Religionsstreitigkeiten: Volkssprachliche Kontroversen zwischen altgläubigen und evangelischen Theologen im 16. Jahrhundert 9783110943108, 9783484366046

This study deals with religious controversies of Reformation Germany. The first part focuses on the rhetorical structure

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Polecaj historie

Religionsstreitigkeiten: Volkssprachliche Kontroversen zwischen altgläubigen und evangelischen Theologen im 16. Jahrhundert
 9783110943108, 9783484366046

Table of contents :
DISPUTATION UND ZANK I
Religionsstreitigkeiten im 16. Jahrhundert
TEIL I: STREITSCHRIFT UND RELIGIONSPOLEMIK
I. Deutschsprachige Streitschriften im Dienste der Religionspolemik
1. Zwischen sachlicher Disputationskunst und derber Verunglimpfung: Versuch einer Physiognomie des religionspolemischen Schrifttums
2. Streitschriftenwechsel und ihre Protagonisten
3. Das problematische Fundament der religiösen Polemik: Bekehrung statt Überzeugung
II. Religionsstreitigkeiten: Streiten gegen den Unglauben
1. Was ist der Zweck der Zweckformen? Methodische Vorüberlegungen
2. Der Streit zwischen Luther und Emser: Reformatorische Sprachgewalt gegen altgläubige Gelehrsamkeit
3. Der Streit zwischen Friedrich Staphylus und Jacob Andreae: Annäherung des Deutschen an das Lateinische in der Religionspolemik
4. Der Streit um das Prager Bild - Frühorthodoxe Wehrhaftigkeit gegen jesuitische Aggressivität
5. Der Streit um die Meinungsfuhrer des Münsterlandes
TEIL II: INTENTION UND WIRKUNG DER RELIGIONSPOLEMIK
I. Die Leser der religionspolemischen Streitschriften: Multiplikatoren der konfessionellen Differenz
II. Dimensionen des Streitens
1. Die theologische Dimension: Grundlage und Voraussetzung des religionspolemischen Schrifttums
2. Die politische Dimension: Propaganda für ein Fürstenhaus als Nebeneffekt der Religionspolemik
3. Die autoritative Dimension: Orientierungshilfen in der Flut der religionspolemischen Schriften
4. Die triumphale Dimension: Demonstration katholischer Überlegenheit über die reformatorischen Kirchen
5. Die sprachliche Dimension: Die Herausbildung der oberdeutschen Literatursprache als Folge der Religionspolemik
III. Religionspolemik und die kollektivierende Wirkung des Streites‘
TEIL III: MEDIEN DER GLAUBENSPROPAGANDA
Polemik in anderen Medien der propagatio fidei: Seelsorge, Psychagogik, jesuitischer Humanismus
I. Konversionsberichte: Streitschriften zwischen Bekenntnisdrang und kontroverstheologischer Sachlichkeit
II. Die Streitschrift eine überarbeitete Predigt, die Predigt ein Streitschriftenexzerpt?
III. Katechetische Schriften: Vielfalt und Anschaulichkeit für Laien und Geistliche
IV. Am Rande der Religionspolemik: Lieder und Gebete zwischen Psychagogik und Erbauung
1. Das geistliche Lied im Spannungsfeld zwischen polemischer Kontrafaktur und literarischem Traditionalismus
2. Gottes Liebe und die Macht des Gebets: Festigung und Pflege des Konfessionsbewußtseins
V. Jesuitischer Humanismus statt gegenreformatorischer Agitation: Die Vertreibung der Religionspolemik von der Bühne des späten 16. Jahrhunderts
1. Agonistik statt Polemik
2. Mißverständliche Rezeptionsangebote im Jesuitentheater für volkssprachige Laien
3. Streitschriften, unzeitgemäße Medien bei der Invention von Dramen
DISPUTATION UND ZANK II
Drei Anmerkungen zum Fortgang der Religionsstreitigkeiten im 17. Jahrhundert
1. Das Reformationsjubiläum 1617: Konfessionsstreitigkeiten und die Ausdifferenzierung der Konfessionskultur
2. Überregionalität als Prinzip: Streitschriften in katholischen Pfarrbibliotheken des 17. Jahrhunderts, das Beispiel Milte
3. Jacob Masens Religionsstreit von 1657: Reunionsbemühungen mittels konfessioneller Polemik?
Literaturverzeichnis
1. Bibeln
2. Nachschlagewerke und Hilfsmittel
3. Quellen
4. Forschungsliteratur
Personenregister

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Frühe Neuzeit Band 104 Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext In Verbindung mit der Forschungsstelle „Literatur der Frühen Neuzeit" an der Universität Osnabrück Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Klaus Garber, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller und Friedrich Vollhardt

Kai Bremer

Religionsstreitigkeiten Volkssprachliche Kontroversen zwischen altgläubigen und evangelischen Theologen im 16. Jahrhundert

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2005

Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Zugl.: Göttingen, Univ., Diss., 2002 ISBN 3-484-36604-4

ISSN 0934-5531

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2005 http://www. niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach

Danksagung

„Ich muss eine Zeitlang ganz und gar in derartigen theologischen Disputen versunken gewesen sein." - Ein Satz von Wolf Jobst Siedler weckt die Erinnerung: Mitte der 90er Jahre veranstaltet Prof. Wilfried Barner in Göttingen ein dreisemestriges Oberseminar zum Thema „Literaturstreite". Während eines Gesprächs mit ihm über das Seminar entsteht die Idee zu einer ersten Hausarbeit zu einem Religionsstreit. Seit dieser Zeit hat Prof. Barner meine Studien vielfältig gefördert. Dafür bin ich ihm sehr dankbar. Später, in seinem Doktorandenkolloquium, habe ich wiederholt Ausschnitte aus dem Projekt präsentieren können - die Diskussionen mit den Göttinger Freunden haben mir immer viel geholfen. Ähnliches gilt für das Göttinger DFG-Graduiertenkolleg „Kirche und Gesellschaft im 15. und 16. Jahrhundert", das mich drei Jahre als Stipendiat unterstützt hat. Den Kommilitonen und Professoren dort verdanke ich zahlreiche Hinweise und Ideen - allen voran Prof. Fidel Rädle. Der Stiftung für Geisteswissenschaften Geschwister Boehringer Ingelheim danke ich für den Druckkostenzuschuß, den Herausgebern für die Aufnahme in die Reihe Frühe Neuzeit; Prof. Klaus Garber und Prof. Jan-Dirk Müller haben dies mit ihren hilfreichen Gutachten unterstützt. Desiree Bourger, Caroline Emmelius, Melanie Hong, Martin Klöker, Veronika Marschall, Sven Schabram und Christopher Voigt haben für das Manuskript das Korrekturlesen übernommen: Danke! Ohne das Verständnis und die Liebe meiner Frau Karin wäre dieses Buch nicht möglich gewesen. Kurz nach Beginn meiner Studien in Berlin wurde unser Sohn Johannes geboren, er hat meine Arbeit intensiver begleitet als jeder andere Mensch. Ihm ist das Buch gewidmet.

Bad Iburg, 17.10.2004

K.B.

Inhaltsverzeichnis DISPUTATION UND ZANK I

Religionsstreitigkeiten im 16. Jahrhundert

3

TEIL I: STREITSCHRIFT UND RELIGIONSPOLEMIK

I.

Deutschsprachige Streitschriften im Dienste der Religionspolemik 1.

II.

27

Zwischen sachlicher Disputationskunst und derber Verunglimpfung: Versuch einer Physiognomie des religionspolemischen Schrifttums

28

2.

Streitschriftenwechsel und ihre Protagonisten

45

3.

Das problematische Fundament der religiösen Polemik: Bekehrung statt Überzeugung

56

Religionsstreitigkeiten: Streiten gegen den Unglauben 1.

2.

Was ist der Zweck der Zweckformen? Methodische Vorüberlegungen Der Streit zwischen Luther und Emser: Reformatorische Sprachgewalt gegen altgläubige Gelehrsamkeit a. Luthers Adelsschrift von 1520, ein reformatorischer Keil in die Einheit von Glauben und Kirche b. Emsers Versuch, die Disputation fur die Volkssprache dienstbar zu machen c. Gezielte Reduzierung des Streits auf Invektiven und Anschuldigungen d. Vom Religionsstreit zum Wortkampf e. Verachtung, Bildungsdemonstration und Humanismus im Dienste antilutherischer Religionspolemik

61

61

66 66 68 76 81 84

VIII f. Militia Christi im Dienste der reformatorischen Agitation g. Die Kapitulation vor dem derben Deutsch Luthers . . . . h. Der Triumph flexibler Streittechniken und -fuhrung über Disputatorik und den Ketzervorwurf

88 93 98

3.

Der Streit zwischen Friedrich Staphylus und Jacob Andreae: Annäherung des Deutschen an das Lateinische in der Religionspolemik 101 a. Die Konversion von Friedrich Staphylus: eine Niederlage führender Lutheraner 101 b. Evangelische Rhetorik gegen katholische Ketzerpolemik 107 c. Die Volkssprache als Garantie für lutherische Dominanz im Religionsstreit? 116 d. Staphylus' Gegenbericht: gegen Andreae gerichtet, aber nicht gegen die Volkssprache 119 e. Christlicher Grobianismus statt christlicher Milde . . . .122 f. Der Versuch, zwischen Schmähung und Kontroverstheologie zu trennen 124 g. Zwischen Seelsorge und Schlachtfeld 129 h. Bedeutungszunahme des Deutschen und Ausformulierung der konfessionellen Differenz 132

4.

Der Streit um das Prager Bild - Frühorthodoxe Wahrhaftigkeit gegen jesuitische Aggressivität a. Appelle und Argumente gegen den politischen Einfluß der Jesuiten b. Emblematik und Seelsorge im Dienste gegenreformatorischer Religionspolemik c. Zwei Streittechniken - ein Ziel: Autoritätsdemonstration und Personalisierung als Techniken der Polarisierung d. Triumph-Gesten zur Stärkung des katholischen Gruppenbewußtseins e. Positionierung mittels Streitbeendigung

5.

134 134 140 152 158 167

Der Streit um die Meinungsführer des Münsterlandes . . . . 1 7 3 a. Glaubenspropaganda calvinistisch: Häusliche Exerzitien, Religionspolemik und Traditionsbildung 173 b. Appelle an das westfälische Traditionsbewußtsein gegen den Calvinismus 177 c. Ein kontroverstheologisches Handbuch als Schlußschrift eines Streits? 182

IX TEIL II: INTENTION UND WIRKUNG DER RELIGIONSPOLEMIK

I.

II.

Die Leser der religionspolemischen Streitschriften: Multiplikatoren der konfessionellen Differenz

187

Dimensionen des Streitens

194

1.

Die theologische Dimension: Grundlage und Voraussetzung des religionspolemischen Schrifttums 194

2.

Die politische Dimension: Propaganda für ein Fürstenhaus als Nebeneffekt der Religionspolemik

3.

Die autoritative Dimension: Orientierungshilfen in der Flut der religionspolemischen Schriften 203

4.

Die triumphale Dimension: Demonstration katholischer Überlegenheit über die reformatorischen Kirchen

207

Die sprachliche Dimension: Die Herausbildung der oberdeutschen Literatursprache als Folge der Religionspolemik

209

5.

III.

199

Religionspolemik und die .kollektivierende Wirkung des Streites'

213

TEIL III: MEDIEN DER GLAUBENSPROPAGANDA

Polemik in anderen Medien der propagatio fldei: Seelsorge, Psychagogik, jesuitischer Humanismus

225

I.

Konversionsberichte: Streitschriften zwischen Bekenntnisdrang und kontroverstheologischer Sachlichkeit 226

II.

Die Streitschrift eine überarbeitete Predigt, die Predigt ein Streitschriftenexzerpt?

232

III.

Katechetische Schriften: Vielfalt und Anschaulichkeit für Laien und Geistliche 237

IV.

Am Rande der Religionspolemik: Lieder und Gebete zwischen Psychagogik und Erbauung 1.

Das geistliche Lied im Spannungsfeld zwischen polemischer Kontrafaktur und literarischem Traditionalismus

251

252

χ

2.

V.

Gottes Liebe und die Macht des Gebets: Festigung und Pflege des Konfessionsbewußtseins

268

Jesuitischer Humanismus statt gegenreformatorischer Agitation: Die Vertreibung der Religionspolemik von der Bühne des späten 16. Jahrhunderts

271

1.

Agonistik statt Polemik

273

2.

Mißverständliche Rezeptionsangebote im Jesuitentheater fur volkssprachige Laien

277

Streitschriften, unzeitgemäße Medien bei der Invention von Dramen

281

3.

DISPUTATION UND ZANK II

Drei Anmerkungen zum Fortgang der Religionsstreitigkeiten im 17. Jahrhundert

287

1.

Das Reformationsjubiläum 1617: Konfessionsstreitigkeiten und die Ausdifferenzierung der Konfessionskultur 287

2.

Überregionalität als Prinzip: Streitschriften in katholischen Pfarrbibliotheken des 17. Jahrhunderts, das Beispiel Milte

3.

Jacob Masens Religionsstreit von 1657: Reunionsbemühungen mittels konfessioneller Polemik? 294

Literaturverzeichnis 1. 2. 3. 4.

290

Bibeln Nachschlagewerke und Hilfsmittel Quellen Forschungsliteratur

Personenregister

301 301 301 302 311 326

DISPUTATION UND ZANK I

Religionsstreitigkeiten im 16. Jahrhundert „Wavon disputierent ir, ich darff nit sagen: zanckent?"1 In den 1535 in Augsburg publizierten Dialogi Martin Bucers streiten drei Männer über das Wesen und die Funktion der Obrigkeit, genauer über die Legitimität von weltlich-obrigkeitlichen Anordnungen zur Durchsetzung christlicher Lebensführung im ihr unterstellten Territorium. Bucer adressiert die Dialoge an den Augsburger Rat, doch läßt er keinen Zweifel an der Allgemeingültigkeit seiner Ausfuhrungen aufkommen. Die drei Gesprächspartner führen die sprechenden Namen Hartmut, Sinnprecht und Fridlieb. Der gering gebildete, aber enthusiastische Hartmut ist ein glühender Verfechter der Reformation. Sein Kontrahent ist Sinnprecht, der theologisch zwischen den Religionsparteien steht und wohl Züge Sebastian Francks trägt. Zwischen diesen beiden vermittelt Fridlieb, ebenfalls ein Verfechter der Reformation, jedoch um Mäßigung und Verständnis bemüht.2 „Wavon disputierent ir, ich darff nit sagen: zanckent?" fragt Fridlieb die beiden zu Beginn, als sie aneinander geraten. Er fragt nach dem theologischen Kern des Streitgesprächs, aber bemerkenswert ist die ostentative Gegenüberstellung von disputieren und zanken. Diese Zwischenfrage bereitet das erste der neun Kapitel vor: „Das Erst Gespräch: was darzu erfordret wirdt, das man mit frucht von Gottes hendlen disputiere." Hier geht es nicht um erste Grundlegungen der im Zentrum der Dialoge stehenden theologischen Fragen, sondern um die Vergewisserung, wie christliches Disputieren vonstatten zu gehen habe und was in ihm unangemessen sei - das christliche wie rhetorische Generalgebot der Gesprächsfuhrung wird erörtert: Angemessenheit, aptum, wird eingefordert. Die charakteristischen Schlagwörter dafür sind ,Sanftmütigkeit', ,Zucht' oder ,Züchtigkeit' gegenüber dem Gegner und Bescheidenheit', ,Geduld' und .Freundlichkeit'. 3 Abgelehnt dagegen wird der

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3

Martin Bucer: Dialogi oder Gesprech Von der gemainsame vnnd den Kirchen Übungen der Christen Vnd was yeder Oberkait von ampts wegen auß Göttlichem befelch an den selbigen zuuersehen vnd zu besseren gebüre. In: Martin Bucers Deutsche Schriften. Hrsg. von Robert Stupperich. Bd. 6,2. Gütersloh 1984 (= Martini Buceri Opera omnia. Series 1. Deutsche Schriften), S. 39-188, hier S. 55. Den Hinweis auf die Dialogi verdanke ich Caroline Emmelius, Göttingen. Wegen der besseren Zugänglichkeit wird nach Möglichkeit auf Editionen der Texte zurückgegriffen. Wo Editionen fehlen, werden die Quellen nach dem Originaldruck zitiert. Frühneuzeitliche Umlaut- und Diphthongkennzeichnungen werden modernisiert, Abbreviaturen werden aufgelöst. Zum Personal vgl. ebd., S. 44. Vgl. ebd., S. 56f.

4 Zank: „Was hayst Du dann gezanckt?" fragt Hartmut. Fridlieb antwortet: „So yeder seine mainung mit Worten on gegründete Ursachen bestreyten will und zum höchsten darauf sieht, das er nur nit geachtet werde, etwas gewichen sein oder nachgeben haben. Got gebe, wie es umb die warhait stände."4 Die Forderung nach Mäßigung belegt dessen Fehlen in der Realität, wie Fridlieb selbst eingesteht: „Das erfaren wir zwar täglich in allen disputationen und ernstlichen gesprächen, da die letit nit gleiche mainungen haben. Wie kümmerlich lasset nur ainer den anderen außreden, ich geschweige, das yeder des andern red also deütete und richtete, wie er wolte, das im seine red gedeütet und gerichtet wurde." 5 Wovon Martin Bucer im ersten Kapitel seiner Dialogi die Figuren berichten und woran er Fridlieb Anstoß nehmen läßt, ist das Streiten um Religionsangelegenheiten in zum Teil derber Wortwahl und ohne Rücksicht auf den Kontrahenten, von denen auch Auseinandersetzungen mit „gegründete^] Ursachen", mit überprüfbaren Argumenten, nicht frei waren. Diese Streitigkeiten wurden in Disputationen und Streitgesprächen und in unüberschaubarer Zahl mittels Streitschriften geführt. Bucer mahnt zur christlichen Milde bei Religionsstreitigkeiten. Sein Appell blieb unerhört. Religionsstreitigkeiten - dieses Wort findet sich im Titel zahlreicher Bücher der Frühen Neuzeit. Sie haben eine entscheidende Gemeinsamkeit. In ihnen geht es immer um die in alle Bereiche des Lebens reichenden religiösen Spannungen, Konflikte und Brüche der Frühen Neuzeit, die durch die Reformation ausgelöst wurden. Die Auseinandersetzungen zwischen der katholischen Kirche und den evangelischen ,Sekten', sehr bald zwischen den verschiedenen protestantischen Flügeln und späteren Kirchen werden in Büchern, auf deren Titelblättern von ,Religionsstreitigkeiten' gesprochen wird, immer wieder dargestellt. Manch ein Autor wendet sich einer konkreten Auseinandersetzung zu, etwa einem Religionsgespräch, andere bemühen sich um Zusammenfassungen und Gesamtdarstellungen der vielfaltigen Kontroversen. Die Verfasser dieser Bücher sind in allen Konfessionen beheimatet, dementsprechend verfolgen sie unterschiedliche Ziele und Bewertungen.6

* 5 6

Ebd., S. 57. Ebd., S. 58. Stellvertretend für die zahlreichen Bücher, die ,Religionsstreit' oder .Religionsstreitigkeit' im Titel fuhren, seien hier zwei Werke genannt: Jacob Masen: Der Herrn Protestanten Wider GOttes Wort getriebener Religionsstreit/ Durch bewehrte Schrifftprob Gegen D. JOANNEM COCCEIVM Batavo-Leidensem Theologum Hindertrieben/ vnd durch Gottes Wort/ mit zustimmender altrechtgläubigen Kirchen nidergelegt. [...]. Mit Zusatz Einer kurtzen vnd leichten weiß den Religionsstreit durch Europam zu endigen. Köln 1657. Diese umfangreiche Streitschrift aus der Feder des bekannten Jesuiten ist eine Widerlegung des Leidener Theologen Johannes Cocceius. Im deutlichen Kontrast dazu steht: Johann Georg Walch: Historische und theologische Einleitung in die Religions=Streitigkeiten der Evangelisch Lutherischen Kirche. 5. Bde. [die Bde. 3-5 jeweils in zwei Teilbänden]. Jena 1733-1739, Reprint Stuttgart-Bad Cannstatt 1972-1985. Die Unterschiede zu Masens Buch liegen auf der Hand: Walch legt eine kirchenhistorische Gesamtdarstellung vor, die vom lutherischen Selbstbewußtsein geprägt ist, allein die evangelische Kirche sei die

5 Religionsstreitigkeiten - kein anderes Wort verweist deutlicher auf die Wirkungsmacht der Volkssprache7 und auf die bei aller geistigen Sturheit und Unbeweglichkeit der Beteiligten prägende Kraft des Dialogischen in den Kontroversen.8 Das vorliegende Buch stellt die Frage, mit welchen Mitteln, medial wie sprachlich, um Religion gestritten wurde, und welche Ziele sich aus der Wahl dieser Mittel ableiten lassen. Um Fragen der Religion wurde in der Frühen Neuzeit zunächst in lateinischer Sprache gestritten. Die Grenzen der vernakularen Behandlung religiöser Streitfragen hin zur im engeren Sinne theologischen und also lateinischen Traktierung sind im Einzelfall nur schwer beschreibbar.9 Deswegen erfolgt in dieser Arbeit eine pragmatische Beschränkung auf die Volkssprache, die sich zum einen durch die Stoffmasse, zum anderen durch die Eigengesetzlichkeiten des volkssprachlichen Streitens rechtfertigen läßt.10

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Kirche Gottes, so daß die katholische Kirche und damit die Streitigkeiten mit dieser nicht Gegenstand des Werkes sind. Klaus Grubmüller: .Deutsch' an der Wende zur Neuzeit. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hrsg. von Walter Haug. Tübingen 1999 (= Fortuna vitrea, 16), S. 263-285. Norbert W. Feinäugle hat darauf hingewiesen, daß die „Grundform" jedes Streites und jeder Polemik dialogisch ist. Die „individuelle Leistung" des jeweiligen Verfassers „liegt erst in der Ausgestaltung dieser Grundform"; vgl. ders.: Lessings Streitschriften. Überlegungen zu Wesen und Methode der literarischen Polemik. In: Lessing Yearbook 1 (1969), S. 126-149, hier S. 129. Ähnliches gilt fur die mündliche Traktierung von theologischen Streitfragen mittels der Disputation. Zwar setzte sich seit den zwei Zürcher Disputationen im Jahr 1523 die Volkssprache als Sprache der nicht im üblichen akademischen Rahmen stattfindenden theologischen Streitgespräche durch, doch folgten die Teilnehmer weiterhin zahlreichen Gepflogenheiten der lateinisch-akademischen Disputation, und außerdem war, wenn Teilnehmer es wünschten, wiederholt ein Wechsel ins Lateinische als Gesprächssprache möglich, mit umgehender Übersetzung durch reformatorische Geistliche fur anwesende Laien; vgl. Bernd Moeller: Zwingiis Disputationen. Studien zu den Anfangen der Kirchenbildung und des Synodalwesens im Protestantismus. I. Teil. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung fur Rechtsgeschichte 87 (1970), Kan. Abt. 56, S. 275-324, bes. S. 301-315; sowie: II. Teil. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 91 (1974), Kan. Abt. 60, S. 213-364, bes. S. 353-358. Daß eine Studie über Glaubensstreitigkeiten an lateinischen Schriften keinesfalls vorbeikommt, liegt auf der Hand; vgl. Hans-Gert RolofF: Konfessionelle Probleme in der neulateinischen Literatur des 16. Jahrhunderts. In: Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit. Akten des I. Internationalen Osnabrücker Kongresses zur Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Klaus Garber. Tübingen 1989 (= Frühe Neuzeit, 1), S. 207-225, S. 225: Die „Literaturhistorie muß die lateinische deutsche Literatur in vollem Umfang berücksichtigen, sonst entgehen ihr weite Problemfelder nationaler Verhaltensweisen." Vgl. auch Erich Kleinschmidt: Volkssprache und historisches Umfeld. Funktionsräume einer deutschen Literatursprache in der Frühen Neuzeit. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 101 (1982), S. 411-436. Historische Voraussetzungen und Vorbilder der Streitschriftenwechsel im 16. Jahrhundert waren die zahlreichen Religionsgespräche; vgl. Marion Hollerbach: Das Religionsgespräch als Mittel der konfessionellen und politischen Auseinandersetzung im Deutschland des 16. Jahrhunderts. Frankfurt a.M., Bern 1982; Thomas Fuchs: Konfession und Gespräch. Typologie der Religionsgespräche in der Reformationszeit. Köln, Weimar, Wien 1995 (= Norm und Struktur, 4).

6 Wichtigstes Medium des Streitens waren Streitschriften. 1572 veröffentlichte Caspar Franck, Konvertit und katholischer Geistlicher," ein Buch mit dem Titel PRODROMVS oder Vortrab/ Der rettung deß büchleins von rechter/ ordentlicher wähl/ vnd beruff/ der Catholischen/ vnd Euangelischen Priester vnd Prediger,12 das er selbst ausdrücklich „streitschrifft" nennt. Francks Buch weist zahlreiche Merkmale auf, die typisch fur Streitschriften sind.13 Es ist deutlich länger als konventionelle Flugschriften14 (59 Blatt und eine umfangreiche Vorrede). Es richtet sich gegen einen namentlich genannten Feind (Georg Nigrinus) und beansprucht bereits im Titel durch typische Schlagwörter („rettung", „vnpartheysche richter") Urteilskompetenz. Streitschriften sind grundsätzlich dialogisch konzipiert, in dem Sinne, daß sie Kontrahenten zur Reaktion in derselben Gattung herausfordern. Sie zeigen üblicherweise den Verfasser, den Gegner und den theologischen Streitpunkt an, der in Anlehnung an das Disputationswesen „Hauptpunct" oder status controversiae genannt wird.15 Seltener ist dafür das Substantiv ,Span', mit dem etwa Bucer operiert: „Was ist aber der span?" fragt Fridlieb eingangs.16 Die ausführliche Traktierung eines Streitpunkts ruft Verteidiger und Kontrahenten auf den Plan, ein Streit beginnt. Dementsprechend finden die zahlreichen anonymen Satiren und Pasquille des

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Zu Francks Person vgl. unten S. 229f. Caspar Franck: PRODROMVS oder Vortrab/ Der rettung deß büchleins von rechter/ ordentlicher wähl/ vnd beruff/ der Catholischen/ vnd Euangelischen Priester vnd Prediger. Darinnen durch vnpartheysche Richter/ erkleret/ vnd gründlich dargethan wirdt/ wie feischlich/ vnd betrieglich Georg Nigrinus Lutherischer Predicant/ vnnd andere seine Aidgenossen/ sich der lehr/ glauben vnd Confession der vralten Apostolischen lehrer rhümen vnd gebrauchen/ jedermann gantz lustig zu lesen/ vnd zubedencken. Ingolstadt 1573, Bl. 56'. Auch der Franziskaner Johannes Nas etwa spricht explizit von „Streitschrifft": Handbüchlein Des klein Christianismi/ vom rechten Glauben/ thun vnd lassen/ hoffnen vnnd fürchtens/ kurtz vnd gut/ leicht vnd nutzlich (O.O.u.J. [1570]), in der Vorrede, ohne Seitenzählung, nach Lagenzählung Bl. Av v . Vgl.: Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit. Beiträge zum Tübinger Symposion 1980. Hrsg. von Hans-Joachim Köhler. Stuttgart 1981 (= Spätmittelalter und Frühe Neuzeit, 13). Vgl. etwa Sigmund [auch Sigismund] ErnhofFer: Warhaffte/ Augenscheinliche/ gemehrte/ vnd wolgegründte Schutzschriffi/ deß verbesserten kleinen Catechismi D. Martini Luthers/ so jüngst zu Grätz in Steyrmarck in Druck außgangen. Wider Wilhelm Zimmerman/ vnd Jacob Heerbrandt/ Diener am Wort. In: ders.: Der Evangelische Wetter=Han/ das ist: ungleiche Reden Martini Lutheri/ von den furnembsten Artickeln Christlicher Religion: jetzt auffs new zugericht [...]. Ingolstadt 1617, S. 487-600, hier S. 490: „Ja wann man hinwegk solt thun auß seinem [Heerbrands] Büchel/ was Statum controuersiae, den Hauptpunct nicht angehet/ so wurde in seinem gantzen Geschwätz nit ein Bogen vberbleiben/ der was kräfftiges inn sich hätte." Bucer: Dialogi, S. 55. ,Span' wird im Grimmschen Wörterbuch mit „zank" und „controversia" umschrieben, er werde bei „rein geistigen Streitfragen, besonders von solchen über glaubenssachen" verwendet; vgl. Grimms D W b 16 (1905), Sp. 1867-1871, hier Sp. 1868.

7 16. Jahrhunderts in dieser Arbeit nur selten Erwähnung, weil sie üblicherweise nicht mit Streitschriften beantwortet wurden.17 Streitigkeit' - .Kontroverse' - .Polemik': Diese Begriffe sind im modernen Sprachgebrauch unterschiedlich konnotiert. Daher ist es angeraten, sich den Sprachgebrauch des 16. Jahrhunderts zu vergegenwärtigen. .Streitigkeit' ist die übliche Übersetzung bzw. volkssprachliche Entsprechung sowohl von .Polemik' als auch von .Kontroverse', wobei im Regelfall durch Attribute oder Bildung von Komposita eine Präzisierung vorgenommen wird, wie im titelgebenden Beispiel: .Religionsstreitigkeit'. Die Unterscheidung zwischen Polemik und Kontroverse verläuft in der Frühen Neuzeit nicht entlang der modernen Trennlinie. Eine zeitgenössische Entsprechung des modernen Begriffs .Kontroverstheologie' ist nicht theologia controversa, sondern theologia polemical Controversia meint im 16. Jahrhundert hingegen zum einen die Streitigkeit selbst (man denke an den genannten status controversial), zum anderen die Lehrinhalte der polemischen Theologie, so in den berühmten Disputationes de controversiis christianae fidei adversus huius temporis haereticos Kardinal Bellarmins (die Erstauflage erschien 1587-1593). 19 Mit diesem Rekurs auf die zeitgenössische Terminologie verbindet sich die Absicht, den Begriff der .Polemik' nicht auf einzelne aggressive Stilmittel oder rhetorische Streittechniken zu reduzieren. Wenn in dieser Arbeit von .Polemik' gesprochen wird, so meint das religiöse Polemik oder Konfessionspolemik im skizzierten historischen Sinne, während auf einen ausschließlich literaturwissenschaftlichen Gebrauch des Begriffs Polemik zugunsten einer präziseren Terminologie der rhetorischen Textanalyse verzichtet wird. Das ist deshalb angeraten, weil die Germanistik bis heute keine befriedigende Klärung dieses Begriffs erzielen konnte. Wilfried Barner hat daran erinnert, daß es in der europäischen Literatur bereits sehr früh „Elemente des Streitens, ja der Polemik" gab.20 Doch hat das Interesse der Literaturwissenschaft und der Rhetorik am Phänomen Polemik lediglich zu Einzelanalysen, nicht aber zu grundsätzlichen Begriffsklärungen geführt.21 Die

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Grundlegend: Günter Schmidt: Libelli famosi. Zur Bedeutung der Schmähschriften, Scheltbriefe, Schandgemälde und Pasquille in der deutschen Rechtsgeschichte. Köln 1985; vgl. auch Oskar Schade (Hrsg.): Satiren und Pasquille aus der Reformationszeit. 3 Bde. Hannover 2 1863, Reprint Hildesheim 1966. Noch im frühen 19. Jahrhundert unterscheidet Friedrich Schleiermacher die .philosophische Theologie' in ,Apologetik' und ,Polemik'; vgl. ders.: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen. Hrsg. von Heinrich Scholz. Nachdr. der 3. krit. Ausg. Leipzig 1910. Reprint Darmstadt 1993, §§ 32-68. Vgl. außerdem die sich kulturkämpferisch gebende, dogmengeschichtliche Arbeit von Paul Tschackert: Evangelische Polemik gegen die römische Kirche. 2., verbesserte Aufl. Gotha 1888. Vgl. Ulrich Köpf: Kontroverstheologie. In: HWR 4 (1998), Sp. 1302-1311. Wilfried Bamer: Was sind Literaturstreite? Über einige Merkmale. In: Literaturstreit. Hrsg. von Hans-Jürgen Bachorski, Georg Behütuns, Petra Boden. Bielefeld 2000 (= Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 47 [2000], H. 4), S. 374-380, hier S. 375. Das betont auch Hermann Stauffer: Polemik. In: HWR 6 (2003), Sp. 1403-1415. Anders sieht das in der historischen Dialoganalyse aus; vgl. Marcelo Dascal: On the uses of argumentative reason in religious polemics. In: Theological Controversies. Ed. by Marcelo

8 Schwierigkeiten treten beispielsweise in einem Aufsatz von Norbert W. Feinäugle offen zutage, der zurecht darauf hinweist, daß Polemik in der Aufklärung (wie schon in der Frühen Neuzeit) vielmehr als Methode und weniger als Stil zu verstehen ist. Pointierend erklärt Feinäugle, Lessing habe „sich in manchen Stücken der Literaturbriefe oder der Hamburgischen Dramaturgie, die im Ton durchaus polemisch sind, der polemischen Methode nicht bedient."22 Vor dieser Schwierigkeit sieht sich ebenso Richard E. Walker, der in seiner Studie zum Franziskaner Johannes Nas das Problem offen formuliert, ohne daraus eindeutige Konsequenzen zu ziehen: „The term ,polemic', as it is being used here, refers both to a process and to a mode of discourse."23 Von ,Religion' muß zuvörderst aus zwei Gründen gesprochen werden. Zum einen ist es der zeitgenössische Wortgebrauch. In der Frühen Neuzeit sprach man nicht von Konfession im modernen Sinne verschiedener Konfessionskirchen. Zwar gab es zahlreiche confessiones, Bekenntnisschriften, doch waren diese Dokumente zur theologischen Positionierung verfaßt.24 Es galt die Einheit der heiligen Kirche und christlichen Religion. Von dieser und erst nachgeordnet von Konfession zu sprechen, das verweist zweitens auf den Umstand, daß in dieser Arbeit Bücher und Schriften aus dem gesamten 16. Jahrhundert behandelt werden. Zu Beginn der Reformation war die Entwicklung hin zu mehreren großen Konfessionen und zahlreichen protestantischen Absplitterungen nicht absehbar. Vor diesem Hintergrund von Konfession zu sprechen, würde der Reformation eine Teleologie aufnötigen, die den historischen Gegebenheiten und Wahrnehmungen nicht entsprach. Eine Arbeit, die das Sprechen und Streiten über Religion in der Frühen Neuzeit untersucht, gehorcht damit teilweise anderen Gesetzen als die großen Arbeiten der Geschichtswissenschaft. Der Terminus ,Religionsstreitigkeiten' versteht sich nicht als Gegenentwurf zu anderen Begriffen und Fragestellungen; man denke etwa an Heinz Schillings einschlägiges Buch über Konfessionskonflikte in der Grafschaft Lippe.25 Vielmehr ist das Ziel, eine germanistische Standortbestimmung zu diesem Themenkomplex vorzulegen, die genannten sprachlichen und medialen Bedingungen grundlegend mittels exemplarischer Studien zu untersuchen und an geleistete Forschungen verschiedener Fächer anzubinden. Der titelgebende Begriff ,Religionsstreitigkeiten' wäre damit nach Kriterien der Sozial- und Strukturgeschichte m i t , volkssprachliche Konfessionspolemik' zu umschreiben.

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Dascal, Gerd Fritz, Thomas Gloning, Yaron Senderowicz. Gießen 2001 (= Controversies in the Republique des Lettres. Technical report, 4), S. 3-17. Feinäugle: Lessings Streitschriften, S. 148. Richard E. Walker: The Uses of Polemic: The ,Centuriae' of Johannes Nas. Göppingen 2000 (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik, 678), S. 3. Vgl. etwa den Titel von Caspar Franck: PRODROMVS oder Vortrab. Heinz Schilling: Konfessionskonflikt und Staatsbildung. Eine Fallstudie über das Verhältnis von religiösem und sozialem Wandel in der Frühneuzeit am Beispiel der Grafschaft Lippe. Gütersloh 1981 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, 48). Schilling vermeidet den Begriff der Religion ostentativ zugunsten von Konfession, vgl. im Register S. 441 den Eintrag: „Religion siehe Konfession".

9 In einer germanistischen Arbeit bedarf ferner der schlichte Hinweis auf das 16. Jahrhundert im Titel und damit das Fehlen einer spezifischen Epochenbenennung der Erklärung. Kein anderes Jahrhundert stellt sich in der germanistischen Literaturwissenschaft derart disparat dar wie das sechzehnte. Keine Epochenbezeichnung vermochte sich bisher durchzusetzen, die wirkungsmächtige Zweiteilung des Faches in Mediävistik und Neugermanistik hat der neueren literaturhistorischen Darstellung des 16. Jahrhunderts geschadet. Das wird beim Blick in die beiden umfangreichsten Gesamtdarstellungen zum 16. Jahrhundert deutlich, die gezielt an die mittelalterliche Literaturgeschichte angebunden sind - erst mit dem Barock scheint die ,echte' Neugermanistik ihren Forschungsgegenstand zu erhalten. Bereits der Titel der ersten zuverlässigen Gesamtdarstellung zum 16. Jahrhundert ist dem geschuldet. Wolfgang Stammlers Von der Mystik zum Barock (zuerst 1927)26 und Hans Rupprichs zweiter Teil seiner Literaturgeschichte Vom späten Mittelalter bis zum Barock (dann schon 1973)27 nennen im Titel zwar die folgende Epoche, doch vermeiden beide einen Epochenbegriff für das 16. Jahrhundert. Diese Schwierigkeit wird noch offensichtlicher in dem Untertitel des zweiten Bandes von Rupprich: Das Zeitalter der Reformation ist eine Epochenbezeichnung, die sich ohne jeden Zweifel an der Geschichtswissenschaft orientiert; eine Vorgehensweise, die ansonsten lediglich von explizit sozialhistorisch ausgerichteten Literaturgeschichten bekannt ist. Die Schwierigkeiten, die das 16. Jahrhundert der germanistischen Literaturgeschichtsschreibung bereitet, zeigen sich weiterhin an dem Sachverhalt, daß es zahlreiche Darstellungen gibt, die sich ausschließlich dem Zeitalter der Reformation zuwenden - in einigen Fällen gar stellvertretend für das gesamte Jahrhundert.28 Dieses Vorgehen wird dem Jahrhundert nicht gerecht, immerhin werden durch diese Beschränkung die ersten ca. 20 Jahre des Jahrhunderts sowie, je nach methodischem Ansatz, die Jahre nach 1555 oder nach 1570 unterschlagen. Die einschlägigen Arbeiten von Könneker 29 und Walz 30 vermeiden jeden Anspruch auf Gültigkeit jenseits ihres genannten Darstellungszeitraums. Trotzdem können beide Bücher nicht überzeugen, weil in ihnen Schriften katholischer Autoren nahezu vollständig ausgeblendet werden. Könneker untersucht exemplarische Einzelwerke. Der einzige von Ungenannte Autor, der dem alten Glauben die Treue gehalten hat, ist Thomas Murner, dessen Von dem großen Lutherischen Narren von 1522 gerade kein

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Wolfgang Stammler: Von der Mystik zum Barock 1400-1600. 2. durchges. u. erw. Aufl. Stuttgart 1950. Hans Rupprich: Vom späten Mittelalter bis zum Barock. Zweiter Teil: Das Zeitalter der Reformation 1520-1570. München 1973 (= Geschichte der Deutschen Literatur von den Anfangen bis zur Gegenwart, 4/2). Das gilt etwa für das ansonsten breit angelegte Handbuch von Wolfgang Brückner (Hrsg.): Volkserzählung und Reformation. Ein Handbuch zur Tradierung und Funktion von Erzählstoffen und Erzählliteratur im Protestantismus. Berlin 1974. Barbara Könneker: Die Deutsche Literatur der Reformationszeit. Kommentar zu einer Epoche. München 1975. Herbert Walz: Deutsche Literatur der Reformationszeit. Eine Einführung. Darmstadt 1988.

10 typisches Zeugnis der Widerstände gegen Luther, sondern ein Beispiel für die von Könneker an anderer Stelle so hervorragend dargestellte Satire des 16. Jahrhunderts ist.31 Walz verfahrt ähnlich. Als erstes Kapitel wählt er in seiner gattungsorientierten Darstellung die Bibelübersetzung, und im ausführlichen Kapitel über das Lied erwähnt er auf zwei Seiten das katholische Lied.32 Die Stärke von Walz liegt in seinem Bemühen um eine der historischen Bedeutung angemessene Nennung der katholischen Schriftsteller. Im Kapitel über die Flugschriften werden katholische Verfasser gewürdigt, wenn auch die Zuordnung in einigen Fällen irritierend ist. So ist zu fragen, weswegen er im Kapitel über Flugschriften auf Murners Lutherischen Narren zu sprechen kommt. Das Anliegen, der konkreten Literatursituation im 16. Jahrhundert gerecht zu werden, ist dagegen den Grundpositionen der deutschen Literatur im 16. Jahrhundert ausdrücklich abzusprechen.33 Dieses Buch steht ganz im Zeichen marxistischer Geschichtswissenschaft. Das 16. Jahrhundert wird ausschließlich aus dem Blickwinkel der Reformation, zumal ihres ,linken Flügels', betrachtet. Prominente Verteidiger des Papsttums und Gegner Luthers wie Eck und Emser werden nur peripher genannt, als es um Wappentiere auf Flugschriften-Titelblättern geht.34 Die Fokussierung auf die Reformation birgt unabhängig von der methodischen Zuverlässigkeit des jeweiligen Werkes zahlreiche Schwierigkeiten. Die Stärke von Stammler und Rupprich liegt im Vergleich zu den genannten jüngeren Arbeiten in dem Bemühen um eine angemessene Darstellung - sowohl im Hinblick auf die Autoren und deren Konfession als auch auf eine getreue Nennung aller wesentlichen Textsorten des 16. Jahrhunderts. Neben den großen Romanen und der vielfaltigen Theaterlandschaft finden Zweckformen und Gebrauchsliteratur umfangreiche Erwähnung. Das Problem bleibt die Epochenbenennung. Während die ersten zwanzig Jahre mit gutem Gewissen dem Humanismus zugeschlagen werden können, bereitet die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts große Schwierigkeiten. Rupprichs Werk endet mit dem Jahr 1570. Stammler vermeidet Epochenbegriffe und unterteilt das 16. Jahrhundert statt dessen qualifizierend in die Zeit der berühmten .Lutherischen Pause' und die folgende Zeit des .Künstlerischen Anstiegs'. 35 Die Jahre vor 1600 werden zur Vorbereitungsphase des Barock. Endgültig zu überzeugen vermag das jedoch nicht, denn so droht jedes literarische Zeugnis durch die ,barocke Brille' betrachtet zu werden. Vergleichbare Probleme birgt der für die Zeit um 1600 in vielerlei Hinsicht so sinnvolle Epochenbegriff Späthumanismus in sich.36 Das

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Barbara Könneker: Satire im 16. Jahrhundert. Epoche - Werk - Wirkung. München 1991. Walz: Deutsche Literatur der Reformationszeit, S. 50f. Ingeborg Spriewald (Leiterin eines Autorenkollektivs): Grundpositionen der deutschen Literatur im 16. Jahrhundert. Berlin, Weimar 2 1976. Ebd., S. 102. Johannes Cochlaeus wird sogar noch ein weiteres Mal genannt! Stammler: Von der Mystik zum Barock, S. 302—411, bzw. S. 4 1 2 ^ 9 5 . Vgl. dazu: Späthumanismus. Studien über das Ende einer kulturhistorischen Epoche. Hrsg. von Notker Hammerstein, Gerrit Waither. Göttingen 2000. Grundlegend: Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Spät-

11 volkssprachliche Gebrauchsschrifttum folgt kaum den Gesetzen eines Späthumanismus, der sozialhistorisch in der res publica litteraria31 zu verorten und stiltypologisch nicht zuletzt durch imitatio und aemulatio gekennzeichnet ist. Das große Schlagwort ,Gegenreformation' ließ sich in der Literaturgeschichtsschreibung nicht endgültig in Stellung bringen. Abermals wäre ein Epochenbegriff einer benachbarten Disziplin entlehnt worden, die ihn darüber hinaus inzwischen einer kritischen Revision unterzogen hat, auf die es noch einzugehen gilt. Außerdem - das bestätigt nur das Uncharakteristische des Begriffs für die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts - wurde er von Paul Hankamer für das katholische Schrifttum des 17. Jahrhunderts in Anspruch genommen.38 Einen fundamentalen Neuansatz hat Hans-Georg Kemper in seiner Deutschen Lyrik der frühen Neuzeit unternommen. Abermals durch die Geschichtswissenschaft angeregt, rücken zwei Begriffe ins Zentrum seiner Überlegungen, der der ,frühen' oder ,Frühen Neuzeit' sowie der der ,Konfession' und des ,Konfessionalismus'. 39 Der Begriff der .Frühen Neuzeit' hat sich inzwischen weitgehend durchgesetzt,40 auch wenn damit die poetischen Gattungen wie die Zweckformen des 16. Jahrhunderts deutlich von Spätmittelalter und Humanismus abgegrenzt werden und die Trennung von Mittelalter und Früher Neuzeit entgegen der Absicht und Einsicht Rupprichs und Stammlers manifestiert wird.41 Kempers Vorschlag ,Konfessionalismus' konnte sich dagegen nicht durchsetzen. Im Gegensatz zu ,Konfessionalisierung' wirkt ,Konfessionalismus' pejorativ und statisch. In der Geschichtswissenschaft wird die Epoche .Konfessionelles Zeitalter' genannt und nicht etwa ,Konfessionalismus'. Zum

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humanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 3). Herbert Jaumann: Gibt es eine katholische ,Respublica litteraria'? Zum problematischen Konzept der Gelehrtenrepublik in der Frühen Neuzeit. In: Kaspar Schoppe (1576-1649). Philologe im Dienste der Gegenreformation. Beiträge zur Gelehrtenkultur des europäischen Späthumanismus. Hrsg. von Herbert Jaumann. Frankfurt a. M. 1998 (= Zeitsprünge 2 [1998] H. 3/4), S. 361-379. Vgl. auch Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat, bes. S. 10f. Paul Hankamer: Deutsche Gegenreformation und deutsches Barock. Die deutsche Literatur im Zeitraum des 17. Jahrhunderts. Stuttgart 4 1976; mit der historischen Einfuhrung „Ursprünge und Bedingungen", sodann aber mit der goetheschen Trias Lyrik, Drama, literarische Prosa. Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Tübingen 1987ff. Bd. 1: Epochen- und Gattungsprobleme. Reformationszeit [1987]; Bd. 2: Konfessionalismus [1987], Auf zahlreiche Schwierigkeiten weist Herbert Jaumann hin: Frühe Neuzeit. In: RLW 1 (1997), S. 632-636. Jüngere Arbeiten bemühen sich dagegen wieder stärker um differenzierte Darstellung der Kontinuitäten aber auch der Veränderungen zwischen Spätmittelalter und Frühneuzeit; teilweise durch gezielte Fragestellungen, teilweise durch grundlegende Überlegungen: vgl. bes. den Sammelband von Haug (Hrsg.): Mittelalter und frühe Neuzeit; vgl. auch Mittelalterliche Denk- und Schreibmodelle in der Deutschen Literatur der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Wolfgang Harms, Jean-Marie Valentin. Amsterdam 1993 (= Chloe, 16).

12 anderen hat dieser Terminus den Nachteil, daß Kemper unter der Epoche die Zeit von 1555/63 bis 1685 subsumiert; der bei aller Kritik etablierte BarockBegriff 42 wird damit in die zweite Reihe zurückgedrängt und außerdem in Barock-Mystik und Barock-Humanismus aufgeteilt. Die Schwierigkeiten bei der Suche nach einem überzeugenden Epochenbegriff fur die Zeit zwischen Reformation und Dreißigjährigem Krieg bzw. Opitz' Buch von der Deutschen Poeterey (1624) sind Ausdruck eines grundsätzlichen Problems des Faches: „Von den drei ersten Jahrzehnten abgesehen ist die Literatur des 16. Jahrhunderts so wenig erforscht wie keine andere Epoche der neueren deutschen Literaturgeschichte."43 Vor dem Hintergrund der geschilderten Schwierigkeiten wird bewußt auf einen Epochenbegriff im Titel dieser Arbeit verzichtet und statt dessen neutral vom 16. Jahrhundert gesprochen. Dieses Vorgehen ist ferner geboten, weil religionspolemisches Schrifttum und insbesondere Streitschriften seit der frühen Reformation keinem epochalen Wandel unterliegen, vielmehr bleibt bei aller Ausdifferenzierung in Argumentation und Stil die volkssprachliche Streitschrift eine verhältnismäßig stabile Gattung; das werden die exemplarischen Studien zeigen. Die Erforschung der Religionsstreitigkeiten des 16. Jahrhunderts ist ein wesentliches Forschungsdesiderat der Germanistik zum Verständnis des Jahrhunderts. Stammler und Rupprich stand dieser Sachverhalt bereits vor Augen: „Die frühneuhochdeutsche Literatur wird zunächst beinahe völlig durch ein Kampf-, Unterweisungs- und Gebrauchsschrifttum beherrscht."44 Die meist gelehrten Verfasser konfessioneller Streitschriften treiben sich in der Volkssprache nicht zwangsläufig notgedrungen herum. Unter ihnen sind hervorragende Schriftsteller wie Murner oder Fischart. In zahlreichen Streitschriften finden sich Erstbelege für Neologismen, satirische Wortspiele und Redewendungen, die das frühneuzeitliche Deutsch prägten. Wesentliche Redestrategien in den Streitschriften liegen in der antiken und christlichen Rhetorik begründet. Für die Volkssprache gab es aber keine Rhetorik-Lehrbücher, so daß wichtige Rede-Techniken und -Strategien aus der lateinischen Rhetorik entlehnt,45 daneben auch volkssprachliche Elemente integriert wurden, wodurch zahlreiche neue Mischungen entstanden, die immer wieder neu das Spannungsverhältnis zwischen prodesse, delectare und movere austarierten.

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Wilfried Barner (Hrsg.): Der literarische Barockbegriff. Darmstadt 1975; vgl. ders.: Stilbegriffe und ihre Grenzen. Am Beispiel ,Barock'. In: Deutsche Vierteljahrsschrift fur Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 45 (1971), S. 302-325; Herbert Jaumann: Die deutsche Barockliteratur: Wertung - Umwertung. Eine wertungsgeschichtliche Studie in systematischer Absicht. Bonn 1975 (= Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft, 181). Kemper: Konfessionalismus, S. IX. Rupprich: Das Zeitalter der Reformation, S. 3. Vgl. Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970, S. 159-167; vgl. auch Walter Haug: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter von den Anfangen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. 2. Überarb. u. erw. Aufl. Darmstadt 1992, S. 7-24.

13 Selbstverständlich beginnt der Germanist, wenn er sich der konfessionellen Polemik zuwendet, nicht im Nichts. Voraussetzungen haben die genannten Literaturgeschichten von Stammler und Rupprich geleistet. Besonders Rupprich bemüht sich in seinem umfangreichen 2. Kapitel, „Kampf-, Unterweisungs- und Gebrauchsschrifttum. Die katholische Reform und Restauration", Angaben und Hinweise zu Verfassern und Werken zu liefern, die über den engeren Zeitraum der Reformation hinausgehen. Damit wird ein erster Eindruck von den Religionsstreitigkeiten des gesamten 16. Jahrhunderts vermittelt, zumal Rupprich manchmal, wo geboten, den Zeitrahmen überschreitet und Autoren nennt, die erst deutlich nach 1570 zu schreiben begannen. Doch bei aller für eine Überblicksdarstellung bemerkenswerten Vollständigkeit leidet sein Werk daran, daß es über die Nennung von Autoren und Titeln sowie die Einordnung ins konfessionelle Spektrum nicht hinausreicht. Den Dialogcharakter der einzelnen Streitschriften und der Kontroversen zu vermitteln, wird dementsprechend nicht von ihm angestrebt. Daneben sind die wichtigen Arbeiten von Hans-Georg Kemper zu nennen, der sich verschiedentlich den Religionsstreitigkeiten aus literaturwissenschaftlicher Perspektive angenähert hat. Im 2. Band der Deutschen Lyrik der frühen Neuzeit ist der umfangreiche zweite Teil „Glaubensstreit und Neue[r] Frömmigkeit" gewidmet,46 wobei Kemper dieses Kapitel entsprechend seiner Überlegungen zum „Konfessionalismus" gliedert, indem die ersten drei der fünf Kapitel den Konfessionen gewidmet sind: „Die Erneuerung des Katholizismus", g e drängtes Luthertum" und „Calvinistische Frömmigkeit und Krisen-Bewährung".47 Aus Sicht der strukturgeschichtlichen Konfessionalisierungsforschung ist diese Gliederung konsequent, doch stellt sich die Frage, ob Kemper dadurch nicht dem einzelnen literarischen Zeugnis eine Funktion und Teleologie aufnötigt, die ihm nicht eigen ist, speziell der im Zentrum von Kempers Werk stehenden volkssprachlichen Lyrik. Andererseits zeigt sich die Stärke von Kempers Betonung von Konfession als wesentliche literaturwissenschaftliche Kategorie in einem Aufsatz für Steinhagens Band der Hanserschen Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Unter dem Titel Literarischer Glaubenskampf8 unternimmt Kemper eine Charakteristik der volkssprachlichen Zweckformen, in deren Zentrum das Schrifttum katholischer Verfasser steht. Daß dabei die Ordenszugehörigkeit für das volkssprachliche Schrifttum eine weniger entscheidende Voraussetzung ist, belegt indirekt der in der gleichen Literaturgeschichte erschienene Aufsatz von Jean-Marie Valentin, dem es mit Blick auf die

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Kemper: Konfessionalismus, S. 125-290. Der Gliederung der Lyrik nach Konfessionszugehörigkeit folgt Irmgard Scheitler: Geistliche Lyrik. In: Die Literatur des 17. Jahrhunderts. Hrsg. von Albert Meier. München 1999 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 2), S. 347-376. Hans-Georg Kemper: Literarischer Glaubenskampf. In: Zwischen Gegenreformation und Frühaufklärung. Späthumanismus, Barock 1572-1740. Hrsg. von Harald Steinhagen. Reinbek bei Hamburg 1985 (= Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte, 3), S. 138-171.

14 Jesuiten-Literatur49 nicht gelingt, überzeugend darzustellen, was das spezifisch Jesuitische' seiner Beispiele ist - für die Jesuitenrhetorik50 und beim Jesuitentheater sieht es, wie Barbara Bauers und Jean-Marie Valentins Arbeiten gezeigt haben,51 anders aus. Daß in den religionspolemischen Büchern katholischer Verfasser in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wieder gezielt an vorreformatorische Entwicklungen angeknüpft wird und sich daraus , Literarisierungsstrategien' ergeben, die bisher noch keineswegs erschöpfend erforscht sind, hat Jens Haustein in einem wichtigen Aufsatz herausgestellt.52 Obwohl seine Überlegungen in der vorliegenden Arbeit nur am Rande verfolgt werden, weisen sie doch für die weitere Erforschung der religiösen Zweckgattungen einen wesentlichen Weg. Außerdem zeigt sein Beitrag ein weiteres Mal, wie sehr die Trennung zwischen Mediävistik und Neugermanistik der literaturwissenschaftlichen Erforschung des 16. Jahrhunderts schadet. Der Verweis auf spätmittelalterliche Vorbilder darf jedoch im Bereich des Gebrauchsschrifttums nicht den Blick auf das folgende 17. Jahrhundert verschließen, in dem das Schrifttum der Religionsstreitigkeiten ebenfalls der Erforschung harrt53 - in einem knappen Ausblick wird das im Schlußteil dieser Arbeit angedeutet werden. Monographisch wurde das konfessionspolemische Schrifttum bisher nur unbefriedigend aufgearbeitet. Hildegard Traitler hat 1989 eine umfangreiche Studie mit dem Titel Konfession und Politik. Interkonfessionelle Flugschriftenpolemik aus Süddeutschland und Österreich (1564-1612) vorgelegt.54 Die Stärke dieses Buches liegt zweifellos darin, daß die Verfasserin dem Leser nicht zuletzt durch Titelblattkopien und vollständige bibliographische Titelblattaufnahmen einen ersten Eindruck von einigen wichtigen Büchern vermittelt. Doch leidet darunter zum einen die Analyse der Texte. Traitler bleibt terminologisch impräzise und unzuverlässig. So ist es beispielsweise nicht gerechtfertigt, mit Blick auf die von ihr genannten Bücher der österreichischen und bayerischen

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Jean-Marie Valentin: Jesuiten-Literatur als gegenreformatorische Propaganda. In: ebd., S.172-205. Vgl. Franz M. Eybl: Jesuitenrhetorik. In: HWR 4 (1998), Sp. 717-728; grundlegend: Barbara Bauer: Jesuitische ,ars rhetorica' im Zeitalter der Glaubenskämpfe. Frankfurt a.M. 1986 (= Mikrokosmos, 18); Barner: Barockrhetorik, S. 321-366. Jean-Marie Valentin: Theatrum catholicum. Die Jesuiten und die Bühne im Deutschland des 16.-17. Jahrhundert. Nancy 1990. Jens Haustein: Literarisierungsstrategien im kontroverstheologischen Schrifttum der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. In: Mediävistische Komparatistik. Festschrift für Franz Josef Worstbrock zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Wolfgang Harms, Jan-Dirk Müller. Stuttgart, Leipzig 1997, S. 241-262. Vgl. Barner: Barockrhetorik, S. 78-85; ders.: Streitschriften und Theater der Jesuiten als rhetorische Medien. In: Deutsche Barockliteratur und europäische Kultur. Zweites Jahrestreffen des Internationalen Arbeitskreises für Deutsche Barockliteratur in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Hrsg. von Martin Bircher, Eberhard Mannack. Hamburg 1977 (= Dokumente des Internationalen Arbeitskreises für Deutsche Barockforschung, 3), S. 242f. Hildegard Traitler: Konfession und Politik. Interkonfessionelle Flugschriftenpolemik aus Süddeutschland und Österreich (1564-1612). Frankfurt a.M., Bern 1989.

15 Jesuiten von „Flugschriftenpolemik" zu sprechen, handelt es sich teilweise um über einhundert Seiten lange, kontroverstheologische Traktate, die mit Flugschriften ausschließlich das Quartformat gemeinsam haben. Einen methodisch anderen Weg geht Richard E. Walker, der in einer Edition und einer Monographie das Schrifttum des Franziskaners Johannes Nas ausführlich zu erforschen begonnen hat.55 Walkers Beschränkung auf Nas sorgt für eine angenehme Konzentriertheit. Seine Studie über die berühmten sechs Centurien (1567-1570) von Johannes Nas56 vermittelt einen Eindruck von der Anlage der Streitschriften, von deren thematischer Vielfalt und den rhetorischen Streittechniken. Leider verzichtet Walker weitgehend auf die Anbindung seiner Forschungsergebnisse an die genannten wichtigen Arbeiten besonders von Kemper. Außerdem fehlt ein vergleichender Blick in andere Werke der Zeit, so daß zum einen das dialogische Prinzip der Centurien - Nas reagiert in ihnen meistens konkret auf reformatorische Bücher - zu geringe Beachtung findet und zum anderen eine qualitative Beurteilung der herausragenden literarischen Position von Nas, die bei einer literaturwissenschaftlichen Studie wünschenswert ist, ausbleibt. 57 Daneben bleibt die Aufgabe, Werke gegenreformatorischer Autoren durch Edition besser zugänglich zu machen - eine Forderung, der Thomas Gloning mit Blick auf jesuitische Streitschriften Gehör verschafft hat.58 Gloning hat außerdem Streitschriftenwechsel mit den Methoden der historischen Dialoganalyse untersucht.59 Es gelingt ihm auf diese Weise, den Dialogcharakter der Kontroversen anschaulich zu vermitteln und typische Streittechniken wie Antworten, Refutieren oder Negieren kenntlich zu machen. Was die historische Dialoganalyse nicht leisten muß, was auch nicht ihre Aufgabe ist, das ist die Darstellung dessen, was Feinäugle literarische „Ausgestaltung dieser [dialogischen] Grundform"60 genannt hat. Ziel einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung der Religionsstreitigkeiten des 16. Jahrhunderts muß neben der 55

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Richard E. Walker (Ed.): The Corpus Christi Sermons of Johannes Nas (1534-1590). An edition with Notes and Commentary. Göppingen 1988 (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik, 394); ders.: The Uses of Polemic. Zur Publikationsgeschichte der Centurien und deren Anlage vgl. Walker: The Uses of Polemic, S. 3-11. Nas wird, nicht zuletzt wegen der Arbeit von Walker, in der vorliegenden Arbeit nur am Rande erwähnt, was seiner Bedeutung unangemessen ist. Vgl. auch mein Referat zu Walkers Studie in: Germanistik 43 (2002), Nr. 1686. Thomas Gloning: Das sprachliche Wirken der Jesuiten in der Frühen Neuzeit - Kontroversschriften und die ,Historia von dem Leben/ Ableben vnd Wunderzeichen des seligen Junglings Alosij Gonzagae' (1614). In: Editionsdesiderate zur Frühen Neuzeit. Beiträge zur Tagung der Kommission für die Edition von Texten der frühen Neuzeit. Hrsg. von HansGert Roloff. Amsterdam 1997 (= Chloe, 25), 2. Teil, S. 739-762. Thomas Gloning: The Pragmatic Form of Religious Controversies around 1600. A case Study in the Osiander vs. Scherer & Rosenbusch Controversy. In: Historical Dialogue Analysis. Ed. by Andreas H. Jucker, Gerd Fritz, Franz Lebsanft. Amsterdam, Philadelphia 1999, S. 81-110. Darauf aufbauend: Juliane Glüer: Moves and strategies in a religious pamphlet war: Protestants vs. Jesuits in the 1580s. In: Theological Controversies. Ed. by Marcelo Dascal, Gerd Fritz, Thomas Gloning, Yaron Senderowicz. Gießen 2001 (= Controversies in the Republique des Lettres. Technical report, 4), S. 18-41. Vgl. oben Anm. 8.

16 Darstellung des Dialogcharakters der Streite eine Beurteilung des einzelnen Werkes sein. So sehr die Bücher aufeinander bezogen und in diesem Sinne dialogisch angelegt sind, ob sie denn tatsächlich als Streitschriftenwechsel rezipiert oder nicht vielmehr als Einzelschriften und also als einzelne Stellungnahmen zu einem theologischen Streitfall gelesen wurden, läßt sich nicht rekonstruieren. Doch ist diese zweite Rezeptionsvariante wesentlich wahrscheinlicher, weil allein schon die Kosten der Bücher und die Zensur gegen die Anschaffung eines vollständigen Streitschriftenwechsels sprechen. Diese Überlegungen verweisen auf den historischen, nicht zuletzt sozialhistorischen Hintergrund der Religionsstreitigkeiten. Im Gegensatz zur Literaturgeschichtsschreibung hat sich die allgemeine Geschichtsschreibung und die Kirchengeschichtsschreibung wegen der zentralen Bedeutung der Reformation und ihrer Folgen für das gesamte europäische Kirchen- und Staatswesen ausführlicher den Religionsstreitigkeiten gewidmet. Wie bereits angedeutet, ist die Teilung des 16. Jahrhunderts in Reformation und Konfessionelles Zeitalter der Geschichtswissenschaft geschuldet. Zwar sind einige Überblickswerke in ihrer Darstellung auf das 16. Jahrhundert beschränkt,61 doch hat sich das Epochenjahr 1555 durchgesetzt. Es geht bekanntlich auf Leopold von Rankes zwischen 1839 und 1847 publizierter Deutscher Geschichte im Zeitalter der Reformation zurück. Bei Ranke endet diese Epoche mit dem Augsburger Religionsfrieden 1555 und der Abdankung Karls V. im folgenden Jahr.62 Dort findet sich außerdem die

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Horst Rabe: Deutsche Geschichte 1500-1600. Das Jahrhundert der Glaubensspaltung. München 1991. Winfried Schulze fuhrt bereits durch den Untersuchungszeitraum 15001618 eine Relativierung ein, indem er das 16. Jahrhundert erst mit dem Beginn des Krieges enden läßt: Winfried Schulze: Deutsche Geschichte im 16. Jahrhundert. 1500-1618. Frankfurt a.M. 1987. Einen guten Überblick über die aktuellen Konfessionalisierungsforschungen bieten die von Ernst Walter Zeeden übernommenen Literaturberichte von Heinz Schilling in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 42 (1991), S. 4 4 7 ^ 6 3 , S. 779-794 (zur Germanistik S. 788-792); GWU 48 (1997), S. 350-370, S. 618-627, S. 682-694, S. 748-766 (zur Germanistik S. 751-753); GWU 52 (2001), S. 346-371. Der folgende Überblick nach: Harm Klueting: Das Konfessionelle Zeitalter 1525-1648. Stuttgart 1989, S. 13-30, dort auch weitere Literatur; Wolfgang Reinhard: Probleme deutscher Geschichte 1495-1806. Reichsreform und Reformation 1495-1555. Stuttgart 2001 (= Gebhardt. Handbuch der Deutschen Geschichte. 10., völlig neu bearb. Aufl., 9), S. 61-64; lediglich Ergänzungen zu Klueting und Reinhard werden im folgenden ausgewiesen. Prägnant ist ferner Hubert Jedin: Die historischen Begriffe [Katholische Reform und Gegenreformation]. In: Handbuch der Kirchengeschichte. Hrsg. von Hubert Jedin. Freiburg i.Br., Basel, Wien 1967, Bd. IV, S. 449f. In dieser katholischen Kirchengeschichte wird nicht zuletzt wegen der europäischen Perspektive des Gesamtwerkes dem Religionsfrieden weniger Bedeutung beigemessen; zentralen Zäsurcharakter erhält der Abschluß des Trienter Konzils 1563. Dagegen folgen die auf Deutschland konzentrierten Werke regelmäßig der Rankeschen Zäsur: Auf den Band von Reinhard folgen in der neusten Auflage des Gebhardt Maximilian Lanzinner und Gerhard Schormann: Konfessionelles Zeitalter 1555-1618 [Lanzinner]. Dreißigjähriger Krieg 1618-1648 [Schormann]. Stuttgart 2001 (= Gebhardt. Handbuch der Deutschen Geschichte. 10., völlig neu bearb. Aufl., 10). Die Reihe Deutsche Geschichte bei Vandenhoeck & Ruprecht ist ebenso der Rankeschen Teilung verpflichtet: Bernd Moeller: Deutschland im Zeitalter der

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Benennung der folgenden Epoche als Gegenreformation, die der katholische Historiker Moriz Ritter mit der Deutschen Geschichte im Zeitalter der Gegenreformation und des Dreißigjährigen Krieges (1889-1908) aufgriff und einbürgerte. Ritter war jedoch nicht der erste Historiker, der sich dieser Epoche ausfuhrlich zugewandt hat. Bereits in den 70er Jahren hatte die Historische Kommission bei der Königlichen Akademie der Wissenschaften auf Veranlassung des bayerischen Königs Maximilian II. die Reihe Briefe und Acten zur Geschichte des Dreissigjährigen Krieges in den Zeiten des vorwaltenden Einflusses der Wittelsbacher initiiert, in der die Religionsstreitigkeiten der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ausführlich Erwähnung finden.63 Während diese Reihe dokumentarischen Charakter hatte und eine eindeutig landesgeschichtliche Ausrichtung verfolgte, erschien mit Johannes Janssens Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters noch vor Ritters Werk eine erste katholische Darstellung, die Allgemeingültigkeit beanspruchte.64 Es verwundert vor diesem Hintergrund nicht, daß die (preußisch-)protestantische Antwort nicht auf sich warten ließ. 1893 legte der Sohn Johann Gustav Droysens, Gustav Droysen, Professor an der Universität Halle, seine betont kulturkämpferisch gehaltene Geschichte der Gegenreformation vor, in der auf den „Sieg des Protestantismus" (1. Buch) das „Vordringen des Ultramontanismus" (3. Buch) folgt.65 Gemeinsam ist all diesen Werken jedoch die Betonung der Zäsur 1555, bzw. deren unreflektierte Übernahme, während der Begriff Gegenreformation zunehmend in die Kritik geriet, weil er ausschließlich das reaktivdestruktive Moment dieser Entwicklung betont, so daß sich in der Folge von Joseph Lortz das Begriffspaar katholische Reform und Gegenreformation ein-

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Reformation [1500-1555]. 3. durchges. u. bibliogr. erneuerte Aufl. Göttingen 1988 (= Deutsche Geschichte, 4); Martin Heckel: Deutschland im konfessionellen Zeitalter [1555-1648]. Göttingen 1983 (= Deutsche Geschichte, 5). Vgl. zur Beurteilung des Religionsfriedens von 1555 in der Gegenreformation den wichtigen Aufsatz von Martin Heckel: Autonomia und Pacis Composito. Der Augsburger Religionsfrieden in der Deutung der Gegenreformation. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung fur Rechtsgeschichte 76 (1959), Kan. Abt. 45, S. 141-248; Heckel ging voraus, mit zahlreichen Schwächen und Ungenauigkeiten: Karl Köhler: Der Augsburger Religionsfriede und die Gegenreformation. In: Jahrbücher für Deutsche Theologie 23 (1878), S. 376-^27, S. 563-656. Vgl. etwa: Die Politik Baiems 1591-1607. Erste Hälfte. Bearb. von Felix Stieve. München 1878 (= Briefe und Acten zur Geschichte des Dreissigjährigen Krieges in den Zeiten des vorwaltenden Einflusses der Wittelsbacher, 4), S. 144-156. Vgl. für den genannten Zeitraum Johannes Janssen: Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters. Bd. 4: Allgemeine Zustände des deutschen Volkes seit dem sogenannten Augsburger Religionsfrieden vom Jahre 1555 bis zur Verkündigung der Concordienformel im Jahre 1580; Bd. 5: Vorbereitung des dreißigjährigen Krieges. Freiburg i.Br. 1885, 1886. Zur Wirkungsgeschichte Janssens vgl. Hartmut Boockmann: Das 15. Jahrhundert und die Reformation. In: Kirche und Gesellschaft im Heiligen Römischen Reich des 15. und 16. Jahrhunderts. Hrsg. von dems. Göttingen 1994 (= Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-Historische Klasse. 3. Folge, 206), S. 9-25, bes. S. 17f. Gustav Droysen: Geschichte der Gegenreformation. Berlin 1893 (= Allgemeine Geschichte in Einzeldarstellungen, 3. Teil, 1. Hälfte). Vgl. ferner Tschackert: Evangelische Polemik.

18 bürgerte.66 Ernst Walter Zeeden hat diese Überlegungen erstmals grundlegend in Frage gestellt, indem er den Zeitraum von 1517-1648 als Einheit begriff, „Zeitalter der Glaubenskämpfe" genannt. Gegenwärtig folgen Historiker wie Harm Klueting oder Wolfgang Reinhard in vielerlei Hinsicht Zeeden, kritisieren freilich, daß dieser die Reformation selbst bereits als Auftakt des Zeitalters begreift. Sie grenzen die frühe Reformationszeit ausdrücklich aus und sprechen statt dessen vom Konfessionellen Zeitalter.67 Dagegen wird die Zeit vor 1525 entweder als eigenständige Epoche oder als „Kulminationspunkt" (Reinhard) spätmittelalterlicher Entwicklungen begriffen. 68 Diese Überlegungen treffen sich in mancherlei Hinsicht mit Ausführungen von Hartmut Boockmann zum Zusammenhang von Spätmittelalter und Reformation als grundlegendem Problem der deutschen Geschichtswissenschaft, 69 das ebenso eines der Germanistik ist, wie bereits angedeutet wurde. Den Streitschriften kommt bei der Beurteilung und Darstellung der Konfessionalisierung eine wichtige Funktion zu. 70 Legen sie doch beredt Zeugnis von den zunehmenden Spannungen und Konflikten ab, und zwar sowohl in gesellschaftlicher71 wie auch in medialer Hinsicht.72 Die volkssprachlichen Streitschriften setzten die Leser im Einzelfall von Konfessionskonflikten in Kenntnis, in erster Linie waren sie ein wesentliches Medium, um die konfessionelle Differenz bekannt und verständlich zu machen. Das haben die historisch orientierten Wissenschaften frühzeitig erkannt. Gustav Droysens Gegenreformation ging bereits Richard Krebs' Buch Die politische Publizistik der Jesuiten und ihrer Gegner voraus,73 das seither die Basis der meisten Studien zur Konfessionspole-

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Vgl. Jedin: Die historischen Begriffe [Katholische Reform und Gegenreformation]. Trotzdem ist die alleinige Verwendung des Oberbegriffs ,Gegenreformation' bis heute nicht von den Titelblättern zu vertreiben: Ronnie Po-chia Hsia: Gegenreformation. Die Welt der katholischen Erneuerung 1540-1770. Aus dem Amerikanischen von Holger Fliessbach. Frankfurt a.M. 1998. Letztlich geht diese Epochenbezeichnung auf Troeltsch zurück, vgl. Klueting: Das Konfessionelle Zeitalter, S. 27f. Vgl. ebd., S. 24f., vgl. auch: Stefan Ehrenpreis, Ute Lotz-Heumann: Reformation und konfessionelles Zeitalter. Darmstadt 2002 (= Kontroversen um die Geschichte). Vgl. Boockmann: Das 15. Jahrhundert und die Reformation; vgl. auch Reinhard: Probleme deutscher Geschichte 1495-1806, S. 61-64; vgl. ferner: Berndt Hamm, Bernd Moeller, Dorothea Wendebourg: Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation. Göttingen 1995. Vgl. Hubert Jedin: Die geschichtliche Bedeutung der katholischen Kontroversliteratur im Zeitalter der Glaubensspaltung. In: Historisches Jahrbuch 53 (1933), S. 70-97; Ernst Walter Zeeden: Literarische und ,unliterarische' Texte als Quellen zur Geschichte der Konfessionsbildung und Gegenreformation. In: Gegenreformation und Literatur. Hrsg. von Jean-Marie Valentin. Amsterdam 1979 (= Daphnis 8 [1979], H. 3/4), S. 21-49. Vgl. Schilling: Konfessionskonflikt. In fast allen genannten Werken findet sich ein Abschnitt zu den Streitschriften, vgl. etwa oben Anm. 63; Droysen: Gegenreformation, S. 162-164 unter dem Titel „Kampfesmittel"; Heckel: Deutschland im konfessionellen Zeitalter, S. 88f. Richard Krebs: Die politische Publizistik der Jesuiten und ihrer Gegner in den letzten Jahrzehnten vor Ausbruch des Dreissigjährigen Krieges. Halle 1890 (= Hallesche Abhandlungen zur Neueren Geschichte, 25).

19 mik bildet. Seine überwiegend als kommentierte Bibliographie verfaßte Arbeit bedürfte einer grundlegenden Überprüfung, zahlreiche Schlüsse sind irreführend, die Wertungen überholt, die Werkauswahl willkürlich. Seltener wird auf den vierten Band von Karl Werners Geschichte der apologetischen und polemischen Literatur der christlichen Theologie zurückgegriffen. 74 Zwar halten zahlreiche Urteile des Verfassers modernen Kriterien ebenfalls nicht stand, doch findet sich kein Werk, das umfangreicher die thematische Vielfalt des lateinischen wie des deutschen Kontroversschrifttums der Frühen Neuzeit darlegt, wenn auch aus konsequent katholischer Perspektive. Werner liefert in beinahe unüberschaubarer Fülle Autorennamen und Buchtitel, so daß dieses Werk teilweise eine Bibliographie zu ersetzen vermag. Trotzdem ist besonders die katholische Religionspolemik des 16. Jahrhunderts jenseits der katholischen Kirchengeschichtsschreibung in weiten Teilen unerforscht geblieben, woran die Werner ergänzende Bibliographie von Wilbirgis Klaiber wenig geändert hat.75 Wer eine möglichst vollständige Darstellung der religiösen Polemik anstrebt, bleibt aufgefordert, sich der zahlreichen Meßrelationen zu bedienen, wo die meisten, wenn auch nicht alle Streitschriften unter den Rubriken „Teutsche Bücher der Protestirenden Theologen" und „Der Römischen Catholischen Teutsche Schrifften" verzeichnet sind.76 Bereits in der älteren Forschung finden sich kirchenhistorische Arbeiten die weniger um Dokumentation und mehr um Analyse bemüht sind. Ein Beispiel dafür ist der umfangreiche, nicht immer zuverlässige Aufsatz von Karl Köhler über den Augsburger Religionsfrieden und die Gegenreformation, in dem er volkssprachliche Ausfuhrungen katholischer Verfasser zum Religionsfrieden untersucht.77 Pontien Polman hat erstmals die methodischen Schwierigkeiten historischer wie dogmatischer Art der frühen Luthergegner erforscht, erläutert und dadurch in Erinnerung gerufen, daß nicht erst seit der Mitte des 16. Jahrhunderts und seit den Jesuiten publizistischer Widerstand gegen die Reformation geleistet wurde.78 Doch stehen die Opponenten der frühen Reformation nicht nur in der Erforschung hinter den Reformatoren zurück. Es

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Karl Werner: Geschichte der apologetischen und polemischen Literatur der christlichen Theologie. Bd. 4: Der Kampf der Kirchlichen Theologie des 16ten und 17ten Jahrhunderts gegen den symbolgläubigen Protestantismus. Schaffhausen 1865. Katholische Kontroverstheologen und Reformer des 16. Jahrhunderts. Hrsg. von Wilbirgis Klaiber. Münster 1978 (= Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, 116). Vgl. etwa: Die Messkataloge Georg Willers. Fastenmesse 1581 bis 1587. Hrsg. von Bernhard Fabian. Hildesheim, New York 1980 (= Die Messkataloge des sechzehnten Jahrhunderts, III). Vgl. Köhler: Der Augsburger Religionsfrieden, bes. S. 593-603 und S. 620-627. Pontien Polman: Die polemische Methode der ersten Gegner der Reformation. Münster 1931 (= Katholisches Leben und Kämpfen im Zeitalter der Glaubensspaltung, 4). Ders.: L'element Historique dans la Controverse religieuse du XVI e Siecle. Gembloux 1932. Vgl. auch Jedin: Katholische Kontroversliteratur, S. 95-97; ders.: Kirchengeschichtliches in der älteren Kontroverstheologie. In: Reformatio ecclesiae. Beiträge zu kirchlichen Reformbemühungen von der Alten Kirche bis zur Neuzeit. Festgabe für Erwin Iserloh. Hrsg. von Remigius Bäumer. Paderborn 1980, S. 273-280.

20 ist davon auszugehen, daß den Luthergegnern trotz zahlreicher und vielfaltiger Anstrengungen im „Kommunikationsprozeß" der frühen Reformationszeit kein publizistischer Erfolg beschieden war: „Der publizistische Streit war [...] von vornherein zugunsten der lutherischen Autoren entschieden".79 Das ist inzwischen auch statistisch belegt.80 Bereits diese Hinweise deuten an, wie wenig umfassend die Religionsstreitigkeiten auch von den Geschichtswissenschaften aufgearbeitet sind - ganz im Gegensatz zum epochemachenden .Stiefbruder', dem Religionsfrieden. Daran haben erstaunlicherweise die Neuausrichtungen der Geisteswissenschaften hin zur Sozial- und sodann zur Kulturgeschichte nichts grundlegend geändert. Immer noch mangelt es zahlreichen Forschern an einem tieferen Verständnis für die Religionsstreitigkeiten und für ihre kulturellen Implikationen - und das, obwohl die langfristige Wirkungsmacht der konfessionellen Polemik durchaus eingestanden wird, wenn auch nicht immer ohne merkwürdige Relativierungen: „Tendenziell blieb diese Polemik freilich nicht ganz ohne Resultate."81 „Konfessionalisierung läßt sich [...] im 16. Jahrhundert mit Konflikt, religiöser und nichtreligiöser Wurzel entsprossen, identifizieren, zumal - und das gilt bis heute - Auseinandersetzungen nirgendwo härter und unerbittlicher geführt werden als dort, wo es um das Monopol der Glaubens- oder Weltanschauungsvermittlung geht."82 Nimmt man diese Worte nicht nur als kulturhistorisches Programm, sondern als methodischen Anspruch, so verpflichtet er den Wissenschaftler zwingender noch als sonst darauf, die Quellen selbst zu Wort kommen zu lassen, um den inzwischen Jahrhunderte alten konfessionellen Stereotypen und Vorurteilen zu begegnen. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, sollen eben die Texte als volkssprachliche Streitschriftenwecfoe/ gelesen werden, die im 16. Jahrhundert unbestritten als Religionsstreitigkeiten identifiziert wurden. Deswegen stehen in dieser Arbeit Texte katholischer und lutherischer Autoren im Mittelpunkt.83 Es geht nicht um die zahlreichen und teilweise wirkungsmächtigen Ausnahmen oder Besonderheiten, nicht um innerkonfessionelle Streitigkeiten oder um religionsübergreifende Auseinandersetzungen mit dem Islam oder dem jüdischen Glauben. Im ersten Teil dieses Buches folgen nach einer allgemeinen Einfuhrung zur Struktur und Absicht von Streitschriften vier

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Bernd Moeller: Die frühe Reformation als Kommunikationsprozeß. In: Boockmann (Hrsg.): Kirche und Gesellschaft, S. 148-164, bes. S. 159f.; zu den frühen Gegnern Luthers vgl. auch Anm. 42 ebd. Mark U. Edwards: Catholic Controversial Literature, 1518-1555: Some Statistics. In: Archiv fur Reformationsgeschichte 79 (1988), S. 189-205. Kaspar von Greyerz: Religion und Kultur. Europa 1500-1800. Göttingen 2000, S. 83. Eike Wolgast: Konfessionalisierung und Religionskrieg. In: Kultur und Konflikt. Hrsg. von Jan Assmann, Dietrich Harth. Frankfurt a.M. 1990, S. 180-214, hier: S. 185. Dies ist auch geboten, weil das katholische Schrifttum in der deutschen Literaturgeschichte vernachlässigt, j a nachgerade ausgegrenzt wurde: Dieter Breuer: Deutsche Nationalliteratur und katholischer Kulturkreis. In: Garber (Hrsg.): Nation und Literatur, S. 701-715.

21 exemplarische Analysen von Kontroversen. Hier findet nicht jede Streitschrift im gleichen Umfang Erwähnung, vielmehr wird die Vermittlung eines Gesamteindrucks des jeweiligen Streitschriftenwechsels angestrebt. Am Anfang steht die Kontroverse, die als erster großer Religionsstreit der Epoche bewertet werden muß, der Streit zwischen Martin Luther und Hieronymus Emser aus Anlaß von Luthers Adelsschrift. Es folgt die Auseinandersetzung zwischen Friedrich Staphylus und Jacob Andreae, die volkssprachliche Kontroverse um die lateinische THEOLOGIAE MARTINI LVTHERI TRIMEMBRIS EPITOME. Sodann schließt sich die Polemik um eine antijesuitische Streitschrift von Lucas Oslander an, auf die die Jesuiten Georg Scherer und Christoph Rosenbusch reagieren. Um dem Eindruck eindeutiger Aussagen über das Streitschriftenwesen im 16. Jahrhundert und bereits verfestigter Tendenzen gegen Ende des Jahrhunderts entgegenzuwirken, folgt ein knapp gehaltener Ausschnitt aus einer Kontroverse zwischen dem Jesuiten Peter Michael Brillmacher und dem Calvinisten Johann von Münster. Ausgewählt wurden diese insgesamt vier Kontroversen, weil sich in allen Fällen deutlich die „Fälligkeit" des Streites klären läßt. Wilfried Barner hat folgende Kriterien für Literaturstreite genannt: Öffentlichkeit, thematische Zentrierung, Initialtexte, eben Fälligkeit und das Verhältnis zwischen Oberflächen- und Tiefenstruktur.84 Die Glaubensstreite des 16. Jahrhunderts unterscheiden sich von diesem Merkmalskatalog teilweise. Für die in dieser Arbeit untersuchten Streite ist Öffentlichkeit 85 - besser: sind Teilöffentlichkeiten konstitutiv, auf die Leserschichten wird an gebotener Stelle eingegangen. 86 Thematische Zentrierung geht im Streitverlauf immer wieder verloren, sie scheint nicht Voraussetzung der Religionsstreitigkeiten zu sein - bei manchen Autoren gewinnt man gar den Eindruck, thematische Weitschweifigkeit habe sie ersetzt. Initialtexte, ein von Barner in diesen Zusammenhang eingeführter Terminus, lassen sich in jedem Fall deutlich benennen, wenn auch unklar bleibt, warum die eine Streitschrift Initialtext zu einer Kontroverse wird, eine andere aber nicht. Was die hier ausgewählten Streite verbindet, ist ihre Fälligkeit. Ob das für den Großteil der Religionsstreite der Frühen Neuzeit gilt, kann nicht zuverlässig erörtert werden, es scheint so zu sein. Sowohl der gewaltige Erfolg der Adelsschrift im Speziellen wie die außerordentliche Wirkung Luthers auf seine Zeitgenossen im Allgemeinen bedurften der volkssprachlichen Erörterung.

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Vgl. Barner: Was sind Literaturstreite? Bamers Überlegungen korrespondieren mit den Ausführungen Moellers zur Reformation als „Kommunikationsprozeß". Moeller fordert explizit die Erforschung „der Breiten- und Tiefendimension" des Kommunikationsprozesses ein; vgl. Moeller: Reformation als Kommunikationsprozeß, S. 149. Vgl. zur ersten Einfuhrung Rainer Wohlfeil: Reformatorische Öffentlichkeit. In: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Hrsg. von Ludger Grenzmann, Karl Stackmann. Stuttgart 1984 (= Germanistische Studien der DFG, 5), S. 4 1 - 5 2 ; Lucian Hölscher: Öffentlichkeit und Geheimnis. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung zur Entstehung der Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit. Stuttgart 1979 (= Sprache und Geschichte, 4), bes. S. 28-35; Wolfram Wettges: Studien zur Kommunikation des Aufruhrs in süddeutschen Reichsstädten. Stuttgart 1978 (= Geschichte und Gesellschaft, 17). Vgl. dazu unten S. 187ff.

22 Ähnliches gilt, unter vertauschten konfessionellen Vorzeichen, für das Buch von Friedrich Staphylus. Erstmals wurde die lutherische Theologie ausfuhrlich einer polemisch-kritischen Gesamtschau unterzogen und topologisch aufbereitet. Nachdem sich zahlreiche evangelische Theologen zunächst in lateinischen Traktaten mit Staphylus auseinandergesetzt hatten, folgte umgehend die volkssprachliche Aufarbeitung der Kontroverse. Im dritten Fall wird die unterstellte Gefahrdung des Religionsfriedens durch die Jesuiten erörtert. Damit wird in dem Streit ein bereits massiver und virulenter Diskurs, der bis dahin zumeist mittels Einzelschriften fortgeführt wurde, aufgegriffen und von beiden konfessionellen Parteien im Schlagabtausch erörtert. Im letzten Streit geht es um die Rechtmäßigkeit des Calvinismus, sowohl im reichsrechtlichen wie im theologischen Sinn, ebenfalls ein populärer Diskurs des späten 16. Jahrhunderts, der unter den konfessionellen Bedingungen des Münsterlandes einige Besonderheiten zeitigt und spezifisch regionale Züge trägt. Diese hier nur anzudeutenden Ergebnisse bestätigen Barners These, daß bei einem Streit neben der oberflächlichen Streitstruktur eine Tiefenstruktur angenommen werden muß. Doch läßt sich die Tiefenstruktur von Religionsstreitigkeiten nicht ohne weiteres benennen. In der Streitanalyse wird sich zeigen, daß viele Indizien für eine Tiefenstruktur sprechen, ohne daß diese im Einzelfall bewiesen werden kann. So spricht vieles dafür, daß im Streit um Staphylus' Buch neben diesem die Biographie des Konvertiten Staphylus als ehemaliger Schüler Melanchthons und dann glühender Verfechter des katholischen Glaubens zu besonderem Widerspruch reizte. Gegenstand der volkssprachlichen Streitschriften ist diese Konstellation allerdings kaum. Bei der Analyse der Tiefenstruktur wird es notgedrungen bei vorsichtigen Mutmaßungen bleiben müssen, die - wenn überhaupt - nur durch ausfuhrliche historische Studien in Verbindung mit Einzeltextuntersuchungen überwunden werden könnten, was im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden kann. Statt einer ausfuhrlichen Analyse der Tiefenstruktur der jeweiligen Kontroverse wird im zweiten Teil nach den Dimensionen der Religionsstreitigkeiten gefragt. Mit diesem Vorgehen wird der Versuch unternommen, vom Spezifischen des einzelnen Streites zum allgemeinen Anliegen der konfessionellen Auseinandersetzungen zu gelangen, was vor dem Hintergrund der weit entwickelten Konfessionalisierungsforschung geboten scheint, ohne daß mit dieser Arbeit beansprucht wird, die theologische oder historische Aufarbeitung der untersuchten Schriften zu leisten. Ziel ist vielmehr nicht weniger als die Weiterentwicklung des Anschlusses der Germanistik an die Forschungen zur Konfessionalisierung der Geschichtswissenschaften. Von den genannten Arbeiten Kempers und sodann Breuers, auf dessen wichtiges Buch zur Oberdeutschen Literatur in einem eigenen Kapitel noch zurückzukommen sein wird,87 einmal abgesehen, ist der Beitrag der Germanistik hierzu bis heute unbefriedigend. Bezeichnenderweise sind es vor allem Sammelbände und nicht etwa Monographien, die Heinz Schilling in seinen Literaturberichten in Geschichte in Wissenschaft und Unterricht nennt. Daß er attestiert, die „Literatur-

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Vgl. unten S. 209ff.

23 geschichte [habe sich] besonders intensiv um eine Kooperation mit der Geschichtswissenschaft bemüht",88 ändert daran nur wenig. Vielmehr ist sein Lob wohl durch die noch wesentlich geringere Rezeption der historischen Konfessionalisierungsforschung in anderen geisteswissenschaftlichen Fächern zu erklären. Die Erforschung der religiösen Polemik wird sodann, so ist zu hoffen, Ergänzungen zu den kirchenhistorischen Studien zur Konfessionskultur liefern. Schließlich bilden die Religionsstreitigkeiten gewissermaßen die Schattenseiten der Konfessionskultur, die weniger durch „den Formungsprozeß einer bestimmten, bekenntnisgebundenen Auslegungsgestalt des christlichen Glaubens in die vielfältigen lebensweltlichen Ausprägungen und Kontexte hinein",89 sondern durch Abgrenzung, Destruktion, Aggression und phrasenhafte und propagandistische Argumentation geprägt sind. Da religiöse Polemik nicht auf Streitschriften beschränkt blieb, sondern auch über andere Medien verbreitet wurde, wird in einem dritten Teil ein exkurshafter Ausblick in andere Text-Medien angestrebt, wobei die mediale Praxis in diesem Teil wesentliche Bezugsgröße ist, weil die rhetorische Dimension eines Textes immer erst durch die Analyse seiner Wirkungsabsichten deutlich wird. Auf Bild-Medien, besonders Flugblätter, wird dabei aus methodischen Gründen verzichtet - damit entfallt eine Untersuchung der diesen oftmals beigelegten Verse. Dieses Vorgehen, das deshalb vertretbar ist, weil mit Harry Oelkes Buch Die Konfessionsbildung des 16. Jahrhunderts im Spiegel illustrierter Flugblätter90 bereits eine zentrale Studie zu diesem Thema vorliegt, hinterläßt in dieser Arbeit eine schmerzhafte Lücke, doch ist es vor dem Hintergrund der engen Verknüpfung von Wort und Bild im Medium des Flugblatts geboten, auf diese Weise zu verfahren.91 Abgeschlossen wird die Arbeit nicht mit einer Zusammenfassung, weil die im Zentrum stehenden Kontroversen bereits durch die Frage nach den Dimensionen des Streitens im zweiten Teil hinreichend einer Synthese unterzogen werden und weil der Leser am Ende der einzelnen Unterkapitel zu den weiteren Medien im dritten Teil ein knappes Resümee findet. Vielmehr steht am Ende dieses Buches ein Ausblick auf das 17. Jahrhun-

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Schilling: Literaturbericht. In: GWU 42 (1991), S. 788. Thomas Kaufmann: Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Kirchengeschichtliche Studien zur lutherischen Konfessionskultur. Tübingen 1998 (= Beiträge zur historischen Theologie, 104), S. 7. Harry Oelke: Die Konfessionsbildung des 16. Jahrhunderts im Spiegel illustrierter Flugblätter. Berlin, New York 1992 (= Arbeiten zur Kirchengeschichte, 57). Die Flugblätter und -Schriften erfuhren bekanntlich bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts große Aufmerksamkeit: J. Scheible (Hrsg.): Die fliegenden Blätter des XVI. und XVII. Jahrhunderts in sogenannten Einblatt-Drucken mit Kupferstichen und Holzschnitten; zunächst aus dem Gebiete der politischen und religiösen Caricatur. Stuttgart 1850. Reprint Hildesheim 1972; Otto Clemen (Hrsg.): Flugschriften aus den ersten Jahren der Reformation. 4 Bde. Halle 1907-1911, Reprint Nieuwkoop 1967. Neben dem Standardwerk von Wolfgang Harms (Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts. Tübingen 1980ff.) liegen diverse Studien zu diesem Medium vor; vgl. etwa hilfreiche Arbeit von Ruth Kastner: Geistlicher Raufhandel. Illustrierte Flugblätter zum Reformationsjubiläum 1617. Frankfurt a.M., Bern 1982 (= Mikrokosmos, 11).

24 dert, um die fortdauernde Virulenz der Religionsstreitigkeiten anzudeuten und um weitere Forschungsperspektiven aufzuzeigen. Es werden exemplarisch ein Ereignis, eine Bibliothek und eine Streitschrift vorgestellt, namentlich das Reformationsjubiläum 1617, die Pfarrbibliothek im westfälischen Milte bei Warendorf und die erwähnte Streitschrift des Jesuiten Jacob Masen mit dem Titel Religionsstreit (1657). Diese Arbeit baut auf Quellenstudien in der Berliner Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz auf. Der Interessierte findet unter der Systemstelle Dg (Theologie: Polemik) Hunderte von lateinischen und deutschen Titeln des 16. Jahrhunderts (ebenso ergiebig sodann Dh fur das 17. Jahrhundert) verzeichnet. Sie sind zum Großteil erhalten und können - nach Jahrzehnten der Teilung inzwischen wieder vereint im Rara-Lesesaal der Bibliothek Unter den Linden gelesen werden. In Verbindung mit den genannten Büchern von Werner und Klaiber ergeben sich von dieser Systemstelle aus zahlreiche Anknüpfungspunkte für weitere Studien. Ergänzende Forschungen wurden in der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen (aus der auch die Abbildungen stammen), in der Landes- und Universitätsbibliothek Münster, der Universitätsbibliothek Tübingen und der Pfarrbibliothek Milte bei Warendorf geleistet. Diese Studie wurde im Frühjahr 2002 an der Philosophischen Fakultät der Universität Göttingen als Dissertation eingereicht, seither erschienene Literatur wurde nur punktuell eingearbeitet.

TEIL I: STREITSCHRIFT UND RELIGIONSPOLEMIK

I. Deutschsprachige Streitschriften im Dienste der Religionspolemik Wie in der Einleitung erwähnt, werden die deutschsprachigen Religionsstreitigkeiten im zweiten Teil von Hans Rupprichs Literaturgeschichte Die deutsche Literatur vom späten Mittelalter bis zum Barock1 ausführlich behandelt, doch birgt diese Darstellung - bei allen genannten Vorteilen - zwei Schwierigkeiten in sich. Sie orientiert sich stark an einzelnen Personen und besonders schillernden Gruppierungen und berücksichtigt kaum deren Anteil und deren Bedeutung in den konfessionellen Auseinandersetzungen. Das hat zur Folge, daß radikale Strömungen der Reformation wie die Täufer weit umfangreicher zu Wort kommen als etwa Melanchthon oder auf der papsttreuen Seite Johannes Cochlaeus.2 Rupprichs Darstellung ist zwar umfangreich, doch nicht repräsentativ. Damit geht eine Überbetonung der biographischen und historischen Fakten zuungunsten der literaturwissenschaftlichen und -historischen Auseinandersetzung einher. Rupprich endet 1570, also zu einem fur die Konfessionalisierung und damit auch für die Religionsstreitigkeiten wichtigen Zeitpunkt - man denke etwa an die Konkordienformel 1577 oder an die ersten jesuitischen Schriften in deutscher Sprache.3 Im an Rupprichs Darstellung anschließenden Band von Richard Newald 4 wird dem konfessionspolemischen Schrifttum kaum Platz eingeräumt. Lediglich „Das Schrifttum der Gegenreformation in Bayern" wird thematisiert, als habe es auf lutherischer und reformierter Seite keine Polemiker gegeben. Da in der vorliegenden Studie das gesamte 16. Jahrhundert in den Blick genommen wird, genügt ein Hinweis auf die Literaturgeschichte von Rupprich und Newald, der einen Überblick überflüssig machen würde, also nicht. Ergänzend sind einige bereits genannte Aufsätze der letzten 25 Jahre heranzuziehen. Es hat sich erwiesen, daß für die Erforschung des Gelegenheitsschrifttums und der Zweckformen sozialhistori-

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Rupprich: Das Zeitalter der Reformation. Auch historische Überblicksdarstellungen zum 16. Jahrhundert neigen dazu, etwa die Täufer oder gar Thomas Müntzer überzubewerten. Bernd Moeller hat dagegen Thomas Müntzer gezielt eine „Nebenfigur des Bauernkriegs" genannt, vgl. Moeller: Deutschland im Zeitalter der Reformation, S. 98. Vgl. Heckel: Deutschland im konfessionellen Zeitalter, S. 82-89. Richard Newald: Die deutsche Literatur vom Späthumanismus zur Empfindsamkeit 1570— 1750. 6. verbesserte Aufl. München 1967 (= Geschichte der deutschen Literatur, 5).

