasste Schrift »Vom ewig schaffenden Gott«, die in Dresden bei Ramming erschien, ist verschollen. Vgl. Erhard Starke, Zum Zentralgedanken des Christentums. In: Neues Sächsisches Kirchenblatt vom 17.6.1917, S. 371 f.

286

Konstantin Hermann

G ­ egenwartschristentum«) befreundet.8 1918 trat Starke als erster sächsischer Pfarrer überhaupt in die SPD ein, was ihm nach eigener Aussage viel Feindschaft einbrachte.9 Er stellt den Prototyp des sozialdemokratischen Pfarrers dar, wie ihn der Dresden-Trachauer Pfarrer Wilhelm Leonhardt 1921 skizzierte, auch wenn Starke nicht in der Stille wirkte, wie dem Verfasser vorschwebte.10 Starke trat in die Öffentlichkeit und versuchte, sie in seinem Sinne zu beeinflussen. Er meldete sich von 1917 bis 1922 im »Neuen Sächsischen Kirchenblatt« immer wieder zu Wort. Der unbedingte Wille zum Frieden hatte sich im Ersten Weltkrieg bei ihm in dieser Konsequenz herausgebildet und war stets eine der Grundlagen seiner christlichen Auffassung. Die Amtskirche empfand er weiterhin als zu starr. 1918 unterteilte Starke die Bevölkerung in die die Kirche Ablehnenden, in die Überfrommen, die Gleichgültigen und die Kirchenchristen.11 Anders als ­wenige Monate später ist ihm die konsequente Trennung von Staat und Kirche noch fremd. ­Große Bedeutung maß Starke der Inneren Mission bei, die neue Wege gehen müsse. Anfang 1918 trat Starke mit einem Aufruf »Deutsche Friedensarbeit und evangelische Kirche« hervor.12 Sozialdemokratie und Katholizismus hätten erkannt, dass anstelle des Krieges die »sittliche Macht des Rechts« treten müsse, und seien deshalb gestärkt aus dem bisherigen Krieg hervorgegangen. Starke schloss sich mit seinem Aufruf der Friedenserklärung der fünf Berliner Geistlichen vom O ­ ktober 1917 an. Krieg und Christentum seien unvereinbar, so Starke. Das »Neue Sächsische Kirchenblatt« (NSK) stimmte zwar dem Inhalt des Aufrufs nicht zu, vermerkte jedoch sein Erscheinen ausführlich. Doch wie Gottfried Mehnert, der Starke mit seinem Friedensaufruf erwähnt, schon charakterisierte, hatten derlei Aktivitäten angesichts der weiteren Kriegsentwicklung und der d ­ amit entstehenden Probleme keine Chance auf größere Resonanz.13

 8 Starke an Bredendiek am 24.2.1962 (Zentral- und Landesbibliothek Berlin, NL Walter ­Bredendiek, Ordner Nr. 3 Biographien Religiöser Sozialisten). Siehe auch Walter Bredendiek, Zwischen Revolution und Restauration. Zur Entwicklung des deutschen Protestantismus ­während der Novemberrevolution und in der Weimarer Republik, Berlin (Ost) 1969.   9 Vgl. Starke an Bredendiek am 24.2.1962 (Zentral- und Landesbibliothek Berlin, NL Walter Bredendiek, Ordner Nr. 3 Biographien Religiöser Sozialisten). 10 Vgl. Wilhelm Leonhardt, Die sozialdemokratischen Pastoren in Deutschland. In: Evangelisch-sozial, 23 (1914), S. 237−240; zum Streit um die Pastoren in der SPD vgl. u. a. Richard Franke, Sozialdemokratische Pastoren. In: Neues Sächsisches Kirchenblatt vom 10.9.1922, S. 430 f. 11 Vgl. Leute und Kirche? In: Neues Sächsisches Kirchenblatt vom 23.6.1918, S. 309−312. 12 Neues Sächsisches Kirchenblatt vom 16.1.1918, S. 148. 13 Vgl. Gottfried Mehnert, Evangelische Kirche und Politik 1917–1919. Die politischen Strömungen im deutschen Protestantismus von der Julikrise 1917 bis zum Herbst 1919, Düsseldorf 1959, S. 55. Vgl. auch Guido Grünewald, Nieder die Waffen! Hundert Jahre Deutsche Friedensgesellschaft 1892–1992, Bremen 1992.

Erhard Starke

287

Er gründete in seiner Heimatgemeinde Kirchberg 1918 einen »Bund für ­Demokratie und Kirche«, der jedoch nicht recht leben, aber auch nicht sterben konnte, obwohl ihm einige Pfarrer beigetreten waren. Starke war aktives Mitglied im »Bund sozialistischer Pfarrer« und war mit Leonhard Ragaz befreundet, den er in der Schweiz auch besuchte. Vom Schriftwechsel beider sind noch einige Briefe vorhanden.14 Starke behauptete in seinem Schreiben an Bredendiek, dass er an Ragaz’ Zeitschrift »Neue Wege« mitarbeitete, jedoch ist das nicht nachzuweisen. Entweder hat er unter Pseudonym gearbeitet, was eher auszuschließen ist, oder er war in der redaktionellen Arbeit tätig. Starkes Ausführungen sind jedoch oft von einem hohen Selbstbewusstsein gekennzeichnet.

Nach der Revolution Die Evangelisch-Sozialen verhandelten am 18. November 1918 in Leipzig die aktuelle politische Lage; als Mitglieder der Evangelisch-Sozialen Vereinigung traten auch Starke und Johannes Naumann aus Arnsdorf auf, der einige Jahre später für Starke wichtig werden würde.15 Starke führte aus, dass die gegenwärtigen Machthaber die Trennung von Staat und Kirche als selbstverständlich betrachteten. Die Kirche sollte nach deren Maßgabe mäßigend einwirken, damit keine öffentlichen Unruhen entstehen würden. Diese politische Lage 1918/19 war keineswegs nur abstrakt. In Kirchberg hatte der Oberpfarrer Kühn seine Konfirmanden vor dem »Müßiggang und [der] Tanzsucht mancher Erwerbsloser« gewarnt. Dies ließ 150 Arbeitslose vor das Pfarramt ziehen, die androhten, alles zu zerstören, wenn sich der Oberpfarrer nicht sofort vor der Menge verantworte. Kühn gelang es, die Menge nach Hause zu schicken, indem er sie beschwichtigen konnte.16 Starkes Reaktion dazu ist nicht überliefert, er wird jedoch die Aggression der Erwerbslosen verstanden haben. Am 1. Juni 1919 stellte Starke den Sächsischen Pastorenbund »Neue Kirche« im »Neuen Sächsischen Kirchenblatt« vor.17 Im April 1919 hatte Starke noch mit Hans Francke, Karl August Aner und Martin Rade den pazifistisch motivierten »Bund Neue Kirche« gegründet, der aus der »Losen Vereinigung evangelischer Kirchenfreunde« hervorgegangen war. Ende 1919 schloss sich diese Gruppe mit dem im März 1919 in Berlin durch Günther Dehn und Bernhard Göhring gegründeten »Bund sozialistischer Kirchenfreunde« zum »Bund religiöser S­ ozialisten«

14 15 16 17

Vgl. auch Leonhard Ragaz, Mein Weg 1868–1945, Zürich 1952. Vgl. Neues Sächsisches Kirchenblatt vom 1.12.1918, S. 615 ff.; vom 8.12.1918, S. 628−631. Neues Sächsisches Kirchenblatt vom 18.5.1919, S. 301 f. Vgl. Neues Sächsisches Kirchenblatt vom 1.6.1919, S. 330.

288

Konstantin Hermann

zusammen. Der Pastorenbund trat nach eigenen Worten für eine demokratische Kirchenverfassung, für die Überwindung des kapitalistischen Egoismus durch einen aus dem Geist der Brüderlichkeit geborenen Sozialismus sowie für eine Neuordnung der Weltpolitik im Sinne des Völkerbundgedankens ein. Der »Bund Neue Kirche« gehörte zu den Religiösen Sozialisten und nahm an der Tagung dieser Richtung in Tambach vom 23. bis 25. September 1919 teil. Sie suchten Anlehnung an die Schweizer Richtung und korrespondierten daher mit Starkes Auffassung.18 Dieser gehörte der Sächsischen Evangelisch-Sozialen Vereinigung an und wurde neben Carl Richard Mensing und Carl Mennicke genannt, als die drei über Völkerversöhnung und Friedensbewegung sprachen.19 Starke, der sich in die Debatten nachdrücklich einschaltete, zeigte die beiden Richtungen in der Landeskirche auf; einmal die freien Vereinigungen, die ­unter »dem Sturm der jungen deutschen Revolution« gebildet worden waren, und dann jene, die so viel wie möglich von der alten Kirche hinüberretten wollten. ­Starke trat für die demokratische Volkskirche und den Sozialismus ein.20 Doch der Kampf um den Wiedereintritt der Arbeiter in die Kirche war innerhalb der SPD nicht unumstritten; auch die Befürworter eines Austritts kamen oft in der Partei­presse zu Wort. Die SPD war in der Frage neutral, so dass Starke in ­ihrem Auftrag Vorträge zum Wiedereintritt in die Kirche halten konnte.21 Am 27. April 1919 veröffentlichte Starke im »Neuen Sächsischen Kirchenblatt« einen Brandruf, der sich gegen die »bürokratisch verfasste Pastoren- und Behördenkirche« zugunsten einer »­ freien volkstümlichen lebendigen Kirche« aussprach, die keinen ­Bekenntniszwang auch für die Diener der Kirche mehr kennt.22 Die Kirche b ­ rauche sozialistische Ideale, kein theologisch fest fixiertes Bekenntnis, so Starke. Die Schicksalsstunde, die Gerichtsstunde für die Kirche sei gekommen; versage sie wieder, habe sie im weiten Volksempfinden ausgespielt. Das Landes­ konsistorium verbot Starke, nicht-religiöse Artikel in SPD-Zeitungen zu veröffentlichen, was ihn ins Mark seiner sozialistisch-religiösen Auffassung getroffen haben dürfte.23

18 19

Die religiös-soziale Bewegung. In: Evangelisch-sozial 1923/1924, S. 25−31, hier 25. Vgl. Die Möglichkeit und die Notwendigkeit evangelisch-sozialer Arbeit in der neuen Zeit. In: Evangelisch-sozial 1923/1924, S. 18−21, hier 19. 20 Erhard Starke, Synode? In: Neues Sächsisches Kirchenblatt vom 20.5.1919, S. 231 ff. 21 Vgl. Neues Sächsisches Kirchenblatt vom 14.9.1919, S. 574. 22 Demokratische (sozialistische?) Orientierung der Kirche? In: Neues Sächsisches Kirchenblatt vom 27.4.1919, S. 78. 23 Vgl. Starke an Bredendiek vom 24.2.1962 (Zentral- und Landesbibliothek Berlin, NL Walter Bredendiek, Ordner Nr. 3 Biographien Religiöser Sozialisten).

Erhard Starke

289

Starkes Hinwendung zur Individualpsychologie Anscheinend verlor jedoch die religiös-sozialistische Richtung für Starke an ­Bedeutung und er widmete sich individualpsychologischen Studien. Zu ­vermuten ist, dass der Misserfolg der nicht zu verwirklichenden politischen Einheit von Kirche und Sozialismus Starke seinen Weg von der generalistisch-politischen zur individuellen Betrachtung führen ließ. Der deutsche Bund religiöser Sozialisten entstand erst 1926. Starke spielte hier nachweislich schon keine Rolle mehr.24 Eine sächsische Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Pastoren hatte sich 1920 gebildet, die ihren Schwerpunkt im Chemnitzer Raum hatte.25 Um Landeskirche und ­Sozialdemokratie anzunähern, fanden seit Ende 1919 »Verständigungsabende« in Dresden statt, die jedoch keinen Erfolg zeigten.26 Nicht zu vergessen dabei ist die bedrängte Lage der Landeskirche. Sie befand sich im Kampf. Einerseits aufgrund der neuen verfassungsrechtlichen Situation durch die Weimarer Reichsverfassung, andererseits durch das stärkere Agieren der katholischen Kirche in Sachsen und wegen der sozialen Prozesse, die die Austrittszahlen erhöhten und die Bindung an die Kirche auflösten. Deutlich wird dies an den sächsischen Kirchenblättern, die aufmerksam jede katholische Regung beschrieben und bekämpften, die vor allem in der Wiederaufrichtung des Bistums Meißen kulminierte.

Als Fürsorger im Staatsdienst – Ernennung und Versetzung Starke nutzte die Gelegenheit und quittierte zum 31. Oktober 1923, zum Reformationstag, den kirchlichen Dienst. Es war eine Zeit der politischen Krisen. Seit dem 10. Oktober regierte Ministerpräsident Erich Zeigner mit einer Koalition aus SPD und KPD, zehn Tage später setzte die Reichswehr die Reichsexekution in Sachsen durch, am 30. Oktober trat die Regierung Zeigner zurück. In diesem politischen Umfeld trat der Sozialdemokrat Starke in den Dienst des Freistaats ein. Es war noch die Folge der Zeignerära, in der sich Sachsen als erstes deutsches Land die Betreuung der Strafentlassenen selbst auferlegte. Das Innenministerium versetzte Johannes Naumann als Anstaltspfarrer von Arnsdorf in den vorläufigen Ruhestand und setzte Starke als dessen Nachfolger ein. Starke hatte erkannt, »dass ich in der damaligen Kirche meine Bestrebungen nicht annähernd

24 25 26

Vgl. Bredendiek, Revolution, S. 85. Siehe auch Walter Bredendiek, Zwischen Aufbruch und Beharrung. Der deutsche Protestantismus in politischen Entscheidungsprozessen. Studien, Berlin (Ost) 1978, S. 51. Vgl. Sächsisches Kirchenblatt vom 28.5.1920, S. 338. Sächsisches Kirchenblatt vom 2.1.1920, S. 10.