28 sehe Ansätze grundlegende Fortschritte gezeitigt haben.5 Ausgegangen wird im vorliegenden Buch von Luthers polemischem Schrifttum - ausschließlich seine Schriften können in unserem Zusammenhang als einigermaßen erforscht gelten.6 Zu anderen Theologen der Reformation, etwa Melanchthon oder Andreas Musculus - ebenfalls engagierten Polemikern fehlen grundlegende literaturwissenschaftliche Studien. Das mag zum Teil daraus resultieren, daß beide Reformatoren im Gegensatz zu Luther bevorzugt in lateinischer Sprache schrieben und deswegen weniger im Blickfeld der germanistischen Literaturwissenschaft stehen. Doch veröffentlichten etwa die württembergischen Theologen um Jacob Andreae und andere Polemiker der frühen lutherischen Orthodoxie ebenfalls deutschsprachige Streitschriften, ohne bisher das Interesse der Germanistik zu erregen.7 Ähnliches gilt für katholische oder reformierte Polemiker. In der Einleitung ist auf diesen Mangel bereits hingewiesen worden. Deswegen dürfte es gerechtfertigt sein, einen Überblick über die deutschsprachigen Religionsstreitigkeiten der anschließenden Streitanalyse voranzustellen. Dabei kann nicht der Versuch unternommen werden, einen Vollständigkeit beanspruchenden Abriß zu liefern, da eine solche Darstellung eine eigenständige literaturhistorische Arbeit wäre. Im folgenden soll vielmehr ein erster Eindruck von der Vielfalt und Widersprüchlichkeit der religionspolemischen Flugschriften und Bücher in deutscher Sprache vermittelt werden.

1. Zwischen sachlicher Disputationskunst und derber Verunglimpfung: Versuch einer Physiognomie des religionspolemischen Schrifttums Am Beginn der deutschsprachigen Religionspolemik steht Martin Luther. Seine reformatorische Theologie wäre nicht derart erfolgreich gewesen, hätte er nicht den Buchdruck effektiv zu nutzen gewußt. Durch die Verbreitung seiner theologischen Überlegungen mittels Flugschriften gelang es in für damalige Verhältnisse äußerst rascher Zeit, Nachrichten vom ,Doktor in Wittenberg' zu publizieren und Menschen in ungeahnter Vielzahl mit der reformatorischen Idee 5

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Vgl. etwa Kemper: Literarischer Glaubenskampf; Valentin: Jesuiten-Literatur als gegenreformatorische Propaganda. Diesen Befund bestätigt Haustein: Literarisierungstendenzen, S. 335, vgl. ebd. Anm. 10. Eine erste Einführung bietet Herbert Wolf: Martin Luther. Eine Einfuhrung in germanistische Luther-Studien. Stuttgart 1980 (= Sammlung Metzler, 193), S. 132-134; dort auch weitere Literatur; ders.: Luthers spielerischer Umgang mit Spracheigenheiten anderer. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 67 (2000), S. 148-167; Birgit Stolt: Martin Luthers Rhetorik des Herzens. Tübingen 2000 (=UTB 2141); Johannes Schwitalla: Martin Luthers argumentative Polemik: mündlich und schriftlich. In: Formen und Formgeschichte des Streitens. Der Literaturstreit. Hrsg. von Franz J. Worstbrock, Helmut Koopmann. Tübingen 1986 (= Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanistenkongresses Göttingen 1985, 2), S. 41-54. In jüngerer Zeit sind beispielsweise nur zwei (linguistische) Fallstudie erschienen, in denen Lucas Oslanders Schriften untersucht werden: Gloning: Religious Controversies, Glüer: Moves and strategies.

29 vertraut zu machen.8 Dabei war der ,Bestsellerautor' Martin Luther keineswegs ein Zufallsprodukt, nicht zuletzt wegen seines hohen schriftstellerischen Talents verkauften sich seine Bücher erfolgreich. Es befähigte ihn dazu, ganz im Gegensatz zu den meisten anderen Theologen seiner Zeit, nicht nur lateinische Traktate zu verfassen, sondern sich außerdem durch gezielte Publikumsansprache, mitreißende Wortspiele und derbe Grobianismen seinen Lesern verständlich zu machen. Zahlreiche Neologismen und Redewendungen gehen auf Luther zurück.9 Seine Texte sind durch vielfältige Beispiele äußerst anschaulich. Ebenso bemerkenswert ist die Gattungsvielfalt seines Werkes.10 Seine Schriften zeichnen sich durch hohes rhetorisches Geschick, durch einen Stil- und Wortreichtum aus, wodurch er seine Gegner immer wieder in den Schatten stellt." Besonders eindrucksvoll wird diese sprachliche Überlegenheit in den Streitschriftenwechseln belegt. Diese bieten ideale Vergleichsmöglichkeiten, weil sich hier zwei Autoren zu einem Thema unter ähnlichen Voraussetzungen auseinandersetzen und - idealsierterweise - versuchen, die Gunst eines Publikums zu erobern und eine Leserschaft (und Zuhörerschaft) zu überzeugen.12 Luthers prominenteste Gegner waren Johannes Eck,13 ein hervorragender Theologe und der wohl bekannteste Polemiker der Altgläubigen während der Reformation, und Hieronymus Emser,14 Hofkaplan in Dresden und fleißiger Polemiker gegen Luther seit dem Wormser Reichstag. Sein Nachfolger in Dresden, der Humanist Johannes Cochlaeus,15 verfaßte über einhundert antireformatorische Streitschriften. Eine Erwiderung Luthers erregte er jedoch

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Vgl. Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels. München 1991, S. 4 3 52. Zum publizistischen Erfolg Luthers vgl. unten S. 66f. Vgl. Wolf: Martin Luther, S. 93-101. Vgl. ebd., S. 129-151. Stolt: Luthers Rhetorik, S. 42-61. Diese idealisierte Publikumskonzeption findet sich regelmäßig als Topos und als Tribut an die Streittechniken in den Streitschriften. Eine Analyse von Luthers Streittechniken findet sich unten S. 66ff. Einen ersten Eindruck von Ecks polemischem Schrifttum vermittelt: Johannes Eck: Vier deutsche Schriften gegen Martin Luther, den Bürgermeister und Rat von Konstanz, Ambrosius Blarer und Konrad Sem. Hrsg. von Karl Meisen, Friedrich Zoepfl. Münster 1929 (= Corpus Catholicorum, 14); Johannes Eck: Enchiridion. Handbüchlin gemeiner stell unnd Artickel der jetzt schwebenden Newen leeren. Augsburg 1533. Faks. hrsg. von Erwin Iserloh. Münster 1980 (= Corpus Catholicorum, 35). Zur Einführung: Erwin Iserloh: Johannes Eck (1486-1543). Scholastiker, Humanist, Kontroverstheologe. Münster 1981 (= Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung, 41); ders. (Hrsg.): Johannes Eck (1486-1543) im Streit der Jahrhunderte. Münster 1988 (= Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, 127). Zu Emser vgl. unten S. 68f. Martin Spahn: Johannes Cochlaeus. Ein Lebensbild aus der Zeit der Kirchenspaltung. Berlin 1898. Neudr. Nieuwkoop 1964; Remigius Bäumer: Johannes Cochlaeus. Leben und Werk im Dienst der katholischen Reform. Münster 1980 (= Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung, 40); ders.: Johannes Cochlaeus und die Reform der Kirche. In: ders. (Hrsg.): Reformatio Ecclesiae, S. 333-354.

30 nur in einem einzigen Fall.16 Doch hat Cochlaeus nachhaltiger als jeder andere Polemiker das katholische Lutherbild durch seine Lutherkommentare (zuerst 1549) geprägt. Diese kommentierende Chronologie wurde zum Standardwerk zahlreicher Gegner der Reformation, wenn es darum ging, Luther zu diskreditieren oder auch nur Auskunft über sein Leben zu erhalten.17 Thomas Murner dagegen war für die antireformatorische Polemik - anders als für die volkssprachliche Satire - weit weniger bedeutsam als gemeinhin angenommen wird. Er verfaßte nur wenige Streitschriften und wurde zumindest von seinen Gegnern nur selten beachtet. Luther hat gar auf eine Streitschrift Murners in einem Buch gegen Emser geantwortet, quasi in einem Anhang - eine Verfahrensweise, die nur selten zu finden ist.18 Die Zahl der Gegner Luthers ließe sich deutlich erweitern, und es war auch nicht nur der Wittenberger Reformator, der die Feder gegen die Verteidiger des alten Glaubens führte. Doch lassen die genannten vier Gegner Luthers bereits erahnen, daß sich allein aus der Zugehörigkeit zu einer Gruppierung noch kein sinnvolles Strukturprinzip für eine literaturwissenschaftliche Darstellung religiöser Polemik im 16. Jahrhundert ergibt. Zwar ist es möglich, die Gruppen nach ihrer konfessionellen Ausrichtung zu ordnen, wie dies Rupprich und Kemper unternommen haben.19 Ein Eindruck vom Wesen und Stil der deutschsprachigen Religionspolemik wird dadurch jedoch nicht vermittelt. Im folgenden soll es aber hierum gehen: Wie sahen deutsche religionspolemische Streitschriften im 16. Jahrhundert aus, welchem historischen Wandel unterlagen sie, wie lange hielten Streitschriftenwechsel an und wieviele Kontrahenten waren daran in der Regel beteiligt? In den Streitschriften Luthers ebenso wie in denen seiner Gegner finden sich von Beginn an zahlreiche Merkmale unterschiedlicher Gattungen. Neben der (gedruckten) deutschen Predigt, veröffentlichte Luther im Prosastil Traktate, Angriffs- und (weit seltener) Verteidigungsschriften. Oftmals ergibt sich dabei bereits aus dem Titel, welche Tendenz er mit einer Schrift verfolgte. So weist etwa das typische ,νοη' im Titel, etwa bei Von der Freyheyt eyniß Christen menschen,20 auf den Traktat. Die ebenso weitverbreitete Adressierung ,an', etwa in An den Christlichen Adel deutscher Nation,21 deutet auf einen Briefzusammenhang - hier auf den Sendbrief, ein öffentlicher Brief meist ohne kon-

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Martin Luther: Adversus armatum virum Cokleum (1523). In: ders.: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Bd. Iff. Weimar 1883ff. [im folgenden WA], hier Bd. 11, S. 292-307. Adolf Herte: Das katholische Lutherbild im Bann der Lutherkommentare des Cochlaeus. 3 Bde. Münster 1943; ferner Wolfgang Brückner: Luther als Gestalt der Sage. In: ders. (Hrsg.): Volkserzählung und Reformation, S. 260-294, bes. „Die katholische Antilegende", S. 278-294. Vgl. unten S. 88ff. Rupprich: Das Zeitalter der Reformation, S. 9-101; Kemper: Konfessionalismus. Martin Luther: Von der Freyheyt eyniß Christen menschen. In: WA 7, S. 20-38. Ders.: An den Christlichen Adel deutscher Nation. In: WA 6, S. 404-469.

31 kreten Adressaten.22 Die Titelwahl ist vom Lateinischen geprägt.23 Doch legte die jeweilige Gattungstradition keineswegs enge Normen an. So konnte ein Traktat ebenso wie ein Sendbrief der Schafspelz sein, in den sich der polemische Wolf hüllte. In anderen Streitschriften wurde dagegen der Gegner ohne jede Umschweife benannt und bereits im Titel attackiert.24 Um gesichert sagen zu können, ob es sich um eine Streitschrift handelt, ist immer eine inhaltliche Beurteilung der einzelnen Schrift notwendig. Gattungen der Gerichtsrede, etwa die Anklageschrift (accusatio),25 die Verteidigungsschrift (defensio 26 bzw. apologia)27 oder die Rettung (vindicatio),28 finden sich dem Titel nach in der Frühzeit der Reformation seltener als am Ende des Jahrhunderts.29 Das gilt gleichfalls für Schriften mit sprechenden Titeln, wie etwa den als ,Triumph' oder .Warnung' betitelten Streitschriften,30 oder für Texte mit ironischen Titeln.31 Derartige Schriften legten dem Verfasser weniger konkrete Gattungszwänge auf, anders als etwa eine Disputation oder eine Schrift aus dem gerichtlichen Redezusammenhang. Gleichzeitig sind solche Titel ein Indiz für die vielfaltigen Möglichkeiten, das Interesse des Lesers zu gewinnen. Im Kontrast zu Schriften mit sprechenden Titeln stehen die zahllosen .Bericht' genannten Flugschriften und Bücher.32 Bei diesen sollte der Titel dem Leser Sachlichkeit signalisieren, was sich durch die Wahl von Disputationstechniken im

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In den Briefzusammenhang gehören auch die zahlreichen .Antworten', etwa Georg Witzel: Antwort auf die Schrifften unter Eckerlings namen ausgegangen. Leipzig 1536; ders.: Antwort auf Martin Luthers letzt bekennende Artickel. Leipzig 1538. .Von' entspricht dem lateinischen ,de', ,an' entspricht ,ad'. Augustin von Alfeld: Wyder den Wittenbergischen Abgot Martin Luther (1524). Hrsg. von Käthe Büschgens. Münster 1926 (= Corpus Catholicorum, 11). Sigismund Ernhoffer: Nothwendige und unvermeidliche Klag und Beschwerschrifft, wider Jacoben Heerbrandi. Graz 1593. Sigismund Ernhoffer: Defensio Minoris Catechismi contra Guillelmum Zimmermann et Jacob Heerbrand. Graz 1589. Johannes Huber: Apologia und gründtliche Verthedigung eines kleinen Büchleins [...]. Braunsberg 1608. Johann Baptist Fickler: Rettung der Concilien catholischen Glaubens [...] wider Jacob Heylbrunner. Ingolstadt 1590. Quantitative Äußerungen können letztlich immer nur den Eindruck wiedergeben, der während meiner Quellenstudien entstand. Da das Quellenmaterial nicht vollständig erfaßt werden kann, ist eine zuverlässige statistische Auswertung der Quellen nicht möglich. Vgl. dazu unten S. 134ff. Lucas Oslander: Ein schöner wolriechender Rosenkrantz. Zusamen gebunden/ auss dem köstlichen/ vbertrefflichen Buch der Franciscaner Mönch/ welches sie Librum confirmatum nennen. Zu Ehren der Barfusser Mönch/ im Kloster zu Freiburg im Preisgew/ in den Truck verfertigt. Darauss die besondere andacht vnd heiligkeit der Seraphischen Brüder zu vernemen. Tübingen 1591. Jacob Andreae: Bericht von der Einigkeit vnd Vneinigkeit der Christlichen Augspurgischen Confessions Verwandten Theologen etc. [...]. Tübingen 1560. Wie wenig ernst die Gegner die Wahrhaftigkeit der .Berichte' nahmen, sieht man an der Reaktion von Friedrich Staphylus auf Andreaes Schrift: Christlicher gegenbericht an den Gottseligen gemainen Layen. O.O. 1561; vgl. unten S. U9ff.

32 Haupttext niederschlägt. Aber ebenso folgen nicht wenige Schriften mit witzigen Titeln den starren Mustern der Disputation.33 Die Titelwahl allein sagt nicht viel über den Aufbau einer Schrift aus. Erst recht gilt das für die seltenere graphische Gestaltung des Titelblatts. Neben verzierenden Elementen ohne Aussagewert wie Bordüren oder Vignetten waren persönliche Wappen beliebt. In der Folge Luthers ließ beispielsweise Lucas Oslander auf seine Streitschriften das Lamm Gottes mit der Umschrift „Ecce agnus dei qui tollit peccatum mundi" drucken, dem Zeugnis des Täufers Johannes.34 Auf Hieronymus Emsers Schriften ist sein Hauswappen abgebildet, auf dem ein Bock zu sehen war, der ihm von Luther den Titel ,Bock von Leipzig' einbrachte.35 Gegen Ende des Jahrhunderts findet sich in seltenen Fällen sogar eine emblematische Titelblattgestaltung, wie etwa bei der Streitschrift Rettung der Jesuiter Unschuld des Jesuiten Georg Scherer.36 In solchen Fällen lassen sich weit direktere Bezüge zwischen Titel, Titelblattgestaltung und Inhalt feststellen als bei der Verwendung der Wappen.37 Die meisten Titelblätter sind schlicht gehalten. Normalerweise findet man dort neben der Überschrift lediglich Angaben zum Verfasser, zum Druckort und zum Drucker. Folgt eine Dedikation, so ist sie zumeist an Fürsten oder Bischöfe adressiert. Eine eindeutige Sonderstellung nehmen jesuitische Streitschriften ein. Einige Jesuiten, etwa Georg Scherer, stellten jeder Polemik eine Widmung voran. Die jesuitischen Streitschriften beanspruchten damit in Verbindung mit dem Hinweis auf die .kaiserliche Freiheit' eine weit höhere Wertschätzung durch die Obrigkeit als protestantische Schriften, in denen meist auf eine Widmung verzichtet wurde und ein kaiserliches Privileg selbstverständlich fehlte. Die jesuitischen Streitschriften sollten dadurch stärker konfessionelle Überlegenheit repräsentieren als protestantische. Mit dem kaiserlichen Druckprivileg des Druckers auf dem Titelblatt sollten nach Beginn der kaiserlichen und besonders der bayerischen Zensurbestimmungen fur theologische Bücher katholische Schriften unterstützt werden.38 Erst als Reaktion auf diese Entwicklung begannen die Fürsten der Augsburgischen Konfession Landesprivilegien auszustellen. Ergänzt wird das repräsentative Erscheinungsbild der jesuitischen Streitschriften durch deren Lizensierungsprinzip. Jede Schrift eines Jesuiten mußte

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Die Streitschrift ist damit in ihrer prinzipiellen Offenheit zu anderen Gattungen mit der Predigt vergleichbar: Bernd Moeller, Karl Stackmann: Städtische Predigt in der Frühzeit der Reformation. Eine Untersuchung deutscher Flugschriften der Jahre 1522 bis 1529. Göttingen 1996; Vgl. auch unten S. 232ff. Vgl. Joh 1,29. Das Lamm Gottes war sowohl Schutzzeichen als auch Hauswappen Luthers, man denke etwa an die Darstellung auf dem Titelblatt von Luthers Übersetzung des Alten Testaments (1524); vgl. Wendland: Martin Luther, S. 21 f. Daneben war es ein beliebtes Bild in Darstellungen der bildenden Kunst, etwa in den Illustrationen der Apokalypse von Albrecht Dürer. Vgl. dazu unten S. 76ff. Georg Scherer: Rettung der Jesuiter Vnschuld wider die Gifftspinnen Lucam Oslander. Ingolstadt 1586. Vgl. dazu unten S. 140ff. Vgl. Wittmann: Buchhandel, S. 52-65.

33 vor der Drucklegung unabhängig von ihrem Gegenstand einem vorgesetzten Ordensmitglied, im deutschsprachigen Raum in der Regel dem Provinzial oder dem Rektor der theologischen Fakultät der Universität Ingolstadt zur Zensur vorgelegt werden. Im 16. Jahrhundert findet sich der ausfuhrliche Hinweis auf diese Ordenszensur39 entweder auf der Rückseite des Titelblatts oder auf der letzten Seite der Schrift. Mit der rasanten Zunahme jesuitischer Publikationen wurde der Nachweistext für die Ordenszensur standardisiert, es genügte der Hinweis „Cum permissu Superiorum".40 Abgerundet wurde das Erscheinungsbild der jesuitischen Streitschriften oftmals durch den Einsatz von Rotdruck. Dadurch wurden etwa der Verfasser- oder Druckername oder Teile des Titels hervorgehoben. Das wurde nicht zuletzt deshalb immer notwendiger, weil die Titel während des Jahrhunderts immer länger wurden, bzw. weil man dazu überging, auf dem Titelblatt den Inhalt der Schrift knapp wiederzugeben. Diese Entwicklung gilt generell, die jesuitischen Polemiken bilden hier keine Ausnahme. Daß neben den jesuitischen Büchern besonders in Schriften katholischer Laien, auf die noch zurückzukommen sein wird, auf Repräsentationstechniken zurückgegriffen wurde, dürfte mit deren theologisch nicht legitimierter Stellung innerhalb der Religionspolemik zusammenhängen. Im Gegensatz zu den nur bei den Jesuiten und den katholischen Laien verbreiteten Dedikationen finden sich knappe Vorreden an den Leser oder gar an den Streitgegner41 unabhängig vom konfessionellen Lager oder der Ordenszugehörigkeit. Vorreden dieser Art kommt oftmals die Funktion einer einleitenden narratio zu. Hier werden sowohl der Konflikt als auch der Gegner vorgestellt, der bisherige Streitverlauf wird - meist einseitig - skizziert. Das war vor dem Hintergrund der Schwierigkeiten, eine Streitschrift überhaupt zu erwerben - zu denken ist zunächst an mögliche Kosten und Zensurbestimmungen - , außerdem dringend geboten. Erst auf die narratio folgt die eigentliche Auseinandersetzung mit dem Gegner. Alternativ zur Vorrede an den Leser nutzen einige Autoren das Ende der Schrift, um sich an den Leser zu wenden. Diese Vorgehensweise ist seltener. Abschließend wird in knappen Epilogen der Kern der Schrift wiederholt und die Christlichkeit des Verfassers sowie seines Anliegens unterstrichen.42 Auf Widmungen und Vorreden, in der Regel jedoch direkt auf das Titelblatt folgt der Haupttext. Handelte es sich um eine Streitschrift, die nicht auf einen anderen Text und Gegner reagierte, die also Initialschrift einer möglicherweise

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Z.B. Scherer: Rettung, S. 73: „Libellum hunc, tanquam Catholicum et valde vtilem, aduersus venenatos Lucae Osiandri morsus et dignas scutica telas technasque, typis vulgandum censeo: ALBERTVS HVNGERVS. SS. Theologiae D. Professor, et Procancellarius in Academia Ingolstadiensi." Vgl. Valentin: Jesuiten-Literatur als gegenreformatorische Propaganda, S. 172-174. Vgl. Thomas Murner: Vorred zu doctor Martino luter/ vß was vrsachen geschriben sey. In: ders.: Ein christliche vnd briederliche ermanung. In: ders.: Kleine Schriften (Prosaschriften gegen die Reformation). Hrsg. von Wolfgang Pfeiffer-Belli. Berlin, Leipzig 1927 (= Thomas Murners Deutsche Schriften, VI), 1. Tl., S. 29-87. Vgl. etwa Scherer: Rettung, S. 72.

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längeren Kontroverse werden konnte, standen dem Verfasser eine Vielzahl von Streittechniken zur Verfügung. Luther war ein Meister in der Auswahl des geeigneten Rederahmens für seine Streitschriften. Eine einheitliche dispositio läßt sich deswegen nicht benennen, mal folgten die Verfasser rhetorischen Anforderungen, die an einen Brief gestellt wurden, mal denen der gerichtlichen Anklagerede oder gar der Schmährede. Reagierte der Polemiker dagegen auf ein Buch, so ist der Redeteil der eigentlichen Auseinandersetzung (confutatio) mit dem Gegner regelmäßiger strukturiert. In Schriften aus den Anfangsjahren der Reformation steht im Zentrum der erwidernden Polemik in der Regel ein umfangreicher Redeteil, der streng disputatorischen Charakter hat. Zunächst wird ein Satz aus der Schrift des Gegners wörtlich zitiert, darauf folgt die Widerlegung und Begründung der eigenen Position. Die meisten Kontroversisten folgten diesem Aufbau.43 Bei Johannes Cochlaeus etwa gewinnt der Leser den Eindruck, daß die Vielzahl seiner Streitschriften (über 100) nur möglich war, weil er sich geradezu mechanisch auf das disputatorische Widerlegen gegnerischer Schriften beschränkte, ohne seine Texte durch unterhaltende Einschübe oder Exkurse aufzulockern. In der 1538 erschienenen Reaktion auf Luthers Schmalkaldische Artikel mit dem Titel Ein nötig und christlich bedencken auff des Luthers artickeln, die man gemeynem concilio fürtragen sot5 arbeitet sich Cochlaeus Artikel für Artikel vor, um zu einer Widerlegung zu gelangen, der weder mangelnde Vollständigkeit noch theologische Unzulänglichkeit vorgeworfen werden kann. Ein Beispiel: Der erste und Heubtartickel ist, „Das allein der glaube an Christum uns gerecht mache". Diesen artickel unterstehet Luther, mit etlichen Sprüchen aus Paulo und Esaia zu beweren. Aber es feiet ihm weit. Denn die selbigen Sprüche reden von Christo, nicht vom glauben allein, wie er redet. Wir gestehen, das „Christus umb unser sünde willen gestorben und umb unser gerechtigkeit willen aufferstanden ist", [...], das er uns die sünde vergibt und gerecht macht. Daraus folget aber nicht, das uns der glaube allein gerecht mache, denn der glaub ist nicht Christus. Glaub und Christus ist nicht ein ding, sonder der glaub ist ein gab Christi, wie auch die guten werck nicht von uns selbs herkommen, sonder von Christo, durch welches genad wir den glauben empfahen und gute werck verbringen.46

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Das war wegen der den meisten lutherischen Schriften inhärenten Bezugnahme auf Melanchthons loci communes keine Besonderheit; vgl. Wolfgang Brückner: Historien und Historie. Erzählliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts als Forschungsaufgabe. In: ders. (Hrsg.): Volkserzählung und Reformation, S. 13-123, bes. „Loci communes als Denkform" S. 53-75. Martin Luther: Artickel, so da hetten sollen auffs Concilion zu Mantua, oder wo es würde sein, vberantwortet werden. In: WA 50, S. 160-254. Johannes Cochlaeus: Ein nötig und christlich bedencken auff des Luthers artickeln, die man gemeynem concilio furtragen sol. In: Drei Schriften gegen Luthers Schmalkaldische Artikel von Cochläus, Witzel und Hoffmeister (1538 und 1539). Hrsg. von Hans Volz. Münster 1932 (= Corpus Catholicorum, 18), S. 1-64. Ebd., S. 8.

35 Regelgerecht nennt Cochlaeus zunächst die These Luthers, den Kern der evangelischen Lehre, daß der Glaube allein gerecht mache, und verweist im selben Satz auf die von Luther daftir angeführten Belegstellen aus der Heiligen Schrift. Dieser These widerspricht er deutlich („Aber es feiet ihm weit.").47 Dann führt Cochlaeus einen strategisch überraschenden Streich gegen Luther. Er stimmt seinem Kontrahenten zunächst zu (restrictio), um diese Zustimmung in eine falsche Schlußfolgerung Luthers und somit die Prämissen Luthers als fehlerhaft zu überführen (inversio). Vorbildlicher läßt sich eine Widerlegung mit disputatorischen Mitteln kaum führen. Naheliegenderweise hat eine Vielzahl von Polemikern Widerlegungen nach dem Vorbild der Disputation verfaßt. Immerhin waren sie als akademisch gebildete Theologen mit den Techniken der Disputation gut vertraut. Wollte ein Verfasser vornehmlich den Gegner widerlegen und gleichzeitig den eigentlichen Streitpunkt (status controversiae) hervorheben, um Nebensächlichkeiten nach Möglichkeit auszuschließen, dann waren disputatorische Streittechniken die Mittel der ersten Wahl.48 Streitschriften, die sich vornehmlich disputatorischer Streittechniken bedienten, standen immer in der Gefahr, den Leser durch Gleichmäßigkeit und Witzlosigkeit zu ermüden. Martin Luthers Streitschriften waren mutmaßlich nicht zuletzt deswegen erfolgreich, weil der Reformator diese Gefahr umging. Thomas Murner war, was das schriftstellerische Talent betrifft, vielleicht ein ebenbürtiger Gegner Luthers, die theologische Qualität seiner Streitschriften mögen andere beurteilen.49 Seine Satiren belegen ohne jeden Zweifel sein hohes schriftstellerisches Talent. In der 1522 veröffentlichten Satire Von dem grossen Lutherischen Narren wie in doctor Murner beschworen hat etc.50 verhöhnt Murner nicht nur Luther und dessen Anhänger. Er macht sich selbst zu einer der Hauptfiguren in seinem 4796 Verse umfassenden Werk, indem eine Figur seines Namens zunächst versucht, eine Burg gegen die nahenden Truppen Luthers zu verteidigen. Als dieser ihm jedoch seine Tochter anbietet, willigt die Figur Murner ohne zu zögern ein (Verse 3720-3732): 51

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Noch eindeutiger ist eine Marginalie zu diesem Widerspruch formuliert, ebd.: „Ein falscher Heubtartickel." Vgl. Barner: Barockrhetorik, S. 393-^07. Vgl. Heribert Smolinsky: Thomas Murner und die katholische Reform; Marc Lienhard: Thomas Murner und die Reformation. Beide in: Thomas Murner. Elsässischer Theologe und Humanist (1475-1537). Eine Ausstellung der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe. Karlsruhe 1987, S. 35-50, S. 63-77. Thomas Murner: Von dem großen Lutherischen Narren. Hrsg. von Paul Merker. Straßburg 1918 (= Thomas Murners Deutsche Schriften, IX). Ebd., S. 240.

36 Murner. VErden blut!52 das sein gute mer, Lieber luther, kum basz zuher, Das ich dein Wörter al merck eben. Wiltu mir dein dochter geben? Wer ich dot, ich wolt erst leben! Ich wil von aller findtschaffl ston, Gen rom/ gen och/ sant iacob gon, Das du mir gebst dein dochter schon, Vff diser weit die edel krön. Doch das du mir das dingest ein, Wie das ich auch sol lutherisch sein, Das mustu mir hie basz betagen, Was lutherisch sein/ von stücken sagen.

Doch kann die Luther-Figur nicht nur nicht sagen, was es heißt, lutherisch zu sein - ein Seitenhieb gegen die Widersprüchlichkeit zahlreicher Aussagen Luthers. Die Strafe fur das wankelmütige Wesen ist hart. Die versprochene Braut hat die Krätze, und das erfahrt die Figur Murner erst nach der Hochzeit, also nach der ,Konversion'. Statt der erhofften Hochzeitsnacht kommt es zum Bruch mit Tochter und Vater Luther, der bald stirbt. Die Figur Murner bemüht sich vergeblich, den großen lutherischen Narren, die Personifizierung der Anhänger Luthers, von der römischen Lehre zu überzeugen. Als der große lutherische Narr ebenfalls stirbt, entbrennt abschließend ein Streit um dessen Erbe. Murner macht sich in dieser Satire immer wieder über fehlende christliche Standfestigkeit lustig. Seine Satire ist deswegen ein wichtiges Zeugnis früher gegenreformatorischer Pädagogik. Diesen lehrhaften Charakter unterstützen die an das Fastnachtspiel erinnernde Wechselrede im letzten Teil des Lutherischen Narren sowie der Sprechvers, für den der Reim wesentlicher ist als die feste Silbenzahl.53 Schaut man sich Murners Streitschriften an, so kommt man rasch zu dem Urteil, daß er in Wortwitz und Einfallsreichtum Martin Luther kaum nachsteht. Statt der Disputation wählt Murner das gedruckte Gespräch als Medium der argumentativen Auseinandersetzung mit Luther. Ob der Künig vß engelland ein lügner sey oder der Luther von 1522 - eine Reaktion auf Luthers Angriffe gegen „Heintz lügner", den englischen König Heinrich VIII.54 - ist ein fiktives Gespräch zwischen Luther, dem englischen König und Thomas Murner.55 Die 52 53 54

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.Pferdeblut', eine Beschwörungsformel, vgl. ebd., S. 329. Vgl. die Vorrede von Paul Mercker, ebd., S. 1-84. Contra Henricum Regem Angliae. In: WA 10,11, S. 180-222; zur Vorgeschichte vgl. ebd., S. 175-179; John L. Flood: Heinrich VIII. und Martin Luther. Ein europäischer Streit und dessen Niederschlag in Literatur und Publizistik. In: Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters. Bristoler Colloquium 1993. Hrsg. von Kurt Gärtner, Ingrid Kasten, Frank Shaw. Tübingen 1996, S. 3-32. Thomas Murner: Ob der künig vß engelland ein lügner sey oder der Luther. In: ders.: Kleine Schriften. Hrsg. von Wolfgang Pfeiffer-Belli. Berlin, Leipzig 1928 (= Thomas Murners Deutsche Schriften, VIII), 3. Tl., S. 47-138.

37 einzelnen ,Äußerungen' dafür nimmt Murner aus den Streitschriften beider, er .erdichtet' also nicht etwa Äußerungen des einen oder anderen, sondern bemüht sich um zuverlässige Wiedergabe. In den mit „ M V R N E R " überschriebenen Abschnitten werden die Stellungnahmen der beiden Kontrahenten erklärt56 und kommentiert.57 Murner schlägt sich dabei auf die Seite des englischen Königs. Ob der Künig vß engelland ein lügner sey oder der Luther ist damit ein Beispiel, wie eine zuverlässige Widerlegung verfaßt werden kann, ohne direkt der Disputation verpflichtet zu sein, dabei bleibt das dialogische Grundprinzip konstitutiv. Außerdem ist diese Streitschrift ein Beispiel, wie bereits in der Zeit der Reformation lateinische Auseinandersetzungen popularisiert wurden, d.h. verdeutscht und vereinfacht werden konnten, denn die Schriften Luthers und Heinrichs VIII. waren zunächst in lateinischer Sprache verfaßt. 58 Ebenfalls aus Murners Feder stammt eine Vorrede von hohem Unterhaltungswert. Antwurt und klag mit entschuldigung doctor Murners59 ist eine Reaktion auf eine Schmachschrift des gewesenen' Augustiners Michael Stifel innerhalb eines längeren Konflikts zwischen den beiden Geistlichen aus der Entstehungszeit des Lutherischen Narren.60 Die Vorrede ist ,An alle Stiefel Deutschlands' gerichtet. Bereits diese Adressierung läßt erahnen, daß es sich hierbei um eine für das 16. Jahrhundert typische satirische Auseinandersetzung mit dem Namen des Kontrahenten handelt. Zunächst spricht Murner die „wolgeschmierten vnd hochgeliderten stifel des deutschen lands"61 direkt an und lobt sie für die Dienste, die sie ihm erwiesen haben. Das satirische Spiel mit Stifels Namen eröffnet Murner mit der Pointe einer captatio benevolentiae, die an gut gepflegte Stiefel gerichtet ist. Dadurch gelingt es Murner einen Spannungsbogen aufzubauen, der seine Auflösung in der geringschätzigen Benen-

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Ebd., S. 57: „Hab ich den künig laut seiner Wörter verstanden/ so zücht er dich [Luther] an das du nit vß nachgondem besseren verstand dir selbs widerwertig bist/ erstlich den aplas nutzlich zu leren." Ebd., S. 58: „So du [Luther] nun den christlichen künig angelogen hast/ was gat dich der not an solch schentlich schmehung zu treiben [...]." Luther ließ rasch eine Übersetzung seiner Schrift (vgl. oben Anm. 54) folgen: Antwortt deutsch auff König Heinrichs buch. In: WA 10,11, S. 227-262. Thomas Murner: Antwurt und klag mit entschuldigung doctor Murners. In: ders.: Kleine Schriften. 3. Tl., S. 3 3 ^ 2 . Im Lutherischen Narren sollte sich Murner noch einmal über Stifel lustig machen. Der große lutherische Narr erklärt der Figur Murner im Lutherischen Narren, V. 2555-2564: Guck in meinen stiffel ein, Da findstu bruder siffelein, Das Schwartz brun münchlin, bei meim eidt,

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Das gesungen hat von bruder veit, Das ein augustiner was, Wie wol der nar gefeit im baß, Vnd hat sein kütlin vß geschwenckt Vnd an einen bäum gehenckt, Vnd laufft ietzunder rumplieren, Will mit der weit fürt trumphieren. Murner: Antwurt und klag, S. 34.

38 nung des Kontrahenten Michael Stifel als „vngeschmirter fischerstifel"62 findet. Dieser habe ohne jeden Grund begonnen, ihn zu beschimpfen. Darüber hinaus spottet Murner über Stifels Vertreibung aus dem Eßlinger Augustinerkloster:63 „Erstlich nent er sich bruder stifel/ da sagt er fast war an/ dan yeder stifel hat ein bruder/ so ir doch par sein müßen/ in dem sinn verstond auch in/ dan wa ir in also verstünden das er sant Augustinus orden ein bruder wer so ist es nit war/ dan sie in veriaget haben vß dem orden kann ich wol gedencken nit vmb sein vnschuld."64 Murner eröffnet seine äußerst kurz gehaltene Streitschrift mit dieser ironischen captatio benevolentiae, ehe er sich dem Streitgegner zuwendet, um zunächst die Aufmerksamkeit und Sympathie des Lesers zu gewinnen. Dann nutzt er die Verspottung des Namens, um Stifels Bruch mit den Eßlinger Augustinern zu thematisieren, um Antipathien gegen Stifel zu provozieren. Doch war es nicht nur der Name des Gegners, der zur satirischen Diffamierung diente. In anderen Streitschriften wurde der Name des Verfassers gegen den Gegner in Stellung gebracht, dann freilich ironisch und nicht satirisch eingesetzt. In der Gelinden Antwort des Jesuiten Georg Scherer erklärt dieser, die „Kranckheit" der Lutheraner sei so unheilbar, daß „weder Doctor noch Artzt/ weder Balbierer/ Bader noch Scherer mehr helfen können."65 Das satirische Spiel mit dem Namen, das aus Gegnern Typen nach dem Vorbild der Brantschen Narrensatire macht, ist ein Beispiel für die Tendenz zur Personalisierung der Konflikte. Die jeweilige Anwendung unterschiedlicher Streittechniken läßt dementsprechend grundlegende Rückschlüsse auf die Ziele der Polemiker zu. Cochlaeus versuchte im genannten Beispiel, theologische Argumente Luthers zu widerlegen. Adressaten seiner Schrift dürften damit vornehmlich Geistliche oder zumindest theologisch interessierte Laien gewesen sein. Im deutlichen Kontrast dazu steht die kurze Streitschrift Murners gegen Michael Stifel. Murner ging es kaum um die lutherische Lehre, die Stifel vertrat, sondern schlicht um verlachende Bloßstellung des Gegners. Die andere Schrift Murners, Ob der Künig vß engelland ein lügner sey oder der Luther, steht in mehrfacher Hinsicht zwischen den beiden anderen Streitschriften. Das gilt für die Vollständigkeit wie für die Ausführlichkeit der Argumentation,66 für die Unterhaltsamkeit und für den notwendigen Bildungsstand des Lesers, was

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Ebd. Als Stifel seine Schrift gegen Murner verfaßte, lebte er noch im Kloster Eßlingen, das er im April oder Mai 1522 verlassen mußte, vgl. dazu die Vorrede in Murner: Vom Lutherischen Narren, S. 30f. Murner schlachtet diese Veränderung in Stifels Biographie in Murner: Antwurt und klag, S. 36, genüßlich aus: „Zu dem anderen/ schreibt er sich von eßlingen das ist auch war/ dan die stat ist im verbotten/ darumb muß er dar von sein vnd nit drinnen." Murner: Antwurt und klag, S. 35. Georg Scherer: Georgij Scherers Gelinde Antwort auff die zornige Schmachschrifft/ so von Würtembergischen vermeinten Theologen wider sein Catholische Glossa [...] außgesprengt worden [zuerst 1585]. In: ders.: Erster Theil Aller Schrifften/ Bücher vnnd Tractätlein [...]. Bruck/Mähren 1599, Bl. 190-266", hier Bl. 191'. In: Murner: Antwurt und klag finden sich zwar Hinweise auf die Bibel, aber kein einziger Schrift- oder Traditionsbeweis im Sinne einer ausdrücklich genannten Belegstelle.

39 ein wesentliches Indiz für Vermutungen über das jeweils anvisierte Publikum einer Streitschrift ist. Der Prediger und Satiriker Thomas Murner wirkt deswegen deutlich publikumsorientierter als der Humanist Cochlaeus - der war im Gegensatz zu Murner auch kein Prediger.67 Neben den bisher genannten Streittechniken ist die Anrede des Gegners bzw. die Form, in der über den Gegner berichtet wird, ein wesentliches Differenzierungsmerkmal. Es gibt im Hinblick auf die Anrede zwei grundlegende Typen von Streitschriften. Zunächst gibt es die Möglichkeit, vom Gegner in der 3. Person Singular zu sprechen, im zweiten Typ wird der Gegner direkt in der 2. Person Singular angesprochen. Der erste Typ bietet den Vorteil, vom Gegner distanziert zu sprechen, der Verfasser spricht über seinen Gegner. In einer tendenziell sachlich verfaßten Streitschrift, Ein nötig und christlich bedencken auff des Luthers artickeln, die man gemeynem concilio fiirtragen sol, spricht Cochlaeus ausschließlich über Luther in der 3. Person Singular. Luther bzw. seine Theologie, fur die sein Namen verkürzend steht, ist Objekt der Darstellung. Doch darf aus dieser Beobachtung nicht geschlossen werden, Streitschriften, in denen die direkte Anrede fehlt, seien immer in nüchtern-sachlichem Ton gehalten. In Streitschriften Martin Luthers oder des Jesuiten Georg Scherer wird wiederholt ein Wechsel von der 2. in die 3. Person vollzogen. Damit wird keine Versachlichung oder Entemotionalisierung des Konflikts angestrebt, sondern das Gegenteil. Beide setzen den Wechsel von der direkten Anrede hin zum distanzierten Sprechen über den Gegner ein, um diesen zu schmähen. Sie sprechen ihren Gegnern unausgesprochen die ,Ehre' der direkten Anrede ab, wie die Textanalyse noch zeigen wird.68 Sieht man einmal von solchen Sonderfallen ab, so bleibt der zweite Anrede-Typ, die direkte Anrede des Gegners, in aller Regel wichtiger Hinweis auf eine Personalisierung des Konflikts. Die Anrede des Gegners hat meist keine sachliche, sondern eine emotionalisierende Streitschrift zur Folge, das zeigen etwa die genannten Beispiele von Thomas Murner.69 Konflikte konnten auch ohne die direkte Anrede des Gegners personalisiert werden, wodurch der jeweilige Polemiker üblicherweise versuchte, komplizierte Sachverhalte radikal zu vereinfachen. Das geschah durch Angriffe gegen die fuhrenden Köpfe der gegnerischen Gruppe, zuvörderst gegen Luther oder den 67

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Das dürfte jedoch nicht zuletzt ein Ergebnis der geringen Körpergröße und der schwächlichen Konstitution von Cochlaeus gewesen sein, wodurch er zum Prediger rein physisch nicht geeignet war. Vgl. etwa unten 92f., S. 160f. In Murners Ob der Künig vß engelland liegt durch die Gesprächsform eine Mischform vor. In den mit „MVRNER" überschriebenen Abschnitten wird Luther direkt angesprochen, in den mit „KVNIG" überschriebenen wird über Luther in der 3. Person Singular gesprochen, wodurch eine deutliche Distanz zwischen dem englischen König und dem Reformator signalisiert wird. In seiner Antwurt und klag wechselt Murner nach Abschluß der Vorrede den Adressaten der direkten Anrede; sind es in der Vorrede die „wolgeschmierten vnd hochgeliderten stifel des deutschen lands", an die sich Murner wendet, so ist es im folgenden Haupttext Stifel, den Murner direkt anspricht; vgl. etwa ebd., S. 36: „Zu dem fünften fragest du mich was ich die Christenheit heiß/ [...] so Sprech ich [...]."

40 Papst. Daß Luther selbst sich der (oftmals derben) Personalisierung in seinen Streitschriften bediente, ist allgemein bekannt. Luthers Angriffe gegen den ,römischen Antichrist' führten nicht zuletzt dazu, daß in der Reformation und in ihrer Folge scharf und aggressiv gegen einzelne Wortführer polemisiert wurde. Ein Beispiel mag hierfür eine Streitschrift von Georg Scherer sein, in der es in mehrfacher Hinsicht um diese Problematik geht. Die Schrift trägt den Titel Bericht/ Ob der Bapst zu Rom der Antichrist sey.70 Dieses Buch geht auf sieben Kasualpredigten zurück, in denen Scherer den protestantischen ,Antichrist'Vorwurf ernst nimmt. Das ist erstaunlich. Wegen der zahlreichen protestantischen Schriften zu diesem Diskurs bestand Bedarf an katholischen Antworten. Trotzdem ging mit jeder katholischen Streitschrift die Gefahr einer Reaktion und damit eines weiteren Anschwellens des Diskurses einher. Das konnte nicht im Sinne der Jesuiten sein. In den ersten Kapiteln stellt Scherer die alttestamentarlichen Voraussetzungen der Vorstellung vom Antichrist dar. Im weiteren Verlauf fuhrt er mit großer Ernsthaftigkeit zahlreiche Argumente an, weswegen der Papst keinesfalls der Antichrist sein kann. Im letzten Kapitel setzt sich Scherer mit der Behauptung auseinander, Luther sei der Prophet Elias, der wiedergekehrt sei und gegen den Antichrist predige, und widerlegt sie: Bey diser nicht Reformation/ sondern Deformation/ nit Verbesserung/ sondern Verböserung/ ist gut abzunemmen/ daß Lutherus weder in der Person noch im Geist Helias gewesen sey/ Dann er nit allein nichts restituiert vnd zu recht gebracht/ sondern das vnderst zu oberist/ vnd das oberist zu vnderst gekehrt/ alle ding verwirret/ vber vnnd vnder einander geworffen/ so wol in Politischen als Geistlichen Sachen. 7 '

Die gesamte Streitschrift und ebenso der Predigtzyklus zielen vom ersten Wort an darauf ab, das apokalyptische Potential der Reformation zu destruieren. Das mündet in eine umfangreiche Invektive gegen Luther ein: Dann Luther wüßte wol/ daß sein Lehr auff einem faulen Grund erbawet/ nit lang stehen kündte/ daß darauß allerley Secten vnnd Schwermer/ wie die Maden auß einem faulen Käß notwendig wachsen/ vnnd die Straff deß Gerechten Gottes darauff gewißlich volgen müsse. Welche Propheceyungen deß Luthers mich gemanen an einen Brenner/ der etwann Fewer legt/ vnnd darnach propheceyet/ daß bald brinnen werde [...]. 72

Aus dem Traktat mit dem unschuldigen Titel Bericht/ Ob der Bapst zu Rom der Antichrist sey wird eine Invektivschrift, an deren Ende Luther als geistiger Brandstifter steht. Am Ende vieler Invektivschriften findet sich, wie nicht anders zu erwarten, eine knappe Zusammenfassung in Form einer affekterregenden peroratio, die oft in ein Gebet mündet, in dem Gott um Beistand für die eigene Sache und um Vergebung für den Gegner gebeten wird. Auf diese Weise demonstriert der

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Georg Scherer: Bericht/ Ob der Bapst zu Rom der Antichrist sey/ In etliche Predigen kürtzlich verfasset Durch Georgium Scherer, Societatis IESV Theologum. Ingolstadt 1585. Ebd., S. 146. Ebd., S. 148f.

41 Verfasser nicht nur individuelle Selbstgewißheit, er legitimiert und rechtfertigt seine Schrift mit dem Bemühen um das Seelenheil von Gegner und Leser.73 Titelwahl, Realisationen der Argumentation und der Aggression, Typen der Anrede - all die genannten Beispiele belegen, daß es unterschiedliche Strukturmuster von Streitschriften gab. Die Verfasser bauten sich für ihre Zwecke und Ziele ihre Streitschrift, griffen auf unterschiedliche rhetorische Streittechniken zurück und ließen sich durch bekannte Vorbilder anregen, die nicht ausschließlich in anderen Streitschriften zu suchen sind, sondern auch in anderen Medien wie Flugschriften, Satiren oder Theater. Die Produktion von religionspolemischen Streitschriften war oftmals unbeholfen und kaum institutionell organisiert. An Schulen und Universitäten wurde die Muttersprache wenig gepflegt. Die großen Bildungsreformen des 16. Jahrhunderts, auf evangelischer Seite von Melanchthon und Johannes Sturm, auf katholischer Seite vom jesuitischen Bildungsprogramm geprägt, betrafen ausschließlich den gelehrten, lateinischen Unterricht.74 Das hatte zur Folge, daß Polemiker zunächst mit lateinischen Streittechniken und hierbei vor allem mit der Disputation vertraut waren und daß sie erst den schriftlichen Umgang mit der Volkssprache einüben und erlernen mußten. Diese Notwendigkeit erklärt u.a. den auffälligen Befund, daß gerade engagierte Beichtväter und erfolgreiche Prediger zu den prominenten Streitschriftenverfassern zählten.75 An den Schulen und Universitäten konnte das Streiten in der Volkssprache dagegen nicht erlernt werden. Das verdeutlicht ein Blick in einige Rhetorik-Lehrbücher der Zeit. „Die Polemik ist ein Musterbeispiel für die meist vernachlässigte Tatsache, daß in der Geschichte der Rhetorik die Lehre und die zugehörige Praxis [...] weit auseinanderklaffen." 76

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Scherers Bericht beispielsweise endet S. 153 mit den Worten: „Der Allmächtige/ Ewige/ vnnd Barmhertzige Gott/ wolle diß vnd anders vnsern Widersachern zu erkennen geben/ daß sie doch dermal eins die hohe Obrigkeiten/ beyde Geistliche vnnd Weltliche/ zulästern auffhören/ Die Warheit für Augen haben/ fleißigere achtung auff ihr Gewissen geben/ ihrer Seelen Heyl besser bedencken/ nit länger irrgehende Schäflein bleiben/ sondern sich alßbald inn den einigen Schafstall der Catholischen Kirchen widerumb versamblen lassen/durch den getrewen Ertzhirten Christum Jesum/ der alle seine Schaf vnd Lämblein Petro vnnd seinen Nachkömblingen zuwaiden vnnd zuregieren commendiert vnd anbefolhen/ Der auch an jenem grossen Gerichts tag alle gehorsame Schäflein zu seiner Rechten/ die stinckenden vnnd stossenden Böck aber zu Lincken stellen/ vnd disen das Höllisch Fewer/ ienen aber das ewige Leben zu erkennen wirdt/ AMEN." Vgl. Wilhelm Kühlmann: Pädagogische Konzepte. 1. Der deutsche Humanismus und die Kultur der Frühen Neuzeit. In: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. (15.-17. Jahrhundert. Von der Renaissance und der Reformation bis zum Ende der Glaubenskämpfe). Hrsg. von Notker Hammerstein. München 1996, Bd. 1, S. 153-168. Erste Ansätze zu einem muttersprachlichen Rhetorikunterricht finden sich erst im 17. Jahrhundert, vgl. Bamer: Barockrhetorik, S. 278-280. Zum Zusammenhang zwischen Streitschrift und Predigt vgl. unten S. 232ff. Georg Braungart: Zur Rhetorik der Polemik in der Frühen Neuzeit. In: Feindbilder. Die Darstellung des Gegners in der politischen Publizistik des Mittelalters und der Neuzeit. Hrsg. von Franz Bosbach. Köln, Weimar, Wien 1992, S. 1-21, hier: S. 5. Braungart baut seine Ausfuhrungen auf den Institutiones Rhetoricarum des Jesuiten Soarez auf (zuerst 1566), geht aber auch auf die klassische Rhetorik sowie auf das evangelische Gegenstück

42 Es gibt „keine ausgebildete Gattungslehre der Polemik",77 und erst recht mangelt es an einer polemischen Stillehre.78 Doch heißt das nicht, daß die rhetorischen Lehrbücher dem interessierten Polemiker keine Hilfe waren. Da die Polemik als „Gegenstück" zur Lobrede {laus, laudatio) galt, stand dem Verfasser von Streitschriften in der rhetorischen Gattungslehre „potentiell der ganze Fundus der für das Personenlob vorgesehenen Topik"79 zur Verfugung die Polemik nähert sich damit der negativen Entsprechung der Lobrede, dem Tadel (vituperatio) an. Weit häufiger ist die Gerichtsrede {genus iudiciale) Ausgangspunkt des Polemikers.80 Sie nimmt den vielleicht prominentesten Teil der rhetorischen Gattungslehre ein. Die Gerichtsrede legt drei grundlegende Möglichkeiten zum Angriff auf den Gegner nahe: 1. die Anklagerede, 2. die Verteidigungsrede und 3. die Invektivrede.81 Daneben bieten sich in der Dispositionslehre der klassischen wie der frühneuzeitlichen Rhetorik verschiedene Redeteile an, die sich vorzüglich zur Polemik eignen. Neben dem exordium, das - wie bereits erwähnt - in Form von Vorreden regelmäßig zur Polemik gegen den Gegner genutzt wurde, eignete sich die confutatio, die dem Ziel diente, die Argumente des Gegners zu widerlegen oder zumindest zu zerstreuen. Streitschriften mit einer ausfuhrlichen confutatio sind damit üblicherweise der Disputation verpflichtet, weil diese die Widerlegungstechnik des gelehrten Unterrichts der Frühen Neuzeit war.82 Neben den bekannten Rhetoriklehrbüchern der Zeit steht ein kleines Oktavbändchen, das einen großen Titel trägt: Rhetorica diuina, siue ars vincendi haereticos Lutheranos ex sacris scripturis. Verfasser dieser Rhetorik ist Johannes Cochlaeus, veröffentlicht wurde sie 1531. Dieses Büchlein, es umfaßt gerade einmal 20 Blatt, ist trotz der Bedeutung des Humanisten Cochlaeus für die ersten drei Jahrzehnte der Religionsstreitigkeiten in der Forschung unbeachtet geblieben. Bereits vor der Reformation verfaßte Cochlaeus wiederholt einige

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zu Soarez, auf das Rhetorik-Lehrbuch von Philipp Melanchthon und Martin Crusius ein; vgl. auch Barner: Barockrhetorik, S. 336-338. Braungart: Rhetorik der Polemik, S. 6. Einen ersten, äußerst überzeugenden Versuch, mittels historischer Analyse unterschiedliche , Streitstile' zu unterscheiden, findet man bei Markus Friedrich: Der Streit um das Streiten. Wahrnehmung von Dissens um 1600 - das Beispiel des Helmstedter Hofmannstreits. In: Autorität der Form - Autorisierung - Institutionelle Autorität. Hrsg. von Wulf Oesterreicher, Gerhard Regn, Winfried Schulze. Münster 2003 (= Pluralisierung & Autorität, 1), S. 293-308. Braungart: Rhetorik der Polemik, S. 7. Analog gilt das auch für den Apologetiker, vgl. Sylvia Heudecker: Kunst der Verteidigung - Verteidigung der Kunst. Zur Bedeutung der apologetischen Rhetorik für die Entwicklung der deutschen Literaturkritik von der Frühaufklärung bis Lessing. In: Schlüsselkompetenz Mündliche Kommunikation. Hrsg von Dieter W. Allhof. München 2001 (= Sprache und Sprechen, 3), S. 73-81, bes. S. 75. Vgl. Braungart: Rhetorik der Polemik, S. 12. Vgl. ebd., S. 9f. Die von Braungart (vgl. ebd., S. 13f.) angeführte calumnia kann hier vernachlässigt werden, weil sie letztlich als Stilmittel in den zuvor genannten Redeteilen und -gattungen zur Anwendung kommen kann.

43 Schulbücher.83 Daß die Rhetorica diuina eindeutig ein Produkt fur den Schulgebrauch ist, zeigt sich in den im folgenden genannten Ratschlägen, die wegen ihrer Einfachheit erfahrenen Streitschriftenverfassern gewiß nicht weitergeholfen haben. Um die ,Häretiker' erfolgreich zu bekämpfen, bedarf es nach Cochlaeus der Erfahrung und der Übung. Deswegen ermuntert er im ersten Kapitel zur fleißigen Nacheiferung bekannter Vorbilder.84 In den folgenden sieben Kapiteln nennt er Vorgehensweisen und warnt vor formalen Fehlern, die um jeden Preis zu vermeiden seien: Berufung ungeeigneter Richter, Geschwätzigkeit, üble Nachrede, Lügen, fehlerhafte Argumente, Fehler sowie Sprachgaukeleien.85 Die konkrete Benennung von formalen Fehlern (vitia) hat rhetorische Tradition. Den schulbuchhaften Charakter der Rhetorica diuina erkennt man schon daran, daß Cochlaeus die Erlaubnis, von den Vorschriften abzuweichen (licentia), ausdrücklich ausschließt. Abgeschlossen wird das Büchlein mit drei Kautelen. Für die theologische Auseinandersetzung ist dabei die erste Kautel besonders wichtig, in der ausdrücklich davor gewarnt wird, mit den Ketzern in zentralen theologischen Streitfragen zu wetteifern: „[...] in quantum poßibile est, ne contendatis cum haereticis de magnis et utilibus rebus ut sunt, iustificatio, fides, remißio paecatorum etc."86 Daneben ruft Cochlaeus seinen Lesern in Erinnerung, daß die korrekte Wortwahl wesentlich für eine Streitschrift ist und daß Unkorrektheit direkt auf den Verfasser zurückschlägt und diesen diskreditiert (2. Kautel).87 Cochlaeus postuliert hier puritas, Sprachrichtigkeit, zentrales Anliegen jeder Rhetorik,88 wobei er mit dem Hinweis auf die Gefahr des Autoritätsverlustes bei unkorrekter Wortwahl zwar einen rhetorischen Allgemeinplatz nennt, der aber vor dem Hintergrund des geistlichen Amtes der meisten Verfasser von Streitschriften belegt, welch hohen Wert Cochlaeus den theologischen Polemiken beimaß. Diese waren für ihn ein wichtiges Medium der gelehrt-theologischen Auseinandersetzung. Die dritte

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Das heute bekannteste Beispiel dafür ist: Johannes Cochlaeus: Brevis Germanie Descriptio (1512) mit der Deutschlandkarte des Erhard Etzlaub von 1501. Hrsg., übers, u. kommentiert von Karl Langosch. Darmstadt 3 1976. Johannes Cochlaeus: Rhetorica diuina, siue ars vincendi haereticos Lutheranos ex sacris scripturis per IOAN. COCHLEVM. O.O. 1531, unpaginiert. Kap. 1: „Zelvs", nach Lagenzählung: Bl. a5 r -a6 r . Zur „Tradition der ,exempla"' vgl. Barner: Barockrhetorik, S. 59-67. Cochlaeus: Rhetorica diuina, Kap. 2 „PROVOCATIO AD INIQVOS IVDICES", Bl. a6vf; Kap. 3 „GARRVLITAS", Bl. a7 r f.; Kap. 4 „CALVMNIA", Bl. a7 v -b r ; Kap. 5 „MENDACIVM", Bl. b-b3 v ; Kap. 6 „VICIOSA ARGVMENTA", Bl. b3 v -b4 v ; Kap. 7 „DEPRAVATIO SCRIPTVRARVM", Bl. b4 v -b7 v ; Kap. 8 „PRAESTIGIVM", Bl. b7 v -c r . Ebd., Bl. c r . Ebd., Bl. c2 r -c3 v . Vgl. Marcus Fabius Quintiiianus: Institutionis oratoriae libri XII. Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. 2 Tie. Hrsg. und übers, von Helmut Rahn. Darmstadt 1972, 1975 (= Texte zur Forschung, 2, 3), hier: 1,5,1: „Iam cum oratio tres habeat virtutes, ut emendata, ut dilucida, ut ornata sit (quia dicere apte, quod est praecipuum, plerique ornatui subiciunt), totidem vitia, quae sunt supra dictis contraria: emendate loquendi regulam, quae grammatices prior pars est, examinet." Zuvor Marcus Tullius Cicero: De oratore. Über den Redner. Übers, und hrsg. von Harald Merklin. Stuttgart 1976 (= RUB, 6884), 3,38 u.ö.

44 Kautel besagt, daß man besser auf die Fehler der Gegner ziele, nach Möglichkeit aber niemals die eigenen behandle. Damit nennt Cochlaeus abschließend eine Regel, der üblicherweise gefolgt wurde und die ein Grund für die Langatmigkeit zahlreicher Streitschriftenwechsel war. Denn eine beliebte Streittechnik war es, nicht nur inhaltlich-theologisch den Gegner anzugreifen, sondern ihm formale Fehler vorzuhalten und deren Korrektur einzufordern. Da der Gegner darauf eben nicht einging, wie es hier Cochlaeus zur Regel erhebt, wiederholte der Fordernde immer wieder die gegnerischen Fehler und Versäumnisse, schlimmstenfalls war die Streitschrift nur noch Wiederholung, quasi tendenziöser Kommentar des bisherigen Streitverlaufs. Und „Kommentierung [...] [kommt] niemals zu einem Ende."89 Ja, die „Mechanik der Unaufhörlichkeit"90 erreichte quantitativ im Zeitalter der konfessionellen Auseinandersetzungen eine neue Dimension. Daß Cochlaeus diese rhetorische ,Unhöflichkeit' offen ausspricht, dürfte mit dem Schulbuchcharakter des kleinen Werkes zusammenhängen, denn in einem Lehrbuch von Rang wäre mit Hinweis auf die Notwendigkeit redlicher Argumentation ein solch taktierendes Vorgehen kritisiert und abgelehnt worden. Insofern handelt es sich bei dieser dritten Regel um eine Ausnahme, die gerade durch ihre Nennung in einem kleinen und den meisten Zeitgenossen wie auch der modernen Forschung weitgehend unbekannten Rhetorikhandbüchlein indirekt Georg Braungarts wichtigen Befund bestätigt: „Was an Pamphleten und Streitschriften, Satiren, Pasquille erscheint, wird von keiner Doktrin völlig gedeckt. Die Rhetoriktheorie liefert einige Versatzstücke, die zweckentfremdet werden konnten."91 Für deutschsprachige Streitschriften gilt dieser Befund in besonderem Maße, denn Rhetorikunterricht und -lehrbücher waren für den gelehrten, d.h. lateinischen Unterricht verfaßt. Die Autoren von volkssprachlichen Polemiken waren mit dem Deutschen als Schriftsprache mit öffentlicher Funktion gar nicht oder nur unzulänglich vertraut. Deswegen waren Beispiele und nachahmenswerte Vorbilder wichtig. Im Werk von Johannes Cochlaeus finden sich zahlreiche lateinische Streitschriften, die umgehend von ihm ins Deutsche übersetzt wurden, eine Vorgehensweise, die man auch bei anderen Autoren feststellen kann. Noch gegen Ende des Jahrhunderts wurden katholische Streitschriften direkt nach dem Erscheinen der lateinischen Ausgabe ins Deutsche übersetzt,92 was vermuten läßt, daß zumindest die Jesuiten den Mangel an deutschen Streitschriften erkannt haben. Anders läßt sich das ungeheure Engagement nicht erklären, mit dem seit den 60er Jahren vornehmlich in Ingolstadt wichtige

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George Steiner: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? Aus d. Engl, von Jörg Trobitius. München 1990, S. 60. »ο Ebd. 91 Braungart: Rhetorik der Polemik, S. 19. 92 Gregor de Valentia: Kurtze Verzeichnuß Gregory de Valentia der Societet Jesu/ vber die kurtze Warnung/ von Schmidelino Lutheranen [d. i. Jacob Andreae]/ wider die Caluinisten zu schütz der Jesuiten/ newlich in Track außgangen. Jetzt dem Christlichen Teutschen Leser zu gutem/ in vnser Sprach verdolmetscht. Ingolstadt 1583.

45 katholische Werke ins Deutsche übersetzt93 und Kompilationen von ausländischen Geistlichen befördert wurden; diese waren allerdings nicht nur polemischen, sondern oft auch kontemplativen Inhalts.94 Doch verdeutlichen diese Befunde vor allem eins: Gerade katholische Autoren taten sich noch Jahrzehnte nach der Reformation mit der Volkssprache schwer, was sie teilweise äußerten. Hieronymus Emser droht mehrmals mit dem Abbruch des Streites mit Luther um dessen Adelschrift, falls Luther nicht bereit sei, die Auseinandersetzung in der Sprache der Theologen, in Latein, fortzusetzen.95 Und wie schwerfallig die deutschen Schriften des Humanisten Johannes Cochlaeus zum großen Teil sind, wurde exemplarisch gezeigt. Die deutsche Sprache blieb für nicht wenige eine Provokation und gleichzeitig eine mühselige Herausforderung. Daneben gab es auch katholische Polemiker, die höchst virtuos mit ihr umgehen konnten, man denke etwa an den Franziskaner Johannes Nas, an den Jesuiten Scherer oder an den noch bis zu Beginn des 30jährigen Krieges vielseitig engagierten Jesuiten Conrad Vetter, der zahlreiche Streitschriften Jacob Gretsers ins Deutsche übersetzte.96 In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß ebenso nicht alle Lutheraner Meister der deutschen Sprache waren. So treten beispielsweise die langen Streitschriften Jacob Heerbrands deutlich hinter denen seiner württembergischen Kollegen Andreae und Lucas Oslander zurück.97

2. Streitschriftenwechsel und ihre Protagonisten Ein polemischer Traktat blieb im konfessionellen Zeitalter oft nicht unbeantwortet. Häufig war eine Gegenschrift zu erwarten, die auf die vorausgehende Schrift inhaltlich und formal reagierte. Sah sich der Gegner herausgefordert, 93

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Die Lutherkommentare des Johannes Cochlaeus erschienen 1549, die deutsche Übersetzung erst 1582 in Ingolstadt: Historia Martini Lutheri: Das ist/ Kurtze Beschreibung seiner Handlungen vnd Geschrifften [...] Erstlich in Latein gebracht durch weiland den ehrwürdigen vnd hochgelehrten Herrn/ IOANNEM COCHLAEVM [...] vnd jetzo auß dem Latein ins Teutsch gebracht Durch Johann Christoff Hueber. Ingolstadt 1582; dazu Kai Bremer: Im Spannungsfeld von Historie, Kommentar und Kontroverstheologie: das Geschichtswerk des Johannes Cochlaeus. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 33 (2001), H. 2, S. 221-235. Adam Walasser: Schwert des Geists Oder Entdeckung des newen Euangeliums. Auß des Hochwürdigsten Herrn Cardinais STANISLAI HOSII Büchern gezogen/ vnd durch Adam Walasser in Truck geben/ Mit angehenckter Widerlegung ettlicher erdichter Schmachschriffien wider die IESVITER in öffentlichen Truck außgangen. Auch von frucht vnnd nutzbarkait der löblichen Societet IESV. Ingolstadt 1572. Vgl. unten S. 95f. Im Gegensatz zu den meisten anderen Übersetzern lieferte Vetter verhältnismäßig selbständige Übersetzungen; seine Arbeiten sind weitgehend unerforscht. Heerbrand war oftmals nicht in der Lage, seine Schriften ,auf den Punkt' zu formulieren, er versuchte, jedem gegnerischen Vorwurf mit disputatorischer Zuverlässigkeit zu begegnen; vgl. ders.: Außklopfüng/ Deß von Jörg Scherern/Jesuiten/ zusammen geflickten/ Lutherischen Bettlermantels. Tübingen 1588.

46 mißverstanden oder schlecht behandelt, antwortete er seinerseits. Erst damit liegt ein vollständiger Streitschriftenwechsel vor. Es müssen also mindestens drei Schriften publiziert werden, damit von einem Streit gesprochen werden kann: Zunächst erscheint ein (polemischer) Traktat, auf diesen reagiert ein Gegner, was eine weitere Erwiderung provoziert.98 Streitschriftenwechsel müssen nicht unbedingt von zwei Kontrahenten geführt werden. Nicht selten streiten zwei Theologen einer Konfession gegen einen Gegner." Streite zu rekonstruieren, fällt deswegen oftmals nicht leicht, weil der einzelne Gegner nicht immer ausgewogen auf zwei Kontrahenten eingeht. Einzelne Streitschriften reklamieren die .Abfertigung' beider Gegner, doch liegt faktisch die Widerlegung einer einzelnen Schrift vor. Seltener sind Streitschriften, die von mehreren Polemikern gemeinsam verfaßt werden. Zur Veranschaulichung der vielfältigen Möglichkeiten des Polemisierens ist der Streit um die Newe Zeytung des Jesuiten Georg Scherer ein geeignetes Beispiel. 1583 veröffentlichte er die Gewisse und wahrhaffle Newe Zeytung auß Constantinopel.m Hintergrund dieser knappen Schrift, die erst im Vorwort den Namen des Verfassers preisgibt, war der seit der Mitte des 16. Jahrhunderts in unregelmäßigen Abständen in griechischer Sprache gepflegte Briefwechsel von Tübinger Theologen mit der griechischen Kirche. 1573 stellte der Tübinger Professor Martin Crusius über den Prediger einer kaiserlichen Gesandtschaft in Konstantinopel, Stephan Gerlach, Kontakt zum Patriarchen Jeremias II. her. Daraufhin übersandte der Tübinger Kanzler Jacob Andreae dem Patriarchen die Confessio Augustana mit der Bitte um Beurteilung. Zwar entwickelte sich auf der Grundlage dieser Bitte ein Briefwechsel, doch traten rasch erste grundlegende dogmatische Differenzen zutage. 1581 lehnte der Patriarch jeden weiteren Austausch über dogmatische Fragen ab.101 Der Briefwechsel wurde von katholischer Seite aufmerksam verfolgt. Es verwundert daher nicht, daß der Abbruch von dieser mit Zufriedenheit und Erleichterung aufgenommen wurde. 1582 veröffentlichte Stanislaus Socolovius, Kaplan des polnischen Königs, eine 98

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Es ist nicht angebracht, bereits nach dem Erscheinen der ersten Reaktion von einem Streitschriftenwechsel zu sprechen. Dieser setzt Reaktionen auf beiden Seiten voraus. Johannes Cochlaeus z.B. hat mehrere Dutzend Streitschriften gegen Schriften Luthers verfaßt, dieser reagiert darauf nur ein Mal, vgl. Luther: Adversus armatum virum Cokleum. Im Streit um die ,Luther-Theologie' von Friedrich Staphylus reagieren zu Beginn mehrere Lutheraner (Melanchthon, Musculus, Andreae u.a.) auf ihn; vgl. unten S. 107ff. Georg Scherer: Gewisse und wahrhaffie Newe Zeytung auß Constantinopel vom Hieremia jetzigen Patriarchen daselbsten/ was sein vnd aller Griechischen vnd Orientalischen Kirchen vrtheil vnd meinung sey von allen Articuln Augsburgischer Confession. Ingolstadt 1583. Georg Elias Zachariades: Tübingen und Konstantinopel im 16. Jahrhundert. Göttingen 1941. Eugen Hämmerle: Tübingen und Konstantinopel. Der Briefwechsel zwischen dem Ökumenischen Patriarchen Jeremias II. und den Tübinger Theologen 1573-1581. In: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 83/84 (1983/84), S. 201-210. Dorothea Wendebourg: Reformation und Orthodoxie. Der ökumenische Briefwechsel zwischen der Leitung der Württembergischen Kirche und Patriarch Jeremias II. von Konstantinopel in den Jahren 1573-1581. Göttingen 1986 (= Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, 37).

47 lateinische Übersetzung der Beurteilung der Augsburger Konfession durch den Patriarchen, die Censura Orientalis Ecclesiae. Sie gelangte über Umwege in die Hände Scherers, der seinerseits eine Übertragung ins Deutsche vorlegte, eben die Newe Zeytung. Dieser Vorgang ist typisch für jesuitische Schriften mit polemischer Intention. Selbständige, deutschsprachige Streitschriften von Jesuiten erschienen vor 1585 nur äußerst selten. In der Regel handelte es sich um Übersetzungen etwa von Gregor de Valentia102 oder um vorlagennahe Bearbeitungen wie die Newe Zeytung. Mit der Newen Zeytung machte Scherer einen Briefwechsel publik, der dem Ansehen der Tübinger Theologie zu schaden drohte. Die Schrift ist so aufgebaut, daß diejenigen Aussagen des Patriarchen im Mittelpunkt stehen, die der katholischen Lehre gleichen oder zumindest nahe kommen. Das forderte die Tübinger Theologen heraus. Nur wenige Monate nach der Newen Zeytung publizierte Jacob Heerbrand eine Ableinung Vnnd Abfertigung der newen Zeytung.m Auf Heerbrands Schrift folgte Scherers Catholische Glossa}0* in der er weitere Auszüge aus und Anmerkungen zu dem Briefwechsel vorlegte, auf Heerbrand ging der Wiener Jesuit darin nicht ein. Dieses Vorgehen rief in Stuttgart und Tübingen die gesamte theologische Elite auf den Plan und veranlaßte sie zu einer gemeinsam verfaßten Streitschrift, die 1584 beim Tübinger Drucker Alexander Hoch erschien: Warhafftiger Bericht/ Auff die vnuerschembten Luegen/ mutwilligen Verkeerungen/ hönisch gespött vnnd gräuliche Lästerungen Georgij Scherers/eines Jesuiters/ welche er nennet/ Catholische Glossa/ oder erklerung etc. Scherer replizierte darauf mit Georgij Scherers Gelinde Antwort/ auff die zornige Schmachschrifft/ so von Würtembergischen vermeinten Theologen wider sein Catholische Glossa [...] newlich außgesprengt worden}05 Eine Reaktion aus Tübingen blieb aus. Dieser Streitverlauf weist gleich mehrere untypische Merkmale auf, die zeigen, welch vielfaltige Entwicklungen eine religionspolemischer Streit nehmen konnte. Zunächst wurde Heerbrand von Scherer ignoriert, wobei ausgeschlossen werden kann, daß Scherer die Ableinung Vnnd Abfertigung nicht kannte. Üblicherweise reagierten die am Streit beteiligten Polemiker innerhalb weniger Monate aufeinander, nämlich ungefähr im Abstand der Meßrelationen, die genau studiert wurden, um über den Stand der gegnerischen Polemik informiert zu sein. Scherer hat sich außerdem in der Gelinden Antwort nicht dahingehend geäußert, daß er von der Ableinung Vnnd Abfertigung nichts wußte. Das wäre üblich gewesen, um den Vorwurf der Ignoranz zu entkräften. Weiterhin treten unterschiedliche Polemiker auf Tübinger Seite als Verfasser in Erscheinung,

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Vgl. de Valentia: Kurtze Verzeichnuß. Jacob Heerbrand: Ableinung Vnnd Abfertigung der newen Zeytung auß Konstantinopel/ so diß 83. jars zu Wien von einem Jesuiten/ wider die Christliche Augspurgische Confession außgesprengt. Tübingen 1583. Georg Scherer: Catholische Glossa oder Erleutterung Georgij Scherers Societatis IESV Theologi, auff ein Epistel oder Sendtschreiben der Vbiquentlerischen Predicanten vnd Professoren zu Tübingen an Griechischen Patriarchen zu Constantinopel. Ingolstadt 1584. Vgl. Scherer: Gelinde Antwort.

48 was zum einen die Bedeutung vor Augen fuhrt, die man diesem Streitthema beimaß. Zum anderen ist dies ein Beispiel dafür, dem Kontrahenten als Gruppe zu begegnen. Wichtig ist ferner der Sachverhalt, daß jeder Polemiker den Zeitpunkt der Reaktion selbst wählen konnte, es also keine Zwangsläufigkeiten gab. Nachdem Scherers Reaktion auf Heerbrand ausgeblieben war, hätte er gewiß zur zweiten Tübinger Schrift ebenfalls schweigen können. Als er jedoch antwortete, reagierten die Tübinger nicht mehr. Zu Beginn der Reformation gab es selten Streitschriftenwechsel, an denen Gruppen beteiligt waren, die direkte Auseinandersetzung zwischen zwei Theologen überwog. Zwar rief Luther durch seine Schriften vielfaltigen Widerspruch hervor, doch konzentrierte er sich, wenn er denn den Streit suchte, meist auf einen Gegner und reagierte auf weitere potentielle Kontrahenten nicht. Insofern dürfte dieses Phänomen, daß zu Beginn der Reformation solche Streitgruppen nicht in Erscheinung traten, in der Tat eng mit der herausragenden Gestalt Luthers und seiner Kunst der Streitlenkung zusammenhängen.106 Im Streit mit dem Konvertiten Staphylus (um 1560) engagierten sich hingegen zahlreiche Reformatoren (u.a. Melanchthon, Musculus und Andreae).107 Der geschilderte Streit zwischen Scherer und den württembergischen Theologen belegt zudem, wie wenig sich ein Streitverlauf vorhersagen läßt. Ein Streit wird üblicherweise nicht beendet, einer der Teilnehmer reagiert statt dessen irgendwann nicht mehr; für mindestens eine Seite ist alles Wesentliche gesagt, die Fortsetzung des Streites erübrigt sich.108 Dies ist jedoch ein oberflächliches Ergebnis. Immer wieder brechen Streitschriftenwechsel ab, und nur wenige Monate später streiten die gleichen Kontrahenten erneut miteinander, die Themen des Streites haben sich geändert, aber es liegt der Verdacht nahe, daß hier letztlich der Streit erneut aufgenommen wird. Im Einzelfall ist es schwer zu beweisen, ob de facto eine Fortsetzung vorliegt oder nicht, denn die Kontrahenten äußern sich nicht dazu. Scherer und die Württemberger stritten bis 1590 miteinander, bis Scherer als gegenreformatorischer Prediger eingesetzt wurde, was zur Folge hatte, daß er sich nicht mehr als Polemiker betätigen konnte. Über die Dauer von Streitschriftenwechseln und über die Anzahl der Kontrahenten läßt sich also kein gefestigtes Urteil fallen. Die Kontroversen blieben insgesamt überschaubar. Nur selten publizierte ein Polemiker in einem Streit fünf oder mehr Schriften. Ein Streitschriftenwechsel umfaßte deswegen selten mehr als zehn Schriften, nach 18 Monaten war er meist abgeschlossen. Präziser als der Streitverlauf kann das Profil der einzelnen Polemiker beschrieben werden. Sie waren in aller Regel studierte Theologen und waren mit wichtigen theologischen Argumenten und Dogmen ihrer Konfession ver-

10« Vgl. unten S. 76ff. 107 Vgl. unten S. 107ff. 108 Eine Ausnahme stellt der Streit zwischen Luther und Emser dar, in dessen Verlauf Emser wiederholt den Abbruch der Auseinandersetzung ankündigt. Doch kommt Luther ihm zuvor und reagiert seinerseits nicht mehr; vgl. unten S. 97.

49 traut. Das war nicht für alle Geistlichen der katholischen Kirche eine Selbstverständlichkeit.109 Nicht selten war der Fall, daß der Druck aus dem eigenen Geldbeutel finanziert wurde.110 Der große Anteil an Streitschriftenverfassern aus gut organisierten Orden und an Theologieprofessoren erklärt sich daher nur zu einem Teil mit der guten theologischen Bildung dieser Männer. Ihnen standen außerdem Druckereien zur Verfugung, in denen sie teilweise kostenlos oder auf Kosten ihres Ordens oder auch ihres Landesherren drucken lassen konnten. Die Drucker David Sartorius in Ingolstadt oder Georg Gruppenbach in Tübingen sind dafür bekannte Namen.111 Im Streit wurde ,Ordenshomogenität' gewahrt; Jesuiten stritten nur gemeinsam mit weiteren Jesuiten, nie aber gemeinsam mit Mitgliedern anderer Orden, ordenslosen Priestern oder gar Laien. Das dürfte sich durch die zum Teil große Ordensrivalität erklären lassen. Gerade die Jesuiten stießen auf kirchenpolitischen Widerstand der Dominikaner," 2 in Ausnahmefallen kam es sogar zu schriftlichen Auseinandersetzungen zwischen Jesuiten und anderen Katholiken.113 Diese waren aber immer in lateinischer Sprache verfaßt. Die deutsche Sprache als Streitsprache konnte zwar Mittel der Religionspolemik sein, für die katholische Kirche war sie jedoch keinesfalls die Sprache der innerkirchlichen Auseinandersetzung. Die deutsche Sprache war für katholische Polemiker und Kontroverstheologen Mittel zur Popularisierung der konfessionellen Differenz, während die lateinische Sprache das Medium war, in dem diese Differenz grundlegend ausformuliert - zu denken ist an die Disputationes de controversiis des Kardinals Bellarmin114 - und in der die eigene dogmatische Position erörtert und festgelegt wurde, maßgeblich in den Konzilsbeschlüssen von Trient.115 Es waren nicht nur die Streitpunkte und -themen, die die Polemiken kennzeichneten, es waren auch die Autoren selbst. Die Religionsstreitigkeiten sind geprägt von Ordensmitgliedern und Theologieprofessoren, selten hingegen von Laien, insbesondere katholischen Laien. Diese verkörpern Ansätze zu einer 109 vgl. Wolfgang Reinhard: Gegenreformation als Modernisierung? Prolegomena zu einer Theorie des konfessionellen Zeitalters. In: Archiv für Reformationsgeschichte 68 (1977), S. 226-252, bes. S. 236ff. 110

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Monika Ammermann-Estermann: Literarische Öffentlichkeit. In: Steinhagen (Hrsg.): Zwischen Gegenreformation und Frühaufklärung, S. 107-116. Vgl. Valentin: Jesuiten-Literatur, S. 173f. Vgl. Hsia: Gegenreformation, S. 173. Vgl. Florian Neumann: Schoppe contra Strada. In: Jaumann (Hrsg.): Schoppe, S. 298-344, sowie Christoph Strosetzki: Schoppes Auseinandersetzungen mit den Jesuiten. In: Jaumann (Hrsg.): Schoppe, S. 345-360. Robert Bellarmin: Disputationes ROBERTI BELLARMINI POLITIANI, Societatis IESV, DE CONTROVERSIIS CHRISTIANAE FIDEI, ADVERSVS huius temporis Haereticos. 3 Bde. Ingolstadt 1587-1593. Vgl. dazu Reimund Sdzuj: Historische Studien zur Interpretationsmethodologie der frühen Neuzeit. Würzburg 1997, S. 58-82. Vgl. Hubert Jedin: Das Konzil von Trient unter Paul III. und Julius III. (Kap. 35), Der Durchbruch der Katholischen Reform (1551/59) (Kap. 36), Pius IV. und der Abschluß des Konzils von Trient (Kap. 37). In: ders. (Hrsg.): Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. IV, S. 487-520.

50 ,gegenreformatorischen Öffentlichkeit', 116 auf die es im Rahmen dieser Studie ausdrücklich hinzuweisen gilt, weil sonst der Eindruck entstehen könnte, daß seit Beginn der Reformation die römische Kirche ausschließlich durch Fachleute vertreten wurde. In der gebotenen Kürze werden deswegen vier Laien vorgestellt, die für die vielfaltigen Möglichkeiten der katholischen Laienschriftsteller stehen, keineswegs aber eine Art,Laientypologie' bieten. Caspar Querhammer (gest. 1557) war zeitlebens Bürger der Saalestadt Halle. Er entstammte einer bedeutenden Familie und war wiederholt Ratsmeister, regierender Bürgermeister der Stadt. Er besuchte wahrscheinlich eine Lateinschule und war daher des Lateinischen mächtig. Er besaß Salzpfannen, um Salz zu versieden, was ihm erhebliche Einkünfte bescherte.117 Querhammer war in Halle bewährter Ansprechpartner des Kardinals Albrecht von Brandenburg und stand mit Johannes Cochlaeus in Kontakt. Daß dieser sich sogar auf dessen polemische Schriften berief, spricht fur die hohe Wertschätzung Querhammers in katholischen Kreisen. Außerdem war Querhammer ein talentierter Tonsetzer und Lieddichter. Zahlreiche Lieder aus seiner Feder fanden Eingang in das Vehesche Gesangbuch, das erste katholische deutsche Gesangbuch des Probstes Michael Vehe am Neuen Stift in Halle.118 Querhammer kann als katholischer Fels im zunehmend der Reformation zugeneigten Halle gelten. Das brachte er in gut einem Dutzend Schriften zum Ausdruck, die er seit Beginn der dreißiger Jahre verfaßte. Seine Schriften zeugen von intensiver Luther-Lektüre. Querhammer hatte die Entwicklung der Reformation intensiv verfolgt und bekannte in seinen Schriften wiederholt zwischenzeitliche Sympathie fur Luther: „Allfengklich habenn mir Luters schrifften seer wol gefallen/ also auch/ das ich die mit gantzem fleys auff kaufft vnd gelesen."119 Die vorübergehende Wertschätzung Luthers war Folge eindeutiger Reformforderungen, die Querhammer an die Kirche stellte.120 Als sich zunehmend abzeichnete, daß eine neue Kirche im Entstehen begriffen war, engagierte er sich jedoch für die alte Kirche. Denn diese war für ihn weiterhin die Kirche, in der der heilige Geist wirksam war.121 Die direkten Angriffe gegen Luther führte Querhammer jedoch weniger mit theologischen - immerhin ist der Hinweis auf deren Einheit zentraler argumentativer Kern zahlreicher gegenreformatorischer Schriften - als mit moralisch-biographischen Argumenten. Zum einen warf er Luther Hoffart vor. Bezeichnenderweise stellte er seiner ersten Schrift Eyne/ vnd vnder andern/ die achte Ursach das Motto „Gott wider-

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In Anlehnung an Wohlfeil: Reformatorische Öffentlichkeit. Franz Schräder: Caspar Querhammer. Ein katholischer Laie nimmt Stellung zur Reformation. In: Bäumer (Hrsg.): Reformatio Ecclesiae, S. 367-400. Dort finden sich weitere Hinweise auf ältere Studien zu Querhammer, die hier nicht berücksichtigt werden. 118 Ausführlich dazu unten S. 254ff. 119 Kaspar Querhammer: Eyne/ vnd vnder andern/ die achte Ursach/ so Caspam Querhamer/ eynen Leyen vnd Burger zu Halle bewogen/ das yhm Luters lere/ nicht mher durchaus/ wie Erstlich gefalle. Leipzig o.J. [wohl 1533, vgl. Schräder: Querhammer, S. 373], Bl. 2'. 120 Vgl. Schräder: Querhammer, S. 400. "21 Vgl. ebd., S. 376 u.ö.

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51 steht den hoffertigen/ den demutigen aber/ gibt er seyne genade" (1. Petr 5,5) voran. Nun ist der Kern des Hoffart-Vorwurfs, also die Todsünde superbia, ein Topos aller Ketzeranklagen, was Querhammer weiß: „Denn alle Gotlose leere kompt von hoffart her [,..]." 122 Doch unterstellt er Luther nicht nur Hoffart, er listet zahlreiche Äußerungen Luthers auf, in denen sich der Reformator äußerst hoffartig gebärde, um zu folgern: Ist „das nicht eine grosse hoffart/ das er keynen menschen auff erden will zum richter haben. Item das er auch auff erden wyl keynnen meyster habenn. [...] Item das ehr die Prelaten vnd hyrschafftenn vorachtet/ etliche schmehet vnnd schendet/ vnnd mit schympfliehen [...] namen nennet."123 Querhammer begründet sein Urteil vom hoffartigen Luther, indem er den Ketzertopos durch den konkreten Vorwurf auf Luther bezieht und aktualisiert. Zum zweiten wirft Querhammer Luther Widersprüchlichkeit vor. Das ist nichts Neues, vielmehr ist der Vorwurf der Widersprüchlichkeit spätestens seit dem Septiceps Lutherus von Cochlaeus (1529) ebenso Topos der antilutherischen Polemik wie der Ketzervorwurf.124 Franz Schräder hat in seiner Studie zu Querhammer gezeigt, daß die Anzahl der angeführten widersprüchlichen Äußerungen Luthers bei Querhammer weit größer ist als bei Cochlaeus. Deswegen kann man nicht davon ausgehen, daß Querhammer diesen lediglich wiedergegeben hat.125 Vielmehr übersetzte Cochlaeus eine Schrift Querhammers ins Lateinische, in der die Widersprüchlichkeit der Äußerungen Luthers ausfuhrlich dokumentiert wird, was darauf hinweist, daß Cochlaeus die Schriften Querhammers als Ergänzung des religionspolemischen Argumentationsspektrums betrachtete. Während sich die meisten frühen antilutherischen Schriften auf die Widerlegung der reformatorischen Theologie konzentrierten, bildeten die Schriften Querhammers eine Ansammlung von Argumenten gegen die Person des Reformators - eine Argumentationstechnik, die in Cochlaeus' Lutherkommentaren gipfelte. Querhammer ist eine Ausnahme. Stilistisch zählen seine Schriften nicht zu den herausragenden Streitschriften. Ähnlich wie Cochlaeus bemühte er sich weniger darum, den Leser zu unterhalten oder durch geschliffene Wendungen fur seine Position einzunehmen. Querhammer war, auch darin Cochlaeus vergleichbar, ein religionspolemischer ,Positivist'. Er lieferte Fakten und Argumente, die er für seine Beurteilung der Reformation und Luthers für maßgeblich hielt. Seinen Zeitgenossen war er ein Ärgernis. Noch auf dem Weg zum Begräbnis verspotteten Einwohner der inzwischen lutherischen Stadt Halle seinen Leichnam.126

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Querhammer: Eyne/ vnd vnder andern/ die achte Ursach, Bl. 2". »23 Ebd., Bl. 3'f. 124 Vgl. Kai Bremer.: Von der polemischen Agitation für den .Tagesbedarf zur Bibliotheca selecta. Ein Forschungsabriß anhand einiger Drucke der katholischen Polemik aus den Beständen der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. In: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte 25 (2000), S. 81-94. 125 Schräder: Querhammer, S. 384f. 126 Schräder: Querhammer, S. 397f.

52 Adam Walasser (geb. um 1520 in Ulm, gest. 1581) war zwei Generationen nach Querhammer schriftstellerisch tätig.127 Wie dieser war er ein begabter Verfasser von Kirchenliedern. Ansonsten haben die beiden Laien wenig gemeinsam. War Querhammer persönlich von den grundlegenden Umstürzen der Reformation betroffen, so kann man kontrastierend festhalten, daß Walasser früh auf Kirchenreformer und Gegenreformatoren stieß. Seit 1551 lebte er in Dillingen, wo er in Kontakt mit den Jesuiten kam; zu den Benediktinern am Tegernsee pflegte er ein gutes Verhältnis. Ihnen half er 1573/74 beim Bau einer Druckerei. Walasser war mehrmals als Hilfsdrucker tätig, was seine guten Sprachkenntnisse erklärt. Im 19. Jahrhundert wurde Walasser wiederholt als , Volksschriftsteller' gelobt, weil er in seinen erbaulichen und hymnologischen Büchern zum Teil bemerkenswerte Vers-Dichtungen vorgelegt habe. Da es sich in der Regel um Übersetzungen und Übertragungen aus fremdsprachigen und älteren handschriftlichen Texten handelt, ist Walasser in der literaturwissenschaftlichen Forschung bisher vermutlich wegen seiner fehlenden Originalität unbeachtet geblieben.128 Adam Walasser publizierte Mischschriften von erheblichem Umfang, die keine Streitschriftenwechsel provozierten. Das dürfte dem Zusammenhang geschuldet sein, daß seine Bücher zwar teils religionspolemische Texte enthalten, den Schwerpunkt jedoch kontemplative Texte und Gebete bilden. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel stellt eine Folge aus drei Büchern dar, die zwischen 1569 und 1572 erschienen sind: Schildt des Catholischen Glaubens, Helm des Hayls und Schwert des Geists.™ Durch diese Bücher ,rüstet' Walasser seine Leser fur den Kampf gegen die lutherischen ,Ketzer' mit den drei wesentlichen Insignien des miles christianus aus.130 Analog zu den unterschiedlichen Funktionen von Schild, Helm und Schwert im Epheser-Brie/3i nimmt Walasser für seine Bücher eine Funktionsteilung vor. Zunächst bezieht er sich im ersten Buch, Schildt des Catholischen Glaubens, eindeutig auf die miles-christianus-

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Im Gegensatz zu Querhammer fehlt zu Walasser eine neuere, grundlegende Studie. Die folgenden biographischen Hinweise nach Wilhelm Baumker: Walasser, Adam. In: ADB 40 (1896), S. 640-643 und einigen biographischen Anmerkungen in Vorreden von Walassers Schriften; vgl. Anm. 129. 128 Daß diese Beurteilung ungerechtfertigt ist, zeigt ein vergleichender Blick ins 15. Jahrhundert; vgl. Klaus Grubmüller: Geistliche Übersetzungsliteratur im 15. Jahrhundert. Überlegungen zu ihrem literaturgeschichtlichen Ort. In: Boockmann (Hrsg.): Kirche und Gesellschaft, S. 59-74. 129 Adam Walasser: Schildt des Catholischen Glaubens. Wider alle andere jetz schwebende Confeßion/ Bekanntnuß/ Rotten vnd Secten/ vast nutzlich zu lesen/ vnd durch Adam Walasser von Vim in Truck geben. Dillingen 1569; Helm des Hayls. Weichs der recht Christlich vnd allain seligmachend Glaub sey. Ein vnpartheyisch/ lustigs vnd nutzlichs Gespräch vnd Reymbüchlin. Allen verführten Christen zu nutz vnd wolfart gemacht/ vnd durch Adam Walasser in Truck geben. Ingolstadt 1571; zuletzt Walasser: Schwert des Geists (1572). 130 Andreas Wang: Der ,Miles Christianus' im 16. und 17. Jahrhundert und seine mittelalterliche Tradition. Ein Beitrag zum Verhältnis von sprachlicher und graphischer Bildlichkeit. Frankfurt a.M. 1975. 13' Eph 6,10-20.

53 Begrifflichkeit, indem er in der Vorrede ausfuhrt, daß in dem Buch „alle fromme Christen ein starcken Schildt [haben und finden]/ dadurch sie/ als Christliche Ritter/ in dem gegenwertigen grossen kampff/ wider den newen vnglauben sich vnnd die ihren bewaffnen/ auch den wahren Catholischen Glauben beschützen vnnd beschirmen mögen."132 Walasser betrachtet sein Buch als defensive Schrift, um den katholischen Glauben und den einzelnen Gläubigen zu schützen. Zu diesem Zweck gliedert er es in 15 Kapitel, in denen er sich unterschiedliche protestantische Vorwürfe gegen die katholische Kirche mit dem Ziel der Widerlegung vornimmt und Argumente für die Richtigkeit des katholischen Glaubens anführt - dieses recht starre Vorgehen darf als Ausdruck seiner fehlenden theologischen Selbständigkeit gewertet werden. Sobald Walasser theologische Argumente benutzt, nennt er Autoritätspersonen, um keinen Zweifel an seinen Ausfuhrungen aufkommen zu lassen.133 Häufig trat er lediglich als Übersetzer religionspolemischer Traktate, etwa von Hosius, in Erscheinung. Der Helm des Hayls ist grundsätzlich anders konzipiert als der Schildt des Glaubens. In diesem Buch wendet sich Walasser stärker dem Seelenleben des Lesers zu. Es finden sich Gebete, Lieder und kurze Dialoge über religiöse Streitfragen.134 Mit dem Schwert des Geists legte Walasser dann, seine Trias abschließend, abermals ein stärker religionspolemisches Buch vor, wobei es sich hauptsächlich um eine Kompilation aus Schriften des polnischen Kardinals Hosius handelt, u.a. mit einer engagierten Verteidigung der Jesuiten. Dieses Engagement für die Jesuiten geht zurück auf die ungeheure Wirkung der Predigten des Petrus Canisius. Walasser nennt und lobt den ersten deutschen

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Walasser: Schildt des Catholischen Glaubens, Vorrede unpaginiert, nach Lagenzählung Bl. Aiij'. Ebd., Bl. 159r:„Noch andere klare vnd gründliche vrsachen M. Caspari Francken/ darinnen [in seinem Buch] zusehen/ warumb ein jeder seinem Exempel nach von den Secten zu der allgemeinen Christlichen vnd Römischen Kirchen treten soll. I Weyl wir in vnserm heiligen Tauff zu der heiligen Catholischen Kirchen ( laut des Apostolischen Symboli) geschworen/ vnd sunst keine dann die Römische kann gewisen werden." In Walassers Helm des Hayls findet sich anstelle der Vorrede ein knappes Gedicht, durch das auch der Form nach bereits ankündigt wird, daß im vorliegenden Buch nicht nur theologische Fragen erörtert werden, sondern auch meditative Elemente zu finden sind: Ein jeder Christ/ Wer der auch ist/ Vrtheil hie frey/ Wölches da sey / Die rechte Lehr/ Vnd glaub kaim ketzer nimmermehr. Die Lieb mich trieb/ Das ich diß schrib: Ligt nit daran/ Obs jederman Nit wolgefelt/ Die warhait doch den preiß behelt.

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Jesuiten mehrfach, der kein Polemiker, sondern ein Prediger und Seelsorger war.135 Ungefähr gleichen Alters wie Walasser war der spätere Hofrat Georg Eder (1523-1587), der zu Beginn seines Studiums in Köln (seit 1541) sowohl dem alten Johannes Cochlaeus als auch dem jungen Petrus Canisius begegnet ist, zwei Repräsentanten unterschiedlicher Etappen der Konfessionalisierung.136 Eder verkörpert in mehrfacher Hinsicht einen neuen Typ des in der religiösen Polemik engagierten Laien. Zwar hatten Querhammer und Walasser erhebliches theologisches Wissen gesammelt, doch finden sich keine Hinweise auf ein absolviertes Studium. Sie sind keinesfalls zu den Gelehrten zu zählen. Eder hatte studiert, wurde 1551 zum Doktor beider Rechte in Wien promoviert, wo er mehrfach das Rektoramt bekleidete. Er war somit ein Mann der Universität. 1563 wurde er zum Reichshofrat ernannt. Gleichzeitig suchte Eder den Kontakt zu den Jesuiten, die ihn ihrerseits sehr schätzten.137 Da er in seinen Schriften einen besonders aggressiven Stil in Verbindung mit weitreichenden rechtlichen Forderungen nach Maßnahmen sowohl gegen die Angehörigen der Augsburger Konfession als auch gegen andere protestantische Religionsparteien pflegte, geriet er mit Kaiser Maximilian II. in Konflikt, zumal seine Schriften ausdrücklich mit kaiserlichem Privileg gedruckt wurden. Es erging für konfessionspolitische Angelegenheiten Publikationsverbot gegen Eder. Unter Rudolf II. wurden diese Maßnahmen eingeschränkt.138 Johann Baptist Fickler (1533/34—1610) war wie Eder Doktor beider Rechte und seit 1589 in verschiedenen Funktionen an der Universität Ingolstadt tätig; bekannt wurde er als Prinzenerzieher am bayerischen Hof.139 Besonders interessant sind die Tagebuchaufzeichnungen Ficklers aus der Zeit der dritten Trienter Konzilsperiode (1562/63), an der er als Sekretär des Salzburger Bischofs teilnahm.140 Daneben sind von ihm mehrere Übersetzungen lateinischer Streitschriften bekannt. Darüber hinaus verfaßte er selbständige Polemiken in deutscher wie in lateinischer Sprache. So veröffentlichte er wie Georg Scherer

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Vgl. Rita Haub: Petrus Canisius als Schriftsteller. In: Petrus Canisius. Reformer der Kirche. Festschrift zum 400. Todestag. Hrsg. von Julius Oswald, Peter Rummel. Augsburg 1996, S. 151-177. 136 Vgl. Köhler: Augsburger Religionsfrieden, S. 593f.; zur Biographie Karl Eder: Eder, Georg. In: NDB 4 (1959), 31 lf. 137 Scherer: Rettung, S. 29 über Eder: „Es darff aber Herr Doctor Ederus meiner Verantwortung gar nit/ Er ist euch selber Manns gnug/ vnd wirdt euch villeicht nit/ als ein vermeinter Jurist vnnd böser Christ [so lautet der Vorwurf Oslanders gegen Eder]/ sonder als ein wolbegründter/ hochberümbter Jurist vnd rechtschaffner guter Christ/ auch ein bessrer Theologus, dann ihr Predicanten all auff einen hauffen seyt/ nach notturfft begegnen." 138 Zum für das Publikationsverbot Eders maßgeblichen Buch Das güldene Fluess vgl. S. 56ff. 139 Vgl. Josef Steinruck: Johann Baptist Fickler. Eine Laie im Dienste der Gegenreformation. Münster 1965 (= Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, 89). Obwohl der Titel es nahelegt, geht Steinruck bedauerlicherweise nicht näher darauf ein, daß Fickler als Laie eine besondere Stellung innerhalb der Religionspolemik einnahm. 140 Ebd., S. 162-211.

55 mehrere deutsche Schriften zum erwähnten Briefwechsel zwischen Tübingen und Konstantinopel, was ebenfalls die Reaktion der Tübinger Theologen provozierte.141 Fickler erscheint darin wie in anderen Kontroversen als humanistisch gebildeter, zuverlässiger, aber auch scharfzüngiger Streiter. Wie die anderen Laien erwähnt er wiederholt seine fehlende theologische Ausbildung. Trotzdem greift er auf theologische Argumente zurück, was ihn gemeinsam mit Eder von Querhammer und Walasser unterscheidet. Fickler war mit wichtigen kontroverstheologischen Schriften vertraut,142 so daß er sich Auseinandersetzungen mit den Tübinger Theologen oder dem Hofprediger von Pfalz-Neuburg, Jakob Heilbrunner, ohne Einschränkung zutraute.143 Seine Tätigkeiten als Hofrat in Reichsangelegenheiten führten zu Schriften wie dem Sendbrief AN die Stände zu Regensburg.144 Darin spricht sich Fickler mit theologischen und reichsrechtlichen Argumenten145 für ein starkes Reichsheer im erneut entfachten Türkenkrieg aus.146 Laien blieben auf katholischer Seite eine Seltenheit. Sie waren sich ihrer fehlenden theologischen Ausbildung bewußt und kompensierten diese auf unterschiedliche Weise. Querhammer bemühte sich, Widersprüche und ,hoffärtige' Elemente in Luthers Schriften nachzuweisen. Walasser zitierte theologische Autoritäten, sobald er sich auf theologische Fragen einließ. Die beiden Räte Eder und Fickler hatten solche Vorsichtsmaßnahmen' nicht nötig. Sie waren in der Lage, ohne abgeschlossenes Theologiestudium wesentliche kontroverstheologische Argumente zu nennen, um auf Fehler und Widersprüche ihrer Gegner hinzuweisen. Im Zweifelsfall dürften sie den Rat nahestehender Jesuiten eingeholt haben. Diese Vorgehensweise und die Akzeptanz, die beide auf katholischer Seite genossen,147 bzw. der öffentliche Widerspruch, den beide von evangelischen Polemikern erfuhren, zeigen zweierlei. Das Theologiestudium war keine zwingende Voraussetzung, um als Polemiker in Erscheinung zu treten. Solides Hintergrundwissen, die Kenntnis wichtiger Standardwerke etwa Cochlaeus' Lutherkommentare oder Bellarmins Disputationes de controversiis - , sowie eine fundierte rhetorische Ausbildung und ein gefestigter katholischer Standpunkt konnten im Einzelfall genügen. Zweitens verdeutlicht das

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Vgl. ebd., S. 233-240. Vgl. ebd., S. 261-266. Vgl. ebd., S. 240-249. Johann Baptist Fickler: AN die Stände zu Regensburg/ auff dem Reichstag daselbst nachmals an die Christliche Versamblung zu Mantua [...]. München 1597. Ebd., Bl. 4V zitiert Fickler z.B. den Kirchenvater Ambrosius: „Die Männlichkeit/ spricht Ambrosius/ so das Vatterland im Krieg wider die wilde Barbarische Völcker beschützt/ oder zu Hauß die Schwachen/ oder gute Freund vor den Mördern beschirmbt/ das ist ein vollkomne Gerechtigkeit." Dabei appelliert Fickler direkt an die Vertreter der Reichsstände, ebd., Bl 9V: Ihr sollt „ein solch ehrlichen vnd hochnützlichen Krieg den ihr für Gott/ fiir die Christliche Religion/ für die Erhaltung des Vatterlands/ Weib vnnd Kinder/ Gut vnnd Blut" führt, gemeinsam befehligen. Vgl. etwa Scherers oben zitierte Äußerung in Anm. 137.

56 fehlende Theologiestudium, daß in der deutschsprachigen Religionspolemik keine grundlegend neuen theologischen Fragen erörtert wurden.

3. Das problematische Fundament der religiösen Polemik: Bekehrung statt Überzeugung 1580 veröffentlichte Reichshofrat Georg Eder eine umfangreiche Schrift mit dem Titel Das güldene Fluessm als zweiten Teil zu seinem Buch Evangelische Inquisition wahrer und falscher Religion (Villingen 1573). Mit diesem Titel spielt Eder auf den habsburgischen Hausorden vom Goldenen Vlies an, der uns im Kontext der Streitigkeiten um das Prager Bild erneut beschäftigen wird.149 Das Vlies als zusammenhängendes Kernstück des Schaffells symbolisiert die Einheit der Kirche, während der Titel des Gesamtwerks auf das BefragungsVerfahren zur Wahrheitsfindung in Ketzerprozessen rekurriert und keinesfalls abwertend, schon aber aggressiv gemeint ist. Evangelisch ist als ,dem Evangelium gemäß' zu verstehen, nicht im konfessionellen Sinne. Mit diesem Werk geriet Eder in Konflikt mit dem Kaiser und provozierte erheblichen Widerspruch von protestantischer Seite. Das güldene Fluess ist von Eder in vier Traktate unterteilt, in denen er zunächst die Kirche zur Zeit der Apostel behandelt, um im folgenden Traktat zu einer „Historia von der Maß vnnd Form der vralten Catholischen Kirch" anzusetzen. Im dritten Traktat zieht Eder eine „Summa", in der er eine idealisierte, einige Kirche entwirft, um im letzten Traktat indirekt den aktuellen Zustand der Kirche anzusprechen, indem er Ratschläge erteilt, die eine erneute „Ainigkait Christlicher Religion" erzwingen sollen. Das hätte in letzter Konsequenz zur Auflösung des Religionsfriedens geführt. Widerspruch rief Eder dabei besonders deshalb hervor, weil er keinerlei Kompromißbereitschaft signalisierte. Damit ist dieses Buch gleichzeitig eine Art Zwischenbilanz der bisherigen Religionsstreitigkeiten aus katholischer Sicht. Neben einer Darstellung über das geistliche wie rechtliche Wesen der (katholischen) Kirche findet sich im vierten Traktat ein ausführliches Kapitel „Was bey ainem jedwederen gütlichen oder rechtlichen Religionstractat zubedencken seye."150 Mit,Religionstraktat' bezeichnet Eder ausschließlich katholische Streitschriften, weil er allein diese als kirchenrechtlich zulässig beurteilt. Eder gliedert dieses Kapitel im Güldenen Fluess in sechs „Bedencken". Im ersten stellt er grundlegend fest, daß die Bereitschaft zum Ausgleich und zur Akzeptanz niemals die Regeln und Lehren der einzig wahren katholischen

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Georg Eder: Das güldene Fluess christlicher Gemain und Gesellschafft/ das ist: ain allgemeine richtige Form der ersten uralten prophetischen vnd apostolischen Kirchen gleich als ein Kurtze Historia/ von der hailigen Statt Gottes/ wie es vmb dieselbe vor dieser Spaltung ain Gestalt gehabt [...]. Ingolstadt 1580. Vgl. unten S. 134ff. Eder: Das güldene Fluess, S. 353-372.

57 Kirche verletzen dürfe „vnd alle Newerungen fliehe."151 Im zweiten „Bedencken" äußert er sich zu den Parteien der Religionsstreitigkeiten. Darin wird Eder eindeutiger. Außer den „Catholici" kennt er lediglich „Schismatici", zu denen er die Angehörigen der Augsburgischen Konfession trotz anders lautender reichsrechtlicher Voraussetzungen zählt.152 Damit wird offenbar, daß Eder keineswegs in seiner Funktion als Reichshofrat diese Schrift verfaßt hat. Er argumentiert strikt nach katholischer Auslegung des Religionsfriedens und nicht etwa nach geltendem Reichsrecht.153 Im dritten ,3edencken" nennt Eder die Gefahren, die aus dem theologischen „Wortzanck"154 resultieren können. Eder lehnt es ab, „öffentlich zu disputieren", weil dadurch „dem gemainen Pöuel/ vnnd ainfaltigen Layen"155 theologische Fragen und Auseinandersetzungen nahegebracht würden, die diesen überforderten und die dieser mißverstehen könnte. Außerdem belegt dieses ,3edencken" einen Wandel in der Beurteilung der Volkssprache. Eder lehnt die deutsche Sprache nicht grundsätzlich als Sprache der theologischen Auseinandersetzung ab, sondern nur deren Gebrauch in Schriften für Laien, nicht aber in Büchern wie seinen eigenen. Im vierten „Bedencken" wird die Frage nach der Richterschaft in Religionsstreitigkeiten erörtert. Nach den Ausführungen zuvor überrascht es kaum, daß Eder den Laien jegliche Legitimation zum theologischen Richteramt abspricht und ausdrücklich auch die weltlichen Fürsten davon ausschließt.156 Im fünften „Bedencken" nennt Eder die .Waffen', mit denen in Religionsstreitigkeiten gekämpft wird, nämlich die Heilige Schrift, die kirchliche Tradition, die Heiligen Konzilien, die Kirchenväter, die bischöfliche Sukzession sowie die kirchlichen Regeln.157 Programmatisch stellt er die katholischen Waffen dem lutherischen Schriftprinzip entgegen und zeigt sich unbeeindruckt von der Reformation. Abschließend nennt Eder das Ziel, nämlich „ain gewisser/ beständiger Religionsfrid", 158 der im Gegensatz zum Religionsfrieden von 1555 keinen ungesicherten und vorläufigen Charakter haben dürfe. Um Dialog oder Meinungsaustausch geht es ihm nicht, Religionsfrieden wird keinesfalls als , friedliches Nebeneinander' angesehen: „So ist das Ende aller Disputation vnnd Tractation von Glaubenssachen furnemblich dahin zudirigiern vnnd zurichten/ daß die Secten widerumben zu der Gemainschafft Catholischer Kirchen tretten/ vnd derselben

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Ebd., S. 354-356, das Zitat S. 356. Ebd., S. 357: „Ain solche Absonderung vnnd Trennung hat sich bey vnseren Zeiten/ wie augenscheinlich am Tag/ mit Luthers Abfall/ von der Catholischen Kirchen/ auch zugetragen." 153 Vgl. Heckel: Deutschland im Konfessionellen Zeitalter, S. 88. 154 Eder: Das güldene Fluess, S. 360. 155 Ebd. 156 Ebd., S. 362-367. Eder geht nur indirekt darauf ein, daß lutherische Fürsten durchaus das Recht beanspruchten, sich zu theologischen Fragen urteilend zu äußern. Er spricht ausdrücklich nur von katholischen Herrschern. •57 Ebd., S. 367-370. '58 Ebd., S. 372. 152

58 die wider Gott vnd Recht abgetrungene Religion vnd Kirchengüter widerumben zustellen."159 Georg Eder formuliert keine grundsätzlich neuen Gedanken über Religionsfrieden und Religionsstreitigkeiten. Schon früh deuten sich in den Kontroversen grundlegende Differenzen zwischen Lutheranern und Katholiken in allen Punkten an, die Eder in seinen sechs „Bedencken" ausfuhrt. Doch in dieser Deutlichkeit und mit dieser Detailliertheit hat sich zuvor kein katholischer Polemiker in deutscher Sprache dazu geäußert. Obwohl Eder seinen Traktat nicht ausdrücklich in diesen Zusammenhang stellt, dürfte unbestritten sein, daß die Religionsstreitigkeiten maßgeblicher Hintergrund dieses Traktats als auch des gesamten Buches sind, denn sonst wären die ausführlichen Überlegungen zu den ,Waffen' der Religionsstreitigkeiten im sechsten „Bedencken" überflüssig. Mit den sechs „Bedencken" gibt Eder gleichzeitig dem heutigen Leser einen Katalog an die Hand, der es ihm erleichtert, sich den Streitschriften anzunähern. Denn die „Bedencken" helfen zu verstehen, welche Fragen Eder an Streitschriften stellte und welche Gefahren er durch ihre Lektüre befürchtete.160 Wenn Eder im ersten „Bedencken" betont, daß über die Grundfesten des katholischen Glaubens nicht verhandelt werden könne und dürfe, so formuliert er das fundamentale Problem des theologischen ,Wortzanks'. Zwar finden sich nicht selten zustimmende Passagen in einzelnen Streitschriften, doch handelt es sich dabei lediglich um Streittechniken wie die genannte restrictio der Disputation, die letztlich dazu dient, den eigentlichen Streitpunkt hervorzuheben und sich auf Kernargumente zu beschränken. Eingeständnisse eigener Fehler oder gar umfangreiche Zustimmung zur Position des Gegners finden sich in keiner Streitschrift. Nicht nur die katholische Kirche verfügte über theologische Grundfesten, die im Streitschriftenwechsel niemals verhandelt wurden. Eders Postulat, daß die Pfeiler der katholischen Kirche nicht Gegenstand der theologischen Kontroversen werden dürfen, gelten in bezug auf dogmatische Fragen auch für protestantische Streitschriften. Freilich waren die juristischen Implikationen, z.B. hinsichtlich der Anwendung des Ketzerverfahrens, unterschiedlich. Während die protestantische Rechtspraxis als Folge des Ketzerverfahrens, wenn es denn überhaupt eröffnet wurde, in der Regel die Verweisung außer Landes anstrebte,161 sollte ein Ketzerverfahren etwa nach Meinung des Ignatius im Einzelfall die Todesstrafe nach sich ziehen.162

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Ebd. Einleitend führt Eder aus, es sei „die rechte Form vnd Maß [...] in mehr Weg vberschritten" worden, ebd., S. 352. Martin Heckel: Staat und Kirche nach den Lehren der evangelischen Juristen Deutschlands in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 73 (1956), Kan. Abt. 42, S. U6-247, bes. S. 183-196. Arno Herzig: Der Zwang zum wahren Glauben. Rekatholisierungen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Göttingen 2000, bes. S. 95-102. Zum Ketzerrecht: Heinrich Flatten: Der Häresieverdacht im Codex Iuris Canonici. Amsterdam 1963 (= Kanonistische Studien und Texte, 21); Winfried Trusen: Rechtliche Grundlagen des Häresiebegriffs und des Ketzerverfahrens. In: Ketzerverfolgung im 16. und frühen 17. Jahrhundert. Hrsg. von Silvana Seidel Menchi. Wiesbaden 1992 (= Wolfenbütteler Forschungen, 51), S. 1-20.

59 In katholischen Streitschriften findet sich immer wieder die Stigmatisierung des jeweiligen Gegners als Ketzer.163 Im Gegenzug versuchten die lutherischen Polemiker, ihre Gegner unglaubwürdig oder lächerlich zu machen. Beide Vorgehensweisen machen deutlich, daß Eders zweites „Bedencken", man setze sich nicht mit den Häretikern, also den Gegnern im Streitschriftenwechsel, auseinander, als ,goldene Regel' beinahe jeder Streitschrift anzusehen ist. Der Gegner dient in den Streitschriften dazu, durch seine Person Vorwürfe und Vorurteile zu bestätigen. Vor diesem Hintergrund wird einsichtig, warum sich Eder im dritten „Bedencken" gegen das öffentliche Austragen der Religionsstreitigkeiten ausspricht. Erster Adressat der Streitschriften ist nicht der Streitgegner, sondern eine Leserschaft. Das ergibt sich aus dem Medium. Für katholische Polemiker folgt daraus ein grundsätzlicher Konflikt. Einerseits darf nicht hingenommen werden, daß Laien durch .lutherische Schmachbüchlein' verfuhrt werden, andererseits werden die Themen der Streitschriften nicht als öffentlichkeitstauglich bewertet, was in letzter Konsequenz hieße, das Feld den Lutheranern zu überlassen. Dieser fundamentale Konflikt fuhrt zu einer defensiven Tendenz zahlreicher katholischer Streitschriften. Neue theologische Streitpunkte werden selten eröffnet, um die Zahl der Auseinandersetzungen gering zu halten. Erst mit dem Auftreten der Jesuiten auf der Bühne der deutschsprachigen Religionsstreitigkeiten ändert sich diese Tendenz. Die Jesuiten gingen - wie im geschilderten Fall der Newen Zeytung - zur konfessionspolemischen Gegenoffensive über. Die Sprache der Streitschriften ist stark von der Gerichtsterminologie dominiert. Die Polemiker verteidigen sich gegen Vorwürfe des Gegners, erheben Klage gegen ihn und fordern gerechte Urteile. Eine richterliche Instanz wird jedoch nicht benannt. Nun wäre es gewiß anachronistisch, projizierte man das Diktum Lessings vom ,Publikum als Richter'164 in das konfessionelle Zeitalter. Vielmehr ist dieses Vorgehen wie zahlreiche Streittechniken zum einen an den rhetorischen Mustern der Gerichtsrede geschult, zum anderen der Disputation entlehnt, an deren Ende die urteilende Instanz die determinatio hielt. Eder führt im vierten „Bedencken" aus, daß in der katholischen Kirche allein Theologen zum Richteramt legitimiert seien. Auf protestantischer Seite beurteilte man die Frage nach der richtenden Instanz nicht grundsätzlich anders. Nur radikale Protestanten favorisierten die Idee, der Laie sei zum selbständigen Urteil legitimiert oder befähigt. Es ergibt sich damit ein Widerspruch aus der Verwendung von rhetorischen und disputatorischen Streittechniken, die einen akademisch geschulten Richter als zentrale Urteilsinstanz voraussetzen, zum einen, und einem Adressatenkreis, dem man das Richteramt nicht zutraut, das man aber direkt anspricht, zum anderen. Im Religionsstreit gibt es keinen Richter, es gibt auch keine Auflösung dieses Widerspruchs. Der einzelne Polemiker ist gefordert, sich aus diesem Widerspruch zu befreien.

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Vgl. dazu unten S. 158ff. Wolfgang Kröger: Das Publikum als Richter. Lessing und die ,kleineren Respondenten' im Fragmentenstreit. Nendeln/Liechtenstein 1979.

60 Das Fehlen einer richterlichen Instanz äußert sich nicht zuletzt bei der ,Waffenwahl', Eders fünftem „Bedencken", als großer Mangel. Denn es gelingt nicht, sich auf die gleichen .Waffen' zu einigen. Das katholische Traditionsprinzip mit seinem mehrfachen Schriftsinn schließt das lutherische Schriftprinzip aus, dieses lehnt jenes kategorisch ab. Vermittlung zwischen diesen unterschiedlichen dogmatischen Voraussetzungen165 wird nicht angestrebt, so daß allein schon die Grundlagen der Religionsstreitigkeiten eine Unvereinbarkeit bedingen, die den Kompromiß ausschließen. Das wird noch deutlicher, wenn man sich die Ziele der Polemiker anschaut, Eders letztes „Bedencken". Die katholischen Theologen fordert er unmißverständlich auf, Häretiker in den Schoß der Heiligen Kirche zurückzuführen. 166 Diese bekehrende Tendenz eigneten sich ebenso die protestantischen Polemiker an, sie waren ebenfalls von der Richtigkeit ihres Anliegens überzeugt und verfolgten ähnlich konsequent die Verbreitung ihrer Gedanken, weil nur diese als allein selig machend galten.

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Vgl. Sdzuj: Interpretationsmethodologie. Zu den politischen Folgen der Rekatholisierungsmaßnahmen vgl. Herzig: Zwang zum wahren Glauben, S. 35-68.

II. Religionsstreitigkeiten: Streiten gegen den Unglauben

1. Was ist der Zweck der Zweckformen? Methodische Vorüberlegungen Seit sich 1985 in Göttingen die germanistische Literaturwissenschaft auf dem VII. Internationalen Germanistentag Formen und Formgeschichte des Streitens sowie dem Literaturstreit zugewandt hat,167 sind immer wieder Studien zum Streiten mittels Texten erschienen. Bereits kurze Zeit danach veröffentlichte Ludwig Rohner eine Darstellung über diverse Kontroversen zumeist prominenter Schriftsteller.168 Besonders streitlustige Autoren wie etwa Lessing rückten in den Mittelpunkt des Interesses,169 wohl nicht zuletzt, weil nach dem Fall der Mauer gleich mehrere neue Streite das Literarische Leben beunruhigten.170 Doch haben weder Aktualitätsbezug noch historische Beispiele in der Forschung bisher zu einer hinreichenden Methode geführt, mit der zuverlässig und gründlich literarische Streitschriftenwechsel untersucht werden können. In der Regel wird der Streitverlauf wiedergegeben, was zu langwierigen und ermüdenden Aufzählungen von Streitschriftentiteln fuhren kann, oder es wird eine Streitschrift aus dem Streitensemble näher untersucht, die angeblich besonders exemplarisch ist.171 Diese Vorgehensweise hat zur Folge, daß der dialogische Charakter der Streitigkeiten vernachlässigt wird. Außerdem scheint in manchen Fällen die beanspruchte Exemplarität nur fadenscheiniges Argument zu sein, um sich nicht mit allen Texten der teilweise umfangreichen Streitschriftenwechsel beschäftigen zu müssen.

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Worstbrock, Koopmann (Hrsg.): Formen und Formgeschichte des Streitens. Ludwig Rohner: Die literarische Streitschrift: Themen - Motive - Formen. Wiesbaden 1987. Wolfram Mauser, Günter Säße (Hrsg.): Streitkultur. Strategien des Überzeugens im Werk Lessings. Tübingen 1993. Man denke etwa an die heftige Kontroverse um den Anschwellenden Bocksgesang von Botho Strauß. Zu den gelungenen Versuchen, frühneuzeitliche Streitschriftenwechsel zu analysieren, zählen die Aufsätze von Florian Neumann: Schoppe contra Strada, sowie ders.: Jakob Friedrich Reimmann und die lateinische Philologie. In: Skepsis, Providenz, Polyhistorie. Jakob Friedrich Reimmann (1668-1743). Hrsg. von Martin Mulsow, Helmut Zedelmaier. Tübingen 1998 (= Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, 7), S. 177-199.

62 Jürgen Stenzel hat auf dem Göttinger Germanistenkongreß eine .Theorie der Polemik' vorgelegt.172 Stenzel gesteht selbst ein, daß er im Titel seines anregenden Aufsatzes „den Mund [...] gewaltig voll"173 nimmt. Sein Streitmodell ist als Dreieck dargestellt, mit dem sich beinahe jede Form des öffentlichen Kommunizierens beschreiben ließe: Die Eckpunkte bilden ein Subjekt (Sender), ein Objekt (Empfanger) und eine kritische Instanz (Publikum), in der Mitte zwischen diesen drei Eckpunkten ist das Thema des Streites angesiedelt.174 Eine spezifische Streitsituation kann mit diesem Modell nicht analysiert werden, es setzt den Streitpunkt immer schon voraus, ohne ihn näher zu berücksichtigen. Wichtig ist Stenzeis Aufsatz trotzdem, weil es sein Verdienst ist, die Bedeutung der Rhetorik für die Polemik und damit für das Streiten mittels Streitschriften zu betonen und zu begründen: „Polemik ist also, im emphatischen Sinne, Rede und fallt damit in den Kompetenz- und Analysebereich der Rhetorik."175 Durch dieses Postulat ergibt sich möglicherweise ein Kompetenzstreit zwischen der rhetorischen und der linguistischen Forschung, denn diese hat längst das Streiten in den Blick genommen. Hier dominieren die Studien zum mündlichen Streitgespräch.176 Daneben sind einige Publikationen erschienen, in denen wie in dieser Arbeit Schriften des 16. und 17. Jahrhunderts im Mittelpunkt des Interesses stehen.177 1997 hat Thomas Gloning gefordert, die Streitschriften von Jesuiten „im Rahmen einer sprachwissenschaftlichen Kommunikationsgeschichte" zu untersuchen.178 Er hat auch ein erstes Beispiel vorgelegt, wie eine linguistische Analyse von religionspolemischen Streitschriftenwechseln aussehen kann.179 Immerhin verfügt die Sprachwissenschaft im Gegensatz zur Literaturwissenschaft über ein hinreichendes Inventar an Methoden zur Analyse von Kontroversen und Konflikten, das haben nicht zuletzt Johannes Schwitallas Studien über Luther unter Beweis gestellt.180 Schwachpunkt der linguistischen Arbeiten ist jedoch meistens, daß das historische Fundament der Texte nicht zufriedenstellend Berücksichtigung findet, obwohl es in der Regel eingefordert wird.181 Wenn Gloning etwa mahnt, „Grundstrukturen solcher Kommunikationsformen [also der Streitschriftenwechsel] und ihre historische Entwicklung"182 näher zu untersuchen, beschreibt er ein Forschungsinteresse,

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Jürgen Stenzel: Rhetorischer Manichäismus. Vorschläge zu einer Theorie der Polemik. In: Worstbrock, Koopmann (Hrsg.): Formen und Formgeschichte des Streitens, S. 3-11. Ebd., S. 3. Ebd., S. 5-7. Ebd., S. 5. Grundlegend Ernst Appeltauer: Elemente und Verlaufsformen von Streitgesprächen. Münster 1977. Auf die von Georg Simmel begründete soziologische Streitforschung wird unten, S. 213ff., eingegangen. Johannes Schwitalla: Deutsche Flugschriften 1460-1525. Textsortengeschichtliche Studien. Tübingen 1983 (= Germanistische Linguistik, 45). Gloning: Das sprachliche Wirken der Jesuiten, S. 741. Gloning: The Pragmatic Form of Religious Controversies; Glüer: Moves and strategies. Besonders: Schwitalla: Martin Luthers argumentative Polemik. Gloning: Das sprachliche Wirken der Jesuiten, S. 740f. Ebd.

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das sich relativ weit vom historischen Fundament seines Untersuchungsgegenstandes entfernt hat. Sicherlich fordert die Suche nach den ,Grundstrukturen von Kommunikationsformen' bemerkenswerte Ergebnisse zutage. Doch dürfte es relativ schwer fallen, ein Argument dafür zu finden, warum man diese ,Grundstrukturen' gerade anhand von jesuitischen und nicht etwa von lutherischen Kontroversschriften erforschen sollte. Gerade bei theologischen Kontroversen sollte das Anliegen der einzelnen Autoren in ihrer konkreten historischen Situation nicht unberücksichtigt bleiben. Da es in den in dieser Arbeit behandelten Streitschriften grundsätzlich um theologische Fragen und damit in letzter Konsequenz um das Seelenheil der Leserschaft ging, muß vorausgesetzt werden, daß die Motivation der Verfasser von theologischen Streitschriften grundsätzlich in einem seelsorgerlichen Zusammenhang im Sinne einer fundamentalen Verantwortung des einzelnen Verfassers für das gläubige Publikum verstanden werden muß. Diese Verantwortung fordert eben nicht nur den theologisch, sondern gleichfalls den rhetorisch geschulten Autor, der er in aller Regel als Absolvent der Artistenfakultät war. Nur er gewährleistete die theologisch fundierte sowie die rhetorisch-überzeugende Streitschrift.183 Meine Überlegungen, eine stärker auf Historisierung denn auf Strukturalisierung abzielende Vorgehensweise zu favorisieren, sind von einer Arbeit aus der Geschichtswissenschaft beeinflußt worden. Martin Gierl hat im Kern seiner umfangreichen Dissertation über Pietismus und Aufklärung die .Pietismuskontroverse' und ,Pietismus und der Wandel theologischen Streitens [...]' untersucht.184 Leider lassen sich viele seiner Erkenntnisse nicht eins zu eins auf die vorliegende Studie übertragen. Das hat zunächst historische Gründe, weil sich etwa der literarische Markt am Ende des 17. anders darstellt als im 16. Jahrhundert. Am deutlichsten wird der Unterschied zwischen den Religionsstreitigkeiten und der Pietismuskontroverse in der Praxis des Elenchus,m einer innerprotestantischen Technik der Wahrheitsfindung, die ihren Ursprung in der antiken Philosophie186 hat und auf die sich katholische und lutherische Polemiker nicht hätten einigen können. Für die vorliegende Arbeit hilfreich sind dagegen Gierls Begriffsschärfungen. Unabhängig [...] vom behandelten Inhalt, gehorchen die Streitschriften den formalen Regeln theologisch-literarischen Streitens. Der einzelne, eine bestimmte Frage erörternde Text ordnet sich einem Streitschriftenwechsel zu. Die einzelnen Streitensembles gruppieren sich thematisch zu Streitsträngen. Untereinander in mehrfacher Weise verbunden, sind derartige Streitstränge schließlich zum Streitgesamtzusammenhang vernetzt.

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Zur „Kategorie des Intentionalen" und den daraus resultierenden Konsequenzen für die Erforschung der Zweckformen vgl. Barner: Barockrhetorik, S. 74-85. 184 Martin Gierl: Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1997 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts fur Geschichte, 129), ,Die Pietismuskontroverse' S. 21-265, ,Pietismus und der Wandel theologischen Streitens im Zeichen der Frühaufklärung' S. 266-417. 185 Vgl. ebd., S. 93-192. 186 Vgl. Thomas Schirren: Elenchos. In: H W R 2 (1994), Sp. 1013-1017.

64 [...] Grundlegendes Element ist der Streitschriftenwechsel. Ihm ordnen sich die einzelnen Streitschriften zu. Aus ihm entstehen die übergeordneten Einheiten. Von ihm ist auszugehen, um von hier aus über Analyse des einzelnen Texts zur Frage nach den Streitgegenständen und damit zur Entwicklung von Streitsträngen und [zum?] Gesamtzusammenhang zu gelangen. Das direkt bezogene Widerlegen vollzieht sich, indem ein Text einem spezifischen Ausgangstext entgegengestellt wird. Hieraus resultiert ein nur enger Spielraum der Kristallisation von Streitschriftenwechseln. Entweder wird ein Text von einem oder aber von mehreren anderen Texten widerlegt.187

Gierls Überlegungen beanspruchen nicht die Allgemeingültigkeit des Stenzelschen Modells, sie versprechen aber größere Präzision, weil im Gegensatz zu Stenzel nicht die Einzelschrift, sondern vielmehr der Gesamtzusammenhang zum zentralen Forschungsgegenstand wird. Im Kontrast zu seinem Quellenkorpus mit ca. 50 Streitensembles und mit einem Textumfang von etwa 300 Schriften188 wäre es - wie in der Einleitung bereits angedeutet - im Falle der vorliegenden Arbeit kaum zu leisten, alle deutschsprachigen Schriften der religiösen Polemik des 16. Jahrhunderts zu recherchieren, zuverlässig zu sichten und außerdem noch zu analysieren. Deswegen werden exemplarisch vier Streitschriftenkontroversen untersucht. Dafür sind folgende Gedanken leitend. 1) Was eine historische Arbeit nicht leisten muß, muß oberstes Ziel einer literaturwissenschaftlichen sein, deshalb: Im Zentrum steht die vergleichende Einzeltextanalyse. Welche Argumentationsmuster des Gegners werden aufgegriffen, welche werden nicht fortgeführt; welche Formen der Leser- wie Gegneransprache prägen den Streitverlauf; wie wird der Gegner behandelt, auf welche Muster der Geringschätzung, Ausgrenzung oder Verachtung wird zurückgegriffen? Diese Fragen-Reihe ließe sich verlängern; wichtig ist, die vorausgehende Streitschrift nicht aus den Augen zu verlieren, denn nur sie verdeutlicht, ob eine bereits eingeführte oder eine neue Streittechnik vorliegt, was wiederum Rückschlüsse auf die Streitstrategie, auf den Zweck der Zweckformen zuläßt. Bei der Interpretation der einzelnen Streitschriften bleibt der Kontext, besonders der bisherige Streitverlauf, immer berücksichtigt. 2) Durch die Analyse der einzelnen Streitschriften ergibt sich die Möglichkeit, die von Gierl angemahnte „Frage nach den Streitgegenständen" und dem Gesamtzusammenhang, den Dimensionen des Streitens, zu beantworten. Doch kann eine literaturwissenschaftliche Arbeit bei der Beantwortung der Frage nach den Streitgegenständen nicht die Zuverlässigkeit und die Vollständigkeit einer historischen erreichen. Das ist im Zusammenhang dieser Arbeit keine Schwierigkeit, weil durch die zahlreichen kirchenhistorischen Studien von katholischer wie protestantischer Seite die dogmatischen Differenzen gut aufgearbeitet sind, die .hinter' den volkssprachlichen Streitschriftenwechseln stehen. 3) Eingangs des angeführten Zitats von Martin Gierl spricht dieser von den ,formalen Regeln theologisch-literarischen Streitens'. Diese Regeln lassen sich

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Gierl: Pietismus und Aufklärung, S. 33f. 188 Vgl. ebd., S. 35. Im Vergleich zu dieser Arbeit liegt Gierls Vorteil nicht zuletzt darin, daß sein Quellenkorpus in den Göttinger Acta pietistica gesammelt vorliegt.

65 für die interkonfessionellen Auseinandersetzungen nicht ohne weiteres darstellen.189 Beschrieben werden können dagegen Regeln und Bedingungen, die für die Produktion der Streitschriften gelten. Bereits in der Alten Kirche liegen die Ursprünge des theologisch-literarischen Streitens. Das hat im Verlauf der Jahrhunderte zu einem reichhaltigen Arsenal an Streittechniken geführt, die in rhetorische Textsorten wie die gedruckte disputatio, die vindicatio, die refutatio, den polemischen Traktat und die gedruckte Predigt polemischen Inhalts münden.190 Sie alle zwangen den Streitschriftenverfasser unter Normen, gaben ihm gleichzeitig Agitationsmöglichkeiten, die andere Gattungen nicht boten. Die unter 1) postulierte Textanalyse wird Besonderheiten bei der Gattungswahl des Autors berücksichtigen müssen. Dadurch werden außergewöhnliche Strategien deutlich. Das Einhalten von Gattungskonventionen ist deswegen ebenso aussagekräftig wie deren bewußtes Verletzen, das seinerseits eingeübten Mustern folgen kann. Gattungswechsel oder -kontaminationen in einem Streitverlauf lassen ebenfalls Rückschlüsse auf Streitstrategien zu. Die Gattungsnormen sind zum Teil in Lehrbüchern niedergeschrieben, zum Teil lassen sie sich durch prominente Exempel rekonstruieren.19' Ob der jeweilige Autor die angeführten normativen Texte und Beispiele im Einzelfall kannte, ist nebensächlich. Normative Texte im 16. Jahrhundert können grundsätzlich als Diskurskristallisationen angesehen werden, zumal es ihren Verfassern nicht darum ging, die behandelten Gattungen zu revolutionieren oder zu verändern. ,Gattungslehren' wurden verfaßt, um bereits existierende Normen zu beschreiben. Sie können deswegen als Interpretationshilfen herangezogen werden, ohne

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Immer wieder wird das Einhalten von Regeln und das regelgerechte Beweisen und Argumentieren eingefordert. Doch existieren keine endgültigen oder gar kodifizierten ,Streitregeln'. Inwieweit es sich lediglich um einen zusätzlichen Vorwurf im Sinne einer rhetorischen Streittechnik handelt, wenn das regelgerechte Streiten gefordert wird, oder ob es letztlich doch verbindliche Regeln in der konfessionellen Auseinandersetzung gab, wird noch wiederholt thematisiert. Vgl. dazu oben S. 30ff. Es kann hier nicht darum gehen, eine grundsätzliche Diskussion darüber zu fuhren, was unter .Gattung' zu verstehen ist; vor den großen poetischen Reformen des frühen 17. Jahrhunderts gelten trotz Buchdruck noch allgemein ,mittelalterliche Bedingungen' fur die Gattungskonstitution; vgl. Fidel Rädle: Literatur gegen Literaturtheorie? Überlegungen zu Gattungsgehorsam und Gattungsverweigerung bei lateinischen Autoren des Mittelalters. In: Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit. Hrsg. von Barbara Frank, Thomas Haye, Doris Tophinke. Tübingen 1997 (= Script Oralia, 99), S. 221-234; Klaus Grubmüller: Gattungskonstitution im Mittelalter. In: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Hrsg. von Nigel F. Palmer, Hans-Jochen Schiewer. Tübingen 1999, S. 193-210. In diesem Zusammenhang sei daraufhingewiesen, daß im 16. Jahrhundert literarische Gattungen wie die Heiligenlegenden Gegenstand religionspolemischer Auseinandersetzungen werden konnten; vgl. Rudolf Schenda: Die protestantisch-katholische Legendenpolemik im 16. Jahrhundert. In: Archiv fur Kulturgeschichte 52 (1970), S. 2 8 ^ 8 ; ausfuhrlicher ders.: Hieronymus Rauscher und die protestantisch-katholische Legendenpolemik. In: Brückner (Hrsg.): Volkserzählung und Reformation, S. 178-259; Hans-Joachim Ziegeler: Wahrheit, Lügen, Fiktionen. Zu Martin Luthers ,Lügend von S. Johanne Chrysostomo' und zum Status literarischer Gattungen im 15. und 16. Jahrhundert. In: Haug (Hrsg.): Mittelalter und frühe Neuzeit, S. 237-262. Vgl. Barner: Barockrhetorik, S. 285-291.

66 daß die rhetorische Ausbildung des Autors individuell berücksichtigt werden muß - im Gegensatz zur möglichen Zugehörigkeit zu rhetorischen Schulen, die sich seit der Reformation zunehmend konfessionell manifestierten.

2. Der Streit zwischen Luther und Emser: Reformatorische Sprachgewalt gegen altgläubige Gelehrsamkeit a. Luthers Adelsschrift von 1520, ein reformatorischer Keil in die Einheit von Glauben und Kirche Eine frühe Kontroverse in deutscher Sprache ist in vielerlei Hinsicht prägend für die Religionsstreitigkeiten geworden: Der Streit zwischen Martin Luther und Hieronymus Emser in der Folge von An den Christlichen Adel deutscher nation: von des Christlichen Standes besserung aus dem Jahr 1520. In kaum einem anderen Streit findet sich eine solche Gattungsvielfalt, der Umfang der Schriften variiert enorm.192 Im Streitverlauf werden insgesamt - die Adelsschrift mitgezählt - zehn Schriften gewechselt, eine nur selten erreichte Anzahl bei nur zwei Streitgegnern. Auch der Sprachwitz und die Sprachbeherrschung beider Kontrahenten überzeugen vielfach. Außerdem finden sich in diesem Streit viele Argumente und Vorwürfe, Vorurteile und Beschimpfungen, die in späteren Streiten immer wieder formuliert werden sollten. An den Christlichen Adel deutscher nation bildet zusammen mit Von der Freiheit eines Christenmenschen und De captivitate Babilonica ecclesiae die wirkungsmächtige Trias der Schriften Luthers von 1520.193 Trotz der außerordentlich hohen Erstauflage von 4000 Exemplaren war diese bereits nach zwei Wochen ausverkauft,194 es folgten rasch eine zweite Auflage und zahlreiche Nachdrucke,195 ein Beispiel für den

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Die Zitate aus der Adelsschrift nach: Martin Luther: An den Christlichen Adel deutscher nation: von des Christlichen Standes besserung. In: WA 6, S. 404—469. Der Streit ist vollständig - ohne die Adelsschrift - dokumentiert in: Luther und Emser. Ihre Streitschriften aus dem Jahre 1521. Hrsg. von Ludwig Enders. 2 Bde. Halle 1890, 1892 (= Flugschriften aus der Reformationszeit, VIII, IX). Da An den Christlichen Adel deutscher nation bekanntlich Gegenstand zahlreicher Studien ist, beschränke ich mich im folgenden auf die Wiedergabe des Inhalts und der Elemente, die für den folgenden Streitverlauf wesentlich sind; eine selbständige Interpretation wird nicht angestrebt; zur ersten Orientierung Martin Brecht: Martin Luther. Bd. 1: Sein Weg zur Reformation 1483-1521. Stuttgart 1981, S. 352-361; zur sprachlichen Gestaltung Bremer: Von der polemischen Agitation, S. 82-84. Brecht: Luther, Bd. 1, S. 358. Zur Druckgeschichte vgl. WA 6, S. 381-403; vgl. auch: Henning Wendland: Martin Luther - seine Buchdrucker und Verleger. In: Beiträge zur Geschichte des Buchwesens im konfessionellen Zeitalter. Hrsg. von Herbert G. Göpfert, Peter Vodosek, Erdmann Weyrauch, Reinhard Wittmann. Wiesbaden 1985 (= Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens, 11), S. 11-35.

67 unvergleichlichen Erfolg Martin Luthers im „Kommunikationsprozeß" der frühen Reformation.196 Die Adelsschrift ist als Sendschreiben, als öffentlicher Brief an die deutschen Fürsten verfaßt, was bereits durch den Titel signalisiert wird. Inhaltlich ist sie als reformerische Programmschrift zu bewerten.197 Bemerkenswert ist dabei die ausschließliche Adressierung an den deutschen Adel und nicht allgemein an die Stände als Obrigkeiten des Reiches. Durch die Fokussierung in der Widmungsvorrede auf den Adel und sodann auf Kaiser Karl V., der erst wenige Monate zuvor zum deutschen König gewählt worden war, bezog sich Luther auf den mittelalterlichen Machtdualismus zwischen Papst- und Kaisertum.198 Doch hielt sich Luther trotz dieses denkbar höchsten Widmungsadressaten in seiner Wortwahl nicht zurück. Die gesamte Schrift ist einerseits geprägt vom energischen, vielfach aggressiven Stil Luthers gegen das Papsttum und von seinem eschatologischen Bewußtsein, „im Papsttum seiner Zeit [sei] der Antichrist erschienen", damit sei „das Jüngste Gericht in greifbare Nähe gerückt."199 Andererseits ist Luther um die sachliche Darlegung seiner Reformforderungen bemüht. Diese fur den disparaten Stil verantwortliche Anlage schlägt sich gleichfalls in der Gliederung nieder. Die Schrift hat drei Teile. Im ersten nennt Luther ,drei Mauern' der römischen Kirche, mit denen diese sich uneinnehmbar zu machen versuche: die postulierte Vorherrschaft des geistlichen Standes gegenüber dem weltlichen, das Vorrecht der gültigen Auslegung der Heiligen Schrift durch den Papst und dessen Einberufungsrecht für Konzilien. Es folgen im zweiten Teil thematische Vorschläge für das von Luther geforderte Konzil. 26 Reformvorschläge beenden die Schrift. Sie gehen teilweise auf humanistische Reformforderungen zurück. Prägend für die theologische Argumentation ist das Schriftprinzip, die Struktur zielt auf Überschaubarkeit und Nachvollziehbarkeit,200 die Sprache schwankt zwischen derben Beschimpfungen 201 und Appel-

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Moeller: Kommunikationsprozeß, S. 150-153. Robert Stupperich: Luther und die Reform der Kirche. In: Bäumer (Hrsg.): Reformatio Ecclesiae, S. 521-534. 198 Brecht: Luther, Bd. 1, S. 352f. 199 Ulrich Köpf: Vorrede zu ,An den christlichen Adel deutscher Nation: Von des christlichen Standes Besserung'. In: Martin Luther: Aufbruch zur Reformation. Frankfurt a.M. 1995 (= Ausgewählte Schriften, 1), S. 150. 200 Etwa Luther: An den Christlichen Adel, S. 407: „Wollen die erste maur am ersten angreyffenn." Mit resümierende Sätzen dieser Art hilft Luther dem Leser immer wieder, sich im Text über den Verlauf der Argumentation zu orientieren. Damit berücksichtigt Luther neben Lesern auch Zuhörer als Rezipienten; vgl. dazu ausführlich Kemper: Reformationszeit, S. 147-159. Zum „frommen (häuslichen) Lesen" und den wichtigen Überlegungen zum Lesen als „soziale Handlung" im Reformationszeitalter sowie der fundamentalen Feststellung, daß die „Lektüremodelle" des 16. Jahrhunderts nur bedingt Rückschlüsse auf die „Lektürepraxis" zulassen, vgl. Helmut Zedelmaier: Lesetechniken. Die Praktiken der Lektüre in der Neuzeit. In: Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Helmut Zedelmaier, Martin Mulsow. Tübingen 2001 (= Frühe Neuzeit, 64), S. 11-30, bes. S. 15-19. 197

201

So prägt Luther für den Papst etwa die Metonymie vom „teuffel" in Rom; Luther: An den Christlichen Adel, S. 411 u.ö., statt vom .Heiligen Stuhl' spricht er vom „Romisch geytz

68 len mit dem Ziel der Emotionalisierung und ostentativen Nationalisierung202 auf der einen und sachlicher gehaltenen Abschnitten zur Unterbreitung der Reformforderungen auf der anderen Seite. Luthers aggressiver Umgang mit dem Papsttum in Verbindung mit den abschließenden Reformforderungen bot den Vertretern der Kirche Anlaß zu heftigem Widerstand, denn den wachsamen Geistern der alten Kirche konnte es nicht verborgen bleiben, wie sehr die Forderungen und Appelle Luthers in letzter Konsequenz die Kirche zu spalten drohten. Vor diesem Hintergrund lohnt ein kurzer Blick auf die historischen Ereignisse um 1520, die der Adelsschrift und dem sich anschließenden Streit ihren ganz eigenen, nachgerade dramatischen Rahmen gaben. Seit der Leipziger Disputation im Sommer 1519 war eine Grundlegung der theologischen wie auch der politischen Dimensionen der reformatorischen Ereignisse „fallig" geworden,203 die mit den drei genannten Schriften von 1520 erfolgte. Noch im selben Jahr erging die Androhung des Banns gegen Luther, der am 3. Januar 1521 vollzogen wurde. In diesen Tagen erschien Emsers erste Streitschrift gegen die Adelsschrift. Die Kontroverse verlief parallel zur Vorbereitung und Durchfuhrung des Wormser Reichstags. Die letzte Schrift gegen Emser verfaßte Luther von der Wartburg aus.204

b. Emsers Versuch, die Disputation fur die Volkssprache dienstbar zu machen Hieronymus Emser (1477-1527), erst Sekretär dann Geistlicher Herzogs Georg von Sachsen, war dem Reformator kein Unbekannter.205 Luther hatte 1504 in Erfurt eine Vorlesung Emsers über Reuchlins Sergius gehört. Emser war zunächst dem Humanismus stärker zugeneigt als der Scholastik spätmittelalterlicher Prägung.206 Er war Luthers kirchlichen Reformforderungen - manifestiert

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206

und raubstul", ebd., S. 420 (,Geiz' im Sinne von .Geldgier'). Zu Luthers Grobianismen vgl. Wolf: Luther, S. 50f. Luther: An den Christlichen Adel, S. 419 mit der Sprichwort gewordenen Anspielung auf Mt 7,15: „Hie solte nw deutsche Nation, Bischoff und Fürsten, sich auch fur Christen leut halten, und das volck, das yhn befolen ist, in leyplichen unnd geistlichen guttern zu regiren unnd schutzenn, fur solchen reyssenden wolffen beschirmen, die sich unter den schaffs kleydern dargeben als hyrtten und regierer." So Brecht: Luther, Bd. 1, S. 359; dieses Ergebnis korrespondiert mit den Ausfuhrungen Wilfried Barners zur „Fälligkeit" von Streiten; vgl. Barner: Literaturstreit, S. 379. Vgl. Brecht: Luther, Bd. 1, S. 361. Emsers Schrifttum nimmt quantitativ in der ersten Phase der Reformation einen bedeutenderen Anteil ein, als dies die quantifizierende Studie von Edwards nahelegt; bei Edwards: Catholic Controversial Literature, S. 198 wird sein Anteil am katholischen Kontroversschrifttum mit 6,8 % veranschlagt, doch ist zu fragen, ob der von Edwards gewählte Zeitraum - als frühe Phase der Reformation wählt er die Zeit von 1518-1539 nicht zu groß ist. Für Emsers Anteil hätte eine Verkürzung große Auswirkungen, weil sein früher Tod 1527 seine Bedeutung bei dieser quantitativen Erfassung deutlich schmälert. Vgl. Brecht: Luther, Bd. 1, S. 51 u. S. 317.

69 in den 95 Thesen - gegenüber zunächst offen eingestellt, ähnlich wie Cochlaeus.207 Zum Bruch kam es, als Emser Luther im Sommer 1518 in Leipzig zu einem Abendessen einlud, der dabei durch einen Dominikaner hinter der Tür belauscht wurde.208 In Folge der Leipziger Disputation kam es zu einem ersten Streitschriftenwechsel zwischen dem immer noch um Vermittlung bemühten Emser und Luther. Im Zentrum des Streites stand die Frage nach der Nähe zwischen Luther und Hus; eine Frage, die in Emsers Herzogtum Sachsen durchaus auch politische Züge trug.209 Doch wurde dieser Streit in Latein gefuhrt und fand ein rasches Ende.210 Ganz anders verhielt es sich mit dem Streit um die Adelsschrift. Mit seiner Reaktion auf An den Christlichen Adel deutscher nation begab sich Emser in ein für ihn noch weitgehend unbekanntes Feld, der Priester war mit der deutschen Sprache als öffentlicher Schriftsprache wenig vertraut.211 Um so bemerkenswerter ist der Umfang seiner ersten Reaktion Wider das vnchristliche buch Martini Luters Augustiners, an den Tewtschen Adel außgangen, Vorlegung Hieronymi Emser. An gemeyne Hochlöbliche Teutsche Nation. Auf 152 Seiten212 bemüht sich Emser ausführlich um Widerlegung Luthers. Auf das Titelblatt folgen ein Eingangsgebet und eine predigthafte Einleitung. Erst im Anschluß wendet sich Emser an den Leser, indem er die „gemeyn deutsche Nation"213 anspricht. Zwischen Vorrede und Haupttext hat Emser eine .Teilung', eine divisio, gestellt. Die eigentliche Widerlegung folgt darauf. Sie orientiert sich an Luthers Adelsschrift, ist dementsprechend dreigeteilt. Beendet wird die Schrift mit einer Danksagung. Bereits auf dem Titelblatt finden sich die ersten Hinweise, was Emser zu der Widerlegung veranlaßt hat. Sein Titel ist zeittypisch, indem er erläutert, auf welches Buch er sich bezieht und gegen welchen Verfasser er ins religionspolemische Feld zieht, nämlich das „buch Martini Luters [...] an den Tewtschen Adel außgangen". Weiterhin enthält der kurze Titel erste Hinweise, daß Emser 207 208 209 210

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212 213

Vgl. ebd., S. 194. Vgl. ebd., S. 232. Vgl. ebd., S. 316-319. Vgl. Hieronymus Emser: De Disputatione Lipsicensi, quantum ad Boemos obiter deflexa est (1519). A Venatione Luteriana aegocerotis assertio (1519). Hrsg. von Franz Xaver Thurnhofer. Münster 1921 (= Corpus Catholicorum, 4). Zwischen diesen beiden Schriften erschien: Martin Luther: Ad aegocerotem Emserianum M. Lutheri additio [1519]. In: WA 2, S. 658-679; zum Streitverlauf und zur Verteidigung Emsers durch Eck vgl. die Vorreden zu den Ausgaben. Emser hatte mit wenig Erfolg 1505 eine Deutsche Satyra in der literarischen Tradition der humanistischen Ehe-Literatur von Petrarca und Boccaccio bis Albrecht von Eyb publiziert; vgl. Hieronymus Emser: Eyn Deutsche Satyra vnd straffe des Eebruchs, vnnd in was würden vnnd erenn der Eelich stand vorczeiten gehalten, mit erclärung vil schöner historien. Hrsg. von Robert T. Clark. Berlin, Bielefeld, München 1956 (= Texte des späten Mittelalters, 3). In der Ausgabe von Enders (Hrsg.): Luther und Emser, Bd. 1, entspricht dies 145 Seiten. Hieronymus Emser: Wider das vnchristenliche buch Martini Luters Augustiners, an den Tewtschen Adel außgangen. In: Enders (Hrsg.): Luther und Emser, Bd. 1, S. 1-145, hier S. 5.

70 Luther ,Unchristlichkeit' vorwirft, was gegen dessen Tätigkeit als Geistlicher und Theologieprofessor zielt. Das betont Emser durch die explizite Nennung der Ordenszugehörigkeit Luthers. Emser wird dagegen ohne Titel genannt. Das Wort „Vorlegung" verweist auf einen grundsätzlich gelehrt-akademischen Zusammenhang. Emser erläutert damit, welche Funktion dem Publikum zukommt: Er legt der Leserschaft, „An gemeyne Hochlöbliche Teutsche Nation", seine Schrift vor, damit überantwortet er das Urteil in die Entscheidungsgewalt der Rezipienten. Allein die wenigen bisher vorgenommenen Hinweise - Länge der Schrift, die akademische Wendung „Vorlegung" und der Hinweis auf die divisio - mögen als erste Indizien genügen, um zu mutmaßen, daß die Adressaten von Emsers Schrift im akademisch-theologischen Milieu zu verorten sind. Es folgt Emsers Wappen, ein Bock - er entstammt einem schwäbischen Adelsgeschlecht mit der drohenden Unterschrift „Hut dich der bock stoszt dich". Das Wappen ließ Emser auch auf die folgenden Titelblätter seiner Streitschriften drucken. Dieser Satz ist nicht nur eine Übersetzung aus einer Ekloge Vergils,214 durch die Emser auf seine humanistische Bildung hinweist. Sie bezieht sich außerdem auf den Titel von Luthers Schrift aus der vorhergehenden Kontroverse: Ad aegocerotem Emserianum M. Lutheri additio. Luther hatte in Anspielung auf Emsers Wappen diesen als Steinbock der Tierkreiszeichen diffamiert. Emser greift dies auf und nennt sich ausdrücklich Bock, jedoch im aggressiven Sinne einer Gefährdung für Luther, den es zu stoßen gelte, dessen Standpunkt ,umgestoßen' werden soll. Gleich zu Beginn seiner ersten Schrift signalisiert Emser damit unmißverständlich: Es geht nicht nur um ein Buch, hier treffen zwei Männer aufeinander, die grundsätzlich unterschiedliche Positionen einnehmen und darum bereits heftig gestritten haben. Im Eingangsgebet215 bittet Emser für die deutsche Nation um „bestendigkeit des heyligen Christenlichen glawbens".216 Außerdem gibt er sich als Priester zu erkennen, wodurch er signalisiert, über welche theologische Legitimation er verfügt. Der folgende Text ist keine Einführung. Vielmehr gleicht er einer knappen Predigt.217 Es wird von den Warnungen des Apostels Paulus berichtet, daß das „volck [...] das Ewangelium änderst dewten" wollte, als es „ynen tzuuor geprediget" worden war.218 Darauf redet er schmeichelnd und warnend der Nation ins Gewissen: „Dem selben nach, vnd dieweyl bey euch groß mechtigen hochberumpten Tewtschen yetzo auch etliche vormessene vnuorschempte lerer auffgestanden, Die euch durch falsche außlegung der schrifft auß

214 Vergil, Ecl. 9,25: „occursare capro - cornu ferit ille - caveto." 215

Eindeutig durch ein abschließendes „Amen" kenntlich gemacht, Emser: Wider das vnchristenliche buch, S. 3. 216 Ebd., S. 3. 217 Das vorangestellte Gebet und die einfuhrenden Worte, „Der heilige Paulus ßo offt er [...]", sind ebenso wie die ausfuhrende Formel, „Hiemit ich euch dem almechtigen vnd mich euch allen vnd yeden beuolhen, vnd tzu dinstlichem gefallen erbotten haben will [...]", typische Merkmale der Predigt, während die abschließende Datierung und Lokalisierung sich in der Regel in Vorreden und Widmungen finden; alle Zitate ebd., S. 3f. 218 Ebd., S. 3.

71 der alten ban des glaubens füren". 219 Diesem einleitenden, predigthaften Text kommt die Funktion einer Warnung und einer captatio benevolentiae zu. Dabei beansprucht Emser durch Analogiebildung zwischen dem Abfall der Galater und dem drohenden Abfall der Deutschen von der christlichen Kirche höchste Eindringlichkeit und Aufmerksamkeit fur die folgenden Ausfuhrungen. Er verdeutlicht durch das Eingangsgebet und diesen knappen Text: Hier geht es um das Höchste, es wird von göttlichen Dingen gesprochen. Da bedarf es zunächst der Bitte um göttlichen Beistand (Gebet) und eines Bibelzitats aus dem Neuen Testament, durch die der Sachverhalt exemplarisch veranschaulicht wird. Erst im Anschluß geht Emser zur Widerlegung über, die mit der Vorrede beginnt. Die „Vorredt an gemeyn deutsche Nation" steht im Kontrast zur sanft dem Leser ins Gewissen redenden .Predigt': „Es ist komen die tzeit ewer heymsuchung, ο yr [...] Tewtschen, darinnen euch Got auch ein mal sunderlich heymsuchen vnd beweren will, wie getraw vnd vest sich ein yeder bey seynem heiligen glauben, vnd der Christenlichen kirchen ertzeygen werdt [.,.]." 220 Einleitend ein Endzeitszenario skizzierend, versucht Emser umgehend, die Situation im Reich seit dem Erscheinen der Adelsschrift als aufgewühlt und für die Christenheit gefahrlich darzustellen. Deutschland drohe eine fürchtbare Zeit der Versuchung, und, was noch beängstigender sei, es nahe der Jüngste Tag. Mit dieser in der Reformationszeit üblichen Drastik und Eindeutigkeit, auf die auch Luther zurückgreift, versucht Emser, Angst beim Leser zu schüren, wodurch er indirekt Vertrauen in die eigene Schrift einfordert. Er stellt dem Leser mit der Prophezeiung die Sicherheit in Aussicht, daß ihm, Emser, die Ursache für die Gefahr des Seelenheils und ein Heilsweg bekannt seien. Seinen Anspruch ,belegt' Emser mit einer allgemein gehaltenen Prophezeiung und zwei Zitaten aus der Bibel. Es sei „vor vil yaren geweyssaget" worden, „das tzu disen vnsern getzeyten ein Mönch Teutsche Nacion in gros yrtumb fuhren wurd". Die Apostel Petrus und Paulus hätten beide vor wortgewandten „schlechten einfaltigen lerer[n]" und „lugenhaftigen meystem" gewarnt.221 Mit der Einleitung bemüht sich Emser, den Leser für sich zu gewinnen, was als Indiz dafür gewertet werden muß, daß Emser davon ausgeht, ihm würde mit einem gewissen Mißtrauen begegnet - zumal er sich auf Luthers Adelsschrift zunächst nicht bezieht. Auf den folgenden Seiten formuliert Emser seine , Anklage' gegen Luther. In diesem Teil der Schrift, dem exordium, schildert er zunächst seine allgemeinen Vorwürfe. Luther habe besonders in der Adelsschrift222 den „gemeynen man" 223 mit seinen rhetorischen Kniffen gegen die Kirche aufzuhetzen versucht und diese mit schändlichster Wortwahl verunglimpft. Damit habe Luther unchrist-

219

Ebd., S. 3. ° Ebd., S. 5. 221 Ebd., S. 6. Emser bezieht sich hier auf 2. Petr 2,1 und 2. Tim 4,3. 222 Emser geht im exordium noch recht vage gegen die Adelsschrift Schilderung des ,Tathergangs' fordert erst die narratio. 2 « Ebd., S. 6 u.ö. 22

vor, eine deutliche

72 lieh, dem Evangelium zuwider gehandelt, so Emsers Vorwurf.224 Da es sich hier jedoch nicht um eine gerichtliche Anklageschrift handelt, fuhrt Emser nicht etwa Argumente zur Stützung seiner Vorwürfe an. Vielmehr inszeniert er die Auseinandersetzung mit Luther, indem er zunächst die Wahl seiner Waffen für seinen „Wortkampf' 225 ausfuhrlich darlegt.226 Dabei nennt Emser Luther einen „fechtmeyster", den er in der „fechtschul"227 schlagen wolle. Ziel dieses .Waffenganges' sei es, das „spiegelfechten"228 Luthers zu entlarven - eine Metapher für das selbstgerechte Streiten Luthers wider die Kirche ohne Fundament, wie die folgende Darstellung der Waffen Emsers versinnbildlichen soll. Luthers rhetorisches Geschick auf diesem Weg diffamierend, betont Emser mit dieser Darstellung den öffentlichen Charakter der Auseinandersetzung. Denn der Hinweis auf die Fechtschule meint das öffentliche Schaufechten, bei dem die von Emser genannten Waffen Schwert, Spieß und Degen eingesetzt wurden.229 Da hier Theologen streiten, äußert Emser damit indirekt seine Abneigung gegen die Sprache der Auseinandersetzung, gegen das Deutsche. Denn erst durch den Verzicht auf das Lateinische wird der Streit zum öffentlichen Disput, auf den er sich wegen Luthers Vorgaben durch die Adelsschrift wohl oder übel einlassen muß.230 Die Waffenwahl rekurriert zum Teil auf die militia Christi, von der im Epheser-Brief gesprochen wird;231 zumal Emser als erste Waffe das Schwert wählt, das für die Heilige Schrift steht. Doch zählen Spieß und Degen nicht zu den Waffen des christlichen Streiters.232 Emser erläutert seine Waffen ausführlich. „Durch den langen spis sol man vorstehen den langwirigen brauch vbung vnd alt herkommen, der Christenlichen kirchen f...]." 233 Mit dem Degen meint Emser „die außlegung der heyligen veter vnd lerer".234 Das hat weitreichende

224

Vgl. ebd., S. 6: „Dann das ewangelium leret vns an keynem ort, das wir vnsere Prelaten [...] schmehen, sehenden, vnd lestern sollen [...]. Das ewangelium leret vns auch nyendert, das wir soliche tzwitracht, auffrur vnd vneynigkeit vnder dem Christenlichen volck erwecken sollen [...]." 225 Vgl. Birgit Stolt: Wortkampf. Frühneuhochdeutsche Beispiele zur rhetorischen Praxis. Frankfurt a.M. 1974, S. 78-119: .Sinnbilder für die Macht und Wirkung der Rede'. 226 Wie „man auff der fechtschul nit allwegen ym schwert sonder auch mitt langen spiessen vnd kurtzen degen tzu samen gehet. Alßo will ich mich erstlich auff diße dreierley monier auch vorsuchen [...]." Emser: Wider das vnchristenliche buch, S. 9. 22 ? Ebd., S. 8f. 22 8 Ebd., S. 9. 229 Ausführlicher Stolt: Wortkampf, S. 96-98. 230 Emser hat sich auch in den Jahren nach dem Streit um die Adelsschrift in der Regel den sprachlichen Vorgaben seiner Gegner angepaßt; vgl. etwa die Schriften in: Hieronymus Emser: Schriften zur Verteidigung der Messe. Hrsg. von Theobald Freudenberger. Münster 1959 (= Corpus Catholicorum, 28). 231 Vgl. Eph 6,10ff. Der Brief an die Epheser zählt zu den deuteropaulinischen Briefen; da im 16. Jahrhundert dieser Sachverhalt noch nicht bekannt war, wurden der Brief direkt auf den Apostel bezogen. 232 Vgl. dazu Wang: Der .Miles Christianus'. 233 Emser: Wider das vnchristenliche buch, S. 11. 234 Ebd., S. 12.

73 Konsequenzen fur den gesamten weiteren Konflikt, weil Emsers Waffenwahl damit in scharfem Kontrast zum Schriftprinzip des Reformators steht. Daraus folgt zweierlei. Erstens: Die grundlegende theologische Differenz zwischen Luther und Emser, man kann schon sagen zwischen reformatorischer Bewegung und altgläubiger Kirche, wird von Emser anschaulich auf den Punkt gebracht. Er weiß, daß er Luther nicht allein durch die Heilige Schrift widerlegen kann, deswegen versucht er es erst gar nicht, sondern wählt weitere ,Waffen', um Luther zu schlagen. Damit ist zweitens von vornherein eine grundsätzliche Verständigung ausgeschlossen, denn daß Luther nicht bereit sein würde, mit Spieß und Degen zu kämpfen, also das Schriftprinzip aufzugeben, dürfte Emser klar gewesen sein. Immerhin legte er sich mit dem Augustiner nicht zum ersten Mal an. Luther scheidet damit als Adressat von Emsers Schrift aus. Es muß festgehalten werden, daß Emser von Beginn des Streites an nicht anstrebte, Luther zu überzeugen. Auf die Vorrede folgt der Haupttext, den Emser konventionell in divisio, narratio und confutatio unterteilt. In der divisio legt Emser knapp Rechenschaft über sein weiteres Vorgehen ab. Seine Schrift orientiere sich an der Adelsschrift, doch wolle er diese nicht vollständig, sondern lediglich in ausgewählten Teilen widerlegen, um „auff die rechten Christenlichen ban [zu] weysen". 235 In der narratio schildert Emser mit markanten Worten,236 weswegen er Luther angreift. Zunächst habe dieser versucht, das Volk gegen die Geistlichen aufzuhetzen, was aber gescheitert sei. Nun versuche er, dieses Ziel mit Hilfe des Adels zu erreichen. Dabei trete offen zutage, daß Luther ein Ketzer sei, der eine „newe 1er" wider den „synn des heiligen geistes"237 verbreite. Ferner wirft er Luther dessen unhöflichen und beleidigenden Umgang mit dem Papst vor. Der Wittenberger Theologieprofessor habe das „hewpt der Christenheit [...] mit heßlichen lesterlichen scheltworten verletzt".238 Das sei nicht nur Ausdruck für Luthers unchristliches Wesen, es wundere ihn, fugt er ironisch hinzu, daß er mit solchen Schimpfworten den Deutschen „hofiern" wolle.239 So schmeichle man sich bei den Böhmen ein, nicht aber bei den Deutschen. Mit diesem Vorwurf, Luther wiederhole die hussitischen Ketzereien - ein Rekurs auf den ersten Streit zwischen den beiden - , wendet sich Emser der confutatio zu. Die confutatio macht den mit Abstand größten Teil der gesamten Schrift Wider das vnchristenliche buch Martini Luters aus.240 Auf die drei Teile von Luthers Adelsschrift geht Emser in äußerst unterschiedlichem Umfang ein. Ausführlich befaßt er sich mit dem letzten Abschnitt, den 26 Reformforderungen. Im Kontrast dazu steht die knappe Beschäftigung mit dem zweiten Teil.241 Allen «5 Ebd., S. 16. 236 Die narratio darf, ja muß durchaus parteiisch sein, vgl. Quintilian: Institutionis oratoriae libri XII, 4,2,67. 237 Emser: Wider das vnchristenliche buch, S. 17. Ebd., S. 19. 239 Ebd., S. 20. 240 In der Ausgabe von Enders sind das 120 der 145 Seiten. 241 Lediglich 7 Seiten ebd.

74 drei Teilen gemeinsam ist jedoch das disputatorische Prinzip, mit dem Emser versucht, Luther zu widerlegen. Das Druckbild gleicht dem eines langen Dialogs. Auf ein Zitat aus der Schrift des Gegners, dem zur Verdeutlichung ein „Luter" vorangestellt ist, antwortet Emser, ebenfalls durch den Namen markiert. Durch diese Grundstruktur wirkt die Schrift starr. Doch gibt sie Emser gleichzeitig die Möglichkeit, Luther umfassend zu widerlegen. Emser nutzt trotz dieser tendenziell wenig Spielraum gewährenden Form rhetorische Streittechniken in einer überraschend großen Fülle. Er argumentiert zunächst, wie er das bei der , Waffenwähl'angekündigt hat, mit Bibelbelegen und mit der kirchlichen Tradition.242 Doch verzichtet er keineswegs auf unterhaltende Wendungen. Am Ende seiner dritten Antwort höhnt Emser ironisch: „Mit solichen stroeren vnd papyrin argumenten vormeint Luter die mauren der Christenlichen kirchen vmbtzustossen, Er muß aber noch bas in die Busonen blasen oder mit schänden wider da von ab tzihen."243 Durch gezielte Wiederholung von Teilsätzen und Wendungen Luthers provoziert er ebenfalls ironische Momente: Luter Also mein ich die orste papyrn maur lig damider, Emßer So meyn ich sie stehe noch vehst vnd vntzerbrochen vnd [es] sey gnug gesagt [...]. 244

Diese Antwort Emsers wird dadurch komisch, daß er nicht argumentiert, sondern durch indirektes Zitieren Luther aus der Luft gegriffene Behauptungen unterstellt. Gerne versteht Emser Luther falsch, wodurch er sich ebenfalls über ihn lustig macht: „Es ist nit tzuuorwundern, das der tewffel tzu Rom vil tzuschaffen hat [so Luther über das Papsttum], da so vil volcks ist, nicht alein Christen, sonder ouch Juden, vnd Turcken [...]." 245 Am Ende seiner Antworten nutzt Emser wiederholt abschließende Sätze, um seine zuvor genannten Argumente gezielt durch markante Vorwürfe gegen Luther zu unterstreichen. Beliebt ist der Ketzervorwurf, der bei Emser wie bei fast allen anderen katholischen Polemikern in zahlreichen Varianten Anwendung findet.246 Auf Luthers Ausfalle reagiert Emser nicht durch Gegenbeschimpfungen, sondern er antwortet sachlich, was er im folgenden Beispiel durch eine erläuternde Parenthese betont: „Das vns aber der Mönch tzu mher schmach vnd hon nit prister sonder olgotzen heißt (von wegen der salbung die als Dionisius schreibet der iunger Pauli) [sie!] die heiligen apostell ouch auffgesatzt [...] hat, er nicht alleyn vns tzu schmehung getan, sonder ouch Christo dem warhafftigen 242

Bereits in seiner dritten Antwort spricht Emser davon, daß Luthers Schrift sich gegen „altherkomen" und „brauch" wende; Emser: Wider das vnchristenliche buch, S. 21 f. 243 Ebd., S. 23. 244 Ebd., S. 37. 2 « Ebd., S. 39. 246 Ebd., S. 27: „Dem allem nach mag Luter sein tzungen wol straffen, vnd seyne wort wider hinein ruffen, do er spricht, Wir sein all gleych prister vnd tzwuschen vns vnd den leyen kein vnderscheid, dann des ampts halben dann es ist gar ein grober ketzerischer feler [...]."

75 gesalbeten [...]." 247 Mit eigenen Beschimpfungen hält sich Emser dagegen zurück, die wenigen Kraftausdrücke, die sich in der confutatio finden, sind gerade nicht gegen Luthers Person gerichtet. Vielmehr veranschaulicht Emser durch sie dessen vermeintliche Ziele: „Ich glaub wol wann die sach an dyr stiende, du wurdest nicht allein amptleut, sonnder auch tzu letzt sewhirten auß ynen [den Priestern] machen [...]. 4,248 Emsers Buch gegen Luthers Adelsschrift ist gemäßigter und weniger aggressiv als diese. Zwar greift der Priester immer wieder auf die Ironie als wichtiges Stilmittel zurück, doch kommt ihr bei aller Vielfalt in der Erscheinung lediglich eine nebensächliche Funktion zu. Im Zentrum steht das Argumentieren gegen den Wittenberger Theologieprofessor. Emser versucht mit dieser Schrift vornehmlich, Sachargumente gegen Luthers Schrift zu liefern. Das wird durch den disputatorischen Charakter der Schrift unterstützt. Durch die Dominanz dieser Streittechnik erscheint Emsers Buch sehr zuverlässig und überprüfbar. Wie sehr es ihm um das Verbreiten von Sachargumenten geht, wird außerdem deutlich, wenn man bedenkt, daß er lateinische Sätze nicht übersetzt. Emser schrieb nicht etwa für die ,gesamte deutsche Nation', wie er auf dem Titelblatt behauptet, sondern hauptsächlich für interessierte Geistliche, das hat bereits Birgit Stolt betont.249 Die griffige Inszenierung der ,Waffenwahl' gewinnt, bei Berücksichtigung der Bedeutung der Disputation fur diese Schrift, eine zusätzliche Funktion. In Disputationen war es üblich, zur Eröffnung „unter ausdrücklicher Verwendung der Waffenmetaphorik" 250 den Streitcharakter der Disputation zu betonen. So anschaulich der Abschnitt über die Waffenwahl ist, hier bleibt Emser einer Gattungstradition der Disputation verpflichtet, was gerade den gebildeteren zeitgenössischen Lesern vor Augen stand. Emsers Schrift Wider das vnchristenliche Buch Martini Luters ist damit eine zuverlässige251 Sammlung an Gegenargumenten gegen An den Christlichen Adel deutscher nation. In Unterhaltsamkeit und Abwechslungsreichtum steht sie im scharfen Kontrast zur Schrift Luthers, besonders des ersten Teils. Die Wahl der Gattung war aus Sicht des Priesters und ehemaligen Hochschullehrers Hieronymus Emser naheliegend, immerhin beabsichtigte er, mit einem Theologieprofessor über theologische Fragen zu streiten. Doch war die Disputation letztlich weniger geeignet, um in der Volkssprache zu streiten. Die verlangte nach anderen Gattungen, wie im folgenden zu zeigen ist.252

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251 252

Ebd., S. 25. Ebd., S. 33. Stolt: Wortkampf, S. 95f. Hanspeter Marti: Disputation. In: HWR 2 (1994), Sp. 866-880, hier Sp. 867. Dazu auch Stolt: Wortkampf, S. 96. Zuverlässig auch, weil Emser Luther immer korrekt und ohne Verfremdung zitiert. Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß Emsers Schrift nicht mit der confutatio endet. Vielmehr bittet Emser zunächst noch einmal die Deutschen „in eintracht [...] bestendig" im Glauben zu bleiben, und er warnt vor „tzweyung, schisma vnd trennung des Christenlichen volckes"; Emser: Wider das vnchristenliche buch, S. 141. Dem Priester Emser dürfte, wie anderen überzeugten Vertretern der alten Kirche, bereits früh einsichtig gewesen sein, welche Sprengkraft und welche Gefahren fiir die Einigkeit

76 c. Gezielte Reduzierung des Streits auf Invektiven und

Anschuldigungen

Ginge man bei der Darstellung dieses Streites strikt nach der Folge der Veröffentlichungen vor, ergäbe sich eine Schwierigkeit. Noch bevor Emsers Wider das vnchristenliche buch Martini Luters erschien, ließ Luther seine knappe Reaktion An den Bock zu Leyptzck ausgehen. Das war möglich, weil Luther ein wenig mehr als der erste Bogen von Emsers Druck aus Leipzig zugespielt wurde. Keine Schrift in diesem Streit steht in deutlicherem Kontrast zum Bezugstext als diese. Emsers Schrift ist die längste des Streites, diese ist die kürzeste. Emser fuhrt Gegenargument auf Gegenargument an, Luther bezieht sich gar nicht erst auf Emsers Buch. Wo sich der Dresdener Priester der Invektiven enthält, setzt der Wittenberger Theologieprofessor seinem Streitgegner persönlich zu, als würde hier ein Fastnachtspiel aufgeführt und nicht etwa um theologische Fragen und ihre politischen Folgen gestritten. Luther hat seine Antwort in Form eines knappen Briefes gehalten. Bereits der Titel An den Bock zu Leyptzck läßt das erahnen. Der knappe Text wird mit einer Grußformel eröffnet: „Dem Bock zu Leyptzck meinen grüß."253 Was folgt, hat mit höflichen Umgangsformen nicht viel zu tun, wie bereits die Titulierung Emsers als Bock mutmaßen läßt, mit der sich Luther auf dessen Wappenbild bezieht. Luther mißversteht gezielt die Bildunterschrift „Hut dich der bock stoszt dich" als Obszönität und verhöhnt zum zweiten Mal nach Ad aegocerotem Emserianum M. Lutheri additio Emsers Wappentier. Der sei ein Bock, der „nit mehr den stossenn" könne, stellt Luther fest und ruft aus: „Behut got für dem bock die geysse, die yhr horner in seyden geflochten tragen [,..]." 254 Nicht nur mit dieser anzüglichen Tiermetaphorik greift Luther Emser an. Er wirft ihm schlechtes Deutsch vor, womit er ihn bloßzustellen versucht, wenn er Emser direkt anspricht: „kanstu doch schier nit zu deutsch sagen, was du ym syn hast, szo vngeschickt zuloddert vnnd wust farenn deine wort".255 Erst diesen Angriffen schließt sich eine knappe Mutmaßung über den Anlaß von Emsers Schrift an. Er unterstellt ihm einen völlig unbegründeten Haß gegen seine Person. Unterstellungen stehen in Kontrast zur in der Rhetorik grundsätzlich geforderten perspicuitas. Ihr entgegengesetzt ist die obscuritas,256 die eigentlich als Fehler bewertet wird, wenn sie nicht wie hier als Streittechnik eingesetzt wird. Luthers Vorgehen gegen Emser zielt auf bewußte Diskreditierung. Auf die einleitenden Invektiven folgt ein Abschnitt, der Merkmale einer argumentatio aufweist. Luther geht auf die bisherigen Auseinandersetzungen mit Emser ein, nicht aber

der Kirche Luthers Schriften in sich bargen. Am Ende steht wohl nicht zuletzt deshalb noch einmal ein Gebet mit der Bitte um den Beistand Gottes. Damit rahmen Gebete den Gesamttext ein, wodurch die Frömmigkeit des Verfassers hervorgehoben wird. 253 Martin Luther: An den Bock zu Leyptzck. In: Enders (Hrsg.): Luther und Emser, Bd. 1, S. 147-152, hierS. 149. 254 Ebd. 255 Ebd. 256 Quintilian: Institutionis oratoriae libri XII, 8,2,12.

77 auf Wider das unchristenliche Buch. Ziel der Nennung bisheriger ,Aktionen' Emsers gegen Luther ist es, die Behauptung vom Haß gegen Luther zu stützen. Dabei unterläuft Luther ein peinlicher Schnitzer. Er unterstellt Emser die Verfasserschaft eines in Rom gegen Luther erschienenen Buches, das nicht von jenem geschrieben wurde. Das sollte Emser noch willkommene Angriffsfläche bieten. In die Auflistung von .Argumenten' zum Beweis des Emserschen Hasses mischt Luther immer wieder Beleidigungen und Unterstellungen. So nennt er Emsers Schriften „lugehn vnnd schmachworttenn".257 Emser sei jedoch zu verzeihen, weil er gar nicht wisse, fugt Luther bösartig an, was er , lalle und speie', womit Luther seinem Kontrahenten die Zurechnungsfähigkeit abspricht.258 Gegen Ende nennt er Emser sogar einen „vnuorschampten lesterer vnd lugner".259 Abschließend betont Luther, wie aussichtslos es sei, auf, Emser zu reagieren, weil dieser sowieso nicht zu überzeugen sei: „Es hilfft bey dir kein guttis suchen."260 Luther bemüht sich gar nicht erst um eine kritisch-sachliche Auseinandersetzung mit Emser. Er sucht gezielt die Konfrontation durch Beschimpfungen und Unterstellungen, bei denen er vor der Verbreitung von Unwahrheiten nicht zurückschreckt. Die gewählte, an einen Brief erinnernde Form bietet dabei nur einen Rahmen, der es Luther ermöglicht, relativ knapp vorzugehen und einen persönlichen Ton durch die direkte Anrede anzuschlagen. Erst dadurch wird diese kurze Flugschrift zu einem eindeutig persönlichen Angriff gegen Emser, der seinerseits nur in einzelnen Appellen Luther angesprochen, ansonsten aber über Luther in der neutralen 3. Person Singular geredet hat.261 Emser reagierte rasch auf Luthers Flugschrift, was zur Folge hatte, daß seine knappe Schrift An den stier zu Uuiettenberg ebenfalls noch vor Wider das unchristenliche Buch Martini Luters erschien. Dem Publikum dieses Streits im Frühjahr 1521 kann dies nur äußerst merkwürdig vorgekommen sein, stritten doch zwei prominente Geistliche mit drastischer Wortwahl um eine Schrift, die noch gar nicht zu erwerben war. Emser lehnt seinen Text nahe an Luthers Brief an, er wählt den gleichen Gattungsrahmen wie Luther. Das zeigt bereits die Titelwahl, in der Luther in Form einer Benennung als , Stier' direkt angesprochen wird. Die Flugschrift weist weitere Merkmale auf, die sie als ,Brief kennzeichnen. Die direkte Anrede262 an Luther findet sich ebenso wie eine Schlußformel. 263 Außerdem

257

Emser: Wider das vnchristenliche buch, S. 151. Luther: An den Bock, S. 151f. ™ Ebd., S. 152. 260 Ebd. 261 Ein seltenes Beispiel der direkten Anrede in Emsers Schrift findet sich in: Wider das unchristenliche buch, S. 31: „Liber bruder". 262 Ebd., S. 3: Emser eröffnet den Brief sogar mit einer direkten Anrede: „Wiewol, du, bruder Luder [...]", bei der durch die satirische Verwendung des ursprünglichen Namens Luthers und des Binnenreims sogleich die aggressive Ausrichtung der Schrift deutlich wird. 263 Ebd., S. 8: „Hie mit biß Gott beuolhen," (sie!) 258

78 nennt Emser wiederholt Luthers Schrift einen Brief264 und legt damit eine Antwort in der gleichen Gattung nahe. Was jedoch fehlt, ist die den Brief eröffnende salutatio. Einen Brief, zumal einen öffentlichen, ohne die Begrüßung zu beginnen, das muß als Normverletzung bewertet werden. Nur ein Jahr später sollte Erasmus in seiner berühmten Brieflehre De conscribendis Epistolis den Verzicht der salutatio als ,Religionsfrevel' bezeichnen.265 Emser aber setzt diesen ,Religionsfrevel' hier gezielt ein, um Luther anzugreifen. Ja, er war mit der sakralen Bedeutung der salutatio wohl vertraut, denn er thematisiert einleitend den ,Gruß' Luthers in dessen Flugschrift. Er vergleicht diesen mit „Judas kuß",266 dem Religionsfrevel schlechthin, wodurch sein eigener deutlich relativiert wird. Emser begründet den Vergleich im exordium mit den Beschimpfungen als Narr und Esel, die er, Emser, über sich in Luthers Schrift habe ergehen lassen müssen. Dabei versucht er, sich über diese Angriffe lustig zu machen, wenn er zur Beleidigung als Esel anmerkt, er habe doch gar „nicht oren darnach".267 Durch das Wörtlichnehmen der Beleidigungen Luthers demonstriert Emser seine Überlegenheit und sein Selbstbewußtsein. Das unterstreicht er, indem er die Gewährsleute' für seine Argumente ironisch ebenfalls Esel nennt: Da „Aristoteles, Thomas, Bonauentura, Bepst Cardinel, vnd Bischoff, tod vnd lebendig deine Esel seyn müssen, so bleib ich in dissem Eselstal (daryn ouch Christus geboren ist) vil lieber dann in deinem raben nhest."268 Das exordium abschließend, äußert Emser die Hoffnung, „vnsern brudern den leyen" - Indiz dafür, daß in dieser Flugschrift nicht Geistliche, sondern Laien erste Adressaten Emsers sind, eine bemerkenswerte Ausnahme269 - werde schon vor Augen stehen, wer im „schiessen", im Wettstreit zwischen Emser und Luther, obsiegen werde. Immerhin habe sich Luther bereits durch „das örste blat [...] in harnasch" jagen lassen. Hier spielt Emser nicht nur darauf an, daß Luther gar nicht die ganze Schrift Wider das vnchristenliche buch Martini Luters kannte. Gott prophezeite den abgefallenen Israeliten, daß sie sich

264

265

266 267 268 269

Emser nennt Luthers Flugschrift ebenfalls ,Brief, bzw. ,Sendbrief; beide Begriffe werden von ihm synonym verwendet, vgl. Hieronymus Emser: An den stier zu Uuiettenberg. In: Enders (Hrsg.): Luther und Emser, Bd. 2, S. 1-8, hier S. 3 u.ö. Erasmus von Rotterdam: De conscribendis epistolis. Anleitung zum Briefschreiben (Auswahl). Übers., eingel., u. mit Anm. vers, von Kurt Smolak. Darmstadt 1980 (= Ausgewählte Schriften, 8), S. 128: „Est [salutatio] enim haec ceu prima frons epistolae, in qua delinquentem non solum imperitiae dedecus, verumetiam religionis neglectae piaculum maneat." Die salutatio „ist gewissermaßen die Stirnseite des Briefes. Wer sich darin einen Fehler erlaubt, den trifft nicht nur die Schande der Unkenntnis, sondern der Makel des Religionsfrevels." Ebd., S. 129 (wobei „religionis neglectae piaculum" von Smolak vielleicht zu stark übersetzt ist, Erasmus meint einen Fehltritt, durch den jemandem der gebührende Respekt versagt wurde. Näher kann hier auf die umfassend erforschte Gattung ,Brief nicht eingegangen werden, vgl. dazu die zuverlässige Einleitung von Smolak ebd., S. 1X-LXXV. Emser: An den stier, S. 3. Ebd. Ebd. Ebd.: Er wolle „vnsern brudern den leyen, ougenscheinlich an tzeig, was du fur ein vogel bist [...]."

79 vor einem .rauschenden Blatt' fürchten sollten. Emser unterstellt Luther die Furcht der von Gott Abgefallenen. 270 Damit erreicht Emser bereits in der Einleitung seiner Flugschrift An den stier zu Uuiettenberg einen metaphorischen Formenreichtum, auf den er in der zuerst vorgestellten Schrift dieses Streits verzichtet hat. Der Konflikt wird schärfer. Auf die Einleitung folgen narratio, amplificatio und ein epilog mit der erwähnten Schlußformel. In der narratio berichtet Emser von Luthers Flugschrift und erklärt, was er mit seiner Reaktion beabsichtige. Er wolle den „vnglimpff, den Luther ihm „auffgelegt" habe, „bey dem leßer abtrag[en]".271 Konkret wirft Emser Luther vor, dieser sei ihm „wie die pauren pflegen, ehe das ich außgeredt, in die red gefallen".272 Er betont, daß das , Stoßen' des Bocks, das Luther ausdrücklich als Obszönität mißdeutet hat, dessen natürliche Verteidigung gegen Feinde sei.273 Ebenso begegnet er der Unterstellung Luthers, es sei ihm lediglich ums ,Lästern und Schelten' gegangen. Er wolle vielmehr die „Christenliche warheit" 274 gegen Luther verteidigen. Überdies sei es Luther, der sich durch sein unwürdiges Verhalten als „hochtrabender geist"275 offenbare. Emser nutzt die narratio, um seine Vorwürfe gegen Luther zu formulieren, während er auf eine mehr oder weniger parteiische Inhaltsangabe der Flugschrift Luthers verzichtet, was eine Alternative gewesen wäre. Außerdem verzichtet Emser auf eine selbständige argumentatio, worauf noch zurückzukommen sein wird. In der folgenden amplificatio versucht Emser, seine Vorwürfe zu bekräftigen.276 Er hebt noch einmal Luthers unchristliches Wesen hervor und betont dessen Nähe zur „lang vordampte[n] ketzerey Joannis Hussen"277 - sowohl ein konkret benannter Ketzervorwurf, dessen Ausdifferenzierung auf Eck zurückgeht, als auch ein Rekurs auf den vorhergehenden lateinisch geführte Streit zwischen Luther und Emser. Die Behauptung Luthers, Emser habe in Rom ein Buch gegen ihn pseudonym erscheinen lassen, nimmt dieser zum Anlaß, Luther die Unsinnigkeit dieser Beschuldigung vorzuhalten.278 „Iniurien vnd schmachworten"279 nennt Emser als weiteres Argument, das of-

270

Vgl. 3. Mose 26,34-39. Emser: An den stier, S. 3. 272 Ebd. 273 Vgl. ebd.: Gott habe „einem itzlichem thier naturliche angeborne gewöhr vnd waffen gegeben sich gegen den andern [...] damit tzu weren, [...] alßo hat er [Gott] ouch disem Bock horner auff gesatzt, der doch an ym selber so vornunffitig ist das ehr niemandt do mit stosset, dann die es mutwillig an ym erholen [...]." 2 ™ Ebd., S. 4. 275 Ebd. 276 Emser schwört sogar, um seine Vorwürfe zu bekräftigen und um dem Vorwurf persönlicher Mißgunst gegen Luther zu begegnen, ebd., S. 5: Er schwöre bei seinem „priesterlichen trawn an eydes stat, das ich deyner person halb keyn neyd oder has wyder dich in meyn hertz nye genommen" habe. 277 Ebd., S. 5. 278 Ebd., S. 6: „Waß solt mich dann vorvrsachen das ich meyn ding gen Rom schickte, so ich doch dye Drucker hie ann der handt hab." 279 Ebd., S. 7. 271

80 fenlege, wie unwürdig und unchristlich Luthers Schrift und damit ihr Verfasser sei. Den epilog nutzt Emser, um Luther vor dem Abfall von der Kirche zu warnen und um ihm zu empfehlen: „Darumb ßo radt ich dyr auß Christenlicher lieb vnd traw, du stehest von dißer thorheit ab, vnd [...] widerruffest, so wollen wir tzwen noch gutte vetter werden [.,.]." 280 Hieronymus Emser reicht dem ,Ketzer' Martin Luther demonstrativ die Hand, unter der Voraussetzung, daß dieser widerruft. Emser beschließt mit dieser Geste seinen Brief an Luther. Man mag darin eine plumpe Demonstration eigener Großmütigkeit sehen, unangebracht und selbstherrlich. Luther wird Emser derartiges Verhalten wohl nicht zuletzt wegen dieses Briefes noch vorwerfen. Doch hat es mit dieser Geste mehr auf sich. Emsers Brief weist eindeutige Merkmale der Briefsorte auf, die Erasmus .Anschuldigungsbriefe' nennt. Erasmus fordert für diesen eine „abrupte Einleitung", um die „Bösartigkeit des Gegenstandes" anzuzeigen.281 Ebenso ist die hier vorliegende Vermischimg von narratio und argumentatio typisch für den Anschuldigungsbrief: „Hierauf [auf die Einleitung] wird man den Gegenstand glaubhaft erzählen und Elemente der Beweisführung und Verdeutlichung der Kürze halber gleich hier einflechten."282 Luthers Flugschrift ist eher ein , Vorwurfsbrief, vielleicht müßte er gar als ,Invektivbrief typisiert werden.283 Durch die Wahl der gleichen Gattung ,Brief signalisiert Emser seine Bereitschaft, sich auf Luthers Vorgaben im Streit einzulassen. Er akzeptiert die Kürze, die ausführliche Argumentation ausschließt. Er läßt sich auf die Form der persönlichen Anrede ein. Doch das ist nur die Oberfläche. Emser distanziert sich von Luthers ausfallendem und ehrverletzendem Stil. Das sagt er nicht nur,284 das verdeutlicht er durch die Wahl dieses Brieftyps. Emser nutzt den von Luther vollzogenen Gattungswechsel, um dem Reformator auf ganz anderem Wege beizukommen. Er klagt Luther an. Emser übernimmt die Rolle des Anklägers im Prozeß gegen Luther. Deswegen hält Emser abschließend Luther noch einmal die Hand entgegen. Wenn Luther widerruft, ist Verzeihung möglich. Emser wiederholt in diesem Brief vereinfacht und damit popularisierend

280 Ebd., S. 8. 281 „Incriminatoria igitur epistola nonnunquam ab abrupto principio conueniet exordiri, quo statim et nostrum dolorem et rei atrocitatem indicemus." Erasmus: De conscribendis Epistolis, S. 252, die Übers, ebd., S. 253. 282 Ebd., S. 252, 254: „Deinde rem verisimiliter narrabimus, argumentationes et amplificationes eidem breuitatis causa admiscentes." Die Übers, ebd., S. 253, 255. 283 Vgl. ebd., S. 270. Smolak hat Erasmus' Ausführungen zum Invektivbrief nicht ausgewählt. Vgl. Erasmus von Rotterdam: De conscribendis epistolis. In: Opera Omnia Desiderii Erasmi Roterodami. Recognita et adnotatione critica instrvcta notisqve illvstrata Reihe 1, Bd. 2. Amsterdam 1971, S. 205-579, „De epistola invectiva", S. 535-537. 284 Demonstrativ paraphrasiert Emser die bereits erwähnten Waffen des miles christianus aus Eph 6,1 Off, mit denen er Luthers Schimpfworten begegnen wolle, statt gleiches mit gleichem zu vergelten: „Das du mich aber furter mit vil vppigen vnd drotzigen Worten bedrowest [...], da sey mir neben eynem starcken christenlichen glouben [...] vor, [...] dann ich vor dieser drow kein andern harnasch dann das bantzer des gloubens antzyhen vnd dich mit meinem schwert, das ist mit der schryfft vnd wort Gottes wol wider tzu ruck treiben will [...]." Emser: An den stier, S. 7.

81 das Bannverfahren gegen Luther, das am 3. 1. 1521 - vor dem Erscheinen dieser Schriften - nach Ablauf der Entscheidungsfrist in der Erklärung zum Ketzer gipfelte und auf das die Verhängung der Reichsacht zu folgen hatte.285 Deswegen muß er sich der Invektiven enthalten, deswegen wirft er Luther dessen unredliches Streitverhalten vor und verfahrt nicht ebenso. Emser wäre unglaubwürdig geworden. Weil er hier die Rolle der Kirche im Bannverfahren übernimmt, wäre es unangemessen, derart würdelos zu verfahren.286

d. Vom Religionsstreit zum Wortkampf Luther konnte eine solche Reaktion auf seine Flugschrift nicht unbeantwortet lassen. Zwar ließ sich der Wittenberger Theologieprofessor längst nicht von jeder Streitschrift herausfordern, die gegen ihn herausgegeben wurde, doch war es nachgerade selbstverständlich zu antworten, wenn man sich einmal in einen Streit begeben hatte. Deswegen überrascht die Replik Auff des bocks zu Leypczick Antwort D. M. Luther nicht. Außer dem Titel findet sich auf dem Titelblatt wie schon zuvor lediglich die Angabe „Wittemberg 1521", abermals fehlt wie in den folgenden Schriften Luthers in diesem Streit ein graphisches Titelblattelement. Dem Text ist eine knappe Widmung an „H. E." vorangestellt, wohl Haugold von Einsiedel, der Luther Emsers An den stier zu Uuiettenberg zugesandt hatte, wofür sich Luther mit dieser Zuschreibung bedankt.287 Luther nutzt diese nur wenige Zeilen lange Widmung, um Emser anzugreifen und damit die Stoßrichtung der Schrift vorzubereiten. Von Einsiedel habe Luther zwar „widderratten" dem „öffentlichem lugener vnd lesterer [Emser] zu antworten". Luther seinerseits habe verhindern wollen, „das der saw der pauch [...] zu groß" werde, daß also Emser, ein „grober kopfP', seine „eytel lugen" nicht etwa noch selbst für wahr halte, da ihnen nicht widersprochen worden sei.288 Prägnanter und derber hätte Luther nicht einleiten können, was folgt: Ausfalle und Verunglimpfungen gegen Emser. Die Schrift ist zweigeteilt. Im ersten Teil formuliert Luther Vorwürfe gegen Emser, und er stellt richtig, was Emser aus seiner Sicht falsch wiedergegeben habe. Selbst dabei dominieren Beschimpfungen, die bereits in der Widmung

285

Das Ziel, das Emser mit dieser Schrift verfolgt, wird in einem einfachen und zunächst unscheinbaren Satz deutlich, ebd., S. 8: „Ich will dich aber mit der schriffi vberweisen, das du dein angesicht von deiner muter der christenlichen kirchen ab gewendt [...]." 286 w j e ernst Emser die Bedrohung der Kirche durch Luther bewertete und es ihm mit seinem Anklagebrief war, das zeigt sich daran, daß er Luther in eine äußerst prominente Reihe stellt, ebd., S. 8: Luther sei in die Nachfolge von „Hussen, Wickleffen, Dulcini, Fausti, Pelagij, Vigilantij, Arrij, Bardesani, Armenij, Lampecij, vnd aller alten vnd nawen ketzer [...] getretten [...]." 287 v g l . die Vorrede bei Enders (Hrsg.): Luther und Emser, Bd. 2, S. III. 288 Martin Luther: Auff des bocks zu Leypczick Antwort D. M. Luther. In: Enders (Hrsg.): Luther und Emser, Bd. 2, S. 9 - 2 4 , hier S . U .