290

Konstantin Hermann

v­ erwirklichen konnte«, und trat deshalb in den Staatsdienst über.27 Naumann war Staats-, kein Kirchenbeamter, weshalb das Innenministerium dementsprechend handeln konnte. Und er war Bruder von dem bekannten und einflussreichen Friedrich Naumann. Die Regierung versuchte so, die Trennung von Staat und Kirche auch auf diesem Gebiet der Anstaltspfleger durchzusetzen und zu »sozialdemokratisieren«, wie es Naumann beschreibt. Auch das »Neue Sächsische Kirchenblatt« kritisierte den Schritt der Regierung.28 Starke sollte die Schwestern der Anstalt Arnsdorf in die SPD-Richtung bewegen. Tatsächlich hatte sich inzwischen ein Generationswechsel vollzogen; die jüngeren Anstaltsschwestern sahen den Glauben nicht mehr als verbindliches und verbindendes Element an, sondern als Privatsache.29 Johannes Naumann prophezeite, dass die Kirche wieder Missionskirche werden würde – ein sicherer Blick in die Zukunft, wie sich heute zeigt.30 Der Fall Naumann wurde zur Staatsaffäre, zumal auch der Bund Sächsischer Staatsbeamter (BSS) sich eindeutig gegen ihn positionierte.31 Der Bund galt als SPD-nah; in den Gewerkschaftszeitungen wurde über die Beamtenpolitik gestritten.32 Die Gewerkschaft Sächsischer Staatsbeamter GSS (Zeitschrift: ­»Sächsische Staatsbeamten-Zeitung«) und der BSS waren Konkurrenten; der Bund galt sogar bei manchen als Urheber der Ruhestandsversetzung Naumanns.33 Dass die Entscheidung der Regierung vom 21. September 1923 wie eine Bombe einschlug, ist in den Aufzeichnungen von Johannes Naumann eindrücklich nachzulesen.34 Die Deutsche Demokratische Partei (DDP) verlangte im Landtag am 19. Oktober 1923 die Wiedereinsetzung Naumanns und nutzte den Fall zum Generalangriff auf die Beamtenpolitik der Regierung Zeigner, der man Korruption und Absetzen politisch missliebiger Beamter vorwarf. Hermann Liebmann und Alfred Fellisch äußerten sich in der Debatte ausführlich dazu. Laut dem Gesetz über Pflichten der Beamten und Lehrer und über Änderungen des Dienststrafrechts vom 26. Juli 1923 konnten leitende Beamte »im Interesse der Festigung 27 Starke ist nicht zu verwechseln mit dem Ministerialrat Dr. Alexander Starke im Sächsischen ­Justizministerium, der viel zur Behandlung von Gefangenen veröffentlichte. Z. B. Die Behandlung der Gefangenen. In: Erwin Bumke, Deutsches Gefängniswesen. Ein Handbuch, Berlin 1928, S. 147–177. Auch der Ministerialrat Starke stellte den Aspekt der Erziehung und der Resozialisierung in den Vordergrund. 28 Vgl. Neues Sächsisches Kirchenblatt vom 7.10.1923, S. 276. 29 Vgl. Johannes Naumann, Wie wir unsern Weg fanden, Gotha 1929, S. 232−242. Der Bruder von Johannes Naumann, Friedrich Naumann, war kurze Zeit Vorsitzender der Deutschen Demokratischen Partei. Auch Johannes Naumann hatte die sozialen Probleme als für die Kirche hoch relevant erkannt. 30 Vgl. Kirche und Schule. In: Neues Sächsisches Kirchenblatt vom 13.4.1919, S. 213 f. 31 Vgl. Landtagsprotokolle, 61. Sitzung, Freitag, 19.10.1923, S. 1735−1757. 32 Vgl. Zum Fall Naumann. In: Der Sächsische Staatsdienst vom 18.10.1923, S. 5. 33 Vgl. Stellung des Bundes zu den Einzelfragen. In: Der Sächsische Staatsdienst vom 5.1.1924, S. 5–9. 34 Vgl. Johannes Naumann, Wie wir unsern Weg fanden, Gotha 1929, S. 232−242.

Erhard Starke

291

der ­verfassungsmäßigen republikanischen Staatsform« in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden.35 Naumann wurde aufgrund dieses Paragrafen 13 pensioniert. Durch die Reichs­exekution wurde die Regierung Zeigner abgesetzt; die DDP machte von einer ­Koalitionszusage an den folgenden Ministerpräsidenten Arthur Fellisch abhängig, dass Naumann wieder eingesetzt würde. Beamte aus der Zeignerzeit versuchten dies zu hintertreiben; jedoch amtierte Naumann wieder als Anstaltsgeistlicher. Starke als kurzzeitiger Nachfolger war damit keineswegs einverstanden und mobilisierte Partei und Minister. Die Notizen zeigen die Aufgebrachtheit Starkes und sein Vorgehen. »Pastor Starke: Unter Minister Liebmann war der Vorsteher des Schwesternhauses in Arnsdorf, der frömmelnde Pfarrer Naumann, von seinem Posten entfernt worden. Bei Gründung der verschleierten sozialdemokratischen Koalition unter Fellisch wurde den Demokraten von Liebmann konzediert, dass Naumann wieder eingestellt und eventuell wegen des Abbaues in den Ruhestand versetzt werden sollte. An seine Stelle war Starke getreten, der nun wieder weg musste. Während der kurzen Zeit seiner Amtstätigkeit hat Starke es leider nicht verstanden, sich Respekt und in Arnsdorf Ordnung zu schaffen. Als nun infolge des Versagens des Ministeriums Liebmann Pfarrer Naumann beim Antritt der Heldt-Regierung noch im Amte war, wurde Starke ungeduldig und veranlasste alle möglichen Parteiorgane und Parteigrößen, sich für seine sofor­tige Einstellung zu verwenden. Protestresolutionen zugunsten Starkes von Parteiversammlungen, die selbstverständlich über die Sachlage gar nicht ­orientiert sein konnten, jagten einander. Mit den maßgebenden Personen in den neugebildeten ­Instanzen und den Opponenten in der Fraktion nahm Starke mit Erfolg Fühlung. In dieser Fraktion glaubte er den Minister durch unverständliche Gebaren und Drohungen soweit einschüchtern zu können, dass er ihn schnellstens als Leiter nach Arnsdorf setzte. Sein Verhalten ging soweit, dass er eines Tages ohne angemeldet zu sein gegen den Widerspruch des Ministers in dessen Zimmer erschien und unter Drohungen gegen den Minister, dass er die Fraktion und die politischen Instanzen veranlassen werde, den Minister zu zwingen, die Erfüllung seiner Forderung verlangte, die wiederholten Vorstellungen des Ministers, dass er, der Minister, stark mit allgemein wichtigen Angelegenheiten beschäftigt sei und sich mit ihm nicht länger unterhalten könne, schenkte er keine Beachtung. Erst nach mehrmaligen dringenden Aufforderungen war er zu bewegen, das Zimmer zu verlassen. Selbstverständlich kann ein Behördenchef, viel weniger noch ein Minister, wenn er auch nur einen Rest von Autorität sich bewahren will, solchen Undisziplinierten nicht zu Willen sein, Starke ist gleichwohl an einer andern Amtsstelle untergebracht worden.«36

Das »Neue Sächsische Kirchenblatt« schrieb dazu: »Wie wir hören, ist auch der Rektor des Arnsdorfer Diakonissenhauses, unser Freund Geheimrat N ­ aumann, wieder im Dienst, sein Nachfolger ist inzwischen aus dem Dienste der Landeskirche ausgeschieden und wartet auf anderweitige Verwendung.«37 Starke hatte hoch gepokert und verloren. Er musste nun seine und die Existenz seiner Familie 35 Siehe Landtagsprotokolle, 51. Sitzung, 9.7.1923, S. 1381−1393. 36 Die angefeindete Beamtenrepublik der Regierung Heldt, Ressort-Minister bzw. Ministerpräsident in Sachsen von 1919–1929 (Abschrift, LKArch Dresden, 2/1696, Bl. 7 [alt 16]). Das Originaldokument konnte bisher nicht ermittelt werden. 37 Persönliches. In: Neues Sächsisches Kirchenblatt vom 21.1.1924, S. 23.

292

Konstantin Hermann

sichern. Doch passte dies alles in die allgemeine Entwicklung. Ab Sommer 1924 wurden zahlreiche sozialdemokratische Beamte »abgeräumt«.38 Starke fand anschließend Anstellung als Fürsorger in Waldheim. In Waldheim waren die »kriminellen Geisteskranken« untergebracht, die die Behandlung erschwerten.39

Als Fürsorger in Waldheim Starke gehörte damit einer kleinen Gruppe von Fürsorgern an. 1927 weist der Staatskalender für die Gefangenenanstalten in Sachsen an acht Einrichtungen 21 Fürsorger nach.40 Es waren naturgemäß die Anstaltsgeistlichen selbst, die in den Quellen immer wieder auftreten. So zum Beispiel Johannes Spannaus ­(1892–1934), der 1919 die Hilfsgeistlichenstelle an der Waldheimer Gefangenenanstalt antrat. Die sächsische Regierung favorisierte jedoch staatliche Gefängnisfürsorger, die den Gefängnisgeistlichen gleichgestellt waren. So wurde Spannaus Fürsorger in Waldheim, dann in Hoheneck, Zwickau und wieder Waldheim.41 ­Johann Theodor Hünlich war Fürsorger, der später Anstaltsgeistlicher in Waldheim wurde. In einem längeren Beitrag hatte der ehemalige Gefängnisdirektor Karl August Joseph Grohmann aus Zwickau im »Neuen Sächsischen Kirchenblatt« über die Fürsorger geschrieben. Man teilte im Allgemeinen die Auffassung, dass durch religiösen Glauben am ehesten eine »sittliche Hebung« des Gefangenen zu erreichen wäre.42 Der Fürsorger ist ein vom Strafvollzug, von den Strafbehörden, von Parteien, von der Kirche unabhängiger Berufsarbeiter, der versucht, die Gefangenen und Entlassenen vor einem Rückfall zu bewahren. Mit dieser Auffassung standen Grohmann und die anderen Fürsorger jedoch gegen die immer populärer werdende Ansicht, auch eines Rainer Fetschers, dass Kriminalität erblich sei. Die Fürsorger, so Grohmann in einem Vortrag 1926, dürften angesichts solcher Herleitungen nicht mutlos werden.43 Es widersprach den Grundsätzen des christlichen Glaubens, wenn man nicht wie der barmherzige Samariter 38

Die hausinterne Arnsdorfer Vierteljahreszeitschrift »Unser Blatt« erschien seit Dezember 1919 und wurde vom Rektor herausgegeben. Mutmaßlich von ihm (gekennzeichnet E. Str.) stammt ein Artikel von 1928, »Gedanken über die Beschäftigungsbehandlung«. Da nicht sicher ist, ob der Beitrag von Starke stammt, soll er hier nicht weiter thematisiert werden. Unser Blatt, 35 (1928). Siehe zu Arnsdorf Thomas Metan/Boris Böhm, 100 Jahre Krankenhaus Arnsdorf, ­Dessau-Roßlau 2012, S. 96 f. 39 Einrichtungen auf dem Gebiete der Volksgesundheits- und Volkswohl, 1922, S. 326–334. 40 Vgl. Staatskalender 1927, S. 74. 1925 wurden 18 genannt. Vgl. Staatskalender 1925, S. 58. 41 Vgl. Amtskalender 1936, S. 145. 42 Grohmann, Der Fürsorger und die Frage der kirchlichen und religiösen Versorgung der Strafgefangenen und Strafentlassenen. In: Neues Sächsisches Kirchenblatt vom 4.7.1926, S. 326−330. 43 Vgl. Grohmann, Die Behandlung erblich belasteter Verbrecherischer. In: Neues Sächsisches ­Kirchenblatt vom 19.9.1926, S. 473 f.

Erhard Starke

293

versuchen ­würde, diesen Menschen zu helfen, wie Grohmann und Franke im NSK schrieben.44 Die Bedeutung des Themas wird an der Menge der Beiträge im NSK deutlich. Auch die dazugehörigen Veröffentlichungen wurden vorgestellt. Es ist angesichts dieses Grundverständnisses der Arbeit der Fürsorger kein Wunder, dass sie 1933 schnell in das Blickfeld der Nationalsozialisten gerieten, die in den ersten Jahren nach der Machtübernahme der Vererbungstheorie von Kriminalität großen Wert beimaßen. Die Strafentlassenen- und Gefangenenfürsorge bildete in der Landeskirche ein vieldiskutiertes Thema. Dies lässt sich schon an den dokumentierten Vorträgen zu diesem Thema ablesen.45 Oberregierungsrat Max Fliegel gab 1927 das Handbuch »Die Strafentlassenenpflege im Freistaat Sachsen« heraus, das Bei­träge von Fliegel selbst, von Rainer Fetscher und andere beinhaltete.46 Fliegel war Staatsbeauftragter für die Strafentlassenenpflege in Sachsen und Geschäftsführer des Hauptausschusses des sächsischen Schutzvereins für Strafentlassene. Der Verein war schon 1836 gegründet worden. Die Regierung Wilhelm Buck stellte 1922 einen Staatsbeauftragten für die Strafentlassenenpflege an und ein Jahr später, am 27. März 1923, wurde in Sachsen eine Verordnung zur Gefängnisfürsorge e­ rlassen.47 Mit der Thematik der Resozialisierung vollzog sich in der Landes­ kirche auch eine Beschäftigung mit den Arbeitsinstrumenten dafür. Die Psychologie hielt Einzug in die Arbeit der Pfarrer und Gemeinden; nicht nur bei den ­Konferenzen der Anstaltsgeistlichen.48 Die evangelisch-sozialen Veröffentlichungen nahmen immer wieder Anteil an der Individualpsychologie. Es ist möglich, dass Starke dadurch zu diesem für ihn bestimmenden Thema kam. Die Individualpsychologie war eine sehr junge, moderne Wissenschaft, die bald schon politischen Determinanten unterlag. Der Protagonist war unzweifelhaft Alfred 44 45

Vgl. Franke, Strafentlassene. In: Neues Sächsisches Kirchenblatt vom 20.6.1926, S. 307. Z. B. Oberregierungsrat Pfr. Fliegel, Die Strafentlassenenfürsorge, 10.11.25 in Werdau, 25.2.1926 in Pirna (Amtskalender 1927, S. 125); Pfr. Ranft (Zittau), Wie sorgen wir für die Strafgefangenen? 2.12.1929 Zittau (Amtskalender 1931, S. 148); Pfr. Hünlich (Waldheim), Die kirchliche Stellungnahme zur modernen Strafentlassenenfürsorge, 3.4.1930 in Grimma (Amtskalender 1931, S. 146); Pfr. Mehlhose (Hartha), Die Aufgabe der Psychoanalyse an den Prediger und Seelsorger, 11.12.1930 Leipzig-Land; Pfr. Fichtner (Leipzig), Psychiatrisch-neurologische Grundlagen der Krankenseelsorge, 2.3.1931 Dresden-Land (Amtskalender 1932, S. 148); Pfr. Hünlich (Waldheim), Erlebnisse und Erfahrungen unter Verbrechern, 31.5.1931 Oelsnitz (Amtskalender 1932, S. 162). 46 Vgl. Max Fliegel, Die Strafentlassenenpflege im Freistaat Sachsen, Dresden 1927. In anderer Fassung: Die Strafentlassenenpflege in Sachsen. 2. Handbuch des sächsischen Schutzvereins für Strafentlassene in Dresden, Dresden 1926, das Fetschers Ausführungen nicht enthält. Zu Starke siehe S. 45. 47 Vgl. ebd., S. 4. Starke wird auf S. 49 und 51 erwähnt. 48 So sprach Pfr. Mehlhose (Hartha) zum Thema »Psychoanalyse und Seelsorger« am 21.5.1928 in Leisnig. Auf der Anstaltsgeistlichenkonferenz am 21.5.1928 in Arnsdorf sprach u. a. Pfr. Voigt (Zschadraß) über die »Verwendung psychoanalytischer Methoden in der Irrenseelsorge« (Amtskalender 1929, S. 147).

294

Konstantin Hermann

Adler, dem sich auch Starke anschloss. Alfred Adlers Schüler spalteten sich bald in zwei Gruppen auf: in Marxisten und Nicht-Marxisten. Völlig unbekannt ist hierbei, welche Rolle Otto Rühle für Starke spielte, der 1924 die Marxistisch-individualpsychologische Arbeitsgemeinschaft Dresden gründete. Es ist nicht belegt, dass sich beide überhaupt gekannt haben. Starkes Beziehung zu Adler dürfte eher dafür sprechen, dass er, so wie es auch seiner Parteizugehörigkeit entsprach, Sozialist statt Kommunist war. Allerdings dürfte diese Auseinandersetzung für Starke nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben. Dass Starke sich einen Ruf unter den Individualpsychologen erarbeitet hatte, zeigt die Entscheidung Henry Jacobys, bei Starke in Waldheim ein Praktikum zu absolvieren.49 Edith Freund (Wien) besprach Starkes Aufsatz »Individualpsychologie und Verbrechens­ therapie« in Adlers »Internationaler Zeitschrift für Individualpsychologie« und in Robert Sommers »Allgemeiner ärztlicher Zeitschrift für Psychotherapie und psychische Hygiene«.50 Der Aufsatz war ein Vortrag, den Starke auf dem vierten internationalen Kongress für Individualpsychologie (16. bis 19. September 1927) in Wien gehalten hatte.51 »Die beste Kriminalpolitik ist stets eine gute Sozialpolitik«, so Starke, der die fortschrittliche Resozialisierungspolitik des Freistaats lobte, der sich als erster deutscher Bundesstaat überhaupt mit dem Wohlfahrtsgesetz vom 28. März 1928 die Pflicht zur Strafentlassenenpflege auferlegt hatte. Starke berichtete von seinen Erfahrungen und Erfolgen, aber auch von der Bedeutung, die der Gemeinschaft, der Gesellschaft bei der Reintegration von Strafentlassenen zukomme. Am 14. und 15. September 1927, also unmittelbar davor, fand die Tagung der sozialistischen Individualpsychologen »Arbeiterbewegung und Psychologie« statt, bei der Otto Rühle ein Impulsreferat hielt. Es ist gut möglich, dass Starke diese Tagung gleich mitbesuchte.52 1932 erschien noch einmal ein grundsätzlicher Beitrag Starkes.53 Henry Jacoby war Marxist, während die Leitfigur Alfred Adler sich von den Marxisten Otto Rühle, dessen Frau Alice Rühle-Gerstel und Manès Sperber abgrenzte. Alfred Adler hatte schon 1918 vermutet, dass der Bolschewismus seinen »sozialistisch-fortschrittlichen Inhalt« 49 Vgl. Gisela Deising, Henry Jacoby – ein Leben für eine bessere menschliche Gesellschaft. In: Alfred Levy/Gerald Mackenthun (Hg.), Gestalten um Alfred Adler – Pioniere der Individualpsychologie, Würzburg 2002, S. 119−132, hier 122. 50 Edith Freund [Rezension]. In: Allgemeine ärztliche Zeitschrift für Psychotherapie und psychische Hygiene, Bd. 1, 5. Heft, Mai 1928, S. 364. Die Zeitschrift für Individualpsychologie weist für den 20.4.1929 einen Vortrag von Starke in Mittweida über das Thema »Individual-Psychologie und moderner Strafvollzug« nach. Ebd., 7 (1929), Nr. 3, Chronik 1929. 51 Vgl. Erhard Starke, Individualpsychologie und Verbrechenstherapie. In: Zeitschrift für Individualpsychologie, 6 (1928), S. 96−99. 52 Gerd Stecklina, Otto Rühle (1874−1943), Weinheim 2003, S. 32 f. 53 Vgl. Zur Grundhaltung des staatlichen Gefängnis-Fürsorgers. In: Monatsblätter des Deutschen Reichszusammenschlusses für Gerichtshilfe, Gefangenen- und Entlassenenfürsorge, 1932, S. 13 f.

Erhard Starke

295

verlieren würde.54 Jacoby schrieb, dass er auf Starke bei der Lektüre eines ­Beitrags von ihm in der »Zeitschrift für Individualpsychologie« stieß. Fürsorger in den Gefängnissen gab es nur im »roten Sachsen«. Jacoby schrieb feinfühlig über seine Zeit in Waldheim, wo er die Abende häufig mit Erhard Starke verbrachte.55 Wie Starke in Waldheim gearbeitet hat, ist unbekannt. Es sind jedoch von ihm einige Arbeiten in der Anstaltszeitschrift überliefert. Seine Auffassung zeigt sich auch bei den Wiederherstellungsarbeiten an der spätgotischen Anstaltskirche in Waldheim, die 1928 beendet worden waren. Dabei wurde alles das beseitigt, was an eine Strafanstaltskirche erinnerte; ausgeführt hatten die Arbeiten der Anstalts­ insassen selbst.56

Erhard Starke im NS-Staat Dieses Kapitel ist das kürzeste, was zunächst für ein Buch dieser Konzeption über Pfarrer im Nationalsozialismus merkwürdig erscheint. Aber es zeigt eben den tiefen Einschnitt in Starkes Leben, der 1933 einsetzte und 12 Jahre dauerte. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde Starke unter Anwendung des Berufsbeamtengesetzes entlassen. 1933 hatte Starke in Plauen im Vogtland seine Wohnung, verzog dann nach Dresden. Ihm war mit der Entlassung aus dem Staatsdienst jede weitere Wirkung auf seinem Gebiet verwehrt. 1936 erschien sein Name ­nochmals in der »Zeitschrift für Individualpsychologie«.57 Die Landeskirche bot ihm zunächst keine Heimstatt, er bezog jedoch eine Art Rente. Ob ihn die Kirche mit Aufträgen bedachte, wie sie es bei anderen Pfarrern tat, ist unbekannt. Dagegen sprechen dürfte Starkes Dienstaustritt 1923. Seit Ende Dezember 1938 war Starke wieder im kirchlichen Dienst tätig, wo ist heute ­allerdings unbekannt. In Riesa versah Starke auch zeitweilig Pfarrtätigkeiten. Wie es dazu kam, ist aufgrund der Quellensituation nicht mehr aufzuklären. Starke wurde im Februar 1939 Vakanzvertreter in Radeburg. Der dortige Pfarrer Hans Felix Schwinger war wegen Krankheit beurlaubt worden.58 Diese Regelung ­wurde bis 1940 verlängert. Eigentlich sollte Starke den zu einer Militärübung einberufenen Vikar Schuhknecht in Dresden-Loschwitz vertreten, was mit Schwingers fortwährender Krankheit nicht mehr möglich war. Zu den Aufgaben der ­Radeburger 54 55

Ebd., S. 123. Henry Jacoby, Von des Kaisers Schule zu Hitlers Zuchthaus. Erlebnisse und Begegnungen einer Jugend links-außen in der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 1980, S. 143 f. Jacoby hat zahlreiche wertvolle Schriften zur Geschichte der Individualpsychologie veröffentlicht. 56 Vgl. Amtskalender 1928, S. 149. 57 Amtskalender 1936, S. 163. 58 Vertretungsdienste 1925–1939. Vgl. Schreiben Radeburgs vom 2.10.1939 sowie 21.2.1939 (Pfarr­archiv Radeburg, 732, unpag.). Schwinger hisste mit Siegfried Manys 1945 die weiße ­Fahne auf dem Kirchturm und lief mit einigen anderen Personen den Sowjets entgegen.

296

Konstantin Hermann

Kirche gehörte auch die Gefangenenseelsorge beim Amtsgericht ­Radeburg, wo zum Beispiel 1938 75 Gefangene untergebracht waren. Im Dezember 1939 unterzeichnete das erste und einzige Mal Starke die Radeburger Gemeindeblätter. Über sein Wirken in Radeburg ist kaum etwas zu ermitteln. ­Allerdings ist bekannt, dass Starke am 6. November 1939 beim Christlichen Frauendienst über das Thema »Aus dem Leben eines Gefängnisseelsorgers« referierte.59

Nach 1945: als Oberregierungsrat Michael Merchel wies auf Starkes Wirken nach 1945 im Sinne des Verhältnisses von Staat und Kirche hin und bezeichnete ihn als »besonders interessante Persönlichkeit«.60 Merchel führte auch den erhaltenen Briefwechsel zwischen Starke und dem Ministerpräsidenten von Sachsen, Max Seydewitz, als wichtige Quelle an. Starkes Wohnung in der Zwickauer Str. 12 in Dresden wurde durch den Bombenangriff am 13. und 14. Februar 1945 zerstört. Seine neue Heimstatt wurde zunächst das »Landhaus Helena« auf der Hofestraße in Schleiz.61 ­Kurze Zeit darauf war er im pfarramtlichen Dienst in Freital-Hainsberg tätig und wohnte dort auf der Kirchstraße 12. Zunächst blieb Starke in Hainsberg als Pfarrvikar tätig. Sicher ist, dass er wieder in die SPD eintrat und alte Beziehungen reaktivierte. Er erklärte gegenüber der Landeskirche, kein Mitglied der NSDAP und ihrer Gliederungen gewesen zu sein, was der geistliche Vertrauenskreis am 17. Oktober 1945 bestätigte.62 Starke betonte, dass er als staatlicher Gefängnisfürsorger 1933 politisch gemaßregelt worden war.63 Als Zeugen führte er in seiner Personalakte den Landgerichtsdirektor und Minister a. D. Alfred Neu und den Oberlandesgerichtspräsidenten Wilhelm Weiland an. Starke war lediglich in der NS-Volkswohlfahrt Mitglied gewesen. Starke wird das Ende des NS-Staates genutzt haben, um den pfarramtlichen Dienst wieder zu verlassen, ähnlich wie 1923, und in den Staatsdienst überzutreten. Wie hier die genauen Prozesse verlaufen sind, ist noch unbekannt. Die Landesverwaltung Sachsen bat am 17. Oktober 1945 das Landeskirchenamt, Starke einen Monat für die Verwendung im Gefangenenanstaltsdienst in der Art eines Landespädagogen für den Strafvollzug zu beurlauben, da in Bautzen der Strafvollzug eingerichtet werden sollte, Starke sei als »erfahrener Strafvollzugs59 60 61 62 63

Abkündigung vom 5.11.1939 (Pfarrarchiv Radeburg, 551, Abkündigungen, unpag.). Michael Merchel, Zur Kirchen- und Religionspolitik in Sachsen von 1945−1952 im Spiegel der Bestände des Sächsischen Hauptstaatsarchivs. In: Archivmitteilungen, 43 (1994) 3, S. 84. Karte Starke an das Landeskirchenamt vom 24.3.1945 (Sächsisches Staatsarchiv – Hauptstaatsarchiv Dresden, 19117; LKArch Dresden, 2/1696). Vgl. Beschluss vom 17.10.1945 (LKArch Dresden, 2/1696, Bl. 2). Vgl. Starke an Superintendentur Dresden-Land vom 11.11.1945 (ebd., Bl. 3).

Erhard Starke

297

praktiker« dafür gut geeignet.64 Das Landeskirchenamt stimmte der Bitte zu, die zeigt, dass Starkes Ruf aus den 1920er-Jahren noch bestand. In einer Aktennotiz vermerkte Lau den Besuch Starkes am 30. Oktober 1945: »Bei mir erscheint Pfarrer a. D. Starke, dienstlich angesetzt in Hainsberg/Sa., um mir mitzuteilen, dass er zum Oberregierungsrat ernannt worden ist und den Strafvollzug in Sachsen organisieren soll. Die Bitte der Landesjustizverwaltung, ihn auf einen Monat zu beurlauben, ergänzt er durch die eigene Bitte, ihm drei Monate unbezahlten ­Urlaub zu erteilen, dann aber ihn aus dem landeskirchlichen Hilfsdienst wieder ausscheiden zu lassen. Pfarrer Starke spricht aus, dass er schon regulär zum Oberregierungsrat ernannt worden sei, aber nicht gern sofort die Brücken abbrechen möchte.«65 Lau ging aber wohl von einem endgültigen Quittieren des ­Dienstes aus, denn er schrieb an Kotte, dass Starke bis zum 31. Dezember beurlaubt werden solle, aber dann dessen Ausscheiden anzuordnen sei. Starke trat am 1. November in die Dienste der Landesverwaltung ein.66 Welch wichtige Funktion Starke innehatte – und was auch Merchels Befund entspricht –, zeigt sein Leitartikel in der sozialdemokratischen »Volksstimme« vom 12. Dezember 1945 »Verbrechen und Strafe«, der noch explizit in der Tradi­tion seiner Arbeit als Anstaltsfürsorger in der Weimarer Republik steht.67 Starke verband dies allerdings mit dem Runderlass der Sowjetischen Militäradministra­ tion in Deutschland (SMAD) vom 16. Oktober 1945 zum Strafvollzug, der nun auch die sowjetischen Vorstellungen von Rechtspflege integrierte. Für Starke stand fest, dass sich bei jedem Kriminellen die Gesellschaft mitverantwortlich gemacht habe. Er stellte, wie schon bei seiner praktischen Arbeit 20 Jahre zuvor, den Fürsorger, den Erwachsenenerzieher in den Vordergrund.68 Tatsächlich griff die L ­ andesverwaltung Sachsen zunächst auf diese Erfahrungen der 1920er-­Jahre zurück und entließ zum 31. Dezember 1945 alle Anstaltsgeistlichen aus dem Staatsdienst, da, wie vor 1933, in der SBZ die Seelsorge den jeweiligen Glaubensgemeinschaften überlassen wurde. Geistliche würden wie in der Reformpädagogik für Kriminelle nicht im Anstaltsdienst tätig sein. Schon vorher hatte man die Nationalsozialisten wie den Waldheimer Anstaltspfarrer Viereck entlassen.69 Die Kirche protestierte zwar gegen die Entlassungen, aber hatte letzten Endes keine Möglichkeiten. 64 65 66

Schreiben vom 17.10.1945 (ebd., Bl. 4). Ebd., Bl. 6. Vgl. Personalakte Starke (Sächsisches Staatsarchiv – Hauptstaatsarchiv Dresden, 19117, Personalunterlagen). 67 Erhard Starke, Verbrechen und Strafe. In: Volksstimme vom 12.12.1945, S. 1. 68 Siehe zu Starke auch Jörg Müller, Strafvollzugspolitik und Haftregime in der SBZ und in der DDR, Göttingen 2012, S. 32. 69 Vgl. Martin Habicht, Zuchthaus Waldheim 1933–1945, Berlin 1988, S. 40; Notiz Kotte vom 18.8.1945 (LKArch Dresden, 2/2084). Viereck wurde 1946 Vikar in Meerane.

298

Konstantin Hermann

Zum 1. Juli 1946 wurde Starke, der in der Proschhübelstraße 4 in Dresden sein Büro hatte, an die Strafanstalt Bautzen versetzt. Wann Starke aus dem Dienst ausschied, ist unbekannt. Starke gab auch als Pensionär sein Wissen weiter, wie es sein ganzes Leben ausfüllte. In den 1950er-Jahren hielt er an der Volkshochschule Dresden einige Kurse ab, die viel über sein Denken aussagen und für einen Pfarrer i. R. durchaus bemerkenswert sind: über die Sowjetpsychologie (Wintersemester 1952/53, Sommersemester 1953, Wintersemester 1953/54), über Iwan P. Pawlow, über die Menschenkenntnis (Sommersemester 1954), eine Einführung in die Psychologie, über Denken, Gefühl und Wille (beruhend auf Pawlow) sowie über Menschenkenntnis und Menschenbehandlung (Wintersemester 1954/55). Die letzteren beiden bot Starke auch 1955 an, dazu noch Angewandte Psychologie. Im Wintersemester 1955/56 folgte, neben den beiden genannten aus dem Wintersemester 1954/55, ein Kurs über Psychotherapie. Noch politischer war das Sommersemester 1956, als der ehemalige Pfarrer eine Einführung in die marxistische Philosophie gab, einen Kursus zum Thema Materialismus und Idealismus sowie über den dialektischen Materialismus allgemein anbot. Im Wintersemester 1956/57 redete Starke über Denken, Gefühl und Wille, über die psychische Entwicklung des Menschen und über gesunde Nerven – gesunder Mensch, im Sommer­ semester 1957 griff er neben dem Thema Denken, Gefühl und Willen wieder das Thema Pawlow auf, das ebenso 1958/59 zusätzlich zu »Psychologische Probleme« wiederholt wurde. Im Wintersemester 1959/60 wird Starke letztmals als Dozent der Volkshochschule genannt, als er seinen »Dauerbrenner« Denken, Gefühl und Wille fortführte und außerdem »Entschleierte Geheimnisse des seelischen Lebens« anbot, das von Agnostizismus, Unterbewusstsein, von Instinkten und Trieben, über Schlaf und Traum und über Suggestion und Hypnose handelte. Mit den letzteren Themen war Starke wieder bei der Mode der 1920er-Jahre angekommen, die von parapsychologischen Themen gekennzeichnet war. Möglich ist, dass ihm der Kurs politische Schwierigkeiten brachte. Starke referierte in der ersten Veranstaltungsreihe 1952/53 über die Unzulänglichkeiten der bisherigen bürgerlichen Psychologie und beabsichtigte, den Hörern den Weg »für eine marxistische Psychologie« aufzuzeigen. Allein die sowjetische Psychologie könne »den Menschen in seiner wahren Wesenheit wissenschaftlich erschließen«, so Starke.70 In seiner 1954/55er Veranstaltungsreihe »Denken, Gefühl und Wille –

70 Vorlesungsprogramm WS 1952/53, S. 13; Sommersemester 1953, S. 18 f.; Wintersemester 1953/54, S. 17; Sommersemester 1954, S. 16; Wintersemester 1954/55, S. 21; Sommersemester 1955, S. 16 f.; Wintersemester 1955/56, S. 33; Sommersemester 1956, S. 29 f.; Wintersemester 1956/57, S. 49; Sommersemester 1957, S. 37; Wintersemester 1957/58, S. 45; Sommersemester 1958, S. 38 f.; Wintersemester 1958/59, S, 27 f.; Sommersemester 1959, S. 20; Wintersemester 1959/60, S. 24.