82 anklingen. Einleitend nimmt sich Luther den Schwur Emsers vor, daß dieser Luther nicht aus persönlichen Motiven angreife:289 Du elender mensch, wie bistu ßo kune, marteren vnd schweren bey gottis heyligen namen, das du nit durch haß, neyd vnd lugen gegen mir handelst, ßo es dein hertz vnd gewissen wol anders weyß, Halt still, ich will dir deyne feddern, ein wenig auß breytten, vnd dich dir selb auch zeygen denn andere wissen schon was du fur ein fogell bist.290

Luther nimmt Emsers Schwur zum Anlaß, um zu einer ausführlichen Rechtfertigung anzusetzen. Er unterstellt Emser zunächst Scheinheiligkeit. Um diesen Vorwurf zu begründen, berichtet Luther von der Leipziger Disputation. Dort und in der Folgezeit sei ihm mehrfach übel mitgespielt worden. Luther habe „diese offentliche[n] lugen vorachtet", zumal er „nit gerne widder die" schreibe, die „wissentliche stincken vnd liegen."291 Luther verfahrt ähnlich wie in seiner ersten Erwiderung gegen Emser. Zunächst unterstellt er seinem Gegner ein lästerliches Wesen, greift den Gegner abermals persönlich an. Im Anschluß begründet er diesen Vorwurf mit einem Ereignis, von dem bisher noch nicht die Rede war, von dem deswegen die Leserschaft keine zuverlässige Kenntnis haben kann, um abschließend die persönlichen Angriffe zu wiederholen oder gar zu verstärken. Durch diese Streittechnik lenkt Luther den Streitverlauf. Er bestimmt, über welche Themen gestritten wird, ohne daß er sich die Mühe macht, die Argumente seines Gegners zu bewerten und auf diese einzugehen. Luther beansprucht die Definitionsmacht in diesem Streit. Sein Vorgehen wird durch die Wahl der Anrede des Gegners verstärkt. Berichtet er von den Vergehen seines Gegners Emser etwa während der Leipziger Disputation, dann spricht Luther von seinem Kontrahenten in der dritten Person. Die Schrift wirkt deswegen zumeist unpersönlicher als der Invektivbrief. Greift Luther den ,Bock' persönlich an, so spricht er ihn direkt an: „Emser leug dich nit zu todt [,..]." 292 So ruft er ihm mahnend zu, um sogleich wieder von Emser in der 3. Person Singular zu sprechen (apostrophe). Gerne fuhrt Luther außerdem Allgemeinplätze an. Die Bedeutung seiner Schriften begründet er nicht mit theologischen Argumenten. Er berichtet von den Reaktionen, die er nach deren Veröffentlichungen erfahren habe. Die ,Hand' Emsers, die dieser Luther unter der Voraussetzung des Widerrufs entgegengehalten hat, ist der zweite Punkt, mit dem sich der Reformator befaßt. Mehrfach finden sich einzelne Wendungen und Sätze, die erahnen lassen, wie ernst Luther den Anklagebrief Emsers und die päpstliche Bannbulle nahm. Er nennt Emser einen „mordstecher"293 und einen „wütrichen, blut-

289 Vgl. oben Anm. 276. 290

291 292

293

Luther: Auff des bocks zu Leypczick Antwort, S. 12. Emser hatte angekündigt, er wolle aufzeigen, was fur ein Vogel Luther sei. Darauf bezieht sich Luthers Wortspiel, der Vogel ,Emser' sei allgemein bekannt. Ebd. Ebd. Ein weiteres Beispiel findet sich etwa ebd., S. 13: „Wer will glauben, das du ein war wort schreybist [...]." Ebd., S. 14.

83 sichtigen tyrannen" 294 - damit rekurriert er auf das angeblich tyrannische Regiment des Papstes, das Luther bereits in der Adelsschrift ausfuhrlich dargelegt hat. Er gibt sich selbst für den Fall siegesgewiß, daß „Emßer, Eck, Pabst" seine „bucher vnd mich datzu vorprennen."295 Hier demonstriert der Gegner des Papsttums seine Entschlossenheit, selbst im drohenden Ketzerprozeß nicht zu widerrufen, sondern standhaft bei seiner Sache zu bleiben. Das bekennt er ausdrücklich am Ende des ersten Teils mit einem Gebet: Ich weyß was ich itzt rede, die tzeyt wirt kummen, das sie [seine Widersacher] es auch wissen werdenn, gott gebe, on yhre vorterbenn, vnd nym dyr [Emser] nit fur, das ich eynen puchstaben widderruffen wird, meyner lere, [...] du wirdest schaff odder bleybist bock, Es gilt hie nit widerruffen, sondern leyb vnd leben [!] dran setzen, meyn Emser, das vnd keyn anderß, da tzu helff myr gott mit seynen gnaden. AMEN. 296

Die Hand Emsers, die ihm bei Widerruf Vergebung verheißt, schlägt Luther aus, indem er den Widerruf eindeutig ausschließt und statt dessen durch die Anrufung Gottes die Richtigkeit seines Vorgehens wie sein Gottvertrauen unter Beweis stellt. Selbstbewußter hätte Luther nicht auftreten können. Im zweiten Teil der Schrift argumentiert Luther ausführlicher, etwa mit Bibelbelegen, ohne daß er von den persönlichen Angriffen und den Vorwürfen gegen Emser und die römische Kirche abläßt.297 Ferner behauptet Luther, daß er verschiedene Vorwürfe belegen könne, unterläßt aber die Beweisgänge, was für sein Vertrauen in die Gunst des Lesers spricht und gleichzeitig einem Versuch suggestiver Lesermanipulation gleichkommt.298 Durch Verwendung von rhetorischen Fragen verbunden mit direkter Anrede inszeniert Luther Situationen des Triumphes, in denen Emser als Verlierer des Schlagabtausches dargestellt wird: „Wo wiltu doch [sie] hynn Emser? Sihstu nit wie dich deyn haß vorblendet, das du deyn eygen wort vnd werck nit vorstehist [...]." 299 Durch derartige rhetorische Fragen versucht Luther, das Urteil der Leserschaft vorwegzunehmen bzw. die Schuldhaftigkeit Emsers zu suggerieren. Luther formuliert .Vorurteile'. Eine Verteidigungsschrift, die nach dem Anklagebrief Emsers zu erwarten wäre, sieht so nicht aus. Luther setzt weiterhin auf Konfrontationskurs. Die Person Hieronymus Emser steht im Mittelpunkt dieser Streitschrift, den Invektivstil verstärken Ausfalle gegen ihn. An dessen Schrift orientiert sich Luther kaum, einzelne Vorwürfe des Priesters werden zwar genannt, eine argumentative Widerlegung findet jedoch nicht statt. Luther geht es in dieser Streitschrift um offene Aggression. Das wird besonders in seinem Schlußwort deutlich, das

294 «5 296 2" 298

Ebd., S. 15. Ebd., S. 13. Ebd., S. 18. Vgl. etwa ebd., S. 18f. Ebd., S. 19: „Ich kund auß deynem andern buch Assertio, beweysen, das du bekennist du habist haß auff mich tragen [...]. Aber ich hab nit wollen, will auch noch nit mit deynem odder yemands leben zu schafFenn haben." 299 Ebd., S. 21.

84 gleichzeitig eine letzte Pointe in sich birgt. Darin enthält sich Luther zwar der Kraftausdrücke gegen Emser, dafür provoziert er inhaltlich um so stärker: [...] du hast meyn feddern auffs new erregt, du wirst yhe das spiel außhalten [...], hilfft nit klagen, Wiltu aber deyn yrthum widerruffen vnd des heuchlen abgahn, soltu mich gar bald, Stil vnd schweygend machen wo das nit, thu was du magst, Gott helff seyner warheyt, widder mir noch dir, sondern alleyn gott sey lob vnd ehre. AMEN.

Luther fordert Emser ebenfalls zum Widerruf auf, er kehrt den von seinem Widersacher formulierten Vorwurf um (reflexio). Der Ankläger wird zum Beschuldigten, Luther läßt Emsers Anklagebrief ins Leere laufen. Emsers Anklagebrief zeigt damit ohne Luthers Eingeständnis Wirkung. Mehrfach kommt Luther auf den Widerruf zu sprechen, und er verwendet nicht noch einmal die von ihm zunächst bevorzugte Briefform, um auf Emser zu replizieren. Vielmehr nutzt er die offene Form des polemischen Traktats, um Emser zu begegnen. Das ermöglicht es ihm, lediglich ausgewählte Streitpunkte anzusprechen. Dabei verzichtet Luther auf die eigentlich erforderliche Argumentation und ersetzt diese durch Invektiven. Außerdem gewährt ihm diese Form die Freiheit, nach Belieben weitere Streitpunkte einzuführen. So nimmt er einen einzigen Satz aus Emsers Anklagebrief zum Anlaß, um zu einer ausführlichen Darstellung seiner Sicht der Leipziger Disputation anzusetzen. Geschickt weicht Luther Emser aus und greift ihn statt dessen an anderer Stelle an. Das ist kein argumentierender Religionsstreit mehr, das ist bloßer Wortkampf.300

e.

Verachtung, Bildungsdemonstration antilutherischer Religionspolemik

und Humanismus

im Dienste

Emser verfaßte eine Replik auf Luthers Schrift, deren Titel, wie schon bei seinem Anklagebrief, der Bezugsschrift ähnelt: Auff des Stieres tzu Wiettenberg wiettende replica. Doch enden damit bereits die Gemeinsamkeiten. Im Gegensatz zum Wittenberger Theologieprofessor geht Emser in seiner Schrift wiederum Absatz für Absatz auf die gegnerische Replik ein und versucht, die einzelnen Vorwürfe Luthers zu widerlegen.301 Einleitend bezieht er sich auf Luthers Eröffhungspointe, Emser könne ja nicht einmal sagen, was für ein Vogel er sei.302 Emser vergleicht Luther daraufhin mit diversen Vögeln. Dadurch unterstellt er Luther schlechte Wesenszüge, etwa wenn er ihn einen schwarzen Raben nennt. Der sei aus der Arche geflogen und nicht wiederge-

30» Vgl. Stolt: Wortkampf. 301 Selbst Lesern, die Luthers Schrift nicht kannten, macht es Emser leicht, dieses .Abarbeiten' an Luthers Replik nachzuvollziehen. Wenn er sich dem nächsten Abschnitt aus Luthers Text zuwendet, setzt er regelmäßig ein einleitendes Adverb wie „volgend" (S. 33), „weyter" (S. 34) und „femer" (S. 35) „furter" (S. 36), jeweils in: Hieronymus Emser: Auff des Stieres tzu Wiettenberg wiettende replica. In: Enders (Hrsg.): Luther und Emser, Bd. 2, S. 25-44. 302 Vgl. S. 82 mit Anm. 290.

85 kehrt.303 Zur Verdeutlichung erklärt Emser: „das ist auß der Christenlichen kirchen geflohen". 304 Dabei symbolisiert die Arche als Schiff Abgeschlossenheit und Einheit der Kirche sowie die zentralistische Führungsposition des Papstes, die oberstes Gebot ist, um Sicherheit zu gewährleisten und Schiffbruch zu verhindern. Nach der unterhaltsamen und anschaulichen Auflistung zu Beginn wird Emser sachlicher und hält Luther dessen aggressive und verletzende Wortwahl vor: Dieweil nu eynem ieden vogel seyne federn wol anstehen, ßo wer ym als eynem geystlichen (den federn nach) ouch wol angestanden, das er sein nichtige replica nicht auff Scheltwort vnd iniurien (wie die bettler pflegen) sonder auff bestendigen grand der schrifft gesteh het, darumb ich dann tzum offtern mal gepeten hab. Aber er laßt von seiner alten weyß so wenig als die kraw von yrem hupfen.305

Emser mahnt standesgemäßes Streiten an, wenn er den geistlichen Stand seines Gegners betont und damit einhergehend fordert, sich über theologische Dinge nicht mittels Beschimpfungen, sondern mit Argumenten auseinanderzusetzen. Daß er von Luther die Einhaltung dieser ungeschriebenen Regeln der Streitkultur unter Gelehrten gleich zu Beginn seiner Schrift fordert, verdeutlicht, als wie schwerwiegend Emser dessen unredliches Vorgehen beurteilt. Zwar gab es keine schriftlich fixierten Regeln fur den Streitschriftenwechsel; was Emser einfordert, ist ein ungeschriebener Ehrenkodex unter Gelehrten, der auch ohne Kodifizierung mehr oder minder gesichert war und den beide etwa von Disputationen und aus ihrem Theologiestudium kannten. Präzise rekonstruierbar ist dieser Regelkanon nicht, doch zeigt sich immer wieder die deutliche Affinität, Verhaltensregeln wie Überprüfbarkeit, sachlicher Stil und das Anerkennen einer richterlichen Instanz einzufordern, die ungefähr zeitgleich in den volkssprachlichen Religionsgesprächen angemahnt werden und ihren Ursprung im gelehrten Disputationswesen haben.306 Da Luther diese Regeln für den Streit nicht anerkennt und Emser das sieht, muß sein Einfordern an dieser Stelle als gezielte Diskreditierung Luthers zumindest beim gelehrten Publikum bewertet werden. Deswegen betont er mehrfach, daß er sich des „gegenscheltens enthalten" werde,307 und er nennt zusätzlich mit der gegen Luther verkündeten Bulle ein überprüfbares Beweismittel, mit dem er etwa den Ketzer-Vorwurf gegen Luther stützt.308 Emser versucht in dieser Replik vornehmlich, Luthers Ansehen

303

Vgl. 1. Mose 8,6f. Emser: Auff des Stieres tzu Wiettenberg wiettende replica, S. 28. Neben dem Raben vergleicht Emser Luther noch mit folgenden Vögeln: Gänsen, Rebhühnern, Eulen, Fledermäusen [!] und einem namenlosen Vogel, von dem Augustin berichtet, er habe den Schnabel auf dem Rücken, vgl. ebd., S. 28f. 305 Ebd., S. 29. 306 Vgl. Moeller: Zwingiis Disputationen. 1. Teil, S. 301-315; vgl. ferner Hollerbach: Religionsgespräch, S. 14-29. 307 Emser: Auff des Stieres tzu Wiettenberg wiettende replica, S. 30. 308 Etwa ebd. Die Bulle gegen Luther zählt Emser offensichtlich zu den probationes inarlificiales, zu den natürlichen Beweisen, die auf Tatsachen beruhen. Luther beurteilte die Beweiskraft dieser Bulle bekanntlich grundsätzlich anders. 304

86 beim gelehrten Publikum zu verunglimpfen, indem er einen Kontrast zwischen dem beschimpfenden und auf Argumentation verzichtenden Theologieprofessor aus Wittenberg und sich selbst konstruiert, der sich dagegen redlich und den Regeln entsprechend mit dem Gegner auseinandersetzt. Durch diese Form der Autothematisierung wird der kontrastierende Eindruck unterstrichen. Doch trotz aller Bekundungen, sich der .Scheltwörter' zu enthalten, verzichtet Emser nicht darauf. Er setzt sie nur anders als Luther ein. Emser unterstützt seinen Vorwurf, Luther streite unredlich, indem er dessen Ausfuhrungen etwa als „langes geschwetz"309 abschätzig abtut. Die fehlende kirchliche Autorität Luthers betont Emser durch den verächtlichen Hinweis, Luther sitze „weder auff dem stuel Moisi noch Petri [...], sonder auff dem stul der pestilentz",310 womit er den selbstherrlichen Anspruch Luthers vom biblisch legitimierten ,Vorsitz' des Papstes abgrenzt und verwirft. Emser hütet sich zwar vor direkt angreifenden Beschimpfungen wie etwa Luthers ,Mordstecher'. Doch hält er sich nicht zurück, sich über Luthers Schriften und dessen soziale Stellung beleidigend zu äußern, wodurch er versucht, Luthers Ruf zu schädigen. Zu diesem Zweck bedient er sich eines gezielt eingesetzten, angeblichen ,Mißverstehens'. Luther hat in seiner Replik ausgeführt, daß seine Schriften zwangsläufig zu Streit führten. Er beruft sich dabei auf den bekannten Satz aus dem MatthäusEvangelium: „Ihr solt nit wenen, das ich kummen bynn frid zu senden auff die erden, bynn nit kummen frid, sondernn schwerd vnd hadder zu sendenn."311 Darauf erwidert Emser: So sagt der monch, Christus hab vns gelernet, hader vnd krieg anrichten, einander schlahen vnd rewffen. Ist mir nicht das ein seltzame nawe glos vber das ewangelium? Ist das die grosse kunst, vnd der hochgelerte doctor, des gleychen in tewtschen vnd in welschen landen nith sein sol? Ach du armer elender theologus, wy last du dich den tewfel so gar vorblenden. 3,2

Zunächst suggeriert Emser eine äußerst abwegige Bibelauslegung durch Luther, indem er dem Theologieprofessor falsche Auslegung des Matthäus-Evangeliums unterstellt; als wolle er sagen: Der Mönch versteht seinen Herrn nicht mutmaßlich geschieht dies sehr gezielt, um ein weiteres Mal den unkirchlichen und damit unchristlichen Charakter der lutherischen Theologie hervorzuheben. Durch die Titulierung als „monch" schwächt Emser gleichzeitig die theologische Autorität seines Gegners. Damit schafft er die Voraussetzungen fur seine rhetorischen Fragen und den anschließenden Ausruf. Emser spricht Luther die Befähigung zur Bibelauslegung und damit die Autorität als Theologieprofessor ab, indem er sich über ihn lustig macht und ihm Verblendung durch den Teufel unterstellt. Emser geht es in letzter Konsequenz darum, mit Hilfe der reflexio die von Luther bereits in der Adelsschrift vorgenommene Verteufelung des

309 Ebd., S. 36. 310 Ebd. 311 Luther: Auff des bocks zu Leypczick Antwort, S. 22, nach Mt 10,34. 312 Ebd., S. 37.

87 Papstes aufzugreifen und abgewandelt gegen den Reformator zu wenden, ihn nun seinerseits zu verteufeln. Diese Bemühungen gipfeln in drei lateinischen Epigrammen. Indem Emser den Beschimpfungen Luthers mit den feinen .Spitzen' des Epigramms begegnet, unterstreicht er seine Vorwürfe - ein Vorgehen, das in katholischen Streitschriften vereinzelt zu finden ist. Zusätzlich demonstriert er damit seinen humanistischen Anspruch, er könne sich auf gelehrtem Niveau mit seinem Gegner auseinandersetzen, was in einem theologischen Streit seines Erachtens angemessener als der Einsatz der deutschen Sprache wäre. Alle drei Epigramme sind an Luther adressiert. Der sendet im ersten Epigramm Blitze und Donner vom Himmel. Diese Unwetter sind letztlich aber wirkungslos, weil die Tugend von Gott geschützt wird.313 Damit spricht Emser314 Luther grundsätzlich Tugend und Gottesfürchtigkeit ab, weil dieser sich zwar wie ein Gott im Himmel aufführe und Unwetter zu senden versuche, freilich ohne Wirkung - das mag als Anspielung auf Luthers Reaktion auf den Ablauf der Widerrufsfrist der päpstlichen Bannandrohung gemeint sein - realisiert durch die Verbrennung der Bannbulle und des Corpus Iuris Canonici durch Luther im Dezember 1520:315 Das vermeintliche Donnerwetter Luthers erweise sich bei näherer Betrachtung als wirkungslos gegen die christliche Tugend. Im zweiten Epigramm nennt Emser Luther einleitend nicht wie zuvor beim Namen, sondern er spricht provozierend von ,meinem Pseudo-Mönch', den er mit dem Teufel vergleicht. Denn selbst wenn sich beide nicht in allem gleichen, gewiß ist sich Emser, daß beide den Jupiter der Unterwelt, also deren Herrscher Pluto, zu einem höllischen Krieg reizen werden.316 Mit diesem Vergleich Luthers mit dem Teufel nimmt Emser den bereits erwähnten Vorwurf auf, der Reformator sei vom Teufel versucht. Gleichzeitig bereitet er damit das letzte Epigramm vor, das Emser einen ,Exorzismus', also einen Spruch zur Teufelsaustreibung nennt. Ziel dieser Beschwörung sei, daß Luther seinen Fehler erkenne, so verkündet es bereits der Titel. Damit ,verteufelt' Emser endgültig

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Ebd., S. 43:

IN LVTERVM TETRASTICHON HIERONYMI EMSER. Fulgurat hiberno Luter, atque tonitruat orbe: Atque ipsa longe saeuior est hieme. Quid miser insanis? quid inania fülmina torques? Non timet haec virtus, vindice tuta deo. In diesem Fall kann der Sprecher des Epigramms mit dem Autor Emser gleichgesetzt werden, die drei Epigramme erhalten gerade erst dann ihre polemische Schärfe, wenn Emser und nicht etwa ein anonymes „Ich" Luther anspricht, was Emser durch die Überschrift auch ausdrücklich einfordert. Zu den biographischen Anspielungen und zum von Luther vorgenommenen Wechsel des Namens in der katholischen Luther-Polemik vgl. Brückner: Luther als Gestalt der Sage, S. 280-284. Vgl. Brecht: Luther, Bd. 1, S. 403-406. Ebd., S. 43: IN EVNDEM. Pseudo meus monachus, solum hoc a demone distat: Quod quicquid vafer hic suggerit: ille facit. Hunc si docta dolos anus adiuuet, et colat astu: Audebunt stygio bella mouere Ioui.

88 und der Form nach Luthers bisheriges Schaffen. Dominiert wird das Epigramm von der alliterierenden Symploke „lutulente Luter" - nomen est omen.317 Dieser ,kotige, unreine Lut(h)er' wird aufgefordert zu erklären, was ihm keine Ruhe lasse, ihn geradezu toll mache. Außerdem ist Luther ein ,Zögling des Wittenbergs' (,mons furiosus'),318 womit Emser deutlich auf den Titel seiner Schrift Auff des Stieres tzu Wiettenberg wiettende replica rekurriert. Durch die wiederholte Aufforderung ,sag' verdeutlicht Emser außerdem, an wem es ist zu handeln, nämlich an Luther. Die Schlußpointe dieses Epigramms ist, daß die Heilung des Besessenen hier nicht durch den .Exorzisten', den Priester Emser, bewirkt werden kann. Heilen kann sich nur Luther, wenn er selbst bekennt.319 Wie im Anklagebrief setzt Emser am Ende seiner Schrift die eindringliche Aufforderung zum Widerruf. Er verleiht dem Nachdruck, indem die Mahnung zum Widerruf nun nicht nur der Geistliche, sondern auch der Humanist und ehemalige Lehrer einklagt. Doch daß der Einsatz der Epigramme im Streit mit Luther kaum eine wirksame Streittechnik ist, dürfte Emser vor Augen gestanden haben. Daher liegt die Vermutung nahe, daß es ihm um Demonstration seiner humanistischen Bildung im Kontrast zu Luthers deutscher Derbheit ging.

f.

Militia Christi im Dienste der reformatorischen

Agitation

Luther beabsichtigte wie in seinen bisherigen Schriften gegen Emser nicht, diesem nachzueifern. Vielmehr versuchte er bereits durch den Titel seiner neuen Schrift zu signalisieren, für wie überzogen und affektiert er Emsers Ausführungen hielt: Auff das vbirchristlich vbirgeystlich vnd vbirkunstlich buch Bocks Emßers zu Leypczick Antwort. Auf dem Titelblatt findet sich neben einem Hinweis, daß er in dieser Schrift zusätzlich Thomas Murner abfertigen werde eine Seltenheit,320 die Ausdruck der Geringschätzung für Murners Schrift ist - , die ironische Bitte: „Lieber Bock stoß mich nit."321 Prägnanter hätte Luther nicht darlegen können, wie wenig ihn Emsers bisherige Schriften berührten,

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Vgl.: Bernd Moeller, Karl Stackmann: Luder, Luther, Eleutherius. Erwägungen zu Luthers Namen. Göttingen 1981 (= Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen; Philologisch-Historische Klasse, 1981, 7). Vgl. dazu auch unten S. 275f. Ebd., S. 44: EXORCISMVS IN EVNDEM VT ERROREM SVVM AGNOSCAT. Die Lutulente Luter furiosi montis alumne Quae furia exagitet, te lutulente Luter? Die lutulente Luter, quae te mala vexet Erynnis? Quisve occecarit, te lutulente Luter? Die lutulente Luter, fassus si forte furorem Sanari poteris: die lutulente Luter. Doch findet sich dieses summarische Verfahren vereinzelt immer einmal wieder; vgl. unten S. 107ff. Martin Luther: Auff das vbirchristlich vbirgeystlich vnd vbirkunstlich buch Bocks Emßers zu Leypczick Antwortt. In: Enders (Hrsg.): Luther und Emser, Bd. 2, S. 45-127, hier S. 45; vgl. dazu Wolf: Luthers spielerischer Umgang.

89 zumal er durch die Ankündigung, auf Murners Schrift einzugehen, hervorhebt, wie wenig Gewicht er Emser allein beimaß. Wer erwartet hatte, wiederum eine Flugschrift im derben und aggressiven Stil der bisherigen Streitschriften Luthers in die Hände zu bekommen, der sah sich getäuscht. Luthers Antwort ist nicht die Reaktion auf Auff des Stieres tzu Wiettenberg wiettende replica, sondern die Erwiderung auf Emsers Erstling in diesem Streit, auf Wider das vnchristenliche buch Martini Luthers. Luther lag im März 1521 diese Schrift vollständig vor, und nun erst war es ihm möglich, darauf zu reagieren. Ende März hielt er bereits die ersten Drucke seiner neuen Schrift in den Händen, damit erst sollten die von Emser wiederholt eingeforderten Argumente und Bibelbelege Luthers publik werden.322 Dementsprechend ist Luthers neue Schrift weit umfangreicher als die bisher in diesem Streit veröffentlichten. 323 Auff das vbirchristlich vbirgeystlich vnd vbirkunstlich buch Bocks Emßers zu Leypczick Antwort ist keine homogene Schrift wie etwa Emsers Repliken. Vielmehr handelt es sich um sechs Traktate, die durch eine umfangreiche Vorrede eingeleitet und dadurch zusammengehalten werden; die Titel der Traktate lauten: „Von Emsers langen spieß", „Von dem pleyern degen Bocks Emßers", „Von dem Buchstaben vnd geyst", „Von der Papisten vnuleyß", „Von der ehlichen Priesterschafft" und abschließend „An den Murnarr".324 Die Titel der ersten beiden Traktate kündigen wie Luthers ironische Bitte auf dem Titelblatt seine Absicht an, sich ausfuhrlich mit der ,Waffenwahl' Emsers auseinanderzusetzen. Hatte Emser Luther zuvor gedroht: „Hut dich der bock stoszt dich", so hält dieser jenem nun ironisch-flehend entgegen: „Lieber Bock stoß mich nit." Bereits mit dieser inscriptio verhöhnt Luther Emser und zeigt, daß er sich vor den Angriffen Emsers und vor dessen Waffen nicht fürchte. Zu Beginn der Vorrede fuhrt er diese Strategie fort: Sihe, Bocks Emßer, bistu der man mit dem langen spieß vnnd kurtzen degenn, behutt gott fur gabelstichenn, die machen drey locher. Bocks Emßer, du bist myr eyn seltzam kriegsman, Sanct Paulus hatt [...] vier gotlich wapen beschrieben, eyn schwerd, eyn hellm, eyn pantzer, eyn schilt, der selben darfstu nit mehr den eynß, des schwerds, vnd weyl S. Paulus zu wenig geleret, besserstu den hämisch mit eynem langen spieß vnd kurtzen degen, vnd flux myr zu, mit blossem kopff, bloßer brüst, blossem bauch, alß wird ich nit mehr thun, denn für dyr kniend mich den nackten ritter stechen lassen, vnd sagen, gnad iuncker Bock, seyd vnß gnedig am leben. 325

An kaum einer anderen Stelle in diesem langen und zum Teil auch schwerfälligen Streit wird Luthers sprachliche Überlegenheit deutlicher als hier. Mit wenigen Worten gelingt es ihm, sich über Emser lustig zu machen und gleichzeitig dessen Argumente grundlegend in Frage zu stellen. Luther eröffnet diesen Ausschnitt mit der direkten Anrede, die die ironische Pointe in sich birgt, 322

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Zur Chronologie des Streites ausfuhrlicher in der Vorrede bei Enders (Hrsg): Luther und Emser, Bd. 2, S. IV-VI. 83 Seiten gegenüber den 6 Seiten von An den Bock zu Leyptzck jeweils in der Ausgabe von Enders. Auf den polemischen Traktat gegen Thomas Murner wird nicht näher eingegangen. Luther: Auff das vbirchristlich buch, S. 47.

90 daß er Emsers Spiel mit seinem Wappentier wörtlich nimmt, ihn selbst zum ,Bock' macht und ihn weiterhin als „Bocks Emßer" anspricht. Regelrecht deformiert werden Emsers Waffen. Aus seinem Spieß und Degen wird eine Gabel. Entblößt wird der Dresdener Priester selbst: Ein nackter Ritter wird abschließend dem Leser präsentiert. Emser wird von Luther zum Gespött gemacht. Doch die eigentliche Qualität dieser ironischen Einleitung macht das allein nicht aus. Entscheidend ist die theologische Dimension. Luther erschüttert mit wenigen Worten das gesamte theologische Fundament der Emserschen Metaphorik, das Schwert, Spieß und Degen bilden, wenn er Emser vorhält, daß dieser nicht mit den Waffen des miles christianus streite.326 Emser hat seine Waffenwahl ausfuhrlich erklärt, teilweise sogar inszeniert. Luther verfahrt nun ähnlich. Er stellt dar, wie er sich Stück fur Stück rüstet und am Ende als christlicher Ritter für die .Schlacht' bereit ist.327 Mit diesem Auftakt gelingt es Luther, mittels der miles-christianus-RWdWchketi sein Schriftprinzip als dem Evangelium gemäß zu präsentieren. Denn daß das Schwert die Heilige Schrift repräsentiert, ist bei Luther wie bei Emser unbestritten. Da im Epheser-Brief als einzige Angriffswaffe das Schwert genannt wird, von Spieß und Degen dagegen nicht die Rede ist, ist es für Luther ein leichtes, sein Schriftprinzip als christlich' im Gegensatz zum Traditionsprinzip Emsers und der alten Kirche zu 328

präsentieren. Mit dieser Vorrede hat Luther die Voraussetzung für die folgenden Traktate geschaffen, in denen er ausführlich die Argumentationskraft von Gewohnheit und Tradition bzw. Spieß und Degen bestreitet. Dabei deutet Luther wiederholt an, daß er der betonten Gelehrsamkeit von Emser durchaus gewachsen ist. Doch steht humanistisch-literarische Bildungsdemonstration nicht im Zentrum seiner Überlegungen. So führt er zur Argumentationskraft der ,Gewohnheit' aus: Und das ich dir newem philosopho auch etwas auß der philosophia furschlah, du sollst nit prius per posterius beweyßen et principium petere, ich ficht den priesterstand an, der ein vrsach vnd anheber geweßen ist dieser gewonheit, vnd nit widerumb, so antwortistu myr durch die gewonheit, das ist eben, als wenn ich Sprech, der rock sol schneyder, vnd der schuch sol schuster machen. 329

Auf die Demonstration humanistischer Bildung und gelehrter Überlegenheit durch Emser reagiert Luther mit lehrerhaften Ausführungen aus dem Philosophieunterricht und mit gleichzeitig beißendem Spott, wenn er Emser einen

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Erläuternd fahrt Luther: Auff das vbirchristlich buch, S. 47, fort: „S. Paulus aber ortert die wapen alßo, das er den hellm nennt eyn hellm des heylß, das pantzer odder krebß eyn pantzer der gerechtickeyt, den schilt eyn schilt des glaubens, der darff Emßer keyniß, hatt gnug am aller hayligsten vatter Bapst [...]." Ebd., S. 48: „Nu leg ich meynen hämisch an ynn gottis namen." Die weiteren Bestandteile der Rüstung folgen. Eine ausfuhrlichere Interpretation der Vorrede bei Stolt: Wortkampf, S. lOOff. Am Ende der Vorrede schildert Luther sein Verständnis der allgemeinen Priesterschaft der Gläubigen, dort nennt er alle wichtigen Ämter der Kirche und überprüft, ob sie dem Evangelium gemäß sind. Luther: Auff das vbirchristlich buch, S. 60.

91 ,neuen Philosophen' nennt. Kurz deutet er an, daß er durchaus auf akademischem Niveau antworten könnte. Durch die folgenden Sprichwörter macht Luther aber klar, daß es ihm gar nicht um eine Auseinandersetzung zwischen Gelehrten geht, ihn interessiert vielmehr eine anschauliche und verständliche Sprache. Luther will von möglichst vielen verstanden werden. Das ist einer der wesentlichen Unterschiede zwischen ihm und Emser. In den ersten drei Traktaten setzt Luther sich sachlicher und ausfuhrlicher als in der Vorrede mit den drei .Waffen' Emsers auseinander,330 wodurch sie zu einer umfangreichen Verteidigung des Schriftprinzips werden. Außerdem geht er auf Emsers Argumente ein, etwa wenn er sein Verständnis der Bedeutung der Kirchenväter ausfuhrt, um seine Differenzen zu Emsers theologischen Positionen zu verdeutlichen,331 oder wenn er ein Beispiel nennt, daß Emsers Unterscheidung zwischen wörtlichem und damit falschem und andererseits geistlichem und damit wahrem Schriftsinn nicht durchgehalten werden könne.332 Luther verzichtet nicht auf persönliche Angriffe gegen Emser, wie etwa im folgenden Beispiel, in dem er seine Erläuterungen zur unzulänglichen Unterscheidung zwischen wörtlichem und geistlichem Schriftsinn dadurch veranschaulicht, daß er Emser selbst zum Gegenstand des Beispiels macht: Viel vornunfftiger haben hie geyrret, die den buchstaben nennen, ein vorblümett [...] wort, wie Augustinus auch weyland gethan, als wenn ich Sprech, Emser ist ein grober Esell, vnd ein einfeltiger mensch den wortten folgett, vorstund das Emßer ein recht Esell were mit langen oren vnd vier fiissenn [...].' 333

Die eigentliche Pointe ist weniger, daß Luther zum wiederholten Mal Emser als Esel beschimpft und dies durch ein angebliches Beispiel,tarnt', wodurch er sich unangreifbar macht. Emser selbst hat in An den stier zu Uuietenberg ironisch auf Luthers Beschimpfung als Esel repliziert, er habe doch gar keine Esels-

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Im dritten Traktat „Von dem Buchstaben vnd geyst" führt Luther sein Verständnis der Heiligen Schrift, also des .Schwerts', näher aus. Emsers ,Waffenwahl' also bestimmt die Themenwahl der ersten drei Traktate. Ebd., S. 71: Luther erklärt, daß Emsers Aufwertung der Tradition dazu führe, „menschen wortten vnd leren" geistlich zu machen, was Sünde sei. Er begründet das folgendermaßen: „Denn ßo der spieß vnd degen ettwas anders sint, denn das schwerdt, vnd das schwerd gottis wort ist, wilchs allein ist die warheit, ßo muß der spieß vnd degen, menschen wort vnd lügen seyn. Denn was nit gottis wort ist, das ist erlogenn, [...]. Alle menschen seyn lugener [...]. Soll aber der degen seyn auch gottis wort, durch die vetter außlegung, Szo seynn es nit dreyerley wapen [Waffen], ßondern nur eynerley, nemlich das schwerdt, wilchs ynn allen dreyen stickt [...]." Ebd., S. 78f.: „Zum ersten, wenn yhr [der Papstanhänger] meynung recht were, das der geystlich synn lebendig macht, vnd der schriftliche todtet, ßo müsten wir bekennen, das alle sunder heylig, alle heyligen sunder weren. [...], das wollen wir ßo klar machen, das auch Emßer mit allen seynen lugenhafften krefften nit weren sol. Und nehmen fur vns auß S. Paulo Gal. 4.[21-31] Abraham der hett tzwen sünn [...], von zwo frawen [...], Das ist nach dem schrifftenlichen synn gesagt. [...] Widderumb, das Abraham sey Christus, die zwo frawen sein zwey testament, die tzween sün seyn zweyer testament volck, wie S. Paulus außlegt, das ist der geystliche synn [...]." Ebd., S. 83.

92 ohren.334 Darauf reagiert Luther, wenn er Emsers Ausspruch seinerseits wörtlich nimmt und nicht als Witz versteht, wodurch sein vordergründiges Beispiel erst zu einer ironischen Spitze wird, weil er Emser zu einem ,einfaltigen Menschen' abqualifiziert, der nicht in der Lage sei, einfachste Sprachbilder zu verstehen. Wie in den bisher veröffentlichten Streitschriften vernarrt Luther weiterhin Emser durch zahlreiche Wortspiele, die er mit dessen Wappentier treibt.335 Außerdem erwähnt er wiederholt seine Aggressionen, die die Reaktionen Emsers und anderer Anhänger des Papstes bei ihm auslösen: „wie offt soll ich euch groben vngelereten Papisten an schreyen, das yhr ein mall schlifft furett? Schrifft, Schrifft, Schrifft, höristu nit du tawber Bock vnd grober Esell."336 Durch die Anrede und durch das Wiederholen des Wortes „Schrifft", gesteigert durch die folgende Beschimpfung, erreicht Luther eine Unmittelbarkeit und Eindringlichkeit, die jeden Leser dessen wutentbranntes Schreien geradezu hören lassen, zumal wenn das laute Lesen und das Vorlesen als Möglichkeiten der Rezeption mit in Betracht gezogen werden. Wiederholungstechniken, wie an dieser Stelle exzerziert, sind dafür einschlägig.337 Damit lockert Luther den Text nicht nur auf und macht diesen abwechslungsreicher und unterhaltender als Emsers Repliken. Er paßt sich den Lesegewohnheiten an. Stellen etwa Emsers lateinische Epigramme fur deutschsprachige Leser einen unüberwindbaren und damit nicht verstehbaren Textabschnitt dar, so erreicht Luther das Gegenteil. Er legt dem (möglicherweise laut lesenden) Rezipienten seine Worte, seine Verzweiflung über das .verstockte Papsttum' gewissermaßen in den Mund und versucht auf diese Weise, die Sympathie des Lesers fur sich zu gewinnen. Luther buhlt um die Gunst des Lesers, während Emser durch theologische Argumente und komplexe Argumentationsfolgen das Publikum für sich zu gewinnen versucht. Am Ende des fünften Traktats, also am Ende seiner Erwiderungen auf Emser und vor dem Traktat gegen Murner, faßt Luther seine Ausfuhrungen provozierend zusammen: Das erst, das er [Emser] die schrifft fleugt wie der teuffeil das heylig creutz, [...]. Das ander, das er ßo vnchristlich, vnuorschampt, mutwillig leugt [...]. Das dritt, er bekennt frey, das ich nit widder die artickel des glaubens noch schrifft handel [...]. Das vierde, er bekennet, das sein dingk außer der schrifft, allein ynn menschen lere vnd gewonheit hange

t...]" 8 Radikaler hätte Luthers Schlußwort gegen Emser nicht ausfallen können. Luther stellt Emser als unchristlichen, geradezu teuflischen Menschen dar, dem es gewiß nicht um das Christentum geht. Das konnte Emser nicht unwidersprochen lassen. In der gesamten Schrift hält Luther sich nicht mit Beschimpfungen und

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Vgl. oben S. 78. Luther: Auff das vbirchristlich buch, S. 111: „Hui Bock sey tzornig und stoß mich ein mal, hol aber nit zu weyt auß, das du dich nit ablaufest." Ebd. Vgl. Kemper: Reformationszeit, S. 150. Luther: Auff das vbirchristlich buch, S. 117f.

93 Anreden zurück. Doch gerade in der Zusammenfassung nennt er Emser nicht beim Namen, er spricht von ihm nur noch in der 3. Person Singular, was besonders abschätzig wirkt. Durch Luthers Vorgehensweise, Emser mit mehreren Traktaten zu begegnen, gelingt es ihm ein weiteres Mal, nur ausgewählte Streitthemen zu behandeln. Dem auf vollständige Widerlegung abzielenden, disputatorischen Streitprinzip Emsers antwortet Luther mit deutlicher Selektion. Er geht das Risiko ein, daß Emser den Sieg für die nicht angesprochenen Argumente beansprucht. Doch wird dem in der Regel durch den Hinweis entgegengetreten, man könne jeder Zeit die nicht erwähnten Argumente widerlegen, wolle aus Rücksicht auf den Streitgegner jedoch darauf verzichten - ein Hinweis, der in zahlreichen Streitschriften der religiösen Polemik zu finden ist. Deswegen überwiegen die Vorteile von Luthers selektivem Streitprinzip: 1) Luther kann unliebsame Argumente und Vorwürfe unberücksichtigt lassen, quasi totschweigen. 2) Die für ihn besonders wichtigen Argumente und Streitpunkte werden betont. 3) Diese können außerdem viel ausfuhrlicher behandelt werden. 4) Zusätzliche Streitpunkte können einfacher eingeführt werden, wie im vorliegenden Fall mit dem Kapitel zu Murner geschehen. 5) Luthers Schrift kann ,Stück für Stück' gelesen werden, einzelne Traktate können nach Belieben übersprungen werden. Auch im Textaufbau nimmt Luther Rücksicht auf die Leser, er verlangt ihnen nicht wie Emser ab, lange Aufzählungen und Widerlegungen zu lesen. Luther setzt wenig voraus, er spielt gar mit dem Rezeptionsverhalten, wenn er den Lesern freistellt, ihn partiell nicht zu lesen - wohl nicht zuletzt deshalb wurde er gelesen.

g. Die Kapitulation vor dem derben Deutsch

Luthers

In der Einleitung zu Hieronymi Emsers Quadruplica auff Luters Jungst gethane antwurt, sein reformation belangend finden sich zahlreiche theologische Argumente und Streittechniken, die bereits aus anderen Schriften dieses Streits bekannt sind. Noch einmal belehrt Emser Luther, daß dessen spöttische und höhnische Äußerungen unchristlich seien und daß außerdem statthafte Argumente in seinen Schriften fehlten.339 Die Schilderung der Schmähungen und Beschimpfungen Luthers kontrastiert er durch die Nennung seines Antriebs, nämlich der falschen und unchristlichen Lehre Luthers zu begegnen.340 Weiterhin wirft er dem Reformator dessen unredliches Argumentieren vor,341 mit dem 339

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Hieronymus Emser: Quadruplica auff Luters Jungst gethane antwurt, sein reformation belangend. In: Enders (Hrsg.): Luther und Emser, Bd. 2, S. 129-183, S. 130: „Lieber bruder, Solieh spotisch vnd honische teding leret dich deyn Christus nicht, der allen spottern gram ist [...]." Ebd.: Zum Übelnachreden und Schmähen „bin ich nit [...] mit dir auff die ban komen, das ich dir wunden hawen, oder locher in die hawt machen woll, sonder yn deyn falsche 1er." Ebd., S. 132: Du [Luther] „tzupfest vnd rupfest itzo hinden itzo fornen ein stuckleyn von meynem buch, wie man auff Scharmützeln, vnnd nicht in redlichen kriegen handelt [...]."

94 dieser auf sein „disputirenn" geantwortet habe.342 Beschimpfungen, Unredlichkeit, Unchristlichkeit - die Vorwürfe Emsers sind bekannt, wirklich Neues bietet Emser nicht auf, der Streit dreht sich zunehmend im Kreis. Ähnliches kann fur die Textstruktur festgehalten werden. Auf jeden 343 der Traktate Luthers in Auff das vbirchristlich vbirgeystlich vnd vbirkunstlich buch Bocks Emßers zu Leypczick Antwort repliziert Emser detailliert und präzise. Wiederum läßt sich Emser auf die Vorgaben Luthers ein, ohne ihn dadurch in die Enge zu treiben, wie es ihm durch den Anklagebrief An den stier gelungen ist. Stur arbeitet sich Emser an Luthers Schrift ab. Dabei versucht er, seine Schrift durch Scherze344 aufzulockern. Doch steht er in Witzigkeit und Ideenreichtum Luther nach. Selbst im vielleicht stärksten Traktat „Von dem Priesterthumb", mit dem er auf Luthers Einleitung repliziert, vermag Emser nur bedingt zu überzeugen. Emser greift auf eine Streittechnik zurück, den Streit durch gezielten Einsatz von szenischen Momenten zu veranschaulichen. Er vergleicht den Streit mit Luther mit einem Ritterturnier, an dessen Ende die alten Ritter das Urteil über den Sieger zu sprechen haben.345 Darauf folgt mit dem Auftritt der acht,Ritter' die eigentliche Inszenierung der Urteilsfindung. Einzeln ruft Emser einen jeden einleitend auf, „Tritt herfur", und nennt jeden mit seinem ,Titel': „Tritt herfur, du vnuberwintlicher Held vnd alter lerer der Christenlichen kirchen, heyliger vater Augustine [...]." 346 Auf den Auftritt folgt der Urteilsspruch', jeweils ein Zitat, das Emsers Verständnis des Priestertums stützt. Am Ende urteilen die ,Ritter' Petrus, Paulus und Christus selbst; sie alle bestätigen Emser, so daß dieser als Sieger aus dem Streit hervorgehen soll. Emser verwischt die Grenzen zwischen Argumentation und Beurteilung. Für sich genommen sind die Zitate der acht ,Ritter' lediglich Argumente, mit denen Emser das katholische Verständnis des Priestertums stützt. Ob diese Argumente überzeugen, liegt in den Händen des Publikums, wenn man davon ausgeht, daß das Publikum die eigentliche richterliche Instanz ist, was Emser selbst an anderer Stelle postuliert hat.347 Durch den inszenierten Auftritt der Kirchenväter, der Apostel und Christi entmündigt Emser das Publikum jedoch gleichzeitig; er drängt es geradezu vom Richterstuhl, indem er das Urteil vorwegnimmt und den Sieg über Luther rekla-

Emsers Rekurs auf geordnete Schlachten und ermüdende Scharmützel können dabei als ein letzter Versuch verstanden werden, Luthers Vorgehen im Streit grundsätzlich anzugreifen - indirekt gesteht Emser bereits den Erfolg Luthers, nämlich seine eigene Ermüdung ein. 342 Ebd. 343 Emser verzichtet auf eine stellvertretende Replik in Murners Namen. 344 Ebd., S. 137: „Das beyst nu den monch so hart in die nasen, das er tzeter vber mich schreyet." 345 Ebd., S. 138: „Aber gleych eym Thornier, so tzwen mit einander tzwispeltig, wolcher gewunnen oder verloren hab, die Eltischten Ritter dartzu beruffen werden, denn auß spruch tzu thon, Wolcher schyd vnd erkentnis sie sich halten müssen, Also dieweil wir tzwen, vns vmb den rechten vorstand der schrifft dis orts tzencken vnd tzweyen, müssen wir das vrteil nit selber feilen oder außsprechen, sonder den liben alten vetem als den Eltisten rittern, houptleuten, fundament vnd sewlen der Christenheit tzu erkennen heym setzen." 34 « Ebd., S. 139. 347 Vgl. oben S. S. 70, 78f.

95 miert. Dieses Auflisten der richtenden Ritter erinnert in seinem Reihencharakter an einfache Fastnachtspiele und religionspolemische Dramen, in denen, wie im Totenfresser des Pamphilus Gengenbach - dort in abfallender Kirchenhierarchie, angefangen mit dem Papst - , Figuren die Bühne betreten, einen Monolog sprechen und abtreten.348 Doch anstatt es bei dieser Szene zu belassen, fuhrt er seine Argumentation über mehrere Seiten fort. Emser vertraut letztlich nicht auf den Eindruck beim Publikum, sondern auf Anzahl und Ausführlichkeit der Argumente. Das ist redlich, aber auch ermüdend, vor allem zielt ein solches Vorgehen auf eine andere Leserschaft als Luthers Streitschriften. Das zeigt sich auch, wenn Emser in der Quadruplica seine humanistischtheologische Bildung wiederholt demonstriert.349 In diesem Kontext ist bemerkenswert, daß Emser erstmals in diesem Streit erwähnt, er sei in Erfurt Luthers Lehrer gewesen: „Ich will Lutern raten, er gehe tzu Emßerm noch einn weyle in die schul, wie er vor sechs tzehen yarnn ouch meyn schuler gewest, vnd tzu Erfurt die comedien Sergium Ioannis reuclin orstlich von mir gehört [.,.]." 350 Entscheidend ist Emsers Versuch, Luther abermals als Schüler darzustellen, wodurch er dessen Autorität als Theologieprofessor zu schwächen beabsichtigt. Vor dem Hintergrund von Luthers knapper Spitze gegen den ,neuen Philosophen' Emser, der die Regeln der Logik nicht beherrsche,351 muß Emsers Vorwurf blaß bleiben. Denn wegen des penetranten Wiederholens dieses Vorwurfs in den einzelnen Schriften überzeugt Emser nicht mehr, unabhängig von der Richtigkeit der Anekdote.352 Abschließend erklärt Emser, er werde hinfurt, nicht mher tewtsch, sonder Lateynisch wider den monch tzuschreyben, Damit die außlendischen Nation auch sehen vnnd hören, Das wir tewtschen noch nicht all vorm dem glouben gefallen, oder vns den monch verfuren lassen, sonder das ouch etzlich auß vns tewtschen vns wider yn auffgeleynt, vnnd seyn ketzerische bucher widerfochten haben.353

Wie wenig Emser die deutsche Sprache als Disputations- und Streitsprache schätzt, hat sich bereits wiederholt angedeutet, so daß diese Ankündigung am Ende der Schrift wenig überraschend ist. Bemerkenswert ist die Argumentation Emsers für das Lateinische. Er möchte ausländischen Nationen' vor Augen fuhren, daß nicht das gesamte Deutschland hinter der reformatorischen Bewe-

348

Pamphilus Gengenbach: Die Totenfresser. In: Das Drama der Reformationszeit. Hrsg. von R. Froning. Stuttgart 1894 (= Deutsche National-Litteratur, 22), S. 1-10; zum Reihenspiel vgl. unten S.281ff. 349 Emser: Quadruplica, S. 157: „Es haben aber die aller gelertisten der werlt, vnnd auß den yetzlebenden Doctor Reuchlin in Schwaben, Eraßmus von Rotterdam in Holland, vnd Faber Stapulensis in Frankreych, der heyligen alten veter bucher nicht fur narrenwerck, sonder so erwirdig gehalten, Das vns Reuchlin Athanasium, Eraßmus Jeronymum, vnd Stapulensis Dionysium [...] orst recht außgestrichen vnd tzu lesen in die hend gegeben haben, wolchen ich vor meyn person vmb ir getrewe mhue vnd arbeit vleyssigen danck sag." 350 Ebd., S. 179. 351 352 353

Vgl. oben S. 90. Vgl. Brecht: Luther, Bd. 1, S. 51. Emser: Quadruplica, S. 183.

96 gung Luthers stehe. Emser argumentiert also nicht damit, daß Latein die Verkehrssprache der Theologen ist und daß es dementsprechend üblich wäre, darin zu streiten. Diese Ankündigung kommt einem Eingeständnis gleich, daß er es nicht vermocht hat, Luther beizukommen. Die Leser von Luthers Schriften und damit die potentiellen Träger reformatorischen Gedankenguts verliert er mit dieser Ankündigung, an die er sich nicht halten wird,354 endgültig aus seinem Blickfeld. Das muß wegen der herausragenden Stellung am Ende der Schrift schon als Kapitulation Emsers vor der reformatorischen Sprachgewalt Luthers gewertet werden, zumal Emser eben nicht theologische, sondern allgemeine Gründe gegen Luthers Deutsch anfuhrt. Inzwischen auf die Wartburg .entfuhrt', erhielt Luther die Quadruplica zu Beginn des Monats Juli. Er sah sich zunächst nicht mehr veranlaßt, noch einmal auf Emser zu antworten. Doch im Verlauf des Sommers beschloß Luther, seinen Triumph über Emser mittels Eyn widderspruch D. Luthersz seynis yrthumbsz erczwungen durch den aller hochgelertisten priester gottis Herrn Hieronymo Emser, Vicarien tzu Meyssen auszukosten.355 In dieser Schrift treibt Luther die Verspottung Emsers auf die Spitze, indem er ein fiktives Eingeständnis des Sieges Emsers in Form eines Bekenntnisses verfaßt: Ich Martin Luther bekenn, das ich eyntrechtlich mitt dem hochgelerten herrn vnd gottis priester Herr Hierony. Emser hallte vnd stymme, das der Spruch S. Petri nit alleyn von der geystlichen, odder das ichs auffs klerlichst sag, von aller priesterschaffl, die in der Christenheit ist, zuuorstehen sey, das rede ich auß gantzem ernst, Denn ich hab yn der warhheit zuuor die sach nit recht angesehen. Nu hoff ich, Luther sey nit mehr ein ketzer, vnd hab mich mit Emsern gar voreynigt.356

Luther folgt formal dem Muster des Bekenntnisses, indem er ausdrücklich von sich spricht und Inhalt und Ziel seiner Äußerung mittels einer Obilgationsformel benennt. Er lobt Emser und wiederholt den theologischen Kern des zentralen Streitpunkts. Noch einmal stellt Luther die Frage nach der Priesterschaft aller Gläubigen in den Mittelpunkt der Kontroverse, und er behauptet, daß er in dieser grundlegenden Frage Emser zustimme. Er formuliert sein Eingeständnis offenkundig doppeldeutig. Sein Bekenntnis behält auch und gerade unter den lutherischen Vorzeichen der allgemeinen Priesterschaft aller Gläubigen seine Gültigkeit. Begleitet wird dieses ironische Bekenntnis von Luther durch zahlreiche Verspottungen. Bereits im Titel wird dies durch den Superlativ „aller hochgelertisten" deutlich. Häufig nennt Luther Emser höhnisch „trefflich man" bzw. beschreibt Emsers Ausführungen als „treflich".357 Emsers Motivation, mit Luther über die Priesterschaft zu streiten, umschreibt dieser mit der Angst

354 355 356

357

Vgl. S. 97f. Vgl. dazu die Vorrede in Enders (Hrsg.): Luther und Emser, Bd. 2, S. IXf. Martin Luther: Eyn widderspruch D. Luthersz seynis yrthumbsz erczwungen durch den aller hochgelertisten priester gottis Herrn Hieronymo Emser, Vicarien tzu Meyssen. In: Enders (Hrsg.): Luther und Emser, Bd. 2, S. 185-195, S. 190. Ebd., S. 187 u.ö.

97 Emsers, der „kuchen [würde] kallt vnd der keller gar leher werdenn", 358 also der Angst, die Pfründe zu verlieren. Bösartig unterstellt Luther dem Priester persönliche Motive, was im Kontrast zu Emsers eigenem Bekunden steht, er streite wegen der Liebe zu Gott und der Sorge um die Seelen der Laien mit dem Reformator. Luther nutzt diese Flugschrift nach seinem ,Bekenntnis', um sein Konzept der Priesterschaft aller Gläubigen zu verteidigen und um Emser zu verspotten. Neue Argumente oder Vorwürfe nennt er nicht. Eyn Widderspruch ist durch den bösartigen Witz der Unterstellungen und durch das ironische .Bekenntnis' unterhaltsam. Ein letztes Mal wird die schriftstellerische Überlegenheit des Reformators deutlich. Seine stärkste Publikation in diesem Streit ist Eyn Widderspruch nicht. Nicht mehr in deutscher Sprache zu streiten - das hat Emser in der Quadruplica angekündigt, doch nicht nur der Titel Emsers bedingung auf Luters ersten Widerspruch ist in der Sprache des Volkes gehalten. Gewiß, die als Argumente dienenden Bibelzitate dieser Schrift fuhrt Emser im Latein der Vulgata an, ohne sie zu übersetzen. Doch ist das nichts Neues. So ist er bereits in Wider das vnchristenliche buch Martini Luthers, seinem Erstling in diesem Streit, verfahren, selbst wenn nun die angeführten Belege länger sind als in den anderen Schriften, Emser noch weniger Rücksicht auf die Lateinkenntnisse seiner Leserschaft nimmt als bisher. Ohne Umschweife und ohne Eingangsformel eröffnet Emser die Schrift und erklärt sich bereit, Luthers Widerspruch als „ein bekentnis vnd vberwindung" 359 anzunehmen. Es ist Emser nicht verborgen geblieben, daß Luthers ,Bekenntnis' eine Verspottung seiner Person ist.360 Doch wiederum läßt sich Emser nicht auf den Stil des Reformators ein. Vielmehr begegnet er ihm mit ostentativer Sachlichkeit, kaum einmal finden sich kleine ironische Spitzen gegen Luther. Neben den Ausführungen Luthers zum allgemeinen Priestertum der Gläubigen widerspricht Emser dem Vorwurf Luthers, nicht wegen des Glaubens, sondern aus egoistischen Gründen zu streiten, weil er befürchte, seine Pfründe zu verlieren. Daß dem ganz gewiß nicht so sei, versucht Emser mit dem Hinweis zu belegen, er schreibe bereits seit über zwei Jahren auf eigene Kosten gegen Luther. 361 Emser wirbt ein letztes Mal mit Argumenten für seine Sache. Emsers bedingung wäre damit ein ganz gewöhnlicher polemischer Traktat, fänden sich am Anfang und Ende der Schrift nicht Hinweise, daß es Emser mit dieser Schrift neben all der Argumentation noch um etwas ganz anderes geht. Zu Beginn äußert Emser ein eigentümliches Befremden darüber, daß er nicht wisse, „in wolches loch" sich Luther „verkrochen" 362 habe. Die Schrift abschließ e Ebd. Ebd., S. 199. 360 Anders Brecht: Luther, Bd. 1, S. 361. Vielmehr erklärt Emser, Luther sei ein „honyscher spotyscher monch"; so Hieronymus Emser: Emsers bedingung auf Luters orsten Widerspruch. In: Enders (Hrsg.): Luther und Emser, Bd. 2, S. 197-221, S. 199. 361 Ebd., S. 201f. 362 Ebd., S. 200.

98 Bend, zählt Emser eine große Anzahl an Gelehrten und Geistlichen auf, die alle Luther widersprächen und bereit seien, „die Keyserliche acht tzu hilff [zu] nhemen, vnnd den Ketzer [...] auß dem land [zu] iagen [...]."363 Emser fordert zu entschlossenem Handeln gegen Luther auf, was ein deutliches Zeichen am Ende dieses langen Streites ist: Er erklärt die Zeit des Disputierens und Streitens für beendet. Gleichzeitig psychologisiert Emser den Konflikt. Durch den Hinweis auf Luthers ,Loch' und die Auflistung der vielen Gegner Luthers in aller Welt demonstriert er die physische wie intellektuelle Einsamkeit auf der Wartburg. Dieser Hinweis muß zusätzlich als Drohung gegen Sympathisanten Luthers gewertet werden. Das dürfte der eigentliche Anlaß dafür sein, daß Emser noch einmal zur Feder griff. Mit einer weiteren Replik gegen Luther konnte er sicherstellen, zahlreiche Freunde des Reformators zu erreichen, was ihm sonst nicht mit Gewißheit gegönnt gewesen sein dürfte.364 Wegen des Verschwindens Luthers, des päpstlichen Banns und der kaiserlichen Acht konnte Emser im Herbst 1521 auf eine Verunsicherung der Sympathisanten und damit auf einen Triumph über Luther hoffen. Doch statt einer weiteren Antwort aus dem Exil, gar im von Emser erwünschten Latein, bereitete Luther auf der Wartburg seinen Triumph vor. Er hatte sich an eine weit größere Herausforderung gemacht, an die Übersetzung des Neuen Testaments die erneut den Widerspruch Emsers provozieren sollte.366 Dieser Streit endet damit einerseits sehr gewöhnlich: Längst dreht sich die Kontroverse im Kreis, die Argumente und Vorwürfe wiederholen sich, und einer der Kontrahenten kommt anderen Verpflichtungen nach; Luther mangelt es an Zeit und möglicherweise an Lust, ein weiteres Mal zu replizieren. Im Einzelfall bleibt nur die Mutmaßung. Andererseits setzt Emser in der Tat einen Schlußpunkt. Mit seinem Appell, Luther zu verfolgen, hat er, der so lange auf Argumente gesetzt hat, einen gänzlich neuen Anlauf genommen, Luther zum Schweigen zu bringen. Er setzt nicht mehr auf Bibelworte, sondern auf den starken Arm der Obrigkeit, auf die fürstliche Vollstreckung des kirchlichen Banns, um Luther .mundtot' zu machen.

h. Der Triumph flexibler Streittechniken und -fiihrung über Disputatorik und den Ketzervorwurf Ein wenig erinnert Emser an den Hasen, dem es im Rennen nicht gelingt, den Igel zu überrunden, wohl nicht zuletzt weil der Igel den Hasen hereinlegt und seine Frau, als Igel-Männchen verkleidet, ihrem Mann maßgeblich hilft. Emser 3 « Ebd., S. 221. 364 Vgl. Moeller: Kommunikationsprozeß, S. 159-161. 365 v g l . Martin Brecht: Martin Luther. Bd. 2: Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521-1532. Stuttgart 1985, S. 53-63. 366 Hermann Gelhaus: Der Streit um Luthers Bibelverdeutschung im 16. und 17. Jahrhundert. Mit einer Identifizierung Friedrich Traubs. Tübingen 1989 (= Reihe Germanistische Linguistik, 89), 1. Tl., S. 23-56.

99 fordert mit seiner Schrift Wider das vnchristliche buch Martini Luthers den Wittenberger Theologen zu einem Wettstreit zwischen gleichberechtigten Kontrahenten heraus. Doch auf eine schriftliche Disputation, wie sie Emser mit seiner ersten Schrift vorbereitet, läßt sich Luther nicht ein. Keine seiner Schriften in diesem Streit kommt den akademischen Gepflogenheiten der scholastischen Disputation entgegen. Vielmehr greift Luther auf unterschiedliche Gattungen zurück, um Emser zu begegnen (Brief, Traktat, Replik), zu einer Disputation setzt er aber nicht einmal an. Deswegen vermag es Emser nicht, Luther zu fassen. Er wirft Luther unredliches Verhalten vor, er hält ihm dessen Beschimpfungen vor, er fordert Erwiderungen auf seine Argumente. Doch Luther reagiert auf all dies kaum. Er hat sich bereits zu neuen Vorwürfen gegen Emser und das Papsttum aufgemacht und läßt dadurch Emser immer wieder ins Leere laufen. Luther diktiert den Streitverlauf. Das wird besonders durch An den Bock zu Leyptzck und Auff das vhirchristlich vbirgeystlich vnd vbirkunstlich buch Bocks Emßers zu Leypczick Antwort deutlich. Luther verzichtet in seiner ersten Schrift gegen Emser fast völlig auf Argumente und greift ihn statt dessen mit Beschimpfungen und Injurien an. Dadurch emotionalisiert er den gesamten Konflikt auf das Äußerste. Als der Streitschriftenwechsel im vollen Gange ist, veröffentlicht Luther die umfangreiche Antwort. Mit einem Mal ist es Luther, der argumentiert und zur Sachlichkeit zurückkehrt. Emser reagiert auf all dies immer nur, was besonders beim Blick auf die gewählten Gattungen deutlich wird. Immer ist es Luther, der mit überraschenden Wechseln den Streitverlauf bestimmt. Emser folgt den Gattungsvorgaben regelmäßig. Er bleibt bis zuletzt der Hase, dem Luther mit einem gewitzten „Ich bin schon da" begegnet. Luther dominiert durch dieses Vorgehen nicht nur den Verlauf, sondern auch die Themenwahl. Emser setzt sich zu Beginn des Streites mit einer großen Anzahl an Kontroverspunkten auseinander. Selbstbewußt erklärt Luther dagegen in seinem Widderspruch, also seiner letzten Schrift dieses Streites: „ES ist sonder tzweyffel menniglich bewust vnnd offenbar, wie das zwisschen myr Martino Luther und [...] Hieronymo Emßer, eyn hartter streyt sich erhaben vbir disem Spruch S. Petri. Yhr seyd ein Kuniglich priesterthum,"367 Luther hat aus dem Streit um seine Adelsschrift durch sein selektives Streitprinzip und durch seine zahlreichen Gattungswechsel einen Streit um das Priesteramt gemacht. Das hat weitreichende Konsequenzen. Zunächst hat die von Luther provozierte Konzentration auf einen Streitpunkt gegen Ende des Streites eine Konzentration der Argumente in Anzahl und Qualität zur Folge, das zeigt etwa der Auftritt der .richtenden christlichen Ritter' bei Emser. Erst die Konzentration auf einen Streitpunkt gibt ihm die Gelegenheit, derart ausfuhrlich Väter- und Bibelbelege aufzulisten. Luther argumentiert ebenfalls ausführlich. Er nutzt zusätzlich diesen einen Streitpunkt zur Polemik gegen das Papsttum, indem er die institutionalisierte Priesterschaft als pars pro toto nimmt, um gegen den Egoismus in der Kirche zu schimpfen. Man denke etwa an seinen Vorwurf, Emser gehe es lediglich um die Sicherung seiner Pfründe.

367

Luther: Eyn widderspruch, S. 187.

100 Durch den Themenwechsel vollzieht Luther außerdem eine ..Richtigstellung' der Anklageverhältnisse aus seiner Sicht bzw. deren Umkehrung aus Emsers Perspektive. Daß Emser sich selbst in der Rolle des Anklägers sieht, ist mehrfach dargestellt worden. Er klagte Luthers Adelsschrift wegen deren ketzerischen Thesen an. Doch anstatt sich zu verteidigen und die von Emser aufgedrängte Rolle als Angeklagter zu übernehmen, greift Luther die Fundamente des Priestertums der altgläubigen Kirche an und erklärt diese für nicht dem Evangelium gemäß. Dadurch wird die Kirche und ihr Repräsentant in diesem Streit, Hieronymus Emser, angeklagt. Auf diese Weise stellt Luther die gleiche Anklagesituation her, die vor Emsers Intervention, also seit dem Erscheinen der Adelsschrift, bestand. Emser greift immer wieder Luther an, indem er ihn der Ketzerei beschuldigt, ihm gar den Bannprozeß in An den stier zu Uuiettenberg macht und zuletzt triumphierend auf Luthers Verschwinden ins wartburgische ,Loch' hinweist, auf dessen Flucht vor dem langen Arm von Papst und Kaiser. Damit rekurriert Emser auf die politische Wirklichkeit und versucht, Luther und seine Anhänger einzuschüchtern. Denn er demonstriert drohende Konsequenzen für jeden, der sich Luther anschließt. Berücksichtigt man weiterhin, daß Emser mit Ausnahme der kurzen Schrift An den stier zu Uuiettenberg für gebildetere Leser schreibt als Luther, so müssen die Streitschriften Emsers in dieser Kontroverse als versteckte Drohungen gegen mögliche Sympathisanten Luthers bewertet werden. Emser nutzt diesen Konflikt weniger zur Überzeugung seiner Leserschaft, sondern vielmehr zur versteckten Einschüchterung. Das stellt in letzter Konsequenz die Funktion des so aufklärerisch anmutenden Postulats vom .richtenden Publikum' in Frage, das - es wurde bereits daraufhingewiesen 368 - sowieso ein Tribut an rhetorische Vorbilder aus der Gerichtsrede und an die Disputation und nicht etwa letztendliche Einbeziehung der Leser in die Urteilsbildung ist. In kaum einem anderen Streit thematisiert einer der Kontrahenten so ausführlich seine Rolle wie Hieronymus Emser. Er inszeniert die ,Waffenwahl', um darauf im folgenden wiederholt zurückzugreifen, obwohl Luther die ,Waffen' mit Ausnahme des ,Schwerts', der Heiligen Schrift, nicht akzeptiert und sich zusätzlich über den .nackten Ritter' lustig macht. Emser irritiert dies nicht, vielmehr beendet er den nach dem Muster des Reihenspiels inszenierten , Schaukampf mit dem Urteil der alten Ritter. Damit wird gegen Ende des langen Streites noch einmal deutlich, wie wenig es Emser darum geht, seine Leser zu überzeugen. Das Urteil wird gesprochen, der Leser ist Empfanger, nicht aber kritische Instanz. Deswegen fallt es Emser nicht schwer, drohend gegen Luther und dessen Anhänger vorzugehen. Die theologischen Argumente gegen den ,Ketzer' liefert Emser in diesem Streit, den politischen Handlungsauftrag erteilt bereits zuvor die Bannbulle. Luther dagegen versucht immer wieder von neuem, die Leser für sich zu gewinnen. In beinahe allen Schriften finden sich Hinweise, wie sehr er auf die

368

Vgl. oben S. 59f.

101 Leser eingeht.369 Durch die unzähligen Beschimpfungen gegen Emser und die Witze über diesen sorgt er für große Leseanreize. Das ist Luthers eigentliche Leistung, theologische Argumentation mit Verständlichkeit, Anschaulichkeit und Witz zu verknüpfen, um Leser zu überzeugen und zu gewinnen. Für Luther ist Hieronymus Emser als Gegner dabei von großer Bedeutung. Er verkörpert in Luthers Polemiken all die Übel, die Luther dem römischen Klerus und allen voran dem Papst vorwirft. Emser ist für Luther kein Streitgegner. Emser ist Luthers lebender Beweis für die anhaltende Gültigkeit der Adelsschrift.

3. Der Streit zwischen Friedrich Staphylus und Jacob Andreae: Annäherung des Deutschen an das Lateinische in der Religionspolemik a. Die Konversion von Friedrich Staphylus: eine Niederlage fiihrender Lutheraner Nicht wenige der ersten Gegner Luthers waren zwischenzeitlich Sympathisanten der reformatorischen Sache. Das gilt für den Laien Caspar Querhammer ebenso wie für Johannes Cochlaeus oder - freilich nur zur Zeit der Thesen Hieronymus Emser.370 Doch sind sie deswegen nicht zu den Konvertiten des 16. Jahrhunderts zu zählen.371 Schwieriger verhält es sich mit Männern wie Georg Witzel oder Theobald Thamer. Beide gehören zunächst dem reformatorischen Lager an und wechseln in das andere, stehen dementsprechend nicht nur der reformatorischen Lehre aufgeschlossen gegenüber, wie Querhammer und Cochlaeus, sondern bekennen sich ausdrücklich dazu. Wegen des erfolgten ,äußeren kirchlichen Lagerwechsels' gilt Georg Witzel als erster Konvertit.372 Doch hat Ute Mennecke-Haustein darauf hingewiesen, daß sich der theologische Standort Witzeis damit keineswegs verändert habe. Sie hält einen

369

Vgl. etwa oben S. 67f. mit Anm. 200. 370 Vgl. oben S. 50ff., S. 68ff. 371 Der Begriff .Konvertit' ist erst seit dem späten 18. Jahrhundert gebräuchlich. Im konfessionellen Zeitalter sprach man in der Regel von ,apostata' bzw. vom Wiedergekehrten', der mittelalterlichen Begrifflichkeit für den Ketzerabfall bzw. die Ketzerbekehrung folgend; vgl. Ute Mennecke-Haustein: Konversionen. In: Die katholische Konfessionalisierung. Wissenschaftliches Symposion der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicorum und des Vereins für Reformationsgeschichte. Hrsg. von Wolfgang Reinhard, Heinz Schilling. Münster 1995 (= Reformationshistorische Studien und Texte, 135), S. 242-257, zur Begrifflichkeit bes. S. 244f.; Fidel Rädle: Konversion. Zur Einführung. In: Konversionen im Mittelalter und in der Frühneuzeit. Hrsg. von Friedrich Niewöhner, Fidel Rädle. Hildesheim, Zürich, New York 1999 (= Hildesheimer Forschungen, 1), S. 1-3; Ute Mennecke-Haustein: Die Konversion des Friedrich Staphylus (1512-1564) zum Katholizismus, eine .conversio'? In: ebd., S. 71-84. Grundlegend erneut Ute MenneckeHaustein: Conversio ad Ecclesiam. Der Weg des Friedrich Staphylus zurück zur vortridentinischen Kirche. Gütersloh 2003 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, 74), S. 15-38. 372

Mennecke-Haustein: Konversionen, S. 248.

102 Wandel der individuellen theologischen Position für einen ebenso wesentlichen Faktor für den Prozeß der Konversion wie den ,äußeren Lagerwechsel'. Von der Schwierigkeit, beides präzise und nachgerade ,pur' darstellen zu können, einmal abgesehen - beides, den inneren wie den äußeren Wechsel, findet sie bei Friedrich Staphylus vor, so daß sie vorschlägt, diesen statt Witzel zum ersten Konvertiten zu erklären. Unabhängig von der Frage, wer denn nun der erste Konvertit war,373 verdient die Erforschung des Schrifttums von Friedrich Staphylus und der Streitigkeiten darum zweifellos Aufmerksamkeit. Er war nicht nur ein Polemiker, der nach seiner Konversion engagiert seine neue theologische Position vertreten hat. Mit Hilfe des Streites zwischen Staphylus und Jacob Andreae wird außerdem deutlich, daß seit der Mitte des 16. Jahrhunderts die Distanz zwischen dem Deutschen und dem Lateinischen als Sprache der religionspolemischen Auseinandersetzung geringer wird - zumal auf katholischer Seite. Friedrich Staphylus (1512-1564), eigentlich Stapellage, war nach der Geburt in Osnabrück früh verwaist und in die Obhut seines Onkels in Danzig gegeben worden.374 Nach dem Studium in Krakau und Padua ging er 1536 nach Wittenberg, wo er von Melanchthon375 protegiert wurde und neben anderen Andreas Musculus kennenlernte.376 Hier wurde er 1541 zum Magister der Freien Künste promoviert. In den folgenden Jahren unterrichtete er in Wittenberg. Auf Empfehlung Melanchthons wurde er 1546 auf eine Theologieprofessur in Königsberg berufen. Dort geriet er zunächst in eine Auseinandersetzung mit dem Humanisten und Dramatiker Gnapheus,377 in deren Folge dieser auf Betreiben von Staphylus durch das lutherische Kirchenregiment einem förmlichen Exkommunikationsverfahren unterzogen wurde, dem ersten in der 373

Mennecke-Hausteins Forderung nach ,innerem und äußerem theologischen Wandel' als notwendiges Kriterium der Konversion wird sich im Einzelfall nicht durchhalten lassen, weil in der Regel nicht derart detaillierte Kenntnisse von der theologischen Anschauung jedes Konvertiten vorliegen wie im Fall von Friedrich Staphylus. Außerdem wird man dieses theologische Kriterium kaum für die zahlreichen deutschen Konvertiten im Umkreis der Kurie im 17. Jahrhundert geltend machen können, vgl. dazu: Markus Völkel: Individuelle Konversion und die Rolle der „Famiglia". Lukas Holstenius und die deutschen Konvertiten im Umkreis der Kurie. In: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 67 (1987), S. 221-282.

374

Zur Einfuhrung in die Biographie vgl. Mennecke-Haustein: Staphylus, S. 72f.; dies.: Conversio ad Ecclesiam, S. 45-212; Johannes Soffher: Friedrich Staphylus. Ein katholischer Kontroversist und Apologet aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, gest. 1564. Breslau 1904. Ute Mennecke-Haustein: Friedrich Staphylus (1512-1564). Von Wittenberg nach Ingolstadt. In: Melanchthon in seinen Schülern. Hrsg. von Heinz Scheible. Wiesbaden 1997 (= Wolfenbütteler Forschungen, 73), S. 4 0 5 ^ 2 6 . Christian Wilhelm Spieker: Lebensgeschichte des Andreas Musculus. Ein Beitrag zur Reformations- und Sittengeschichte des 16. Jahrhunderts. Nieuwkoop 1964 [zuerst 1857], S. 39. Vgl. Soffner: Staphylus, S. 7 - 9 , sowie Fidel Rädle: Zum dramatischen Schaffen des Gulielmus Gnapheus im preußischen Exil. In: Humanismus im Norden. Frühneuzeitliche Rezeption antiker Kultur und Literatur an Nord- und Ostsee. Hrsg. von Thomas Haye. Amsterdam 1999 (= Chloe, 32), S. 221-249.

375

376

377

103 lutherischen Kirchengeschichte überhaupt. In den Jahren nach 1548 unterrichtete Staphylus nicht mehr an der Universität und legte seine Professur nieder. Die Jahre vor 1550 dürfen als erste Schlüsseljahre in seinem Konversionsprozeß bewertet werden. Er geriet mit Andreas Oslander noch vor dem Ausbruch des nach dem Reformator benannten Streites aneinander und zog zeitweilig nach Breslau, wo erste engere Kontakte zum Bischof entstanden. Auch die Rückkehr nach Königsberg blieb ein Zwischenspiel. Im Sommer 1551 griff Staphylus mit einer Schrift in den Osiandrischen Streit ein und kehrte nach Breslau zurück. Zwei Jahre später bekannte Staphylus gegenüber Kardinal Hosius seine Rückkehr in den ,Schoß der Heiligen Kirche'. Nachdem ihn bereits 1554 Ferdinand I. zum Rat ernannt hatte, wurde er 1560 auf Wunsch von Petrus Canisius mit einem Lehrauftrag an die Ingolstädter Artistenfakultät berufen. Zwischenzeitliche Bedenken der theologischen Fakultät wurden durch einen päpstlichen Dispens aus dem Weg geräumt. Die Konversion von Friedrich Staphylus war damit eine persönliche Niederlage mehrerer Reformatoren, allen voran Melanchthons. Weder er noch der Studienkollege Musculus vermochten, Staphylus von der Konversion abzuhalten oder zumindest zu einem gemäßigten Weg zu bewegen. Ohne jeden Zweifel war die Annahme der Berufung nach Ingolstadt ein außergewöhnlicher Erfolg der katholischen Kirche, darin waren sich Theologen beider Konfessionen einig. Daß Staphylus jedoch nicht der wetterwendische Konvertit war,378 als den ihn die evangelische Kirchengeschichtsschreibung wiederholt dargestellt hat, zeigt sich etwa daran, daß er in einem Gutachten für das Trienter Konzil den Laienkelch und die Priesterehe befürwortet hat, wenn auch aus politischen und weniger aus theologischen Gründen. Staphylus in mehrfacher Hinsicht wirkungsreichstes Buch ist seine polemische Beurteilung der Theologie Luthers, die umfangreiche THEOLOGIAE MARTINI LVTHERI TRIMEMBRIS EPITOME von 15 5 8.379 Diesem Buch war das im September 1557 eröffnete Wormser Religionsgespräch vorangegangen,380 das letzte vom inzwischen abgedankten Kaiser Karl V. einberufene

378

Mennecke-Haustein: Konversionen, S. 252, hat Staphylus eine „irenisch-unionistische Reformgesinnung" attestiert. Doch scheinen diese Attribute zu weit zu gehen; im folgenden wird noch ausfuhrlich vom polemischen und weniger vom irenischen Potential seiner Schriften berichtet werden; dieser Einschätzung entspricht auch die ausführlichere Darstellung in: Mennecke-Haustein: Staphylus, S. 73, wo sie seine ,Luther-Theologie' eine „scharfe antireformatorische Polemik" nennt, die Staphylus „berühmt macht". 379 Friedrich Staphylus: THEOLOGIAE MARTINI LVTHERI TRIMEMBRIS EPITOME. De Topicis Praedicamentis: seu Theologicis principijs. De Materia praesentium controuersiarum Theologicarum. De Successione et Concordia discipulorum Lutheri, in Augustana Confessione. Nuper collecta VVormatiae, durante Colloquio. O.O. 1558. Hier wird aus der Oktavausgabe zitiert. Beinahe zeitgleich erschien eine Quartausgabe. Eine ausführliche Inhaltsangabe bei Soffher: Staphylus, S. 108-113, vgl. auch Mennecke-Haustein: Conversio ad Ecclesiam, S. 219-223. 380 Dazu verfaßte Staphylus noch einen tendenziösen Bericht: HISTORIA ET APOLOGIA VTRIVSQVE PARTIS, CATHOLICAE ET CONFESSIOnariae, de dissolutione Colloquij nuper VVormatiae instituti ad omnes Catholicae fidei Protectores. Wien 1558. Vgl. dazu

104 Kolloquium zur Beendigung der Glaubensspaltung im Reich. Nachdem im Verlauf des Gesprächs die immer größere Distanz zwischen den Interimsgegnern um Matthias Flacius Illyricus und den Anhängern Melanchthons zutage getreten war, wurde das Religionsgespräch nach dem Auszug der Flacianer ergebnislos von den Katholischen abgebrochen.381 Staphylus hatte als Collocutor teilgenommen und ließ den Abbruch nicht unkommentiert durchgehen und legte mit der THEOLOGIAE MARTINI LVTHERI TRIMEMBRIS EPITOME einen umfangreichen und ins Allgemeine zielenden Kommentar der Ereignisse vor.382 Die Reaktionen auf dieses Buch waren gewaltig, wohl nicht zuletzt wegen der Konversion seines Verfassers. Binnen kürzester Zeit erschienen mehrere Nachdrucke,383 und entsprechende Reaktionen erfolgten von der reformatorischen Prominenz; der ehemalige Lehrer Melanchthon und der frühere Kommilitone Musculus, der aufstrebende Göppinger Pfarrer Jacob Andreae, Caspar von Schwenckfeld und Flacius - sie alle meldeten sich zu Wort. Die Kontroverse, die sich im folgenden durch Staphylus' Initialtext ergeben sollte, wurde in lateinischer Sprache geführt. Erst 17 Jahre später erschien in Ingolstadt eine vollständige Übersetzung mit dem Titel Das klain Corpus Der gantzen Theologey Lutheri,384 was als Ausdruck für die lange anhaltende Wertschätzung dieses Buches auf katholischer Seite gewertet werden muß.385 Staphylus' Buch ist, wie auf dem Titelblatt bereits angekündigt, dreigeteilt. Dem ersten Teil ist eine ausfuhrliche Rechtfertigung der Schrift vorangestellt. Deutschland sei - in beinahe apokalyptischen Ausmaßen - verfallen: „Germaniam vero quacunque contueare (vniuersam enim, si placet, percurre) nihil est, quod non vastatum, quod non peruersum, et loco motum suo, quod non vetustatem reliquerit, nouitatis susceperit perfidiam f...]." 386 Der wirtschaftliche

Soffher: Staphylus, S. 118-123; vgl. auch Mennecke-Haustein: Conversio ad Ecclesiam, S. 223. Vgl. zum Wormser Religionsgespräch Benno von Bundschuh: Das Wormser Religionsgespräch von 1557 unter besonderer Berücksichtigung der kaiserlichen Religionspolitik. Münster 1988 (= Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, 124). 381 vgl. von Bundschuh: Das Wormser Religionsgespräch, S. 473-507. 382 Eine vollständige Analyse der Streitschriftenliteratur im Anschluß an das Kolloquium ebd., S. 533-556. 383 Vgl. Mennecke-Haustein: Conversio ad Ecclesiam, S. 355, Nr. 10. 384 Friedrich Staphylus: Das klain Corpus Der gantzen Theologey vnd Lehr D. Martini Luthers/ in drey thail gar artlich außgethailt: I. Von grund vnnd vrsach Lutherischen Theologey. II. Von der Martery gegenwertiger Religions streitung. III. Von der Succession vnd Einigkeit der Jünger Mart. Luthers in der Augspurgischen Confession. Darauß ein jedweder/ dem seiner Seelen hail angelegen/ ain summa vnd inhalt der gantzen Lutherischen Lehr fassen kann/ damit er sich desto besser vor allerlayhand verfürischen Ketzereyen zuuerhütten wisse. Ingolstadt 1575. 385 Vgl. dazu oben S. 44f. 386 Staphylus: Theologia Martini Lutheri, keine Blattzählung, nach Lagenzählung Aiiij". Die deutsche Übersetzung in: Staphylus: Das klain Corpus, Bl. l l v : „Dann wellicher seits oder orts du das Teutschlandt ansihest/ (des du zu deinem gefallen durchauß vberlauffen magst) so sihest du nichts/ das nicht verwüstet/ das nicht verkehrt/ vnd von seiner stall verruckt ist/ das nit das alte verlassen/ vnd vntrew der newerung angenommen habe." Staphylus rekurriert hier offensichtlich auf prophetischen und apokalyptischen Sprachgebrauch - die

105 wie sittliche Niedergang Deutschlands habe bei den Bürgern und Bauern große Unzufriedenheit ausgelöst.387 In den Zeiten vor der Reformation habe die allgemeine Verdrossenheit nicht um sich gegriffen, weil Einigkeit und Gerechtigkeit geherrscht hätten, die durch die Zwietracht säenden Reformatoren erschüttert worden seien, nämlich durch „Lutherus, Melanthon, Caluinus, Illyricus, Oslander, Suencfeldius".388 Dieser namentliche Angriff gegen bekannte Reformatoren gipfelt in einer .Kriegserklärung': Da alle friedlichen Bemühungen zur Beilegung der Religionsstreitigkeiten ohne Erfolg geblieben seien, bleibe nur noch die gewaltsame Lösung: „Alia nunc via nulla reperitur: quandoquidem semper ferme bellum haereticorum [,..]."389 Staphylus gibt sich damit von Beginn seiner Schrift an äußerst aggressiv, ja militant, was er durch den gezielten Einsatz von Schuldzuweisungen - Luther und seine Anhänger seien allein fur den Zustand Deutschlands verantwortlich - rechtfertigt und konsequenterweise in der Forderung nach der Bekämpfung der Ketzer gipfeln läßt.390 Im ersten Teil391 widmet sich Staphylus, wie bereits auf dem Titelblatt angekündigt,392 den allgemeingültigen Prinzipien und Axiomen der Theologie, denen Luther widerspreche. Dabei geht er auf polemische Vorwürfe der Evangelischen gegen die altgläubige Kirche ein. Indem er sich die Confessio Augustana und die dazu verfaßten Verteidigungsschriften vornimmt, versucht er, durch disputatorische Widerlegung der theologischen Argumente und durch

Verben .verwüsten', .verkehren' und .verrücken' finden sich in den prophetischen Büchern ebenso regelmäßig wie in der Offenbarung - , ohne explizit eine Bibelstelle zu zitieren. 387 Staphylus: Theologia Martini Lutheri, nach Lagenzählung Av v : „Ex rusticis perquire, percunctare a ciuibus, an sub Papistico dominio (vtor illorum vocabulo) an sub Euangelico agros colere, remque curare familiarem, ac vitam degere malint. Quid responsuri sint, res ipsa testatur: agri enim et domus multo frequentius hic, quam illic audiuntur venales reperiri: vnde indicium feceris de fructu fidei, atque doctrinae." 388 vgl. ebd., nach Lagenzählung Aviv. In der deutschen Übersetzung in: Staphylus: Das klain Corpus, Bl. 14v und in der Quartausgabe fehlen die Namen Illyricus und Schwenkfeld, statt dessen wird in der Übersetzung auf „andere Schwermer" hingewiesen, so daß nur die besonders prominenten Namen Luther, Melanchthon und Calvin übrig bleiben. Staphylus grenzt hier die radikalen lutherischen Reformatoren gezielt aus. Das dient der Betonung der Zerstrittenheit des lutherischen Lagers. Es belegt Staphylus' intime Kenntnisse des reformatorischen Spektrums, das in der katholischen Polemik nicht selbstverständlich war. Den Nachnamen Oslander dürften die Leser der deutschen Übersetzung von 1575 wohl .aktualisiert' haben: Vermutlich bezogen sie diese Nennung nicht auf Andreas Oslander, der im lateinischen Erstdruck gemeint ist, sondern auf seinen Sohn Lucas, der seit Ende der 60er Jahre einer der engagiertesten Polemiker gegen die katholische Kirche, insbesondere gegen den Jesuitenorden war, wie wir sehen werden. 389

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Staphylus: Theologia Martini Lutheri, nach Lagenzählung Bl. Aviij'. Die deutsche Übersetzung in: Staphylus: Das klain Corpus, Bl. 17": „Dißmals ist kein anderer weg zur endschaffi der Ketzerey zufinden/ seitemal schir allweg der ketzerstreit [...]." Allgemein zur altgläubigen Ketzerschelte vgl. Kemper: Konfessionalismus, S. 150-163. Staphylus: Theologia Martini Lutheri, nach Lagenzählung Bl. Bviij v -Eiiij r . Vgl. oben Anm. 379.

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den gezielten Einsatz von Ironie dem prophetischen Potential der lutherischen Schriften zu begegnen: Papistae docent, quod inter philosophiam et iusticiam Christianam nihil intersit. Ergo Papistae docent ethnicam et idololatricam fidem, non christianam. Quanquam Catholici euincant, quod Ecclesia neutrum probarit vnquam: tarnen quia Germanicus Elias [i.e. Luther] itatestatur [...]. Ergo necesse est, vt credaturesse verum.393

Ironisch verfahrt Staphylus nicht nur wegen der Bezeichnung Luthers als ,deutscher Elias', sondern weil er unausgesprochen auf allgemeingültige Rechtsnormen rekurriert, die bei evangelischen Theologen nicht hochgeachtet würden. Trotz der aus seiner Sicht eindeutigen Beweislage genüge, so unterstellt er es, den Evangelischen eine Äußerung Luthers, um sie vom Gegenteil zu überzeugen. Die Autorität Luthers sei für die Lutheraner hinreichend, um der Beweislage zu mißtrauen. Erst diese Voraussetzung erklärt in diesem Zusammenhang die Titulierung Luthers als .deutscher Elias'. Ein .normaler' Mensch verfuge nicht über die Autorität, deren es bedürfe, um die Beweislage derart zu verdrehen. Das könne nur eine Autorität wie ein Prophet, so die ironische Pointe der Titulierung. Im zweiten Kapitel394 setzt sich Staphylus konkreter mit den grundsätzlichen Streitpunkten zwischen der katholischen Kirche und der Augsburgischen Konfession auseinander, indem er die materia ausbreitet, die sich widersprechenden reformatorischen Lehrpositionen. Im dritten Kapitel395 faßt er die Gegenwart ins Auge und entwirrt die theologischen Filiationen, nicht ohne scharfe Worte dafür zu finden. Am Ende der THEOLOGIAE MARTINI LVTHER1 TRIMEMBRIS EPITOME folgt ein Schema, in dem Staphylus einen Überblick über die reformatorischen .Ketzereien' bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts entwirft. Er nennt die diversen .ketzerischen Reformatoren' und schlüsselt die verschiedenen reformatorischen Lager mit ihren theologischen Abhängigkeiten und Differenzen auf. Dadurch betont er abschließend, daß aus Sicht der katholischen Kirche die Reformation kein grundsätzlich neues Ereignis sei, sondern vielmehr eine zusätzliche Variante der seit der christlichen Antike bekannten Ketzereien, von den Arianern bis zu den Hussiten. Diese Traditionsbildung mit deutlich polemischem Potential impliziert den Anspruch der katholischen Kirche, das Phänomen .Reformation' zu bewältigen und als vorübergehendes Ereignis zu bewerten.

393

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Staphylus: Theologia Martini Lutheri, nach Lagenzählung Bl. Ev. Die deutsche Übersetzung in: Staphylus: Das klain Corpus, Bl. 59v: „Die Päbstischen lehren/ Das zwischen der Philosophia vnd der Christlichen gerechtigkait/ kain vnderschaid sey. Ergo/ So lehren die Päbstischen den Haidnischen/Abgöttischen/ vnd nit den Christlichen Glauben. Wiewol die Catholischen gründtlich beweisen mögen/ das die allgemein Kirche/ dero kaines yemals angenommen. Yedoch weils der Teütsche Prophet also bezeugt [...]/ so muß man es also war sein lassen/ glauben." Staphylus: Theologia Martini Lutheri, nach Lagenzählung Bl. Eiiij-Hiij". Ebd., Bl. HiijMCvj'.

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Wirft man einen Blick auf die Belege, mit denen Staphylus seine Vorwürfe gegen die Lutheraner argumentativ absichert, so fallen sofort die zahlreichen Kirchenväter-Zitate ins Auge. Diese sind der eindeutige Beweis für den .theologischen Standortwechsel', den Mennecke-Haustein für den Konvertiten Staphylus postuliert hat.396 Auch sie kommt mit ihrer umfangreichen Kenntnis von Staphylus' Schriften zu dem Ergebnis, daß man ihm eine allgemeine Wertschätzung der Kirchenväter'397 attestieren muß, womit ein wesentlicher Unterschied zwischen seiner theologischen Argumentationsbasis und der evangelischen benannt ist. Die sprachliche Aggressivität, mit der Staphylus in der ,Theologia Martini Lutheri' gegen die Angehörigen der Augsburger Konfession - die ,Ketzer' - vorgeht, ist außerdem ein wesentliches Kennzeichen, das Mennecke-Hausteins kirchengeschichtlichen Befund unterstreicht: „Seine Konversion bezeichnet in Deutschland den Schritt von der Vermittlungstheologie zum tridentinischen Katholizismus, weil er die Katholizität der Kirche [...] über ihre nur in einem Kompromiß gewinnbare und deshalb notwendig partikuläre äußere Einheit stellte."398

b. Evangelische Rhetorik gegen katholische Ketzerpolemik Daß die Vorwürfe und Angriffe des Konvertiten Staphylus auf evangelischer Seite nicht unbeantwortet blieben, verstand sich von selbst. Ein Buch wie die THEOLOGIAE MARTINI LVTHERI TRIMEMBRIS EPITOME forderte den Widerspruch geradezu heraus, zumal Staphylus namentlich ehemalige Förderer und Weggefahrten angriff, wodurch sein früherer Lehrer Melanchthon zur Antwort beinahe verpflichtet war. 399 Insgesamt ist die Liste der Respondenten beachtlich. Wie erwähnt waren es neben Melanchthon, Musculus und Andreae noch Flacius und Schwenckfeld.400 Eine prominenter und umfangreicher besetzte Reihe der Widersacher findet sich auf evangelischer Seite gegen keine andere katholische Polemik aus der Mitte des Jahrhunderts. Und auch in anderen Medien wurden Staphylus' Buch und Person Ziel von Aggression und Spott.401 396

Mennecke-Haustein: Konversionen, S. 248. Ebd., S. 253. 398 Ebd. 399 Äußerst hilfreich in diesem Kontext: Barbara Bauer: Die Rhetorik des Streitens. Ein Vergleich der Beiträge Philipp Melanchthons mit Ansätzen der modernen Kommunikationstheorie. In: Rhetorica 14 (1996), S. 37-71. 400 Vgl. Robert Stupperichs Einleitung zu: Philipp Melanchthon: Responsio ad criminationes Staphyli et Avii edita a Philippo Melanthone. In: ders.: Bekenntnisse und kleine Lehrschriften. Hrsg. von Robert Stupperich. Gütersloh 1955 (= Melanchthons Werke, 6), S. 462f.; der Text ebd., S. 463-481. Eine knappe Inhaltsangabe der wichtigsten Erwiderungen auf Staphylus bei Soffner: Staphylus, S. 113-117. 397

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Staphylus ist etwa als „Ivdas" auf dem Flugblatt LVTHERVS TRIVMPHANS (bei Oelke: Konfessionsbildung, Nr. 32) abgebildet. Vgl. auch das Spiel: Pasquillus/ Ein gesprech von etlichen Bapsts Mammalucken. Fritz Staphel wann du mich wilt kennen/ So thu ich mich

108 Melanchthons Responsio ad criminationes Staphyli et Avii edita a Philippo Melanthone erschien 1558 in Wittenberg und richtete sich nicht nur gegen Staphylus' ,Luther-Theologie', sondern auch gegen Avius, Johannes a Via, aus Köln.402 Doch geht Melanchthon nur gegen Ende seiner Schrift auf diesen ein. Zunächst ist die Responsio eine Widerlegung der THEOLOGIAE MARTINI LVTHERI TRIMEMBRIS EPITOME·, die Reihenfolge der Namen im Titel darf durchaus qualitativ verstanden werden. Im Gegensatz zu zahlreichen anderen Streitschriften mit ähnlichem Titel liegt mit Melanchthons Responsio tatsächlich eine vergleichsweise sachliche Erwiderung auf die Anschuldigungen von Staphylus vor. Zwar läßt der Reformator von Beginn an keinen Zweifel daran aufkommen, daß er die Anschuldigungen seines Gegners („criminationes") für ungerechtfertigt hält, doch finden sich bei aller auch persönlichen Schärfe gegen den ehemaligen Schüler Staphylus nur selten beleidigende oder gar grobianische Ausfalle.403 Melanchthon beginnt die Responsio mit einer Schilderung der Verhältnisse, die der apokalyptischen Eröffnung von Staphylus' Buch ähnelt. Doch kehrt er nicht nur die Schuldzuweisung selbstverständlich um.404 Er entwirft in seiner Schrift einen Antagonismus zwischen zwei grundsätzlich unterschiedlichen Redneridealen. Auf der einen Seite steht der eitle und Unrechtes verbreitende Sophist, auf der anderen findet man den christlichen Redner, der weiß, daß er sich nach Möglichkeit der Schmähungen zugunsten des Gebets zu enthalten habe. Mit diesem Antagonismus rekurriert Melanchthon auf das antike virbonus-Ideal,405 das bereits durch die Kirchenväter eine deutlich christliche Prägung erhielt und in Melanchthon einen Beförderer und Verteidiger fand.406 Melanchthon entspricht den Anforderungen des vir-bonus-ldeals in dieser Streitschrift, indem er gewissenhaft Rechenschaft über sein Vorgehen ablegt, um für perspicuitas, für Klarheit und Deutlichkeit, in seiner Schrift zu sorgen.407 Diesem Anspruch wird er durch regelmäßige Angaben gerecht, auf welche Abschnitte aus der ,Luther-Theologie' er jeweils eingeht: „Primum autem de Epilogo Staphyli dicam."408 Weiterhin sind zahlreiche Klassiker- und Bibelzitate kennzeichnend für den vir bonus. Nicht zuletzt sie belegen „eine griind-

vff Reusisch nennen. Vnd Sartzelemigurck heisz ich Itzund gar wol kenestu mich. U.A. O.O.u.J. [um 1563], 402 Vgl. Soffher: Staphylus, S. 113-117; sowie: von Bundschuh: Wormser Religionsgespräch, S. 535-539. 403 Vgl. unten S. 109f. die Beschimpfung Staphylus' als „scelerate Sycophanta". 404 Melanchthon: Responsio, S. 463: Staphylus und Avius hätten Schriften publiziert, „in quibus non mihi tantum et Ecclesiis nostris rabiose maledicitur". 405 Grundlegend Quintilian: Institutiones oratoriae XII, 1. 406 Olaf Berwald: Philipp Melanchthons Sicht der Rhetorik. Wiesbaden 1994, S. 31-36. Grundlegend zu Melanchthons Rhetorik Joachim Knape: Philip Melanchthons .Rhetorik'. Tübingen 1993 (= Rhetorik-Forschungen, 6). Zum vi>-6o«ws-Ideal bei Luther vgl. Stolt: Martin Luthers Rhetorik, S. 147-149. 407 Vgl. Berwald: Melanchthons Sicht der Rhetorik, S. 34f. 408 Melanchthon: Responsio, S. 464.