Erhard Starke

299

Temperament und Charakter« ging Starke ebenso auf die marxistische Psychologie ein. 1956, in dem Jahr, in dem sich Starke deutlich politischer Philosophie zuwandte, referierte er auch über »Philosophische Irrlehren der Gegenwart«, unter die er Nietzsche, Sartre und andere subsumierte. Nach 1960 ist über seine Tätigkeiten nichts mehr bekannt. Am 24. Februar 1962 schrieb er an Bredendiek: »Jetzt ­befinde ich mich endgültig im Ruhestand«.71 Seine Tochter Magdalene Reitzenstein, wohnhaft in der Hofer Straße 22 in Schleiz, teilte dem Landeskirchenamt mit, dass ihr Vater 1975 verstorben war. Sein letzter irdischer Wohnort: Dresden, Fetscher-Straße 111, Clara-Zetkin-Heim.72

71

Starke an Bredendiek am 24.2.1962 (Zentral- und Landesbibliothek Berlin, NL Walter Bredendiek, Ordner Nr. 3 Biographien Religiöser Sozialisten). 72 Vgl. Personalakte Starke 1945–75 (Sächsisches Staatsarchiv – Hauptstaatsarchiv Dresden, 19117; LKArch Dresden, 2/1696).



Gerhard Reuter Johannes Grosse: Lehrer, Pfarrer, Querdenker in vier Gesellschaftsordnungen

»Glaubst du an die Auferstehung?« hatte Grosse am Ende seines Lebens einen Freund gefragt. Und als dieser die Stellen aus dem Evangelium zitierte, entgeg­nete er: »Das weiß ich selber, was dort steht. Ich will von dir wissen, was du glaubst.« – Grosses Grablegung fand der Autor im Juni 2011 am Hutberg in Herrnhut in der Lausitz. Nach der Moosentfernung war zu lesen: »Friedr. August / Johannes / Grosse / geboren am / 16. September 1890 / in Leipzig / heimgegangen am / 30. September 1977 / in Eisenach / Sei getrost, deine Sünden / sind dir vergeben / Matth. 9,2«. In Reih und Glied, geordnet nach dem Begräbnisdatum, liegen mit gleichen ­Abmessungen die Grabtafeln der Verstorbenen, links am Berg die Brüder, rechts die Schwestern. Die sterblichen Überreste sind längst erneut dem Kreislauf der Natur eingefügt. Auferstehung? Dass der Mensch als Einheit von materieller, geistiger und spiritueller Ebene existiert und dass die Auferstehung der real ­existierenden letzteren Ebene zugeordnet werden muss, hatte Johannes Grosse als Pädagoge und Theologe 1945 nach Kriegsende eindrucksvoll vermittelt. Noch kurz zuvor war den Schülern beigebracht worden, dass die christlichen Lehren angeblich im Widerspruch stehen zu den Erkenntnissen moderner Wissenschaften. Die Erziehung zum Patriotismus als Voraussetzung für den »Endsieg durch den totalen Krieg« stand im Vordergrund. Nun war alles genommen worden, die Väter, die materielle Basis für das Überleben, das »Vaterland«. Man war noch einmal davongekommen, jeder musste zu sich selbst finden. Als Oberstudiendirektor der Greifenstein-Oberschule Thum im Erzgebirge hat Johannes Grosse dabei nachhaltig geholfen.1

1

Gerhard Reuter, Johannes Grosse – ein außergewöhnlicher Lehrer im Erzgebirge. In: Glückauf – Zeitschrift des Erzgebirgsvereins e.V., 114 (2003), S. 232 f.

302

Gerhard Reuter

Wer war dieser Johannes Grosse? Pfarrer, Lehrer – oder sowohl als auch? ­Hinweise auf ihn findet man eher selten in der Literatur. In der vorliegenden Biografie wurden neben eigenen Publikationen2 und alten Tagebuchnotizen des Autors aus der Schulzeit Informationen aus Publikationen von Erwin Heretsch und Kurt Meier sowie aus einer umfangreichen Dokumentation, die Gerd von der Oelsnitz im Selbstverlag erstellt hat, berücksichtigt.3 Außerdem wurde eine maschinenschriftlich vorliegende Recherche von Adalbert Brauer ausgewertet.4

Die Herkunft und Familie Will man versuchen, Johannes Grosse gerecht zu werden, so ist die Berücksichtigung des sozialen Gefüges seiner Herkunft von besonderer Bedeutung. ­Berufsbedingte Beziehungsgeflechte waren von jeher charakteristisch für familiäre Bindungen. Waren es im frühen Erzgebirge, als das Wissen um geologische Grundlagen noch Familienbesitz war, die Verbindungen zwischen den Bergmeisterfamilien und die Bindung am fränkischen Erbrecht bei der Gattenwahl in den Familien der Bergbauern, so ist bei den Großkaufleuten der Gründerzeit die Kaufmannsgilde, ihre juristische Absicherung und ihr Wohlstand die Basis für familiäre Kontaktmöglichkeiten mit akademischen Kreisen.5 Am Beispiel der Vorfahren von Johannes Grosse wird die Bedeutung der Handwerkerzünfte als Voraussetzung für die Knüpfung ehelicher Bindungen deutlich. 2 3

4

5

Vgl. Gerhard Reuter, Genosse Dr. Johannes Grosse, Lehrer und Pfarrer, Herrnhuter und Querdenker, seine Schüler und ihre Lehrer im Erzgebirge, seine Ahnen in Leipzig. In: Familie und Geschichte, 20 (2011), S. 346–353. Vgl. Erwin Heretsch, Johannes Grosse. In: Zwischen Gewalt und Gnade. Katholisches Hausbuch »Jahr des Herrn«, 41 (1992), S. 184–192; Erwin Heretsch, Johannes Grosse. In: ders., Gegen den Strom. Notizen eines DDR-Christen, Leipzig 1998, S. 56–71; Kurt Meier, Kirche und Drittes Reich, Zeiterfahrung und Forschungsschwerpunkt. In: Dietrich Meyer (Hg.), Kirchengeschichte als Autobiographie, Düsseldorf 1999, S. 143–228, hier 164–167; Gerd v. d. Oelsnitz, Biographisches über Dr. Grosse, Germering im Herbst 2003 im Selbstverlag; bei allen Beteiligten und im ­Archiv der Brüdergemeine Herrnhut einzusehen. G. v. d. Oelsnitz hat als ehemaliger Schüler von J. Grosse in Nossen umfangreiches Archivmaterial gesammelt, das in der vorliegenden Arbeit berücksichtigt worden ist. Vgl. Ein begnadeter Pädagoge, Zum Andenken an Johannes Grosse, *16.9.1890 in Leipzig, †30.9.1977 in Eisenach, 1977. Maschinenschriftliches Manuskript ohne Autorenbezeichnung (vermittelt über die ehemaligen Schüler und Freunde von J. Grosse, Erhart und Ursula Stopp, Ehrenfriedersdorf/Erzgb. – Autor nach G. v. d. Oelsnitz, 2003: Dr. Adalbert Brauer, ehem. ­Schüler von J. Grosse; Spitzname Max). Vgl. Wolfgang Lorenz, Heiratspolitik in der Annaberger Oberschicht im 16. Jahrhundert. In: Familie und Geschichte, 5 (1996), S. 289–299; Gerhard Reuter, Die Röhling-Familie und das Erfahrungs-Leistungs-Beziehungs-Geflecht in einer erzgebirgischen Bergmannsfamilie. In: ­ ­Familie und Geschichte, 15 (2006), S. 385–392; Gerhard Reuter, Problemlösungen bei der Industrialisierung des Erzgebirges: Lina Brückner geb. Reuther, ihre Bauern- und Handwerker-Vorfahren. In: Familie und Geschichte, 19 (2010), S. 74–91.

Johannes Grosse

303

Die ermittelte Ahnentafel beginnt im 18. Jahrhundert mit Christoph Große, der östlich von Leipzig in Lübschütz (Pfarrei Püchau) Gutsbesitzer ­ war und als Pferdner mit eigenen Pferden noch Frondienst zu leisten hatte. Seine ­beiden Söhne heirateten in der nordöstlich von Leipzig gelegenen Stadt Taucha ­Bürgerstöchter und wurden somit als Handwerker Stadtbürger: Johann Gottlob Große war Tischlermeister sowie 1803 auch zusätzlich Küster von ­ Taucha – ­Johann Gottfried Große war Schneidermeister. Im Beziehungsgeflecht ­ergab es sich, dass ­Christian Gottlob Große, Sohn des Tischlermeisters, als Organist die Organistentochter Johanne Eleonore Teichmann in Taucha heiratete und Amtsnachfolger seines Schwiegervaters wurde. Ihr ältester Sohn Karl Gottlob Große (1806–1860) hat durch Gründung und Leitung einer Internatsschule wesentlichen Einfluss auf die Volksbildung in Sachsen genommen. Als bereits bekannter Biograf hat er zusätzlich das im 19. Jahrhundert besonders ­beachtete zweibändige Geschichtswerk über die Stadt Leipzig geschrieben.6 Nach ihm wurde in seiner Heimatstadt Taucha die Karl-Große-Straße benannt. Für Dr. Johannes Grosse könnte er Vorbild gewesen sein. Der zweite Sohn des Gutsbesitzers, der Schneidermeister Johann ­Gottfried Große, zu dessen Nachkommen auch Dr. Johannes Grosse zählt, war mit ­Christiana Sophia Freund verheiratet, die einem der ältesten Bürgergeschlechter von Taucha mit dem Beruf der erblichen Braumeister entstammte: Franz Freund, Braumeister 1661, sein Sohn Johann (1662–1715), dessen Sohn J­ ohann ­Christian (1697–1771), der Vater von Christiana Sophia Freund, die nun mit dem ­Schneidermeister Johann Gottfried Große verheiratet war. Ihre Tochter ­Christiana Dorothea heiratete den Schneidermeister Christian Gottfried F ­ iebiger. Das ­Beziehungsgeflecht in der Schneider-Innung trug wahrscheinlich ebenfalls dazu bei, dass auch der Bruder von Christiana Dorothea, Johann Carl Große, die Tochter des Schneidermeisters Gottfried Petsche in Möckern, F ­ riedericke Petsche, heiratete. Sie betrieben in Leipzig eine Großwäscherei mit Trockenplatz. Ihr Sohn Wilhelm August Große behielt den Trockenplatz, arbeitete jedoch hauptberuflich im Buchhandel. Sein Sohn Carl Friedrich August Große wurde Prokurist einer Leipziger Seidengroßhandlung. Er war vielseitig interessiert, auch an Mathematik sowie Astronomie und heiratete Marie Lydia ­Frohberg, Tochter eines Textilfabrikanten, der offensichtlich aus Roßwein in Sachsen nach ­Leipzig-Gohlis gezogen war. Für die Heirat dürfte wiederum die berufliche ­Verbindung eine nicht zu übersehende Voraussetzung gewesen sein. Der Vater von Marie Lydia Frohberg war jedoch bereits vor deren Hochzeit verstorben. Ihr Sohn Johannes Friedrich August Grosse wurde am 16. September 1890 in Leipzig geboren. Obwohl er bereits mit fünf Jahren seinen Vater verlor, blieb ihm dessen 6

Vgl. Karl Große, Geschichte der Stadt Leipzig von der ältesten bis auf die neueste Zeit, 2 Bände, Leipzig 1839 und 1842.

304

Gerhard Reuter

soziale Herkunft bewusst, hat ihn mit dem Schicksal der »kleinen Leute« verbunden und prägte sein soziales Gewissen. Wesentlich für seine spätere Entwicklung war darüber hinaus die von den Eltern der Mutter überkommene Bindung an die Herrnhuter Brüdergemeine.

Ausbildung und Studium Nach dem 1899 erfolgten Wohnortwechsel seiner Mutter von Leipzig nach ­Herrnhut wurde dort der christliche Glaube von Johannes Grosse nachhaltig durch den Schulbesuch und später durch die Ausbildung im Pädagogium der Brüdergemeine in Niesky geprägt. Nach Besuch des Carola-Gymnasiums in Leipzig erfolgte dort 1911 bis 1914 auch das Studium der Theologie, Geschichte und Philologie mit Examina: Höheres Lehramt und Theologie. Als seine Lehrer nannte er die Professoren und Dozenten Paul Althaus d. Ä., Paul Barth, Ottmar Dittrich, August Fischer, Caspar Gregory, Hermann Guthe, Albert Hauck, G ­ eorg Heinrici, Heinrich Hermelink, Ludwig Ihmels, Otto Kirn, Rudolf Kittel, Rudolf Kötzschke, Karl Lamprecht, Friedrich Lipps, Carl Paul, Arthur Prüfer, Franz Rendtorff, Nathan Söderblom, Karl Thieme, Johannes Volkelt, Ernst Windisch, Wilhelm Wundt und andere. Die enge Bindung an Herrnhut zeigt die Dissertation von Johannes Grosse »Studien über Friedrich von Watteville«, einem Jugendfreund und langjährigen Mitarbeiter des Grafen v. Zinzendorf in Herrnhut.7 Wattevilles Sohn Johannes heiratete 1746 Benigna, die Tochter des Grafen v. Zinzendorf. Mit dieser Dissertation wurde Grosse als einer der letzten Schüler des international bekannten, jedoch recht unterschiedlich beurteilten Historikers Karl Lamprecht8 1914 zum Dr. phil. promoviert. Soziale Herkunft, Bindung an die Herrnhuter Brüdergemeine sowie der Einfluss seines Lehrers Lamprecht fanden nachhaltig ihre Reflexion in der späteren Verhaltensweise von Johannes Grosse. Nach dem Studium war Grosse zunächst Lehrer an der Missions-Knabenanstalt der Brüdergemeine in Kleinwelka bei Bautzen und am Johannisstift in ­Berlin-Spandau. Im Frühjahr 1915 wurde er Soldat, später Unteroffizier im 7 8

Johannes Grosse, Studien über Friedrich von Watteville, Dissertation an der Universität Leipzig 1914 (einsehbar im Archiv der Evang. Brüderunität Herrnhut). Auf der Suche nach einer neuen Methode hatte Karl Lamprecht gefordert, eine seinerzeit übliche Geschichtsschreibung, die nur die politische Seite der Geschichte erfasste, zu ersetzen durch eine Kulturgeschichte, die soziale, wirtschaftliche, politische und geistige Erscheinungen gleichermaßen berücksichtigen sollte. Dies führte zu dem seit 1891 erbittert geführten Methodenstreit (»Lamprechtstreit«), der Anfang 1933 in der Forderung kulminierte, die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte von der deutschen Universität gänzlich zu verbannen.