109 liehe und umfassende Vertrautheit mit allen Bereichen des orbis litter arum",409 die eine Hauptanforderung an den vir bonus darstellt. Vor diesem Hintergrund ist es nicht weiter überraschend, daß der von Melanchthon eingeführte Antagonismus zwischen dem Sophisten und dem vir bonus durch Staphylus und Melanchthon selbst repräsentiert wird. Damit wird gleichzeitig deutlich, daß es diesem weniger um die Widerlegung des gegnerischen Buches als um die Abrechnung mit Staphylus geht. Melanchthons Sophismusvorwurf gegen Staphylus hat weitreichende Konsequenzen. Für den Reformator steht außer Frage, daß eine wesentliche Ursache fur den Niedergang politischer und religiöser Verhältnisse die Sophisterei ist.410 Wenn Melanchthon Staphylus Sophismus vorwirft, so heißt das, daß nicht etwa die Lutheraner für die Zerrüttung der politischen und religiösen Verhältnisse in Deutschland verantwortlich sind, wie das Staphylus in seiner Schrift behauptet, sondern daß dafür Männer wie der Konvertit die Schuldigen sind. Melanchthon kehrt die allgemeinen Schuldzuweisungen nicht einfach um (reflexio), er personalisiert sie außerdem. In diesem Zusammenhang sind zwei sprachliche Details bemerkenswert. Melanchthon nennt Staphylus ausdrücklich „orator".411 Aus Melanchthons Sicht ist die vorliegende Kontroverse zunächst ein Fall fur den Redner, sie fallt in den Kompetenzbereich der Rhetorik. Da der Gegner aber kein guter Redner im Sinne des vir-bonus-Ideals ist, fehlt ihm die Fähigkeit, sich angemessen und qualifiziert über die behandelten Sachverhalte zu äußern. Diesen Eindruck unterstreicht Melanchthon, indem er im Gegensatz zum üblichen Sprachgebrauch nicht vom „apostata",412 sondern von Staphylus als „transfuga" 413 spricht - eine Besonderheit, die die sprachliche Präzision Melanchthons belegt. Während nämlich ein „apostata" nach dem Kirchenrecht zu den Ketzern gezählt wird, ist der Begriff „transfuga" dem militärischen Kontext entlehnt. Melanchthon verzichtet auf den Ketzervorwurf, mit dem Staphylus seinerseits den Evangelischen entgegengetreten ist, und wirft ihm statt dessen unehrenhaftes Verhalten vor, wodurch er abermals den Antagonismus zwischen dem vir bonus und dem Sophisten betont. Melanchthon geht nur selektiv auf Staphylus' Vorwürfe ein, und er macht sich nicht im Einzelfall die Mühe, Staphylus zu widerlegen: In titulo de matrimonio haec verba sunt. Adfirmant, quod matrimonium non sit sacramentum, sed ab hominibus in Ecclesia inventum ignorantia tarn rei quam verbi adduetis. Die, scelerate Sycophanta, ubi unquam ab ullo in nostris Ecclesiis dictum sit, matrimonium ab hominibus inventum esse. De vocabulo sacramenti disputatio est, non de

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Berwald: Melanchthons Sicht der Rhetorik, S. 31. Ebd., S. 25-31. Melanchthon: Responsio, S. 464. Vgl. oben Anm. 371. Bereits zu Beginn der Schrift, dann noch öfters vgl. Melanchthon: Responsio, S. 463.

110 ipso vitae genere divinitus sancito. Cumque non ignores, quid agatur, eo maior est et malicia tua et impudentia.

Dieser Ausschnitt ist typisch für den Aufbau der Responsio. Zunächst erklärt Melanchthon kurz, auf welchen Abschnitt aus der THEOLOGIAE MARTINI LVTHERI TRIMEMBRIS EPITOME er sich bezieht. Er gibt Staphylus wieder und spricht ihn direkt an, wodurch er den Konflikt personalisiert und lebendig macht. Dabei scheut er nicht vor direkten Beschimpfungen („scelerate Sycophanta") mit dem Ziel der amplificatio des Antagonismus' zwischen sich und Staphylus zurück.415 Im Anschluß daran macht Melanchthon sich nicht die Mühe, Staphylus mit der Nennung von Belegen und Erläuterungen zu widerlegen. Er erklärt, Streitpunkte seien von Staphylus nicht korrekt, sondern verfälschend wiedergegeben worden. Als dieser von der Ehe spreche, habe er den eigentlichen Kern des Arguments, den Sakramentsbegriff der Ehe („De vocabulo sacramenti disputatio est [...]"), gar nicht berührt. Dann setzt Melanchthon auf die Wirkung seiner Worte und unterstellt Staphylus, daß der das wisse und daß er aus Bosheit den eigentlichen Streitpunkt verfälscht habe. Melanchthon operiert also durchaus mit Streittechniken, die nicht immer der Forderung nach perspicuitas entsprechen. Die Unterstellung zählt ohne jeden Zweifel dazu. Er scheint nicht zu befürchten, seine Leser könnten seinen Status als vir bonus im Konflikt mit Staphylus bezweifeln. Deswegen greift er auf die Unterstellung zurück, wodurch es ihm gelingt, seine Responsio kurz und prägnant zu halten. Manch ein Leser wird es ihm gedankt haben. Durch die Nennung mehrerer Bibelzitate wird das vir-bonus-Ideal von Melanchthon um eine christliche Dimension erweitert, die sowohl spezifisch evangelische als auch humanistische Züge trägt: „Denique nota est nobis antiquitas, nec ab ea dissentimus. Et cum scriptum sit, ,Oves meae vocem meam audiunt', 416 adfirmamus nos verae Ecclesiae Dei cives esse, et Ecclesias nostras non ex illa Hesiodi pyxide sumpsisse doctrinam,417 sed ex scriptis Propheticis et Apostolicis et Symbolis et veteri consensu purioris Ecclesiae

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Ebd., S. 471. Die an dieser Stelle sehr freie und .evangelische' Übersetzung: Melanchthon: Antwort, S. 88: „In dem Abschnitt über die Ehe finden sich folgende Worte: ,Sie behaupten, daß die Ehe kein Sakrament sei, sondern eine Erfindung von Menschen in der Kirche, die teils aus Unkenntnis der Sache, teils aus Unkenntnis der Wörter dazu verleitet worden sind.' Sage doch, du verworfener Verleumder, an welcher Stelle jemals von irgendwem in unseren Gemeinden gesagt worden ist, die Ehe sei von der Kirche [!] erfunden worden. Die Auseinandersetzung betrifft den Begriff des Sakraments, nicht die Lebensform selbst, die von Gott eingesetzt ist. Und da du ganz genau weißt, um was es geht, ist deine Bosheit und Unverschämtheit um so größer." Dieses Vorgehen entspricht den theoretischen Überlegungen Melanchthons zur Funktion der amplificatio in seinen verschiedenen Ausführungen zur Affektenlehre, vgl. Berwald: Melanchthons Sicht der Rhetorik, S. 50-56. Joh 10,27. Staphylus hatte den Evangelischen vorgeworfen, ihre Lehre entstamme der Büchse der Pandora.

Ill [..,]." 418 Melanchthon reklamiert zuverlässige Kenntnis des Altertums für sich und die Seinigen. Sein Humanismus erst versetze ihn und die Evangelischen in die Gewißheit der richtigen Auslegung der Bibel und der kirchlichen Tradition. Dieses Detail ist für den Rhetoriker und Theologen Melanchthon von großer Wichtigkeit. Die zuverlässige Beherrschung der alten Sprachen ist für ihn erste Voraussetzung für die Heilsgewißheit, was ebenso unhintergehbare methodische Bedingung ist und deswegen keine gesonderte Erwähnung findet. Darüber hinaus reklamiert Melanchthon die im Verhältnis zur katholischen Kirche bessere Beurteilung der Zeugnisse der kirchlichen Tradition für sich, wenn er ausdrücklich die Zeugnisse einiger Kirchenväter und der Glaubensbekenntnisse begrüßt, sie jedoch den biblischen Zeugnissen deutlich unterordnet; er erklärt: „Grata sunt nobis testimonia Gregorii Neocesariensis, Irenaei et Symboli Niceni de Filio Dei, sed fides nititur ipsius Filii Dei, Prophetarum et Apostolorum." 419 Melanchthon läßt den katholischen Vorwurf, den Evangelischen gelte die kirchliche Tradition nichts, nicht stehen. Er relativiert ihn: Gerade weil den Evangelischen das (christliche) Altertum bekannt sei, seien sie in der Lage, die Heilige Schrift, aber auch wesentliche Teile der kirchlichen Tradition richtig zu beurteilen - ganz im Gegensatz zur römischen Kirche. Denn in deren Reihen führten Sophisten wie Staphylus die Feder gegen christliche Humanisten wie Melanchthon. Das ist der unausgesprochene Vorwurf zwischen den Zeilen von Melanchthons Responsio. Es läge nahe, Melanchthons Vorgehen gegen Staphylus mit dem eines Oberlehrers zu vergleichen. Doch trifft das nicht den Kern. Melanchthon verhält sich keineswegs so. Vielmehr handelt es sich bei der Responsio um eine Demonstration von Redlichkeit. Sie speist sich aus der Kenntnis des Altertums, der alten Sprachen und der Heiligen Schrift. Sie gibt sich fromm, aber eben auch selbstgewiß und selbstbewußt. Deswegen braucht Melanchthon nicht auf jeden Vorwurf von Staphylus zu antworten, und auf den Ketzervorwurf geht er erst gar nicht ein. Dieser ist für den Redner Melanchthon nicht mehr als ein verblaßter Topos des Papsttums. Die übrigen Streitschriften aus dem reformatorischen Lager, oder besser aus den reformatorischen Lagern, können hier nicht vollständig analysiert werden; es geht lediglich darum, einen ersten Eindruck vom auf Latein geführten Streit um die THEOLOGIAE MARTINI LVTHERI TRJMEMBRIS EPITOME zu vermitteln. Deswegen wird nur die Erwiderung des Jacob Andreae (1528-1590)

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Melanchthon: Responsio, S. 465. Die Übersetzung: Melanchthon: Antwort, S. 81f.: „Wir kennen schließlich das Altertum, und wir weichen nicht von ihm ab. Und da geschrieben steht: ,Meine Schafe hören meine Stimme', bekräftigen wir, daß wir Glieder der wahren Kirche Gottes sind und daß unsere Gemeinden die Lehre nicht aus jener Hesiodschen Büchse gewonnen haben, sondern aus den prophetischen und apostolischen Schriften und den Glaubensbekenntnissen und aus dem ursprünglichen Konsens der reineren Kirche." Melanchthon: Responsio, S. 465. Die Übersetzung: Melanchthon: Antwort, S. 82: „Willkommen sind uns die Zeugnisse Gregors des Wundertäters, des Irenäus und des nizänischen Glaubensbekenntnisses über den Sohn Gottes, aber der Glaube stützt sich auf die Worte des Sohnes Gottes selbst, der Propheten und Apostel."

112 und die summarische Reaktion von Staphylus genannt - ohne das zweifellos lohnende Unterfangen zu betreiben, eine vollständige Einsicht in diese zwei Schriften zu vermitteln. Im Gegensatz zu den anderen Lutheranern, die gegen Staphylus eine Streitschrift publizierten, war Andreae nicht von diesem namentlich erwähnt worden. Andreae war 1553 zum Doktor der Theologie promoviert worden und Stadtpfarrer in Göppingen geworden. Im Vergleich zu den anderen Reformatoren war er weniger bekannt als Melanchthon oder Flacius. Andreaes großer Karrieresprung jedoch stand unmittelbar bevor, als seine Erwiderung erschien. Anfang der 60er Jahre wurde er ordentlicher Professor der Theologie in Tübingen. Wie kaum ein anderer evangelischer Theologe hat er sich dann als Kanzler der Universität in den folgenden knapp 30 Jahren um die Einigung der evangelischen Kirchen bemüht. Horst Rabe hat ihn deswegen die „Seele" der lutherischen Einigungsbemühungen genannt.420 In der Reaktion Andreaes421 auf Staphylus' Buch werden einleitend der Wormser Entstehungszusammenhang geschildert sowie zentrale Vorwürfe gegen Staphylus erhoben: Der habe falsche Grundlagen der lutherischen Lehre genannt und ihr ein unsolides theologisches Fundament unterstellt.422 Andreaes Buch folgt der Struktur des Bezugstextes. Während Melanchthon äußerst selektiv auf einzelne Abschnitte und Vorwürfe aus der .Theologia Martini Lutheri' eingeht, arbeitet sich Andreae Kapitel für Kapitel, Abschnitt für Abschnitt daran ab, als gäbe es eine Funktionsteilung zwischen den beiden. Auch die Qualität seiner Vorwürfe ist grundsätzlich anderer Natur. Er vergleicht Staphylus mit Eck und Cochlaeus, was nahelag 423 Melanchthons Kritik an Staphylus beansprucht Allgemeingültigkeit. Ein Sophist ist auch aus katholischer Sicht kein vir bonus. Der Vergleich mit den Luthergegnern der Reformationszeit dagegen richtet sich ausschließlich an ein evangelisches Publikum. Denn für einen katholischen Kontroversisten war es kein Vorwurf, mit den zwei genannten Theologen verglichen zu werden.424 Auch sonst ist die Responsio Andreaes anders zu bewerten als die Melanchthons. Das rhetorische Geschick und das daraus resultierende Selbstbewußtsein Melanchthons geht dem Göppinger Pfar-

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Rabe: Deutsche Geschichte 1500-1600, S. 511. « 1 Jacob Andreae: AD FRIDERICI STAPHYLI CONFICTAS ET CALVMNIAE PLEnas Antilogias responsio. Frankfurt a.M. 1558. Eine knappe Inhaltsangabe bei Soffner: Staphylus, S. 115-117. Auch die Erwiderung von Andreas Musculus ist übrigens eine .Antwort': RESPONSIO AD VIRVLENTVM AC MALEDICVM SCRIPTVM, EX MERIS CAlumnijs et mendacijs conflatum, Friderici Staphyli. O.O. 1558. Vgl. dazu einleitend Spieker: Musculus, S. 37-41. 422 Andreae: Responsio, S. 3: „In eius primo libro recenset falsa principia doctrinae Lutheranae, ut rudioribus persuadeat, eam nullo solido fundamento niti." 423 Ebd., S. 9. Zu den genannten katholischen Polemikern vgl. Johannes Burkhart: Das Bild des Johannes Eck in der Geschichtsschreibung. In: Iserloh (Hrsg.): Johannes Eck im Streit der Jahrhunderte, S. 8-36. 424 Vgl. etwa Burkhart: Eck in der Geschichtsschreibung, S. 19: „Bellarmin, der seine Entlehnungen aus Cochläus [gemeint sind dessen Lutherkommentare] nachweist, lobte 1586 die katholischen Glaubensstreiter Eck und Cochläus, die sich Tag und Nacht ohne irdischen Lohn aufgeopfert hätten [...]."

113 rer ab.425 Statt weitere Belege des zum Teil mühsamen Widerlegens bei Andreae anzuführen, sei ein knapper Blick auf seine spätere Wahrnehmung des Streits geworfen, was bei den meisten Kontroversen wegen des Fehlens historischer Zeugnisse nicht möglich ist. Andreae hat gegen Ende seines Lebens mit der Niederschrift einer Autobiographie begonnen - der VITA JACOBI ANDREAE theologiae doctor is, ab ipso ad annum usque Christi 1562 magna fide et ingenuitate descripta,426 die er nicht mehr zu Ende bringen konnte. Darin erwähnt er auch Staphylus. Nach Abbruch des Wormser Kolloquiums habe sich „Satan"427 aufgemacht und den „großen Heuchler und unverschämten Abtrünnigen Friedrich Staphylus" erweckt, „um die Streitigkeiten der Unsrigen anzuprangern." Nachdem dessen Luther-Buch veröffentlicht worden sei, habe Herzog Christoph die württembergische Synode um eine Beurteilung gebeten. Daraufhin habe er eine vom Herzog freundlich aufgenommene Widerlegung geschrieben, die dieser bald darauf drucken ließ. Verkürzend428 schildert Andreae den weiteren Streitverlauf und beendet das Kapitel über Staphylus mit den Worten: „Et cum videret Staphylum convitiis duntaxat pugnare et a rebus controversis ad personas se convertere (non enim theologus sed orator erat Staphylus profanus, quem nullius manifesti mendacii et apertissimae calumniae pudebat) nullo amplius responso D. Jacobus eum dignatus est."429 Zweierlei ist an seiner Beurteilung des Streitverlaufs bemerkenswert. Andreae behauptet, er habe den Streit beendet. Das ist eindeutig falsch. Zweitens greift Andreae in der Vita den zentralen Sophismusvorwurf Melanchthons aus der Responsio auf. Wie dieser macht er Staphylus zu einem „orator", dem ostentativ durch das Attribut „profanus" jegliche theologische Kompetenz abgesprochen wird. Das belegt er durch den Hinweis auf den angeblichen Wechsel der Topoi, Staphylus habe sich von den Streitgegenständen den Streitfuhrenden zugewandt („a rebus controversis ad personas se convertere"). Melanchthon, Andreae und die anderen Reformatoren - Staphylus sah sich einer gewaltigen Angriffsfront gegenüber. Da es angesichts dieser nahezu unmöglich war, jede Erwiderung einzeln und vollständig zu beantworten, reagierte er mit nur einer Verteidigungsschrift, in der er sich gegen seine reformatorischen Kontrahenten wandte: Defensio PRO TRIMEMBRI THEOLOGIA. M. 425

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Auf eine detaillierte Textanalyse kann verzichtet werden, weil die Streitschrift Andreaes für den weiteren Streitverlauf weit weniger wichtig ist als die Melanchthons. Jacob Andreae: Leben des Jakob Andreae, Doktor der Theologie, von ihm selbst mit großer Treue und Aufrichtigkeit beschrieben, bis auf das Jahr Christi 1562. Lat. u. dt., eingel., hrsg. u. übers, von Hermann Ehmer. Stuttgart 1991. Die folgenden Zitate werden nicht im einzelnen ausgewiesen, sie sind ebd., S. 77, S. 79 zu finden. Ehmer hat ebd., S. 133f. unter Anm. 157 u. Anm. 158 bereits auf die verkürzende Wiedergabe der Kontroverse hingewiesen. Ehmers Angaben sind nicht vollständig. Ebd., S. 78, die Übers, ebd., S. 79: „Als er aber sah, daß Staphylus nur mit Gezänk kämpfte und sich vom Streit in der Sache zu den Personen gewandt hatte, würdigte ihn Jakob keiner weiteren Antwort mehr, denn Staphylus war nämlich kein Theologe, sondern ein weltlicher Redner, der sich vor keiner offenbaren Lüge und rücksichtslosen Verleumdung scheute."

114 LVTHERI, CONTRA AEDIFICA TORES BABYLONICAE TVRRIS. Phil. Melanthonem. Shwenckfeldianum Longinum. And. Musculum. Mat. Flacc. Illyricum. Iacobum Andream Shmidelinum.430 Jedem der genannten Reformatoren widmet Staphylus darin ein Kapitel. Im Zentrum der Schrift stehen die Reaktionen auf Melanchthon und Flacius. Sie beanspruchen jeweils etwa 40 Blatt, während Schwenckfeld und Musculus nur mit jeweils zehn Blatt bedacht werden, Andreae gar nur mit fünf. Mit dieser Aufteilung veranschaulicht Staphylus erneut die Zerstrittenheit der lutherischen Theologen. Staphylus verfahrt im Kapitel gegen Melanchthon zweistufig, in einem ersten Schritt nimmt er Vorwürfe Melanchthons aus der Responsio auf. Dabei knüpft er durch direkte Anrede431 an den persönlichen Stil Melanchthons an, erneuert seine Vorwürfe und versucht nun seinerseits, Melanchthon in ein schlechtes Licht zu rücken, indem er dessen vermeintlicher Derbheit seine eigene christliche Milde gegenüberstellt. Dementsprechend nennt er seine Widerlegung gegen Melanchthon „MODESTA REFVTATIO". In einem zweiten Schritt vollzieht er wiederholt einen Argumentationsschwenk. Er versucht nicht etwa, Melanchthons Argumente und Vorwürfe ausführlich zu widerlegen. Vielmehr führt er gezielt weitere Vorwürfe in die Kontroverse ein, um seine Angriffe zu unterstützen und um seinen Generalvorwurf, die .ketzerische' Uneinheitlichkeit der Protestierenden, zu unterstreichen. Dazu verweist er auf den Streit um Andreas Oslander, was ihm nicht weiter schwerfallt, hatte er doch gegen diesen - wie erwähnt - noch während seines Königsberger Aufenthaltes eine ausführliche Polemik publiziert.432 An anderer Stelle kommt er, Melanchthons Vorwurf gegen seine Ausführungen zur Ehe als Sakrament aufgreifend, auf die Forderung des Wittenbergers zurück, seine Behauptungen zu beweisen, und zitiert Äußerungen aus Luthers Traktat Vom ehelichen Leben,433 um die fortwährende Richtigkeit seiner Behauptungen zu dokumentieren. In dem von Staphylus wörtlich korrekt wiedergegebenen Zitat geht es Luther um die ehelichen Pflichten von Verheirateten, deren mangelnde Erfüllung Luther als Scheidungsgrund akzeptiert, was nicht nur von Staphylus wiederholt als Ausdruck der Mißachtung der Ehe durch Luther ins polemische

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Friedrich Staphylus: Defensio PRO TRIMEMBRI THEOLOGIA. M. LVTHERI, CONTRA AEDIFICATORES BABYLONICAE TVRRIS. Phil. Melanthonem. Shwenckfeldianum Longinum. And. Musculum. Mat. Flacc. Illyricum. Iacobum Andream Shmidelinum. Dillingen 1559. Eine Inhaltsangabe bei Soffner: Staphylus, S. 126-131 (er zitiert aus der zweiten Ausgabe von 1560) sowie bei Mennecke-Haustein: Conversio ad Ecclesiam, S. 223-225. Staphylus: Defensio, nach Lagenzählung Bl. Aiiij v : „te Philippe et tuos commilitones". Friedrich Staphylus: Synodus sanctorum patrum antiquorum contra nova dogmata Andreae Osiandri. Nürnberg 1553. Eine Inhaltsangabe bei Soffner: Staphylus, S. 100-102, zum historisch-biographischen Hintergrund vgl. ebd., S. 9-18; vgl auch Mennecke-Haustein: Conversio ad Ecclesiam, S. 117-152; Mennecke-Haustein: Konversionen, S. 252f. vertritt die Meinung, Staphylus' Konversion sei „erst durch die Konfrontation mit Andreas Oslander [...] unausweichlich" geworden. Martin Luther: Vom ehelichen Leben. In: WA 10,11, S. 275-304.

115 Feld geführt wird.434 Im Anschluß an das Zitat beschimpft Staphylus Melanchthon nun seinerseits: „O scelerate Sycophanta" 435 Damit reagiert er nicht nur inhaltlich auf die Vorwürfe Melanchthons, er greift wörtlich dessen Beschimpfungen auf: „Die, scelerate Sycophanta, ubi unquam ab ullo in nostris Ecclesiis dictum sit, matrimonium ab hominibus inventum esse."436 Das Kapitel gegen Andreae betitelt Staphylus mit ,3REVIS RESPONSIO AD IACOBI ANDREAE Smidelini cauillationes" 437 Die in diesem Titel signalisierte Kürze der Widerlegung entspricht ihrem, wie erwähnt, geringen Anteil in der gesamten Schrift. Er wirft Andreae dessen schlechten Sprach- und Argumentationsstil vor. Und er greift den von Melanchthon in den Streit eingeführten Sophismusvorwurf auf und hält Andreae nun seinerseits sophistische Spitzfindigkeiten vor, was in der ironischen Spitze gipfelt, er wolle Andreae in der Höhle Piatons festbinden („Nae ego hunc theologum in specu Piatonis alligandum censeam").438 Erst gegen Ende seiner ausführlichen Verteidigungsschrift reagiert er damit ausdrücklich auf den Sophismusvorwurf Melanchthons: Cavillationes sind sophistische Wortklaubereien; Piaton personifiziert den Gegenentwurf zum Sophismus - niedergelegt im Gorgias, der Kritik an der sophistischen Rhetorik des gleichnamigen Redners und Lehrers. Theologische Streitpunkte treten in dieser kleinen Erwiderung auf Andreae zurück. Es geht Staphylus nicht darum, Andreae ernst zu nehmen und auf dessen Vorwürfe einzugehen. Vielmehr suchte er durch Knappheit439 und Diskreditierung von Stil und Argumentationstechniken, den schwäbischen Theologen gezielt aus dem Kreis potentieller Gegner auszuschließen. Dabei ist Staphylus' Vorgehen für die religiöse Polemik äußerst typisch, er versucht nicht, sich redlich gegen die 434 v g l . Staphylus: Defensio, nach Lagenzählung Bl. Hiiij'-Γ; bei Luther: Vom ehelichen Leben, S. 278: „Ich hab alßo gesagt: Wenn eyn tüchtig weyb tzur ehe eyn untüchtigen man tzur ehe uberkeme und künde doch keynen andern öffentlich nemen und wollt auch nicht gerne widder ehre thun, syntemal der Bapst hie viel tzeugen und weßens on ursach foddert, solle sie tzu yhrem man alßo sagen: Sihe, lieber man, du kanst meyn nicht schuldig werden und hast mich umb meynen iungen leyb betrogen, datzu ynn fahr der ehre und seelen selickeyt bracht, und ist fur gott keyne ehe zwisschen uns beyden, Vergünne myr, das ich mit deynem bruder odder nehisten freund eyn heymlich ehe habe, und du den namen habst, auff das deyn gutt nicht an frembde erben kome, und laß dich widderumb williglich betrigen durch mich, wie du mich on meynen willen betrogen hast." 435 436 437

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Staphylus: Defensio, nach Lagenzählung Bl. Iv. Vgl. oben S. 109f. Staphylus: Defensio, nach Lagenzählung Bl. eiij'. „Schmidel" ist ein satirischer Spitzname, der auf den Beruf von Andreaes Vater hinweist, der Schmied war. In: Andreae: Vita, S. 18, fuhrt er dazu aus: „Quorum omnium familiae nomen est Andreae. Unde et Doctor Jacobus (quem Schmidelinum appellarunt, quod pater ipsius faber ferrarius fuerit) cognomen Andreae habet. [...] Quam familiae suae et majorum nunquam puduit, sicut malitiose Pontificii quamplurimi, inprimis turpissimus apostata Staphylus calumniatus est." In der Tat nannten die Gegner Andreaes ihn bis zu seinem Tod „Schmidel", dieser Spitzname hielt sich demnach über 30 Jahre. Staphylus: Defensio, nach Lagenzählung Bl. fiij'; vgl. das Höhlengleichnis in Piatons Staat, 514a-521b. Ebd., Bl. f zu den „dissensiones in Lutheranismo": „Quid Illyricus in suo libro contra Melanthonem? [...] Quid Amsdorfius contra Melanthonem?"

116 genannten Protestanten zu verteidigen, wie es der Titel seiner Schrift nahelegt. Vielmehr geht Staphylus zum Gegenangriff über. Dafür sucht er sich bezeichnenderweise den vermeintlich schwächsten Gegner, zumindest die vermutlich schwächste Gegenschrift, aus. Doch war das nicht gleichbedeutend mit dem Ende des Streites mit Andreae. Zwar folgten auf die Defensio keine weiteren lateinischen Streitschriften, sie war vielmehr lateinischer Auftakt zu einem auf Deutsch geführten Streit zwischen Andreae und Staphylus.

c. Die Volkssprache als Garantie fiir lutherische Dominanz im Religionsstreit? Andreae war durch Staphylus' Defensio vielleicht stärker als die anderen Reformatoren herausgefordert, vielleicht hielten diese den Konvertiten im Gegensatz zu ihrem aufstrebenden Kollegen keiner weiteren Antwort mehr für würdig. Andreae war auf jeden Fall mit Staphylus nicht fertig. 1560 publizierte er den Bericht Von der Einigkeit vnd Vneinigkeit der Christlichen Augspurgischen Confessions Verwandten Theologen,440 Bereits in der vorangestellten Widmung an Herzog Christoph von Württemberg erhebt er schwere Vorwürfe gegen die katholische Kirche. Anlaß dazu habe ihm ein Flugblatt gegeben, das auf dem jüngst vergangenen Reichstag zu Augsburg verbreitet worden sei und in dem die Uneinigkeit der Theologen der Augsburgischen Konfession behauptet und polemisch dargestellt werde. Der anonyme Verfasser habe „von dem abtrinnigen Staphylo gelernet", vielleicht „ist ers anders nicht selbst".441 Diese Mutmaßung kommt nicht von ungefähr. Der Gegenstand des genannten Flugblatts, die offene Uneinigkeit der sogenannten ,Augsburgischen Religionsverwandten', ist - neben den persönlichen Vorwürfen - theologischer Kern der Auseinandersetzung.442 Außerdem nennt Andreae ausdrücklich das Wormser Kolloquium als Ort der sichtbar gewordenen Differenz zwischen der katholischen und der evangelischen Kirche: Weil aber auß Gottes wort lautter vnd klar erwisen/ das die Bäpstlich Kirch mit iren Gliedern nicht allein in irem Leben vnnd Wandel als menschen/ vnd in der Leer/ in geringen Sachen/ sonder in Hauptstucken Christlicher Leer darinnen vnser seelen öwige Seligkeit stehet/ grewliche/ grobe/ schädliche vnd vnleidenliche Irrthumb/ Abgötterey und Zauberey eingefüret/ Demnach sie nicht die recht Kirche sein künden [...]: Sein sie nach Jüngst zu Wormbs gehaltenem Colloquio [...] au ff einen andern weg gerhaten [...].

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Jacob Andreae: Bericht Von der Einigkeit vnd Vneinigkeit der Christlichen Augspurgischen Confessions Verwandten Theologen/ etc. Wider den langen Laßzedel/ der one Namen zu Schmach der Christlichen Euangelischen Stenden auff Jüngst zu Augspurg Anno Domini M.D.LIX. gehaltnem Reichstag öffentlich auffgesehlagen vnd außgebreittet. Tübingen 1560. Ebd., Vorrede nach Lagenzählung Bl. Aij". Wie oben in Anm. 439 erwähnt, hielt Staphylus Andreae ausdrücklich die „dissensiones in Lutheranismo" vor. Andreae: Bericht, nach Lagenzählung Bl. Aij'.

117 Diese Beurteilung ist besonders bemerkenswert, weil das Wormser Religionsgespräch in die Geschichte nicht als das Kolloquium der endgültigen Spaltung der beiden Konfessionsparteien eingegangen ist, sondern als das, auf dem die tiefe Zerstrittenheit der Lutherischen offen zutage getreten ist,444 so wurde es auch in der THEOLOGIAE MARTINI LVTHERI TRIMEMBRIS EPITOME gedeutet. Ziel aller dieser polemischen Bemühungen der ,Papisten' sei dabei, so Andreae, daß sie das „arm volck auffs wenigst allein in einem eüsserlichen gehorsam irer Kirchen erhielten/ vnd von der rainen Leer des Euangeliums abschrecketen/ [deswegen] fangen sie ein new Geschrey an/ von vnser vneinigkeit [.. ,]."445 Nun ist der katholische Vorwurf der Uneinigkeit gegen die Evangelischen ohne jeden Zweifel älter als Staphylus' Buch, in gewisser Weise ist der Vorwurf sogar älter als die Reformation selbst. Er zählt zu den Topoi der Ketzerpolemik und wird durch den Hinweis auf die Einigkeit der römischen Kirche ergänzt und kontrastiert. Andreae geht darüber hinweg und wendet sich Staphylus zu. In der auf die Widmung folgenden Vorrede berichtet er ausführlich von den Entstehungsumständen seiner Schrift: Vnd wiewohl durch Gottes Gnad/ deren vil seind vnder den vnsern/ die sollichs vil besser 446

vnd fuglicher thon künden dann ich: jedoch weil mich dieser Nachtrab/ der das Licht schewet/ auch falschlich angezogen vnd außgerüffen hat/ will ich jme nach meiner einfalt antworten. Vnd darumb auff diß mal dester kürtzer/ dieweil ich zuuor auch auff diese Taffei geantwortet habe so Lateinisch in Jude Iscariots Buch/ der sich Staphylus nennet/ eingeflicket ist worden/ dann wo es von nöten sein wiirt/ will ichs jme besser sagen [...]/ wie gar sich diß Gesind keiner Lugen nicht mehr schemet.

Das bereits in der Widmung erwähnte Flugblatt finde sich ebenfalls bei Staphylus, den er hier mit Judas vergleicht - eine deutliche Anspielung auf die Konversion.448 Es ist die erwähnte Ketzersystematik von Staphylus, die Andreae hier meint. Allerdings ist die Systematik von Staphylus tabellarischer Art, während die Übersicht in dem von Andreae erwähnten Flugblatt ausformuliert ist. Man wird trotzdem seinem Befund zustimmen müssen, daß das Flugblatt449 in irgendeiner Form auf den Konvertiten zurückgeht, selbst wenn sich eine persönliche Verfasserschaft von Staphylus nicht nachweisen läßt. Im anschließenden Haupttext stellt Andreae, sich an der Systematik des Staphylus orientierend, dem historischen (katholischen) Ketzerbild eine lutherische Erläuterung gegenüber, in der er zwar nicht die dogmatischen Widersprüche zwischen den Gnesiolutheranern um Flacius und den Philippisten leugnet, aber vorsichtiger in der Wortwahl und in der Beurteilung ist. Bei Andreae ist im äußersten Fall von

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Vgl. zur ersten Orientierung Hollerbach: Religionsgespräch, S. 205-225. Andreae: Bericht, nach Lagenzählung Bl. Aij v . Andreae spielt auf die übrigen Reformatoren an, die auf Staphylus reagiert hatten. Mit einer Devotionsgeste erklärt er diese fur befähigter, um auf das genannte Flugblatt zu antworten. Andreae: Bericht, nach Lagenzählung Bl. B'. Vgl. auch das oben in Anm. 401 erwähnte Flugblatt. Von seiner Existenz muß man ausgehen, da Staphylus diesen Sachverhalt im folgenden mit keinem Wort bezweifelt.

118 Verblendeten und Verwirrten und keinesfalls von Ketzern die Rede. Aus dieser Erklärung ergibt sich auch seine Titelwahl: Bericht Von der Einigkeit vnd Vneinigkeit der Christlichen Augspurgischen Confessions Verwandten Theologen. Zwar herrsche in zahlreichen Streitpunkten Uneinigkeit - Einigkeit bestehe aber in der fundamentalen Einschätzung des Papsttums. Sowohl in der lateinischen als auch in der deutschen Schrift folgt Andreae detailliert dem Aufbau der gegnerischen Schrift. Zumindest im Hinblick auf gezielte Streitlenkung und auf den Einsatz von rhetorischen Streittechniken zeigt er sich damit weniger souverän als Luther im Streit mit Emser. Der Vergleich von Staphylus mit Judas fuhrt vor Augen, daß der Göppinger Pfarrer vor einer eindrücklichen und aussagekräftigen Bildlichkeit der Sprache nicht zurückschreckt und sich auch darum bemüht. Die eigentlichen Adressaten seines Berichts seien die „einfeltigen vnnd guthertzigen Christen",450 die Laien also, wie er in der Widmung schreibt. Das hat jedoch keine Konsequenzen auf sein Vorgehen in der Auseinandersetzung. Er verläßt sich auf sein akademisches Rüstzeug. Das rhetorische Selbstbewußtsein eines Luther, aber auch eines Melanchthon (bei diesem gegenüber einem akademisch gebildeten und lateinischen, bei jenem gegenüber einem volkssprachigen Publikum) läßt Andreae dagegen vermissen. Doch wie ist der Einsatz des Deutschen als Streitsprache zu bewerten? Handelt es sich gar um eine gezielte Form der Streitlenkung? Erstaunlich wenig spricht fur diese Vermutung, wenn man sich seine Schrift und die Umstände ihrer Entstehung vergegenwärtigt. Der Einsatz des Deutschen führt bei Andreae zu keiner grundlegenden Veränderung im Hinblick auf die Wortwahl oder im Umgang mit der gegnerischen Schrift. Hier schreibt offensichtlich ein Gelehrter, der alle kontroverstheologischen loci communes beherrscht und der durch gelehrte oder eindrückliche Beispiele und Vergleiche seine Bücher zu gestalten weiß. Doch ist er nicht in der Lage, den Streitverlauf durch den geschickten Einsatz von zusätzlichen Streitpunkten zu verändern. Andreae fordert zwar Staphylus zu einer neuen Streitschrift heraus, doch ist der Streitgegenstand immer noch der gleiche, die Uneinigkeit der lutherischen Theologen. Durch den Wechsel der Streitsprache vermag es Andreae nicht, diesen schweren Vorwurf zu entkräften. Ja, Staphylus und mit ihm andere Verteidiger der römischen Kirche dürften ihm sogar dankbar gewesen sein. Denn daß es zu Beginn der 60er Jahre eine ausführliche Kontroverse um die Uneinigkeit der Evangelischen gab, erfuhr vielleicht manch ein interessierter Leser erst durch die Streitschrift von Jacob Andreae.

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Andreae: Bericht, nach Lagenzählung Bl. Aiijr.

119 d. Staphylus' Gegenbericht: gegen Andreae gerichtet, aber nicht gegen die Volkssprache Friedrich Staphylus reagierte mit einer deutschen Streitschrift451 und einer lateinischen Übersetzung davon, die nicht von ihm angefertigt wurde.452 Diese Reihenfolge mag überraschen. In der Mitte des 16. Jahrhunderts geschah es in Einzelfallen, daß ein deutscher Text und erst daraufhin eine lateinische Übersetzung eines theologischen Buches veröffentlicht wurde, wenn auch der umgekehrte Weg der häufiger beschrittene blieb. Auf dem Titelblatt des Christlichen Gegenberichts nennt Staphylus seinen württembergischen Kontrahenten nicht ausdrücklich. Trotzdem wird jeder mit dem Sachverhalt Vertraute sofort verstanden haben, daß diese Schrift sich gegen den angehenden Tübinger Theologieprofessor richtet, von dessen Berufung aber Staphylus zu dieser Zeit noch nichts zu wissen scheint. Dafür spricht zum einen der Titel Gegenbericht, der einerseits impliziert, daß diesem Buch bereits ein ,Bericht' vorangegangen ist, und der andererseits durch das Attribut ,christlich' als religionspolemische Schrift ausgewiesen ist. Denn die Zeitgenossen wußten, daß eine Schrift mit solch einem Titel zunächst ein Ziel verfolgte, nämlich einem Angehörigen der gegnerischen Konfession die Christlichkeit abzusprechen. Zum anderen wendet sich Staphylus mit dem dritten im Titel genannten Streitpunkt über die Uneinigkeit der evangelischen Theologen ausdrücklich dem von Andreae im Bericht angesprochenen Gegenstand zu. Staphylus geht in der Vorrede453 nicht auf Andreae ein, sondern erklärt, daß seine ungenannten Feinde „lugenhafftig auff den Cantzeln/ in den schulen/ vnnd

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Friedrich Staphylus: Christlicher gegenbericht an den Gottseligen gemainen Layen/ Vom rechten waren verstand des Göttlichen worts/ Von verdolmetschung der Teütschen Bibel/ vnd Von der ainigkait der Lutherischen Predicanten. Ingolstadt 1561. Eine Inhaltsangabe bei Soffher: Staphylus, S. 131-143 (erste Ausgabe) und S. 143-148 (zweite Ausgabe); Mennecke-Haustein: Conversio ad Ecclesiam, S. 226f. Der Christliche Gegenbericht ist in den ersten zwei Teilen die Überarbeitung des Buches Von dem rechten vorstandt deß Göttlichen Worts von 1560, erst im neuen dritten, gegen Andreae gerichteten Teil des Christlichen Gegenberichts reagiert Staphylus auf Andreae. Friedrich Staphylus: APOLOGIA D. FRIDERICI STAPHYLI, cuius praecipua argumenta sunt, De Vero germanoque scripturae sacrae intellectu, De Sacrorum Bibliorum in idioma vulgare tralatione, De Luteranorum concionatorum consensione. Iam recens Latinitate donata, opera F. Laurentij Surij Carthusiani. Köln 1561. Die Übersetzungen seiner deutschen Schriften ins Lateinische wurden, wie im Titel erwähnt, von Laurentius Surius in Köln angefertigt; vgl. Schenda: Legendenpolemik, S. 38f. mit Anm. 54. Vgl. auch Soffher: Staphylus, S. 146f.; Mennecke-Haustein: Conversio ad Ecclesiam, S. 226. Zwischen Titelblatt und Vorrede findet sich eine ausführliche Widmung an Bischof Martin von Eichstätt, vgl. Staphylus: Christlicher gegenbericht, nach Lagenzählung Bl. A2'-D4 V . In der lateinischen Widmung lobt er Martin als „Patronus" der Ingolstädter Akademie, dessen theologische Kenntnisse und seine Verdienste um die Wissenschaft. Die Lagenzählung beginnt nach der Widmung erneut mit ,A', allerdings in Fraktur. Die erste Ausgabe dieser Schrift ist dem bayerischen Rat und Hofkanzler Simon Eck gewidmet, in der zweiten Ausgabe ist der Eichstätter Bischof Widmungsadressat.

120 mit mancherlay schmachschriften schändtlich"454 über ihn herzögen. Da dieses Vorgehen durch keinerlei rechtliche Handhabe verhindert werden könne („weil sonst die ordenliche Richter in disem faal nicht zugelassen"), wolle er seine „vnschuld darthun", um die unbegründeten Beschuldigungen und „calumnien meiner feinde" öffentlich zu widerlegen 455 In den ersten beiden Teilen des Buches über die richtige Auslegung der Bibel und über die Verdeutschung derselben spricht Staphylus keine neuen Streitpunkte an, sondern wirft zwei grundlegende Streitfragen erneut auf: Vom rechten waren verstand des Göttlichen worts sowie Von verdolmetschung der Teütschen Bibel - wie es bereits auf dem Titelblatt heißt. Beide Streitpunkte wurden seit Beginn der Reformation behandelt - im Streit um Luthers Adelsschrift geht es nicht zuletzt darum.456 Mit allen drei Fragen nimmt sich Staphylus außerdem typischer ,Konvertiten-Themen' an.457 Sie sind fur die Theologie von Friedrich Staphylus Kernfragen zur Beurteilung der wahren Kirche. Diese Fragen, allen voran die erste vom „rechten waren verstand des Göttlichen worts", führen zwangsläufig zu theologischen Reflexionen über Tradition und Einheit der Kirche, beides Prinzipien der alten, römischen Kirche und weniger der Reformation.458 Durch die Behandlung dieser Frage signalisiert Staphylus seine Unabhängigkeit von der Schrift Andreaes: Hier beansprucht einer, wesentliche Streitfragen (und deren Antworten) zu kennen. Auf andere Theologen gilt es da nur einzugehen, wenn diese ebenfalls die Streitfragen traktieren. Auf geradezu brachiale Weise macht sich Staphylus damit auf, den Streit auf fundamentale katholische Vorwürfe gegen die Lutherischen umzulenken und festzulegen, indem er zwei neue Streitpunkte in die Kontroverse einfuhrt. Staphylus hält bis zum letzten Drittel des Buches den Anspruch aufrecht, er schreibe einen Christlichen Gegenbericht über verschiedene religiöse Streitpunkte und nicht etwa gegen einen einzelnen lutherischen Polemiker. Zu Beginn des dritten Kapitels geht er jedoch gegen Andreae in die Offensive: Der dritt thail dises buchs ist von dem/ dz die Lutherischen vnredlich von mir außgeben [...]/ als soll Ich etlich Articul irer leer [...]/ zum thail fälschlich allegieren oder anziehen/ vnd ihnen zum thail etlich Articul zuschreiben/ wölche sie nie geleert haben sollen. Souil nun die Spaltung vnd zwitracht der Lutherischen belangt/ schreyt der Doctor Schmidel Pfarrherr zu Göppingen Zether mordio vber mich/ vnnd schwört hoch vnd theür/ dz die Lutherischen [...] im fundament irer leer mit dem geringsten pünctlin nicht vnainig seyen [...]. Man findt hin vnnd wider vil [...] vnuerschembter menschen/ die da sagen dörffen/ Nacht sey tag/ Wasser sey feür/ vnzucht sey erbarkait [...]/ Aber einen vnuerschämbtern Predi-

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Ebd., Vorrede nach Lagenzählung Bl. Aiij r . « 5 Ebd. 456 Vgl. oben S. 66ff. 457 Vgl. Mennecke-Haustein: Konversionen, S. 247-251. 458 Vgl. ebd., S. 252f.

121 canten hat dise gantze viertig j s i her das Teütschland nie gesehen/ als eben disen Jacob Schmidlen zu Göppingen [...].

Mit diesem aggressiven Auftakt eröffnet Staphylus den dritten Teil des Christlichen Gegenberichts. Er sucht die direkte Konfrontation mit Andreae und spricht das Streitthema an, ohne nur mit einem Wort das von diesem erwähnte Flugblatt zu nennen. Andreae sei ein Wortverdreher und .unverschämter Predikant', weil er die Uneinigkeit der lutherischen Theologen leugne. Dieser Angriff setzt in sich bereits die Richtigkeit des Vorwurfs theologischer Uneinigkeit voraus. Staphylus geht es nicht um eine erneute Erörterung dieses Streitpunkts, selbst wenn diese sich noch anschließt. Es geht ihm zuvörderst um Konfrontation und um Wortzank. Zu diesem Zweck setzt er witzige Redewendungen und Sprichwörter ein,460 um seine Schrift unterhaltsam und anschaulich zu gestalten. Als er im Verlauf seiner Ausführungen das Flugblatt erwähnt, nennt er Andreaes Buch spöttisch „Laßzedel buch".461 Den Konflikt verschärfend, setzt Staphylus außerdem Zitate ein, die die eigentliche Argumentation Andreaes verfalschen, ohne dessen Wortlaut unkorrekt wiederzugeben: „Höre dagegen den maister Schmidelin im selbigen Laßzedel buch: Das diese bede leeren spricht er/ (verstee/ die Wittembergische vnnd Osiandrisch) nicht wider ainander seyen/ kann ain kind vmb siben jar versteen/ das nur seinen Catechismum gelernt hat etc."462 Mit diesen Worten bricht er das Zitat aus dem Bericht Andreaes ab 463 Staphylus legt durch das Zitat die Vermutung nahe, Andreae habe die völlige Gleichheit der Wittenbergischen und der Osiandrischen Theologie postuliert. Tatsächlich geht es Andreae im entsprechenden Abschnitt ausschließlich um die selig machende Funktion des Glaubens. Staphylus verfälscht gezielt den Sinn des Berichts, denn die theologische Distanz zwischen Andreas Oslander und den württembergischen Lutheranern war ihm bekannt. Ein Mißverständnis lag gewiß nicht vor. Vielmehr handelt es sich um eine der Verfälschungen der evangelischen Lehre, die bereits Melanchthon Staphylus vorgeworfen hat.464 Staphylus sucht in diesem letzten Teil seines Gegenberichts den Streit mit Andreae. Nun kann man diesem bestimmt nicht unterstellen, daß er dem abgeneigt gegenüberstand, immerhin hätte er nicht den Bericht schreiben müssen. Doch angesichts der präzisen, Abschnitt für Abschnitt traktierenden Widerlegung Andreaes im Bericht kann Staphylus' Christlicher Gegenbericht nur als Aggression gegen den Reformator gewertet werden. Um Andreae abschließend ein letztes Mal zu provozieren, folgt, ein Schlußwort ersetzend, ein erweiterter Abdruck der ausformulierten Ketzersystematik aus der ,Luther-Theologie', deren Nachahmimg auf dem Flugblatt Andreae zum Bericht veranlaßt hat.465 459 460

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Staphylus: Christlicher gegenbericht, nach Lagenzählung Bl. Piij v f. Ebd., nach Lagenzählung Bl. Piiij r : „Es schwindelt dem wetterhan vor disem argument [...]." Ebd., nach Lagenzählung Bl. R v ; vgl. Anm. 440. Ebd. Das Zitat findet sich wörtlich in Andreae: Bericht, nach Lagenzählung Bl. Ijj'. Vgl. etwa das oben S. 109f. mit Anm. 414. Staphylus: Christlicher gegenbericht, nach Lagenzählung Bl. Vijv—cijr.

122 Deutlicher konnte Staphylus Andreae nicht zu einer weiteren Schrift herausfordern.

e. Christlicher Grobianismus statt christlicher Milde Andreae nahm die Herausforderung rasch an. Im selben Jahr erschien die Clare vnnd helle Antwort/ auff den vngegründten/ lästerlichen Gegenbericht Jude Iscarioth/ so sich Fridericum Staphylum nennt,466 Darin bleibt er seinen soliden Widerlegungsprinzipien im Hinblick auf den Aufbau seiner Schrift treu. Seine Clare Antwort ist wie der Christliche Gegenbericht von Staphylus dreigeteilt. Andreae arbeitet sich regelrecht daran ab und antwortet Abschnitt für Abschnitt darauf. Im Gegensatz zum Christlichen Gegenbericht kann daher festgehalten werden, daß Andreaes Titelangaben zuverlässig sind: Zum zweiten Mal liegt eine responsio vor, und wieder geht ihr Verfasser nach dem gleichen Widerlegungsprinzip vor. Wer auf diese Weise argumentiert, versucht nicht, den Streitverlauf auf neue Streitpunkte zu lenken. Andreae bemüht sich weniger um Meinungsführerschaft als Staphylus. Er setzt, ähnlich wie Melanchthon, auf Überzeugung durch die aus seiner Sicht besseren Argumente und durch Redlichkeit als Indiz für den christlichen (gegenüber dem sophistischen) Redner. Doch birgt dieses Vorgehen die Gefahr in sich, die Kontrolle über den Streit zu verlieren. Das versucht Andreae zu umgehen. Ein christlicher vir bonus steht mehr noch als jeder andere Redner in der Pflicht, das aptum, die Angemessenheit der Rede, nicht durch unzuverlässige Argumente und derbe Ausfalle gegen den Gegner zu verletzen. Andreae sieht sich in der Ciaren Antwort vor das Problem gestellt, den verhältnismäßig verhaltenen Stil des soliden Antwortens zugunsten von mehr Aggressivität aufzugeben. Den Ausfallen von Staphylus erneut mit einer übersichtlichen Erwiderung im Stile der Responsio oder des Berichts zu begegnen, wäre vermutlich in dieser Kontroverse verfehlt gewesen, weil sie Andreae in eine weit schwächere, einsteckende Position gedrängt hätte. Deswegen weicht er von seinem Widerlegungsprinzip nicht ab, aber er verändert grundlegend seine Wortwahl. Das wird schon beim Blick auf das Titelblatt deutlich.467 Andreae nennt seine Schrift Clare vnnd helle Antwort und reagiert damit auf Staphylus' Christlichkeitspostulat. Er gibt zunächst über seine Vorgehensweise Auskunft. ,Klarheit' steht für die rhetorische Kategorie der perspicuitas, die als

466

467

Jacob Andreae: Clare vnnd helle Antwort/ auff den vngegründten/ lösterlichen Gegenbericht/ Jude Iscarioth/ so sich Fridericum Staphylum nennet. Von rechten verstand des Göttlichen worts. Von dolmetschung der Teütschen Bibel. Von der Einigkeit der Lutherischen Predicanten. Tübingen 1561. Sogar die farbliche Titelblattgestaltung von Andreaes Schrift scheint sich an der des Staphylus zu orientieren. Auf Titelblättern von diesem war bereits zuvor neben schwarzer auch rote Druckfarbe eingesetzt worden. Der Rotdruck einzelner Angaben (etwa Verfassername und Druckort) wird auch auf dem Titelblatt der Ciaren Antwort angewandt.

123 Ideal auf Cicero zurückgeht.468 Deutlichkeit also ist es, was Andreae anstrebt, und deutlich sind die Attribute, die er dem Gegenbericht seines Gegners beigibt: „vngegründet", nicht begründend, nicht argumentierend, und „lösterlich", lästerlich. Wie schon im Bericht wird Staphylus zum Wiedergänger des Judas („so sich [...] Staphylum nennt"). Diese Beschimpfung konkretisiert Andreae auf dem Titelblatt, denn statt eines knappen biblischen Mottos steht nach der Namensnennung des Autors der folgende Text: MATH. XXVI. Was wölt ir mir geben/ ich will jn euch verrhaten? vnd sie boten jm dreissig Silberlinge dar. MATH. XXVII. Da aber sähe/ der jn verrhaten hette/ das er verdampt ware zum Todt/ gerewet es jn/ vnd sprach zu den hohen Priestern. Ich hab übel gethon/ das ich vnschuldig blut verrhaten habe. Sie sprachen/ was geht vns das an? da sihe du zu. Vnd er warff die Silberlinge in den Tempel/ hub sich daruon/ gieng hin/ vnd erhengte sich selbs.

Umfangreicher kann der Text auf einem Titelblatt im Quartformat und weitreichender kann der Vorwurf gegen einen Theologen, unabhängig von seiner Konfession, kaum sein. Staphylus wird nicht nur zum Judas, weil er die Kirche verrät, sondern weil er sich kaufen läßt. Mit den zitierten Ausschnitten aus dem Matthäus-Evangelium spielt Andreae auf die Dienste fur katholische Fürsten, unter ihnen auch der Kaiser, und auf die Berufung nach Ingolstadt auf Betreiben von Canisius an. Die zentralen Vorwürfe gegen Staphylus sind damit bereits auf dem Titelblatt formuliert. Thema ist nicht mehr die Widerlegung des Ketzervorwurfs oder die Entkräftung der angeblichen Uneinigkeit der evangelischen Theologen. Andreae schickt sich zu einer Antwort an, in der es vornehmlich um Bekämpfung des Gegners geht. Das schlägt sich in der Anrede nieder. Andreae spricht nicht mehr mit Staphylus, sondern nur noch über ihn in der 3. Person Singular. Dabei gibt er ihm verschiedene Schimpfnamen. Auf der selben Seite nennt er ihn „abtrinnigen Buben", „unuerschämpten Lösterer" und „Lugenmaul".469 Staphylus' Äußerungen werden fast ausschließlich ,Lügen' genannt. Schon im Vorwort an den Leser beschimpft ihn Andreae im derbsten grobianischen Stil470 als „Saw/ ja ein grobe/ dicke/ feißte Saw".471 Hintergrund dieser Beschimpfung ist die Feststellung von Staphylus, daß die Fürsten als Laien keine Entscheidungsgewalt in theologischen Streitfragen haben sollten, sondern ausschließlich (katholische) Geistliche. Dazu führt Andreae aus: 468 469 470

471

Cicero: De oratore 2,56. Andreae: Clare vnnd helle Antwort, Bl. 56v. Grobianismus ist bekanntlich nicht erst seit dem berühmten Grobianus des Friedrich Dedekind (zuerst 1549) ein Phänomen der deutsch- wie lateinischsprachigen Literatur seit dem späten Mittelalter. Er erreicht in den Jahren nach dem Erscheinen von Dedekinds Schrift seinen vorläufigen Höhepunkt; vgl. zur ersten Orientierung neben Rupprich: Das Zeitalter der Reformation, S. 216-219, Hans-Jürgen Bachorski: Grobianismus. In: RLW 1 (1997), S. 743-745. Andreae: Clare vnnd helle Antwort, Vorrede unpaginiert, nach Lagenzählung Bl. Bij r .

124 Wer aber jetzundt/ des Staphyli Buch lißt/ vnd findet die vrsach/ Nämlich/ dann die Perlen gehören nicht für die Sew/ Wölche Christliche Oberkeit will sich für ein Saw vmbziehen vnd außrüffen lassen? Sollen die Keyser/ die Churfursten/ Fürsten/ Grauen/ Herrn/ vom 472 Adel/ Burger/ etc. alle Sew sein?

Andreae verfälscht nun seinerseits die Äußerungen des Konvertiten, um diesem zu unterstellen, er habe vom Kaiser bis zum einfachen Bürger alle Laien als ,Säue' beschimpfen wollen. Diese Darstellung gipfelt in der Feststellung, da Staphylus kein geweihter Priester sei, sei dieser ebenfalls ein „Lay" und damit eben eine „Saw".473 .Klarer' kann Andreae nicht ausfuhren, was er von seinem Gegner hält. Deswegen erscheint es um so bemerkenswerter, daß er seinen auf solides Widerlegen abzielenden Aufbau nicht zugunsten eines Gattungsrahmens aufgibt, der ihm mehr Freiheit läßt. Das trotzdem beibehaltene argumentative Strukturprinzip ist vor dem Hintergrund der angesprochenen perspicuitas sinnvoll. Das Vorgehen Andreaes, das er nicht reflektiert, ist äußerst konsequent. Er schließt Staphylus aus dem Kreis der Rezipienten unausgesprochen aus. Er beschimpft ihn, er vergleicht ihn mit Judas, er spricht ihn nicht persönlich an, und die Vorrede ist allgemein an den christlichen Leser adressiert. All das sind Indizien dafür, daß es ihm nicht um die Überzeugung von Staphylus geht. Doch gegenüber allen andern potentiellen Lesern versucht Andreae, sich nicht anders zu verhalten als bisher, deswegen verändert er seine Wortwahl in bezug auf den Gegner, nicht aber den Aufbau seiner Schrift im Vergleich zu den Vorgängerschriften. Sein Vorgehen ist ein groß angelegter Versuch der Stigmatisierung474 von Friedrich Staphylus, den die Antiklimax vom Kaiser zum Bürger unterstützen soll.

f.

Der Versuch, zwischen Schmähung und Kontroverstheologie

zu trennen

Andreaes Aggression fand rasch ihre Erwiderung in einem kleinen Buch von Friedrich Staphylus. Im Vortrab zu rettung des Buchs. Vom rechten waren verstand des Göttlichen worts/ Von verdolmetschung der Teütschen Bibel/ vnd Von der ainigkait der Lutherischen Predicanten475 geht Staphylus umgehend auf den Streit ein. Er verzichtet auf eine Widmung ebenso wie auf eine Vorrede. Indessen unterstreicht er durch ein Epigramm auf der Rückseite des Titelblatts seine Gelehrtheit und sein literarisches Können. Inhaltlich wendet er sich in

472 473 474

475

Ebd. Ebd. Vgl. Erving Goffinan: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Übers, von Frigga Haug. Frankfurt a.M. 1994. Friedrich Staphylus: Vortrab zu rettung des Buchs. Vom rechten waren verstand des Göttlichen worts/ Von verdolmetschung der Teütschen Bibel/ vnd Von der ainigkait der Lutherischen Predicanten. Ingolstadt 1561. Eine Inhaltsangabe bei Soffher: Staphylus, S. 148-154; Mennecke-Haustein: Conversio ad Ecclesiam, S. 227f. Ein ,Vortrab' ist „ganz allgemein eine vorbereitende ausführung oder auch eine beschränkte vorwegnähme", Grimms DWb 12, 2. Abt. (1951), Sp. 1750.

125 dem Epigramm gegen Andreae und gegen den Vergleich mit Judas und fordert abschließend den Leser auf, nicht den Büchern des Göppinger Pastors zu glauben.476 Dahinter steht der von Melanchthon ein- und von Andreae fortgeführte Sophismusvorwurf. Staphylus demonstriert sein humanistisch-literarisches Können, um zu beweisen, daß er der vir bonus ist, wodurch er mittels einer reflexio den Vorwurf der Lutherischen gegen seine Person aufnimmt, umkehrt und gegen Andreae richtet. Denn wie bereits ausgeführt, ist die „Vertrautheit mit allen Bereichen des orbis litterarum"477 wesentliches Merkmal des vir bonus. Gerade diese versucht Staphylus unter Beweis zu stellen. Der folgende Haupttext ist mit „Friderici Staphyli kurtze antwort auff Jacobi Schmidelini jüngst schreiben" betitelt. In der Tat ist die vorliegende Schrift eine der kürzeren in diesem Streit. Sie umfaßt lediglich 36 Blatt. Das erklärt sich durch einen bemerkenswerten Schwenk im Streitverlauf. Staphylus kündigt an, er beabsichtige, eine ausfuhrliche Widerlegung zu verfassen, und habe bereits damit begonnen, „des Schmidels buch nach der leng durchauß zu widerlegen". Doch da das viel Zeit beanspruche, habe er „mitlerzeit" diesen „klainen Vortrab außgeen lassen".478 Durch dieses Vorgehen versucht Staphylus, die persönlichen Vorwürfe gegen seine Person und sein Verhalten im Streit von der theologischen Kontroverse um die drei genannten Streitpunkte zu trennen. Um diesen Anspruch zu betonen, stellt er einleitend zwar den bisherigen Streitverlauf dar, er erwähnt das Wormser Kolloquium, seine ,Luther-Theologie' sowie

476

477 478

DE LIVORE SCHMIDELINI, Epigramma extemporaneum cuiusdam Catholici uiri. Qvod Staphylum appellas, peruerso nomine, Iudam, Illum non uinces hac ratione Faber : Scriptaque sectarum poteris pugnantia nunquam Concordare tuis ganeo criminibus. Vt uulgo imponas, uulgo mendacia cudis In Clerum, semper quae caruere fide. Dogmata maiorum longo iam tempore sparsa Deseris, haec Stygio est res adamata Deo. Emeritos culpasque patres, sanctumque profanas, Nescio num peius lingua proterua sonet. Te Goeppingensis Pastorem Ecclesia iactat, Pascere quem porcos stercore sit melius. Desine Vulcani, cessa fabricare Cyclopum Immani posthac lurida tela manu: Follibus ut nigris, desintque incudibus ignes Procura, et linguam comprime sacrilegam. Tuque age, Schmidelinis, Lector, ne crede libellis, Nam tibi sub dulci melle uenena coquit. Neben dem Bezug auf den aktuellen Streitverlauf sticht die Ähnlichkeit der Metaphern mit den drei Epigrammen von Emser ins Auge; vgl. oben Anm. 313, 316, 319. Eine ausführliche und vergleichende Textanalyse kann im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden, weil den Epigrammen im Argumentationsverlauf eine untergeordnete Funktion zukommt. Vgl. oben S. 108f. Staphylus: Vortrab, nach Lagenzählung Bl. Aiij'.

126 namentlich die Anfeindungen Melanchthons. Doch redet er in diesem einer narratio entsprechenden Beginn seines Buches nur von seiner Person, nicht aber von den theologischen Fragen und Streitpunkten, die den Anlaß zu der Kontroverse gaben. Dabei vergleicht sich Staphylus mit einem Schiff, das sicher im Hafen liege und durch einen Sturm auf das hohe Meer getrieben werde. Der Sturm sei das „plitzen/ thonnern vnd stürmen" der angeblich so „sanfftmütigen Euangelischen Predicanten"479 gewesen. Staphylus stellt sich als Opfer der lutherischen Anfeindungen dar, wobei er durch den Vergleich seine Passivität betont, die eine Fiktion ist und als Unschuldstopos in einer captatio benevolentiae gewertet werden muß. Um dieses Ziel zu erreichen, konstruiert Staphylus einen größtmöglichen Kontrast zu Andreae; er erklärt: Ich hab auff des Schmidels schmähen/ schelten vnd stirmen ain gütlichen/ Christlichen grundfesten gegenbericht gethan/ vnd mich also aller vnfreiindlichen wort gmässigt/ das ich nit gern hab ain syllaben schreiben wollen/ die irgent der warhait zu nachthail ain Verbitterung bringen oder geben kündte.

Andreae sei im folgenden Buch diesem Anspruch nicht nachgekommen. Er habe ihn „mit vngrundt [...] ain Judas Iscariot" genannt und mit „alle mügliche tiick versucht/ ob ehr mich bey Chur vnd Fürsten in vngnad setzen/ vnd meniglich verhaßt machen möcht."481 Dieses Vorgehen sei Anlaß, sich vorläufig der Rettung der eigenen Person zuzuwenden, ehe er die theologische Widerlegung abschließe. Staphylus lenkt damit ein weiteres Mal den Streitverlauf durch die Personalisierung der Kontroverse. Er reagiert mit diesem Vorgehen auf den aggressiven Invektivstil Andreaes in der Ciaren Antwort. Durch die Trennung zwischen persönlicher und sachlich-theologischer Auseinandersetzung teilt Staphylus nicht nur den Streitverlauf, er demonstriert Souveränität. Er zeigt, daß er in der Lage ist, die beiden Streitebenen voneinander zu trennen. Wie schon im Epigramm läuft Staphylus' Vorgehen darauf hinaus, sich zum wahren vir bonus der Kontroverse zu erklären. Damit tritt er im Hinblick auf den Einsatz des vir-bonus-Ideals als Streittechnik das Erbe seines Lehrers Melanchthon an, was für die Lutheraner provozierend gewesen sein muß.482 Dieses Vorgehen ergänzt er um eine Anklage. Nachdem er seine Rechtschaffenheit ausfuhrlich dargelegt hat, appelliert er: Ist derhalben mein Christliche vndterthenige bitt an den Durchleüchtigen Hochgebornen Fürsten vnnd Herrn/ Herrn Christoffen/ Hertzogen in Wirtenberg etc. meinem gnedigen Herrn/ Ir F. G. wöll den Jacob Schmidlen mit ernstlichem beuelch dahin halten/ das ehr solche ehrenrürigen auflag mit Recht gegen mir fürnemen vnd außfüre/ damit der vnschuldig rhu vnd frieden/ der schuldig sein gebürlichen lohn vnd straff erlangen mög.

479 480 481 482

483

Ebd., nach Lagenzählung Bl. Aij". Ebd., nach Lagenzählung Bl. Aij v f. Ebd., nach Lagenzählung Bl. Aiij'. Ergänzen läßt sich, daß Staphylus Andreae indirekt Sophismus vorhält, ebd., nach Lagenzählung Bl. Aiiij v : „Ist sich derhalben nicht zuuerwundern/ das sich die ketzer dieser faulen Rhetoricken seer vnd vil gebrauchen [...]." Ebd., nach Lagenzählung Bl. Aiiij v .

127 Staphylus reagiert auf die persönlichen Angriffe Andreaes mit ostentativer Seriosität. Er enthält sich der Schimpfworte und der derben Vergleiche. Mit der , Anklage' erreicht dieses Vorgehen seinen Höhepunkt. Direkt spricht Staphylus den württembergischen Herzog Christoph an und stellt sich dessen Urteil, das er vorwegnimmt, da nicht daran zu zweifeln ist, daß „der vnschuldig" Staphylus, „der schuldig" aber Andreae heißt. Doch geht es nicht darum, ein rechtskräftiges Urteil zu erlangen. Die vorliegende Schrift ist keine Anklageschrift, und der Herzog selbst war der wichtigste Förderer Andreaes. Staphylus weist sich ein weiteres Mal als der Redliche des Streites aus. Er demonstriert durch diesen knappen Abschnitt, daß er sich seiner Sache sicher ist, so sicher, daß er sich sogar dem Urteil eines lutherischen Fürsten zu stellen wagt. Vor dem Hintergrund des Streitverlaufs und der teilweise grobianischen Wortwahl Andreaes überrascht es nicht, daß Staphylus auf das Schmähen nicht etwa verzichtet. Anlaß bietet ihm die Beschimpfungstirade Andreaes: „Der grob Schmidpengl (Gott verzeich mirs)484 gibt fur/ ich hab Kayser/ Künig/ Fürsten vnd Herrn fur Sew außgeruffen". 485 Staphylus rekapituliert die Argumentation und die Worte Andreaes,486 um zu einer ironisch-grobianischen Erwiderung anzusetzen, in der das bäurische Milieu des ursprünglichen ,Grobian' Ausgangspunkt ist:487 „Habt danck liebe Schmidische Saw/ ihr seit nicht ain vnsaubers thier/ man solt euch billich auff ain Sameten polster setzen/ vnnd nicht anders auff erden zuthun beuelhen/ dann das ihr Katzen vnnd Meiiß die subtile Dialectick leeret."488 Gekonnt verknüpft Staphylus den vir-bonus-Diskurs mit Grobianismen, indem er Andreae einerseits logische Grundkenntnisse durch die ironische Empfehlung abspricht, doch Katzen und Mäuse zu unterrichten. Andererseits nennt er den Lutheraner nun selbst ,Sau', wobei er sogar sein ironisches Spiel damit treibt, wenn er Andreae ausdrücklich vom Vorwurf frei spricht, ein ,unsauberes Tier' zu sein. Auch Staphylus läßt nicht von der zeittypischen Vorliebe des satirischen Spiels mit dem Namen bis hin zur grobianischen Beschimpfung wie eben „Schmidische Saw" ab.489 Er nennt Andreae in Anlehnung an den Zusatznamen Schmidel „Maister hemmerle" 490

484

Eine Reminiszenz an das vir-bonus-Ideal, da Staphylus die gewählte Wortwahl zugunsten des Grobianischen aufgibt. 485 Staphylus: Vortrab, nach Lagenzählung Bl. Br. 486 Ebd., nach Lagenzählung Bl. C v : „Die Teütsche Bibel den Layen zulesen vergünnen/ ist die perle fiir die Sew werffen. Die Kayser [...] vnd Herrn seind Layen. Darumb müssen sie auch vom Staphylo für sew geschetzt werden." 487 .Grobian' ist zunächst bei Zeninger die Verdeutschung von rusticus und wird erst durch Brant in die Narrensatire eingeführt; in Murners Schelmenzunft vermischen sich diese Elemente auf das Derbste, wo ein Schwein den Vorsitz einer Tafelrunde innehat - zwar ähnelt die herausgehobene Stellung der „Schmidischen Saw" bei Staphylus Murners Entwurf, doch liegt mit dem akademischen Umfeld bei Staphylus ein grundsätzlich anderer gesellschaftlicher Kontext vor als bei Murner; vgl. Rupprich: Das Zeitalter der Reformation, S. 216f. 488 Staphylus: Vortrab, nach Lagenzählung Bl. Cv. 489 So noch öfters etwa ebd., Bl. Cij r . 4 «c Ebd., Bl. C v .

128 und vergleicht die lutherischen Prediger mit deutlichem Bezug auf Andreae mit „vnberüffhen Schmidknechten/ Schergen/ Henckern".491 Im Schlußwort steigert Staphylus die Namenssatire und vergleicht Andreae mit Volcanus, der gewissermaßen das lahme Problemkind des Göttervaters mit seinen von diesem deformierten Füßen und seiner zu Spott reizenden Gestalt war: „Vnnd ob schon dieser Vulcanus mit seinem groben hamer/ noch so greülich auff den ampoß schlieg/ also das das hellisch fewr daruon springen möchte/ so soll er mich dennoch nit also erschrocken".492 Zunächst verunglimpft Staphylus mittels der Namenssatire seinen Gegner. Durch die abschließende Wendung hin zur Gewißheit des Unerschrockenen ahmt Staphylus ferner den heilsgewissen Sprachduktus etwa der Psalmen Davids nach („so soll er mich dennoch nit also erschrocken").493 Er arbeitet auf verschiedenen sprachlichen Ebenen, um seine Glaubensgewißheit und die Legitimität seines Verhaltens im Streit auszudrücken. Ab Blatt Ciij' setzt Staphylus zu einer umfangreichen Verteidigung des Christlichen Gegenberichts und zu einer Erwiderung auf die Clare Antwort an. Er zieht den ehemals dritten Teil von der Uneinigkeit der lutherischen Theologen vor. Der Vortrab wird dadurch nicht nur zu einer großangelegten Auseinandersetzung zwischen Staphylus und Andreae, wie es der Konvertit zunächst postuliert hat. Staphylus kehrt zu seinem Kernvorwurf zurück und legt eine weitere umfangreiche Dokumentation der lutherischen Widersprüchlichkeit als indirekten Beweis für die Katholizität der altgläubigen Kirche vor. Dieses Vorgehen entspricht zwar oberflächlich keineswegs der postulierten Separation der Konfliktstoffe, wenn man davon ausgeht, daß diese sich in unterschiedlichen Büchern niederschlagen müßte. Doch trennt Staphylus im Buch diese beiden Teile voneinander ab 494 Er beläßt es vorläufig bei den Ausführungen zum dritten Abschnitt über die Uneinigkeit der evangelischen Theologen. Die vorangestellte persönliche .Abrechnung' mit Andreae bietet außerdem den Vorteil, daß er im zweiten Teil ohne jede Erklärung an Wortspiele und Schimpfworte aus dem ersten, persönlichen Teil des Vortrabs anknüpfen kann, wie das zitierte Beispiel (,Schmidel sei Vulcanus') aus dem Schlußwort verdeutlicht, was Vertrautheit der Leser mit dieser Metaphorik voraussetzt. Im folgenden Jahr veröffentlichte Staphylus die angekündigte Fortsetzung des Vortrabs, in der er sich mit dem Uneinigkeitsvorwurf nicht mehr auseinandersetzt.495 Da es sich nicht nur dem Titel nach, sondern auch in Wortwahl

49

' Ebd., Bl. Cij r . Ebd., Bl. Iiij". Vgl. dazu auch das Epigramm oben in Anm. 476. 493 Zu denken ist etwa an Psalm 23. 494 Staphylus: Vortrab, nach Lagenzählung Bl. Cij v : „Diß sey genug von meiner Person: Jetz will ich zur sache selbs greiffen [...]." 495 Friedrich Staphylus: Nachdruck zuuerfechtung des Buchs Vom rechten waren verstandt des Göttlichen worts/ vnd Von der Teütschen Bibel verdolmetschung. Wider Jacob Schmidlen Predicanten zu Göppingen. Ingolstadt 1562. Vgl. dazu Soffner: Staphylus, S. 155-158; Mennecke-Haustein: Conversio ad Ecclesiam, S. 228. Der Nachdruck ist wesentlich umfangreicher als der Vortrab, 235 Blatt. Ein Jahr später erschien eine lateini492

129 und Aufbau um die Fortsetzung des Vortrabs handelt, bleibt der Nachdruck unberücksichtigt.

g. Zwischen Seelsorge und

Schlachtfeld

Trotz der angekündigten Fortsetzung wartete Andreae den Nachdruck nicht ab, sondern reagierte umgehend.496 Seine neue Schrift ist persönlich gefärbt, doch nicht etwa durch weitere gezielte Invektiven. Der Stil ist pastoral, ganz als kehre er zu seinem eigentlichen Amt zurück. In der Vorrede wendet sich Andreae als Seelsorger an Staphylus, um ihn zu „Büß vnd Bekerung"497 zu bewegen. Er spricht Staphylus direkt an, zum ersten Mal in diesem Streit, und appelliert an dessen Gewissen. Er erinnert ihn an seine Zeit in Wittenberg und Königsberg und resümiert diese mit der rhetorischen Frage „Wer wolt selbigen mals gedacht oder geglaubt haben/ das du der grossest feind des H. Euangelij worden/ vnnd zu den Bäpstischen solltest getretten sein?"498 Die Vorrede abschließend, setzt er zu einem langen Appell zur Umkehr, zur erneuten Konversion an: „Derhalben ker vmb Staphyle/ kere vmb/ setze dein Seel vmb zeittlicher Ehr vnnd eigens Nutzen willen/ nicht in das ewig verderben [...] helff dir der Allmächtig Gott/ mehr kann ich dich nicht warnen oder vermanen." 499 Andreae durchbricht durch die Vorrede den wirkungsmächtigen Antagonismus zwischen vir bonus und Sophist und ersetzt ihn durch einen Appell, in dem die Rollen ebenso eindeutig verteilt sind wie bisher. In keiner Schrift des Konflikts werden theatralische Momente des Streitens offensichtlicher als in der Abfertigung eingesetzt. Im bisherigen Verlauf versuchten die Protagonisten durch den variierten Sophismusvorwurf, eine Reduzierung des Konflikts vornehmlich auf einen weltlichen Kern zu erreichen. Durch seinen seelsorgerlichen Appell negiert Andreae diese Taktik. Trotzdem nimmt er den Rollenwechsel wie selbstverständlich vor, wobei dieses Vorgehen für Andreae bemerkenswert ist, weil er sich in seinen ersten Streitschriften im Einsatz verschiedener Streittechniken nicht sehr flexibel gezeigt hat. In anderen Streitschriften ist solch ein Rollenwechsel dagegen üblich.500

sehe Obersetzung, die abermals von Surius angefertigt wurde: ABSOLVTA RESPONSIO D. FREDERICI STAPHYLI, IN DEFENSIONEM APOLOGIAE SVAE, DE vero germanoque Scripturae sacrae intellectu, et de sacrorum BibJiorum in vulgare idioma Tralatione, Aduersus Iacobum Smidelinum Göppingens, concionatorem. Interprete F. Laurentio Surio Carthusiano. Köln 1563 (vgl. auch oben Anm. 452). Die erneute Anfertigung einer Übersetzung ist ein weiteres Indiz fur die Wertschätzung, die Staphylus' Wissen und Argumentationsweise in katholischen Gelehrtenkreisen erfuhr. 496 Jacob Andreae: Abfertigung Des Vortrabs Friderici Staphyli. Tübingen 1562. 497 Ebd., nach Lagenzählung Bl. Aij'. 49 « Ebd. 499 Ebd., nach Lagenzählung Bl. Aiij'. 500 vgl. etwa unten S. 140ff.

130 Im Haupttext folgt eine zweite Inszenierung, bei der Andreae von der direkten Anrede des Seelsorgers wieder in die 3. Person Singular wechselt und sich einiger Streittechniken nicht enthält, die dem seelsorgerlichen Duktus nicht angemessen sind.501 Zunächst schildert er die jüngste Entwicklung des Streits, um anschließend zu erklären, daß Staphylus durch den Vortrab „allen fridliebenden Christen zuuerstehn gibt/ das er noch nicht lust zum friden/ sonder einen heffiigen Krieg fürhabe/ den er wider die reine Lehr des heiligen Euangelij/ vnnd desselben Bekenner erst anrichten vnnd füren will."502 Diesen Kriegsvorwurf nimmt Andreae zum Anlaß, ein Schlachtszenario zu entwerfen. Zunächst wendet er sich dem gegnerischen Feldherrn Staphylus zu: Er hatt aber disen seinen Vortrab nicht außgerüstet mit Helmlin/ Harnisch/ Wöhr vnnd Waffen/ wie der Apostel Paulus beschriben hat/ dann an statt der Warheit sein sie vmbgürttet mit Lüge/ an statt des Krebs der Gerechtigkeit/ mit vngerechtigkeit vnnd eitteler boßheit/ So sein sie auch nicht gestifelt zum Euangelio des fridens/ sonder nur vnfriden vnnd trennung grösser zumachen [...].

Andreae nennt die weiteren Insignien des miles christianus, um, ähnlich wie im Streit zwischen Luther und Emser, eine konkrete Auseinandersetzung zu inszenieren.504 Doch geht er dabei, anders als im Streit um die Adelsschrift, nicht von einem Kampf Mann gegen Mann aus, sondern von einer Schlacht zwischen ,Geschwadern', wie er einzelne Angriffe von Staphylus nennt. Das erste etwa ist die Anklage beim württembergischen Herzog.505 Diesem ,Geschwader' könne er zwar sehr wohl mit einer „anzal wol außgerüster Reutter" begegnen, „die disem meinem feind starck gnug sein würden". Doch sei der Vortrab ein derart schlechtes Buch, daß „ein Scharmitzel" völlig genüge, um „durch Gottes Gnaden [...] leichtlich/ vnd on alle müh oder gefahr [zu] obsigen."506 Tatsächlich macht sich Andreae im folgenden nicht die Mühe, ausführlich auf Staphylus einzugehen, vielmehr erklärt er: Wenn Staphylus „an mich etwas zuklagen" habe, dann „suche [er] mich darumb/ wie Recht ist [...]/ es soll mein Gnädiger Herr vnnd Landtfürst mein nicht verschonen/ sonder [...] zu einem Exempel mich mit allen vngnaden straffen."507 Andreae beginnt gar nicht erst, sich durch lange Ausführungen zu rechtfertigen. Er verweist durch die ironische

501

Andreae, Abfertigung Des Vortrabs, Bl. 4', variiert ironisch Staphylus' satirisches Spiel mit seinem Namen: „Ich will ihm ein mal zuschaffen gnug geben/ vnnd [...] auff meinem Anboß so waich klopffen/ das jm ein Mauß durch sein Harnisch sollte nagen künden." 502 Ebd. Bl. 2V. Andreae treibt hier u.a. ein ironisches Spiel mit dem Titel der gegnerischen Schrift. Denn ein ,Vortrab' ist nicht nur eine vorwegnehmende Schrift (vgl. Anm. 475), sondern zunächst ein militärischer Fachbegriff, der eine (reitende) Vorhut meint, vgl. Grimms DWb 12, 2. Abt. (1951), Sp. 1748-1751. 503 Andreae: Abfertigung Des Vortrabs, Bl. 2V. 504 Vgl. oben S. 88ff. 505 Andreae: Abfertigung Des Vortrabs, Bl. 3V: „Das erst Geschwader soll mich gefangen für den durchleüchtigen/ hochgebomen Fürsten [...] Christoffen [...] füren/ vnd mit ernstlichem Beuelch dahin halten/ das ich jne mit Recht furneme/ von wegen ettlicher Tittel vnd Namen/ so ich jme in der jüngsten Antwort zugelegt." 506 Ebd., Bl. 3 v f. 507 Ebd., Bl. 4'.

131 Aufforderung, nach Württemberg zu kommen und Klage zu erheben, auf die faktische Belanglosigkeit der Beschuldigungen von Staphylus, um diese als bloße Fiktion und rhetorische Streittechnik zu entlarven. Außerdem beläßt es Andreae in dieser Schrift erstmals nicht bei der Reaktion auf Staphylus. Nachdem er die drei .Geschwader' 508 geschlagen hat, macht er sich auf, eine ausführliche Rechtfertigung der Confessio Augustana zu verfassen.509 Durch dieses Vorgehen gelingt es ihm, den Streitverlauf um zusätzliche Streitpunkte anzureichern und damit mögliche Streitthemen zu prägen. Bisher war es Staphylus, der Streitpunkte und damit den Verlauf der Auseinandersetzung vorgegeben hat. Der von Staphylus angestrebten Trennung von theologischer und persönlicher Streitebene entsprechend, folgt auf die theologischen Ausführungen zur Augsburgischen Bekenntnisschrift eine Entgegnung auf fiktive Erwiderungen zur Rechtfertigung und Entschuldigung von Staphylus.510 Diese gehorchen immer dem gleichen Aufbau. „Der erst sagt: Staphylus wer dannoch ein ehrlich Mann/ von ehrlichen Eltern geborn/ vnnd von hohen Personen gebraucht/ darinnen ich jne/ wie er ist/ pleiben lasse: Judas was auch von hohen Leütten gebraucht/ aber darumb nicht besser [...]." 5 n Zunächst stellt ein Ungenannter eine schlichte Erwiderung auf, der Andreae („ich") begegnet, um mit einem Allgemeinplatz - hier: gute Abstammung macht noch keinen guten Menschen aus - einen bereits bekannten Vorwurf gegen Staphylus zu wiederholen. Staphylus bleibt damit auch in ACT Abfertigung Judas. Durch diese persönlichen Angriffe verhärtet Andreae gezielt die Fronten. Doch manifestiert sich im Vergleich zu seiner vorherigen Schrift ein grundlegender Unterschied. Andreae verzichtet auf die direkten Beschimpfungen und kleidet sie statt dessen in indirekte Angriffe. Seine Schrift wirkt deswegen weniger aggressiv. Außerdem spricht er abschließend den Leser an, um ihn für seine Sache einzunehmen. „Hie wöllestu Christlicher Leser die arglistige Boßheit Staphyli behertzigen/ darmit er dem gemeinen Mann blawen Dunst vnder die Augen machen will".512 Dieses Vorgehen zielt auf den emotionalen Schulterschluß mit den Lesern. Im Hinblick auf das seelsorgerlich anmutende Vorwort offenbart sich dadurch ein weiteres Mal, wie wenig es Andreae darin um die Buße und Bekehrung des Konvertiten geht. Wenn er am Ende durch die direkte Leser-Ansprache diesen gegen den „Judas" Staphylus einzunehmen versucht, so muß das Vorwort als erster Versuch gewertet werden, von Beginn

508

509 510 511 512

Das 2. ,Geschwader' ist die Aufforderung, zu theologischen Spitzfindigkeiten Stellung zu beziehen, ebd., Bl. 7 r -8 r ; das 3. .Geschwader' ist die Aufforderung, in eine Auseinandersetzung über einzelne Punkte der Confessio Augustana zu treten, ebd., BI. 8 r -10 r . Ebd., Bl. 10 v -19'. Ebd., Bl. 21 r -33 v . Ebd., Bl. 21rf. Ebd., Bl. 33v, weitere Beispiele ebd. Bl. 35v: "Du hast auch Christlicher Leser auß diser kurtzen Antwortt zuuernemen/ wie gar ich mir vor Staphylo bey diser Sachen nicht grawsen lasse [...]." Ebd., Bl. 37v: „Hierzwischen wollend alle fromme Christen bey der rainen vnuerfelschten Lehr des heiligen Euangelij [...] vest vnd bestendig bleiben [...]."

132 der Schrift an die Gunst des Lesers zu gewinnen. Um das Seelenheil von Friedrich Staphylus geht es Jacob Andreae dabei trotz des seelsorgerlichen Duktus nicht. Der ist als Judas für alle Ewigkeit verloren. Auch auf den Nachdruck von Staphylus reagierte Andreae noch. In der umfangreichen (128 Blatt) Erwiderung Grundtliche Erclärung dreyer Hauptartickel Christlicher Lehr513 setzt er sich weiterhin mit theologischen Streitfragen auseinander. Deswegen stehen am Ende dieser Kontroverse zwei umfangreiche Bücher, die vielleicht gerade durch den Streit, den sie beschließen, zu wichtigen deutschsprachigen Kompendien der katholischen und der lutherischen Kontroverstheologie nach dem Tod Ecks und Cochlaeus', Melanchthons und Luthers werden. Der frisch ernannte „Probst vnnd Cantzler der Vniuersitet zu Tübingen"514 Jacob Andreae, die lutherische Autorität der folgenden 25 Jahre, nennt seinen Kontrahenten Staphylus „diser zeit der Päpstischen lehr fürnembster Verfechter"515 - mit dieser Äußerung unterschätzt er freilich das gegenreformatorische Potential der ersten Jesuiten. Der Streit zwischen Staphylus und Andreae, die deutschsprachige Fortsetzung der eruptiven Kontroverse um die THEOLOGIAE MARTINI LVTHERI TRIMEMBRIS EPITOME, nimmt damit ein Ende, weil sowohl auf persönlicher als auch auf theologischer Ebene alles gesagt war.

h. Bedeutungszunahme des Deutschen und Ausformulierung konfessionellen Differenz

der

Hieronymus Emsers Schwierigkeiten mit dem Deutschen als Sprache der theologischen Kontroverse ist im vorhergehenden Kapitel dargestellt worden.516 Zuvor war von den komplizierten, wenn auch gewissenhaften Streitschriften anderer Katholiken, etwa von Johannes Cochlaeus und Caspar Querhammer, die Rede.517 Erst mit Friedrich Staphylus begegnet uns ein katholischer Polemiker, der mit dem Deutschen als Streitsprache ebenso souverän umzugehen vermag wie mit dem Lateinischen. Das soll nicht heißen, daß Staphylus der erste katholische Polemiker überhaupt ist, von dem das behauptet werden kann. Doch ist es gewiß kein Zufall, daß gerade ein Konvertit in einem derart umfangreichen und langen Streit überzeugend seinen Mann steht und seinem Kontra-

513

514

Jacob Andreae: Grundtliche Erclärung dreyer Hauptartickel Christlicher Lehr. I. Ob ein Mensch in dieser Welt wissen könde/ vnd vestiglichen glauben soll/ das er ein gnädigen Gott habe? II. Ob ein Mensch sollichs durch den Heiligen Geist auß der heiligen Schrifft lernen könde? III. Wardurch allein der sündig Mensch bey Gott widerumb zu Gnade kommen/ Vergebung der Sünden/ vnd ewigs leben erlangen möge? In wölcher auch auff den Nachtruck Frid. Staphyli notturfftiglichen geantwortet. Tübingen 1563. So in Fettdruck die neu gewonnene Autorität dokumentierend bereits auf dem Titelblatt der

Grundlichen Erclärung. 515 516

Andreae: Grundliche Erclärung, Bl. 4V. Vgl. oben S. 93ff. Vgl. oben S. 28ff.

133 henten mindestens ebenbürtig ist. Immerhin war Staphylus in Wittenberg bei den vermeintlich besten Lehrern in die polemische Schule gegangen. Im Rahmen dieser Arbeit läßt sich Staphylus' Bildungsweg leider nicht rekonstruieren.518 Doch ist es keine gewagte These, daß Luther und Melanchthon einen wesentlichen Anteil zu seiner sprachlichen Ausbildung beigetragen haben. Im Falle des Friedrich Staphylus ließe sich also überspitzt formulieren, daß Luther und Melanchthon selbst durch ihren früheren Schüler zu maßgeblichen Beförderern der katholischen Religionspolemik wurden. Ein weiteres Ergebnis dieses Streits ist die zunehmende Durchlässigkeit zwischen dem Lateinischen und dem Deutschen. Im vorliegenden Kapitel werden der lateinische Streit um Staphylus' ,Luther-Theologie' und der zwischen Andreae und Staphylus aus Gründen der besseren Darstellbarkeit voneinander abgehoben. Doch wurden beide Kontroversen von den Beteiligten selbst ausdrücklich als Einheit wahrgenommen.519 Der Wechsel ins Deutsche wird ohne Kommentar, geschweige denn Widerspruch, vollzogen. Einige Bücher von Friedrich Staphylus werden vom Kartäuser Laurentius Surius ins Lateinische übersetzt.520 Staphylus' deutsche Bücher entsprachen in der Anlage wie auch im Stil521 den Erwartungen, die die katholische Kirche gemeinhin lateinischen Büchern entgegenbrachte. Doch darf nicht vergessen werden, daß es gerade nicht die kurzen und kurzweiligen, die aggressiven Invektivschriften von Staphylus waren, die übersetzt wurden, sondern die umfangreichen, der Tendenz nach um sachliche Widerlegung bemühten religionspolemischen Bücher. Es waren die Schriften, die theologische Bildung voraussetzten und in denen es um kenntnisreiche Auslegung der Bibel oder der kirchlichen Tradition ging. Auch in der Volkssprache wurden die kontroverstheologischen Differenzen immer präziser ausformuliert und begründet. Der von Melanchthon gegen Staphylus erhobene Sophismusvorwurf wird in den deutschen Streitschriften nur implizit fortgeführt. Wie wirkungsmächtig der Antagonismus zwischen dem vir bonus und dem Sophisten in diesem Streit ist, ist hinlänglich dargestellt worden. Doch wird der Sophismusvorwurf nicht mehr explizit formuliert, sobald der Wechsel der Streitsprache vollzogen ist. Der Sophist ist zahlreichen volkssprachlichen Lesern fremd, so daß er nur bedingt als Vorwurf dienlich bleibt. Statt dessen wirft man dem Gegner ,faule Rhetorik'

518 Vgl. dazu Mennecke-Haustein: Conversio ad Ecclesiam, S. 45-64. 519 Staphylus: Vortrab, nach Lagenzählung Bl. Aij v f.: „Das ich aber nach sollichem vilfeltigem stürm/ das büchel Trimembris Theologiae genandt/ hab außgeen lassen/ hat die gelegenhait des Wormischen Colloquij erfordert. [...] Darob die sanfftmütigen Euangelischen Predicanten sich dermassen erzürnt [...]. Ich hab auff des Schmidels schmähen/ schelten vnd stirmen ain gütlichen/ Christlichen grundfesten gegenbericht gethan [...]." Daß die Streitsprache anfanglich Latein, später aber Deutsch war, thematisiert Staphylus nicht. 520 Vgl. oben Anm. 452 und Anm. 495. 521 Stichproben ergaben, daß beide Übersetzungen dem deutschen Original entsprechen. 522 Vgl. oben S. 126 mit Anm. 482.

134 Die Konversion von Friedrich Staphylus ist kein eigenständiges Streitthema. Sie steht permanent im Hintergrund, auf sie wird durch den Judas-Vergleich angespielt, und sie wird von Andreae in dem knappen Vorwort der Abfertigung thematisiert. Staphylus spricht seinerseits nicht von seiner Biographie und seiner Konversion. Doch war ihm die Wirkung seiner Person mehr als deutlich, anders läßt sich der ungewöhnliche Versuch nicht erklären, die Invektiven von den theologischen Streitfragen zu trennen. Der dargestellte Streit ist einer des Übergangs, wörtlich wegen der Konversion von Friedrich Staphylus, sprachhistorisch wegen der einsetzenden Neubewertung des Deutschen in der katholischen Kontroverstheologie, die einen zwar kleinen, aber wichtigen Schritt macht auf einem Weg, der bis heute nicht abgeschlossen ist. Eine Übersetzung der THEOLOGIAE MARTINI LVTHERI TRIMEMBRIS EPITOME sollte noch mehr als ein Jahrzehnt auf sich warten lassen. Trotzdem zeigt dieser Streit, zu welchen Leistungen die deutsche Sprache befähigen konnte, wenn sie denn von den richtigen Männern eingesetzt wurde. Zeitgleich entfaltete sich das seelsorgerliche Engagement der ersten Jesuiten, angeführt von Petrus Canisius, das bei aller jesuitischen Latinität ein volkssprachliches Ereignis werden sollte. Und bei den ,augsburgischen Religionsverwandten' wurde im Verlauf des Streites der Generationswechsel durch den Tod von Melanchthon (1560) und die Berufung von Jacob Andreae zum Kanzler und Probst der Tübinger Universität vollzogen - letztlich zuviel der ,Übergänge' für einen Streit.

4. Der Streit um das Prager Bild - Frühorthodoxe Wehrhaftigkeit gegen jesuitische Aggressivität a. Appelle und Argumente gegen den politischen Einfluß der Jesuiten 1585 verlieh Ferdinand von Tirol, der älteste regierende Habsburger, seinem Neffen Rudolf II. den Orden vom Goldenen Vlies, den habsburgischen Hausorden. Die späte Ehrung des Kaisers erklärt sich dadurch, daß nach dem Tod Karls V. die Führung des Ordens nicht an den Kaiser, sondern an die spanische Linie des Hauses Habsburg, konkret an Philipp II. - bekanntlich ein engagierter Verteidiger des katholischen Glaubens - gegangen war.523 Die Ordensüberreichung war ein ausfuhrliches und feinsinniges Zeremoniell, in dessen Verlauf die Prager Jesuiten dem Kaiser einen kolorierten Holzschnitt mit einem lateinischen Gedicht übergaben.524 Auf dem Bild (Abb. 1) sieht man den Weinberg Gottes in der Mitte mit Christus in der Kelter sowie darunter das Lamm-Vlies über dem Eingang. Dazwischen befindet sich der heilige Kelch,

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Ausführlich dargestellt bei Karl Vocelka: Die politische Propaganda Kaiser Rudolfs II. (1576-1612). Wien 1981, S. 140-146. Die Vorlage ist abgebildet bei Harms: Deutsche illustrierte Flugblätter, Bd. 7 (1997), Nr. 157, dort auch weitere Angaben zum Bild.

135 um den herum in sechs Piktogrammen in tabernakelartigen Gebilden die übrigen sechs Sakramente angeordnet sind. Zur Verteidigung des Weinbergs umgeben die Ritter vom Goldenen Vlies diesen, sie werden angeführt vom Kaiser und vom spanischen König. Am Rand des Bildes sind zahlreiche Tiere zu sehen, die zum Teil versuchen, den Weinberg anzugreifen.

(Abb. 1: Das ,Prager Bild'. Aus: Scherer: Triumph der Warheit, Bl. 290')

Dieses Bild geht auf einen älteren Holzschnitt von 1535 zurück, der kaum aktualisiert wurde.525 Dagegen dürfte das lateinische Gedicht eine jesuitische Neuschöpfung sein. Darin wird die Ritterlichkeit der Ordensmitglieder be-

525

Vgl. Alois Thomas: Die Darstellung Christi in der Kelter. Eine theologische und kulturhistorische Studie. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte und Volkskunde des Weinbaus. Düsseldorf 1935 (= Forschungen zur Volkskunde, 20/21 [1935]), S. 136f., vgl. dort Abb. 25. Das Prager Bild geht auf einen Holzschnitt aus dem Jahr 1535 zurück, der ein Wappenbild der Ritter vom Goldenen Vlies darstellt. Die Grundstruktur des Bildes ist gleich geblieben, doch wurde das Personal aktualisiert. Im Zentrum ist 1535 Karl V. abgebildet, während 1585 gleichberechtigt Rudolf II. und Philipp II. nebeneinander stehen - Ausdruck für das brisante Machtgefüge des Ordens, weil in diesem Philipp II. dem Kaiser übergeordnet war, was aber in einer graphischen Darstellung nicht als Herabwürdigung des Kaisers zum Ausdruck kommen durfte.