Johannes Grosse

305

­ rsten Weltkrieg (Westfront, Grabenkrieg in Flandern). 1918 kommandierte E man G ­ rosse als Lehrer nach Prischib bei Melitopol in die Nähe des Asowschen Meeres in die Ukraine an ein deutsches Mädchengymnasium im Zentrum des deutschen Siedlungsgebietes aus dem 19. Jahrhundert ab. Eine besonders enge Verbindung zur Brüdergemeine Herrnhut entstand am 26. Februar 1916 durch seine Heirat mit Martha Hedwig Elßner, Tochter des Sägewerkbesitzers Edmund Elßner in Niederruppersdorf bei Herrnhut, der mit Hulda geb. Eifler verheiratet war. Stets hatten seine Freunde den Eindruck, dass beide, »Häsel und Hansel« genannt, auch in späteren Jahren zwar kinderlos, ­jedoch sehr glücklich verheiratet waren. Nach Kriegsende legte Grosse 1918 sein Erstes und 1920 in Dresden sein ­Zweites Theologisches Examen ab. Zugleich berief ihn das Ministerium 1919 zunächst als Oberlehrer, dann als Studienrat und Studiendirektor an die neu gegründete Verbandsrealschule, später Oberrealschule Thum/Erzgebirge, an ­ ­deren Aufbau er maßgeblich beteiligt war.9

Als Lehrer in Thum Grosse engagierte sich begeistert und begeisternd mit viel Temperament und ­gediegenem Fachwissen als Pädagoge, wurde Gründer und Vorsitzender des »Thumer Arbeiterbildungsvereins«, zu dem sich 15 Städte und Dörfer zählten. Er war Gründer und Leiter der »Ehrenfriedersdorfer/Thumer Volkshochschule«, einem Volkshochschulverband mehrerer Erzgebirgsgemeinden. Er organisierte den Bau des Arbeiterjugendheims in Thum mit dem Ziel, ein Zentrum zu schaffen, wo sich »Mädchen und Jungen zu Heimabenden treffen, sich politisch weiterbilden, ihre Probleme diskutieren oder sich bei Musik, Volkstanz und Laienspiel er­freuen können«. Mit wechselhafter Geschichte fand das Gebäude bis vor wenigen Jahren noch als »Jugendclub Thum« Verwendung. Bei Grosse standen zwei Lebensaufgaben im Vordergrund: Er wollte die Ärmsten der Bevölkerung, insbesondere die ­Arbeiter und ihre Kinder am modernen Bildungswesen, an den Kulturgütern teilhaben lassen, und er wollte die Schüler aus eigenem Kriegserleben zum Pazifismus, zum Hass gegen Terror und Krieg erziehen. So publizierte er 1923 unter dem Pseudonym »Tronje« die Broschüre »Hagen im Weltkrieg«, eine Anklage gegen Krieg und Heldenverehrung, vulgär pazifistisch mit Antipathie

9

Die zunächst sechsstufige höhere Lehranstalt für Jungen und Mädchen wurde von einem Schulverband der Städte und Gemeinden des Greifensteingebietes gegründet, zu denen neben Thum insbesondere die alten Bergstädte Ehrenfriedersdorf und Geyer sowie Jahnsbach, Herold und Gelenau zählten. Später gesellten sich weitere Gemeinden dazu. 1938 wurde die Lehranstalt in eine Oberrealschule mit Abitur als Abschluss umgewandelt.

306

Gerhard Reuter

gegenüber dem verbreiteten Richard-Wagner-Kult.10 Bereits 1920 war er Mitglied der SPD geworden, um sich für seine Ziele eine politische Basis zu schaffen, und er ­wurde später in Thum sozialdemokratischer Stadtrat und Stadtverordneter. Dabei verstand er sich als christlicher Sozialist, nicht als Marxist, forderte Gemeinschaftssinn statt Klassenkampf. Durch gemeinsame Kirchenbesuche versuchte er, der weitgehend kirchenfremden Arbeiterjugend die Bedeutung der Kirche zu übermitteln. Sein Wahlspruch war: »Der beste Christ ein Sozialist, der beste So­zialist ein Christ.« An vielen seiner gut organisierten Bildungsfahrten, die kreuz und quer durch Deutschland und ins Ausland führten, konnten sich jedoch aus ­finanziellen Gründen nur wenige Schüler beteiligen. Besonders bekannt geworden ist seine 1927, von der Schulbehörde genehmigte große Orientreise ins »Morgenland«, nach Ägypten und in das damals unter englischer Mandatsherrschaft stehende Palästina. Als Anhang eines Jahresberichts für die Realschulkommission berichtete er über diese Reise in einer Druckschrift als allgemeinverständliche Abhandlung in der ihm eigenen lebhaften und phantasievollen Kunst des Erzählens, fundiert durch sein theologisches, kulturgeschichtliches und geografisches Wissen.11 In seinem nicht selten recht prüden Umfeld mag es skandalös gewesen sein, dass Grosse Angehöriger eines Nudistenvereins war. Provoziert durch die engen Wohnverhältnisse in zahlreichen Großstadtrevieren, war eine neue Gesundheitsvorstellung entstanden, Bewegung an der frischen Luft wurde propagiert, die Bürger sollten zurück zur Natur geführt werden. In der Förderung der deutschen Wander- und Jugendherbergsbewegung wurde er unterstützt durch seinen Kollegen Dr. Vaugk. Sein Schüler Hans Brückner, ein Onkel des Autors, hat begeistert von ihm und von Dr. Johannes Grosse berichtet. Grosse hat stets gewarnt vor einer Mitgliedschaft in den nationalsozialistischen Organisationen, er war ein ausgesprochener Querdenker. Rechtsgerichtete Kreise monierten seinen Religionsunterricht als nicht kirchlich genug. Vorträge in der Volkshochschule indes standen im Widerspruch zur marxistischen Bildungstätigkeit, die von der SPD gefordert wurde. Als »Schädling der Partei« b ­ ezeichnet, erfolgte 1928 sein Austritt.12

10 Johannes Grosse, Synonym Tronje, Hagen im Weltkrieg, Weinböhla 1923. 11 Johannes Grosse, Vom Morgenlande. Unterrichtliche Auswertung einer Orientreise, Anhang eines Jahresberichts für die Realschulkommission, 1927. Die Druckschrift erhielt der Autor von einem ehemaligen Mitglied des »Arbeiterbildungsvereins« aus Ehrenfriedersdorf. 12 SPD-Austritt 1928 (Sächsisches Staatsarchiv – Hauptstaatsarchiv Dresden, Nr. 525/58, Bl. 48 f.).

Johannes Grosse

307

In der Zeit des Nationalsozialismus Obwohl von seinem Vorgesetzten als bester Lehrer der Schule bezeichnet,13 wurde er 1933 wegen politischer Untragbarkeit vom NSDAP-Regime aus dem Schuldienst entlassen. Äußerer Anlass war seine unter Pseudonym »Tronje« 1923 publizierte Broschüre »Hagen im Weltkrieg«, die nach 1933 auf den Tisch des Reichsstatthalters und Gauleiters Martin Mutschmann lanciert worden war. Als untragbar wurde Grosse mit einer Minimalpension aus allen Ämtern entlassen. Da er als ausgewiesener Gegner des Nationalsozialismus unter Kontrolle der Gestapo stand, ist es nicht verwunderlich, dass aus dieser Zeit kaum schriftliche Unterlagen aufzufinden sind. Im Vordergrund stand zunächst die Notwendigkeit, den Lebensunterhalt abzusichern. Der Versuch des Ehepaars, als Hausierer zu arbeiten, um Kurzwaren zu verkaufen, endete rasch wegen nicht ausreichender Rentabilität. Die Freizeitbeschäftigung von Johannes Grosse, Zeichnungen und Gemälde anzufertigen, wurde als Broterwerb eingesetzt. Fotovorlagen und Postkarten wurden kopiert und an Freunde und Bekannte verkauft. Die Einnahmequelle war ebenfalls nur von kurzer Dauer. In dieser großen finanziellen Not war die Tragfähigkeit eines traditionellen Familienverbandes von entscheidender Bedeutung. Die Eltern und Geschwister seiner Frau, die Familie Elßner, waren Besitzer eines holzverarbeitenden Betriebs mit Niederlassungen in Herrnhut und Umgebung. Johannes Grosse erhielt eine Anstellung mit Ganztagsbeschäftigung im Büro des Sägewerks in Ruppersdorf bei Herrnhut. Die Verwandten bauten ihm dort ein kleines Holzhaus. Die Familie Elßner konnte sich zwar nicht immer mit den politischen und persönlichen Äußerungen und Verhaltensweisen von Johannes Grosse identifizieren. Es gab respektvolle Akzeptanz bis hin zu Antipathie. Dennoch wurde ein erträgliches Miteinander aufgebaut, das mit der nächsten Generation sogar noch ausgebaut wurde. In diesem Zusammenhang ist insbesondere sein Neffe Dr. Karl-Edmund Elßner, Woltersdorf bei Berlin, zu nennen, der dann von ihm auch als Nachlassverwalter eingesetzt wurde. Grosse berichtet, dass er in der Nazi-Zeit wiederholt Verhören, Schikanen und Ermahnungen durch die Gestapo ausgesetzt war, dies offensichtlich besonders in der Zeit, als das Sudetenland annektiert worden war (1938). Die Herrn­huter hatten ohnehin seit ihrer Gründung durch Graf Zinzendorf ein besonderes historisches Verhältnis zu ihren deutschsprachigen Nachbarn in Böhmen. Nicht zuletzt als politische Vorsichtsmaßnahme lebte das Ehepaar Grosse weitgehend zurückgezogen in ihrem Haus in Nieder-Ruppersdorf in der Großhennersdorfer Str. 28. Fremde Besuche empfingen sie ungern. Hin und wieder war Grosse in dieser Zeit Aushilfsgeistlicher in der Umgebung von Herrnhut (circa 60 Dienste in zwei

13

Vgl. Beurteilung von J. Grosse durch Schuldirektor Dr. Günther (ebd., Bl. 158 f.).

308

Gerhard Reuter

Jahren) sowie Sprachlehrer für Latein und Griechisch am theologischen ­Seminar in Herrnhut. 1944 erhielt er eine Anstellung in der benachbarten schlesischen Provinzialkirche als Ephoralvikar in Niesky. In dieser Zeit wurde in seinem Wohnhaus der Däne und Herrnhuter Theologiestudent Siegurt Nielsen als »Pflegesohn« aufgenommen, der später Bischof der Herrnhuter Brüdergemeine in Südafrika wurde. Beim Einzug der Roten Armee am 8. Mai 1945 wurde Grosses Wohnhaus geplündert und verwüstet. Mit dem Ende der NS-Herrschaft wurde Grosse 1945 rehabilitiert und nach seiner Ordination Pfarramtsverweser in Niesky, bald jedoch kommissarischer Pfarrer in Leutersdorf und Seifhennersdorf, dann Zweiter Pfarrer in Löbau.

Nach dem Krieg Im Zusammenhang mit seiner Anerkennung als OdF (»Opfer des Faschismus«) wurde er voller Zuversicht Mitglied der neu gegründeten SPD. Charakteristisch für die damalige Zukunftsvision ist seine Antrittsrede anlässlich der Wieder­ eröffnung der Greifenstein-Oberschule Thum am 8. Oktober 1945, nachdem er das Angebot, als Oberstudiendirektor an seine ehemalige Wirkstätte zurückzukehren, angenommen hatte. Im Sinne eines »völkerversöhnenden Pazifismus, geprägt von kosmopolitischem Humanismus und christlich-ethischem Sozia­ lismus« wollte er die Schule in der neu entstehenden Demokratie aufbauen.14 Die Einschätzung von Dr. Grosse aus den 1920er-Jahren, die dem Autor von der Brückner-Familie seiner Mutter vermittelt worden war, konnte 1945 nachdrücklich bestätigt werden. Aus Tagebuchnotizen des Autors: »Kurz nach meiner ersten Begegnung mit ihm tauchte er um die Mittagszeit unangemeldet in unserer bescheidenen Wohnung auf und wurde spontan zum eben vorbereiteten Nachkriegs-Gemüse-Eintopf eingeladen. Er wollte unsere Familie kennenlernen. Meine drei Jahre jüngere Schwester wurde von ihm zum Besuch der Ober­schule aufgefordert. Der Vorschlag fand keine Resonanz. Kurze Zeit später meldete er mich ohne mein Wissen zur Schüler-Tanzstunde an. Meine familiäre und insbesondere finanzielle Situation sprach dagegen. Außerdem fehlte es an einer entsprechenden Kleidung, zudem schätzte ich nicht die dort auf mich zukommenden Formalitäten. Mein Protest wurde negiert.« Grosse betonte, nach 1945 erneut Mitglied der SPD geworden zu sein mit dem Ziel, Erziehung und Bildung sozial Benachteiligter zu fördern. Frieden, Freiheit, Vaterlandsliebe waren seine wichtigsten Programmpunkte der Partei, während er nicht konform ging mit der marxistischen Ausrichtung der mit der KPD in der SED vereinigten SPD. Eingebaut in seinen Unterricht, wahrschein14

Antrittsrede Grosses vom 8.10.1945 (ebd., Bl. 1–6).

Johannes Grosse

309

lich im Lehrplan vorgeschrieben, war die Besprechung des »Kommunistischen ­Manifests«. Vorstellen ließ er es durch einen jungen Neulehrer, der nach Auskunft von G ­ rosse bereits Genosse der KPD gewesen sei, bevor der Zusammenschluss der beiden Parteien erfolgte. Grosse selbst war über seine Zugehörigkeit zur SPD zum ­Mitglied der SED geworden. Im Vordergrund seines »Deutschunterrichts« stand die Literaturgeschichte, die jedoch spontan unterbrochen wurde durch eine Einführung in die Religionsphilosophie: »Das Gottsuchen der Völker«, stets intensiv gegenwartsbezogen. Er half den Schülern, zu denen auch der Autor dieses Beitrags gehörte, den vermeintlichen Widerspruch zu lösen zwischen dem christlichen Glauben und Erkenntnissen der Philosophie und der Naturwissenschaften. Seine Schüler hatten festzustellen, dass dieser Glaube nicht gleichbedeutend ist mit ­einer Unsicherheit im Wissen, sondern dass er gemeinsam mit Hoffnung, Liebe und anderen menschlichen Qualitäten auf völlig anderer Ebene des menschlichen Bewusstseins angesiedelt ist, dass er ihnen – als »Christenglaube« konkretisiert – Bereiche erschließt, die umfassender und beherrschender sind als alle anderen menschlichen Erkenntnisse, Mächte und Gewalten, die sie im Krieg und nun wieder nach dem Krieg bedrohten. Die Evolution im anorganischen und erst recht im organischen Bereich forderte eine übergeordnete Größe. Ein ­»höheres Wesen« jedoch war den Schülern zu weit weg. Transmutations- und Prädestinationslehre? Wie war dann das zu verstehen, was sie soeben noch im Krieg erlebt hatten: Leid, Unrecht, Unheil, das alles von ihm? Gott als »Vater im Himmel«? Sie hatten keine Väter mehr, und die Erinnerung an den Vater der Kindheit war verblasst. Naturwissenschaftler, die den christlichen Glauben als Lebenshilfe erfahren hatten, suchten sie vergebens. Es gab keine geeignete Literatur. Im Unterricht bei Grosse wurde sie vermittelt. Viele Fragen aus dieser Zeit sind bis heute o ­ ffengeblieben. Andererseits haben die Erfahrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit, gemeinsam mit den Ergebnissen der gemeinsamen G ­ espräche, die im Zusammenhang mit dem Unterricht von Dr. Grosse geführt wurden, später oft entscheidend weitergeholfen. In kleinen Gruppen wurden die Gespräche auch außerhalb des Unterrichts fortgesetzt, so auch abends, an warmen Sommertagen bei einem Klassenkameraden, der über Gartenlaube und Gitarre verfügte. Auch ein paar Volkslieder wurden gesungen. Damit fielen ­Grosses Schüler jedoch plötzlich auf, denn alle Versammlungen mussten genehmigt werden. Unmittelbar vor einer ihnen drohenden offiziellen Anzeige bei der sowjetischen Militärbehörde hatte Grosse von dieser »illegalen Zusammenrottung« erfahren. Er schätzte die Aktivitäten seiner Schüler hoch ein, stand voll auf ihrer Seite. Um dieser damals recht gefährlichen Situation aus dem Weg zu gehen, empfahl er ihnen, in die eben gegründete Freie Deutsche Jugend (FDJ) einzutreten. Ihre Diskussionen wurden dann als FDJ-Arbeit fortgesetzt. Johannes Grosse hat es in hohem Maße verstanden, seine Schüler zu begeistern, aufzurütteln aus der drohenden Lethargie – verursacht durch vielfache und

310

Gerhard Reuter

unterschiedliche Nöte der Nachkriegszeit – und sie mitzureißen. Sie lernten aus Spaß an der Freude. Dennoch gab es auch Kontrollen mit Blitz und Donner, unangekündigte Schulaufsätze, oft nur in flüchtigen Stichworten oder als Dispositionsübung gefordert, jedoch kritisch beurteilt. Im Wechsel hatte jeder ein Unterrichtsprotokoll mit kritischen Anmerkungen anzufertigen. Offensichtlich ließ der Lehrplan in den ersten Nachkriegsjahren große Freiräume für die Entscheidung zu – oder Grosse war eben so frei. Unvergesslich bleiben seine Literaturabende in der Skihütte in Oberwiesenthal, in seinem kleinen Häuschen in Thum, Herolder Straße, das man ihm als »Opfer des Faschismus« zur Verfügung gestellt hatte, oder in einer geräumigen Wohnung von Schülereltern. Man saß auf dem Fußboden, hin und wieder gab es sogar irgendeinen Tee. Werke von Autoren, welche die Schüler bisher kaum dem Namen nach gekannt hatten, wurden in Auszügen vorgestellt: Carl Zuckmayer, Franz Werfel, Werner Bergengruen, Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch, Franz Kafka usw. Grosse trug vor, entrückte sie in eine andere Welt. Zu ihren größten Erlebnissen in seinem Unterricht zählt wohl sein Vortrag über Goethes »Faust«: Sie wurden hineingenommen in das große Schauspiel, Grosse war in seinem Element, mühelos konnte er mit drei oder vier verschiedenen Stimmen vortragen. Rechts und links neben seinem Katheder saßen auf dem Podestboden von ihm auserwählte Statisten, die in die Handlung einbezogen wurden und oft nur mit Mühe seinen körperlichen Strafen ausweichen konnten: Haareraufen, Ohrendrehen, wenn es dazu passte, auch ein Rückenkraulen. Die bei Goethe mit Punkten versehenen Stellen wurden verbalisiert. Die Begeisterung der Klasse fand keine Grenzen. Auch mit Spitznamen wurden die Schüler bedacht, da durfte man nicht zimperlich sein. Andererseits konnte er auch beleidigt sein und spontan das Klassenzimmer verlassen. Kurzerhand wurden nach rascher Beratung zwei redegewandte Schülerinnen nachgeschickt, die die Entschuldigung ihrer Mitschüler zu übermitteln hatten. Schmollend kehrte er bald zurück, ohne auf die Ursache einzugehen. Grosse faszinierte durch wissenschaftlich fundierte, zugleich fantasievolle Erzählkunst sowohl im Unterricht als auch bei Veranstaltungen der von ihm neu gegründeten Volkshochschule und bei außerschulischen Zusammenkünften. Allerdings hat er sich durch seine Eigenart das Leben oft nicht leicht gemacht. Gar manch einer wird ihn nicht verstanden haben. Er konnte kratzbürstig verletzend und mimosenhaft empfindlich, auch schalkhaft ironisch sein. Durch drastische Ausdrucksweise mag er insbesondere die Schülerinnen schockiert haben. Man schätzte seine Fachkompetenz und seinen Mut, Probleme zu lösen unter Umgehung von Vorschriften zugunsten seiner Schüler. Er liebte seine Rolle als Schauspieler, die man billigend in Kauf nehmen musste, wollte man ihn recht verstehen. Der Abiturjahrgang 1947 hatte damit keine prinzipiellen Schwierigkeiten. Als Kriegsteilnehmer (Luftwaffenhelfer, Reichsarbeitsdienst, Wehrmacht oder Volkssturm) hatten sie gelernt, auch mit wunderlichen Vorgesetzten umzugehen.

Johannes Grosse

311

Grosse wurde nahezu von allen Abiturienten verehrt. Wer ihn bei seiner Deklamation von Goethes Faust als Schauspieler erlebt hatte, konnte ihm begeistert folgen auf dem Weg »vom Himmel durch die Welt zur Hölle«. Als guter Schauspieler konnte er sich jedoch auch rasch und meisterhaft hinter verschiedenen Masken verbergen. So ist es nicht verwunderlich, dass er von seinen Zeitgenossen unterschiedlich beurteilt wurde. Andererseits war er als ausgesprochenes Original schwer einzuordnen und musste zwangsläufig bei seiner Verhaltensweise hin und wieder auf Unverständnis oder gar Ablehnung stoßen, aus der sich sogar Feindschaft entwickeln konnte.

Neue Repressalien Abitur am 14. Juli 1947: Als Leiter der Prüfungskommission zitierte Ober­ studiendirektor Dr. Johannes Grosse zu Beginn der schriftlichen Prüfung aus Eduard Mörikes »Zum Neuen Jahr«: »Herr, dir in die Hände sei Anfang und Ende, sei alles gelegt«. Die mündliche Prüfung begann er dann mit »Segne und behüte uns durch deine Güte, Herr erheb’ dein Angesicht über uns und gib uns Licht.« Johannes Grosse ist dem Autor im Erzgebirge nicht nur zum herausragenden Lehrer, sondern auch zum väterlichen Freund geworden, der in hohem Maße dazu beigetragen hat, dass er gemeinsam mit zahlreichen anderen Schülern der Greifenstein-Oberschule Thum in den Wirren der Nachkriegsjahre zu sich selbst finden konnte. Kurz nach seinem Abitur besuchte er ihn in seinem Haus. Johannes Grosse bot ihm sein brüderliches Du an. Der Plan einer Versetzung nach Nossen war damals noch nicht bekannt. Bei wiederholten Besuchen empfahl er dann den Eintritt in die SED, um in der DDR die Vorteile bei der Ausbildung und im Beruf voll auszuschöpfen. Die Begründung einer Ablehnung war für ihn unverständlich, war er doch überzeugt, dass die Partei kirchliche Bindungen auch künftig tolerieren würde. Er verkannte zu dieser Zeit die atheistischen Konsequenzen des historischen und dialektischen Materialismus mit ihrem Totalitätsanspruch. In diesem Zusammenhang tauchte später immer wieder die Frage auf nach den eigentlichen Ursachen seiner Versetzung nach Nossen im Oktober 1947. Waren es die »Säuberungsaktionen« der SED im Sinne von Stalin, um renitente alte Genossen der SPD loszuwerden? Offiziell als Beförderung ausgewiesen, hat sie Grosse als Strafversetzung empfunden. Sein Nachfolger im Amt, Walther ­Dreher, teilte dem Ministerium mit, Dr. Grosse habe in einem gewissen Gegensatz zur SED gestanden, er verwies auf seine Schwächen bei der Diszi­ plinerhaltung und bei der Zusammenarbeit mit der SED. Waren die Ursachen vielleicht zugleich im Charakter von Johannes Grosse zu suchen, dem es stets schwer gefallen ist, sich den »Dummen« unterzuordnen? Die Versetzung erfolgte trotz einer ausführlich begründeten Erklärung im Schreiben von M ­ itgliedern der

312

Gerhard Reuter

Thumer ­Schulkommission an das Ministerium für Volksbildung in Dresden.15 Durch Ausbildung als Naturwissenschaftler und Einsatz in unterschiedlichen Forschungsinstituten wurde der Autor in einer Zeit mangelhafter Mobilität eine ganze Strecke weit weg geführt. Dabei verlor er Johannes Grosse aus den Augen und erfuhr mit großer Betroffenheit erst nach dessem Tod von seinem wechselhaften Schicksal. Erwin Heretsch hat Grosse in Nossen als Leiter einer Internatsschule aus der Sicht eines jungen Lehrers kennengelernt. Nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft fand er seine aus Schlesien umgesiedelte Mutter in Nossen wieder, hatte dort bis zum Abitur 1946 Kontakt mit Professor Segnitz, dem Leiter des Gymnasiums, den er als Christ, gütige Vatergestalt und weisen Mann beschreibt. Als er durch den allen unbekannten Genossen der SED und Parteisekretär Dr. Johannes Grosse ersetzt wurde, breitete sich in Nossen Furcht aus. Heretsch war inzwischen Deutschlehrer an der Pestalozzi-Schule in Nossen, deren Direktor ähnlich dem Schulleiter der Berufsschule Nossen SED-Mitglied war und als ­»Opfer des Faschismus« zu den Privilegierten zählte. Alle begegneten sich jedoch untereinander mit Angst und mit großem Misstrauen. Heretsch nahm an den von Grosse geleiteten Weiterbildungsveranstaltungen für Deutschlehrer teil, lernte ihn näher kennen und schätzen. Daraus entwickelte sich eine vertrauensvolle Freundschaft. Zu dieser Zeit war in stark links ausgerichteten Kreisen der DDR infrage gestellt worden, ob sich das christliche Weihnachtsfest mit den Zielen eines atheistischen Staates vereinbaren ließe. Der Sender RIAS hatte darüber berichtet. Die Regierung der DDR war in die Pflicht genommen. Dr. Grosse wurde vom Zentralkomitee der SED als Vorsitzender einer Kommission ernannt, die Vorschläge für eine Entscheidung zu erarbeiten hatte. Grosse stellte das Problem in seiner Lehrerweiterbildung vor. Dort erhaltene Informationen über eine Weihnachtsfeier im Sinne von Frieden und Völkerfreundschaft in einem Kriegsgefangenenlager nach dem Krieg in Ägypten wertete Grosse aus. Sein Referat trug offensichtlich dazu bei, dass anschließend Ministerpräsident Otto Grotewohl in einer Rundfunkansprache betonte, in Übereinstimmung mit dem Einsatz des sozialistischen Staates für Frieden, Völkerversöhnung und Völkerfreundschaft sei es im Gegensatz zur Verbreitung im RIAS selbstverständlich: »Wir feiern christliches Weihnachtsfest in der DDR!« Das Weihnachtsfest war gerettet. In diesem Sinne war Grosse in Nossen auch Vorsitzender der Gesellschaft für Deutsch-Sow­jetische Freundschaft, ohne jedoch in der Bevölkerung auf positive Resonanz zu stoßen. Doch bereits 1951 wurde er aus dem Schuldienst entlassen. Anlässe waren stets leicht zu finden.16 Dazu zählte, er habe Schüler misshandelt. Grosse war kein Schläger, wie es wiederholt in Verleumdungskampagnen zum 15 16

Vgl. Schreiben Thumer Schulkommission vom 5.10.1947 (ebd., Bl. 52). Überprüfung der Oberschule Nossen vom 29./30.1.1951 (ebd., Bl. 78–81).

Johannes Grosse

313

Ausdruck gebracht wurde. Er war ein Kind seiner Zeit, die Prügelstrafe war noch nicht völlig abgeschafft, weder in der Schule noch in den Familien. In äußerst seltenen Fällen wird berichtet, dass ihm offensichtlich als Affekthandlung die Hand ausgerutscht sei. Der Befehl, auf dem Podium neben seinem Katheder Platz zu nehmen, konnte als Strafe, zuweilen auch als besondere Ehre aufgefasst werden. Die Schüler wurden dann allerdings hin und wieder sehr intensiv in das von ihm deklamierte Schauspiel einbezogen. Einer vorgesehenen Strafversetzung kam er zuvor. Mit einem Schreiben vom 20. Februar 1951 an das zuständige Ministerium erklärte er, ohne Einhaltung der Kündigungsfrist aus dem Schuldienst auszuscheiden.17 Gleichzeitig erklärte er seinen Austritt aus der SED. Grosse war nicht frei von Anfechtungen. 1951 stand er unter dem Eindruck, zum dritten Mal an der Erfüllung seiner wichtigsten christlich-sozialistischen ­Lebensaufgabe gescheitert zu sein. Suizidgedanken beschlichen ihn. Die Polarisierung zwischen Staat und Kirche hatte dazu beigetragen, dass auch zwischen Johannes Grosse und dem Nossener Pfarrer Willy Kohl, der durch seinen Einsatz in der Bekennenden Kirche geprägt war, kein positives Verhältnis aufgebaut werden konnte. So wird auch verständlich, dass die Leitung der Evang.-Luth. ­Landeskirche Sachsens große Schwierigkeiten hatte, einem von ihm gewünschten Neuanfang zu entsprechen, obwohl er als Pfarrer ordiniert worden war.18 Sein Dilemma wird im Bewerbungsschreiben um eine Pfarrstelle in Thüringen ­erkennbar: Ein Sohn eines Pfarrers hatte in einem Schulaufsatz seine deutliche Ablehnung des DDR-Staates formuliert. Vom Deutschlehrer informiert, war Grosse gezwungen, zu handeln, konnte in einer Konferenz das Schlimmste abwenden, musste jedoch entsprechend dem Konferenzbeschluss unter den Aufsatz schreiben: »Wenn du deine negative Einstellung zum Staat nicht änderst, wirst du das Abitur nicht ablegen können.«19 Dieser an die Landeskirche Sachsen gemeldete Vorgang war entscheidend für deren Ablehnung, ihm einen Neuanfang in Sachsen zu ermöglichen.20 Am 1. März 1951 wurde er zunächst Ersatzpfarrer in ­Niederschöna bei Freiberg, dann kurzzeitig in Rositz bei Altenburg. Der dem christlich-sozialistischen Gedankengut von Johannes Grosse nahestehende ­Bischof der Thüringer Landeskirche, Moritz Mitzenheim, sorgte endlich dafür, dass er zum 1. November 1951 in Neunhofen bei Neustadt an der Orla 17 Vgl. Kündigung J. Grosse vom 20.2.1951 (ebd., Nr. 525/58, Bl. 95). 18 Vgl. Beurteilung von Grosse (LKArch Dresden, 2/6121); die Begründung konnte nicht ohne Information durch den in Nossen verantwortlichen Pfarrer Willy Kohl entstanden sein. Dieser betagte und schwer herzkranke Geistliche wurde 1957 zu einer Haftstrafe verurteilt. Seine Nichte Erika Schwarz, geb. Kohl, hat dem Autor dazu umfangreiches Material übermittelt. Vgl. auch Heretsch, Gegen den Strom, S. 27−56. 19 Bewerbung von Grosse um eine Pfarrstelle in Thüringen 1951 (LKA Eisenach, Personalakte Dr. Grosse, G 2474, Bl. 74 ff). 20 Vgl. Beurteilung von J. Grosse (LKArch Dresden, 2/6121).