136

schworen, ein zeittypischer Rekurs auf die militia-Christi-Bildlichkeit.526 Doch ist es im Vergleich zum Bild und zu den übrigen Feierlichkeiten ein wenig aggressives Zeugnis der katholischen Glaubenspropaganda im Kontext der Ordensverleihung. Wegen der konfessionell-eindeutigen Position des Ordens vom Goldenen Vlies und seiner einzelnen Mitglieder war das Fest Ausdruck höchster katholischer Hofkunst und Beweis politischer und militärischer Potenz. Gerade diese Verbindung aus Militärgewalt und gefestigtem katholischen Glauben war es, die den Widerspruch von Lucas Oslander (1534-1604) provozierte.527 Oslander wurde nach kurzem Studium Diaconus in Göppingen (1555), wo zu dieser Zeit noch Jacob Andreae tätig war, bevor dieser nach Tübingen berufen wurde.528 1567 wurde Oslander württembergischer Hofprediger und blieb bis zum Tode Herzog Ludwigs (1593) einflußreicher Berater am Hof.529 Wiederholt publizierte er engagierte und derbe Streitschriften zu zahlreichen religionspolemischen Themen, etwa zur Einführung des Gregorianischen Kalenders. Außerdem entsandte ihn der Herzog mehrfach zu Religionsgesprächen. Oslander hatte früh ein kritisches Auge auf die Jesuiten geworfen und veröffentlichte 1568 eine erste Warnung530 gegen den jungen Orden: DIeweil durch Gottes Gnad die Lehr deß H. Euangelij in der Christenheit ertliche Jar widerumb rein vnd vnuerfelscht gepredigt/ [...]/ Hat der laidig Sathan wol gesehen/ daß sollichs zu vndergang vnd verstörung seines Reichs gerhaten wolle. [...] Zu disem seinem

526 vgl. oben S. 88ff.; grundlegend Wang: Der ,Miles Christianus'. 527

528

529

530

Der im folgenden dargestellte Streit ist Gegenstand der Studien von Thomas Gloning (The Pragmatic Form of Religious Controversies) und Juliane Glüer (Moves and strategies). Außerdem geht Hildegard Traitler in ihrer nicht immer überzeugenden Arbeit Konfession und Politik wiederholt auf den Streit ein. Bereits im 19. Jahrhundert fand die Kontroverse erstmals ausführliche Erwähnung in: Stieve (Bearb.): Die Politik Baierns, S. 150-156. Die Bande zwischen den beiden waren übrigens nicht nur ,beruflicher' Natur, sie waren auch verschwägert. Alle Angaben zur Biographie nach Th. Schott: Oslander, Lucas. In: ADB 24 (1887), S. 4 9 3 ^ 9 5 . Hofprediger übten in Stuttgart eine zentrale Funktion aus, weil sie nicht nur mit der Ausbildung und Seelsorge des adeligen Nachwuchses betraut waren, sondern auch Verbindungsglied zwischen dem Hof und der Universität Tübingen waren, vgl. dazu Dieter Mertens: Hofkultur in Heidelberg und Stuttgart um 1600. In: Hammerstein, Walther (Hrsg.): Späthumanismus, S. 65-83, bes., S. 79f. Allgemein zur Bedeutung des Hofpredigers Wolfgang Sommer: Die Stellung lutherischer Hofprediger im Herausbildungsprozeß frühmoderner Staatlichkeit und Gesellschaft. In: ders.: Politik, Theologie und Frömmigkeit im Luthertum der Frühen Neuzeit. Göttingen 1999 (= Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, 74), S. 74—90. Zur Bedeutung Herzog Ludwigs in diesem Zusammenhang vgl. Volker Press: Württemberg, Habsburg und der deutsche Protestantismus unter Herzog Ludwig (1568-1593), sowie Manfred Rudersdorf: Orthodoxie, Renaissancekultur und Späthumanismus. Zu Hof und Regierung Herzog Ludwigs von Württemberg (15681593). Beide in: Nicodemus Frischlin (1547-1590). Poetische und prosaische Praxis unter den Bedingungen des konfessionellen Zeitalters. Hrsg. von Sabine Holtz, Dieter Mertens. Stuttgart-Bad Cannstadt 1999 (= Arbeiten und Editionen zur Deutschen Literatur, N.F. 1), S. 17-47 (Press), S. 49-80 (Rudersdorf). Lucas Oslander: Warnung/ Vor der falschen Lehr/ vnd Phariseischen Gleißnerey der Jesuiter. Tübingen 1568. Bereits ein Jahr darauf folgte ein Nachdruck dieser Schrift.

137 verderblichen fürnemen hat er ein newen Orden vor ertliche jaren gestifftet/ [...]/ die sich Jesuiter/ oder auß der gesellschafft Jesu/ falschlich nennen. 53 '

In dieser Schrift setzt sich Oslander besonders mit dem seelsorgerlichen Engagement der Jesuiten auseinander. Er greift die Katechismen von Petrus Canisius an und kritisiert die diesen zugrunde liegende Rechtfertigungslehre mit den üblichen evangelisch-lutherischen Argumenten. Damit ist die Warnung von 1568 eine der frühen volkssprachlichen Polemiken gegen den Jesuitenorden, in der neben aggressiven Äußerungen, wie der ,Verteufelung' im Zitat, auch argumentative Elemente entscheidenden Text-Anteil haben. Von der engagierten Vorrede einmal abgesehen, kann die Warnung als kontroverstheologisches Handbuch zur Widerlegung der Katechismen des Canisius betrachtet werden, wofür auch der Umfang spricht (164 Seiten). Trotz dieser Anlage regte sich kaum Widerspruch gegen Oslander,532 was nicht zuletzt damit zu tun haben dürfte, daß volkssprachliche Streitschriften von Jesuiten vor 1580 eindeutige Ausnahme sind533 und der direkt angegriffene Canisius im Gegensatz zu zahlreichen anderen Jesuiten nicht zum theologischen Streit neigte.534 Das war bei Lucas Oslander anders, er war - wie sein Vater - ein regelmäßiger Streitschriftenverfasser und oft ein ebenso derber Polemiker, der im Gegensatz zu seinem Vater fest im Zentrum der lutherischen Kirche stand. Im Jahr 1585 nun erschien Oslanders zweite Warnung535 gegen die Jesuiten, Gegenstand war nicht erneut deren seelsorgerliches Engagement, sondern ihre

531 Ebd., S. lf. 532 Oslanders Warnung war Ausgangspunkt fur eine Kontroverse zwischen ihm und Jacob Feucht, dafür spricht Oslanders Schrift Antwort Auff M. Jacobi Feuchten Buch/ darinnen er die 37 Jesuitische Päpstische Artickel [...] zuuerthedigen vndersteht. Tübingen 1573. 533 Auf die zahlreichen .Historien' und ähnlich betitelte Flugschriften reagierte man nicht, meist waren das anonyme Diffamierungen, in denen die Verfasser auch vor übelsten Verleumdungen wie angeblicher Päderastie nicht zurückschreckten, vgl. etwa: Zwo Historien zum Muster der Jesuitischen Religion vnd Keuscheyt. Die Erste/ wie die Jesuwider mit ihrer Beschneydung Newe Mönche/ Das ist/ Außgeschnitten machen. Die ander/ Was massen vnd warumb Pangratz Schneyder Meßner zu Eckelheim Enthaubt worden ist. O.O. 1565. Vgl. auch Gunther Franz: Eine Schmähschrift gegen die Jesuiten. Kaiserliche Bücherprozesse und konfessionelle Polemik (1614-1630). In: Bücher und Bibliotheken im 17. Jahrhundert in Deutschland. Hrsg. von Paul Raabe. Hamburg 1980 (= Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens, 6), S. 90-114. 534 Canisius hat sogar ausdrücklich vor dem überflüssigen Bücherschreiben mit Blick auf die Zeitumstände gewarnt, vgl. Fidel Rädle: Petrus Canisius als lateinischer Autor in seinem Verhältnis zum Humanismus. In: Petrus Canisius SJ (1521-1597). Humanist und Europäer. Hrsg. von Rainer Berndt. Berlin 2000, S. 155-168, bes. S. 156f. 535 Lucas Oslander: Warnung Vor der Jesuiter blut durstigen Anschlägen vnnd bösen Practicken/ Durch wölche sie die Christliche/ reine/ Euangelische Lehr sampt allen denen/ so sich zu derselben öffentlich bekennen/ außzutilgen/ vnd des Römischen Antichrists tyrannisch Joch der Christenheit widerumb auff zutringen vnderstehn. Tübingen 1585. Neben Oslanders Schrift erschien außerdem ein antijesuitisches Flugblatt zu diesem Bild; vgl. Harms: Deutsche illustrierte Flugblätter, Bd. 4 (1987), Nr. 65, Bd. 7, Nr. 167. Zum diskursiven Terminus ,Praktik' vgl. Valentin Groebner: Trügerische Zeichen. ,Practick' und das politische Unsichtbare am Beginn der Neuzeit. In: Geschichtszeichen. Hrsg. von Heinz Dieter Kittsteiner. Köln, Weimar, Wien 1999, S. 63-80. .Praktik' ist nach Groebner

138 Einflußnahme auf reichspolitische Entscheidungen katholischer Fürsten. In dieser deutlich kürzeren Streitschrift (43 Seiten) setzt Oslander sich mit den Festlichkeiten um die Verleihung des Ordens vom Goldenen Vlies an den Kaiser und dem Bild mit den lateinischen Versen auseinander. Die Schrift ist dreigeteilt. Im ersten Teil wird in einer knappen narratio die Komposition des Bildes geschildert und das Gedicht erwähnt, um im Anschluß daran den zentralen Vorwurf erstmals zu formulieren (accusatio): Mit Bild und Gedicht wollen die Jesuiten die katholischen Potentaten aufhetzen, „daß sie sollen die Ketzer vnd Feind der Römischen Kirchen vertilgen vnd außrotten."536 Auf diesen Vorwurf folgt eine längere Argumentation zum Beweis der Richtigkeit seiner Vorwürfe. Durch das Bild lasse der Satan seine „scharpffe Klawen" 537 hervorschauen, denn das Bild führe allen Betrachtern beim genaueren Hinsehen vor Augen, daß es den Jesuiten und allgemein dem Papsttum nicht darum gehe, „mit lehren oder disputiren", sondern mit „Wöhren vnd Waffen" 538 die Auseinandersetzung mit den Lutheranern zu führen. Anhaltspunkt dafür sei, daß der Weinberg wegen der sieben Sakramente zweifellos katholisch dargestellt sei, der Kaiser jedoch dem Augsburger Religionsfrieden entsprechend zum Schutz beider Konfessionen angehalten sei.539 Doch rechtfertigt diese Feststellung allein nicht den Vorwurf der Aufhetzung. Diese sieht Oslander dadurch erfüllt, daß einige der Tiere, die den Weinberg umkreisen und mit den Ordensrittern kämpfen, den Wappentieren einiger lutherischer Fürsten gleichen. Dieser Befund ist nicht von der Hand zu weisen, besonders der dargestellte Greif (Brandenburg oder Hessen)540 und der wütende Stier (Mecklenburg) sprechen für die Richtigkeit dieser Annahme. Andererseits finden sich dazwischen zahlreiche Tiere, die nicht für ein lutherisches Fürstentum stehen. Oslander fuhrt weitere Beispiele für die ,Blutgierigkeit' der Jesuiten an541 und beschließt den ersten Teil mit einem Schlußplädoyer: Darumb wann wir sonsten wider den Römischen Antichrist/ den Pabst/ keine Beweisung hetten/ daß er vom Vatter dem Teuffei were/ so were er doch dessen darmit gnugsam zuvberzeugen/ daß er von wegen der religion souil Blutuergiessens angerichtet: Vnd noch auff disen Tag je lenger je heffliger die Potentaten dahin hetzet vnd anzutreiben begeret/

536

537 538 539 540 541

um 1500 im Deutschen ein neues Wort, mit dem „verdecktes Handeln" umschrieben wird, vgl. ebd., S. 71. Wenn Osiander das Handeln der Jesuiten immer wieder als ,böse Praktiken' umschreibt, rekurriert er eben darauf und versucht, bereits durch die Wortwahl den Jesuiten eine Aura des Dubiosen zu unterstellen. Der Vorwurf, blutdurstiger Praktiken' war in der antijesuitischen Polemik nicht neu, so hatte etwa Fischart diesen gegen die Jesuiten erhoben; vgl. Kemper: Konfessionalismus, S. 139f. Osiander: Warnung 1585, S. 2. Ebd., S. 5. Ebd., S. 7. Vgl. Heckel: Deutschland im konfessionellen Zeitalter, S. 33-66. Vgl. unten S. 155. Osiander: Warnung 1585, S. 8: „In massen man berichtet ist/ daß vnlangst die Jesuiter/ in einer geistlichen Procession/ zu F. mit Büchsen/ auch andern Wehren vnnd Waffen daher geritten/ nicht als Apostel/ sondern als weltliche Kriegsleut vnnd Landsknecht/ Dann sie ihre kriegerisch vnnd blutgirig Hertz nicht verbergen können."

139 daß sie ihre Händ mit vnschuldigen Blut frommer Christen beflecken sollen. Vnd hierzu braucht er seine Emissarios (des Teuffels Postbotten) die Jesuiter.

Der erste Teil der Schrift enthält damit typische Redeteile, derer es bedarf, um eine juristische Anklageschrift zu erstellen. Neben den Vorwürfen und Angriffen ist der wiederholt vorgetragene Hinweis auf das direkte Wirken Satans mittels der Jesuiten wesentlich. Oslander ist sich über die Gefahr für die Evangelischen, die von dem neuen Orden ausgehen, völlig im Klaren. Der Vorwurf der direkten Satansuntertänigkeit ist nicht steigerbar. Hier erfahrt der auf Luther zurückgehende Antichrist-Vorwurf gegen den Papst eine Aktualisierung und Umdeutung auf die Jesuiten.543 In Verbindung mit dem zweiten Teil der Schrift erklärt das außerdem die Titelgebung. Oslander verfaßt eben keine Anklageschrift gegen die Prager Jesuiten, sondern eine Warnung. Dazu .beweist' er zunächst die Richtigkeit seiner Vorwürfe. Er läßt sie in einem zweiten Schritt, dem dargestellten Vorwurf, die Jesuiten seien Handlanger Satans, gipfeln,544 um sich im zweiten Teil an die weltlichen Potentaten zu wenden und sie an ihre obrigkeitlichen Schutzpflichten zu erinnern.545 Erst durch diesen zweiten, appellativen Teil wird die Schrift zur Warnung. Doch wäre Oslander kein Theologe der lutherischen Frühorthodoxie, wenn er damit seine Aufgabe als erfüllt betrachten würde. Für die politischen Konsequenzen seiner Warnung sind die Fürsten zuständig, wozu er diese ermahnt. Außerdem bleibt dem einzelnen Christen immer Gott. Deswegen wendet sich Oslander im dritten Teil an alle „Christen", also an alle Lutheraner, sowie die .verführten' Katholiken, die übliche Hilfskonstruktion, um Leser anderer Konfession nicht auszuschließen. Die ganze Schrift gipfelt in einem Abschlußgebet, das gleichzeitig eine Zusammenfassung der Warnung ist: Vnser HErr Jesus Christus/ der Fridenfürst/ wolle der Jesuiter vnd ires gleichens/ blutdurstige Practicken/ vnd grimmige Anschläge zunichten machen: der Potentaten Hertzen zum Christlichen Friden vnnd Einigkeit neigen/ fest vnd steiff zuhalten/ was man allerseits einander bey dem heiligen hohen Namen Gottes/ geschworen hat. [...]. Vnd da je [...] vnsere Widersacher/ nicht Friden halten/ sondern nach Vnglück ringen würden: so wolle er [Christus] vmb seines heiligen Namens willen/ der Gerechtigkeit vnd reinen Religion beystehn/ vns gnädiglich schützen vnd erhalten/ vnd den Jesuitern ir Boßheit auff ihren Kopff vergelten/ auff daß wir ihne hie zeitlich/ vnnd dort ewiglichen loben vnd preisen/ AMEN. 5 4 6

542

Ebd., S. 14. Diese Umdeutung erfolgt an dieser Stelle nicht zum ersten Mal; vgl. zur antijesuitischen Propaganda Kemper: Konfessionalismus, S. 137-150. 544 Vgl. Hans Preuß: Die Vorstellung vom Antichrist im späteren Mittelalter, bei Luther und in der konfessionellen Polemik. Leipzig 1906. 545 Oslander: Warnung 1585, S. 25: „Da nun jemands/ vnbetrachtet dises alles/ dem Papst zu Rom/ vnd seinen Jesuitern zugefallen/ ein Vnrhu im Römischen Reich anfahen/ vnd den religionsfriden zerreissen/ oder ja andern darzu helffen wollte/ der mag wol zusehen/ daß er nicht darüber seine Gütter/ von aussen ansehen/ vnd sein Leib/ Ehr vnd Gut/ das Leben vnd die Seel darzu einbüssen möge." 546 Ebd., S. 42f. 543

140

Oslanders Warnung

v o n 1585 ist eine äußerst sorgfaltig komponierte und sehr

abwechslungsreiche Schrift, deren Stärke in der M i s c h u n g aus Argumentation und Appell unter Zuhilfenahme eindeutiger und z u m Teil derber Vereinfachungen und Metaphern liegt. S i e steht damit i m Kontrast z u seiner ersten Warnung,

in der er wesentlich umfangreicher argumentiert, j e d o c h auf A f f e k t

erregende Streittechniken w i e die Satansmetaphorik oder den seelsorgerlich anmutenden dritten Teil w e i t g e h e n d v e r z i c h t e t . 5 4 7

b.

Emblematik

und Seelsorge

im Dienste

gegenreformatorischer

Religionspolemik Im Gegensatz zur ersten Warnung

Oslanders v o n 1568 blieb auf seine Streit-

schrift g e g e n die jesuitische Glaubenspropaganda bei der Verleihung Ordens an R u d o l f II. die Reaktion nicht aus. D i e Warnung

des

war Initialschrift für

einen Streit, in d e s s e n Verlauf insgesamt dreizehn Streitschriften erschienen, Oslanders Warnung

mitgerechnet. Dieser Streit ist damit im Hinblick s o w o h l

auf die Anzahl der P o l e m i k e n als auch auf die Dauer - die letzte Streitschrift erschien erst 1 5 8 9 - ein äußerst umfangreicher. 5 4 8 A u ß e r d e m ist er bedeutend, w e i l sich gleich z w e i Jesuiten daran beteiligten, G e o r g Scherer und Christoph Rosenbusch. Scherer ( 1 5 4 0 - 1 6 0 5 ) war einer der ersten Schüler des

1553 in

Wien

eröffneten Jesuitenkollegs. 5 4 9 Er war erfolgreicher Prediger und Beichtvater ver-

547

Bereits kurze Zeit später erschien ein anonymer Mischdruck mit insgesamt drei Teilen, dem Nachdruck von Oslanders Warnung, einem Mittelteil, in dem eine Übersetzung des lateinischen Gedichts der Prager Jesuiten vorgelegt wurde, sowie ein Nachdruck einer weiteren Schrift. Von der Jesuiter Blutdurstigen Practicken/ Wider vnsere ware Christliche Euangelische Religion/ durch die gewaltigen dieser Welt ins Werck zurichten. Zwo n o t wendige vnd Emstliche wamung vnd Vermanungs Schrifften/ Die Erste/ An die Teutsche Chur vnd Fürsten/ vnd andere Reformierte Stand der Augspurgischen Confession, Durch D. Lucam Osiandrum. Darbey denn auch das Gemälde inn der Jesuiten Weingarten mit dem güldenen Flüß/ vnlengest von ihnen zu Prag neben etlichen Lateinischen vnd Teutschen Versen vnd rithmis außgangen/ zu befinden. Die Andere/ An die dreyzehen Ort der Löblichen Eidgnoschafft/ sampt allen andern derselbigen Bundsgenossen vnd Mittverwandte/ Durch Eusebium Philadelphum. Jetzund newlich auß Trewhertzigen gemüht/ vnd meniglich zu guter wamung in Truck verfertiget. O.O. 1586. 548 Wegen des Umfangs des Streites und einiger Streitschriften werden einige Polemiken nur äußerst knapp behandelt. 549

Bernhard Duhr widmet Scherer im ersten Band seiner umfangreichen Geschichte der Jesuiten in den Ländern deutscher Zunge (Freiburg i.Br. 1907, S. 798-820) ein eigenes Kapitel. Daneben ist die Dissertation von Gottfried Mierau: Das publizistische Werk von Georg Scherer S.J. (1540-1605). Diss. Wien 1969, einschlägig. Einen ersten Einblick in Scherers Leben vermittelt Paul Müller: Ein Prediger wider die Zeit. Georg Scherer. Wien 1933. Scherer blieb auch in protestantischen Territorien des Reiches noch lange nach seinem Tod eine bekannte gegenreformatorische Persönlichkeit; so kam er etwa in dem nie aufgeführten Schuldrama Die Jebusiter des Freiberger Konrektors Andreas Möller von 1628 zu zweifelhaften Ehren. In diesem Drama bemüht sich - letztlich erfolglos - ein jesuitischer Pater Scherer mit falschen Versprechungen und drohenden Gesten um die

141

schiedener österreichischer Herzöge. Außerdem war er der erste volkssprachliche Polemiker der Jesuiten, der ein umfangreiches Werk an Streitschriften verfaßt hat. Sie wurden wiederholt nachgedruckt und in einem beeindruckenden Sammelband veröffentlicht.550 Scherers Werke wurden im 17. Jahrhundert wiederholt aufgelegt und nachweislich rezipiert - prominente katholische Schriftsteller wie Jeremias Drexel oder Abraham a Sancta Clara zählten zu seinen Lesern.551 Da neben zahlreichen Predigten außerdem ein Katechismus und ein Dialog aus seiner Feder überliefert sind, muß er zu den wichtigen volkssprachlichen Schriftstellern der Jesuiten gezählt werden.552 Scherers Schrift gegen Oslander trägt den Titel Rettung der Jesuiter Vnschuld wider die Gifftspinnen Lucam Oslander.™ Scherer widmet sie in einer umfangreichen Vorrede Wilhelm V. von Bayern, dem wenige Tage nach Rudolf der Orden vom Goldenen Vlies verliehen worden war.554 Ohne darauf ausführlich einzugehen,555 knüpft Scherer damit an den jesuitischen Versuch an, die Ordensverleihungen zur Demonstration von jesuitischem Einfluß und katholischem Zusammenhalt zu instrumentalisieren. Ansonsten ist die Vorrede ihrer Funktion nach weniger eine Widmung als vielmehr eine emotionalisierende narratio. Scherer schildert darin den Sachverhalt, der Wilhelm, im Gegensatz zu manch einem anderen Leser, gerade nicht unbekannt gewesen sein dürfte.556

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Seelen protestantischer Bauern. Der Bezug auf den historischen Jesuiten Scherer ist offensichtlich: vgl. Andreas Möller: Die Jebusiter. In: Die Schuldramen des Freiberger Konrektors Andreas Möller. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Rainer Hünecke. Stuttgart 1999 (= Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte, 19), S. 3 6 1 ^ 5 5 , sowie das Nachwort ebd., S. 507f.; die Angaben von Hünecke sind nicht immer korrekt; vgl. ferner mein Referat dazu in: Germanistik 43 (2002), Nr. 5101. Georg Scherer: Erster Theil Aller Schrifften/ Bücher und Tractätlein/ welche Georg Scherer Societatis IESV Theologus bißhero zu vnterschidlichen Zeiten durch den Truck außgehen lassen. Bruck/Mähren 1599. Vgl. Franz M. Eybl: Abraham a Sancta Clara. Vom Prediger zum Schriftsteller. Tübingen 1992 (= Frühe Neuzeit, 6), S. 141 f. Dramen fehlen völlig, was sein volkssprachliches Engagement betont. Allerdings hat er vermutlich mit einer Streitschrift die Anregung zu einem Theaterstück gegeben; vgl. dazu unten S. 28Iff. Georg Scherer: Rettung der Jesuiter Vnschuld wider die Gifftspinnen Lucam Oslander. Ingolstadt 1586. Vgl. Vocelka: Die politische Propaganda, S. 144. Scherer erklärt in der Rettung (Vorrede unpaginiert, nach Lagenzählung Bl. Aiij'f.) lediglich: „Solliche Rettung aber vnserer Vnschuldt/ hab Ewer Fürstlich Gnaden ich auß gantz vndertheniger grossen Affection/ als einem weit vnnd hochberühmbten Eifferer/ deß Hauß vnd Weinbergs Gottes/ vnd die auch der Catholischen Gesellschafft deß güldenen Flüß einuerleibt/ darzu vnsers fridliebenden Thuns vnnd Wesens genädiges wissen haben/ dediciern vnd zuschreiben [...] wollen." Scherer setzt voraus, daß Wilhelm Oslanders Buch zur Kenntnis genommen hat, ebd., Bl. Aij': „Durchleuchtiger hochgeborner Fürst [...]/ Ewr F. G. wirdt ohn zweifei vnuerborgen sein/ was massen Lucas Oslander [...] von einem Kirchenbildt/ so vnser Collegium zu Prag/ der jetzigen Rom. Kay. Mayestat [...]/ vnnd dem gantzen Orden oder Gesellschafft deß güldenen Flüß zu Ehren/ [...] Ein hartes Famosbüchlein wider vnns Jesuiter" geschrieben hat.

142 Bereits an dieser Stelle formuliert Scherer erste Vorwürfe gegen Oslander. Er hält ihm seine derbe Wortwahl vor und nennt dessen Schrift ein „hartes Famosbüchlein", 557 das einzig und allein der „Verhastmachung vnnd Vndertruckung der Vnschuldigen" diene.558 Durch die Vorrede bezweckt Scherer eine erste Emotionalisierung des Konflikts. Denn da eine Widmung an den bayerischen Herzog nicht der geeignete Ort fur die Argumentation ist, verzichtet Scherer darin vollständig auf Belege für seine Vorwürfe. Auf die Widmung folgt der Haupttext, in dem sich Scherer regelmäßig an Oslander wendet. Dabei greift Scherer auf verschiedene Varianten der Anrede zurück, vom distanzierten „Lieber Oslander" 559 oder „mein lieber Oslander" 560 über die Ansprache „du Oslander" 561 bis hin zum intimen „mein Lucas".562 Allerdings durchbricht Scherer immer wieder die direkte Anrede. Als er Georg Nigrinus, einen österreichischen Wanderprediger, erwähnt, spricht er diesen statt Oslander an: „Ey mein Nigrine". 563 Folgt dagegen auf die Nennung von wichtigen Argumenten eine knappe conclusio, fehlt meist der Name, so daß gerade diese inhaltlich wichtigen Passagen durch ihre Offenheit wie Anreden an den Leser wirken: „Hie hast du ein klaren Text/ das Gott den Fürsten das Schwert gegeben hab/ zu Schutz der Frommen/ vnd Straff deren die böses thun [.,.]." 564 Am Ende der Schrift wechselt Scherer in einen sachlichen Stil. Um diesen zu betonen, verzichtet er völlig auf die direkte Anrede und spricht nur noch über Oslander.565 Der gezielte Einsatz rhetorischer Streittechniken in Scherers Schrift schlägt sich nicht nur in der Wortwahl, sondern auch in der Textstruktur nieder. Er eröffnet den Haupttext im Briefstil: „Lieber Oslander/ nach dem man zu dieser zeit newe Jar vnder einander zuwünschen vnnd außzutheilen pfleget/ hab auch ich nit vnderlassen können dir diese Rosen/ sambt den darauf sitzenden vnnd saugenden zweyen Thierlein/ an statt eines newen Jars/ zuübersenden." 566 Mit diesem ,Rosengruß' zum neuen Jahr567 bezieht sich Scherer ausdrücklich auf das außergewöhnliche Titelblatt seiner Streitschrift (Abb. 2).

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Ebd., Bl. Aijr. Famos hier noch im deutlich pejorativen Sinne von famosus: ehrenrührig, verleumderisch; „Famosbüchlein" ist demenstprechend synonym mit Pasquill. Ebd., Bl. Aij v . Ebd., S. 1. Ebd., S. 2. Ebd., S . 2 . Ebd., S. 34. Ebd., S. 28. Ebd., S. 6. Ein weiteres Beispiel findet sich ebd., S. 17: „Hie hastu die lebendige Abcontrafehung deß Rachgierigen/Tyrannischen [...] Hertzens Martini Luthers." Ebd., S. 63: „Zum andern/ damit Oslander nit in seinem falschen Wohn verfaule [...]." Ebd., S. 1. Scherer hat die Widmung an Wilhelm von Bayern auf den 1.1.1586 datiert.

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(Abb. 2: Titelblatt von Scherers Rettung der Jesuiter

Vnschuld)

Die Rettung ist eine sehr frühe volkssprachliche Streitschrift, die ein emblematisch strukturiertes Titelblatt hat. Unter dem genannten Titel, den man gemäß der Emblematik als inscriptio einzuschätzen hat, findet sich als pictura eine Rose, in deren Blüte eine Biene und eine Spinne sitzen. 568 Durch ein kleines Gedicht werden Titel/inscriptio und Holzschnitt/pz'c/wra im Sinne einer subscripts näher erläutert:

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Die Anregung zu diesem Titelblatt könnte aus der erst 1585 erschienenen Emblematik von Hadrianus Junius stammen, vgl.: Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Hrsg. von Arthur Henkel, Albrecht Schöne. Erg. Neuausgabe Stuttgart 1976, S. 302.

144 Ich Rosen hab ein edlen Safft/ Dem Menschen gib ich Stärck vnd Krafft. Erfrisch ihm Augen/ Hertz vnd Blut/ Bin gar zu vilen Sachen gut. Von Aertzten wirdt ich hoch geacht/ Die Binn auß mir süß Hönig macht. Eins aber mich bekümmert hart/ Die Spinnen daß sie hat die Art. Was sie in meinen Blättern findt/ In lauter Giffi verkehret gschwindt. Daran ich doch vnschuldig bin/ Niemandt zuschaden steht mein Sinn.

Nun erklärt dieses kleine Gedicht nicht die Titulierung Oslanders als „Gifftspinne", sie bleibt dem Leser vielmehr rätselhaft, erst recht wenn ihm die Warnung unbekannt ist. Deswegen setzt Scherer nach den zitierten Einleitungssätzen des Haupttextes zu einer anschaulichen Rechtfertigung seines Titels an: Die Rosen ist an ihr selber ein herrliche/schöne/ wolriechende Blum/ eines edlen/ guten vnnd gesundten Saffls/ darauß die Binn oder Imme/ [...] köstliches Hönig/ die Spinnen aber [...] schädliches Giffi zumachen pflegen. [...] Ein solliche Gifftspinnen bist du Oslander/ welliches allein auß dem mehr dann genugsam erscheint/ daß du vnlängst/ in einem gedruckten Schmachbüchel/ ein Christliches Gemäl vom Weinberg deß Herrn [...] auff das aller bitterist vnd giffiigist gedeutet vnnd ausgelegt hast [...].

Oslander ist eine Giftspinne, weil er den ursprünglich lieblichen Sinn des Bildes verkehre. Was im ersten Moment nur wie eine anschauliche Metapher fur Oslanders Auslegung erscheint, ist einerseits verbreitete Vorstellung im volkstümlichen Aberglauben,570 so daß davon ausgegangen werden kann, daß Scherers Metaphorik sofort jedem Leser verständlich ist. Vergegenwärtigt man sich ferner die emblematische Titelblattstruktur, dann wird eine zweite Dimension dieser Bildlichkeit offenbar, die den meisten Lesern verborgen geblieben sein dürfte, wenn sie nicht durch gelehrte Lehrer oder Geistliche erläutert wurde. Die Bienen-Metapher existiert seit der Antike zur Darstellung der literarischen imitatio. Sie wird im frühen Christentum dahingehend umgedeutet, daß sie die christliche Exegese versinnbildlicht.571 Die Pointe der Spinnen-Metapher liegt in der Analogie des Auslegungsprozesses. Oslander interpretiert nach Scherer das Prager Bild falsch, üblicherweise wird mit der Metapher christliche und ketzerische Bibelexegese umschrieben. Welcher gelehrte Leser mag da noch daran zweifeln, daß die .Giftspinne' Oslander nicht

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Scherer: Rettung, S. lf. Die Rose ist in der Lyrik der Gegenreformation ein verbreitetes Motiv; vgl. Dietz-Rüdiger Moser: Verkündigung durch Volksgesang. Studien zur Liedpropaganda und -katechese der Gegenreformation. Berlin 1981, S. 511-519. Vgl. Hanns Bächtold Stäubli: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Berlin 1936/37, Bd. VIII, Sp. 266f. Jürgen von Stackelberg: Das Bienengleichnis. Ein Beitrag zur Geschichte der literarischen ,Imitatio'. In: Romanische Forschungen 68 (1956), S. 271-293; Klaus Lange: Geistliche Speise. Untersuchungen zur Metaphorik der Bibelhermeneutik. In: Zeitschrift für Deutsches Altertum und Deutsche Literatur 95 (1966), S. 81-122, bes. S. 103-106.

145 auch die Heilige Schrift falsch auslegen wird? Scherer appelliert durch die Nutzung der Metapher in Verbindung mit dem emblematischen Titelblatt an den Scharfsinn des gebildeten Lesers.572 Ja, man kann festhalten, daß sich hier erste argute Spuren jesuitischer Prägung im volkssprachlichen Schrifttum finden.573 Das gilt besonders, weil ein Emblem vorliegt, das zwar zunächst durch similitudo der delectatio des Lesers dient, wie es in der humanistischen Emblematik postuliert wurde. Dieses Titelblatt ist darüber hinaus einem utilitasGedanken verpflichtet, der üblicherweise erst den zehn Jahre später erschienenen Werken des Jacob Pontanus zugeschrieben wird.574 Scherer nimmt zu Beginn seiner Schrift den Giftspinnen-Vorwurf vom Titelblatt wieder auf und greift Oslander damit an. Noch bevor er diesen Angriff näher erläutert, unterstellt er Oslander eine schwere Krankheit: „Villeicht ligest du an einer starcken Melancholia, oder vil mehr Mania kranck/ daß du auch vor einem rauschenden Blat (wie sollicher Krancken Art ist) dich entsetzest?"575 Ironisch fragt er deswegen: „Aber du/ mein lieber Oslander/ was hat dir ein solchen Schrecken eingestossen?"576 Darauf zitiert er wörtlich einen Ausschnitt aus der Bildbeschreibung in der Warnung Oslanders, um mit einer rhetorischen Frage abzuschließen: „Warumb wollten die Jesuiter diese Thier nit malen lassen [,..]?" 577 Scherers Vorgehen zielt an der Argumentation seines Kontrahenten vorbei. Das könnte man ihm günstigenfalls als ironische Spitze auslegen. Aber Scherer nennt im folgenden zahlreiche Bibelstellen als Beweis für die Bibelgemäßheit des Prager Bildes; er verfährt, wie es in Argumentationen üblich ist. Deswegen kann sein Vorgehen nur dahingehend gedeutet werden, daß er versucht, Oslander zu diskreditieren, indem er ihm fehlende Zurechnungsfahigkeit unterstellt - dessen Vorwürfe gegen den Orden sollen zum Ausdruck

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Dieser Befund ist überraschend, weil die Ratio studiorum (endgültige Fassung 1599) als erstes Dokument gilt, in dem das Interesse der Jesuiten am Emblem geäußert wird, vgl. G. Richard Dimler: Humanism and the Rise of the Jesuit Emblem. In: Emblematic Perceptions. Essays in honor of William S. Heckscher. Ed. by Peter M. Daly, Daniel S. Russel. Baden-Baden 1997, S. 93-109, bes. S. 98f. Zu berücksichtigen ist auch die „Verwandtschaft zwischen den Eigentümlichkeiten des [...] Emblems und den Exerzitien des Ignatius", Eva Knapp, Gabor Tüskes: Emblematische Viten von Jesuitenheiligen im 17./18. Jahrhundert. In: Archiv für Kulturgeschichte 80 (1998), S. 105-142, hier S. 106. 573 Zur Funktion des stylus argutus im Rahmen des jesuitischen Rhetorikunterrichts vgl. Barner: Barockrhetorik, S. 352-366. 574 Vgl. Knapp, Tüskes: Emblematische Viten, S. 106-110. 575 Scherer: Rettung, S. 3. An dieser Stelle findet sich keine Marginalie oder ein ähnlicher Hinweis darauf, daß Scherer hier aus dem Alten Testament zitiert, nämlich aus 3. Mose 26,36. Vor dem .rauschenden Blatt' sollten sich nach dem Willen Gottes die Israeliten nach dem Abfall von Gott fürchten. Der Lutheraner Oslander wird damit implizit mit dem abgefallenen Volk Israel verglichen. Wie bei der Titelblattgestaltung setzt Scherer auf die Wirkung des Analogieschlusses ohne darauf kommentierend einzugehen. Da außerdem der Hinweis auf den biblischen Ursprung fehlt, ist auch diese Analogie nur dem gebildeten Leser zugänglich. Die Metapher vom .rauschenden Blatt' war sehr beliebt; vgl. oben S. 78f. mit Anm. 270. ™ Ebd., S. 4. 577 Ebd.

146 krankhaften Verfolgungswahns werden. Nach dem gleichen Prinzip ist der folgende Abschnitt strukturiert. Zunächst zitiert Scherer einen vergleichsweise unwichtigen Ausschnitt aus der Warnung,578 um darauf zu einer Antwort anzusetzen, die betont allgemeingültig formuliert ist579 und die durch Bibelbelege ,bewiesen' wird.580 Abschließend stellt er die rhetorische Frage, ob Oslander dem denn nicht zustimmen könne.581 Dem Text liegt - wie bei anderen Streitschriften ebenfalls üblich582 - eine disputatorische Struktur zugrunde. Grundlegende Elemente von Rede und Gegenrede sowie deren Belege und die notwendige conclusio finden sich.583 Doch anders als etwa in der Initialschrift dieses Streites , disputiert' Scherer mit seinem Gegner lediglich der Struktur nach. Sein ganzes Vorgehen zu Beginn dieser Streitschrift zielt auf konsequentes Verharmlosen der gegnerischen Vorwürfe und auf bösartiges Blamieren von Lucas Oslander. Nachdem Scherer auf diese Weise noch weitere Zitate Oslanders .widerlegt' hat, greift er Oslander direkt an: „Ihr/ ihr seyt die rechten BlutzapfFen vnnd Lermenblaser/ ihr trettet ein in die Fußstapffen ewres Luthers/ vnd vndersteht euch/ alles was Wehr vnd Waffen tragen kan/ wider Bapst/ Kayser/ Cardinal/ Bischoff/ vnd alle Catholischen Potentaten/ souil an euch ist zuhetzen vnd a u f zubringen."584 Dieser Gegenangriff leitet einen thematischen Schwenk ein, der für den gesamten Streitverlauf wesentlich bleiben wird. Durch Scherers Vorwürfe wird dieser Streit zu einer Generalabrechnung zwischen Jesuiten und Lutheranern, weil sich der Jesuit im folgenden daran macht, gegen Luther zu streiten und, freilich seltener, zu argumentieren. Dazu wiederholt er Vorwürfe, die seit den frühen Polemiken gegen Luther - etwa von Cochlaeus585 - bekannt sind. Ähnlich wie bei der disputatorischen Pseudo-Widerlegung von Oslanders Warnung verfahrt Scherer dabei oberflächlich korrekt. Bei näherer Betrachtung ergibt sich, daß seine Luther-Zitate stark verfremdend oder aus dem Zusammenhang gerissen,586 jedoch nicht etwa wörtlich falsch sind, was immer wieder

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Ebd., S. 5: „Man hat aber/ sagt Oslander weiter/ gegen disen Thieren in gantzen Harnisch gestellt/ die jetzige Kays. May. etc. [...]." Ebd., durch eine Marginalie auch explizit als ,Antwort" gekennzeichnet: „Damit wollen/ lieber Osiander/ die Jesuiter anzeigen/ daß die Weltlichen Fürsten vnd Potentaten der Kirchen Schutz vnnd Schirmherrn seyn [...]." Ebd.: „Auf das aber du/ Osiander/ wissest/ das [...] S. Paulus selber vorlängst gethan/ will ich des heiligen Apostels eigne wort auß dem 13. Capitel an die Römer hieher setzen." Ebd., S. 6: „Sollen dann die Fürsten sollichen wilden Thieren nit widerstand thun? Sollen sie zusehen/ vnnd frey gestatten/ daß die Thier den Weinberg deß Herrn [...] biß in Grundt verderben?" Vgl. oben S. 33ff. Vgl. oben S. 40ff Scherer: Rettung, S. 14. Vgl. oben S. 3Iff. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel findet sich in einer anderen Streitschrift Scherers: Ob es wahr sey/ Daß [...] ein Bapst zu Rom schwanger gewesen. In: ders.: Erster Theil, Bl. 1 4 8 - 166', hier Bl. 164"zitiert Scherer Luther: „Dann es muß vnser Glaube vnd Sakrament nicht auf der Person stehen/ sie sey fromb oder böse/ geweyhet oder vngeweyhet/ beruffen oder vnberuffen/ der teuffei oder sein Mutter", womit Scherer abbricht. Bei Luther (WA

147 besonders Jesuiten vorgeworfen wird.587 Zahlreiche Zitate aus Predigten Luthers zum Türkenkrieg („Wer Ohren hat zuhören/ der höre/ vnd enthalte sich vom TürkenKrieg/ so lang deß Bapsts Name vnderm Himmel noch was gilt.")588 hatten Ende der 80er Jahre in Österreich, besonders in Scherers Wiener Umgebung, eine andere Wirkung als Mitte der 20er Jahre in Wittenberg, weit entfernt von den Fronten der Türkenkriege.589 Triumphierend beschließt Scherer seine Angriffe gegen Luther mit einer rhetorischen Frage: „Wolt ihr dise Reden ewers Luthers noch verthädigen vnd gut heissen?"590 Scherers Angriffe gegen Luther polarisieren: Luther sei gegen die Türkenkriege und ein überzeugter Feind der (katholischen) Obrigkeiten gewesen. Dadurch entwirft er ein eindeutiges Feindbild und nötigt dem Leser eine Entscheidung gegen Luther auf, die er um den Antagonismus ,Lutheraner gegen Jesuiten' erweitert. Immer wieder spricht er Oslander an, stellt ihm seine „Mitpredicanten", wie den erwähnten Nigrinus, zur Seite. Dem gegenüber stehen die Jesuiten, die von den Lutheranern angegriffen werden und die nach Scherers Meinung die Opfer sind: „Was du vnd deine Mitpredicanten vns Jesuitern mit Vngrundt zumessen vnd beschuldigen/ dessen könnet ihr selber mit der Wahrheit vberzeugt vnnd vberwisen werden."591 Da Scherer zuvor den Kernvorwurf Oslanders, die Jesuiten wollten mit dem Präger Bild zur Gewalt gegen die Lutheraner aufrufen, als unbegründet zurückweist oder verharmlost, gewinnt dieses Vorgehen zusätzlich an Überzeugungskraft. Oslanders Vorwürfe beweisen geradezu die Richtigkeit von Scherers Behauptung, weil sich dadurch ein weiteres Mal die Aggressivität der Lutheraner gegen die Vertreter und Verteidiger der katholischen Kirche erweist. Gleichsam als Beleg für Oslanders ungerechtfertigte Vorwürfe wendet sich Scherer den anderen Behauptungen und Unterstellungen vom Ende des ersten Teils der Warnung zu.592 Scherer setzt sich abermals nicht mit dem Kernvorwurf auseinander, sondern kritisiert lediglich die Form. Wenn Oslander in Zukunft etwas zu beweisen beabsichtige,

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38, S. 240f.) heißt es darauf aber noch weiter: „[... Mutter], sondern auff Christo, auf seinem wort, auf seinem ambt [...]." Was bei Scherer wie die Lästerung der Sakramente wirkt, bekommt bei Luther im zweiten Teilsatz die entscheidende evangelische Wendung. Hans-Georg Kemper erklärt, er habe in einem Dialog von Scherer falsche Zitate gefunden habe, vgl. Kemper: Literarischer Glaubenskampf, S. 149. Leider belegt Kemper dies nicht. Stichprobenartige Überprüfungen haben nicht nur fur die Rettung, sondern auch für andere Schriften Scherers Kempers Befund nicht bestätigt. Scherer: Rettung, S. 25, bzw. WA 7, S. 141 (Assertio omnium articulorum M. Lutheri per bullam Leonis X). Daß Luther zur derben und aggressiven Auseinandersetzung mit seinen Gegnern neigte, ist oben, S. 76ff., hinreichend belegt worden. Deswegen dürfte es nicht überraschen, daß Scherer nicht alle Zitate ,ausreizt': Auf sein letztes Luther-Zitat zu den Türkenkriegen folgt bei Luther (WA 15, S. 277): „Syntemal der Turck zehenmal klüger und frummer ist, denn unsere Fürsten sind." Scherer: Rettung, S. 25. Ebd., S. 14. Ebd., S. 29: „Nun muß ich auch etwas antworten auff den heimlichen Brief/ den ein Jesuiter/ wie du/ Oslander/ furgibst/ gen Augsburg geschriben soll haben/ wegen Vertilgung der Augsburgischen Confession daselbsten/ vnd im gantzen Teutschlandt."

148 möge er es ausführen, „wie es sich gebürt/ setze ihre [der Gegner] eigne wort/ verzeichne das Buch/ benenne den Auctorem, sage/ was/ wie/ wann/ warumb/ etc."593 Wie ein Schulmeister fuhrt Scherer Oslander vor.594 Dieser beherrsche nicht die Grundregeln der redlichen Argumentation und könne seine Behauptungen nicht formgerecht beweisen. Unausgesprochen erkennt Scherer Oslander das Recht zur Meinungsäußerung ab.595 Nicht nur wegen des Titelblattes ist Scherers Rettung eine bemerkenswerte Streitschrift. Sie ist entgegen der Gattungszuordnung596 des Titels gewiß keine Defensivschrift. Scherer verfaßt eine äußerst aggressive Entgegnung, in der er durch unterschiedliche Streittechniken versucht, Lucas Oslander und mit ihm die lutherischen Theologen als unglaubwürdig, aufrührerisch und dem Gemeinwohl abträglich darzustellen. Mit der Rettung prägt Scherer den Streitverlauf. Er hält sich nicht mit den Vorwürfen Oslanders auf, sondern setzt zum Gegenangriff an. Dabei gelingt es ihm, sich kurz zu fassen, so daß die Rettung im Gegensatz zu anderen Streitschriften sehr prägnant ist. Ihre Stärke liegt in der polarisierenden Tendenz. Scherer gibt sich nicht dem Versuch hin, durch moderate oder gar seelsorgerliche Einschübe integrierend zu wirken, wie etwa Andreae im Streit mit Staphylus.597 Vor dem Hintergrund zunehmender Aggressivität und Distanz zwischen den Konfessionen gegen Ende des 16. Jahrhunderts war dieses Vorgehen nur konsequent. Vor allem aber repräsentiert dieses aggressive Streitverhalten in Verbindung mit dem äußerst geschickten, um nicht zu sagen hinterlistigen Umgang mit Zitaten und Argumenten der Gegner gerade das, wovor Oslander sich zu warnen aufgemacht hat, nämlich die neue Qualität, die die propagatio fidei durch die Jesuiten erhielt und noch erhalten sollte.598 Während Oslander und Scherer als Streitgegner bereits in der Kontroverse um die Newe Zeytung aneinander geraten waren,599 war der zweite an dieser

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Ebd., S. 32. Ebd., S. 34 fordert Scherer Oslander auf „nit eh Raht" zu geben, bevor er nicht „nach der gemeinen Schulregel" dazu aufgerufen sei und spricht ihn sogar mit dem Vornamen („mein Lucas") an, was außergewöhnlich ist, weil Scherer Oslander ansonsten beim Nachnamen nennt. 595 Zum Problem der Redlichkeit in Streitschriften vgl. oben S. 107fif. 596 Der ,Rettung' entspricht im lateinischen Schrifttum die besonders in der Frühen Neuzeit weit verbreitete vindicatio, die in Übersetzungen ins Deutsche in aller Regel mit „Rettung" betitelt wird, was fur die apologia nicht gilt. Dieser Typ der ,Rettung' unterscheidet sich wesentlich von den ,Rettungen' der Aufklärung, die formvollendet bei Lessing zu finden sind. Dessen .Rettungen' sind verstorbenen Personen gewidmet; sie verfolgen die nachträgliche Rechtfertigung einer Person und dadurch nur indirekt den Widerspruch gegen einen herrschenden Diskurs; vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Vorrede zu den Schrifften. In: ders.: Sämtliche Schriften. Hrsg. von Karl Lachmann. 3. a u f s neue durchges. und vermehrte Aufl., besorgt durch Franz Muncker. Leipzig 1890, Bd. 5, S. 267-271, hier S. 268: „Die wenigen Abhandlungen desselben, sind alle, Rettungen, überschrieben. Und wen glaubt man wohl, daß ich darinne gerettet habe? Lauter verstorbne Männer, die mir es nicht danken können." 597 Vgl. oben S. 129ff. 598 Vgl. Wolfgang Schieder, Christof Dipper: Propaganda. In: GG 5 (1984), S. 69-112, S. 69f. 5 " Vgl. oben S. 45ff.

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Auseinandersetzung beteiligte Jesuit ein Neuling auf dem Feld der Religionspolemik.600 Christoph Rosenbusch, bekannter als Gregor Rosephius (1538— 1623), war als Domprediger Nachfolger von Petrus Canisius in Augsburg, wo er zuvor von diesem gefördert wurde. Von 1599 bis 1609 war er Provinzial der deutschen Ordensprovinz.601 Von den drei Protagonisten der Kontroverse war er mit den Entstehungsumständen des Prager Bildes und den lateinischen Versen am besten vertraut. Zu Beginn seiner Antwort602 erklärt er, daß am 13. Dezember 1585 der Rektor des Prager Jesuitenkollegs, Alexander Voit, ihm während eines Aufenthaltes in Ingolstadt dargelegt habe, er sei der „Author dieser Inuention vnnd Schulerischen Vbung".603 Im Gegensatz zu Scherer geht Rosenbusch zunächst nicht weiter auf Oslanders Warnung ein. Er schildert eingangs einen ,Medien- und Argumentationswandel' in der antijesuitischen Religionspolemik: Dann nun mehr bey 30. Jaren her vil Gedicht/ vil Gemähl/ vil Lieder/ Reimen/ lange Zedlein/ ohne vnd mit Namen in Teutscher Nation hin vnd wider außgesprengt/ darinnen allerley Fablen/ was [...] soll mit den Jesuiten fiirgangen sein. Dise Gedicht aber waren also beschaffen/ daß die ienigen/ so gleich wol vnsers Glaubens nit sein/ aber dann noch von der alten Teutschen Erbar vnnd Redlichkeit noch etwas haben/ sich sollicher Lugen vnnd Gedicht geschämet [...]. Darumb dann wir auch billich solliches blaicher Hundt pellen vnnd Gedicht mit stillschweigen veracht [...] haben. Da man dann [...] gemerckt/ daß [...] diese die rechten Mittl nit waren/ hat man sich eines andern besunnen [...]/ dafür aber angehebt mit Tractätlein vnnd Disputatzen. 604

Rosenbusch verfolgt eine andere Streittaktik als Scherer. Die lutherischen „Tractätlein vnnd Disputatzen" seien weniger Versuche der gelehrt-theologischen Auseinandersetzung, sondern vielmehr eine neue Variante, die Jesuiten zu denunzieren, nachdem die anonymen Flugblätter und -Schriften dies nicht zu leisten vermocht haben. Erst nach vierzehn Seiten wendet er sich ausfuhrlicher Oslanders Warnung zu und nennt vier Hauptvorwürfe. Er erläutert das Bild, ohne konkret auf Oslander einzugehen.605 Dadurch wird die Warnung abermals verharmlost und als unbegründet zurückgewiesen. Rosenbusch fuhrt wie 600

Außer den Streitschriften dieser Kontroverse publizierte er nur eine weitere volkssprachliche Schrift: Zeitung/ welcher Gestallt/ im Martio dises fünfT vnd achtzigsten Jars/ etliche König vnd Fürsten auss Japonia ihre Abgesandten/ dess Glaubens halben/ gen Rom geschickt haben. Ingolstadt 1586. Eine Neuauflage erschien im folgenden Jahr. 601 Vgl. Bibliotheque de la Compagnie de Jesus. Bibliographie par les Peres Augustin et Aloys de Backer. Nouvelle Edition par Carlos Sommervogel. Brüssel, Paris 1896, Bd. 7, Sp. 135. Vgl. ferner Duhr: Geschichte der Jesuiten, S. 88, 93 u.ö. 602 Christoph Rosenbusch: Antwort vnd Ehrerrettung auff die Ehrnrürig im Rechten vnnd Römischen Reich verbottne Schmachschrifft/ Lucae Osiandri, die er tituliert/ Warnung Vor der Jesuiter Blutdurstigen Anschlägen vnd bösen Practicken. Ingolstadt 1586; eine Widmung oder Vorrede fehlen. 603 Ebd., S. 2. «04 Ebd., S. 4. 605 Ebd., S. 17: „Nun so stehen dann die Ritter billich vor dem Weinberg herauß/ vnd die wilden Thier stehen auch da/ auff welliche die Ritter schlagen. Was ists aber nun mehr: Weistu nit/ daß ihr Mayestat mit ihren Rittern gräntzt/ mit wilden reissenden Thieren/ als da sundt Türcken/ Tartaren/ Moscoviter?"

150 Scherer einige Bibelbelege zum Beweis der Richtigkeit an, jedoch verzichtet er auf Bloßstellungen oder gar Diffamierungen Oslanders. Ferner hält Rosenbusch seinem Gegner fehlende Belege vor.606 Im Gegensatz zu Scherer zitiert er Oslander selten. Da die Rettung nicht zuletzt dadurch an Aggressivität gewinnt, wirkt die Antwort im Vergleich zurückhaltender und defensiver als Scherers Streitschrift. Wie sehr die beiden Schriften sich unterscheiden, zeigt der Blick ins Schlußwort. Scherer verzichtet gerade hier auf die direkte Anrede Oslanders, um möglichst große Distanz zwischen sich und dem Gegner zu demonstrieren, dadurch polarisiert er ein letztes Mal. Rosenbusch dagegen wendet sich Oslander zu und spricht ihn als furbittender Seelsorger an: Wir verzeihen dir vor Gott/ vnnd von Hertzen gern/ bitten auch den Allmächtigen/ er wolle dir durch erbar vnd auffrecht handien (wie dann ein jeder Christ zu thun schuldig) den weg machen zu der Erkanntnuß deß allein selig machenden Christlichen Catholischen Glaubens/ in dessen Frid vnd Einigkeit/ er vns samentlich hie zeitlich gnädigst wolle erhalten/ vnd schließlich helffen zu der ewigen Glori vnd Seligkeit.

Rosenbuschs Streitschrift ist damit vermittelnder als Scherers Rettung. Der Augsburger Jesuit signalisiert abschließend vergebende Hilfsbereitschaft, wenn denn Lucas Oslander bereit sei, zum katholischen Glauben zurückzukehren ein Angebot, das auch herablassend wirken mag und nur dem Zweck dient, der Leserschaft die Friedfertigkeit und SeeLsorge der Jesuiten zu demonstrieren. Durch diese grundsätzlich unterschiedlichen Stoßrichtungen der beiden jesuitischen Streitschriften wird Oslander in die Zange genommen - gleichzeitig dokumentieren Scherers Rettung und Rosenbuschs Antwort, wie ambivalent jesuitische propagatio fidei im Medium religionspolemischer Schriften zum Einsatz kommen konnte.608 Nur kurze Zeit nach dem Erscheinen609 der beiden jesuitischen Streitschriften publizierte Oslander dagegen eine Verantwortung.61° Bereits im Titel

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Ebd., S. 15: „Es heist nit/ ich sags/ oder ich habs gehört/ sonder ich muß probieren." «07 Ebd., S. 68. 608 Es gibt keine Indizien dafür, daß dieser Doppelschlag eine gezielte Aktion des Ordens oder zumindest der beiden Jesuiten war. Er scheint vielmehr ein Zufallsprodukt zu sein. Falls dem tatsächlich so wäre, würde das ein weiteres Mal die Zufälligkeit des Streitverlaufs belegen, denn es ist zu vermuten, daß der Streit sich ganz anders entwickelt hätte, wenn nur einer der Jesuiten auf Oslander reagiert hätte. 609 Die Streitschriften dieser Kontroverse sind in Meßrelationen verzeichnet: vgl. Die Messkataloge Georg Willers. Fastenmesse 1581 bis 1587. Hrsg. von Bernhard Fabian. Hildesheim, N e w York 1980 (= Die Messkataloge des sechzehnten Jahrhunderts, III), S. 395 (Oslanders Warnung), S. 448 (die beiden jesuitischen Schriften). 610 Lucas Oslander: Verantwortung/ Wider die zwo Gifftspinnen/ Georgen Scherern/ vnd Christophorum Rosenbusch/ beide Jesuiter: welche auß der trewhertzigen/ fridfertigen/ Christlichen Warnung (vor der Jesuiter blutdurstigen Anschlägen vnd bösen Practicken) als auß einer wolrüchenden Rosen lauter Gifft gesogen. Vnd wirdt sich in dieser Schrifft lauter befinden: Ob durch obermelte Warnung/ höchste vnnd hohe Potentaten des heiligen Römischen Reichs angetastet: Ob den Jesuitern/ mit zumessung der blutdurstigen Anschlag/ vnrecht beschehen: Vnnd ob die Jesuiter in ihren Schrifften wider die Euangeli-

151 greift er den Giftspinnen-Vorwurf Scherers auf und wendet ihn gegen die beiden Jesuiten („auß einer wolrüchenden Rosen lauter Gifft gesogen"). Dadurch signalisiert er umgehend, daß er der polarisierenden Tendenz Scherers zu folgen geneigt ist. Er treibt ein satirisches Spiel mit den Namen seiner Gegner - gängige, wenn auch mißfallende Praxis: Rosenbusch solle „billicher Dornbusch heissen".611 Und er zitiert zuverlässig einige Beschimpfungen gegen seine Person aus der Rettung und aus der Antwort. Diese Zitate beschließt er mit einer ironischen Feststellung, die die Bestätigung seiner Vorwürfe gegen den Orden impliziert: „Vnnd solches schreiben die Jesuiter alles auß lauter Jesuitischer sanfftmut/ wie dann wol zu glauben ist." Osiander setzt außerdem zu einer ausführlichen Rekapitulation seiner antijesuitischen Position an, was ein Indiz für die Vermutung ist, daß zwar Streitschriftenwechsel als solche gelesen werden konnten,612 die einzelnen Polemiker aber zunächst davon ausgehen mußten, daß zahlreiche Leser nur einzelne Schriften des Streites erwarben oder zu lesen erhielten.613 Osiander folgt Scherer nicht nur im Hinblick auf den Giftspinnen-Vorwurf. Er nutzt wie dieser die Streittechnik, neue Kontroverspunkte aufzuwerfen, die fur den vermeintlichen Streitkern irrelevant sind. So setzt er sich ausführlich und aggressiv mit dem erwähnten Güldenen Fluess des Reichshofrats Georg Eder auseinander,614 er greift den Franziskaner Johannes Nas615 und kontroverstheologische Schriften Kardinal Bellarmins an.616 Erst im Anschluß daran beginnt eine erneute Erwiderung auf das gegenreformatorische Bildprogramm und eine ausfuhrliche Auseinandersetzung mit der Bewertung des Prager Bildes in der Rettung und in der Antwort. Sowohl dem Titel als auch dem Aufbau nach ist Oslanders Verantwortung eine Replik auf die Rettung Scherers. Rosenbuschs Antwort wird davon nicht differenziert abgehoben, statt dessen weitet Osiander die Attacken aus, nicht nur die Prager Jesuiten sowie Scherer und Rosenbusch werden befehdet, er nennt einen weiteren ,blutdurstigen' Jesuiten, Bellarmin, dessen kontroverstheo-

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schen Predicanten/ auffrichtig/ vnd wie frommen Leuten wol anstünde/ handeln oder nicht. Tübingen 1586, keine Vorrede oder Widmung. Ebd., S. 2. Osiander spielt nicht auf den .brennenden Dornbusch' an, denn in diesem erscheint Moses ein Engel Gottes (2. Mose 3,2). Scherers Schriften dürften in zahlreichen Regionen Österreichs verteilt worden sein, wo von Landadeligen oftmals evangelische Prediger und Schulmänner aus anderen Gebieten des Reichs angeworben wurden. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts arbeiteten die österreichischen Landstände eng mit württembergischen Theologen zusammen und forderten regelmäßig Flugschriften aus Tübingen an, weil protestantische Flugschriften in Österreich nicht mehr gedruckt werden durften, vgl. Hugo Hantsch: Die Geschichte Österreichs. Graz, Wien, Köln 5 1969, Bd. 1, S. 237-293, bes. S. 257f. Streitschriftenwechsel wie der vorliegende konnten damit in katholischen Gebieten vollständig gelesen werden, wenn auch nur wenige Leser als potentielles Publikum in Betracht kommen. Zum Publikum der Streitschriften vgl. unten S. 187ff. Oslander: Verantwortung, S. 11-17. Vgl. oben S. 56ff. Osiander: Verantwortung, S. 21f. Ebd., S. 22-26.

152 logische Autorität aus Oslanders Äußerung nicht hervorgeht, und reiht den Laien Eder und den Franziskaner Nas mit ein. Oslander betreibt seinerseits die Polarisierung der Religionsparteien.

c.

Zwei Streittechniken - ein Ziel: Autoritätsdemonstration Personalisierung als Techniken der Polarisierung

und

Am Ende von Oslanders Verantwortung findet sich ein kurzes Postscriptum, in dem er eine weitere Schrift Rosenbuschs erwähnt. Dieser hatte noch vor der Veröffentlichung der Verantwortung ein zweites Buch publiziert, die Wolgegründte ernewerte Antwort617 Es handelt sich dabei um eine überarbeitete Fassung der Antwort. Rosenbusch rechtfertigt in einem kurzen Vorwort an den Leser diesen Schritt mit dem Erfolg der ersten Auflage. 618 Die Neuauflage folgt auf den ersten 68 Seiten dem Aufbau der Antwort. Es werden lediglich kleinere Überarbeitungen vorgenommen. Es finden sich nun wesentlich mehr Marginalien mit polemischer Intention. In einigen wird Oslander direkt angegriffen,619 andere unterstreichen den seelsorgerlichen Duktus,620 den Rosenbusch im Gegensatz zu Scherer pflegt. Außerdem tauscht er Einzelwörter aus, dabei ersetzt er muttersprachliche durch lateinische Begriffe, „Intent" erhält den Vorzug vor „vorhaben", „Practicken" vor „ding".621 Dieses Vorgehen spricht für eine implizierte Leserschaft, die über einen umfangreichen Wortschatz verfugt und sich nicht durch einzelne Fremdwörter im Text irritieren läßt, selbst wenn

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Christoph Rosenbusch: Wolgegründte ernewerte Antwort/ vnd Ehrerrettung auff die ehrnrürige im Rechten vnd Römischen Reich verbotne Schmachschrifft/ Lucae Osiandri, die er intituliert/ Warnung Vor der Jesuiter Blutdürstigen Anschlägen vnd bösen Practicken. Ingolstadt 1586; auf der Rückseite des Titelblatts findet sich eine knappe Anrede des Lesers, keine weiteren Vorredentexte. Ebd., „Dem günstigen Leser", Rückseite des Titelblatts: „DIeweil nun die ersten Exemplaria allbereit hin vnnd verhandlet/ bin ich ersucht vnnd angesprochen worden/ ob ich das erste Exemplar/ welches also in eil gedruckt worden/ noch einmal vberlauffen vnd reuidieren wollte/ in bedenckung/ das solches der Drucker alßbald widerumb vnder die Preß zulegen willens/ Hab ichs demnach an mir auch nit wollen noch sollen erwinden lassen/ dir hiemit solche ernewerte Antwort guthertziger Christlicher meinung entzwischen vbergebend/ biß Gott genad verleyhet/ vnnd die noth etwas mehrers zufertigen erfordern wirdt. Bitt Gott ftir mich." Die angesprochene „noth" dürfte Ausdruck von Rosenbuschs Erwartung sein, daß Oslander ihn durch eine Erwiderung herausfordern würde. Durch die Vorrede signalisiert er die Bereitschaft, die Kontroverse fortzusetzen. Rosenbusch: Wolgegründte ernewerte Antwort, S. 1: „Mein Oslander schämest dich der warheit?" Ebd., S. 2: „Lieber Oslander gehe du halt aller Ketzerey/ Liegens vnnd Triegens müssig/ vmb Gottes vnd deiner Seel Seligkeit willen." Rosenbusch: Antwort, S. 13: „Das gantze vorhaben/ wie ich zuuor vermeldet [...]." Statt „vorhaben" findet sich in der Wolgegründten ernewerten Antwort, S. 17, „Intent". In der Antwort, S. 12: „Ob derhalben vmb dieser ding wegen schon schwer zuhandlen/ [...]." Anstatt „ding" wird in der Wolgegründten ernewerten Antwort, S. 16, „zwo Practicken" gesetzt.

153 dadurch keine Rückschlüsse auf die Lateinkenntnisse des gewiß nicht großen Publikums gezogen werden können. Doch erklären diese Veränderungen nicht den Titel. Die Wolgegründte erneuerte Antwort ist um drei ,Ableinungen', drei Widerlegungen, erweitert. Darin befaßt sich Rosenbusch ausführlich mit Oslanders Warnung der katholischen Stände vor den Jesuiten, Äußerungen zum Aufstand in den Niederlanden und Oslanders Auslegung der Offenbarung. Die beiden letzten Erörterungen sind nicht Gegenstand der Warnung. Damit werden Streitpunkte benannt, die der Erweiterung des Streitspektrums dienen - intentional durchaus vergleichbar mit Scherers Angriffen gegen Luther oder mit Oslanders Ausfallen gegen Eder.622 Mit der ersten ,Ableinung' dagegen berührt Rosenbusch ein Thema, in dem es um die Autorität des Jesuitenordens geht, also um ein zentrales Anliegen des jungen Ordens. Rosenbusch argumentiert nicht Abschnitt für Abschnitt gegen seinen Kontrahenten. Vielmehr verweist er auf das kaiserliche Druckprivileg, das alle Schriften der Jesuiten ziert, auch die von Scherer und Rosenbusch, bei denen ebenso nicht die Ordenslizenz fehlt. Dieser stellt nun in der ersten Widerlegung fest, daß die kaiserliche Lizenz im Hinblick auf die richtige Beurteilung des Bildes Beweischarakter habe.623 Da Oslanders Streitschrift im Gegensatz zu den jesuitischen Polemiken nicht mit der Lizenz ausgestattet sei, könne kein Zweifel an der Richtigkeit der jesuitischen Auslegung des Bildes bestehen. Das serielle kaiserliche Druckprivileg wird gezielt als Beweismittel eingesetzt. Rosenbuschs Titelblätter sind zwar im Vergleich zur emblematischen Titelblattgestaltung der Rettung weniger repräsentativ angelegt. Vergleicht man sie aber mit den Streitschriften Oslanders, so sind in diesem Zusammenhang nicht nur die kaiserliche Lizenz und die des Ordens zu nennen. Rosenbuschs Streitschriften gegen Oslander sind, wie zahlreiche andere jesuitische Schriften dieser Zeit, zweifarbig gesetzt. Wenn sie der führenden Ingolstädter Druckerei von David Sartorius entstammen, dann sind außerdem der Druckername sowie die Zugehörigkeit des Verfassers zum Jesuitenorden auf dem Titelblatt durch Rotdruck hervorgehoben. Jesuitische Bücher und Streitschriften demonstrieren selbstbewußt die Zugehörigkeit zum Orden, ein weiterer Sachverhalt, der den Befund stützt, daß die Streitschriftenwechsel zunehmend Mittel der Konfessionspolarisierung werden. Leser, die dem Orden distanziert gegenüber stehen, werden gar nicht erst versucht, sich mit der Position des Verfassers vertraut zu machen, während katholische Leser direkt darauf hingewiesen werden, ein Buch einer zuständigen Autorität in den Händen zu halten. Da zwischen dem Erscheinen der Antwort und der Wolgegründten ernewerten Antwort die bereits behandelte Verantwortung Oslanders erschien, sah sich Rosenbusch noch 1586 zu einer weiteren Schrift gegen Oslander

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Es ist deswegen vertretbar, auf diese zwei ,Ableinungen' nicht einzugehen, zumal sie von Rosenbusch weit weniger ausführlich behandelt werden als die erste, die deutlich umfangreicher ist als die zwei anderen zusammen. Rosenbusch: Wolgegründte ernewerte Antwort, S. 68-79.

154 herausgefordert, die er schlicht Replica nannte.624 Damit wird er der Ankündigung in der Vorrede der Wolgegründten ernewerten Antwort gerecht. Rosenbuschs Offensive hatte eine vorläufige Teilung des Streitverlaufs durch Oslander zur Folge, der sich in seiner nächsten Streitschrift, der Abfertigung Der vermeindten Replic,62S ausschließlich auf Rosenbusch bezieht. Dabei handelt es sich nicht um eine gezielte Streitlenkung durch Oslander. Vielmehr lag ihm die zeitgleich mit der Replica in Meßrelationen angekündigte Streitschrift Scherers - der Triumph der Wahrheit - nicht vor, wie er eingangs der Abfertigung der vermeindten Replic erläutert.626 Nach dieser Erklärung setzt Oslander umgehend zu einem ersten Angriff gegen Rosenbusch an, indem er seine Schrift rechtfertigt: Wiewol aber Christopherus Rosenbusch/ sich vnnd sein Jesuitische Societet oder Gesellschafft/ in seiner Replica vil mehr an den Pranger stellet/ dann daß er sich vnnd die seinen weiß vnnd rein prenne: Derwegen auch ertliche guthertzige dafür gehalten/ daß ein solche scurrile vnd leichtfertig Büchlin keiner antwort werdt: Jedoch/ dieweil solcher Leut (als die Jesuiter seind) rhühmens kein end/ vnnd sie ihnen selbsten den Sig zumessen/ vnd Victoria schreien/ da sie doch fliehen/ daß ihnen (mit gunst zumeiden) die Schuhe entfallen möchten: Hab ich nicht vnderlassen sollen/ dem Rosenbusch auch dißmals zuantworten/ damit er sich nicht weise laß duncken/ vnnd im selbsten einbilde/ als ob er mich allbereit gefangen/ vnd im Triumph vmher führte.

Erläuterungen, die diesem Erklärungsmuster folgen, finden sich in Streitschriften immer wieder. Sie sind als eine oft realisierte Variante der captatio benevolentiae zu bewerten, deren Kern ein Rechtfertigungs-Topos ist, der zwei Dimensionen hat. Die eine, in der Regel meist unausgesprochene Dimension ist selbstbezüglich. Die Polemiker sehen sich immer wieder genötigt, sich indirekt für ihre Schrift zu entschuldigen. Oslander behauptet, daß Rosenbuschs Replica „keiner antwort werdt" sei. Das dürfte ein versteckter Ausdruck für ein nur schwer greifbares Schamgefühl für das derbe, teilweise ehrverletzende und sogar unchristliche, der von Christus geforderten Feindesliebe widersprechende Vorgehen gegen Vertreter der anderen Konfession sein. Im zitierten Beispiel lehnen „ertliche guthertzige" jede weitere Reaktion ab. So paradox es in 624

Christoph Rosenbusch: Replica auff dess Calumnianten Lucae Osiandri Verantwortung wider die Jesuiter. Ingolstadt 1586. 625 Lucas Oslander: Abfertigung Der vermeindten Replic/ Christophori Rosenbusches/ Jesuiters/ welche er wider Lucam Osiandrum D. newlich im Truck außgesprengt. Vnd würdt in dieser Abfertigung lautter dargethon: Erstlich/ daß Christophorus Rosenbusch (ein furnemer Jesuiter) sich vnd seine Jesuitische Gesellschafft/ von den Aufflagen/ so jnen billich zugemessen/ nicht purgirt/ oder sauber gemacht. Zum andern/ daß der Jesuiter Abgott/ der Papst zu Rom/ der rechte Antichrist sey/ dessen Irrthumb/ Abgötterey vnd Tyranney die Jesuiter (als seine getrewesten Diener) zuerhalten/ vnd fortzupflanzen/ sich zum höchsten bemühen. Tübingen 1587. 626 Vgl. ebd., S. 1: „Ich hab aber des Scherers Triumph biß auff disen tag [...]/ vber all mein fleissige anstellung/ nicht zur hand bringen können. Mag also nicht wissen/ ob dem Scherer ein Pferd an seinem Triumphwagen/ hinckend worden/ oder ob ihm ein Rad gebrochen/ oder ob er gar vmbgeworfen hab/ dieweil er so weit dahinden bleibt/ vnnd sich nicht sehen laßt." 627

Ebd., S. 2.

155 Anbetracht der Flut an religionspolemischen Schriften erscheinen mag, es galt als unschicklich, den konfessionellen Gegner mittels Streitschriften anzugreifen.628 Die Kontroversisten mußten als Geistliche immer dem Postulat der Nächsten- und Feindesliebe gerecht werden. Sie sollten ein positives Beispiel durch ihren Lebenswandel geben, sahen sich dabei durch die Fürsorgepflicht gegenüber den Laien gleichzeitig veranlaßt, sich dem derben Sprachgebrauch der Zeit anzunähern, um das Publikum emotional zu erreichen. Die zweite Dimension der Rechtfertigung bezieht sich dagegen immer auf den Gegner. Dieser wird als Ursache für die jeweils vorliegende Streitschrift ausgemacht. Mit Beharrlichkeit legt man sich auf den Gegner als Schuldigen an der Streitsituation fest, was wiederum willkommener Ausgangspunkt zu dessen neuerlicher Polemik sein kann. Auf diese captatio benevolentiae folgt eine regelgerechte Verteidigungsschrift. Zunächst benennt Oslander den Hauptstreitpunkt: „Der gantz Haupthandel zwischen mir/ vnd den Jesuitern/ ist dieser/ ob die Jesuiter wünschen/ practiciern/ vnd anhetzen/ daß die Christliche Augspurgische Confession/ in vnd ausserhalb des Römischen Reichs/ vndergetruckt/ vnd mit weltlichem gewalt außgerottet werde?"629 Zum Beweis seiner Beurteilung dieses zentralen Streitpunkts nennt er zwölf Vorwürfe, die er im folgenden ausfuhrlich darlegt.630 Zur Veranschaulichung sei der erste Vorwurf zitiert: [Rosenbusch will] nicht gestehen/ daß die Pragische Invention des Gemälds solche ding bedeut/ wie ichs außgelegt: gibt auch für/ er wisse kein stand des Reichs/ der ein Greiffen im Wappen führe: Würdt freilich die Parrillen nicht recht au ff gesetzt haben/ sonsten hette er den Greiffen in dem Brandenburgischen [...] wie auch dem Hessischen Wappen fanden

Zum Beweis der einzelnen Vorwürfe schließt Oslander zwölf Zitate aus der Replica an.632 Der geordnete Aufbau seiner Schrift hält ihn dabei nicht von polemischen Angriffen ab, wie der ironische Hinweis auf die nicht recht aufgesetzte Brille zeigt. Der strukturierten Anlage der Schrift entsprechend, zieht Oslander im Anschluß an die zwölf Vorwürfe und deren Beweise ein erstes Resümee, eine conclusio mit direkter Anrede des Lesers: Also sihestu Christlicher lieber Leser/ auß disen zwelff Artickeln des vnchristlichen Glaubens/ welche der Jesuiter Rosenbusch/ für sich vnd sein Jesuitische Societet mit seinen eignen worten/ vngetrungen vnd vngezwungen bekennet/ daß die Jesuiter seien böse

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Anders verhielt sich das bei innerkonfessionellen Streitigkeiten, vgl. Friedrich: Der Streit um das Streiten, S. 303-305. 629 Oslander: Abfertigung Der vermeindten Replic, S. 3. « o Ebd., S. 5-13. Ebd., S. 5f. 632 Ebd., S. 14-25. Der zum zitierten ersten Vorwurf gehörige Beweis lautet ebd., S. 14f.: „Also schreibt Rosenbusch von den Lutherischen oder Euangelischen Predicanten/ vnd andern Personen/ welche bey den Jesuitern für Ketzer gehalten werden: Will man dann die Ketzereien außreutten/ so muß man dem Luca Andreae/ vnd dergleichen helffen. Vnnd w o der Chorrock bey ettlichen nicht will nachtrucken/ so muß das eisen röcklin gebraucht werden. Was ists aber/ Oslander/ daß du dich also vor dem eisin röcklin furchtest?"

156 gifftige Leut/ welcher fümembste Intention ist/ daß sie begem die Christliche Euangelische Religion Augspurgischer Confession/ auß dem Teutschland außzurotten.

Nicht nur die argumentative Struktur der Abfertigung, sondern auch die Nutzung der Anrede des christlichen Lesers fuhrt vor Augen, daß Oslander der Gerichtsrede verpflichtet ist. Im Gegensatz zu den beiden Jesuiten spricht er diese nicht einmal direkt an. Statt dessen wendet sich Oslander zu Beginn seiner conclusio an die Leser. Geht man in diesem Zusammenhang von einer konventionellen Gerichtstrias (Richter, Ankläger und Angeklagter) aus,634 so ergibt sich die bereits dargelegte Fiktion vom Leser als Richter, die Oslander zur Betonung seiner Zuverlässigkeit und Ehrenhaftigkeit einsetzt. Er folgt damit in der Abfertigung der Tendenz zur Polarisierung durch Personalisierung des Konflikts. Auch dieser Schrift liegt ein eindeutiges Lagerdenken zugrunde, das durch gezielte Invektiven und ironische Angriffe gegen Rosenbusch gekennzeichnet ist. Durch den übersichtlichen Aufbau und die dezente Leseransprache charakterisiert sich Oslander gleichzeitig selbst. Die Personalisierung des Streits wird durch die Struktur der Schrift unterstützt, weil durch Darstellung der jesuitischen Aggressivität einerseits und durch die Glaubwürdigkeit betonende Struktur der Abfertigung andererseits zwei Extreme auf einer Redlichkeitsskala markiert werden. Diese Tendenz unterstützen die folgenden Teile der Schrift, in denen u.a. Bibelstellen zum Beweis von Oslanders Vorwürfen oder verunglimpfende Zitate aus den Streitschriften Rosenbuschs aufgelistet werden.635 Im Gegensatz zu Rosenbusch verzichtet Oslander im Schlußwort außerdem auf versöhnliche oder gar seelsorgerliche Gesten. Statt dessen betont er die Distanz zwischen sich und dem Jesuiten: Vnd hiemit will ich dise Sachen (was ich von der Jesuiter blutgirigen Gemüt/ practiciern wider die Augspurgische Confession/ vnd verhetzen der Päpstischen Obrigkeiten/ wider ihre vnderthonen/ vnnd andere Augspurgischer Confessions verwandte/ geschriben hab) beschliessen/ vnnd meines theils zur bekanntnus der Christenheit setzen. Vnnd bin nicht bedacht/ mit dergleichen personalibus mich ferner (mit verlierung der zeit) einzulassen. Dann wann ich dem Rosenbusch (vnd seines gleichen) in die lenge/ auff all sein vnkrefftig gewäsch antworten/ vnnd vber solchen Sachen mit jme ferner zu har ligen wollte: möchten fromme Christen vermeinen/ ich were mit jm zum Narren worden.

Im Vergleich zur raschen Folge von Streitschriften im Jahr 1586 ließ Rosenbuschs Erwiderung auf die Abfertigung, die Declaration der Abfertigung,637 « 3 Ebd., S. 25. 634 Diese Trias mit richtender Instanz ist ähnlich in der Disputation zu finden. 635 Vgl. Oslander: Abfertigung, S. 26- 44. 636 Ebd., S. 44. Auf den folgenden 30 Seiten schließt sich ein zweispaltiger Vergleich zwischen „Christus" und dem „Römischen Antichrist" an: Es handelt sich dabei um einen Vergleich zwischen Zitaten aus der Bibel und aus katholischen Erlassen und Verlautbarungen. Dieser Teil der Abfertigung steht also noch einmal unter den Vorzeichen der Zuverlässigkeit, ist aber zunächst ein kontroverstheologisches Handbuch ohne direkten Bezug zum Streit. 637 Christoph Rosenbusch: Christophori Rosenbuschs Declaration Der vntiichtigen/ vnwarhafften Abfertigung/ Luce Osiandri Predicanten. Dardurch an Tag gebracht/ das sein Oslanders Aufflagen/ damit er vermeynt der Jesuiter Vnschuld zubeschwären/ noch wie

157 lange auf sich warten, wofür sich Rosenbusch in der Vorrede an den Leser ausdrücklich entschuldigt. Allein die Existenz einer Vorrede an den Leser ist bereits Ausdruck einer verstärkten Hinwendung zu diesem. Ferner folgt sie der diesen Streit prägenden Tendenz zur Polarisierung durch Personalisierung des Konflikts. Die umfangreiche Schrift ist dreigeteilt. Zunächst erklärt Rosenbusch, Oslander sei weiterhin den Beweis der jesuitischen Blutgierigkeit' schuldig.638 Im zweiten Teil greift der Jesuit den Lutheraner massiv an, er faßt den Inhalt dieses Teils mit folgenden Worten zusammen: „Daß er Oslander selbst der sey/ (gleich wie auch andere seins gleichen Predicanten) welcher allerley Mißverstandt/ Vnrhu/ Zanck vnd Hader auffwigle: vnnd Oslander diß fahls Rosenbuschs Beweiß nit ableinen könne."639 Im letzten Teil unternimmt Rosenbusch eine Verteidigung der Replica und damit seiner Unschuld, um zu beweisen, daß die Schrift „nit lugen (als er [Oslander] fälschlich fürgibt) [enthalte,] sonder Warheiten/ [die] beuest stehen/ seyn vnd bleiben."640 Trotz der kontrastierenden Anlage verzichtet Rosenbusch in der Declaration der Abfertigung in weiten Teilen auf Derbheiten und aggressive Ironie als Mittel der rhetorischen Auseinandersetzung; vielmehr geht es ihm um eine möglichst vollständig Beurteilung der Kontroverse und Darlegung seiner Argumente. Es überrascht deswegen nicht, daß die Streitschrift seine letzte in dieser Kontroverse ist. Von Rosenbuschs Seite ist alles gesagt, es scheint sinnlos, noch weitere Schriften zum Streit um das Prager Bild zu publizieren. Rosenbuschs Anteil an der Kontroverse ist schwer zu beurteilen; wie in den Polemiken der beiden anderen Kontroversisten finden sich in den seinen unterschiedliche Streittechniken, die er zum Teil gut beherrscht; von der beinahe seelsorgerlich anmutenden Antwort bis zur Declaration der Abfertigung, die allein wegen ihres Umfangs an ein kontroverstheologisches Handbuch erinnert. Festmachen läßt sich außerdem Rosenbuschs Bemühen, immer wieder auf neue Entwicklungen zu reagieren. Die Declaration der Abfertigung ist nicht nur dem Streitverlauf nach, sondern auch dem Aufbau nach eine Reaktion auf Oslanders Abfertigung mit ihrer ostentativen Ehrenhaftigkeit und Zuverlässigkeit. Tendenziöse Zusammenfassungen oder gar streitlenkende Techniken finden sich darin nicht. Scherer versucht bereits mit der Rettung, dem Streit neue Impulse zu verleihen. Für Oslanders Schwenk hin zur redlichen Widerlegung in der Abfertigung gilt ähnliches. Bei Rosenbusch finden sich solche Versuche dagegen nicht.

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zuuor/ falsche grundtlose Gedicht: Rosenbuschs aber Retorsion vnd Beweiß wider Oslander vnd seines gleichen Predicanten/ daß sie Blutgierig vnd Auffrürisch wider die Catholischen Ständt/ etc. beständig: vnd endtlich die Narrata/ so er Oslander auß Rosenbuschs Replica gezogen/ nit Lugen/ sonder Warheiten seyn vnd bleiben. Ingolstadt 1588, insgesamt 182 Seiten [!]. Ebd., S. 13-101. So in der Zusammenfassung der Schrift ebd., S. 12; der zweite Teil findet sich auf S. 102— 137. Ebd, S. 12; der dritte Teil folgt S. 138-181.

158 d. Triumph-Gesten zur Stärkung des katholischen

Gruppenbewußtseins

Der Spott über den im Meßkatalog angekündigten, dann aber nicht erschienenen Triumph der Wahrheit641 mag Oslander angesichts des Umfangs der Schrift vergangen sein. Auf 159 Seiten legte Georg Scherer seine Reaktion auf die Verantwortung vor. Wie oben dargestellt, ist Scherer durch Oslander in der Verantwortung stärker herausgefordert worden als Rosenbusch. Das ergibt sich aus der Umkehrung des Giftspinnen-Vorwurfs ebenso wie aus der Struktur der Verantwortung. Im Haupttext mit seinen 25 Kapiteln werden alle wesentlichen Vorwürfe Oslanders erwähnt, doch kann keineswegs von einer gewissenhaften Erwiderung gesprochen werden. Vielmehr handelt es sich um ein kontroverstheologisches Buch, das erst durch den gezielten Einsatz von Polemik und Ironie zu einer Streitschrift mit konkretem Streitbezug wird. Das Titelblatt des Triumphs ist ähnlich wie die Titelblätter der Streitschriften Rosenbuschs konzipiert - vermutlich eine gestalterische Entscheidung des Ingolstädter Druckers Sartorius; es ist zwar durch Zierleisten und farbliche Hervorhebungen Ausdruck jesuitischen Selbstbewußtseins, doch eine kunstvolle Gestaltung wie bei der Rettung ist nicht beabsichtigt. Scherer knüpft auf dem Titelblatt nicht an den Giftspinnen-Vorwurf an. Den Zuschreibungsadressaten, den bayerischen Herzog Wilhelm V., behält er bei, greift aber in der Widmung den Giftspinnen-Vorwurf nicht auf. Abermals dient die Widmung zu zweierlei: Zum einen dokumentiert sie den Stellenwert, den Scherer den Rittern vom Goldenen Vlies beimißt; zum anderen nutzt er die Widmung wie in der Rettung als erste kontrastierende captatio benevolentiae, um eine konfessionelle Lagerbildung zu provozieren. In dieser Widmung berichtet er von Rekatholisierungsmaßnahmen des österreichischen Erzherzogs Ernst in Ybbs. Scherer habe diesen Ereignissen als Prediger beigewohnt. Dabei bildet Erzherzog Ernst eine personale .Brücke' zur zentralen Streitfrage um die Beurteilung des Prager Bildes. Ernst wurde auf dem gleichen Fest wie Rudolf II. in den Orden aufgenommen. Mit diesem ,Ordensbruder' des Widmungsadressaten Wilhelm war Scherer unterwegs.642 Da habe sich der „Lutherisch Rebellisch Geist [...] mit Gewalt geoffenbaret": 643 Als er in Waidhofen auf die Kanzel gestiegen sei, habe man ihm mit dem Tod gedroht, falls er predige, was ihn jedoch nicht davon 641

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Georg Scherer: Triumph der Wahrheit/ wider Lucam Osiandrum. Ingolstadt 1587. Mit dem Titel zielt Scherer nicht nur gegen Oslander, sondern allgemein gegen die Lutherischen: 1524 etwa war ein reformatorisches Flugblatt mit dem Titel Trivmphvs veritatis erschienen (abgebildet in: Stephan Füssel: Das Buch der Bücher. Die Luther-Bibel von 1534. Eine kulturhistorische Einführung. Köln, London, Los Angeles 2002, S. 49), im Kontext der Kontroverse um Staphylus' Luther-Buch war ein Flugblatt, LVTHERVS TRIVMPHANS, publiziert worden (vgl. Oelke: Konfessionsbildung, Abb. 32). Die Reklamierung des Triumphes hatte also prominente lutherische Vorläufer und war eine gezielte gegenreformatorische Geste. Vgl. Vocelka: Die politische Propaganda, S. 143f. Im folgenden zitiert nach Georg Scherer: Triumph der Warheit/ wider Lucam Osiandrum. In: ders.: Erster Theil, Bl. 290 - 335\ hier Bl. 29Γ.

159 abgehalten habe. Man muß Scherer nicht abnehmen, daß er diese Ereignisse „nicht zum Rhum" 644 der eigenen Person anfuhrt, primär aber ist die Schilderung ein Vorwurf gegen Oslander. Denn die Darstellung des Erlebten dient als Beweis für die Richtigkeit des folgenden Angriffs: Nicht die Jesuiten, sondern „die Lutherischen Predicanten/ sambt ihrem Anhang" seien es, die „mit Blutdurstigen Anschlägen vnd Practicken vmbgehen."645 Scherer greift damit auf die gleiche Streittechnik, die reßexio, zurück wie Oslander. Gegnerische Vorwürfe werden lediglich zu dem Zweck erwähnt, sie umzukehren und gegen den Gegner zu richten. Scherer geht dabei weit dezenter vor als der württembergische Hofprediger. Er verzichtet auf dem Titelblatt auf Vorwürfe jeder Art gegen Oslander und erhebt den Vorwurf der blutdürstigen Anschläge und Praktiken', der seit dem Titel der Initialschrift dieses Streites bekannt ist, erst in dem Moment, als er ergänzend ein Beispiel anführen kann, das belegen soll, wem in dieser Frage zu vertrauen sei. Scherer versucht gewissermaßen durch gezielten Einsatz beweiskräftiger Geschichten und Erlebnisse Oslanders Vorwürfe zu .überbieten'. Im Gegensatz zur Rettung folgt auf die Widmung an Wilhelm V. nicht sofort der Haupttext, statt dessen wendet sich Scherer direkt an den Leser. Die Zuwendung zum Leser unterstreicht er durch den Einsatz grobianischer Ausdrücke. Er sei erstaunt, daß Oslander sich noch einmal zu Wort gemeldet habe, weil diesem von ihm „sein vnwarhaffte Goschen dermassen zerkloppet vnd zerblewet worden [sei]/ daß der nun mehr kaum einem Menschen/ geschweige einem Doctori gleich sihet."646 In der Widmung für Wilhelm V. spricht Scherer zunächst von sich und seinen Erlebnissen. Dieser Bericht ist sachlich verfaßt. Dagegen dient die Vorrede an den Leser einer Emotionalisierung des Konflikts, was nicht zuletzt wegen des Mangels an Argumenten und des Einsatzes von derben Kraftausdrücken erreicht wird. Diesen beiden Vorworten kommt eine Funktionsteilung zu, die nur selten derart deutlich voneinander getrennt vorzufinden und die typisch für die einseitige Darstellung des Verfassers und seines Kontrahenten ist. In diesem Zusammenhang ist außerdem der Abdruck der lateinischen Verse samt deutscher Übersetzung bemerkenswert. Scherer greift dafür auf die aus der erwähnten Sammelschrift zurück, in der Oslanders Warnung bereits kurz nach ihrem Erscheinen einen raschen Wiederabdruck erfuhr.647 Scherer nutzt damit eine Übersetzung eines lutherischen Anonymus, damit ihm nicht verfälschende Übersetzungen vorgeworfen werden können. Er rechtfertigt den Abdruck damit, daß nun jeder „Christlich vnpartheisch Leser"648 unabhängig von seinen Lateinkenntnissen zur Beurteilung befähigt sei, ob Oslander mit Recht oder Unrecht „zu der grossen Sturmglocken" laufe „vnnd im gantzen Teutschland

644

Ebd., Bl. 292'. «« Ebd. 646 Scherer: Triumph, Bl. 292v. 647 Vgl. oben Anm. 547. 648 Scherer: Triumph, Bl. 294'.

160 Lermen" blase.649 Damit präsentiert sich Scherer zu Beginn des Triumphs redlich: Hier schreibt einer, der sich seiner Sache gewiß ist und der nicht den Einsatz des gegnerischen ,Beweismaterials' fürchtet. Dem Vorgehen in der Vorrede an den Leser entsprechend, greift Scherer Oslander immer wieder an, indem er sich über ihn lustig macht. Als er von den ,wilden Tieren' vom Prager Bild spricht, verzichtet er wie in der Rettung auf eine ausführliche Auseinandersetzung mit den gegnerischen Vorwürfen. Statt dessen berichtet er, er habe einem österreichischen Weinbauern von Oslanders Vorwürfen erzählt und ihn gefragt, ob er wilde Tiere in seinen Weinberg lasse. Darauf fragt der Weinbauer: „Wer ist der Narr/ der Oslander?"650 Und im 13. Kapitel spricht Scherer über Oslanders Vater Andreas. Der württembergische Hofprediger hatte in der Verantwortung von seinem ,seligen Vater' gesprochen.651 Diese Wendung nimmt Scherer auf und äußert sich mit kaum überbietbarer Schärfe: „Du soltest nicht sagen/ Mein Vatter säliger/ mein Vatter säliger/ sondern mein Vatter vnsäliger vnd verdambter Gedächtnuß/ etc."652 Scherer bemüht sich, diese Angriffe durch einige lutherische Äußerungen aus dem Osiandrischen Streit zu begründen und zu rechtfertigen. Doch lästert der Jesuit nicht nur über einen Toten. Er fordert Oslander zur Verletzung der Ehrpflicht des Kindes gegenüber den Eltern auf.653 Dieses Verhalten gipfelt in Drohungen der Verdammnis: „du [...] werdest [...] in deines Vaters Himmel vnd Säligkeit gewiß kommen/ bereite dich nur darzu/ [...] dann solchen Heilige Männern wie du bist [...]/ stehet die Holl allzeit offen."654 Mit verletzenden Angriffen dieser Art riskiert Scherer, abstoßend zu wirken. Um dies zu vermeiden, wendet er sich nur selten direkt an Oslander. Es überwiegt im Triumph ein sachlicher Stil, der nur durch einzelne konzentrierte Angriffe gegen den Kontrahenten unterbrochen wird. Diesen Eindruck unterstützt wie üblich der Einsatz der Anrede. Während in der Rettung die Anrede Oslanders bzw. weiterer lutherischer Prediger den gesamten Text prägen, verzichtet Scherer im Triumph meist darauf. In der Regel spricht er neutral in der 3. Person Singular über Oslander. Oder er spricht den Leser an,655 wofür Scherer durch die Vorrede bereits die Voraussetzung geschaffen hat. Dieses Vorgehen zielt auf eine Isolierung Oslanders, die durch die Grobianismen unterstützt werden soll. Die punktuelle, dann aber rigoros ausgrenzende Anrede Lucas Oslanders, der in dem Moment wieder in die Kommunikation einbezogen wird, als Scherer ihn, seinen Vater und damit die gesamte Familie Oslander nahezu verdammt, wirkt deswegen nicht mehr nur aggressiv. Scherers Vor-

Ebd., Bl. 299 r . « ο Ebd., Bl. 333 v . 651 Oslander: Verantwortung, S. 7. 652 Scherer: Triumph, Bl. 313V. 653 Vgl. 2. Mose 20,12. 654 Scherer: Triumph, Bl. 313 v . Scherer spielt im Zitat auf den Familiennamen an, ,hosiandros' (griech.): heilige Männer. 655 Ebd., Bl. 312', 317" u.ö.

161 gehen zielt auf eine Stigmatisierung des Gegners656 und auf die Bildung von sich gegnerisch positionierenden Gruppierungen. Deswegen muß festgehalten werden, daß es Scherer nicht um Oslander, sondern primär um die Stärkung des katholischen Gruppenbewußtseins seiner Leser geht. Denn auf lutherische und vermutlich auch auf konfessionsindifferente Leser dürften die Angriffe gegen Oslander nicht einnehmend, sondern vielmehr abstoßend gewirkt haben zumindest wenn man eine latente Sympathie fur und Solidarität mit Theologen der eigenen Konfession und eine Ablehnung von allzu scharfen Angriffen in öffentlichen Äußerungen voraussetzt. Deswegen sind lediglich katholische Leser als Zielgruppe Scherers anzunehmen. Bei diesen sollte die Isolierung und Stigmatisierung Oslanders eine verstärkte Wahrnehmung der konfessionellen Differenz fördern, was im Idealfall eine Festigung des Gruppenbewußtseins provozieren kann. Doch soll das keineswegs heißen, daß Scherer lediglich durch Ausgrenzung das katholische Selbstbewußtsein seiner Leser zu stärken versucht. In zahlreichen Kapiteln benennt er außerdem, was konkret katholische Lehre ausmacht. Zu Beginn des 22. Kapitels erklärt Scherer: „Es verdreust Osiandrum nit ein wenig/ daß Bellarminus ein Jesuiter/ der Augsburgische Confession/ deren so ansehnliche Leuth vnderschriben/ hab dörffen liegen heissen."657 In der Verantwortung hatte Oslander heftige Vorwürfe gegen Kardinal Robert Bellarmin erhoben, dabei hatte er sich auf kontroverstheologische Bücher des Jesuiten bezogen658 - also noch nicht auf dessen opus magnum, das erst im Folgejahr erschien. Ungefähr zeitgleich mit der Veröffentlichung von Scherers Triumph wurden die ersten Bände von Bellarmins kontroverstheologischem Hauptwerk, die Disputationes, publiziert,659 die binnen kürzester Zeit zum theologischen Standardwerk avancieren sollten.660 Scherer reagiert nun im Triumph wie üblich nicht etwa mit einer detaillierten Widerlegung der Vorwürfe Oslanders. Er geht nicht weiter auf den Kardinal ein, sondern thematisiert Streitigkeiten um das Fegefeuer, um den Vorwurf Bellarmins zu bestätigen, daß die Confessio Augustana lüge.661

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Vgl. Goffinan: Stigma, S. 7-12. Scherer: Triumph, Bl. 329". 658 Vgl. Osiander: Verantwortung, S. 24. 659 Robert Bellarmin: Disputationes ROBERTI BELLARMINI POLITIANI, Societatis IESV, DE CONTROVERSIIS CHRISTIANAE FIDEI, ADVERSVS huius temporis Haereticos. 3 Bde. Ingolstadt 1587-1593 (Bd. 1: 1587, Bd. 2: 1589, Bd. 3: 1593). 660 vgl. dazu Bamer: Barockrhetorik, S. 401. 661 In dieser Streitfrage geht es weniger darum, ob das Fegefeuer, das purgatorium, existiert. Zentral ist vielmehr die Beurteilung von Opfergaben und Fürbitten der Hinterbliebenen fur die Verstorbenen. Damit rührt diese Frage an den Fundamenten lutherischer und katholischer Lehre, weil sie für diese grundsätzlicher Bestandteil des Kultus ist, für jene aber der Vorstellung vom allein selig machenden Glauben widerspricht; vgl. dazu Heribert Smolinsky: Die Kirche in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Kräfte und Mächte im Ringen um Glauben und Leben. In: Reinhold Baumstark (Hrsg.): Rom in Bayern. Kunst und Spiritualität der ersten Jesuiten. München 1997, S. 19-29, bes. S. 22. 657

162 Zunächst nennt Scherer den Streitpunkt: „In der Lutherischen Kirchen wirdt gelehret vnnd geprediget/ daß kein Purgatorium sey/ vnnd daß keiner Seelen der verstorbnen Christglaubigen/ mit Betten/ Opffern [...] könne [ ...] geholffen werden. Souil aber auß der Vätter Schrifften zuuermercken/ ist dise Lutherische Lehr gemeiner Christlichen/ ja Römischen Kirchen gestracks zuwider vnd entgegen."662 Die im folgenden zitierten Kirchenväter sollen die lutherische ,Lüge' vom Fegefeuer belegen. Diese argumentative Struktur wäre nicht weiter bemerkenswert, wenn nicht der Umfang und die Anzahl der Zitate überraschen würde. Die Zitate hat Scherer den Disputationes entnommen. Im ersten Band von 1587 nennt Bellarmin im sechsten Kapitel des ersten Buches zahlreiche Kirchenväter-Belege zum Fegefeuer unter der Überschrift „Asseritur Purgatorium testimoniis Patrum Graecorum et Latinorum".663 Der Aufbau von Scherers Triumph folgt weitgehend den Disputationes, also einer chronologischen und nicht einer inhaltlich wertenden Ordnung. Bellarmin beginnt mit Äußerungen des Kirchenvaters Dionysios, die Scherer paraphrasiert wiedergibt. Es folgen in den Disputationes Äußerungen von Gregor von Nazianz, die im Triumph, wie einige weitere, ausgelassen werden. Die anschließend von Bellarmin genannten Johannes Chrysostomos, Cyprian, Ambrosius und Hieronymus nennt Scherer, während er Tertullian nicht zitiert. Von Ambrosius etwa schreibt er: „B. Ambrosius bettet vnd opffert fur seinen Bruder Satyrum/ vnd fur den Kayser Theodosium".664 Bei Bellarmin lautet der Text: „Vide etiam orationes de obitu Theodosij [...], et de obitu Satyri, in quibus omnibus pro animabus praedictorum Deo supplicat, et sacrificia se oblaturum pollicetur."665 Bellarmins Hinweise zu Hieronymus sind ausfuhrlich: B. HIERONYMVS in epist. ad Pammachium de obitu Paulinae vxoris ante medium: Ceteri mariti, inquit, super tumulos coniugum spargunt violas, rosas, [...], Pammachius noster sanctam fauillam, ossaque veneranda eleemosyna balsamis rigat, his pigmentis, atque odoribus fouet cineres quiescentes, sciens scriptum; sicut aqua extinguit ignem, ita eleemosyna peccatum.

Scherer reduziert diese Angabe auf den für seine Argumentation wesentlichen Kern: „B. Hieronymus lobt dem Pammachium/ daß er für seine verstorbne Haußfrawen Almusen geben."667 Der Wiener Jesuit nutzt die Disputationes als Steinbruch, dabei paßt er die von Bellarmin gesammelten Zitate seiner Gebrauchssituation an, indem er auf einige verzichtet, andere nur paraphrasiert oder verkürzt wiedergibt. Umrahmt werden die Belege im Triumph von zwei Augustin-Zitaten. Einleitend wird Augustins Einschätzung des Fegefeuers

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Scherer: Triumph, Bl. 330". Im ersten Buch des ersten Bandes folgen auf eine systematische Einleitung (Kapitel I und II) die Belege aus der Bibel (Kapitel III und IV) und aus den Konzilsschriften (Kapitel V); es folgt das genannte Kapitel VI zu den Kirchenvätern. Scherer: Triumph, Bl. 33l r . Bellarmin: Disputationes, Bd. 1,1. Buch, 6. Kontroverse, Kap. VI., S. 56. Ebd. Scherer: Triumph, Bl. 331'.

163 dargelegt.668 Am Ende der Zitate wird von Scherer darauf hingewiesen, daß nach dem Tod von Augustins Mutter Monnica im neunten Buch der Confessiones ausfuhrlich von Fürbitten und Opfern für die Verstorbene berichtet wird.669 Am Ende dieser Zitaten- und Belegfolge setzt Scherer das bekannteste Beispiel zum Beweis des Fegefeuers als einprägsamen Schlußpunkt. Das dürfte zweifellos kein Geistlicher vergessen haben, der bereits einmal Augustins Confessiones gelesen hatte. Da dieser Beleg sich jedoch nicht im erwähnten Kapitel der Disputationes zum purgatorium findet, verdeutlicht der abschließende Hinweis auf Augustins eigene Fürbittenpraxis ferner, daß Scherer nicht einfach aus den Disputationes überträgt, sondern die dort gelieferten Stellen seinem Bedarf anpaßt und erweitert. Auf den Verweis auf Augustin folgt im Triumph noch nicht eine conclusio oder ein vergleichbarer Redeabschnitt, sondern ein weiteres Zitat, das sich ebenfalls nicht bei Bellarmin findet. Hier wird Luther zitiert - „Ich weiß gewiß/ daß ein Fegfeuer ist".670 Pointiert setzt Scherer das Luther-Zitat an das Ende seiner Ausführungen über das Fegefeuer. Das Zitat Luthers betrifft im Kern keineswegs die Streitfrage, trotzdem suggeriert Scherer durch die Stellung in seinem Text und durch die thematische Nähe, daß Luther selbst nicht , lutherische Lehre' vertreten habe. Damit erreicht diese Zitatentirade ihren ironischen Höhepunkt - zum einen, weil Scherer nach der Darstellung und Begründung der katholischen Lehrmeinung in diesem Streitpunkt versucht, der lutherischen Frühorthodoxie jegliche Autorität abzusprechen, indem er sogar Luther für seine Position reklamiert. Zum anderen muß man im Hinblick auf Oslanders Angriffe gegen Bellarmin vom ironischen Höhepunkt sprechen, wenn man bedenkt, daß der Angriff des württembergischen Hofpredigers gegen Bellarmin den Anlaß zu diesem Kapitel gibt. Der Kardinal wird nicht weiter erwähnt, statt dessen liefert Scherer einen beeindruckenden Beweis der Leistungsfähigkeit der Disputationes, die in den Händen geübter Prediger und Polemiker wie Scherer zur scharfen religionspolemischen Waffe der Gegenreformation werden sollten. Ferner ist zu bedenken, daß Scherer durch die zahlreichen Belege aus dem Bereich der kirchlichen Tradition zusätzlich zu verstehen gibt, daß ihm nicht mehr an einer Auseinandersetzung mit Oslander gelegen ist, sondern daß er ausdrücklich für ein katholisches Publikum schreibt. Noch in der Rettung hatte Scherer nur in seltenen Fällen auf Väter-Belege oder auf Hinweise auf die kirchliche Tradition zurückgegriffen. Im Triumph finden sich mehrere Kapitel, in denen diese Belege die einzige Argumentationsgrundlage sind. Scherer nutzt seine zweite Schrift in diesem Streit zur Popularisierung katholischer Lehre und zur Schärfung der konfessionellen Differenz. Vergegenwärtigt man sich die beiden wesentlichen Merkmale des Triumphs, die gezielte Isolierung und Stigmatisierung Oslanders sowie die ausfuhrliche Darstellung katholischer Theologie, so muß Scherer ein weiteres Mal attestiert

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Vgl. ebd., Bl. 330 v . Vgl. Scherer: Triumph, Bl. 33l r . Vgl. ebd., Bl. 33 Γ.

164 werden, daß er gezielt in den Streitverlauf eingreift und diesen erneut in eine andere Richtung lenkt. Kennzeichnend fur den Triumph ist zunächst die Tendenz zur Abgrenzung gegen die Protestanten. Den kontroverstheologischen Textabschnitten kommt in diesem Zusammenhang kaum die Funktion der Überzeugung des Lesers, als vielmehr die der positiven Darstellung der eigenen Theologie zu. Kontroverstheologie wird zum Mittel der Standortbestimmung. Das mag mit Blick auf die Rettung überraschen, doch dürfte es sich dabei um eine Reaktion auf die Streitschriften Rosenbuschs und Oslanders handeln, weil Scherer dadurch versucht, einen Themenbereich für die Jesuiten zu reklamieren, der bisher vernachlässigt wurde.671 Vor dem Hintergrund des bisherigen Verhaltens Oslanders überrascht es kaum, daß der württembergische Hofprediger umgehend reagierte. Im Bericht: Vom Faßnacht Triumph/ Georgij Scherers/ eines Jesuiters672 treibt er zunächst den Rekurs auf volkstümliche Elemente auf die Spitze, indem er in der Vorrede an den Leser den Titel aufnimmt und aus dem Triumph einen , Triumphwagen' zur Fastnacht macht. Scherer fahre auff seinem vermeindten Faßnacht Triumphwagen daher [...]/ welcher Wagen mit mancherley gesprecklichten Farben/ allerley greifflichen Lügen/ vnd mit geschnitzten Calumnien/ auff Jesuitisch/ gezieret: vor welchem Triumphwagen ettliche grawe Müllerpferdt (des vnuerstandts vnnd vnwissenheit) gespannen. Auff dem Wagen sitzt Georg Scherer/ gleichwol mit einem Jesuitischen Kleid/ der Phariseiischen heuchlerey vnd gleißnerey angethon [...].

Oslander hat bereits in der Abfertigung aus demselben Jahr diese Tendenz zur Karnevalisierung der Kontroverse angedeutet, als er den angekündigten, jedoch zunächst nicht erschienenen Triumph als verunglückten ,Triumphwagen' erwähnt hat.674 Die Beurteilung von Scherers Schrift als Fastnachtinszenierung, in der der Jesuit mit einem geschmückten Wagen und buntem Kleid durch die Straßen zieht, ist ein in der konfessionellen Polemik der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts weniger üblicher, wenn auch vor dem Hintergrund der spätmittelalterlichen Fastnacht- und Narrenkultur keineswegs überraschender Vorwurf - man denke etwa an den ,Narrenkarren' auf dem Titelholzschnitt von Brants Narrenschiff \on 1494. Daß während der Reformation die Narrensatire als Mittel der Religionspolemik genutzt wird, ist bereits exemplarisch anhand des Lutherischen Narren von Murner erwähnt worden.675 Und erst 1580 hatte Fischart seine Satire gegen den Jesuitenorden, das Jesuitenhütlein, veröffent-

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Die der Tendenz nach ebenfalls stark kontroverstheologisch verfaßte Declaration der Abfertigung Rosenbuschs erschien erst im folgenden Jahr. Lucas Oslander: Bericht: Vom Faßnacht Triumph/ Georgij Scherers/ eines Jesuiters. Tübingen 1587. Mit 59 Seiten ist dieser Bericht deutlich kürzer als der ihm vorausgehende Triumph. Ebd., S. 3. Vgl. oben S. 154 mit Anm. 626. Vgl. oben S. 35ff.

165 licht.676 Außerdem wurden in der Frühzeit der Reformation zahlreiche antipäpstliche Fastnachtspiel aufgeführt und zahlreiche Fastnachtsfeiern zur demonstrativen Verspottung der alten Kirche, aber auch der reformatorischen Geistlichkeit genutzt. Oslanders Rekurs auf die Fastnacht entbehrt dabei nicht einer persönlichen Note.677 1539 wurde im Nürnbergischen Karnevalstreiben sein Vater Andreas als Reisender auf einem Narrenschiff Objekt des Spottes.678 Bachtin679 hat die Karnevalskultur des Spätmittelalters und des 16. Jahrhunderts680 interpretiert. Seiner Meinung nach hat das Volk geradezu „zwei Leben" geführt, ein offizielles Leben' und ein „Karnevalsleben".681 Scribner hat dieser Einschätzung widersprochen; er interpretiert - angeregt durch Curtius - den Karneval als ein „alternatives Massenmedium", das einerseits um „rituelle Entweihung" bemüht ist, in derern Folge es zumindest zwischenzeitlich zu einer ,Verkehrung der Welt' kommt. Scribners Deutung beharrt also, anders als Bachtin, auf einem religiösen ,Rahmen', der auch im Karneval nicht gesprengt wird. Wenn Lucas Oslander Elemente der Narrensatire in die Religionspolemik einfuhrt, so verfolgt er damit gleich mehrere Ziele. Oslanders Einordnung Scherers in den Karnevalskult löst diesen aus dem Kontext der christlichernsten Klerikerkultur und erklärt ihn zum Bestandteil der Karnevalskultur. Diese Streittechnik könnte man mit Bachtin die „Karnevalisierung" der Religionspolemik nennen,682 die dem Zweck dient, Scherer zum Objekt des Lachens zu erklären, ihn der Lächerlichkeit preiszugeben. Daß Oslander auf den Karneval zurückgreift, ist ein zutiefst religiöser Akt, weil ein Geistlicher über das angeblich ungeistliche Vorgehen eines anderen urteilt. Oslander unternimmt eine „Entweihung" (Scribner), weil er mittels seiner Streitschrift gewissermaßen ein „In-Ordnung-Bringen" der aus den Fugen geratenen Welt anstrebt.683 Damit kehrt Oslander symbolisch verdichtet zum Ausgangspunkt des Streites zurück. Denn seinem Verständnis und seinem Glauben nach war die religiöse Welt durch die Reformation wieder in Ordnung gebracht. Mit dem Auftreten der

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Johann Fischart: Die Wunderlichst Vnerhörtest Legend vnd Beschreibung. Des Abgeführten/ Quartirten/ Gevierten vnd Viereckechten Vierhörnigen Hütleins: Sampt Vrsprungs derselbigen Heyligen Quadricornischen Suiterhauben vnd Cornurschlappen: Etwan des Schneiderknechts F. Nasen gewesen Meysterstücks. [...] Alles durch Jesuwalt Pickhart/ den Vnwürdigen Knecht der Societet der Glaubigen Christi. O.O. 1580. 677 Bob Scribner: Reformation, Karneval und die .verkehrte' Welt. In: Volkskultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen Alltags (16.-20. Jahrhundert). Hrsg. von Richard van Dülmen, Norbert Schindler. Frankfurt a.M. 1984, S. 117-152, Anm. S. 406-412. 5 Ebd., S. 13. 716 Ebd., S. 14. 7 7 ' Ebd., S. 16. 718 Ebd., S. 27. S. 39 spottet Oslander: „Aber der Scherer ist ein freidiger Man/ der auch vor eroberter Schlacht auff seinem Triumphwagen daher fahren darfF: hat ein Hertz/ wie ein Spatz/ der in ein Scheuren oder Stadel hinein fliegen darff/ wann gleich neun Trescher darinnen weren."

172 Recht im Luthertum, vor allem jedoch mit der vorsichtigeren Anwendung des Ketzervorwurfs zusammenhängen.719 Die Endtliche Abfertigung ist damit nicht nur thematisch, sondern auch im Hinblick auf die Vielfalt der Streittechniken eine Schlußschrift. Oft favorisieren die Polemiker während einer Kontroverse bestimmte Techniken in einer Streitschrift und setzen dann andere verstärkt in der folgenden ein, was in der Regel als Ausdruck für eine geänderte Streittaktik gewertet werden kann. In Oslanders Endtlicher Abfertigung findet sich solch ein Taktieren nicht, er nimmt keine Rücksicht auf mögliche Vorwürfe von jesuitischer Seite, etwa wegen seiner derben Wortwahl. Mit diesem Buch wird definitiv ein Streit beendet. Mit der Geste des .Ablassens' vom Gegner beschließt Oslander deswegen auch seine Schrift: Dann der HEit Christus sagt von solchen Phariseischen Lehrern: Lasset sie fahren/ sie sind blind/ vnd blinde Leiter: Wann aber ein Blinder den andern leitet/ so fallen sie beide in die 720 Gruben. Der Allmechtige ewige Gott wolle durch seinen einigen lieben Sohn/ als den getrewen Ertzhirten/ die velohrne Schäfflin wider suchen/ die verirrte wider bringen/ die verwundte verbinden/ der schwachen warten/ vnd was feist vnd starck ist/ behüten. 721 AMEN.

Thomas Gloning hat in seiner sprachwissenschaftlichen Analyse dieses Streites auf den Repräsentationsanspruch der Polemiker hingewiesen.722 Dabei zeigt sich ein grundlegendes Problem, das die historische Dialoganalyse bei der Untersuchung vorliegender Quellen in sich birgt. Glonings Aufsatz baut letztlich auf der impliziten Annahme auf, es sprächen drei Theologen miteinander, die die dogmatischen Positionen ihrer Konfession vertreten. Deswegen thematisiert Gloning zunächst die Verteidigung der eigenen Ehre in den Streitschriften. Erst im zweiten Schritt fragt er danach, ob außerdem die Ehre der eigenen ,Gruppe' verteidigt werde. Gloning stellt fest: „In most cases, the authors of pamphlets do not only act on behalf of themselves, but on behalf of a certain group or party, whose honour they have to defend." 723 Das ist zweifellos richtig, doch zielt es am eigentlichen Kern der Kontroversen vorbei. Denn meist geht es gerade nicht um die eigene Person, sondern um die Repräsentativität der eigenen Person bzw. des Gegners. Zwar sprechen die Kontroversisten immer wieder von sich, von den Angriffen und Schimpfwörtern, die sie über sich haben ergehen lassen. Doch dienen all die Nennungen der gegnerischen Schimpfworte, der üblen Nachreden und Verdrehungen immer einem schlichten Dualismus, durch den die Gruppe des Autors aufgewertet, die des Gegners aber abgewertet werden soll. Dabei operiert man nicht mit abstrakten theologischen

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Gerade die wiirttembergischen Hofprediger legten die Konkordienformel besonders eng und streng aus und argumentierten damit im Zweifelsfall kaum weniger rigide gegen reformierte Theologen als die Jesuiten gegen die Lutheraner, vgl. dazu Mertens: Hofkultur, bes. S. 80. Mt 15,14. Oslander: Endtliche Abfertigung, S. 62. Die Hirten-Metaphorik folgt Hes 34,16. Vgl. Gloning: The Pragmatic Form of Religious Controversies. Vgl. ebd., S. 94.

173 Argumentationen - dazu wurde die deutsche Sprache nur selten genutzt, ihre Begrifflichkeit war im 16. Jahrhundert dazu nicht ausdifferenziert genug724 - , statt dessen wird der Konflikt personalisiert und dadurch anschaulich gemacht. Wie wenig es um persönlichen Dialog in den Kontroversen geht, zeigt sich auch, wenn man an Scherers Triumph und an dessen Fortsetzung denkt. Es geht dem Jesuiten nicht um die Überzeugung nicht-katholischer Leser. Scherer verfolgt eine gezielte Ab- und Ausgrenzung, deswegen scheut er sich nicht, die Hinrichtung Oslanders zu fordern. Scherer schreibt für ein dezidiert katholisches Publikum, das er aber an keiner Stelle als solches behandelt oder gar bezeichnet, wenn man einmal von den drei Widmungsvorreden an Wilhelm V. absieht. Oslanders und Rosenbuschs Schriften, übrigens ebenso Scherers Rettung, sind nicht durch solchen Rigorismus gekennzeichnet, sondern verfolgen andere Ziele. Doch eben diese Ziele sollten im Zentrum der Textanalyse stehen, weil erst sie darüber Auskunft geben, durch welche Streit- und Vermittlungstechniken Polemiker beider Religionsparteien volkssprachliche Christen zu Katholiken oder Lutheranern zu prägen suchten und welche Eindrücke die Laien von der jeweils anderen Konfessionen vermittelt bekamen.

5. Der Streit um die Meinungsfiihrer des Münsterlandes a. Glaubenspropaganda calvinistisch: Häusliche Exerzitien, Religionspolemik und Traditionsbildung Wittenberg, Tübingen, Ingolstadt, Wien, in mancherlei Hinsicht auch Dresden zur Zeit von Hieronymus Emser stehen für das Wirken der unterschiedlichen Polemiker, mit denen wir uns bisher befaßt haben. Mit der letzten exemplarischen Streitanalyse wenden wir uns von den Zentren der Religionsstreitigkeiten ab und blicken ins Münsterland. Erst in den Jahren des Streits zwischen Oslander und den beiden Jesuiten Scherer und Rosenbusch kamen die ersten Jesuiten ins Münsterland. Aus katholischer Sicht herrschte hier noch Mitte der 80er Jahre ein im Wortsinn heilloses Durcheinander.725 Münster selbst war zum Großteil evangelisch, im Umland liebäugelten Landadelige mit dem Calvinis-

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Dieser Feststellung widersprechen nicht die Ergebnisse aus dem vorhergehenden Kapitel: Vielmehr stehen die bemerkenswerten kontroverstheologischen Bücher von Staphylus und Andreae ja gerade am Ende des Streites, sie markieren dessen langsames Ausgleiten und geben dem Streit gerade keine neuen Impulse. Außerdem dürfte der Mangel an zuverlässigen kontroverstheologischen Handbüchern in lateinischer Sprache in der Mitte des Jahrhunderts ein wesentliches Moment fiir die Übersetzungen der Schriften von Staphylus sein; mit der sprachlichen und theologischen Präzision eines Bellarmin sind diese Übersetzungen nicht vergleichbar; vom Umfang einmal ganz abgesehen. Vgl. Robert Stupperich: Westfälische Reformationsgeschichte. Historischer Überblick und theologische Einordnung. Bielefeld 1993, S. 157-161; Wilhelm Kohl: Die Durchsetzung der tridentinischen Reform im Domkapitel Münster. In: Bäumer (Hrsg.): Reformatio Ecclesiae, S. 729-747.

174 mus, der aus den benachbarten Niederlanden unterstützt wurde. Verschiedene Bemühungen, die Jesuiten nach Münster zu holen, waren Mitte der 80er Jahre gescheitert.726 Erst 1588 kamen die Jesuiten Petrus Michael Brillmacher727 und Franz Hambach in Münster an, um in den folgenden Jahren wesentliche Reformen der Seelsorge und des Schulunterrichts auf den Weg zu bringen und zu begleiten. Gleichzeitig wurden im Münsterland zahlreiche calvinistische Schriften verbreitet, etwa von Johann von Münster (1560-1632). 728 Der war bei Lengerich geboren worden. Nach dem Studium in Marburg war er längere Zeit für den Bremer Erzbischof tätig, ehe er sich Mitte der 80er Jahre an den Hof von Graf Arnold von Bentheim-Tecklenburg begab. Dort half er bei der Einfuhrung des reformierten Bekenntnisses und bei der Durchfuhrung der Tecklenburgischen Kirchenordnung. Seit dieser Zeit lebte er vermutlich wieder im elterlichen Haus Vortlage bei Lengerich. Er hielt calvinistische Hauspredigten ab, die die Katholiken und ebenso die Lutheraner als Verachtung des öffentlichen Predigtamtes ablehnten. Infolge dieser Hauspredigten veröffentlichte Johann von Münster 1590 zunächst eine Sammlung mit drei Predigten, die den Titel Gründtliche vnd Außfiihrliche Erklerung der gantzen Lehr vom H. Abendtmal CHRISTI trägt.729 Diesem Buch ist eine Vorrede an den christlichen Leser aus der Feder des Bremer Calvinisten Christoph Pezel vorangestellt,730 in der dieser von der Entstehung des Buches berichtet: „Es hat [...] Johann von Münster/ Anfenglich diese/ vnd etliche andere Vormanunge [...] zu furfallenden gelegenheiten/ auff seinem Hause/ bey seinem Gesinde gethan/ Vnd hernach mit weiter vnd außfuhrlicher erklerung/ zu seiner selbst Christlichen vbung [...]/ auffs Papier gebracht."731 Dieses Verhalten gilt Pezel als vorbildlich, und

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Vgl. Bernhard Ridder: Die Kontroverse zwischen Petrus Michael Brillmacher S.J. und dem Junker Johann von Münster. Ein Beitrag zur westfälischen Reformationsgeschichte. Münster 1929, S. 5-18. Der Titel ist irreführend; Ridder befaßt sich lediglich im letzten Kapitel, S. 38-57, mit der Kontroverse. Hier geht er besonders auf die Biographie Johann von Münsters ein und liefert eine kommentierte Bibliographie. Die ersten zwei Kapitel sind Beiträge zur Landes- und Kirchengeschichte des Münsterlandes. 727 Brillmacher lebte von 1542-1595. Bereits sein Vater in Köln führte diesen Namen, der vielleicht auf dessen Beruf zurückzuführen ist; vgl. ebd., S. 55. 728 v g l . ebd., S. 4 4 - 5 0 , sowie Cuno.: Münster, Johann von. In: ADB 23 (1886), S. 29f. 729 Johann von Münster: Gründtliche vnd Außführliche Erklerung der gantzen Lehr vom H. Abendtmal CHRISTI. Münster 1590. 730 Cuno.: Pezel, Christoph. In: ADB 25 (1887), S. 575-577. Pezel ist ein weiterer prominenter Schüler Melanchthons, der gewissermaßen ebenfalls zu den .Konvertiten' zu zählen ist - freilich nicht nach damaligen Kriterien; vgl. Richard Wetzel: Christoph Pezel (1539-1604). Die Vorreden zu seinen Melanchthon-Editionen als Propagandatexte der .Zweiten Reformation'. In: Melanchthon in seinen Schülern. Hrsg. von Heinz Scheible. Wiesbaden 1997 (= Wolfenbütteler Forschungen, 73), S. 465-566 (auf den hier untersuchten Streit geht Wetzel nur am Rande ein). Nach dem Studium in Jena und Wittenberg, u.a. bei Melanchthon, begründete er das reformatorische Bekenntnis von Nassau und Bremen. 731 Johann von Münster: Gründtliche Erklerung, Vorrede unpaginiert.

175 er fordert den westfälischen Adel auf, Johann von Münster nachzueifern. 732 Ferner rechtfertigt er das Wesen der Hauspredigten, das er ausdrücklich vom „öffentlichen Predigampt" unterscheidet. 733 Den Hauspredigten komme eine Art Ersatz- und Ergänzungsfunktion zu, weil niemand „zu den gemeinen Vorsamlungen [...] teglich kommen kann", so daß es recht sei, wenn die „Haußväter vnd Haußherrn in iren Heusren/ Gottselige vbung [...] bey den irigen/ anrichten vnd in guten brauch erhalten." 734 Trotz dieser erklärenden Tendenz enthält sich Pezel nicht der scharfen Angriffe gegen die katholische Kirche. Er unterstellt deren Geistlichen, dem Adel in Religionsangelegenheiten unberechtigterweise Entscheidungsgewalt und Urteilsvermögen abzusprechen, ihn mit falschen Auslegungen der Bibel konfrontiert zu haben und setzt zu umfangreichen Beschimpfungen gegen die katholische Kirche an. Diesen „greulichen Seelenmördern" sei die Religion nichts wert. Er nennt katholische Geistliche „Fratres ignorantiae" und spricht von der „Finsterniß des Babstumbs". 735 Auf den Adel habe dies verheerende Auswirkungen, viele Adelige seien „Abgöttische Leut/ vnd Feinde Christi", „Pfaffenfeindt/ vnd Gottslesterer" geworden. 736 Doch sei dies Verhalten fur einen Adeligen verfehlt, vielmehr solle dieser die „Biblien studieren" und sein „Gesind vnd Vnterthanen zur Forcht Gottes halten". 737 Pezel nimmt adelige Leser in die Pflicht, als Beispiel dient ihm Johann von Münster. Den drei „Vormanung" genannten Predigten des Haupttextes aus der Feder Johann von Münsters ist je eine kurze Fürbitte um göttlichen Beistand und um Erkenntnis vorangestellt. 738 Den ursprünglichen Predigtcharakter behält von Münster bei, sogar die direkte Ansprache an die Zuhörenden und die Anknüpfung an vorherige Predigten werden gewahrt. 739 Jede der drei Predigten ist in mehrere „Heuptstücke" untergliedert, die nach ihrem Umfang einer gehaltenen Predigt entsprechen. Thematisch widmet sich Johann von Münster in allen drei Teilen dem Abendmahl, wobei die letzte „Vormanung" explizit religionspolemischer Natur ist. Darin spricht er von den „Mißbreuchen/ Vnd insonderheit von der Bäpstlichen Meß." 740

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Ebd., Vorrede unpaginiert: Der „Ehrnvheste vnd Gottselige Junckherr JOHANN VON MVNSTER, [habe] diese Vormanungen in gegenwart seines Gesindes/ auff seinem Hause gethan/ vnd die Christlichen Haußvbungen der Lehre/ des Gebets/ vnd Dancksagung gegen Gott/ noch bey den seynigen bestendig vnterhelt. Solches Exempel vielen von Adel/ vnd andern Christlichen Leuten dienen kann/ das auch sie bedencken/ was für Edel Kleinot es in einer Haußhaltung sey [...]." " 3 Vgl. ebd. Ebd. " 5 Ebd. 736 Ebd. 737 Ebd. 738

Eingeleitet mit den Worten, ebd., Bl. Γ: „Geliebten im Herrn/ Last vns Niederknien für der Maiestet Gottes/ vnd dieselbe aus grundt vnsers Hertzen also demütig anruffen [...]." 739 Etwa ebd., Bl. 2': „Weil wir/ meine geliebten in Christo/ in letzt gethaner Vormanung diese Vier Hauptpuncten angehört." 740 Ebd., Bl. 99'.

176 Nur kurze Zeit nach der Veröffentlichung der Predigtsammlung Gründtliche vnd Außfiihrliche Erklerung der gantzen Lehr vom H. Abendtmal CHRISTI veröffentlichte Johann von Münster das Büchlein Bericht [...]/ Der reinen Lehr.741 Dieses im Vergleich zur ersten Schrift kürzere, insgesamt nur 49 Blatt umfassende Buch ist ein ,Fragstück', eine Art knapper Katechismus, in dem drei Hauptfragen erörtert werden: 1. Wie groß ist meine Sünde? 2. Wie werde ich davon erlöst? 3. Wie erweise ich meine Dankbarkeit?742 Indes ist es weniger dieser Haupttext, der den Widerspruch von Peter Michael Brillmacher provozieren sollte, als von Münsters umfangreiches Vorwort.743 In dem fuhrt er detailliert in das Wesen der häuslichen Exerzitien („exercitium domesticum") ein. Außerdem rechtfertigt er die für das Münsterland neue Form des religiösen Unterrichts und der Seelsorge durch eine ausfuhrliche Auflistung von Bibelbelegen und von Zitaten aus der Kirchengeschichte mit dem Ziel, die Praxis der häuslichen Exerzitien als seit altersher üblich und dem Evangelium gemäß zu rechtfertigen. Gemeinsam betrachtet, gestatten die Gründtliche vnd Außßihrliche Erklerung der gantzen Lehr vom H. Abendtmal CHRISTI sowie der Bericht [...]/ Der reinen Lehr einen ersten Einblick in die häusliche Seelsorgepraxis calvinistischer Prägung. Da es im folgenden nicht um eine vollständige Rekonstruktion des Streitverlaufs gehen soll,744 seien wesentliche Momente knapp zusammengefaßt, die dem Jesuiten Brillmacher Anlaß zum Widerspruch geben sollten. Zunächst gilt das für das Vorwort von Christoph Pezel, in dem nicht nur offen gegen die katholische Kirche polemisiert wird. Der Bremer Calvinist versucht, den westfälischen Adel für den Calvinismus zu gewinnen, was durch die Anwendung der Hauspredigten und der häuslichen Exerzitien rasch die Ausbreitung der calvinistischen Lehre befördern sollte. In diesem Zusammenhang ist wichtig, daß Johann von Münster äußerst präzise, wenn auch ,normierte' Vorstellungen von seiner Leserschaft hat. Er widmet die Vorrede nicht allgemein den christlichen Lesern, sondern lokalisiert seinen Adressatenkreis: „Allen denen/ so in der hochlöblichen vnd vralten Graffschafft Teklenburg meinem lieben Vatterlande/ vnd anderswo in der Nachbarschafft die reine Lehr des H. Euangelij von Hertzen lieben [...] wuntsche ich Johan von Münster zu Vortlag/ Gottes Gnad [.. ,]."745 Er grüßt außerdem „Großgünstige liebe Herrn Verwanten/

741

742 743 744

745

Johann von Münster: Bericht vnd Rechenschafft/ Der reinen Lehr/ So nun durch Gottes gnade/ vber das Sechste Jar au ff dem Hause Vorthlage in der Hochlöblichen vnd vralten Graffschafft TEKLENBVRG belegen/ getrieben ist: Vnnd mit dem Haußgesind daselbst nach gelegenheit eines jeden Alters vnnd Verstandes/ kurtzlich alle Wochen einmal wieder holet wirdt. Jetz vmb erheblicher Vrsachen willen in Druck gegeben. Bremen 1590. Ebd., 1. Tl.: Bl. Γ - 1 0 ' , 2. Tl.: Bl. 1 0 - 2 6 ' , 3. Tl: Bl. 2 6 - 3 Γ . 15 Blatt gegenüber 31 Blatt des Haupttextes. Da die einzelnen Streitschriften in der Textstruktur nicht besondere Merkmale aufweisen und nicht auf überraschende rhetorische Streittechniken zurückgegriffen wird, wird in diesem Kapitel nicht die bisher übliche ,dialogische' Darstellung der Streitschriftenwechsel verfolgt, um statt dessen eine prägnante Summe der Kontroverse zu liefern. Der Streitverlauf selbst ist zuverlässig bei Ridder: Die Kontroverse, S. 50-54, dokumentiert. Johann von Münster: Bericht, unpaginiert.

177 Nachbarn/ vnd freunde"746 und erwähnt namentlich mehrere Adelige, etwa Arnold Graf von Bentheim, der der „reformirten Kirchen" 747 ebenfalls zugeneigt war. Solche detaillierten Erwähnungen sind in den anderen Streiten nicht die Regel. Sie sprechen fur ein Johann von Münster bekanntes Bedürfnis nach anleitenden Schriften, um die häuslichen Exerzitien nachzuahmen. Das konnte mittelfristig zu einer Popularisierung des Calvinismus in weiten Teilen des Münsterlandes führen. 748 Zusätzlich war nicht nur der dritte, religionspolemische Teil der Erklerung der gantzen Lehr vom H. Abendtmal CHRISTI Anlaß zu Erwiderung. Johann von Münster rechtfertigt die häuslichen Exerzitien im Bericht [...]/Der reinen Lehr mit einer Traditionslinie der kirchlichen Autoritäten, die sich dafür ausgesprochen haben sollen. Er beginnt bei Augustin und endet bei Calvin. Das war aus jesuitischer Sicht ein Skandal - dem ersten unter den Kirchenvätern den Genfer Ketzer zur Seite zu stellen, das schrie geradezu nach Widerspruch. Doch sollte der Bericht [...]/ Der reinen Lehr nicht dem religionspolemischen Schrifttum zugerechnet werden, sondern dem katechetischen. Im Vergleich mit Pezels Vorrede in der Erklerung der gantzen Lehr vom H. Abendtmal CHRISTI sind die Angriffe gegen das Papsttum im Bericht verhalten.

b.

Appelle an das westfälische Traditionsbewußtsein Calvinismus

gegen den

Vor seiner Ankunft in Münster war Petrus Michael Brillmacher in Köln als Verfasser seelsorgerlicher Bücher in Erscheinung getreten. Er schrieb Gebetsund Erbauungsbücher, einen Katechismus und war Prediger in Köln.749 Daß er in Münster ein engagierter Prediger blieb, zeigt die Auseinandersetzung zwischen Brillmacher und den Münsteraner Dominikanern um die Predigt, die darin gipfelte, daß die Jesuiten eine eigene Kanzel im Dom erhielten.750 Außerdem war er als Rektor des Gymnasiums in Münster für die Dramenproduktion verantwortlich. Die schriftstellerische Breite Brillmachers ist typisch für die wenigen deutschsprachigen jesuitischen Schriftsteller der frühen Gegenreformation. Sein Engagement für Seelsorge und Unterricht, die Durchsetzung jesuiti746 747 748

749

750

Ebd. Ebd. Johann von Münster scheint seine Streitschriften gezielt im Münsterland verbreitet zu haben. Sein jesuitischer Kontrahent Brillmacher warf ihm im weiteren Streitverlauf vor, er habe seine Schriften „hin vnd wider in Stetten vnd Heusern außgestrewet"; vgl. Petrus Michael Brillmacher: Anhaltung eines newen Eilfertigen Caluinischen Vortrabs Das ist: Christliche vnd Wolgegründte Antwort H. Petri Michaelis Theol. Societ. Iesu zu Münster. Münster 1591, Vorrede, nach Lagenzählung Bl. *2 r . Vgl. Erwin Iserloh: Brillmacher, Peter Michael. In: N D B 2 (1955), S. 613f. Der Rhetorikunterricht am Kölner Jesuitengymnasium nimmt in der jesuitischen Schulordnung eine Vorreiterrolle ein, vgl. Barner: Barockrhetorik, S. 332-339; ob Brillmachers reges Schrifttum in seiner Kölner Zeit damit im Zusammenhang steht, ist nicht erforscht. Brillmacher: Anhaltung, S. 19-37.

178 scher und katholisch-tridentinischer Interessen ist außerdem Indiz für seine Leidenschaft und seine Zuverlässigkeit. Es verwundert deswegen nicht, daß er Anfang der 90er Jahre den Streit mit Johann von Münster suchte, zumal er dem Münsteraner Kolleg vorstand und somit die größte jesuitische Autorität der Region war. Im Frühjahr 1591 erschien seine erste Streitschrift gegen den Münsterländer Calvinisten. Die Christliche vnd Gründliche Entdeckung151 ist eine umfangreiche Widerlegungsschrift der Predigtsammlung Erklerung der gantzen Lehr vom H. Abendtmal CHRISTI und des katechetischen Bericht [...]/ Der reinen Lehr (auf insgesamt über 350 Seiten). Darin widmet sich Brillmacher im Kern den Fragen und Antworten für die häuslichen Exerzitien und weist ergänzend auf .Fehler' und ,Irrtümer' in den Predigten hin. Auf diese Weise entsteht ein zuverlässiges religionspolemisches Handbuch, in dem ausführlich katholische Lehre dargestellt wird und gleichzeitig Fehler des Calvinismus vorgeführt werden sollen. Die Christliche vnd Gründliche Entdeckung ist wie die Bücher Johann von Münsters eindeutig an Leser im Münsterland gerichtet. Der Adressatenkreis von Brillmachers Streitschrift ist damit verhältnismäßig beschränkt, andererseits erlaubt diese Einengung exaktes Eingehen auf die Bedürfnisse der Leserschaft. Bereits auf dem Titelblatt heißt es ausdrücklich, daß von Münsters Bücher „durch Westphalen außgestreuwet"752 wurden. Sein Buch widmet Brillmacher „Den Ehrwürdigen/ Edlen/ Ehrenvesten/ Hochgelerten/ Fürsichtigen vnd Erbarn/ verordneten Herrn Statthaltern/ Dhomdechand vnd Capitularherrn der Kirchen/ Ritterschafft/ Statt/ vnd Stetten/ des Löblichen Stiffts Münster". Er wendet sich also nicht - wie etwa Scherer im Streit mit Oslander - an einen einzelnen, sehr prominenten und einflußreichen Landesherrn, sondern an die Stände im Stift Münster. In der Widmung selbst, in der er sich ausführlich mit der Vorrede von Christoph Pezel in der Erklerung der gantzen Lehr vom H. Abendtmal CHRISTI auseinandersetzt, appelliert er an den - modern gesprochen - Lokalpatriotismus der Ständevertreter. Er eröffnet die Widmung mit einem historischen Exempel aus den Zeiten Karls des Großen, in dem er darauf hinweist, daß von diesem das „Liecht des vhralten wahren Euangelij Christi" in die „Nidersächsischen Landen" gebracht wurde, was „vngezweiffelt Ew. Erw. E. vnd E. Christliche Vorfahren/ werden wol vor Augen gehabt haben/ da sie ire Edle Tugend [...] zu Fortpflantzung vnd Erhaltung wahrer Christlichen 751

Peter Michael Brillmacher: Christliche vnd Gründliche Entdeckung sampt freundtlicher Widerlegung vieler schwerer Irrthumben/ Vnwarheiten/ vnd Lästerungen/ so durch vnzeitigen Eiffer/ von dem Edlen vnd Ehrentvest. Junckern Johan von Münster zu Vortlage/ in der Graffschaffi Tecklenburg/ auff seinem Hauß bey Weib/ vnd Gesindt/ Predigsweiß furgetragen/ darnach in Druck verfertiget/ vnd durch Westphalen außgestreuwet/ erstlich in dreyen Vermahnungen von dem heiligen Abendtmal weitlcuffig/ mit Beförderung vnd Vorrede D. Christophori Pezelij, vnd folgents kürtzlich durch einen Bericht oder Rechenschaft/ von der Sünd/ Erlösung/ vnd Danckbarkeit. Allen Catholischen/ insonderheit aber denen/ so durch Gottes Gnad/ angefangen hinder sich zu sehen/ vnd zu erkennen/ auß welchen Wonnungen des fridens/ sie in gegenwertige Verwüstung vnd Gefengnuß der Secten gerathen/ zum Bericht vnd heylsamer Widerker. Münster 1591.

752

Vgl. ebd, Widmung, unpaginiert.

179 Religion dermassen erzeiget/ daß ihnen darumb der Vorzug in regimenten der Hohen Stifften vnd Fiirstenthumben vergunnet/ vnd eingereumpt worden." 753 Brillmacher erinnert die Stände an das Alter der christlichen, also katholischen Kirche im Münsterland und verknüpft diesen Hinweis mit der Feststellung, daß nur durch das herausragende Engagement der Stände dieser Zustand erhalten wurde. Er ermahnt diese zur Verantwortung und nimmt sie in die Pflicht: Ein Adeliger habe nicht nur für „die Adeliche Reputation vnd zeitliche Ehr/ also auch wol mehr für die Vätterliche Catholische Religion [...] zu eyffern". 754 Adelig zu sein, das ist die suggestive Konsequenz aus Brillmachers Ausführungen, bedeutet immer auch katholisch zu sein. Die Hochachtung, die die Stände erfahren, wird durch Attribute der Wertschätzung ergänzt.755 Erst nachdem Brillmacher dadurch versucht hat, die Gunst des westfälischen Adels zu erwerben, wendet er sich dem Bremer Calvinisten Pezel zu. Im Gegensatz zu von Münster wird der als Aufrührer dargestellt: „Durch dergleichen Lästergeist Pezelius getrieben/ schemet er sich nicht/ die so vom Adel vnd Herren Stands seynd/ vnd sich vmb seiner Religion zänckische Händel vnd Streit/ nicht wollen annemmen/ sonder bey der Catholischen Kirchen Bekantnuß verharren/ Fratres ignorantiae, zu nennen [,..]." 756 Ergänzend zum ,Lästergeist' von Pezel weist Brillmacher immer wieder auf die Neuartigkeit der reformierten Kirche hin,757 um ihr fehlende Tradition als Beweis für fehlende Evangelizität zu unterstellen. Diese Widmung ist damit ein Versuch, zunächst das Wohlwollen der Stände des Münsterlandes zu erlangen und sodann ein konkretes Feindbild zu entwerfen und zu benennen, nämlich den Calvinisten Pezel. In einer zweiten Vorrede, die im Stil eines Sendschreibens, eines offenen Briefes, verfaßt ist, wendet sich Brillmacher direkt an Johann von Münster und erklärt, daß er dessen beide Bücher erhalten und sich im vergangenen Winter (1590/91) an die Widerlegung derselben gemacht habe. Dabei vermeidet Brillmacher jedes aggressive Wort gegen den Junker. Er spricht ihn immer mit der Höflichkeitsformel „Edler vnd Ehrenvester Juncker" an. Zwar äußert sich Brillmacher unmißverständlich in der Beurteilung der Bücher, diese seien im „vnzeitigen Eifer/ mit vilen vnd vnchristlichen Irthumben/ vnd Vnwarheiten" geschrieben.758 Doch sei er hoffnungsvoll, daß Johann von Münster sich bereitwillig über die christliche Wahrheit belehren lasse.759 Brillmacher lobt sogar ausdrücklich den christlichen Eifer seines Kontrahenten: „Sintemal daran [an den Hauspredigten] an sich nicht zutadeln/ sondern alles zu loben wer/ wann damit das recht öffentliche Predigampt der Kirchen Christi/ sampt derselbigen gesunder reiner Lehr/ nicht würde vnder falschem Schein/ vnchristlich ge-

753

Ebd., Widmung, unpaginiert. Ebd., Widmung, nach Lagenzählung Bl. br. 755 Brillmacher nennt die Stände beispielsweise „Löblichen Westphälischen Adel", vgl. ebd., Widmung, nach Lagenzählung Bl. bv. 756 Ebd., nach Lagenzählung Bl. c iij'f. 757 Vgl. etwa ebd., nach Lagenzählung Bl. c 4r. Ebd., S. 1. ™ Vgl. ebd., S. 2. 754

180 schmehet/ vnd gelästert."760 Von Münster wird von Brillmacher als beflissener Laie charakterisiert, der wegen seiner fehlenden theologischen Bildung ohne böse Absicht das öffentliche Predigtamt schädige. Brillmacher vermeidet in dieser Streitschrift gezielt jegliche Aggression gegen Johann von Münster. Durch dieses Vorgehen suggeriert er, daß der Junker Johann von dem Jesuiten nicht als Gegner oder gar als Feind betrachtet wird. Schuldig seien vielmehr seine fremden, außerhalb der Landschaft lebenden Verfuhrer. Vor dem Hintergrund der aggressiven Vorrede gegen Pezel wird die von Brillmacher verfolgte Strategie deutlich. Es überrascht kaum, daß Brillmacher mutmaßt, der Junker sei „durch anderer Leut Arglist/ mehr dann durch eigen Willen vnd Wissen eingenommen"761 worden. Namentlich erwähnt wird Pezel in der Vorrede an Johann von Münster nicht, wodurch Brillmacher konkreten Erwiderungen bereits im Vorfeld zu begegnen sucht. Abschließend verweist er auf seine Funktion als Seelsorger und Lehrer, indem er den Junker ausdrücklich zum Gespräch einlädt: Zu mir sollen Ew. Ed. vnd E. sich nichts anderes versehen/ denn daß ich derenselbigen vnd andern so vnwissent in Irrthumb gebracht werden möchten/ Seligkeit gedürstet/ Zu welchem end ich dann auch in aller Freundligkeit mit Ew. Edl. Selbst zu communieren/ zu weiterem Vnderricht jederzeit bereit vnd wilferig/ Hiemit dem heyligen Geist/ als dem Erleuchter aller Hertzen befohlen. Datum Münster [...] Ew. Edl. vnd Ehrenf. in Christo Dienstwilliger. Petrus Michael Societatis Iesu Theologus. 762

Der Haupttext ist in sechs .Entdeckungen der Irrtümer' gegliedert, in denen Brillmacher in jeweils drei Kapiteln auf die Erklerung der gantzen Lehr vom H. Abendtmal CHRISTI und den katechetischen Bericht [...]/ Der reinen Lehr eingeht. Er verfährt dabei sehr ausfuhrlich. Meistens nennt er knapp die Fragen und Thesen seines Gegners,763 um anschließend zu einer umfangreichen Auflistung von Bibel- und Kirchenväterbelegen zur Begründung der katholischen Lehre zu gelangen. Er liefert nur in seltenen Fällen lateinische Zitate, in der Regel legt er deutsche Übersetzungen vor, was Ausdruck für die Rücksichtnahme auf die potentiellen Leser sein dürfte. Ähnlich knapp wie die Wiedergabe der gegnerischen Position fallen selbständige Äußerungen Brillmachers aus.764 Dabei bewahrt er einen neutralen Sprachstil, um weiterhin jede Aggression zu vermeiden. Von Münster wird schlicht „der Juncker" genannt, wodurch Brillmacher zwar auf Distanz zu diesem geht, was aber dem auf Sachlichkeit und Argumentation zielenden Vorgehen Brillmachers angemessen ist.

7

«> Ebd., S. 3. ™ Ebd., S. 5. 762 Ebd., S. 6. 763 Oft beschränkt sich das auf die Überschriften, etwa ebd., S. 23: „Endeckung der Irrthumben/ in dem Antwort auff die Frag/ Woher die Sünd in die Welt kommen. Fol. 5.6." 764 Etwa ebd.: „Hie eräugen sich vier grosser Irrthumben wider Gottes Wort. Der Erst ist [...]."

181 Angriffslustiger wird Brillmacher im umfangreichen Kapitel zur dritten, kontroverstheologischen ,Vermahnung' Johann von Münsters.765 Bereits in der Überschrift spricht der Jesuit nicht nur von „Irrthumben", sondern auch von „Vnwarheiten vnd grewliche[n] Lästerungfen]", die darin zu finden seien. Eingeleitet wird dieses Kapitel mit einer allgemeinen Abhandlung über das lästerliche Wesen der Ketzerei - er folgt damit dem religionspolemischen Standardschema, ohne dies um neue argumentative Aspekte anzureichern. Dabei geht Brillmacher im Vergleich zu anderen Polemikern mit Johann von Münster zurückhaltend um. Er beschimpft ihn beispielsweise nicht als Ketzer oder stellt ihn auch nicht in eine Reihe mit anderen Ketzern, sondern wirft ihm lediglich vor, den Lästerungen der Ketzer zu folgen und sich dabei „aller Christlichen Bescheidenheit"766 zu enthalten. Petrus Michael Brillmacher ist dieser Strategie in den weiteren Streitschriften gegen Johann von Münster gefolgt. In der Anhaltung eines newen Eilfertigen Caluinischen Vortrabs schildert er es als übliches Schicksal der „Rahtsgeber/ lerer vnd vnderweiser", mit „tobenden Schmachreden" bedacht zu werden.767 Den Junker spricht er weiterhin höflich an und betont, daß es ihm niemals darum gegangen sei, ihm Schlechtes zu unterstellen.768 Er wendet sich wiederholt an den westfälischen Adel, um ihn für sich einzunehmen, indem er erläutert, wie sich dieser zu verhalten habe.769 Dieses Vorgehen spricht für starke Sympathien, die man Johann von Münster in seiner Heimat entgegenbrachte. Wenn wir uns vergegenwärtigen, mit welcher Aggressivität andere Polemiker, unabhängig von ihrer Konfession, die Gegner angingen, so darf mit guten Gründen vermutet werden, daß Brillmacher aus Rücksicht auf seine Leserschaft diesen milden und rücksichtsvollen Stil bevorzugte. Im Vergleich zu den bisher dargestellten Streiten unterscheidet sich die Kontroverse zwischen Brillmacher und Johann von Münster in einem wesentlichen Punkt. Ohne jeden Zweifel wird manch ein Münsterländer erst gar nicht das ,papistische' oder das ,ketzerische' Schrifttum in seine Hände genommen haben. Insgesamt aber hatten beide ein gemeinsames Publikum vor Augen, während in den Streitigkeiten zwischen Staphylus und Andreae sowie Oslander und den beiden Jesuiten Scherer und Rosenbusch fur ein räumlich wie konfessionell getrenntes Publikum geschrieben wurde. Dabei scheint Johann von Münster über einen nicht zu unterschätzenden .Standortvorteil' verfügt zu ha765 766 767 768

769

Ebd., S. 211-304. Ebd., S. 211. Brillmacher: Anhaltung, Vorrede, nach Lagenzählung Bl. *2r. Ebd.: „Eben also [wie dem Schulmann] ist es mir jüngst ergangen/ mit meiner Entdeckung vnd freundlicher Widerlegung der [...] Irthumben [...] (meines vermutens) durch vnzeitigen Eyffer von dem Edlen vnd Ehrenvesten Juncker Johann von Münster [...]." Ebd., S. lf.: „Darzu mich auch vnmüglich gedaucht/ daß in eines Adelichen Menschen Hertz/ welches (wie man mir gesagt/ der Vnderweisung vehig/ vnd gantz begierig) platz finden können so grosse Verbitterung/ wan es nicht von einem der bösen T e u f l i s c h e n Gespenß von denen Ew. Ed. vnd Ehrenv. jüngst geschrieben/ vnd die der Menschen Hertzen krefftig können verwirren/ an stat oder vnder betrüglischem Schein eines guten Geists were betrogen vnd zur Verachtung meiner Arbeyt/ eylfertig getrieben worden."

182 ben. Anders lassen sich die bemerkenswerte Rücksichtnahme Brillmachers auf den Junker, zu der sich dieser seinerseits nicht genötigt sah, und die Appelle an den Stolz auf den Katholizismus der Vorfahren nicht erklären.

c. Ein kontroverstheologisches

Handbuch als Schlußschrift eines Streits?

Nachdem Brillmacher und von Münster noch einige weitere Streitschriften gegeneinander publiziert hatten,770 veröffentlichte der Jesuit 1593 das Brillenkästlein.111 Dieses über 800 Seiten umfassende Duodezbüchlein wird in der bisher einzigen Studie zum Streit zwischen Johann von Münster und Petrus Michael Brillmacher als eine Art Schlußschrift betrachtet. Bernhard Ridder vermutet, Johann von Münster habe durch das Brillenkästlein „einen so gewaltigen Schlag"772 erhalten, daß er nicht sofort antworten konnte. Wegen der sich anschließenden schweren Erkrankung Brillmachers folgert er: Da scheint nun doch der Junker so viel menschliches Empfinden gehabt zu haben, - oder kam ihm dieser Unglücksfall Michaels nur als günstige Gelegenheit, nichts mehr sagen zu brauchen ? - daß er nicht durch gehässige aufreizende Kampfschriften den Petrus Michael auf seinem Sterbelager kränkte oder gar nach seinem Tode noch angriff. 773

Das Brillenkästlein wäre nicht nur dem Format nach eine untypische Streitschrift. Üblicherweise wurden sie im Quart-, seltener im Oktavformat veröffentlicht. Titelgebend ist, wie Brillmacher in der Widmung an Bischof Dietrich von Paderborn ausfuhrt, der seltene Name seines Verfassers, der - mit seinem Namen wie dem Kästleinformat des Buches ironisch spielend - den interessierten Laien ein Handbuch zur ,Schärfung' ihres Blicks auf die Religionsparteien an die Hand zu geben beabsichtige.774 Gegenstand des Brillenkästleins sind religiöse Streitfragen und -punkte. Das Buch ist in vier Teile gegliedert. Im ersten wird erklärt, wie man zur wahren Erkenntnis Gottes gelange und die (katholische) Kirche von den Ketzern unterscheide, im zweiten wird die Notwendigkeit zur Verteidigung der Kirche erläutert, im dritten werden die Grundsätze christlichen Glaubens dargestellt, und im letzten werden kaiserliche Erlasse und Mandate zur Bekämpfung der Ketzerei wiedergegeben und erklärt.775 Die einzelnen Teile sind in zahlreiche Merksätze („Schlußreden")

770

Vgl. Ridder: Die Kontroverse, S. 52-54. Petrus Michael Brillmacher: EVIDIOTHECA. Brillenkästlein/ Das ist/ Ein Newes sehr nützlichs Büchlein/ in welchem an statt vieler Bücher/ dem innerlichen schwachen Gesicht/ mit kurtzen Schlußreden aller Artickel Christlicher Religion/ vnd derselbigen gründtlichen Beweiß/ als mit guten/ weit vnd nahe sehenden Brillen zusehen geben wirdt/ welche auß den streitbaren Partheyen recht haben vor Gott. Münster 1593. 772 Ridder: Die Kontroverse, S. 57. 773 Ebd. 774 v g l . Brillmacher: Brillenkästlein, Vorrede unpaginiert, nach Lagenzählung Bl. A6 r . 775 Vgl. das Inhaltsverzeichnis ebd., Bl. B v . 771

183 untergliedert,776 an die sich jeweils seitenlange Belegzitate aus der Heiligen Schrift und den Kirchenvätern anschließen. Das Brillenkästlein ist damit ein Handbuch für Prediger, das wegen seines Formats sehr gut fur die gelegentliche Lektüre und zum Nachschlagen geeignet ist. Als konkrete Streitschrift ist es dagegen nicht konzipiert. Ebenso eignet es sich nicht zum Meditationsbuch, was wegen des kleinen Formats naheläge. Nun kann es mit etwas gutem Willen zwar als ,gewaltiger Schlag' gegen protestantische Geistliche des Münsterlandes und der näheren Umgebung gewertet werden. Immerhin bietet es durch die Vielzahl der angesprochenen Fragen und die umfangreichen Belegstellen einen .gewaltigen' religionspolemischen Wissensschatz. Von einem ,Schlag' gegen Johann von Münster kann aber auf keinen Fall gesprochen werden. Denn nichts weist in dem Buch direkt auf diesen hin. Auch in der Vorrede an den Paderborner Bischof erwähnt Brillmacher seinen calvinistischen Kontrahenten mit keinem Wort. Vielmehr spricht er allgemein von Ketzern und Lästerern der Kirche und Religion. Ein konkretes Anknüpfen an den vorangehenden Streit wäre im Hinblick auf die darin von Brillmacher favorisierte, die konfessionellen Verhältnisse im Münsterland berücksichtigende Strategie nicht angebracht gewesen, weil der belehrende und Belegstellen liefernde Aufbau allgemein gegen ,Ketzer' zielt, auch gegen lutherische. Ridders Behauptung vom ,gewaltigen Schlag' gegen den calvinistischen Junker entspricht vermutlich vielmehr dem Wunschdenken eines katholischen Kirchenhistorikers, nicht aber der Anlage des Buches und des gesamten Streitverlaufs. Das soll nicht heißen, daß die Erfahrungen aus dem Streit und die Situation im Münsterland nicht den Anstoß zum Abfassen dieses Buches gegeben haben. Eine Schlußschrift aber, die weitere Reaktionen auf beiden Seiten überflüssig oder gar unmöglich macht, ist das Brillenkästlein nicht.

776

Ebd., S. 1: „GLeich wie Gott vnd seine Religion erkennen/ vnd mit schuldigem gehorsam seineswillens bekennen/ ist der grund warer weißheit/ Frömmigkeit/ vnd Seligkeit/ also ist das Gegenspiel/ der gewissester grund warer Thorheit/ vngerechtigkeit vnd ewiger verdamnuß bey allen Menschen Kindern. Das sich derohalben iederman vor allem/ derselbigen Erkandtnuß theilhafftig zu machen mit höchster sorgfeltigkeit vnnd fleiß/ billich schuldig erkennen vnd bekennen muß."

TEIL II: INTENTION UND WIRKUNG DER RELIGIONSPOLEMIK

I. Die Leser der religionspolemischen Streitschriften: Multiplikatoren der konfessionellen Differenz Streitschriften fanden Abnehmer. Die Absatzerfolge der frühen Schriften Luthers sind beeindruckend, atemberaubend. Das dafür notwendige Kapital war vorhanden, besonders in den Städten. Auch lateinische Streitschriften konnten in seltenen Fällen zu einem Auflagenerfolg werden. So erlebte das zwischen 1564 und 1574 von Martin Chemnitz veröffentlichte Examen Concilii Tridentini im folgenden Jahrhundert 23 Neudrucke, und es fand sich in zahlreichen rheinischen und pfalzischen Pfarrbibliotheken.1 Diese Zahlen erklären sich nicht zuletzt aus dem Vorsprung im Bildungsniveau der Protestanten gegenüber dem der Katholiken, an dem die jesuitischen Bildungsreformen nur bedingt etwas geändert haben.2 Trotzdem lassen sich für einige katholische Streitschriften einzelne Erfolge benennen. 3 Im Streit mit Oslander sieht sich Rosenbusch nach kurzer Zeit zur Überarbeitung und Neuauflage seiner Antwort auf den Tübinger Hofprediger gezwungen, weil „nun die ersten Exemplaria allbereit hin vnnd verhandlet"4 sind; exakte Rückschlüsse auf die Stärke der ersten Auflage läßt diese Angabe leider nicht zu. Die Streitschriften seines Ordensbruders Scherer wurden nicht nur in einer umfangreichen Schriftensammlung publiziert,5 sondern auch in mehrere Sprachen übersetzt6 - beredter Ausdruck für die Internationalität der katholischen Kirche.

1

2

3

4

5 6

Vgl. Ernst Koch: Die deutschen Protestanten und das Konzil von Trient. In: Reinhard, Schilling (Hrsg.): Die katholische Konfessionalisierung, S. 88-103, bes. S. 102f. Vgl. Reinhard: Gegenreformation als Modernisierung?, bes. S. 236f. Einen Überblick über die wesentlichen Problemfelder und die Zeiträume zur Umsetzung der tridentinischen Reformen vermittelt Heinrich Richard Schmidt: Konfessionalisierung im 16. Jahrhundert. München 1992, S. 72-75. Zum insgesamt jedoch geringen Erfolg der frühen altgläubigen Streitschriften vgl. Edwards: Catholic Controversial Literature. Rosenbusch: Wolgegründte ernewerte Antwort, in der Vorrede „Dem günstigen Leser", Rückseite des Titelblatts. Georg Scherer: Erster Theil. Noch 1650, also 60 Jahre nach dem Erstdruck und 45 Jahre nach Scherers Tod, erschien eine Übersetzung vom Lutherischen Bettlermantel ins Flämische: De Luythersche Bedelaers Mantel: Een Wederlegh teghen twee Luythersche Predicanten, ghenaemt Iacob Gerbrandsz en Alexander Vtzinger. Waer in Klaer en onwederleggelijck bewesen wert, dat de Leer der Luythersche, waer in sy met de Catholijcke Roomsche Kerck verschilt, genomen is uyt de oude Ketters, die van de ware oude Kercke, in de Concilien verbannen zijn. Brüssel 1650.

188 Wie die Kosten für die Bücher aufgebracht wurden, kann nicht pauschal beantwortet werden. Doch muß - nach den Anfangserfolgen der Buchproduktion im Dienste der Reformation - von einem subventionierten Markt ausgegangen werden, weil sich kaum Abnehmer fanden; fur katholische Druckerzeugnisse trifft dies besonders früh zu.7 Es gab zahlreiche Subventionsmöglichkeiten, so daß nur einige Beispiele ohne Anspruch auf Vollständigkeit genannt werden können. Zunächst stand es jedem Autor frei, seine Schriften selbst vorzufinanzieren. Diese Variante ist typisch fur Luthergegner der ersten drei Jahrzehnte. Johannes Cochlaeus sah als einer der ersten Kontrahenten Luthers die Notwendigkeit einer leistungsfähigen Druckerei zur Publizierung von Flugschriften und Büchern. Er richtete dem Drucker Nicolas Wolrab Gatte seiner Nichte - in Leipzig aus eigenen Mitteln eine Druckerei ein.8 In den folgenden Jahren blieb Cochlaeus ein emsiger Förderer von Druckereien im Dienste der gegenreformatorischen Sache.9 Jedoch bewirkte sein Engagement keine grundlegende Besserung der katholischen Publikationsinfrastruktur, so daß er in seinen Lutherkommentaren von 1549 ausführte: „Was aber Katholiken schrieben, das verachteten die Drucker als ungelehrtes und ordinäres Geschreibsel der alten Barbarei; nichts davon druckten sie aus eigenem Antrieb".10 1566 forderten die Jesuiten Petrus Canisius und Hieronymus Nadal den Heiligen Stuhl zur Unterstützung von katholischen Druckern wie Autoren auf; Ausdruck für das immer noch „recht hilflose Bestreben, Einfluß auf den Buchmarkt zu gewinnen."11 Daneben gab es seit der Mitte des Jahrhunderts sowohl reichsweite als auch landesherrliche Förderungsmaßnahmen. Während sich der Kaiser auf die Privilegierung von Druckwerken beschränkte, die zu Generalprivilegien werden konnten - zu denken ist etwa an das der Jesuiten -, 1 2 war die landesherrliche Förderung aktiver. Vorreiter war dabei in vielerlei Hinsicht Köln, wo der Erzbischof zusammen mit dem Stadtrat bis 1550 ein funktionierendes Zensursystem aufgebaut hatte und die Errichtung von katholischen Druckereibetrieben förderte. Der oberdeutsche Raum hatte während der gesamten zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gegenüber dem Kölner Verlagssystem erheblichen Nachholbedarf. Das braucht nicht im einzelnen dargestellt zu werden. Die Entwicklungen verliefen äußerst unterschiedlich, wie etwa ein Vergleich der energischen Zensurpolitik Herzog Albrechts V. mit der bis ins 17. Jahrhundert völlig unübersichtlichen konfessionellen Situation in Österreich und deren Auswirkungen auf die Einfuhrung der Zensur zeigt.13 Die Jesuiten paßten sich

7

Vgl. Edwards: Catholic Controversial Literature; ebenso: Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, S. 54f. 8 Vgl. Spahn: Johannes Cochlaeus, S. 249,258f., 271. 9 Vgl. Dieter Breuer: Oberdeutsche Literatur 1565-1650. Deutsche Literaturgeschichte und Territorialgeschichte in frühabsolutistischer Zeit. München 1979, S. 96. 10 Zit. nach ebd., S. 93. 11 Ebd., S. 92. 12 Wittmann: Geschichte des Buchhandels, S. 61. ' 3 Vgl. dazu Breuer: Oberdeutsche Literatur, S. 94—97; vgl. auch: John L. Flood: Subversion in the Alps: Books and Readers in the Austrian Counter-Reformation. In: The Library 12/3

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den unterschiedlichen Bedingungen rasch an. Österreichische Jesuiten wie Scherer ließen ihre Bücher in Ingolstadt (Sartorius) oder München (Berg) drucken, in selteneren Fällen bei Sebald Mayer in Dillingen, der Residenzstadt des Hochstifts Augsburg. Für unseren Zusammenhang ist wesentlich, daß die geschilderten Auflagenerfolge der beiden Jesuiten Rosenbusch und Scherer nicht unbedingt Absatzerfolge waren. Die Drucker wurden fortwährend zu Überproduktionen gezwungen.14 Für präzisere Angaben wären deswegen buchwissenschaftliche Studien notwendig, die in dieser Arbeit nicht geleistet werden können. Religionspolemisches Schrifttum war stark subventioniert, sei es, daß die Druckerei gefordert wurde,15 sei es, daß der einzelne Druck unterstützt wurde. An den Absatzschwierigkeiten änderte das nichts.16 Die Überproduktion ist mutmaßlich Ausdruck einer falschen Erwartungshaltung und eines Unterlegenheitsgefiihls gegenüber den Erfolgen reformatorischer Bücher. Das heißt nicht, daß die Streitschriften gar keine Leser fanden. Der angesehene Patrizier Joachim von Pflummern berichtet 1545 im Zusammenhang seiner Schilderung der Zustände während der Reformation in Altbiberach vom Erwerb antilutherischer Bücher: Uff solichs alles und desgleichen ist min Raut: Nit lutherische Bücher lesen, nit ihren Predigten nachzuolöfen und ufflosen, mit keinem Luther über die Luthery zuo reden. Ich hun 150 Büchlin wider die Luthery koft und da stat allweg von der lutherischen Gefahr. Da möcht einer die Einred hun und sagen: die Lutherischen berufen sich auf die Schrift und beweisen durch die Schrift. - Dazu sag ich mit den Kirchenlehrern: die Ketzer hund allweg uff die Schrift gepocht. Ich sag weiter: sie bringen die Schrift nur zuoviel, aber mit falschem Verständnis.

Joachim von Pflummern ist nicht nur ein Beispiel für einen fleißigen Käufer, sondern auch für einen aufmerksamen Leser von Streitschriften. Er ahmt den disputatorischen Stil von Rede und Gegenrede nach, er kennt zentrale Argumente und nennt die Lutherischen unverblümt Ketzer. Prägnanter kann der Kern der frühen gegenreformatorischen Streitschriften kaum wiedergegeben werden. Ebenso präzise äußert sich Joachims älterer Bruder Heinrich von Pflummern, der, als erstes Kind, für den geistlichen Stand bestimmt war, in seiner chronologischen Schilderung der Biberacher Reformation. Deren erfolgreicher Verlauf

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(1990), S. 185-211; deutsche Fassung: Umstürzler in den Alpen. Bücher und Leser in Österreich im Zeitalter der Gegenreformation. In: Daphnis 20 (1991), S. 231-263. Vgl. Breuer: Oberdeutsche Literatur, S. 97. Im 17. Jahrhundert beförderten die geschilderten Entwicklungen maßgeblich die Herausbildung eines oberdeutschen, bzw. katholischen Buchmarkts mit deutlich landespolitischer Ausrichtung; vgl. ebd., S. 101-109; Birgit Boge: Literatur für das ,Catholische Teutschland'. Das Sortiment der Kölner Offizin Wilhelm Friessem im Zeitraum 1638-1668. Tübingen 1993 (= Frühe Neuzeit, 16); dies.: Die Ingolstädter Jesuiten im Spiegel der literarischen Produktion. In: Stadt und Literatur im deutschen Sprachraum der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Klaus Garber unter Mitwirkung von Stefan Anders, Thomas Eismann. Tübingen 1998 (= Frühe Neuzeit, 39), Bd. 2, S. 1033-1062. Vgl. Breuer: Oberdeutsche Literatur, S. 107. Zit. nach Albert Angele: Altbiberach um die Jahre der Reformation. Biberach 1962, S. 180f.

190 zwang Heinrich 1531 zum Verlassen Biberachs nach dem Verbot der Heiligen Messe.18 Präzise Lektüre, wie die des Patriziers Joachim von Pflummern, setzt ein hohes Bildungsniveau und außerdem ein gehöriges Maß an Leseausdauer voraus. Wir haben gesehen, daß die Streitschriften nicht selten an die hundert Seiten lang waren, manchmal sogar länger. Lateinkenntnisse sind für ihre Lektüre nicht zwingend, doch sollten die Leser ein solides theologisches Grundwissen und Interesse mitbringen, um sie zu verstehen. Von Ausnahmen wie Joachim von Pflummern einmal abgesehen: Streitschriften waren für Geistliche verfaßt, die durch sie nicht nur über aktuelle theologische Streitfragen instruiert wurden, sondern beispielhaft vorgeführt bekamen, was sie in Auseinandersetzungen mit Geistlichen der anderen Konfession zu antworten hatten, um konfessionskonform zu reagieren und nicht etwa falsch oder gar nicht zu antworten. Diese Funktion erklärt die Neigung zur direkten Anrede in den Streitschriften, selbst wenn der eigentliche Kontrahent gar nicht gemeint ist, wie in der Rettung der Jesuiter Vnschuld von Georg Scherer, wenn dieser statt Lucas Oslander unvermittelt den Wanderprediger Georg Nigrinus anspricht.19 Doch welche Bildungsvoraussetzungen können bei papsttreuen Lesern angenommen werden? Da diese Frage nicht erschöpfend beantwortet werden kann,20 dürfte es angeraten sein, sich der Bildungslandschaft in Bayern in groben Zügen anzunähern, weil dort besonders viele Leser von katholischen Streitschriften vorausgesetzt werden dürfen. Denn in Bayern war der katholische Glaube nicht nur außergewöhnlich gefestigt, dort wurden auch die meisten katholischen Bücher gedruckt, die im Zentrum dieser Arbeit stehen.21 Es gab in Bayern im 16. Jahrhundert zahlreiche ,Teutsche Schulen', die üblicherweise von den Landständen oder den Städten getragen wurden. In den Städten war das deutsche Schulwesen weit entwickelt, während in den ländlichen ,Teutschen Schulen' das Bildungsniveau sehr gering war.22 Doch dürfte bei den Absolventen dieser Schulen in der Regel das Interesse an theologischen

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Vgl. dazu Bernhard Rüth: Reformation in Biberach (1520-1555). In: Geschichte der Stadt Biberach. Hrsg. von Dieter Stievermann. Stuttgart 1991, S. 255-288, bes. 256-259. Vgl. oben S. 142ff. Einen ersten Überblick dazu vermittelt Harald Dickerhof: Die katholische Gelehrtenschule des konfessionellen Zeitalters. In: Reinhard, Schilling (Hrsg.): Die katholische Konfessionalisierung, S. 348-370. Da das Lesen von religionspolemischen Schriften nicht zwangsläufig eine akademische Ausbildung voraussetzt, wird im folgenden nur am Rande auf das akademische Bildungswesen Bezug genommen, das zunehmend in die Hand der Jesuiten geriet; vgl. Arno Seiffert: Das höhere Bildungswesen im katholischen Deutschland. In: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 1.: 15. bis 17. Jahrhundert. Von der Renaissance und der Reformation bis zum Ende der Glaubenskämpfe. Hrsg. von Notker Hammerstein. München 1996, S. 312-332. Karl Emst Maier: Das Schulwesen von der Zeit der Reformation bis zur Aufklärung. In: Handbuch der Geschichte des Bayerischen Bildungswesens. Bd. 1.: Geschichte der Schule in Bayern von den Anfängen bis 1800. Hrsg. von Max Liedtke. Bad Heilbrunn 1991, S. 349-383, bes. S. 363-369.

191 Streitschriften eher gering zu veranschlagen sein, weil sie in der Regel weltlichen Tätigkeiten nachgingen. Der formale Aufbau der Streitschriften deutet vielmehr auf Schüler von lateinischen Pfarrschulen hin, vielleicht auch auf Klosterschüler. In den lateinischen Pfarrschulen wurden elementarste Lateinkenntnisse vermittelt, die die Schüler noch nicht in den Stand solider Lesefahigkeit setzten. Außerdem wurden in ihnen üblicherweise Grundlagen zum Lesen und Schreiben des Deutschen unterrichtet.23 Absolventen von Gymnasien oder gar Universitäten dürften alternativ auf lateinische Schriften etwa der Jesuiten Bellarmin, de Valentia oder Drexel zurückgegriffen haben,24 je nach Zugänglichkeit, Anlaß und Interesse. Gleichwohl sollte niemals der Aspekt der Veranschaulichung, der Bezug auf das gesprochene Wort vernachlässigt werden. Zahlreiche katholische Geistliche dürften sich mit Streitschriften auf Predigten oder Streitgespräche etwa mit protestantischen Wanderpredigern vorbereitet haben, die in Ober- und Niederösterreich weit häufiger anzutreffen waren als im Herzogtum Bayern. Der Jesuit Scherer hat sich wiederholt in Widmungsvorreden zur Verwendung seiner Polemiken geäußert. Er zielt nicht auf den ,einfachen Mann' als Leser - das ist beim Umfang einiger seiner Bücher auch nicht zu erwarten. Vielmehr nimmt er an, daß Geistliche seine Streitschriften lesen. Seine bisher ausführlicher vorgestellten Schriften gegen Oslander sind Wilhelm V. von Bayern gewidmet, doch äußert er sich dort lediglich allgemein über deren Gebrauch: Er beabsichtige, den „Lauff deß Göttlichen Worts/ vnd heilsamer Catholischer Lehr"25 zu befördern. Konkreter wird er in den Widmungen zur Gelinden Antwort (zuerst 1585)26 an den Passauer Bischof Urban von Trennbach und zur Eigentlichen Abcontrafehung (zuerst 15 8 8)27 an Melchior Klesl, den späteren Bischof von Wien.28 Bischof Urban, der wohl nicht zuletzt wegen der Stellung

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Vgl. ebd., S. 369f. Von einfachen Pfarrern wurde kein vollständiges Theologiestudium verlangt, sondern lediglich theologisches Elementarwissen und Grundkenntnisse im Lateinischen; vgl. Seiffert: Das höhere Bildungswesen, S. 315f. Scherer: Rettung der Jesuiter Vnschuld, Vorrede unpaginiert, nach Lagenzählung Bl. Aiij r . Georg Scherer: Gelinde Antwort. Georg Scherer: Eigentliche Abcontrafehung einer newen vnerhörten Monstrantzen: Darinnen Magister Maximillianus Biber/ Lutherischer Predicant/ die Partickel vnd Oblaten für seine Communicanten/ wie ein Gauckelmann/ im Land Österreich vnd Steyr/ leichtfertig herumbgetragen: Sampt angehengten Achtzehen wichtigen Warnungsvrsachen/ daß sich jedermenigklich fur dem Lutherischen Nachtmal vnd Communion mit allem Fleiß vnd ernst hüten soll. In: ders.: Erster Theil, Bl. 117-147 v . Klesl erhielt bereits 1588 das Bistum Wiener Neustadt, 1598 das Bistum Wien, zum Bischof geweiht wurde er jedoch erst 1614; vgl. Johann Rainer: Melchior Klesl. Bischof, Minister und Kardinal (1552-1630). In: Franz von Assisi und die Armutsbewegung seiner Zeit und Auswirkungen von Luthers Thesen bis zum Augsburger Religionsfrieden und Kardinal Klesl. Symposien der Internationalen Kommission für Vergleichende Kirchengeschichte - Subkommission Österreich. Hrsg. von Bruno Primetshofer u.a. Wien 1987, S. 89-96.

192 Passaus als Bistum für Ober- und Niederösterreich29 und als bekannter Kirchenreformer ein beliebter Widmungsadressat war,30 wird im Zusammenhang einer umfangreichen captatio benevolentiae von Scherer zunächst als gelehrter Mann und engagierter Förderer der katholischen Reformen und der Gegenreformation vorgestellt. So habe der in seinem Bistum nicht nur die literarische Bildung angeregt, sondern gar befohlen, daß kein „Ketzerisches Tractätl auff der Thonaw" verschifft werden dürfe - es existierten also klare Strategien zur Verbreitung eigener bzw. zur Eindämmung gegnerischer religionspolemischer Schriften. Außerdem habe Urban wiederholt Schriften Scherers an verschiedene Bibliotheken geleitet, damit möglichst viele Geistliche in die Lage versetzt würden, seine Bücher zu lesen.31 Abschließend lobt er Melchior Klesl, der seit 1580 als Offizial (Generalvikar) Urbans und als Administrator des Hofbistums Wiener Neustadt tätig war.32 Nachdem Klesl 1588 das Bistum Wiener Neustadt erhalten hatte, gab er das Passauer Offizialat auf - dieser Aufstieg ist der Anlaß für Scherers Widmung zur Eigentlichen Abcontrafehung. Doch kennen sich die beiden seit der Jugend Klesls. Er ist das prominente Beispiel für Scherers Bemühungen, Protestanten zur Konversion zu bewegen. Mitte der 70er Jahre war Klesl von Scherer „auß dem Lutherthumb gerissen/ vnd zu der wahren Erkandtnus der rechten Catholischen Kirchen gebracht"33 worden. In der Widmung spricht Scherer über die Multiplikatorenfunktion34 des Widmungsadressaten: Klesl genieße „Ansehen/ Respect vnnd Auctoritet" bei den „Prelaten vnd Pfarrherrn" in den „Städten vnd

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Vgl. Walter Ziegler: Nieder- und Oberösterreich. In: Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500-1650. Bd. 1. Der Südosten. Hrsg. von Anton Schindling, Walter Ziegler. Münster 1989 (= Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung, 49), S. 118-133. Auch der oben S. 54f. vorgestellte Johann Baptist Fickler widmet seinen Traktat zur Rechtfertigung der Zensur Bischoff Urban; vgl. Breuer: Oberdeutsche Literatur, S. 29f. Vgl. Scherer: Gelinde Antwort, Bl. 191"f. Vgl. dazu Ulrich Eisenhardt: Staatliche und kirchliche Einflußnahmen auf den deutschen Buchhandel im 16. Jahrhundert. In: Beiträge zur Geschichte des Buchwesens im konfessionellen Zeitalter. Hrsg. von Herbert G. Göpfert, Peter Vodosek, Erdmann Weyrauch, Reinhard Wittmann. Wiesbaden 1985 (= Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens, 11), S. 295-313. Im Zusammenhang mit der Betonung der Gelehrsamkeit Bischof Urbans durch Scherer sei auf die Studie von Edoardo Tortarolo verwiesen (Zensur als Institution und Praxis im Europa der Frühen Neuzeit. Ein Überblick. In: Zedelmaier, Mulsow (Hrsg.): Die Praktiken der Gelehrsamkeit, S. 277-294); er stellt Zensur jenseits moralischer Wertungen als „gelehrte Praxis" (S. 278) dar. Bischof Urbans Zensur-Bestrebungen wären im Hinblick darauf genauer zu untersuchen. Vgl. zur in diesem Kontext ebenfalls wichtigen Purgierung Helmut Zedelmaier: Das katholische Projekt einer Reinigung der Bücher. In: Autorität der Form Autorisierung - Institutionelle Autorität. Hrsg. von Wulf Oesterreicher, Gerhard Regn, Winfried Schulze. Münster 2003 (= Pluralisierung & Autorität, 1), S. 187-203. Vgl. Rainer: Melchior Klesl, S. 90f.; Ziegler (Nieder- und Oberösterreich, S. 128) nennt Bischof Urban, Klesl, Scherer und außerdem den erwähnten Reichshofrat Eder „die Kräfte, die [...] das Reformwerk in Gang setzten, mit dem Wohlwollen des Hofes, aber weithin ohne Hilfe". Scherer: Eigentliche Abcontrafehung, Bl. 118". Reinhard: Probleme deutscher Geschichte. Reichsreform und Reformation, S. 282-284.

193 Märckten dises Ertzherzogthumbs Oesterreich". Deswegen sei er geeignet, „dises Tractätlein hin vnd wider im Land fruchtbarlich" zu verbreiten.35 Damit bestätigen Scherers Ausführungen die Hypothesen, die aus den Überlegungen zur oberdeutschen Bildungslandschaft abgeleitet wurden. Hauptadressaten der religionspolemischen Schriften waren Geistliche ohne oder mit geringer akademischer Bildung. Ferner ist Scherers Bitte an Urban, die Bücher an verschiedene Bibliotheken weiterzuleiten, ein sicheres Indiz für die Vermutung, daß die Streitschriften nicht zuletzt für die anschauliche Ausbildung von Geistlichen zur Konfrontation mit protestantischen Widersachern verfaßt wurden. Fallen die Streitschriften dagegen kürzer aus als die bisher erwähnten, so erwägt Scherer auch weniger gebildete Leser, wie die Absolventen der .Teutschen Schulen', für die jedoch nach kostenlosen Verbreitungsmöglichkeiten gesucht wurde. Der Lutherische BettlerMantel (zuerst 1588)36 ist Jeremias Leutner gewidmet, der Ratsmitglied und Leiter des Wiener Bürgerspitals war. Und eben diese caritative Funktion nimmt Scherer zum Anlaß der Widmung. Im Spital könne Leutner mit der Flugschrift „guts [...] schaffen". 37 Ohne es näher zu erläutern, animiert Scherer den Wiener Bürger Leutner zum Verbreiten der Flugschrift und wohl zum Vorlesen im Spital, um eine möglichst große Breitenwirkung zu realisieren.38

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Scherer: Eigentliche Abcontrafehung, Bl. 119v. Georg Scherer: Der Lutherische BettlerMantel. In: ders.: Erster Theil, Bl. 455 r -459 v . Ebd., Bl. 455v. Nicht zuletzt wegen der Kürze war Der Lutherische BettlerMantel im Hinblick auf die Auflagenzahl Scherers erfolgreichste Schrift. Sie wurde im frühen 17. Jahrhundert noch mindestens vier Mal gedruckt, außerdem gab sie vermutlich Anlaß zu einem heute verschollenen Jesuitendrama; vgl. dazu unten S. 28Iff.

II. Dimensionen des Streitens 1. Die theologische Dimension: Grundlage und Voraussetzung des religionspolemischen Schrifttums Am Beispiel des Joachim von Pflummern haben wir gesehen, welche Kernaussagen der Biberacher Patrizier aus den erworbenen Streitschriften gegen das Luthertum gezogen hat. Doch beschafft sich niemand 150 Streitschriften, um darin bestätigt zu werden, daß die Ketzer seit alters her auf die Heilige Schrift gepocht, diese aber immer schon falsch ausgelegt haben. Es stellt sich damit die Frage, was die Autoren durch die Streitschriften zu vermitteln versuchten, welche Informationsangebote sie gemacht haben und wie sie die erwähnte Tendenz zur Emotionalisierung der theologischen Streitpunkte zu nutzen versuchten. Denn das dürfte das primäre Ziel der Streitschriften gewesen sein, da es den Verfassern nicht um das Überzeugen des Gegners ging, wie die Analyse der Streitschriftenwechsel gezeigt hat. Nachdem nun die Leserschaft von religionspolemischen Streitschriften dargestellt ist, sollen einzelne Dimensionen näher untersucht werden, um abschließend die intendierte Wirkung der Streitigkeiten darzulegen. Daß religionspolemische Streitschriften immer eine theologische Dimension haben, ist eine Banalität. Doch darf keinesfalls die theologische Dimension einer Streitschrift oder gar eines Streits mit der theologischen Dimension der Streitursache gleichgesetzt werden. Der Streit zwischen Luther und Emser wird durch die Adelsschrift ausgelöst, in der Luther vornehmlich an den deutschen Adel appelliert, sich vom Papst zum Wohl der Christenheit zu lösen. Theologische Kernfrage ist aber die Bewertung des reformatorischen Schriftprinzips. Damit wird in dem Streit eine Streitfrage behandelt, die zumindest mit der Materie vertrauten Theologen längst bekannt war. Religionskontroversen sind, wie bereits mehrfach ausgeführt wurde, ein geeignetes Mittel zur Verdeutlichung des jeweiligen theologischen Standpunktes und zur Popularisierung der aktuellen theologischen Streitpunkte. Vor diesem Hintergrund dürfte es angeraten sein, sich im folgenden vornehmlich den nachtridentinischen Streitschriften zuzuwenden. Denn mit dem Abschluß des Konzils von Trient (1563) sowie dem Konkordienbuch (1580) lag bei den beiden im Reich anerkannten Konfessionen ein dogmatisches Fundament vor, das - so könnte man meinen - weitere Verdeutlichungen überflüssig und Popularisierungen nur noch für eine Übergangszeit notwendig machen würde. Doch wie wir am Beispiel der Auseinanderset-

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zung zwischen Oslander und den beiden Jesuiten gesehen haben, wurden die Polemiken weder milder, noch läßt sich insgesamt eine Abnahme der Kontroversen feststellen; beim Blick ins frühe 17. Jahrhundert zeigt sich eine Intensivierung der Schärfe wie eine Zunahme der Streitschriften. Religionspolemische Schriften von Katholiken spiegeln ein wesentliches Moment wider, das bereits in den Absichten des Konzils von Trient angelegt ist. Kernanliegen des Tridentinums war von Beginn an „theologische Abgrenzung"39 gegen den Protestantismus. Diese basierte zwar auf äußerst detaillierter Kenntnis reformatorischer Schriften, die jedoch ausschließlich aus „apologetischen Gesichtspunkten"40 erworben wurde. Die ununterbrochene Intensität der Streitschriftenwechsel nach dem Konzil ist damit auf katholischer Seite eine konsequente Fortfuhrung der mittelalterlichen Ketzerpolemik. Sie knüpft an mittelalterliche Verketzerungstechniken an und sucht nicht nach neuen Wegen, der Ketzerei zu begegnen, obwohl es ihr außerhalb der katholischen Territorien an Möglichkeiten mangelt, ihre Ziele zum Erfolg zu führen. Die indirekte Forderung Scherers zur Hinrichtung Oslanders belegt dies. Neben der theologischen Abgrenzung und der Kenntnis der reformatorischen Schriften ist der Wille zur Popularisierung tridentinischer Lehre wichtiger Eckpfeiler der theologischen Dimension. Um diese Stützen der theologischen Dimension zu veranschaulichen, wird im folgenden noch einmal auf Georg Scherers Streitschrift Bericht/ Ob der Bapst zu Rom der Antichrist sey4' zurückgegriffen. Bei der ersten ausführlichen Behandlung dieser Streitschrift wurde bereits kurz die beliebte Streittechnik vorgestellt, Vorwürfe des Gegners aufzunehmen und dann deren ,konfessionelle Vorzeichen' zu verkehren und gegen den Gegner zu wenden (reflexio), was im Falle des Berichts im Vorwurf gipfelt, nicht der Papst sei der Antichrist, sondern Luther ein geistiger Brandstifter.42 Nun soll es nicht noch einmal um diverse Streittechniken, sondern eben um die theologische Dimension dieses Berichts gehen, der sich zur Exemplifizierung nicht zuletzt deswegen eignet, weil sich Scherer auf ein gefährliches Thema einläßt. Der Antichrist-Vorwurf gegen den Papst sowie die Warnung vor der drohenden Endzeit geht auf Luther zurück. Wenn Scherer ohne einen konkreten Anlaß - zumindest nennt er keinen - diesem wirkungsmächtigen reformatorischen Diskurs Widerstand zu leisten versucht, dann spricht das für Selbstbewußtsein und das Vertrauen auf gute theologische Argumente. Ansonsten hätte er zu dieser Frage besser geschwiegen. Scherers Schrift resultiert aus einem Zyklus von sieben Predigten. Den Predigten stellt er eine kurze Einleitung voran:

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Klaus Ganzer: Das Konzil von Trient und die theologische Dimension der katholischen Konfessionalisierung. In: Reinhard, Schilling (Hrsg.): Die katholische Konfessionalisierung, S. 50-69, hier S. 51. Ebd., S. 53. Georg Scherer: Bericht/ Ob der Bapst zu Rom der Antichrist sey/ In etliche Predigen kürtzlich verfasset. Ingolstadt 1585. Vgl. oben S. 40f.

196 Da ist nun die Frag/ wer derselb groß Antichrist oder Widersacher sey/ ob er allbereit kommen/ oder noch zuerwarten. Auff dise Frag geben vnsere Widersacher mit vollem Mund dise Antwort/ Daß nemblich eben der Bapst zu Rom der recht/ wahr/ groß/ leibhaffl vnd persönlich Antichrist sey [...]. Das gestehen aber wir Catholischen keines wegs/ sonder sagen gut rundt Nein darzu/ Welcher Theil hat dann recht? Das wollen wir nun [...] erwegen vnnd erleutern/ daß jedermenigklich gar leicht wirdt schliessen künnen/ wie vnbillich der Bapst zu Rom mit disem heßlichen Namen (Antichrist) angedastet vnd verleumbdet werde/ vnd das Er nicht allein der Antichrist nicht sey/ sonder auch durchauß nicht sein 43 künne/ man wolte dann die gantz heilig Schrifft falsch machen [...].

Scherer erläutert die Nennung des Streitpunkts nicht weiter, sondern beginnt mit der ersten Predigt bzw. der ersten „Erweisung/ daß der Bapst zu Rom der Antichrist nit sey". Ausgangspunkt dafür ist das siebte Kapitel im Buch Daniel, aus dem Angaben über die Dauer der Regentschaft des Antichristen abgeleitet werden, nämlich dreieinhalb Jahre.44 Zum Beleg der Richtigkeit seiner Auslegung verweist er auf die Kirchenväter Hieronymus und Augustin, sowie auf exegetische Schriften von Luther und David Chytraeus.45 Dadurch erklärt Scherer seine Auslegung zum Allgemeinplatz der Exegese des Buches Daniel, der sogar die Ketzer zustimmen. Er begegnet im Anschluß möglichen Einwänden, die er mit dem Hinweis auf die Offenbarung beschließt, in der ebenfalls die gleiche Zeitspanne genannt werde.46 Er setzt zu zahlreichen Kirchenväter-Zitaten an, die jeweils durch Marginalien ausgewiesen sind und die seine Auslegung bestätigen sollen. Scherer weist daraufhin, daß das Papsttum schon weit länger als dreieinhalb Jahre bestehe und daß keine einzelne Amtszeit diesen Zeitraum ausgefüllt habe, „sondern eintweder mehr oder weniger/ welches ich fur ein sonderliche Schickung vnd fursehung Gottes halte."47 Er beendet das Kapitel mit einer knappen conclusio: „Demnach so volget der Beschluß/ das der Bapst zu Rom der Antichrist nicht sey/ sondern ihm geschehe gewalt vnd vnrecht vor Gott vnd der gantzen Welt [.. ,]."48

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Scherer: Bericht/ Ob der Bapst, S. 1 f. Ebd., S. 3f.: „Daniel antwortet/ oder vilmehr der Engel Gottes/ der mit Daniel Sprach gehalten: Tradentur in manu eius vsque ad tempus, et tempora, et dimidium temporis: Sihe/ die Heiligen werden ihm vnder sein Gewalt geben biß auff ein zeit/ vnnd zwo Zeit/ vnnd ein halbe Zeit. [...]. Was verstehet man dann durch die Zeit/ zwo Zeit vnnd halbe Zeit? Zeit ist ein Jar/ zwo Zeit zwey Jar/ halbe Zeit ein halbes Jar/ macht vierdthalb Jar/ So lang vnnd nicht länger soll der Antichrist sein Tyrannisch Regiment auff Erden fuhren." Vgl. Dan 7,25 sowie Dan 12,7. Vgl. Scherer: Bericht, S. 3: „Ich teutsche aber das Wort (tempora) auff zwo Zeit/ nach Art der Hebräischen Sprachen/ in duali numero, wie S. Hieronymus vnd Augustinus daruon reden/ So teutschet es auch also die Zürchische Bibel/ vnnd Lutherus selber in seiner Außlegung vber das zwölffte Cap. Danielis/ welche er in sein Teutsche Bibel drucken lassen/ Also teutschet es David Chytreus in seiner Auslegung vber die heimliche Offenbarung/ vnnd andere mehr." Vgl. ebd., S. 11: „Nach den Jaren/ dann, nach dem Exempel Danielis setzet Johannes ein Zeit/ zwo Zeit/ vnnd ein halbe Zeit. Cap. 12." Vgl. O f f b 12,14. Scherer: Bericht, S. 19. Ebd.

197 Im zweiten Kapitel erläutert Scherer, daß dem Antichristen „die Juden hauffenweiß zufallen" 49 werden, und im dritten wird bewiesen, daß der „Antichrist ein geborner Jud sein"50 werde. Beide Kapitel sind in der zweiten Predigt zusammengefaßt. Der vierte Einwand ist die Verleugnung Jesu durch den Antichristen (dritte Predigt), der fünfte verweist auf die Endzeit, in der dieser erscheinen wird (vierte Predigt). In den Erwiderungen sechs und sieben (Predigten fünf und sechs) wird das Wesen des Antichristen näher dargestellt. Das achte und letzte Argument (Predigt sieben) berichtet von der Wiederkehr des Propheten Elias, der vor dem Antichrist predigen werde. Eine Streitschrift51 wird aus dem Bericht durch die abschließende Hinwendung zu und Abrechnung mit dem konfessionellen Gegner. Zwar verschweigt Scherer zahlreiche mögliche Einwände von reformatorischer Seite, die wegen der Virulenz des Diskurses auf der Hand gelegen haben, jedoch nicht thematisiert werden mußten, um Anlaß zu weiteren ,ketzerischen' Papst-Schmähungen zu geben. Doch geht er gegen Ende auf Luthers Selbststilisierungen zum neuen Elias ein, der seine Anhänger gefolgt sind.52 Da ähnliche Vergleiche ebenso zwischen Elias und Calvin gezogen wurden, nutzt Scherer diese protestantischen Äußerungen zu einem direkten Angriff gegen die beiden Reformatoren: „Sehet/ lieben Christen/ wie Caluinus vnd Luther sich vmb die Kappen reissen/ Es schicket vnd reymet sich aber diser Name/ Helias/ weder auff den Caluinum noch auff den Lutherum [...]"." Es folgen fünfzehn polemische und ironische Hinweise, weshalb Luther auf keinen Fall Elias sein könne - Ausdruck für Scherers typologisches Denken: Es geht ihm eben nicht um die Auseinandersetzung mit Luther, sondern um die bloße Destruierung des lutherischen Elias-Diskurses. In langen Passagen .füttert' Scherer seine Leser mit religionspolemischem Wissen. Die reformatorischen Gegner sind immer in Sichtweite, doch dienen die umfangreichen Kapitel der konfessionellen Abgrenzung. Erst am Ende wird der Gegner massiv angegangen. Die wenigen Zitate belegen, wie konsequent die genannten ,Eckpfeiler' in dieser Streitschrift zu finden sind. Scherer kennt reformatorische Bücher, und er weist auf sie hin. Doch verfahrt er dabei doppellzüngig. Auf Argumente des reformatorischen Antichrist-Vorwurfs läßt er sich nicht ein, er nennt sie auch nicht. Reformatorische Bücher werden ausschließlich zitiert, um die eigene 49 50 51

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Ebd., S. 20. Ebd., S. 28. Im Einzelfall kann eine religionspolemische Predigt von einer Streitschrift nur schwer unterschieden werden; vgl. unten S. 232ff. Vgl. Scherer: Bericht/ Ob der Bapst, S. 134: „Es haben wol ihr vil auß dem Luther mit gewalt ein Propheten Helias machen wollen/ nit der Person/ sonder dem Geist nach/ also daß sie ihn den letsten Helias genennt öffentlich/ vnd an allen orten außgeruffen/ wie zusehen auß der Supplication/ welliche 51. Sächßische Predigeanten auff dem Fürstentag zu Naumburg Anno 1561 vbergeben/ da sie vnder andern also schreiben: [...] Nicht desto minder aber soll die beständige vnnd ewige meinung deß Luthers/ als deß außerwöhlten Gefäß Gottes vnd letsten Helie/ den Gott zu diser zeit erwecket hat das Euangelium wider auffzurichten/ vor andern allen mehr gelten." Ebd., S. 136.

198 Position zu bestätigen. Damit schafft er die Voraussetzung zur theologischen Abgrenzung. Präzise und umfangreich entwirft er das katholische Verständnis vom Antichristen, indem er auf über 150 Seiten einschlägige Stellen aus der Bibel und aus den Kirchenvätern zitiert. Allein schon die Auflistung und Zitierung ist damit eine beeindruckende Popularisierungsleistung. Scherer liefert außerdem von allen Zitaten eine deutsche Übersetzung, so daß auch ausschließlich volkssprachigen Lesern eine Lektüre ermöglicht wird. Die religionspolemische Langatmigkeit des Berichts ist kein Ausnahmephänomen. In Streitschriften finden sich regelmäßig Passagen, in denen mit vergleichbarer Präzision und Ausführlichkeit Lehrmeinungen rekapituliert werden. Typischerweise sind Vorreden und Einleitung sowie die conclusio Orte der Aggression, während der Mittelteil zur umfangreichen Argumentation genutzt wird.54 Doch wo bleibt eigentlich die Seelsorge. Haben die religionspolemischen Schriften eine seelsorgerliche oder pastorale Dimension? Wendet man sich zur Beantwortung dieser Frage zunächst den Biographien der verschiedenen Polemiker zu, so zeigt sich, daß beinahe alle Streitschriftenverfasser, von den Laien unter ihnen abgesehen,55 regelmäßige Prediger und auf katholischer Seite die meisten außerdem Beichtväter waren. Die Polemiker waren mit den alltäglichen Schwierigkeiten der Seelsorge vertraut, selbst wenn sie meist herausragende Ämter innehatten, etwa den des Hofpredigers oder -beichtvaters. Ferner scheint die verwendete Volkssprache zunächst ein untrügliches Indiz für eine seelsorgerliche Dimension zu sein, war doch Latein gängige Sprache des gelehrten Austausches und der akademischen Kontroverse, während es des Deutschen bedurfte, um Laien zu erreichen. Die wenigen Textabschnitte in Streitschriften, in denen ausdrücklich auf die eigene oder die gegnerische Tätigkeit als Seelsorger Bezug genommen wird, zeitigen einen ganz anderen Befund. Der Vorwurf, der Gegner verhalte sich seinem seelsorgerlichen Amt nicht angemessen, muß ebenso als Streittechnik bewertet werden wie seelsorgerliche Gesten, die dazu dienen, einen scharfen Kontrast zwischen der eigenen Person und dem hetzenden Gegner zu konstruieren.56 Der Blick auf die skizzierte Leserschaft dürfte außerdem die Vermutung nahelegen, daß es sich bei den Streitschriften nicht um Medien der Seelsorge handelt, daß eine seelsorgerliche Dimension dementsprechend auszuschließen ist. Vielmehr befinden sich volkssprachliche Streitschriften im Grenzbereich zwischen Volkstheologie und wissenschaftlicher Theologie. Deswegen haben sie in dem Sinne eine didaktische Funktion, daß hervorragend ausgebildete Geistliche durch die Streitschriften weniger gut gebildete Amtsbrüder, die zum Teil nicht einmal des Lateinischen mächtig sind, mit theologischen Fragen und Streitpunkten vertraut machen. Diese didaktische Dimension wird jedoch im Text an keiner Stelle formuliert, sie ist der unaus-

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In Streitschriften, die sich auf gegnerische Polemiken beziehen, ist üblicherweise ein disputatorisches Streitprinzip konstitutiv, während in Streitschriften wie dem Bericht, in dem ein allgemeines Thema behandelt und ein bestimmter Diskurs .bestritten' wird, ein Traktatstil typisch ist; vgl. oben S. 30ff. Vgl. oben S. 49ff. Vgl. oben S. 129ff„ S. 140ff.