314

Gerhard Reuter

eine ­Pfarrstelle erhielt, in einem Kirchspiel gemeinsam mit den Kirchgemeinden Kospoda, Lausnitz, Weira sowie der Kapelle Krobitz.21 Obwohl die ihm anvertrauten Dorfgemeinden wahrscheinlich nicht immer seine akademisch fundierten Ausführungen in den Predigten verstanden haben mögen, war er offensichtlich recht beliebt dort. Unter seiner Regie wurde die 1409 erbaute Kirche in Neunhofen vollkommen renoviert, ebenso die alte »Fridolinkapelle« in Krobitz. In Einklang mit seiner Ausbildung als Theologe und Historiker sowie mit seinem Anliegen, sich für Völkerverständigung einzusetzen, war es ihm 1956 gelungen, die 900-Jahrfeier der Gründung von Neunhofen zu einem für weite Kreise unvergesslichen Ereignis zu gestalten: Das Kirchspiel »zu den neuen Hufen« war von der Polenkönigin Richeza gegründet worden unter Vergabe von Hufen an ­Bauern, die in das von Kriegen entvölkerte Land geholt worden waren. 1961 ging Grosse dann mit 71 Jahren in den Ruhestand und bezog eine Wohnung in Eisenach. Froh konnte er dort noch 1965 seinen 75. Geburtstag feiern, dann begann die schwere Erkrankung seiner Frau, die er mit Hingabe pflegte, bis sie 1972 nach fast 56-jähriger Ehe verstarb. Seine letzten Jahre waren offensichtlich sehr von Trauer und Todessehnsucht geprägt. 1973 schrieb er in sein Tagebuch: »Im letzten Augenblick lass mich sein wie ein Träumender, durch alle Finsternisse, Rätsel, Verdammnisse hin zu Jesus Christus, Amen.« Vielleicht ist ihm dieser Wunsch in Erfüllung gegangen. Infolge eines Schlaganfalls verstarb er am 30. September 1977 im Diakonissenkrankenhaus in Eisenach.

21

Vgl. Grosse in Neunhofen (LKA Eisenach, Personalakte Dr. Grosse, G 2474, Band 2, Bl. 1, 2, 7).



Anhang

Abkürzungsverzeichnis a. D. außer Dienst Apg Apostelgeschichte BDM Bund der Mitte BK Bekennende Kirche Bl. Blatt BSS Bund Sächsischer Staatsbeamter CDU Christlich-Demokratische Union CVJM Christlicher Verein Junger Männer d. J. des Jahres / dieses Jahres DC Deutsche Christen DCSV Deutsche Christliche Studenten-Vereinigung DDP Deutsche Demokratische Partei DDR Deutsche Demokratische Republik DEK Deutsche Evangelische Kirche DEKA Deutscher Evangelischer Kirchenausschuss DFR Deutscher Friedensrat DIN Deutsches Institut für Normung DVO Durchführungsverordnung em. emeritiert EphAL Ephoralarchiv Leipzig EphArch Ephoralarchiv EKD Evangelische Kirche in Deutschland ESK Evangelisch-Sozialer Kongress ev. evangelisch Evang.-luth. Evangelisch-lutherisch EZA Evangelisches Zentralarchiv GAV Gustav-Adolf-Verein Gestapo Geheime Staatspolizei GSS Gewerkschaft Sächsischer Staatsbeamter GzVeN Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses HJ Hitlerjugend HStA Hauptstaatsarchiv i. R. im Ruhestand Joh Johannes KGArch Kirch(en)gemeindearchiv KGVBl Kirchliches Gesetz- und Verordnungsblatt KPD Kommunistische Partei Deutschlands KSK Kirchlich-soziale Konferenz KZ Konzentrationslager LBR Landesbruderrat LDP Liberal-Demokratische Partei Lic. Lizenziat LKA Landeskirchenamt

318

Anhang

LKA Eisenach Landeskirchliches Archiv Eisenach LKArch Landeskirchenarchiv LKAu Landeskirchenausschuss Bundesarchiv Mikrofilm-Ortskartei MFOK MfS Ministerium für Staatssicherheit NL Nachlass NS Nationalsozialismus, nationalsozialistisch NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Nationalsozialistischer Deutscher Studentenbund NSDStB NSK Neues Sächsisches Kirchenblatt Nationalsozialistischer Schülerbund NSS Nationalsozialistische Volkswohlfahrt NSV OdF Opfer des Faschismus OKR Oberkirchenrat OLKR Oberlandeskirchenrat Oberkommando der Wehrmacht OKW Pfr. Pfarrer Pg. Parteigenosse PNB Pfarrernotbund Reichsministerium für die kirchlichen Angelegenheiten RKM (Reichskirchenministerium) SA Sturmabteilung SBZ Sowjetische Besatzungszone SED Sozialistische Einheitspartei Deutschlands SESV Sächsische Evangelische-Soziale Vereinigung Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden SLUB Sowjetische Militäradministration in Deutschland SMAD Sozialdemokratische Partei Deutschlands SPD SS Schutzstaffel Staatsarchiv Leipzig StAL StFilA Staatsfilialarchiv Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen SUB Sup. Superintendent Tbc Tuberkulose Technische Hochschule TH Universitätsarchiv Leipzig UAL uk. unabkömmlich unpag. unpaginiert Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes VVN WFR Weltfriedensrat ZK Zentralkomitee

Personenverzeichnis Adam, Walter  92, 266 Adler, Alfred  23, 293–295 Adler, Bruno  62 Alexander III. von Russland  152 Althaus, Paul (der Ältere)  208, 304 Althaus, Paul (der Jüngere)  167 Anacker, Johann Gotthold  202 Anacker, Wilhelm  39 Aner, Karl August  287 Ansorge, Horst  188 f. Asmussen, Hans  76, 212, 235 Axt, Helmut  119 Axt, Johannes  117–132 Axt, Marie  118 Axt, Theodor118 Axt, Werner  122 Barth, Karl  212 Barth, Paul  304 Bebel, August  246 Beer, Alfred  100 Beier, Martin  93 Bemmann, Gotthilf Franz Martin  27 Benndorf, Rudolf  297 Berg, Walter  185 Bergengruen, Werner  310 Beyer, Gustav  47 Beyrich, Theodor  184, 186 Blanckmeister, Franz Theodor  276 Bleichert, Hildegard  138 Bodelschwingh, Friedrich von  32, 63 Bohland, Friedrich  103–116, 187 Brauer, Adalbert  302 Braunschweig, Gerhard  187 Brause, Karl Hermann  58 Brause, Hermann  221–223 Bredendiek, Walter  287, 299 Breit, Thomas  212 Brück, Carlheinz von  256 Brückner, Hans  306, 308 Bruhns, Anna  153 Bruhns, Emil  152, 154 Bruhns, Friedrich  175 Bruhns, Immanuel  152

Bruhns, Leo  167 Bruhns, Oskar  14, 143 f., 148, 151–175, 198 Bruhns, Sibylle  173 Brumme, Alf  139 Buchholz 208 Buchwald, Georg  180 Buchwitz, Otto  272 Buck, Wilhelm  137, 193 Budra, Hermann  183 Carlowitz, Hans Adolph von  208, 262 Coch, Elisabeth  85 Coch, Friedrich Otto  11–13, 28–31, 46, 51, 61–86, 92–95, 97, 100, 110, 113, 123, 143 f., 148, 156–163, 174, 178 f., 184, 196, 201, 210 f., 213–215, 218, 252, 254 f., 265, 272 Dahlem, Franz  272 Damaschke, Adolf  180 Dehn, Günther  287 Deißmann, Adolf  285 Delekat, Friedrich  14, 23, 225–241 Delekat, Hedwig  226 Dibelius, Otto  226 Dietrich, Ernst Friedrich  92 Dietrich, Ernst Ludwig  83 Dittrich, Ottmar  304 Doerne, Martin  22, 95, 216 Donner 56 Dreher, Walther  311 Dürrenmatt, Friedrich  311 Ebert, Friedrich  146 Eckert, Gerhard Heinz  115 Eger, Martin Alfred  193 Eichenberg, Karl  217–221 Elert, Werner  167 Elßner, Edmund  305, 307 Elßner, Hulda  305 Elßner, Martha Hedwig  305 Engel, Wilhelm  97 Exner, Bernhard Georg  92

320 Faber, Georg  163 Fellisch, Alfred  290 f. Fetscher, Rainer  292 f. Feurich, Walther  138 Fichtner, Paul Horst  29, 93, 199 Ficker, Adolf Johannes  29, 85, 98, 162 f., 172, 185, 199 f., 214 f., 280 Ficker, Albert  40 Ficker, Julius Horst  103 f., 105–115, 116, 184, 186 f. Fiebiger, Christiana Dorothea  303 Fischer, August  304 Fischer, Karl  61, 64, 73, 88, 90, 95, 145, 163 f., 171 f., 250 f. Fischer, Richard  277 Fleischhack, Max Johannes  263 Fliedner, Theodor  32 Fliegel, Max  293 Forberger, Johannes  99 Francke, Hans  287 Fränkel 267 Frei, Gisela  32 Freud, Sigmund  23 Freund, Edith  294 Freund, Franz  303 Freund, Johann Christian  303 Frick, Wilhelm  77 Friedrich II. von Preußen (der Große)  20 Friedrich, Rudolf  88 Friedrichs, Rudolf  272 Frisch, Max  310 Fritsch, Karl  65 f. Fritsch, Theodor  68, 124 Fröhlich, Andreas  183, 196 Fügner, Ernestine  89 Fügner, Frieda  89 Fügner, Liselotte  89 Fügner, Moritz Wilhelm Otto  13, 87–102, 183 Fügner, Otfried  89 Fügner, Ursula  89 Fügner, Wilhelm Alwin Otto  89 Fügner, Wolfgang  89 Gamaliël I bzw. Rabban Gamaliel der Ältere  252, 254, 256

Anhang

Gerber, Agnes Marie  191 Gerber, Charlotte Katharina  191 Gerber, Hans  172 Gerber, Lisa Johanna Gertraud  191 Gerber, Otto  191 Gerber, Willy  29, 179, 185, 191–203 Geuder, Wolf  100 Gey, Walter  94 Gilbert, Gerhard  92 Girgensohn, Karl  208 Gocht, Hermann Friedrich  88, 90 Goerdeler, Carl-Friedrich  172 Goethe, Johann Wolfgang von  310 f. Göhring, Bernhard  287 Goldhan, Paul  186 f. Göring, Hermann  73, 220, 277, 279 Gössel, Herbert  187 Gottlieb, Anna  280 Gottlieb, Cäcilie Therese  275 Gottlieb, Hans  281 Gottlieb, Heinrich  12, 14, 275–282 Gottlieb, Julie  275 Gottlieb, Karl Josef  275 Graf, Gerhard  98 Graf, Ludwig (Luis)  247 Gregory, Caspar  304 Grohmann, Karl August Joseph  292 f. Große, Christian Gottlob  303 Grosse, Christiana Sophia  303 Große, Christoph  303 Große, Friedericke  303 Große, Friedrich August  303 Große, Johann Carl  303 Große, Johann Gottfried  303 Große, Johann Gottlob  303 Grosse, Johanne Eleonore  303 Grosse, Johannes  303–313 Große, Karl Gottlob  303 Große, Marie Lydia  303 Große, Wilhelm August  303 Grotjahn, Hans Heinrich  139 Grünberg, Reinhold  177, 192, 283 Gründel, Marie Erna  56 Grundmann, Walter  29, 61 f., 64, 70 –72, 75, 81, 94 f., 196 Gruner, Paul  112, 272

321

Personenverzeichnis

Gundermann, Fritz  25 Guthe, Hermann  304 Haan, Johannes  182 Haaß, Johannes  41 Hahn, Erika  73 Hahn, Gerhard  62 Hahn, Hugo  10, 12 f., 28 f., 49 f., 64, 73 f., 76, 84, 86, 143, 145, 151 f., 154 f., 157 f., 160, 162f., 167, 185, 212, 215, 236 f., 264, 267, 269, 272 f. Hahn, Traugott  155 Hallbauer 50 Hammerschmidt, Emil Rolf  44 Hammerschmidt, Karl  185 Häntzschel, Arno  84 f. Harnack, Adolf von  152 Hartenstein, Werner  215, 217, 220 Hauck, Albert  262, 304 Hauffe, Bernhard Rudolf  39 Haupt, Hellmut  187 Hecker, Arno  106, 111 Heiler, Friedrich  248 Hein, Markus  92, 101, 192, 195 Heinrici, Georg  304 Heldt, Max  291 Hellig, Moritz  44, 46 Hellner, Kurt Hans  202 Hellriegel, Walther  40, 50 f. Helm, Paul  269 Hempel, Johannes  57 Herbst, Ferdinand  172 Heretsch, Erwin  302, 312 Hering, Edgar  104 Hermelink, Heinrich  304 Herz, Elisabeth  135 Herz, Johannes Heinrich  135–150, 160 f., 163, 170, 174 f., 273 Herz, Paul David  135 Herz, Paula Katharina  150 Herz, Reinhard  150 Herz, Wilfried  150 Heß, Rudolf  82 Hesselbarth, Herbert  120 f. Hickmann, Hugo  43, 52, 55, 209, 272

Hilbert, Heinrich Oskar Gerhard  87, 91, 141 f., 195 Hirsch, Erna Anna Melusine  262 Hirsch, Ludwig  262 Hitler, Adolf  9 f., 26, 32, 35, 38 f., 48 f., 59, 63, 66 f., 70, 73, 75–77, 82, 93, 95, 97, 100 f., 141 f., 144–147, 156, 164, 172, 178 f., 185, 196 f., 207, 210 f., 218, 231, 236, 245, 248–250, 252 f., 263–268, 277 Hoffmann, Hellmuth  111 f. Högg, Emil  37 Hossenfelder, Joachim  62 Hünlich, Johann Theodor  292 f. Husar, Oswald  269 Ihmels, Ludwig  11, 36, 46, 62–64, 86, 101, 138, 209–211, 262, 304 Ilberg, Georg  118 Jacob, Gertrud  119 Jacoby, Henry  294 f. Jäger, August  67, 75 f. Jagsch, Johannes  97, 183 Jentsch 27 Jeremias, Alfred  36, 136 Johne, Erich Hellmut  269 Josua 264 Jugel, H.  78, 93 Junghanns, Rudolf  143 f. Kafka, Franz  310 Kaiser, Erna Anna Melusine  262 Kaiser, Gottfried  264, 268, 270 Kaiser, Irmengard  264 Kaiser, Johann Friedrich Carl  262 Kaiser, Jürgen Adolf Corneille  264 Kaiser, Karl Richard  262 Kaiser, Viktor  264, 269 f. Kaiser, Walter Corneille Josef  262 Kastner, Hermann  272 Kegel 45 Keil, Eberhard  19 f. Kerrl, Hanns  12, 79 f., 82–84, 97, 113, 144 f., 147, 151, 162, 169–171, 184, 199, 214, 220, 267, 279

322 Killinger, Manfred von  65, 264 Kirchbach, Agnes von  215 Kirchbach, Arndt von  11, 73, 76, 185, 207–223 Kirchbach, Carl von  207 Kirchbach, Elisabeth Charlotte von, verw. Gräfin von Wallwitz  223 Kirchbach, Esther von  11, 208 f., 211, 213, 216, 223 Kirn, Otto  262, 304 Kirst, Ursula  89 Kittel, Gerhard  208 Kittel, Rudolf  262, 304 Kleemann, Samuel  20, 101, 184, 186 Klemm, Friedrich  188–190 Klemm, Hermann  88, 145, 163, 232, 251, 256 Klemperer, Victor  229 Klotsche, Johannes  12, 31, 46, 51, 61, 66, 79, 83–85, 97 f., 100, 145 f., 151, 164, 167–169, 171, 174, 185, 189, 191, 201, 218–222, 236 f., 278 f., 281 Knabe, Erich  19–33, 158, 161, 199, 268 Knabe, Gerhard  26 Knabe, Magdalena  26 Knabe, Martin  26 Knabe, Wilhelm  19, 26, 30–33 Knaur, Theodor  246 Knöpke, Horst  141 Knospe, Gottfried  101, 273 Köberle, Justus  262 Kohl, Willy  313 Koppe, Robert  141 Kotte, Erich  11, 42, 57, 79 f., 100, 220, 297 Kötzschke, Hermann Theodor Walter  179 Kötzschke, Rudolf  304 Krause, Willy  45 Krauss, Friedrich Emil  37 f. Krebs, Max  84, 183 Kretzschmar, Erwin Arthur  118 Kretzschmar, Willy  185, 236 f., 279 f. Kreyssig, Lothar  11 Kriewald, Feodor  142 Krohn, Benjamin  192 Kubitz, Gerhard  95, 158 Küchler, Martin  159

Anhang

Kühn, Karl Hermann Theodor  284, 287 Kühn, Karl Viktor  69, 103, 180–182 Kühn, Theodor  158, 174 Kühn, Werner  123 Kühnert, Johannes  265, 267 Künkel, Fritz  23 Künkel, Ruth  23 Küntzelmann, Adalbert  11 Laar 47 Lahmann, Heinrich  270 Lammers, Hans-Heinrich  32 Lamprecht, Karl  304 Lau, Franz  85, 100, 190, 297 Lauber, Ruth  98 Leffler, Siegfried  29, 265 Lehmann, Friedrich Gottlob  19 f. Lehmann, Hartmut  256 f. Leistner, Erich  185 Lenk, Gotthilf  182, 186, 190 Leonhardt, Wilhelm  286 Lerner, Paul  22 f. Leßmüller, Walter  82, 183 Lewek, Ernst  12, 14, 66, 159 f. 162, 165–168, 273 Leyn, Karl  184, 186 Liebmann, Hermann  290 f. Lindner, Kurt  185 Lippmann  57 f. Lipps, Friedrich  304 Löbner, Arthur  138 Loesche, Bernhardt  177 Loesche, Ella Anna Sidonie  178 f.,190 Loesche, Ernst  13 f., 103 f., 106–109, 111–113, 115 f., 177–190 Luther, Martin  32, 35 f., 59, 70, 76, 165, 178, 196 f., 268, 278 Mager, Reimer  11 Manys, Siegfried  295 Marahrens, August  84, 144, 172 March, Hans  25 Mattausch, Ferdinand  277, 279 Mehnert, Gottfried  286 Mehlhose, Johannes  64, 293 Meinel, Martin  185

323

Personenverzeichnis

Meiser, Hans  72, 75, 171 Meissner, Otto  146 Meltzer, Ewald 25 Menke-Glückert, Emil  272 Mennicke, Carl  285 f., 288 Mensing, Carl Richard  285 f., 288 Merchel, Michael  295 f. Meyer, Alfred  185 Meyer, Eduard  119 Michael, Max  88, 90, 93 Mieth, Fritz Hermann  27 f., 97, 144 f., 160, 163, 174, 198, Mitscherling, Walter  223 Mittag, Arthur  127 Mitzenheim, Moritz  313 f. Moll, Helmut  256 f., 258 Möller, Hans  37 Mörike, Eduard  311 Mosch, Hans  108 Moser, Theodor Max  37 Muhs, Hermann  84, 279 Müller, Adolf  51, 64, 265, 277 Müller, Alfred Dedo  25 Müller, Johannes Max August  92 Müller, Johannes  103, 179 f., 186, 188 Müller, Johannes  272 Müller, Ludwig  61, 63, 68, 70, 72–74, 76 f., 79, 83 f., 144, 213, 272 Müller, Max  213 Müller, Paul Georg  284 Münnich, Ernst Adolf  36 Münnich, Eugen Adolf  35–59, 179 Münnich, Maria Marta  56 Münnich, Ruth  56 Münnich, Selma  36 Mürbe, Gustav Alwin  188 f. Mutschmann, Martin  64 f., 78–81, 84, 96 f., 147, 161, 173, 232, 264, 278 f., 307 Naumann, Friedrich  140, 180, 247, 250, 290 Naumann, Johannes  21, 23, 287, 289–291 Neu, Alfred  296 Neubert 57 Neumann, Johannes  23, 27, 138 Nielsen, Siegurt  308

Niemöller, Martin  73 f., 223, 239 Nietzsche, Friedrich  299 Nostitz-Wallwitz, Alfred von  138 Noth, Gottfried  57 f., 203 Oehler, Wilhelm Christoph  74 Oehme, Werner  254, 256 f. Oelsnitz, Gerd von der  302 Oertel, Erich  199 Ostarhild (Israel), Friedrich  159, 163, 166, 168, 175 Paul, Carl  304 Paul, Gotthold  186 Paulsen, Adalbert  83 Pawlow, Iwan P.  298 Peter 93 Petsche, Gottfried  303 Pfeifer, Otto  107 f., 111 f. Planitz, Sibylla von der  207 Poiret, Pierre  226 Poser, Rudolf  101, 273 Prater, Georg  145, 163 Prüfer, Arthur  304 Rabast, Karl-Heinz  92 Rabe, Karl August  265 f. Rabenau, Eitel-Friedrich von  214 Rade, Martin  140, 287 Ragaz, Leonhard  25, 247, 287 Ranft, Albrecht  71 Ranft, Rudolf  293 Rappe, Adolf  186 f. Rasche, Karl  250 f. Reitzenstein, Magdalene  299 Rendtorff, Franz  304 Reuter, Fritz  262 Richeza von Polen  314 Richter, Karl Johannes Rudolf  264, 266 Richter, Martin  11 Richter, Paul  269 Richter, Werner  92 Rietschel, Ernst  71 Roch, Johannes  213 Roehling, Heinrich  154, 161 Rogge, Joachim  245

324 Römer, Alfred  23 Roosevelt, Theodore  246 Rosenberg, Alfred  77 f., 165, 213, 218 Roßbach, Gustav  74, 183 Rost, Helene (Lena)  20 f., 26 Rötschke, Friedrich  37 Rousset, Philipp Wilhelm  20 Ruhland, Hans  187 Rühle, Georg  30 Rühle, Otto  23, 294 Rühle-Gerstel, Alice  294 Sachsenweger, Edmund  217 Sartre, Jean-Paul  299 Sasse, Martin  14, 278 f. Satlow, Gerhard  135 Satlow, Katharina  135 Satlow, Paul Rudolph  135 Schäfer, Johannes  159 Schaumann, Eduard  225 Schlatter, Adolf  226 Schmeitzner, Mike  14 Schmidt, Walter A. E.  256 Schnabel, Reimund  269 f. Schneider, Ernst  183 Schneider, Joachim  151 Schoell, Jakob  149 Schön, Otto  273 Schönburg-Waldenburg, Günther Fürst von  262–264, 269 Schönknecht, Gottfried  98, 183 Schreiter, Max  65 f., 72, 94 Schubert, Friedrich Helmuth  92 Schubert, Kurt  256 Schuhknecht, Arthur  264 Schuhknecht, Johanne  295 Schulz, Alfred  125, 130 Schulze, Fritz  188 Schulze, Walther  81 Schumann, Heinrich  28, 143–145, 158, 160 f., 163, 174 f., 198 Schwabe, Wolfgang  186 Schwarz, Erika  313 Schwarzer 40 Schweitzer, Carl  25 Schwen, Paul  219, 222

Anhang

Schwinger, Hans Felix  295 Seck, Heinrich  43, 64, 165 f. Seetzen, Friedrich  65, 138, 182 Segnitz 312 Semm, Reinhold  145, 183, 185 Seydewitz, Max  296 Seyler, Hans  65 Siegmund, Ringulf  42–44, 49 f., 58 Simons, Walter  146 Singh, Sadhu Sundar  248 Söderblom, Nathan  136 Sommer, Robert  294 Sommerlath, Ernst  208 Sorgenfrei, Erich  44–46, 56 Spannaus, Johannes  292 Spengler, Oswald  22 Sperber, Manès  294 Spindler, Victor  271 Spranger, Arno  196, 203 Spranger, Eduard  226–228 Stahn, Hermann  97 Stalin, Josef  311 Stange, Erich  138, 208 f., 211 Starke, Alexander  290 Starke, Carl Richard Otto  284 Starke, Erhard  14, 283–299 Starke, Johanna  284 Starke, Kathinka  28 Starke, Magdalena  284 Steiner, Hermann  142 Stempel, Alfred  245 Stempel, Andreas  259 Stempel, Bernhard  247 Stempel, Dorothea  249, 251, 255 f., 259 Stempel, Flora  245 Stempel, Heinrich Rudolf  245–259 Stephan, Horst  71 Stöcker, Adolf  263, 272 Streicher, Julius  79 Tattenpach, Odo  139, 141 Taut, Walter  189 Teetzmann 104 Thiem, Maik  159 Thieme, Karl  304 Thierack, Otto Georg  66

325

Personenverzeichnis

Thomas, Johannes  183 Tillich, Paul  14, 23, 25, 225, 227, 229 Truöl, Christoph  99 Tschammer und Osten, Hans von  279 Tschirschky und Boegendorf, Agnes von 207 Türke, Karl Martin  65 Tzschucke, Gotthold  213 Tzschucke, Karl Friedrich  269 Tzschucke, Paul  158 Vaugk 306 Viereck, Emil 297 Vitzthum von Eckstädt, Kurt Woldemar  65 Voigt, Franz Oswin  21, 293 Voigt, Johannes  186, 190 Volkelt, Johannes  304 Wach, Hugo  66, 78 Wagner, Johannes  269 Waitkat, Otto  276 Walther, Wilhelm  262 Warnatzsch 93 Watteville, Benigma  304 Watteville, Friedrich von  304 Watteville, Johannes  304 Weidauer, Martin  186 f. Weiland, Wilhelm  296

Weisser, Hermann  57, 202 Wend, Adolf Arthur  264, 266 Wendelin, Adolf  29, 199 Werfel, Franz  310 Werner, Friedrich  169, 171 Werner, Wilhelm  183 Wettengel, Ernst  166 Wilbrandt, Robert  226 Wilhelm, Georg  29 Windisch, Ernst  304 Wittig, Joseph  48 Wolff, Hans Konrad Ulber  42, 49 Wundt, Wilhelm  304 Wunderlich, Ludwig  22 Wurm, Theophil  171 Zeigner, Erich  90, 289–291 Zeuschner, Kurt  29 Ziegler, A.  89 Zinßer, Joachim  95 f. Zinzendorf, Nikolaus Graf von  304, 307 Zipfel, Max Fürchtegott  41 f., 44 Zoellner, Wilhelm  145 Zschunke, Anna  89 Zschunke, Frieda  89 Zschunke, Otto  89 Zuckmayer, Carl  310

Autorinnen und Autoren Roland Biewald, geb. 1955, Dr. theol., Professor für Religionspädagogik am Institut für Evangelische Theologie, Philosophische Fakultät der Technischen Universität Dresden. Veröffentlichungen u. a.: Friedrich Delekat – Professor für Religionswissenschaft an der Technischen Hochschule Dresden 1929–1936. In: Johannes Rohbeck/Hans-Ulrich Wöhler (Hg.), Auf dem Weg zur Universität. Kulturwissenschaften in Dresden 1871–1945, Dresden 2001, S. 125–138; Art. Delekat, Friedrich. In: Lexikon der Religionspädagogik, Band I. Hg. von Norbert Mette und Folkert Rickers, Neukirchen 2001, Sp. 306 f. Christoph Hanzig, geb. 1988, M. A., Historiker, wissenschaftliche Hilfskraft am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. an der TU Dresden. Veröffentlichung: »Th: Isolierung, Luminal, Kostveränderung« – Ergebnisse ­einer Probeerfassung von 570 Patientenakten der Landesanstalt Großschweidnitz. In: Maria Fiebrandt/Dietmar Schulze (Hg.), »Euthanasie« in Großschweidnitz – ­Regionalisierter Krankenmord in Sachsen 1940 – 1945, Köln 2016, S. 81–97. Konstantin Hermann, geb. 1974, Dr. phil., M. A., Historiker, Abteilungsleiter an der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden. Veröffentlichungen u. a.: Hg., Führerschule, Thingplatz, »Judenhaus«. Orte und Gebäude der nationalsozialistischen Diktatur in Sachsen, Dresden 2014. Lisa Jenke, geb. 1988, M. Ed., Grundschullehrerin an der Dietrich-Heise-­Schule Freie Evangelische Grundschule Görlitz. 2010 Absolventenpreis der Philosophischen Fakultät der TU Dresden für die beste Bachelorarbeit mit dem Thema ­»Rudolf Stempel und Paul Schneider – eine Gegenüberstellung«. Karl-Hermann Kandler, geb. 1937, Dr. theol. habil., Kirchenrat i. R., apl. Professor für Systematische Theologie an der Universität Leipzig (i. R.). Veröffentlichung u. a.: Kirchengeschichte Freibergs, Teil III: 1933–1945, Beucha/Markkleeberg 2011. Wilhelm Knabe, geb. 1923, Dr. agrar., Forstwissenschaftler und Politiker. Gerhard Lindemann, geb. 1963, Dr. theol., apl. Professor für Historische Theologie an der Technischen Universität Dresden. Veröffentlichungen u. a.: »Typisch jüdisch«. Die Stellung der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers zu Antijudaismus, Judenfeindschaft und Antisemitismus 1919–1949, Berlin 1998.

328

Anhang

Christian Löhr, Dr. theol., Pfarrer i. R., stellv. Vorsitzender der Internationalen Bonhoeffergesellschaft. Deutschsprachige Sektion. Veröffentlichungen u. a.: Auf schmalem Grat: ›Ganz Christ und ganz Deutscher‹ oder: Wie Joseph Wittig die Zeit des Nationalsozialismus überlebte und sich und seiner Berufung treu blieb. In: Josef Hainz (Hg.), Wittig und Michel in der Zeit des Nationalsozialismus, ­Eppenhain 2013, S. 99–144; Für Gottes und der Menschen Ehre. Aus dem Leben und Wirken des Schwarzenberger Pfarrers Friedrich Hermann Behr. Hg. von der Kirchengemeinde St. Georgen Schwarzenberg 1999. Mandy Rabe, geb. 1985, Dr. theol., Pfarrerin in Auerbach/Vogtland. Veröffentlichungen u. a.: Zwischen den Fronten. Die »Mitte« als kirchenpolitische Gruppierung in Sachsen während der Zeit des Nationalsozialismus, Leipzig 2017. Gerhard Reuter, 1929–2017, Prof. (em.) Dr. rer. nat. habil., ehemaliger Inhaber des Lehrstuhls für Pharmazeutische Biologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Mehrere Veröffentlichungen über den Pfarrer Johannes Grosse. Mike Schmeitzner, PD Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah­Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. an der Technischen Universität Dresden. Veröffentlichungen u. a.: Hg. (mit Clemens Vollnhals und Francesca Weil), Von Stalingrad zur SBZ. Sachsen von 1943 bis 1949, Göttingen 2016. Nikola Schmutzler, geb. 1977, Dr. theol., Pfarrerin der Ev.-Luth. St. Laurentius­ kirchgemeinde Auerbach/Vogtland. Veröffentlichungen u. a.: Evangelisch-sozial als Lebens­aufgabe. Das Leben und Wirken von Pfarrer Johannes Herz (1877– 1960), Leipzig 2013.