199 gesprochene und - mit Blick auf das schlechte Bildungsniveau - uneingestandene Hintergrund für die gewaltige Masse an religionspolemischen Schriften.

2. Die politische Dimension: Propaganda für ein Fürstenhaus als Nebeneffekt der Religionspolemik Neben der theologischen von einer politischen Dimension in den Streitschriften auszugehen, ist naheliegend. Luthers Adelsschrift nennt den politischen Adressaten und das primär politische Anliegen bereits im Titel. Auch die Beurteilung der Verleihung des Ordens vom Goldenen Vlies berührt politische Themen. Die Frage, ob und welche Gewalt ein Fürst gegenüber dem Papst und in Glaubensangelegenheiten hat, wird in zahlreichen Streitschriften thematisiert. Es werden also in der Regel immer auch politische Fragen traktiert, doch ist mit politischer Dimension etwas anderes gemeint, nämlich inwieweit die Streitschriften die Leser zu einem guten, dem Allgemeinwohl verpflichteten und tugendhaften Leben anhalten. Das Werben dafür funktioniert dabei indirekt. Eine explizit politische Dimension erhält eine Streitschrift erst in dem Moment, in dem der Verfasser nicht nur als Geistlicher spricht, sondern seine Schrift zur Werbung für einen Fürsten und dessen Angelegenheiten macht und ihn außerdem auf das Allgemeinwohl verpflichtet,57 um seinerseits als vorbildlich und vorteilhaft für die Untertanen des Fürsten zu gelten. Damit ist die politische Dimension im Gegensatz zur theologischen nicht Voraussetzung, sondern regelmäßige Ergänzung religionspolemischer Schriften. Gängiger Ort für die politische Werbung ist die Widmungsvorrede. Nur weil reformatorische Polemiker diese weit seltener einsetzen,58 heißt das nicht, daß sich in ihren Streitschriften kein politisches Werben für den Fürsten findet. Es ist nur nicht auf einen bestimmten Textteil konzentriert. Andererseits ist es kein Zufall, daß jesuitische Streitschriften besonders oft prominenten Fürsten gewidmet sind.59 Für Schriften mit konkreter Wirkungsabsicht war es ohne jeden Zweifel von Vorteil, die Fürsten für die eigenen Absichten zu gewinnen - die oft beachtete und erwähnte Nähe der Jesuiten zum Münchener Hof ist dafür ein Beispiel.60 Politik wurde in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vor dem Hintergrund des entstehenden ,frühabsolutistischen' Fürstenstaates als selbständiger Bereich und als Gegensatz zur Theologie wahrgenommen. 61 Für unseren Zusammenhang ist dabei von Relevanz, daß trotzdem Politik als Betätigungsfeld für Geistliche nicht ausgeschlossen war, während die christliche Ethik 57

Vgl. Vocelka: Die politische Propaganda, S. 13-84. Vgl. oben S. 32ff. Beispiele für Widmungen aus der Feder prominenter Lutheraner bei Karl Schottenloher: Die Widmungsvorrede im Buch des 16. Jahrhunderts. Münster 1953, S. 110, S. 122 u.ö. 59 Vgl. oben S. 32ff. 60 Vgl. Hubert Glaser: ,nadie sin fructo'. Die bayerischen Herzöge und die Jesuiten im 16. Jahrhundert. In: Baumstark (Hrsg.): Rom in Bayern, S. 55-82. 61 Vgl. Barner: Barockrhetorik, S. 135-138. 58

200 gleichzeitig auf Distanz zur politischen' Bewegung und zur prudentistischen Moral ging, die in ihrer Spezifik nicht primäres Betätigungsfeld der Geistlichen, sondern der Hofleute war.62 Die Vorreden etwa jesuitischer Polemiker an einflußreiche Fürsten sind damit nicht nur Ausdruck höchster Wertschätzung und Dankbarkeit gegenüber diesen, sie sind Beispiele für frühe jesuitische Versuche, den Hof als „wichtigste Aktionsbasis"63 zu gewinnen. Unter diesen Voraussetzungen sind Widmungen in Streitschriften als politisch zu bewerten, wenn sie dem Zweck dienen, für den Fürsten zu werben, wovon die Jesuiten ihrerseits zu profitieren suchten, wie der folgende Abschnitt zur autoritativen Dimension zeigen wird. Dieses Vorgehen setzt sich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts durch. Dieter Breuer hat in seiner umfangreichen Studie zur oberdeutschen Literatur diesen Sachverhalt ausführlich geschildert und kommt zu folgendem Ergebnis: „Was immer die Autoren, auch die geistlichen Autoren des Jesuitenordens, schrieben und was immer die Druckerverleger im Lande und über die Landesgrenzen hinaus verbreiteten, sie handelten im Dienste einer Staatsräson, der der kirchlich-konfessionelle Bereich untergeordnet war."64 Für das 16. Jahrhundert gilt das auch für Bayern nicht mit solcher Eindeutigkeit. Außerdem bezieht Breuer zu selten weitere katholische, oberdeutsche Territorien mit in seine Überlegungen ein. Einige von ihm genannte Merkmale dieser .Staatsräson', etwa eine an dieser orientierte „Staatskirchenpolitik",65 finden sich gegen Ende des 16. Jahrhunderts vielleicht in Bayern, in anderen katholischen Territorien des Reiches aber nicht. Doch sind Identifikationsangebote mit dem Fürsten ebenso wesentlich für das politische Werben für ihn und sein Land. Wenn also die politische Dimension in Streitschriften berücksichtigt wird, so kann das nur dahingehend verstanden werden, daß danach zu fragen ist, wie und warum ein Geistlicher für einen Fürsten in einer Streitschrift wirbt. Wie wenig sich theologische und politische Dimension ausschließen, wird beim Blick in die Vorrede vom Bericht/ Ob der Bapst zu Rom der Antichrist sey einsichtig. Die Frage nach der politischen Dimension der Widmungsvorrede an den österreichischen Erzherzog Ernst ergibt einen konkreten Eindruck. Die Dedikation ist neun Seiten lang. Zunächst widmet sich Scherer dem jesuitischen Staatsverständnis des späten 16. Jahrhunderts: Es ist allen Menschen angeboren/ vnnd von Natur eingepflantzet/ die Arm vnd Hände fürzuwerffen/ wann man sie etwa auff dz Haupt werffen/ schlagen/ hawen oder stechen wil/ Ja alle lebendig Glider am Leib tragen gleichsam ein natürlich Fürsorg deß Kopffs halben/ damit er nicht geschädiget werde. [...]. Hiemit gibt vns die Natur ein Lehr vnd Vnderweisung/ daß gleicher Gestalt alle getrewe Vnderthanen/ sich ihrer von Gott fürgesetzten lieben Obrigkeiten vnd Häuptern [...] annemmen.

«

Vgl. ebd., S. 138-150. Ebd., S. 367. 64 Breuer: Oberdeutsche Literatur, S. 105. «5 Ebd., S. 106. 66 Scherer: Bericht/ Ob der Bapst, Widmung, unpaginiert, nach Lagenzählung Bl. Aij'f. 63

201 Scherer leitet die Widmungsvorrede an Erzherzog Ernst nicht mit diesen Worten ein, um ihn als schützenswertes Haupt darzustellen, sondern um umgehend die Angriffe der ,Sekten' gegen die geistliche Obrigkeit anzusprechen - im konkreten Fall meint er den reformatorischen Antichrist-Vorwurf. Diese Widmungsvorrede dient damit zunächst wie üblich als narratio, in der nicht nur Sachverhalt und Streitgegenstand eingeführt, sondern erste gezielte Angriffe gegen die Protestanten formuliert werden.67 Mit der von Breuer sogenannten , frühabsolutistischen Staatskirchenpolitik' bayerischer Prägung hat diese klassische Metapher für den Staat nichts zu tun, statt dessen nimmt der Jesuit den Erzherzog in die Pflicht, seinen Teil zum Schutz des Papstes und der Kirche beizutragen.68 Erst nach dieser grundlegenden Klärung wendet sich Scherer direkt an den Erzherzog. Er habe innerhalb nechst verloffen Acht Jaren" 69 bereits zwei Mal vor dem Erzherzog vom Antichristen gepredigt. Es habe sich gezeigt, daß Ernst .jederzeit ein grossen Eyfer zu Gottes Wort vnd Predig" an den Tag lege und „noch kein einige Predig bißhero verabsaumbt" 70 habe. Dieses vorbildliche Verhalten als fleißiger Kirchgänger sei um so erwähnenswerter, weil der Fürst „mit hohen deßgemeinen Vatterlands angelegnen Geschafften beladen"71 sei. Außerdem schulde das gesamte Wiener Jesuitenkolleg dem Erzherzog „für allerley empfangene gnädigiste Gutthaben" 72 große Dankbarkeit. Er wird als engagierter Kirchgänger, emsiges Oberhaupt und freundlicher Spender vorgestellt. Hervorragender kann ein Jesuit einen Fürsten kaum schildern, weswegen es auch nicht verwundert, daß Scherer abschließend zu einer besonders optimistischen Heilsprognose ansetzt: Ich wil E. F. Durchl. nicht heuchlen/ Aber das sage ich vnuerholen/ das E. F. Durchl. von dem Allmächtigen grosse Remuneration zugewarten haben/ wegen allerley hochrühmlicher fürstlicher Tugenden/ damit sein Allmacht E. F. Durchl. dermassen begabt vnnd gezieret hat/ das sie vnder vilen andern Fürsten der Christenheit/ nicht änderst als wie ein 74 schöner liechter Stern am Firmament scheinen vnd leuchten.

Scherer geht an dieser Stelle sowohl rhetorisch als auch theologisch bis an die vom aptum bestimmten Grenzen des Personenlobs;75 Devotionsformel, preisende Attribute und ein schillernder Vergleich, vor allem aber eine Feststellung, 67

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Scherer nennt die Protestanten „vnsere Widersacher" und wirft ihnen „abschewliche Calumniam vnd Lesterung" vor; ebd., Bl. Aiij v . Ebd.: „Dann erstlich die groß Iniuria vnd Schmach/ so dem Bapst/ mit dem Antichristischen Namen zugefugt wirdt/ gehet nit allein den Bapst an/ sonder auch E. F. Durchl. vnd alle andere Christliche Potentaten/ Keyser vnd König/ als Defensores vnd Protectores, Schirm vnd Schutzherren deß heiligen Apostolischen Stuls [...]." Ebd., Bl. Aiiij'f. Ebd., Bl. Aiiij v . Ebd. Ebd., Bl. Aiiij'f. l.S.v. .Erkenntlichkeit'. Ebd., Bl. Br. Die Lobrede ist eine der drei grundlegenden Redegattungen (neben Beratungs- und Gerichtsrede); vgl. Quintilian: Institutionis Oratoriae libri XII, 3,3,14-15; in Buch 3,7 geht er ausführlich auf die Stoffe für Lob und Tadel ein.

202 die der Vorwegnahme des göttlichen Urteils nahekommt, nämlich die Gewißheit, daß die Taten des Erzherzogs im Jüngsten Gericht anerkannt werden - all das kennzeichnet die Charakterisierung des Erzherzogs. Scherer ist dabei dem thomistischen Politik-Ideal verpflichtet, das im 13. Jahrhundert zu einer „Neufassung des Politikbegriffs in der Aristoteles-Rezeption" führte, in der die Leitung der Gesellschaft klar gegliedert ist und die auf Sicherstellung des Allgemeinwohls abzielt.76 Scherer hat sich in anderen Widmungsvorreden zurückhaltender geäußert, so daß der Name des Adressaten nicht beliebig ersetzt werden kann. Welche Funktion hat nun diese Vorrede? Scherer selbst nennt den Erzherzog ausdrücklich einen „klaren Spiegel eines Fürstlichen Christlichen Verhaltens vnnd Regiments [...]." 77 Damit rekurriert er implizit auf die im 15. und 16. Jahrhundert verbreitete Speculum-lAlerztia,78 besonders auf die Fürstenspiegel religiösen und moralischen Inhalts. Nur ein Jahr vor dem Erscheinen des Berichts hatte Emsts Onkel, Ferdinand II. von Tirol, sein umfangreiches Schauspiel Speculum Vitae Humanae publiziert,79 in dessen Mittelpunkt ein junger Adeliger steht, der nicht nur auf das Hofleben, sondern besonders auf ein gottesfürchtiges Leben vorbereitet wird.80 Wenn Scherer Ernst zu eben solch einer vorbildlichen Persönlichkeit macht, hat diese Widmung vor dem Hintergrund des skizzierten Leserspektrums eine eminent politische Dimension. Ernst hatte bereits 1576 in Ober- und Niederösterreich als Stellvertreter des Kaisers eine erste Rekatholisierungswelle eingeleitet. Wenn Scherer sich ein knappes Jahrzehnt später an den Erzherzog wendet und diesen öffentlich als vorbildlichen Katholiken und Fürsten preist, appelliert er mit der Vorrede an Geistliche in Österreich, seiner Wertschätzung zu folgen und die durch Ernst verkörperte Politik nach Möglichkeit zu unterstützen. Damit propagiert Scherer ein stabiles Verhältnis zwischen Klerus und Erzherzog. Da erst eine zweite Rekatholisierungswelle unter Erzherzog Matthias, dem späteren Kaiser, die endgültige Entscheidung zugunsten der katholischen Kirche im Erzherzogtum Österreich brachte,81 hatte dieser identitätsstiftende Appell einen konkreten Hintergrund. Täglich mußten sich zahlreiche katholische Geistliche mit protestantischen Landständen auseinandersetzen, so daß Scherers Engagement für den Erzherzog der historischen Situation geschuldet ist und nicht etwa gängigen Höflichkeitsgesten. Erst diese erklärt auch die ausführlichere Parteinahme für Ernst im Vergleich zu den Widmungsvorreden an Wilhelm V. von Bayern in den Streitschriften gegen Oslander. Bayern wurde bereits unter Wilhelms Vater Albrecht V. rekatholisiert, wenn

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Vgl. Volker Sellin: Politik. In: GG 4 (1978), S. 789-874, hier S. 802-806. Scherer: Bericht/ Ob der Bapst, Widmung, unpaginiert, nach Lagenzählung Bl. Bv. Sie geht bekanntlich auf Thomas von Aquin zurück; vgl. Sellin: Politik, S. 803. Ferdinand II. von Tirol: Ein Schöne COMOEDI SPECVLVM VITAE HVMANAE, Auff Teutsch Ein Spiegel des Menschlichen Lebens genandt. In: Deutsche Spiele und Dramen des 15. und 16. Jahrhunderts. Hrsg. von Hellmut Thomke. Frankfurt a.M. 1996 (= Bibliothek der Frühen Neuzeit, 2), S. 825-897. Vgl. ebd., S. 1141-1145 den Kommentar zu diesem Stück. Vgl. Ziegler: Nieder- und Oberösterreich, S. 127-129.

203 auch zahlreiche Anordnungen noch längst nicht den Trienter Konzilsbeschlüssen entsprachen.82 Die politische Dimension einiger religionspolemischer Schriften, besonders jesuitischer, hat vermutlich den Weg geebnet, der im 17. Jahrhundert zur von Breuer dargestellten Verpflichtung auf die Staatsräson' fuhren sollte. Doch gilt es, die Unterschiede nicht zu vergessen: Wenn Scherer seinen Bericht offensiv in den Dienst der politischen Werbung für Erzherzog Ernst stellt, so propagiert er ein politisches Ideal, in dem der Fürst keine absolutistischen Züge trägt, oder gar eine ,Staatskirchenpolitik' einfordert, die im 17. Jahrhundert noch manchen seiner Ordensbrüder in Konflikt mit den besonderen Treueverpflichtungen gegenüber dem Papst bringen sollte.83 Das persönliche Verhältnis Scherers zum Erzherzog und dessen großzügige Unterstützungen für das Wiener Jesuitenkolleg haben ihren Teil zur mehr als freundlichen Beurteilung beigetragen, doch im Sinne irgendeiner frühabsolutistischen Staatsräson' in die Pflicht genommen war der Wiener Jesuit nicht. Die politische Dimension gibt den Streitschriften zusätzlichen Gehalt, ohne die Kernauseinandersetzung zu berühren. Sie ist an Leser der eigenen Konfession adressiert, nur diese dürfte der Polemiker nachhaltig zur Unterstützung und Wertschätzung des gelobten Fürsten bewegen können. Die politische Dimension weist vielleicht stärker als jede andere ins 17. Jahrhundert; subkutan kündigen sich freiwillig von der Societas Jesu ins Werk gesetzte Tendenzen der Indienstnahme jesuitischer Schriftsteller für die frühabsolutistische Staatsräson' an. Ein Blick in lutherische Widmungsvorreden würde mutmaßlich vergleichbare Ergebnisse zeitigen, die jedoch wegen der unterschiedlichen frühabsolutistischen Verhältnisse in den Fürstentümern des Reiches, wegen Luthers politischer Lehre von den ,zwei Regimentern' und wegen Melanchthons Aristoteles-Kommentaren auszudifferenzieren wären.

3. Die autoritative Dimension: Orientierungshilfen in der Flut der religionspolemischen Schriften Bei aller Formelhaftigkeit und bei allem Pathos verfaßt Scherer ein der Situation angemessenes Personenlob in der Widmungsvorrede an Erzherzog Ernst. Verglichen mit anderen Widmungsvorreden von ihm (etwa an Wilhelm von Bayern) zeigt sich rasch, daß allein der gesellschaftliche Rang noch nicht für die Wortwahl entscheidend ist.84 Selbstverständlich verhält sich der Jesuitenpater gegenüber dem bayerischen Herzog nicht unhöflich, er betont dessen große Verdienste ftir die Heilige Kirche und preist seine Frömmigkeit. Doch geht

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Vgl. Glaser: ,nadie sin fructo', S. 62-70; vgl. ferner Walter Ziegler: Bayern. In: Schindling, Ziegler (Hrsg.): Die Territorien des Reichs, S. 56-70. Vgl. Breuer: Oberdeutsche Literatur, S. 106. Es ist in diesem Zusammenhang unerheblich, daß Ernst als Erzherzog einen ständischhöheren Rang einnimmt als Herzog Wilhelm.

204 Scherer in der Widmungsvorrede an den Erzherzog weiter, seine Wortwahl ist prächtiger, facettenreicher und individueller. Gemeinsam ist beiden Vorreden ein ganz anderer Aspekt. Dedikationen sind nicht ausschließlich zum Lob des Widmungsadressaten verfaßt, sie funktionieren nach dem Wechselseitigkeitsprinzip do ut des. Zu denken ist in diesem Zusammenhang zunächst an konkrete Subventionen zur Herstellung und Verbreitung eines Buches.85 Darüber hinaus ist es die rechtlich schützende Autorität86 des Widmungsadressaten, die der Autor für seine Schrift in Anspruch nimmt.87 Scherer spricht in der Widmungsvorrede zur Eigentlichen Abcontrafehung diese Funktion klar aus. Klesls „Ansehen/ Respect vnnd Auctoritet"88 hätten ihn veranlaßt, dem späteren Wiener Bischof das Buch zu widmen. Und der Erzherzog Ernst sei „menigklich geliebt vnnd hochangesehen".89 Scherer setzt auf eine Art , Ausstrahlungseffekt' durch den Dedikationsadressaten. Wenn er Klesl das Buch wegen seiner Autorität widmet, hofft Scherer, daß die Leser Zustimmung und Wohlwollen für das Buch bei Klesl oder einem anderen Widmungsadressaten voraussetzen. Damit ist eine Präsentationstechnik umrissen, mit der ein Autor seiner Streitschrift starkes Gewicht und Tragweite beizulegen versucht. Ziel des Polemikers muß es immer sein, vom Leser als Autorität wahrgenommen zu werden. Die autoritative Dimension einer Streitschrift ist daher Voraussetzung fur die Akzeptanz einer Streitschrift als relevantes (kontrovers-)theologisches Buch. Und Widmungsvorreden sind ein wichtiges Instrument zum Beleg der eigenen Autorität. Dazu gelangt Scherer nicht durch eine positive Darstellung seiner eigenen Person oder seiner theologischen Gelehrsamkeit. Schlüsselfunktion kommt dem Erzherzog zu, der nicht nur als Widmungsadressat für die Autorität der Schrift steht. Scherer berichtet in der Dedikation, daß die Streitschrift auf Predigten zurückgehe, die er „für 90 E. F. Durchl. gleichsfals für dero geliebten Herren Brüdern Ertzhertzogen zu Oesterreich/ etc. Mathiasen vnd Maximilian [...] gehalten"91 habe. Wie erwähnt, hat sich der Erzherzog gegenüber dem Wiener Jesuitenkolleg äußerst großzügig erwiesen, so daß Scherer ihm „im Namen und Stadt vnsers gantzen Collegij" seinen Dank ausspricht. Das dokumentierte Ansehen, das Scherer beim Erzherzog genießt, steht repräsentativ für das Ansehen seiner Person und seines Kollegs, während von theologischer Befähigung im

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Vgl. dazu Schottenloher: Die Widmungsvorrede, S. 192-194. Im Sinne von auctoritas, „Ansehensmacht", die im Gegensatz zur potestas nur indirekt wirkt, vgl. Horst Rabe: Autorität. In: GG 1 (1972), S. 382-404, hier S. 383. Schottenloher schildert die, wie er es nennt, „gesellschaftliche Bedeutung der Widmungsvorreden" besonders anschaulich: „Mit dem Empfanger [der Widmung] zusammen trat er [der Autor] vor den Leser. Er war nicht mehr allein. Mit ihm zusammen konnte er sich um so leichter mit seinem Buche in die Öffentlichkeit wagen, als der Empfanger meist aus der höchsten Gesellschaft, zuweilen aus [einem] Fürstengeschlechte war. Da war von vornherein die Teilnahme geweckt." Schottenloher: Die Widmungsvorrede, S. 195. Scherer: Eigentliche Abcontrafehung, Bl. 119V. Scherer: Bericht/ Ob der Bapst, Widmung, unpaginiert, nach Lagenzählung Bl. Br. Oberdt. für ,vor'. Scherer: Bericht/ Ob der Bapst, Widmung, unpaginiert, nach Lagenzählung Bl. Aiijv. In dieser prominenten Ahnengalerie fehlt Kaiser Rudolf II., der seit 1576 in Prag residierte.

205 engeren Sinne keine Rede ist. Sie wird vielmehr in Anbetracht seiner Nähe zum Erzherzog vorausgesetzt.

(Abb. 3: Titelblatt von Scherers Bericht)

Eine andere Möglichkeit, die Autorität der Schrift zu dokumentieren, ist eine aufwendige Gestaltung des Titelblatts. Bereits auf Titelblättern der frühen Reformationszeit finden sich erste Versuche - etwa Emsers Wappentier, der Bock, auf den Titelblättern gegen Luther.92 Doch ist das ein seltener Fall. Meistens waren Titel, Verfasser-, Drucker- und Datumsangaben zentriert gesetzt. Damit verfolgten die Kontroversisten und ihre Drucker keine programmatischen Ziele, zumal die Drucker- und Datumsangaben oft noch als Kolophon zu finden sind. Eine bemerkenswerte Ausnahme bilden hier Schriften, die in den Druckereien hergestellt wurden, die regelmäßig von den Jesuiten beauftragt wurden. Die Rarität der emblematischen Titelblattgestaltung für die Rettung der Jesuiter Vnschuld wurde ausführlich analysiert.93 Das Titelblatt des

«2 Vgl. oben S. 68ff. w Vgl. oben S. 140ff.

206 Berichts (Abb. 3) ist zwar weniger außergewöhnlich, aber typisch für jesuitische Streitschriften. Dieses Titelblatt gleicht in seinem Aufbau den übrigen Polemiken Scherers oder Rosenbuschs. Es ist durch einen Zierrahmen eingefaßt, und eine Vignette trennt die bibliographischen Angaben von Titel, Verfassernamen und Motto ab. Der Titel ist besonders groß gesetzt, ansonsten folgt er aber keinen besonderen inhaltlichen Satzprinzipien. Scherers Name und seine Ordenszugehörigkeit werden in eine Reihe gesetzt, so daß die Angabe „Theologum" zentral im Titelblatt angeordnet ist. Dieser Aufbau darf durchaus als programmatisch interpretiert werden, weil „Societatis IESV" Genitivattribut zu „Theologum" ist, das bei einem nach Sinneinheiten geordnetem Satzbild zusammen mit „Theologum" in einer Zeile hätte stehen müssen. Darauf folgt das Motto: „Vrtheilet was recht ist/ Ο ir Menschenkinder." Unmißverständlich wird der Leser aufgefordert, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Als vorläufig einziger ,Beistand' wird dafür der Verfasser genannt. Damit betont das Titelblatt, was in der Widmungsvorrede vernachlässigt wird, nämlich die theologische Kompetenz und Autorität seines Verfassers. Von den Lesern, die fest in der alten Kirche verankert sind, wird bereits durch die Gestaltung des Titelblattes Vertrauen in die Katholizität der Beantwortung der Frage „Ob der Bapst zu Rom der Antichrist sey" eingefordert. Unterstützt wird dieser Anspruch durch den zentriert gesetzten Namen des Druckers Sartorius, der fur das katholische Deutschland ein .Markenname' für inhaltlich hervorragende papsttreue Bücher war.94 Als zusätzlicher Beweis für die theologische Autorität des Buches folgt am Ende eine Ordenslizenz:95 „Hae Conciones de Antichristo R. P. GEORGII SCHERER, Societatis IESV Theologi, vtiliter publicari possunt. PETRVS STEVARTIVS LEODIVS, SS. Theologiae Doctor, Profeßor, et eiusdem Facultatis Ingolstadij Decanus, nec non et Academiae pro tempore RECTOR, etc." Das Lizensierungsverfahren ist Ausdruck jesuitischen Autoritätsanspruchs. Es führt den Lesern vor Augen, daß Ordensmitglieder ausschließlich Schriften publizieren, die die Meinung des Ordens wiedergeben. Damit wird durch die Lizenz eine Verankerung in der Mitte des Ordens signalisiert, was im konfessionellen Durcheinander keine vergleichbare Entsprechung bei anderen katholischen Schriften oder gar auf protestantischer Seite hat. Auch die Zeitgenossen haben das jesuitische Lizensierungsverfahren als Repräsentationsanspruch verstanden. Lucas Oslander erklärt in der Abfertigung der vermeindten Replic Christophori Rosenbusches: Dann dieweil der Rosenbusch in beiden seinen Schriffien/ als ein Aduocatus vnd fursprech der andern Jesuitern/ sich herfur gethan/ vnd seine Schriffien (am end derselben) publico nomine, durch den Albertum Hungerum, Professorem Theologum, et Procancellarium, atque facultatis Theologicae Decanum in Academia Ingolstadiana, approbiert/ vnd vidimiert sein/ vnnd als treffenliche köstliche Schriffien gerhümbt werden/ so haben sich die andern Jesuiter nicht zubeschwören/ wann auß ires Aduocaten vnd Fürsprechen letzten

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Die Hervorhebung des Druckernamens war gleichzeitig Werbung in eigener Sache. »5 Vgl. oben S. 32ff.

207 Schrifft vnd eigen worten erkläret würdt/ was der Jesuiter Gemüt/ Intention/ vnd fürnemen 6 .96 ist.

Wenn wir uns Schottenlohers Wendung vom Widmungsempfanger als ,Beschützer, Fürsprecher und Freund' 97 des Verfassers vor dem Leser vergegenwärtigen, sollte mit Blick auf die jesuitischen Streitschriften nicht von einzelnen Helfern gesprochen werden. In diesen tritt dem Leser eine ganze Heerschar schützender und fürsprechender Verbündeter entgegen: der Widmungsadressat - im Falle unseres Beispiels außerdem noch die Brüder des Erzherzogs Ernst - , der gesamte Jesuitenorden, sowie die theologische Fakultät Ingolstadt, der der lizensierende Jesuit üblicherweise vorsteht. Mehr theologisches und politisches98 Gewicht kann eine Streitschrift nicht beanspruchen. Wie Oslanders Ausfuhrungen zur Lizenz von Rosenbuschs Replica belegen, wurde der Autoritätsanspruch ernst genommen. Die Streitschriften gewannen durch die verschiedenen Möglichkeiten zur Steigerung des Autoritätsanspruchs an Ansehen. Die Auswirkungen sind bekannt, die Vorreden nahmen im 17. Jahrhundert ebenso zu99 wie regionale, also protestantische Druckprivilegien.100 Für den Erfolg einer Streitschrift ist vor dem Hintergrund einer kaum zu überschauenden Masse an religionspolemischen Büchern die autoritative Dimension vielleicht die wichtigste. Durch die offensive Darstellung des Autors als eines Vertreters des Ordens wurde der Leserschaft Orientierung gegeben, die ansonsten nur durch persönliche Lektüreempfehlung erreicht werden konnte.

4. Die triumphale Dimension: Demonstration katholischer Überlegenheit über die reformatorischen Kirchen Fidel Rädle hat mit Blick auf das Jesuitentheater101 festgestellt, daß die Dramatiker des jungen Ordens sich „mit direkter konfessioneller Polemik auf der Bühne in erstaunlichem Maße zurückgehalten"102 haben, statt dessen habe sich „eine weniger polemische als vielmehr agonale Tendenz" 103 durchgesetzt. Davon sind die Streitschriften weit entfernt. Trotzdem dürfte es gerechtfertigt sein, agonale Momente in Streitschriften anzunehmen. Das ergibt sich aus der dialogischen Struktur der Streitschriftenwechsel; jeder Polemiker versucht,

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Oslander: Abfertigung Der vermeindten Replic, S. 14. Vgl. Schottenloher: Die Widmungsvorrede, S. 195. 98 Zahlreiche jesuitische Streitschriften sind außerdem mit dem kaiserlichen Druckprivileg versehen, was als zusätzlicher Ausdruck fur den Autoritätsanspruch jesuitischer Schriften gewertet werden muß. 99 Vgl. Jutta Breyl: Dedikationen des 17. Jahrhunderts in Text und Bild. In: Meier (Hrsg.): Die Literatur des 17. Jahrhunderts, S. 255-265. 100 v g l . Wittmann: Geschichte des Buchhandels, S. 61 f. 101 Vgl. unten S. 273ff. 102 Fidel Rädle: Das Jesuitentheater in der Pflicht der Gegenreformation. In: Valentin (Hrsg.): Gegenreformation und Literatur, S. 167-199, hier S. 185. 103 Ebd., S. 192. 97

208 seinen Gegner zu überbieten und Überlegenheit zu gewinnen. So betrachtet, ist jeder Religionsstreit ein Wettkampf, ein Agon.104 Das zeigt sich in den Streitschriften etwa, wenn die gegnerischen Vorwürfe gezielt aufgegriffen und mit einer Überbietungsgeste gegen den Gegner gewendet werden.105 Darüber hinausgehend sind vor allem die katholischen Streitschriften dadurch gekennzeichnet, daß sie sich nicht allein auf die Bekämpfung der anderen Konfessionen beschränken. Vielmehr wird die eigene Konfession immer stärker Gegenstand der Streitschriften und als überzeugend und sogar überwältigend dargestellt. Rädle hat für das Jesuitentheater - dem noch ganz andere Mittel zur Veranschaulichung des Triumphes (ecclesia triumphansl)106 zur Verfügung standen - einen vergleichbaren Befund erhoben.107 Deutlich wird die jesuitische Neigung zur allgegenwärtigen Überbietung und zur Manifestation der katholischen Macht jesuitischer Prägung in der geschilderten Auswahl der Widmungsadressaten und in der aufwendigen Titelblattgestaltung. Einzeln betrachtet dienen Titelblatt, Vorrede, Lizenz und Druckprivileg zur Dokumentation der Autorität. In der Summe ergibt sich ein anderes Bild. Dem Leser wird der theologische und der politische Triumph über den Protestantismus angezeigt. Die Titelwahl der zweiten Streitschrift Scherers gegen Oslander belegt dies eindrücklich: Triumph der Warheit/ wider Lucam Osiandrum. Im Kontext der Streitschriftenliteratur mag die im Titel postulierte triumphierende Haltung zunächst übersehen oder als Streittechnik in dem Sinne verstanden werden, daß die Kontroverse zugunsten des jesuitischen Polemikers beschlossen werden soll. Indem der Sieg fur die eigene Position reklamiert wird, hofften die Polemiker, den Gegner in eine Rechtfertigungshaltung zu zwingen, die nur noch auf Abwehr des beanspruchten Sieges ausgerichtet ist. Das mag durchaus primäres Anliegen von Scherers Triumph gewesen sein.108 Auch spricht aus diesem Titel ein zeittypisches Überlegenheitsgefuhl, das ähnlich auf reformatorischer Seite verbreitet war.109 Es ist - dem Titel nach nicht Scherer, der über Oslander obsiegt, es ist die Wahrheit, die immer noch ihren Sitz in der einen, unteilbaren Kirche hat. Damit folgt die Titelwahl einer Tendenz vor allem katholischer Selbstdarstellung, die weniger die Theologie des Gegners angreift, als vielmehr die eigene als triumphierende darstellt. Aus der ecclesia militans wird die ecclesia triumphans. Dem entspricht inhaltlich die weitgehende Loslösung von den gegnerischen Schriften zugunsten einer

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Vgl. Uwe Neumann: Agonistik. In: H W R 1 (1992), Sp. 261-284, bes. Sp. 273-281. Vgl. oben S. 158ff. 106 Zu den theologischen Dimensionen dieses Konzepts vgl. Barbara Bauer: Einleitung. In: Triumphus divi Michaelis. Triumph des heiligen Michael. Einleitung, Übersetzung und Text, Kommentar. Hrsg. von Barbara Bauer, Jürgen Leonhardt. Regensburg 2000 (= Jesuitica, 2), S. 53-59. 107 Vgl. Rädle: Das Jesuitentheater in der Pflicht, S. 192. 108 In diesem Sinne wurde die Schrift bereits interpretiert; vgl. oben S. 158ff. 109 Vgl. etwa die anonyme Schrift: Des Ehrnwirdigen Herrn Doctoris Martini Lutheri/ Gottseligen Triumph. Wittenberg 1568; oder die aus dem gleichen Jahr stammende Abb. 32 bei Oelke: Konfessionsbildung. 105

209 positiven Darstellung der eigenen Theologie und die Zuwendung zum katholischen Leser, die sich bei der Textanalyse des Triumphs und seiner Fortsetzung zeigt.110 Ein Jahrzehnt später erschien in München zur Einweihung der Jesuitenkirche St. Michael eine umfangreiche Festschrift, in der der Triumph-Gedanke mit der wittelsbachischen Dynastie verbunden wird: die Trophaea Bavarica Sancto Michaeli Archangelo [...] dicata.nl Darin wird der Triumph des Erzengels Michael über Luzifer als Allegorie für die triumphierende Kirche wieder und wieder thematisiert. Aus gleichem Anlaß wurde ein Schauspiel verfaßt und inszeniert, das den Triumph-Gedanken sogar im Titel fuhrt: Triumphus divi Michaelis.112 Die triumphale Dimension in katholischen Streitschriften ist Ausdruck eines neuen Selbstbewußtseins gegenüber dem konfessionellen Gegner. Der historischen Situation wird diese Haltung nur bedingt gerecht. Zugegeben, die Gegenreformation war seit den 80er Jahren in Bayern bereits weit fortgeschritten. Deswegen dürfte es kein Zufall sein, daß nicht nur die Festschrift und die Theaterinszenierung zur Einweihung St. Michaels, sondern auch Scherers Triumph betitelte Schrift eng mit der wittelsbachischen Dynastie verknüpft sind - das zeigen die Widmungsvorreden an Wilhelm V. Andererseits war in anderen Teilen des Reiches die Gegenreformation weit weniger erfolgreich, sie ,lahmte', um Oslanders spöttische Reaktion auf Scherers Titelwahl aufzugreifen.113

5. Die sprachliche Dimension: Die Herausbildung der oberdeutschen Literatursprache als Folge der Religionspolemik Es mag seltsam anmuten, wenn in einer literaturwissenschaftlichen Arbeit erst gegen Ende von den .sprachlichen Dimensionen' der religiösen Polemik die Rede ist. Doch erklärt sich dieser Sachverhalt aus den primär rhetorikgeschichtlichen und sodann kulturhistorischen Fragestellungen der Arbeit. Unter sprachlichen Dimensionen' sollen im folgenden zwei Sachverhalte knapp erörtert werden, die im Zusammenhang dieser Arbeit nicht unerwähnt bleiben dürfen, nämlich die Bedeutung der volkssprachlichen Religionspolemik fur den spielerischen Sprachwitz und für die Herausbildung der oberdeutschen Literatursprache. Beide Aspekte wurden mehrfach berührt, ohne daß sie ausführlich thematisiert wurden. Wenn in dieser oder in anderen Arbeiten von Luthers schriftstellerischem Talent die Rede ist, meint das nicht zuletzt seinen Sprachwitz, der seine Schrif-

110 Vgl. oben S. 158ff. i n Trophaea Bavarica = Bayerische Siegeszeichen. Faks. Nachdr. der Erstausg. München 1597 mit Übers, und Kommentar. Bearb. von Thomas Breuer. Hrsg. von Günter Hess, Sabine M. Schneider, Claudia Wiener. Regensburg 1997 (= Jesuitica, 1). 12 ' Bauer, Leonhardt (Hrsg.): Triumphus divi Michaelis; vgl. dazu unten S. 273ff. " 3 Vgl. oben S. 154, Anm. 626.

210 ten von den meisten anderen Streitschriften unterscheidet. Herbert Wolf hat sich mit ,Luthers spielerischem Umgang mit Spracheigenheiten anderer' beschäftigt.114 Da er darin wiederholt den Streit zwischen Luther und Emser thematisiert, dürfte es angeraten sein, exemplarisch einige Wortspiele zu dokumentieren." 5 Das satirische Spiel mit dem Namen des Gegners ist ein prominentes Beispiel für den zum Teil derben Umgang mit dem Gegner, der nicht nur reformatorischen Polemikern eigen ist; zu erinnern ist etwa an Scherers Spiel mit dem eigenen Namen 116 oder mit dem Oslanders.117 Ähnliches gilt für den Titel ,Bock von Leipzig', zu dem Luther in der Kontroverse greift, um sein Spiel mit Emsers Titelwappen zu treiben.118 Im weiteren Verlauf der Kontroverse läßt Luther Auff das vbirchristlich vbirgeystlich vnd vbirkunstlich buch Bocks Emßers zu Leypczick Antwortt ausgehen. Mit diesem Titel wird die Namenssatire fortgeführt und außerdem durch die ironische Wiederholung des Präfixes ,vbir-' 119 die Satire ironisch gesteigert. Die Qualität der Sprachspiele Luthers besteht darin, daß er mit diesem Titel Emsers Stil parodiert, wie Wolf gezeigt hat.120 Bei Emser finden sich Begriffe wie ,vberschwencklich' oder ,vnuberwindtlich',121 also Adjektivbildungen mit dem Präfix ,über-' und dem Suffix ,-lich'. Luther greift diese Eigenart im Stil Emsers in Verbindung mit der Namenssatire im weiteren Verlauf von Auff das vbirchristlich vbirgeystlich vnd vbirkunstlich buch Bocks Emßers zu Leypczick Antwortt auf. Er spottet über die „vbirwunderlich kunst des lieben Bocks",122 um sich über den disputatorischen Aufbau von Emsers Wider das unchristliche Buch Martini Luthers lustig zu machen. Die Parodie wird nicht nur zur Polemik gegen den Gegner genutzt, damit wird außerdem eine Solidarisierung unter den Angehörigen der gleichen Religionspartei betrieben. Im selben Streit wirft Emser Luther zu Beginn seiner Quadruplica vor, dieser habe aus einem theologischen Streit einen ,Jauf 1 2 3

114

Vgl. Wolf: Luthers spielerischer Umgang. Wolf benennt ebd., S. 165f. mehrere Schwierigkeiten, die eine umfassendere Studie zu Luthers Sprachwitz zunächst klären müßte. 115 Das Lachen nimmt in der klassischen Rhetorik eine oft unterschätzte Funktion ein. Quintilian widmet dem Lachen ein ganzes Kapitel: Institutionis Oratoriae libri XII, 6,3. Es wäre zweifellos ein lohnendes Unterfangen die religionspolemischen Schriften einmal im Hinblick auf die Rhetorik des Lachens zu untersuchen. 116 Vgl. oben S. 38. 117 Vgl. oben S. 160 mit Anm. 654. " 8 Vgl. oben S. 76ff. 119 Im Sinne von ,über'. 120 Wolf: Luthers spielerischer Umgang, S. 149f. 121 Emser: Wider das unchristliche Buch, S. 59: „ [...] Wir Tewtschen mit ablegung vberschwencklicher vnkost in Trincken, essen, kleidung, vnd vorwytz frombder außlendischer wahr etc."; sowie S. 141: „Bit hierauff, Ο ir werden [...] vnuberwindtlichen Teutschen, [·••]·" 122 123

Luther: Auff das vbirchristlich vbirgeystlich vnd vbirkunstlich buch, S. 71. Emser: Quadruplica, S. 130; der vollständige Einleitungssatz lautet: „Ein stuck von diser weit vnd yren kindern ist Nämlich, so sie ein ding mit guttem schein nicht wissen tzuuorantwurtten, das sie ein yawff darauß machen, vnd der lewt daran spotten wollen."

211 gemacht, einen groben, verächtlichen Scherz.124 Luther greift Emsers Wortwahl auf und äußert sich in der Replik Ein Widerspruch seines Irrtums zu dem Vorwurf: Da nu solch hohe trefliche ding myr ßo gar nerricht vnd lecherlich waren, wart der treflich man tzornig, vnnd sprach, ich mechte eyn iawff drauß, weyl ichs mit gutem grund nitt widderlegen künde. Alß denn tzwar auch nit billich, viel weniger not ware, das yemant sollt auß solchs trefflichen manß subtilist tichten eyn iawff oder gauch machen.

Luther nennt nicht nur Emsers Vorwurf, er macht sich wiederum über ihn lustig, indem er zusätzlich Emsers Forderung nach mehr Ernsthaftigkeit der Lächerlichkeit preisgibt und sie als groben Scherz abtut. Thomas Murner greift Emsers Wortwahl seinerseits auf und solidarisiert sich dadurch mit Emser. Im Lutherischen Narren (1522) hält er Luther ebenfalls vor, einen ,Jauf zu treiben: „Was nur der luther sagt vnd schreibt, | Sein gespöt vnd iuff darusz treibt."126 Da Emser und Luther wiederholt auf diesen Begriff zurückkommen und sogar auf explizite Ableitungen von ,Jauf zurückgreifen, kann Wolf nur zugestimmt werden, wenn er resümiert, daß „das zunächst einen großen Scherz bezeichnende Lexem geradezu den Rang eines hochstilisierten Kampfwortes" erreicht.127 In den meisten Streitschriften finden sich solche Wortzankereien selbstverständlich nicht, zumal sie den meisten Lesern unverständlich geblieben sein dürften, besonders wenn es zu solch subtilen Solidarisierungen kommt, wie im behandelten Beispiel. Dieser Bereich ist ein lohnendes Forschungsfeld, worauf Jens Haustein hingewiesen hat.128 Der im Hinblick auf den subtilen Wortwitz vielleicht beste katholische Polemiker dürfte der Franziskaner Johannes Nas gewesen sein. Das belegt etwa der Formenreichtum, mit dem Nas Sprichwörter variiert und auf diese anspielt, wie Timothy Nelson gezeigt hat.129 Im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit kann dieser Bereich nicht hinreichend behandelt werden, statt dessen soll auf einen anderen Zusammenhang hingewiesen werden, nämlich auf die Bedeutung der volkssprachlichen Streitschriften für die Herausbildung einer spezifisch oberdeutschen Schriftsprache. Es ist der Arbeit von Dieter Breuer zu verdanken, daß seit etwas mehr als zwei Jahrzehnten die oberdeutsche Literatur des 17. Jahrhunderts ins Blickfeld der germanistischen Barockforschung geraten ist.130 Grundlegend für die oberdeutsche Literatur ist bis ins 18. Jahrhundert - neben dem Lateinischen - die oberdeutsche Gemeinsprache der kaiserlichen Kanzlei sowie in Bayern der landesfürstlichen Kanzlei. Sie verfügte über einen eindeutigen Geltungsbereich, der klar vom obersächsisch-meißnischen Geltungsbereich abgegrenzt werden

124 125 126 127 128 129

130

Vgl. Grimms DWb, Bd. 4,2 (1877), Sp. 2271. Luther: Eyn widderspruch, S. 189. Murner: Von dem großen Lutherischen Narren, V. 3324f. Wolf: Luthers spielerischer Umgang, S. 150. Haustein: Literarisierungsstrategien, bes. S. 341. Timothy Nelson: „O du armer Luther ...". Sprichwörtliches in der antilutherischen Polemik des Johannes Nas (1534-1590). Bern, Frankfort a.M. 1992, bes. S. 75-119. Vgl. Breuer: Oberdeutsche Literatur.

212 kann, was zur bis ins 20. Jahrhundert wirkungsmächtigen Kritik an der oberdeutschen Literatur führte.131 Oberdeutsche Literatursprache darf nicht mit einem der zahlreichen oberdeutschen Dialekte verwechselt werden, vielmehr handelt es sich um Differenzen im Bereich der Schriftsprache, was etwa die Kontroverse um die Apokope des tonschwachen ,e' im 17. Jahrhundert belegt.132 Diese und andere Differenzierungsmerkmale führten zur Herausbildung eigener sprachlicher Normen in den katholischen Territorien mit Auswirkungen auf die oberdeutsche Literatursprache.133 Für unseren Zusammenhang ist die oberdeutsche Literatursprache insoweit von Bedeutung, weil ihre Ursprünge nicht nur bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen, sondern ursächlich aus der sprachlichen Abgrenzung aus religionspolitischen Gründen resultieren. Das äußert sich u.a. darin, daß diese Sprachnormen zeitweilig zur überregionalen Verkehrssprache im katholischen Deutschland wurden - also bis nach Münster und Paderborn.134 Nun mag der Verdacht naheliegen, daß der Verfasser einer Arbeit über das religionspolemische Schrifttum dazu neigt, dessen Bedeutung fur die Herausbildung der oberdeutschen Literatur zu sehr zu betonen. Dagegen bleibt Folgendes anzuführen: Kaspar Schoppe hat in seinen Consultationes™5 oberdeutsche Muster genannt. Neben Reichstagsabschieden nennt er die deutschen Schriften der Jesuiten Scherer und Vetter, die vielleicht schärfsten Polemiker des Jesuitenordens bis zum Beginn des Dreißigjährigen Krieges.136 Die Bedeutung der volkssprachlichen Religionspolemik liegt demnach nicht nur in der Herausbildung der konfessionellen Differenz, sondern gleichzeitig in der Herausbildung einer sprachlichen Differenz zwischen den Konfessionen; ein Resultat, das die frühen Polemiker nicht intendiert, das sie aber befördert haben, indem sie sprachliche Abgrenzung bzw. Solidarisierung betrieben haben.

« ι Vgl. ebd., S. 1-21. ι 3 2 Vgl. ebd., S. 48-50. 133 Vgl. ebd., S. 51-85. Oberdt. Merkmale vor allem in der Lautung: 1. Apokopierung des tonschwachen ,-e': „die Sünd", „seine Gebott". 2. Synkopierung mit nachfolgender Kontraktion bzw. Assimilation: „vil guts", „vmbbracht". 3. Obd. Konsonantenschwund: „nit". 4. Abweichend vom Ostmd. fehlt der Umlaut in: „vbertretten", „vnglaubig". 5. Obd. Konsonantenstand: „scharpff", „durchtringen", „vnder". 6. Obd. Flexionsform: „sie seynd". Alle Angaben nach Breuer: Oberdeutsche Literatur, S. 54f. Vgl. auch Heribert Raab: „Lutherisch-deutsch". Ein Kapitel Sprach- und Kulturkampf in den katholischen Territorien des Reiches. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 47 (1984), S. 15-42. 134 Vgl. ebd., S. 44-48. 135 Vgl. Jaumann (Hrsg.): Kaspar Schoppe; für unseren Zusammenhang darin bes. der Aufsatz zur Publikationsgeschichte der Consultationes von Wolfgang Neuber: .Paedia prudentiae'. Zur Stellung von Kaspar Schoppes ,Consultationes de scholarum et studiorum ratione' in der Geschichte der Pädagogik. Mit einem Ausblick auf Schoppes Amsterdamer Hauptdrucker Joost Pluymer und sein Programm, S. 391^422. 136 Vgl. dazu Breuer: Oberdeutsche Literatur, S. 5f.

III. Religionspolemik und die kollektivierende Wirkung des Streites' Während bisher im Zentrum der Analyse einzelne Religionsstreitigkeiten standen, soll im folgenden der Versuch unternommen werden, die deutschsprachige Religionspolemik des 16. Jahrhunderts als gesellschaftlich-historisches Phänomen zu verorten. Wegen des Gebrauchscharakters der Streitschriften ist dieses Vorgehen angeraten. Anregend sind dafür die Überlegungen von Georg Simmel zur soziologischen Bedeutung des Phänomens ,Streit', dem er in seiner Soziologie (zuerst 1908) ein eigenes Kapitel widmet.137 Simmeis Überlegungen bieten sich aus zwei Gründen an. Zum einen ist die soziologische Betrachtung von gesellschaftlichen Wechselwirkungen zentrales Anliegen seiner Soziologie: Ich gehe [...] von der weitesten, den Streit um Definitionen möglichst vermeidenden Vorstellung der Gesellschaft aus: daß sie da existiert, wo mehrere Individuen in Wechselwirkung treten. Diese Wechselwirkung entsteht immer aus bestimmten Trieben heraus oder um bestimmter Zwecke willen. Erotische, religiöse oder bloß gesellige Triebe, Zwecke der Verteidigung wie des Angriffs [...]. Diese Wechselwirkungen bedeuten, daß aus individuellen Trägern jener veranlassenden Triebe und Zwecke eine Einheit, eben eine „Gesellschaft" wird.138

Wegen der Wechselwirkungen setzt Simmel den Begriff Gesellschaft' in Anfuhrungszeichen und greift in der Regel statt dessen auf den der .Vergesellschaftung' zurück, um deren prozeßhaften Charakter zu unterstreichen.139 Eingangs des Kapitels ,Der Streit' setzt Simmel zu einer Klärung an, die für sein Verständnis von Streit wesentlich ist: Daß der Kampf soziologische Bedeutung hat, indem er Interessengemeinschaften, Vereinheitlichungen, Organisationen verursacht oder modifiziert, ist prinzipiell nie bestritten. Da-

137

Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Hrsg. von Otthein Rammstedt. Frankfurt a.M. 1992 (= Gesamtausgabe, 11), Kap. IV. ,Der Streit', S. 284-382. 138 Ebd., S. 17f. 139 Vgl. dazu Heinz-Jürgen Dahme: Soziologie als exakte Wissenschaft. Georg Simmeis Ansatz und seine Bedeutung in der gegenwärtigen Soziologie. Stuttgart 1981, Tl. 2, S. 361382. Birgitta Nedelmann: Georg Simmel als Klassiker soziologischer Prozeßanalysen. In: Georg Simmel und die Moderne. Neue Interpretationen und Materialien. Hrsg. von HeinzJürgen Dahme, Otthein Rammstedt. Frankfurt a.M. 1984, S. 91-115, bes. S. 93-96. Horst Jürgen Helle: Soziologie und Erkenntnistheorie bei Georg Simmel. Darmstadt 1988, S. 118-127.

214 gegen muß der gewöhnlichen Anschauung die Frage paradox vorkommen, ob nicht der Kampf selbst schon, ohne Rücksicht auf seine Folge- oder Begleiterscheinungen, eine Vergesellschaftungsform ist. [...] Wenn jede Wechselwirkung unter Menschen eine Vergesellschaftung ist, so muß der Kampf, der doch eine der lebhaftesten Wechselwirkungen ist, der in der Beschränkung^ auf ein einzelnes Element logisch unmöglich ist, durchaus als Vergesellschaftung gelten.

Zum anderen sind Simmeis Ausführungen zum Streit fur diese Arbeit einschlägig, weil er gerade wegen seines Interesses am prozeßhaften Wesen des Streits die Binnenwirkung auf die jeweils beteiligten Gruppen nicht vernachlässigt. Im Mittelteil seines Kapitels ,Der Streit' geht er ausfuhrlich darauf ein: „Daneben liegt die weitere soziologische Bedeutung des Streites: die er nicht für das Verhältnis der Parteien zueinander, sondern für die innere Struktur jeder Partei besitzt."141 Um das Wesen der religionspolemischen Kontroversen näher zu fassen, haben wir uns zunächst ihren konkret benennbaren Dimensionen zugewandt und sie näher untersucht. Doch um diese ,Ausmessung' effektiv leisten zu können, wird abschließend eine oberflächliche, ja geradezu positivistische Beschreibung der volkssprachlichen Religionsstreitigkeiten mit Hilfe der Ausführungen Simmeis geleistet. Der Untersuchungsgegenstand wird wie ein fremdes Gestein gedreht und betrachtet, nachdem präzisierende Stichprobenbohrungen abgeschlossen sind. Beginnen wir anachronistisch: Religiöse Streitschriftenwechsel enden in der Regel durch die „bloße Ermüdung am Kampf'. 142 Simmel nennt zahlreiche Möglichkeiten der Streitbeendigung143 - Friedensbedürfiiis, Wegfall des Streitobjekts, Sieg, Kompromiß, Versöhnung führen in aller Regel nicht zur Beendigung von Religionsstreitigkeiten. Die Gründe für deren Beendigung liegen in einer komplizierten Mischung aus drei wesentlichen Momenten. Zunächst einmal kann erstens eine „Ermüdung am Kampf angenommen werden. Diese äußert sich gegen Ende des Streits durch ganz unterschiedliche Merkmale. Die Streitschriften werden umfangreicher. Das ist nicht nur der Rücksicht der Verfasser auf die Leser geschuldet, die nicht alle Streitschriften der Kontroverse gelesen haben, so daß der Inhalt der vorausgehenden Schriften umfangreich rekapituliert werden muß. Ausschlaggebend für den Umfang der Streitschriften gegen Ende einer Kontroverse ist vielmehr die Tendenz, immer grundsätzlicher die eigene theologische Position von der des Gegners zu differenzieren und zu distanzieren. Konkret führt das zu beinahe kontroverstheologischen Handbüchern wie Andreaes Gründliche Erclärung dreyer Hauptartickel Christlicher Lehr, Scherers Triumph und dessen Fortsetzung sowie, mit den genannten Einschränkungen, Brillmachers Brillenkästlein. Außerdem äußert sich die .Ermüdung' in der zunehmenden Distanz zwischen den Gegnern. Der Gegner wird immer seltener angesprochen, statt dessen verfallen die Kontroversisten entwe-

140

Simmel: Soziologie, S. 284. Ebd., S. 349-368, hier: S. 350. i « Ebd., S. 371. 143 Vgl. ebd., S. 370-380. 141

215 der in einen neutralen Berichtsstil, oder sie wenden sich dem Leser zu, indem sie ihn statt des Gegners ansprechen. Zweitens geben zahlreiche Polemiker in ihren Streitschriften Anlaß zur Unversöhnlichkeit.144 Scherers indirekte Forderung nach Hinrichtung Oslanders ist dafür ein extremes Beispiel.145 Bereits in den frühen Kontroversen finden sich zynische oder auch resignative Äußerungen über den Gegner als Ausdruck zunehmender Unversöhnlichkeit. Ein Theologe wie Georg Witzel, der von einer dezidiert reformkatholischen Position aus versuchte, zwischen den streitenden Religionsparteien zu vermitteln,146 nahm in bezug auf Luther kein Blatt vor den Mund und griff diesen direkt an, was wiederum auf lutherischer Seite als Aggression gegen die gesamte Religionspartei gedeutet wurde. Witzel hat sich, wie Cochlaeus,147 ausführlich zu Luthers Schmalkaldischen Artikeln 48 geäußert. In der Antwort auff Martin Luthers letzt bekennete artickel geht Witzel Luther an, ein Beispiel: Es lest sich diese Sachen ansehen, als wolt und solt, weil du [Luther] unseliger lebest, kein einigkeit in christlicher religion auffgericht werden. Du ungerechter wilt in allem recht haben schlecht mit trutz und gewalt. Sol denn die alte liebe kirche so gar aus dem pfad getreten sein, das sie in keinem recht hett denn nur nach deinem blinden urteil? Das wolt Gott nymmermehr. Wir trösten uns der ewigen warheit, die sol dir deinen kopff zertreten und den Goliathischen mut demütigen.

Ermüdung und Unversöhnlichkeit sind lediglich Oberflächenphänomene der religiösen Polemik. Das Fehlen deutlicher Signale zur Streitbeendigung liegt drittens - bereits in den Ursachen begründet, die zum Streit fuhren. Die Ursachen der Religionsstreitigkeiten liegen außerhalb ihrer selbst, denn die grundsätzlichen konfessionellen Differenzen sind mit dem Abschluß einer Kontroverse nicht beendet. Vielmehr gehen sie auf eine wesentliche Ursache der Konfessionalisierung überhaupt zurück. Wolfgang Reinhard hat das prägnant als „Entstehung mehrerer Kirchen mit Absolutheitsanspruch"152 zusammengefaßt. Simmel spricht sogar von ,logischer Unversöhnlichkeit': „Kirchliche Ver-

144

Simmel behandelt die Unversöhnlichkeit primär als individualpsychologisches Phänomen; vgl. Simmel: Soziologie, S. 380-382. Deswegen kommen seine Ausfuhrungen dazu hier nicht zur Geltung. 145 Vgl. oben S. 166f. 146 Barbara Henze: Aus Liebe zur Kirche: Reform. Die Bemühungen Georg Witzeis ( 1 5 0 1 1573) um die Kircheneinheit. Münster 1995 (= Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, 133). 147 Vgl. oben S. 33ff. WA 50, S. 160-254. 149 Im Sinne von ,nur'. '50 Vgl. 1. Mose 3,15. 151 Georg Witzel: Antwort auff Martin Luthers letzt bekennete artickel. In: Drei Schriften gegen Luthers Schmalkaldische Artikel von Cochläus, Witzel und Hoffmeister (1538 und 1539). Hrsg. von Hans Volz. Münster 1932 (= Corpus Catholicorum, 18), S. 65-115, hier S. 65; zur Einführung vgl. ebd., S. X X - X X I I . 152 Wolfgang Reinhard: Was ist katholische Konfessionalisierung? In: Reinhard, Schilling (Hrsg.): Katholische Konfessionalisierung, S. 419—452, hier S. 426.

216 hältnisse geben mit die stärksten Beispiele [für Haß und Unversöhnlichkeit], weil in ihnen die kleinste Divergenz wegen ihrer dogmatischen Fixierung sogleich eine logische Unversöhnlichkeit erhält: wenn überhaupt Abweichung da ist, so ist es begrifflich gleichgültig, ob sie groß oder klein ist."153 Damit liegt im Falle der Religionspolemik ein circulus vitiosus vor, der droht, nicht zur Ruhe zu kommen, weil die .logische Unversöhnlichkeit' den nächsten Widerspruch bereits gebiert - es sei denn, die Kontrahenten verzichten auf neue Streitschriften und trocknen den jeweiligen Streit damit aus, ohne daß der Streitpunkt geklärt ist. Simmel nimmt an, daß die Ursachen des Streites grundsätzlich außerhalb seiner selbst sind, daß es gewissermaßen eine Tiefenstruktur des Streites gibt: „Tatsächlich sind das eigentlich Dissoziierende die Ursachen des Kampfes [,..]." 154 Dem Streit als Vergesellschaftungsform kommt damit gerade keine destruktive Funktion zu. „Ist auf sie [die Ursachen des Streites] hin der Kampf erst ausgebrochen, so ist er eigentlich die Abhülfsbewegung gegen den auseinanderführenden Dualismus, und ein Weg, um zu irgend einer Art von Einheit, wenn auch durch Vernichtung der einen Partei, zu gelangen f...]." 155 Unter ,Einheit' versteht Simmel dabei folgenden Sachverhalt: Als Einheit bezeichnen wir die Übereinstimmungen und den Zusammenschluß gesellschaftlicher Elemente, im Gegensatz zu ihren Entzweiungen, Absonderungen, Disharmonien; eine Einheit aber heißt uns auch die Gesamtsynthese der Personen, Energien und Formen zu einer Gruppe, die schließliche Ganzheit ihrer, in die sowohl jene im engeren Sinne einheitlichen wie die dualistischen Beziehungen einbezogen sind. So fuhren wir das Gruppengebilde, das wir als „einheitlich" empfinden, insoweit auf diejenigen^ seiner funktionalen Bestandteile zurück, die als die spezifisch einheitlichen [...] gelten.

Das fundamentale Problem der religiösen Polemik des 16. Jahrhunderts liegt damit im Absolutheitsanspruch, jeweils nicht etwa irgendeine, sondern eben die christliche Kirche zu sein. Da die politischen Kräfteverhältnisse im 16. und 17. Jahrhundert die „Vernichtung einer Partei" nicht erlaubten, war die radikale, aber auch gängige Lösung des Konfliktes nicht möglich - der militante Ketzerstreit. Damit war der seit dem Mittelalter übliche Weg zur Lösung des Ketzerproblems nicht realisierbar, denn um nichts anderes handelt es sich ja dabei zumindest aus Sicht der katholischen Kirche.157 Doch führten andererseits die institutionalisierten Reunionsbemühungen des 16. Jahrhunderts nicht zum von kaiserlicher Seite gewünschten Ergebnis der kirchlichen Einheit.158 Die Vereinheitlichungsprozesse liefen auf kleinere kirchliche Einheiten hinaus, die Konfessionskirchen sowie die zahlreichen protestantischen Sekten. Dies sind selbstverständlich Idealisierungen und Vereinfachungen des Prozesses. Und es darf 153

Simmel: Soziologie, S. 311. 'S" Ebd., S. 284. 155 Ebd. 15« Ebd., S. 287. 157 Trusen: Rechtliche Grundlagen des Häresiebegriffs. 158 Vgl. Hollerbach: Das Religionsgespräch; Benno von Bundschuh: Das Wormser Religionsgespräch; Fuchs: Konfession und Gespräch.

217

nicht davon ausgegangen werden, daß den volkssprachlichen Religionsstreitigkeiten innerhalb des Konfessionalisierungsprozesses eine zentrale Bedeutung bei der Herausbildung der spezifisch einheitlichen Bestandteile' zukommt. Volkssprachliche Medien waren dafür in keiner Form geeignet und wurden dazu nicht herangezogen. Vielmehr sind die Streitschriftenwechseln neben anderen rhetorischen Medien159 dazu geeignet, die .spezifisch einheitlichen Bestandteile' zu popularisieren. Zentrale Funktion dürfte die emotionale Anbindung an die eigene Gruppe und das Herausbilden eines spezifischen Gruppenbewußtseins sein. Diese emotionale Funktion des Streites darf nach Simmel nicht vernachlässigt werden. Feindseligkeiten „geben Klassen und Persönlichkeiten oft erst ihre gegenseitige Stellung, die diese nicht oder nicht so gefunden hätten, wenn die objektiven Ursachen der Feindseligkeit zwar genau so vorhanden und wirksam gewesen, aber nicht von dem Gefiihle und den Äußerungen der Feindschaft begleitet wären."160 Simmeis Forderung, den Streit als Vergesellschaftungsform zu betrachten, ergibt ferner die Konsequenz, den emotionalisierenden Streittechniken in diesem Prozeß einen wesentlichen Anteil zuzusprechen. Die unternommenen Versuche, Aversion161 gegen den Gegner zu schüren, Antipathien162 gegen ihn zu befördern und ihn zu stigmatisieren,163 sind damit nicht als destruktive, sondern als konstruktive Elemente der religiösen Streitigkeiten zu beurteilen, weil sie die im Entstehen begriffene Religionspartei maßgeblich durch Abgrenzung und Betonung der spezifisch einheitlichen Elemente der eigenen Gruppe befördern. Dadurch läßt sich aber nicht erklären, warum die Streitschriften dafür das bevorzugte Medium waren - warum nahmen die Polemiker immer wieder Bezug auf gegnerische Polemiken und verzettelten sich in langatmigen Kontroversen? Eine umfassende Antwort auf diese Frage läßt sich nicht finden. Es ergeben sich aus einigen Beobachtungen erste Antworten. Es entsteht bei einer Arbeit über Streitschriften vielleicht der Eindruck, permanent habe jeder gegen jeden polemisiert.164 Das war nicht der Fall, vielmehr wurden die Gegner sorgfaltig 159 160 161

162

163 164

Dazu im folgenden S. 225ff. Simmel: Soziologie, S. 289. Simmel versteht ebd., S. 290 unter Aversion „das Gefühl einer gegenseitigen Fremdheit und Abstoßung, die in dem Augenblick einer irgendwie veranlaßten nahen Berührung sogleich in positiven Haß und Kampf ausschlagen würde." Aversionen schürt beispielsweise Scherer gegen Oslander in der Fortsetzung des Triumphs, indem er zu dessen Hinrichtung aufruft; vgl. oben S. 166f. Simmel: Soziologie, S. 290, nennt Antipathie „das Vorstadium des praktischen Antagonismus". Beredetes Beispiel dafür sind die zwei Warnungen Oslanders gegen den Jesuitenorden; vgl. oben S. 134ff. Zur Streittechnik des Stigmatisierens vgl. oben S. 160f. Obwohl sich zahlreiche Abläufe und Streittechniken in Streitschriftenwechseln äußerst regelhaft wiederholen und der Gegenstand als letztlich theologisches Phänomen es nahelegen könnte, kommt es nicht zu einer eindeutigen Ritualisierung der religiösen Polemik im Sinne der Ritualforschung zum Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit; vgl. Barbara Stollberg-Rilinger: Zeremoniell, Ritual, Symbol. Neue Forschungen zur symbolischen Kommunikation in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. In: Zeitschrift fur Historische Forschung 27 (2000), S. 3 8 9 ^ 0 5 ; Edward Muir: Ritual in Early Modem Europe. Cambridge

218 ausgesucht. Luther hat auf Cochlaeus lediglich in einem einzigen Fall reagiert,165 während dieser mehrere Dutzend deutsche und lateinische Streitschriften gegen ihn veröffentlicht hat. Zahlreiche Kontroversen enden, bevor sie richtig begonnen haben. So publizierten die lutherischen Theologen Alexander Utzinger und Jacob Heerbrand auf den Lutherischen BettlerMantel des Jesuiten Georg Scherer jeweils eine Replik, auf Scherers Erwiderungen gingen sie nicht ein.166 Ergänzend muß die Tendenz, den ursprünglichen Streitgegenstand und -punkt zunehmend aus den Augen zu verlieren und den Streit zu personalisieren, berücksichtigt werden. Sie führt zu der These, daß von einer gezielten Auswahl der Streitgegner ausgegangen werden muß und daß ein voll entfalteter Streit Ausdruck dafür ist, daß der jeweilige Streitgegner als Repräsentant seiner Gruppe im eigenen wie im gegnerischen Lager akzeptiert ist. Das sagt über seine Beurteilung innerhalb der eigenen Partei wenig. Für Luther repräsentiert Emser eine überholte, teilweise verkommene, auf jeden Fall aber konsequent papsttreue Scholastik. Emser wurde am Dresdener Hof gewiß anders beurteilt. Scherer steht in Oslanders Streitschriften für das blutdürstige Jesuitentum, unabhängig von seiner Stellung innerhalb des Ordens oder am Wiener Hof. Vor diesem Hintergrund bietet ein Streit zahlreiche Gelegenheiten zur „Suggerierbarkeit der feindseligen Stimmung".' 67 Simmel geht davon aus, daß es ein „primäres Feindseligkeitsbedürfnis"168 des Menschen gebe, was er durch folgendes Beispiel belegt: „Es gelingt dem Durchschnittsmenschen im allgemeinen sehr viel schwerer, einem andern ebensolchen Zutrauen und Neigung für einen Dritten, bisher Gleichgültigen, einzuflößen, als Mißtrauen und Abneigung."169 Vielleicht würde Simmeis Beurteilung dieses Verhaltens heute nicht als anthropologische Konstante bewertet werden, darum muß es hier auch nicht gehen. Für unseren Zusammenhang ist nicht der Ursprung dieses Feindseligkeitsbedürfnisses von Bedeutung, sondern Simmeis Betonung der möglichen Indienstnahme dieses Verhaltens für das Gruppengefüge. Zwischen den Gruppen ergibt sich in aller Regel ein Abbruch von Beziehungen, das Sichzurückziehen

1997; zur Einfuhrung: Ritualtheorien. Hrsg. von Andrea Belliger, David J. Krieger. Opladen 1998. 165 Luther: Adversus armatum virum Cokleum. 166 v g l . Scherer: Der Lutherische BettlerMantel; darauf Alexander Utzinger: Vom schlimmen losen Bettlers Mantel/ des Wienischen Scherers/ zu Wtirtz Burgk newlich/ als ein hochmeisterlich Wunderkleid/ nachgeflickt und außgesprenget. Schmalkalden 1588; Jakob Heerbrand: Außklopfung/ Deß von Jörn Scherern/ Jesuiten/ zusammen geflickten/ Lutherischen Bettlersmantels. Tübingen 1588. Scheres Reaktionen: Georgen Scherers Antwort/ Auff die zwey vnuerschämbte vnd Ehrenschmähende Famos, Schandt= vnd Lastercharten/ M. Alexanders Vtzingens/ eines Predicanten zu Schmalkalden [zuerst 1588], In: ders.: Erster Theil, Bl. 392 r -454 v ; ders.: Sibenzehen fumemmer Streitarticul vnsers heiligen Christlichen Glaubens/ weitläuffig vnd verständlich erörtert vnd erleutert: Wider die vngeschickte/ vnd vnmaisterliche Außkloppfung/ des Lutherischen Bettlermantels Iacobi Heerbrandi. Inn forma Apologiae verfasset Durch Georgium Scherer/ Societatis IESV Theologum [zuerst 1590], In: ebd., Bl. 460 r -645 v . 167

Simmel: Soziologie, S. 300. Ebd. i « Ebd. 168

219 und Vermeiden von Berührungen"170 als Folge der Feindseligkeiten. Damit formuliert Simmel ein substantielles Merkmal des Streites: Er wird zwischen einzelnen Repräsentanten ausgetragen, und je deutlicher die Gruppen, die sie repräsentieren, voneinander getrennt sind, um so schärfer wird der Streit geführt. Das gilt für die Auseinandersetzung zwischen Andreae und Staphylus wie für die Kontroverse zwischen Oslander und den zwei Jesuiten.171 Es muß berücksichtigt werden, daß volkssprachliche Streitschriftenwechsel den Prozeß der eigentlichen Konfessionalisierung lediglich begleiten, wenn sie ihm nicht gar nur nachgelagert sind. Damit stellt sich abschließend die Frage, was Folge und Ziel der Religionsstreitigkeiten waren. Die Kehrseite des Absonderungsprozesses der Parteien voneinander ist die Binnenwirkung des Streites. Wesentlich für die Gruppe ist nach Simmel die Konzentration aller Energien auf die Abwehr des Gegners, was zu einem ,SichZusammennehmen' führe, das ohne den Konflikt nicht notwendig sei.172 Wichtig ist dabei, daß dies nicht nur für die direkten Kontrahenten, sondern für die gesamte Gruppe gilt. Simmel nennt dieses Verhalten die „Notwendigkeit der Zentralisierung",173 ohne die ein erfolgreicher Ausgang des Streits nicht zu erwarten sei. Diese Tendenz zur Zentralisierung äußert sich u.a. in der Vereinnahmung angeblicher Vorgänger für die eigene Sache. Die Jesuiten berufen sich auf Autoritäten aus der vortridentinischen Zeit in Ermangelung zuverlässiger volkssprachlicher Streitschriften von Ordensmitgliedern.174 Bezeichnenderweise vermeiden sie dies nach Möglichkeit, wenn sie theologische Fragestellungen erörtern und erklären - den informierten Zeitgenossen waren zahlreiche theologische Äußerungen etwa von Cochlaeus oder Witzel bekannt, die nicht mit

™ Ebd., S. 302. 171 Der Streit zwischen Luther und Emser enthält stärkere Konkurrenzelemente als der zwischen Staphylus und Andreae und der zwischen Oslander und den beiden Jesuiten. Diese letzteren Kontroversen unterliegen dem Einfluß der konfessionellen Ausdifferenzierung. Wie wenig eine direkter Angriff das geeignete Mittel zur Auseinandersetzung mit dem konfessionellen Gegner ist, wenn der Abbruch der Beziehungen nicht möglich ist, zeigt das Beispiel aus dem Münsterland. Obwohl Johann von Münster als Calvinist zweifellos als Ketzer hätte angegangen werden können, wählt Brillmacher den Umweg, einen Feind außerhalb der gemeinsamen Landschaft zu suchen, im dargestellten Fall den Bremer Pezel; vgl. oben S. 177ff. Brillmacher ist stärkeren Konkurrenzbedingungen unterworfen als seine Mitbrüder Rosenbusch und Scherer. Dieser Streit unterscheidet sich von dem zwischen Staphylus und Andreae sowie dem zwischen Oslander und den beiden Jesuiten durch Konkurrenzmomente; vgl. zur .Konkurrenz' in einer Art Ausblick Simmel: Soziologie, S. 323-349. Konkurrenz ist nach Simmel als , indirekter Kampf „um einen und denselben Kampfpreis" (S. 323) zu beurteilen. Auf unsere Beispiele bezogen heißt das, daß die Verfasser von Streitschriften mit starken Konkurrenzmerkmalen vermutlich für ein gemeinsames Publikum schreiben, das nicht eindeutig konfessionell gebunden ist. 172 Simmel: Soziologie, S. 350. i " Ebd. 174 Zu denken ist etwa an das explizite Lob, das Eck und Cochlaeus durch Bellarmin erfahren; vgl. Burkhardt: Eck in der Geschichtsschreibung, bes. S. 19.

220 dem Tridentinum vereinbar waren.175 Durch die Namensnennung von vortridentinischen Luthergegnern unternehmen sie im Einzelfall eine ahistorische Vereinnahmung von äußerst unterschiedlichen theologischen Positionen.176 Simmel betont, daß diese „scheinbare Toleranz" zur Herstellung einer gewissen „Elastizität [...] von äußerster Wichtigkeit" sei.177 Oberstes Vereinheitlichungsziel in den Streitschriften ist damit nicht ein auf Argumente, sondern ein auf Fundamentalopposition gegen Luther bzw. das Papsttum und die Jesuiten begründetes Prinzip zur Erlangung einer möglichst geschlossenen Einheitsform'. 178 Das relativiert den Umfang, der theologischen Erörterungen in den Streitschriften eingeräumt wird. Wenn die untersuchten Streitschriftenwechsel der Tendenz nach gegen Ende zur kontroverstheologischen Ausschweifung neigen, widerspricht dies der Beobachtung der Fundamentalopposition keineswegs. In den ersten Streitschriften wird zunächst diese Fundamentalopposition gefestigt, indem der jeweilige Kontroversist den Gegner ohne Rücksicht auf Ansehen und Richtigkeit seiner Vorwürfe angreift.179 Erst im Anschluß wendet er sich der eigenen theologischen Position zu und geht zur sachlichen Darstellung über. Dieses Vorgehen findet sich in nuce in den Einzelschriften wieder. Während Vorreden und Widmungen, aber auch die narratio des Haupttextes in der Regel zur scharfen Polemik genutzt werden, dominieren im weiteren Textverlauf oft sachlich verfaßte Abschnitte. Argumentierende Textabschnitte dürfen nicht mit partieller Nachgiebigkeit verwechselt werden. Wenn etwa Jacob Andreae gegenüber Staphylus seelsorgerliche Milde demonstriert oder Brillmacher auf den Ketzervorwurf gegen den Calvinisten von Münster verzichtet, muß dieses Verhalten als Streittechnik beurteilt werden, die durch die demonstrierte Milde

175

Die lateinische Ausgabe von Cochlaeus' Widerlegung der Schmalkaldischen Artikel (zuerst 1546 bei Alexander Weissenborn in Augsburg) wurde 1581, also beinahe 30 Jahre nach seinem Tod, auf den Lissaboner und auf den spanischen Index librorum prohibitorum gesetzt; vgl. Volz in: ders. (Hrsg.): Drei Schriften gegen Luthers Schmalkaldische Artikel, S. XIXf. Witzel vertritt in seiner Schrift gegen die Schmalkaldischen Artikel gar eine teilweise Aufhebung des Zölibats; vgl. ebd. S. 108f. Zur Vielfalt der katholischen Indices vgl. Tortarolo: Zensur als Institution und Praxis, S. 280-283. 176 Der Jesuit Scherer zitiert bei Bedarf auch Erasmus und reiht diesen damit in die Gruppe der katholischen Luthergegner ein; vgl. etwa ders.: Rettung, S. 20f. 177 Simmel: Soziologie, S. 355. Ebd. führt er aus: „Die katholische Kirche befand sich eigentlich von je in einem doppelten Kriegszustand: gegen den Komplex mannigfaltiger Lehrmeinungen, die zusammen das Ketzertum bilden, und gegen die Lebensinteressen und -potenzen neben ihr, die ein von ihr irgendwie unabhängiges Machtgebiet beanspruchen. Die geschlossene Einheitsform, derer sie in dieser Lage bedurfte, gewann sie dadurch, daß sie Dissidierende doch noch so lange wie irgend möglich als sich zugehörig behandelte, von dem Augenblick an aber, wo dies nicht mehr möglich war, sie auch mit einer unvergleichlichen Energie von sich stieß." i™ Vgl. ebd. 179 Vgl. in diesem Zusammenhang etwa Luthers erste Erwiderung auf Emser. Luther wartet nicht einmal das Erscheinen des gesamten Buches ab, sondern reagiert allein auf der Basis der ersten beiden Druckbögen; vgl. oben S. 76ff.

221 darauf zielt, die gegnerische „Einheit des Zusammenhaltes"180 anzugreifen, indem die Fragwürdigkeit des gegnerischen Feindbildes destruiert werden soll. Religionspolemische Schriften sind damit Texte, die sich zunächst an die Angehörigen der eigenen Konfession richten, ihren Verfassern geht es um die „kollektivierende Wirkung des Streites"181 und weniger um die Überzeugung des Gegners. Und je aggressiver eine Streitschrift verfaßt ist, desto stärker droht der Ausschluß von unentschiedenen Lesern. Während sich Feindschaft innerhalb der Religionspartei, nach Simmel der Gruppe, vereinheitlichend auswirkt,182 zwingt sie die Zweifler und Zauderer aus der Gruppe. Für sie bleibt kein Platz im religionspolemischen Antagonismus.183

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Simmel: Soziologie, S. 359. Ebd., S. 363. 182 vgl. ebd., S. 364: „Je reiner negativ oder destruktiv eine Feindschaft ist, desto leichter wird sie eine Verbindung unter solchen zustande bringen, für deren Gemeinsamkeit sonst jegliches Motiv fehlte." 183 Ein konfessionelles Bewußtsein hat sich erst allmählich aus Toleranz und meist sogar Ignoranz in konfessionellen Angelegenheiten heraus entwickelt; vgl. Schmidt: Konfessionalisierung, S. 103-106. 181

TEIL III: MEDIEN DER GLAUBENSPROPAGANDA

Polemik in anderen Medien der propagatio fidei: Seelsorge, Psychagogik, jesuitischer Humanismus Nachdem wir uns ausführlich den religionspolemischen Schriften zugewandt haben, soll in einem zweiten, knapperen Teil ein vergleichender Blick auf andere Gattungen und Medien im Dienste der Glaubenspropaganda geworfen werden. Das kann nicht erschöpfend geleistet werden. Dieses Kapitel versteht sich zum einen als grundlegende Verortung der Streitschriften im Feld dieser rhetorischen Medien - im Zentrum stehen dabei, wie bisher, Schriften katholischer Verfasser. Obwohl eine Erforschung der rhetorischen Zweckformen bereits 1970 in der grundlegenden Barockrhetorik von Wilfried Barner angemahnt1 und von ihm einige Jahre später die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Streitschriften und Theater aufgeworfen wurde,2 steht in der germanistischen Literaturwissenschaft eine Darstellung aus, wie sie in diesem Teil in Angriff genommen wird. Das gilt jenseits der seelsorgerlichen Gattungen gleichfalls für zahlreiche andere rhetorische Zweckformen und Medien. So harren die gedruckten Dissertationen und Disputationen weiterhin einer ausführlichen rhetorikgeschichtlichen Bearbeitung.3 Da der vorliegende Überblick lediglich vorläufigen Charakter beansprucht, geht es in diesem dritten Teil zum anderen darum, weitere Forschungsperspektiven aufzuzeigen und anzuregen. Dieser Überblick ist weniger im Sinne einer exakten Zuweisung von Orten in einer Matrix der rhetorischen Medien und auch nicht qualifizierend im Sinne einer exakten Funktionszuweisung zu verstehen - dazu wären ausfuhrlichere Studien notwendig. Vielmehr soll den polemischen Gemeinsamkeiten der im folgenden untersuchten Gattungen und Medien mit den Streitschriften nachgespürt werden, weil erst dadurch eine grundsätzliche Unterscheidung möglich wird. Der Umfang der Übereinstimmung gliedert dabei diesen dritten Teil. Am Anfang werden weitere Zweckformen behandelt, zuerst namentlich die Textsorten, die sich der gedruckten Streitschrift besonders annähern, Konversionsberichte und Predigten. Danach geht es um Lieder, Gebete und Theater - die Schnittmenge reduziert sich auf einzelne Schnittpunkte.

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3

Vgl. Bamer: Barockrhetorik, S. 78-85. Vgl. Barner: Streitschriften und Theater. Vgl. dazu Barner: Barockrhetorik, S. 393-407.

I.

Konversionsberichte: Streitschriften zwischen Bekenntnisdrang und kontroverstheologischer Sachlichkeit

Es mag überraschen, daß hier nicht an erster Stelle die Predigt steht, die schon so vielfaltige Erwähnung fand. Vielmehr gilt es zunächst, auf Konversionsberichte einzugehen. Das hat einen besonderen Grund. Es gibt im 16. Jahrhundert zwei Varianten von Konversionsberichten. Und besonders die eine Variante kann mit den Mitteln der rhetorischen Textanalyse nicht von den volkssprachlichen Streitschriften abgegrenzt werden. Sie folgt dem gleichen Aufbau, sucht nach Möglichkeit in den Widmungsvorreden, die Gunst prominenter Förderer des Glaubens zu gewinnen, und ist von sehr unterschiedlicher Länge, dementsprechend nicht bemerkenswert kurz oder lang. Inhaltlich unterscheidet sie sich nur bedingt von anderen Streitschriften. Das ist das wesentliche Ergebnis meiner Untersuchungen, das im folgenden anhand einiger Beispiele dargestellt wird. Fidel Rädle hat in seinem knappen, aber grundlegenden Aufsatz über .Konversion' auf den in aller Regel vorliegenden „Bekenntnisdrang" und die Neigung zur vielfachen Rechenschaft' hingewiesen, der sich in zahlreichen Texten des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit finden läßt.4 Die Einzelfallanalysen, die sich im Tagungsband von Niewöhner und Rädle anschließen, bestätigen seinen Befund. 5 Dem von Rädle skizzierten Muster folgt die vermutlich frühere Variante der katholischen Konversionsberichte. Es wird kein Zufall sein, daß ein eindrucksvolles Beispiel von einem der ersten Konvertiten ins katholische Lager überhaupt, von Theobald Thamer (1502-1569), stammt. Vermutlich entspricht der starke Bekenntnisdrang, den wir sogleich bei ihm sehen werden und der in späteren Konversionsberichten gefestigterer Katholiken geringer ausgeprägt ist, dem der .gewesenen Mönche'. 6 Thamer hatte in Wittenberg studiert und war im 4 5

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Rädle: Konversion. Vgl. Fidel Rädle: Wie ein Kölner Jude im 12. Jahrhundert zum Christen wurde. Hermannus quondam Iudaeus ,De conversione sua'. In: Niewöhner, Rädle (Hrsg.): Konversionen, S. 9-24; Johannes Schilling: „Konversionen" in der frühen Reformationszeit. In: ebd., S. 43-57. Vgl. den in der vorherigen Anm. genannten Aufsatz von Johannes Schilling. Luthers berühmte Initialschrift zu den Klosteraustritten, De votis monasticis von 1521, harrt weiterhin einer grundlegenden philologischen Studie; vgl. dazu Johannes Schilling: Gewesene Mönche. Lebensgeschichten in der Reformation. München 1990 (= Schriften des Historischen Kollegs, Vorträge 26). Schilling weist hier S. 7-15 exemplarisch nach, daß Luthers Widmungsbrief an den Vater das „Modell" (S. 10) für weitere Schriften gab. Zu den

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Schmalkaldischen Krieg als Kriegsprediger tätig. Seine K o n v e r s i o n m u ß d i f f e renziert betrachtet werden. Er trat A n f a n g der 50er Jahre zwar zur katholischen Kirche über und war in Minden, M a i n z und Freiburg i.Br. als Geistlicher tätig. D e s w e g e n stand er aber nicht e t w a fest auf ihrem d o g m a t i s c h e n Fundament. 7 D a s muß uns g l e i c h w o h l nur am R a n d e interessieren, im f o l g e n d e n soll e s u m die Frage gehen, w i e Thamer seine Konversion im Text verarbeitet. B e m e r k e n s wert ist zunächst der Titel seines B u c h e s : Warhafftiger Beriecht/ Theobald! Thameri/ von den Iniurien vnd Lästerungen/ welche ihme die Lutherischen deßhalb falsch vnd vnchristlich zumessen/ das er den Glauben mit guten wercken des menschens gerechtigkeit setzet/ vnd in sanct Bartholomes steifftkirchen zu Franckfurt amb Mäen disen allso bis ins dritt jar geprediget vnd bekent hat/ wie denn davon hierinn auch fürnemlich wirt gehandelt vnd angezeigt. D i e Konversion findet keinerlei Erwähnung, vielmehr geht es laut Titel u m die Angriffe, die Thamer v o n reformatorischer Seite w e g e n seiner B e t o n u n g der guten Werke erleiden mußte - ein seit der frühen Reformation wirkungsmächtiger Streitpunkt der religiösen Polemik. Der Titel ist, nicht zuletzt w e g e n der u m Sachlichkeit bemühten B e n e n n u n g als Wahrhafftiger

Beriecht,

wie unzählige

andere Streitschriften gehalten. Im deutlichen Kontrast dazu steht der Inhalt d e s Buches. Es ist ausschließlich eine persönlich gefärbte Schilderung der vergang e n e n Jahre, die mit Thamers K o n v e r s i o n einsetzt („Der erste Artickel/ w i e ich k o m m e n bin zur Christlichen Gemeindte") und seinen weiteren L e b e n s w e g und seine A n f e i n d u n g e n schildert. Ausgangspunkt der Darstellung ist seine Tätigkeit als Feldprediger i m Schmalkaldischen Krieg: 9 Als wir vor fünff jaren in dem jämerlichen vnd eilenden kriege wider Kay: Maiesteet zu feld lagen/ das Euangelium wie wir meineten zuuerthedigen/ begab es sich im anfang etlich mal/ das ich hin vnd wider gienge das vermeynete Euangelisch kriegßuolck zubeschawen/ gleich wie sichs dann geburt/ das ein hirt oder seelsorger acht habe auff sein schäflin so ihm befohlen [...]. Aber lieber Gott/ ich sähe das ich von hertzen erschrack/ vnd befands/ vil anders dann ich gehoffet hette [...]/ dann sie gaben für die göttliche liebe gegen seinem

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Berichten in Flugschriften von bzw. über Nonnen, die aus dem Kloster austraten, vgl. Antje Rüttgardt: Die Diskussion um das Klosterleben von Frauen in Flugschriften der frühen Reformationszeit. In: ,In Christo ist weder man noch weyb'. Frauen in der Zeit der Reformation und der katholischen Reform. Hrsg. von Anne Conrad. Münster 1999 (= Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung, 59), S. 69-94. Vgl. zur theologischen Position Thamers Mennecke-Haustein: Konversionen, bes. S. 248252. Vgl. ferner Irena Backus: Theobald Thamer. In: Bibliotheca Dissidentium. Repertoire des non-conformistes religieux des seizieme et dix-septieme siecles. Edite par Andre Seuenny. Textes revus par Jean Rott. Baden-Baden 1982, Bd. 3, S. 71-149. Theobald Thamer: Warhafftiger Beriecht/ Theobaldi Thameri/ von den Iniurien vnd Lästerungen/ welche ihme die Lutherischen deßhalb falsch vnd vnchristlich zumessen/ das er den Glauben mit guten wercken des menschens gerechtigkeit setzet/ vnd in sanct Bartholomes steifftkirchen zu Franckfurt amb Mäen disen allso bis ins dritt jar geprediget vnd bekent hat/ wie denn davon hierinn auch fürnemlich wirt gehandelt vnd angezeigt. O.O. 1552, das verwendete Berliner Exemplar Dg 5414 ist teilweise beschädigt. Eine Inhaltsangabe bei Backus: Theobald Thamer, S. 111-113. Als ergänzender vierter Teil zum Wahrhafftigen Beriecht erschien 1552 Das letzte theil, vgl. ebd., S. 113-117.

228 wort vnd Christlich glaub zwänge sie solichen schrecklichen krieg zufuhren/ so ihr doch der merer thail nichts anders im gründe suchten dann eygen nutz/ [...].

In dieser narratio bereitet Thamer den Leser auf seine Konversion vor. Er zählt sich zunächst ausdrücklich zum evangelischen Lager („wir") und nennt das Kriegsziel, dessen Berechtigung er durch die Parenthese umgehend in Zweifel zieht („das Euangelium wie wir meineten zuuerthedigen"; Hervorhebung v. Verf.). Er sieht sich bitter enttäuscht, was er durch einen Entsetzen signalisierenden Zwischenruf („lieber Gott") hervorhebt, um die .wahren' Ursachen der Lutherischen zu benennen (,.nichts anders [...] dann eygen nutz"). Damit nennt Thamer den Beginn der Entzweiung, ohne daß er sich bereits endgültig von den Evangelischen absetzt. Er schildert seinen Eifer, um die Soldaten zur Einsicht zu bewegen." Es folgt der eigentliche ,Konversionsakt': Wie ich nu ein solch rohes leben/ vnd gantz vnd gar kein besserung weder bei grossen noch kleinen hansen vernam/ sonder das es ye lenger ye ärger ward/ da trawret ich von hertzen/ vnd batte Gott vnd vnsem Herren Christum tag vnd nacht/ er wolt sich mein erbarmen vnd auß disem jammertal erlösen/ [...]. Als ich nu fleissig in der h. schrifft suchet vnnd trachtet/auch ahnklopffi vnd batte/ da fand ich auch/ vnnd war mir auffgethon [...].

Thamer gestaltet die Darstellung seiner Konversion im direkten Rekurs auf die Bibel und als göttliche Tat. Auf die persönliche Einsicht in das gegenwärtige Jammertal sei intensive Lektüre des Evangeliums gefolgt, die in der Bestätigung des Versprechens Christi gipfelt: „klopft an, so wird euch aufgetan" (Mt 7,7; Lk 11,9). Die Konversion wird zum Gnadenakt Gottes, der jedoch nicht ohne Einsicht und Bußbereitschaft des Gläubigen denkbar ist. Thamers Wahrhafftiger Beriecht ist damit letztlich eine confessio, die zwar im Gewand des neutralen Berichtens daherkommt. Jenseits des Titels findet der Leser aber eine zutiefst persönlich gehaltene Darstellung der Konversion des Autors. Um so bemerkenswerter ist es, wenn spätere Berichte von konvertierten Lutheranern ein anderes Bild zeitigen. Im Kapitel zum Streit um Staphylus' ,Luther-Theologie' ist wiederholt gezeigt worden, daß zwar der Skandal der Konversion im Hintergrund der Kontroverse steht, doch findet sie nur punktuell Berücksichtigung im Streitverlauf. Die beste Kennerin der Schriften von Staphylus, Ute Mennecke-Haustein, bestätigt diesen Befund dahingehend, daß sie dem konvertierten Melanchthon-Schüler „die Tendenz [...], sein religiöses Engagement für die reformatorische Sache zu verschleiern", und „das Bestehen auf der Kontinuität seiner inneren Haltung" attestiert.13

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Thamer: Warhafftiger Beriecht, ohne Blattzählung, nach Lagenzählung Bl. Aiiij'f. Ebd., nach Lagenzählung Bl. Aiiij v f.: „Derwegen ergrimmet ich in mir selber/ vnd in meinem predigen ermanet ich auffs ernstlichst/ wir hiessen vns Euangelisch/ vnnd solten sein ein seminarum oder samen/ auß welchem noch andere Christen erwachsen solten vnnd zum rechten glauben kommen [...]. Solichs vnd dergleichen vilmehr/ so ietzund nicht von nötten ist zu erzählen/ hab ich offt/ das waißt Gott/ mit grossem eiffer geleret/ aber der ain flucht mir dran/ der ander verlachets als ein vnnütz geschwetz vnd merlein [...]." Ebd., nach Lagenzählung Bl. B r f. Mennecke-Haustein: Staphylus, S. 75.

229 Wie Thamer und Staphylus studierte Caspar Franck (1543-1584) in Wittenberg (seit 1561, magister artium 1564). Nur vier Jahre später wurde er katholischer Priester, 1572 Pfarrer in Ingolstadt, wo er weitere vier Jahre später Professor der Exegese wurde. Die Parallelen zum Lebenslauf von Friedrich Staphylus liegen auf der Hand. Caspar Franck hat - im Gegensatz zu Staphylus - seine Konversion in einem volkssprachlichen Buch ausführlich dargestellt: Klare vnd Gründtliche vrsachen WArvmb M. Caspar Franck/ Von der Sect/ zu der allgemeynen Chritlichen vnd Römischen kirchen getretten.'4 Das Buch erschien etwa gleichzeitig mit dem Beginn seiner Priesterschaft, ist damit Zeugnis der Konversion, was Franck durch die Betonung der Exemplarität seiner Konversion bereits im Titel unterstreicht (Beyden/ Päpstischen vnnd Lutherischen/ nutzlich zulesen). Doch wer eine umfangreiche (über 400 Seiten!), biographisch eingefarbte Dokumentation seiner Konversion erwartet, der sieht sich getäuscht. Franck eröffnet sein Buch mit einer eschatologisch gefärbten Polemik gegen die ,falschen Propheten': „Was ist es aber fur ain elender handel/ vnd ewiger schad/ solchen abtrinnigen leüten/ vnnd lugenhaffiigen Sectischen Geistern/ so leichtlich glauben/ vnd inen seine ewige wolfart vertrawen."15 Er lobt Herzog Albrecht von Bayern und den kaiserlichen Rat Martin Eisengrein,16 auf den wir noch zurückkommen. Was folgt, ist dagegen keinesfalls von Bekenntnisdrang im Stil Thamers geprägt - zumindest nicht, wenn dafür ein eindeutig persönlich gehaltener Text als konstitutiv angenommen wird, der mit ähnlichen rhetorischen und stilistischen Mitteln gestaltet ist wie der Thamers. Franck stellt in zwanzig Kapiteln das Wesen der einigen und unfehlbaren, also katholischen Kirche dar. Diese in weiten Teilen um Sachlichkeit bemühte, kontroverstheologisch äußerst differenzierte Begründung mündet in eine Schlußbetrachtung ein: „Wie will ich wissen wölcher thail recht/ wölcher vnrecht/ wölcher Gottes wort rayn vnd lauter/ wölcher es falschlich gebraucht/ damit ich nicht schändtlich betrogen werde/ Ich erforsche den/ ob ihr new fürgebrachte lehr [die protestantische Lehre]/ so ain lange zeyt (wie sie fürgeben) verborgen gelegen [...]."17 Selbst hier, gegen Ende seines Buches, wo nach den Regeln der Rhetorik eine affektive Schlußbetrachtung angeraten wäre, vermeidet Franck eine persönlich gehaltene Betrachtung und bemüht sich um eine sachliche und verständliche Darstellung der theologischen Gründe seiner Konversion. Zwar verzichtet er nicht auf übliche Topoi der Ketzerpolemik: „Darumb weil Gott alle zeyt ain ainige Kirch gehabt/ vnd sein schall in alle weit außgangen/ so müssen warlich allzeyt Kirchendiener vnd Seelsorger geweßt sein/ wölche ihre schäflein/ auß

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Caspar Franck: Klare vnd Gründtliche vrsachen WArvmb M. Caspar Franck/ Von der Sect/ zu der allgemeynen Chritlichen vnd Römischen kirchen getretten/ Auch/ vermitelst Göttlicher gnaden/ bis an sein end darbey zuuerharren gedacht ist. V N D Alle andere/ so nit Ewig wollen verloren sein/ seinem Exempel nachfolgen sollen. Sampt erklärung der fürnembsten yetziger zeyt strittigen artickeln: Beyden/ Päpstischen vnnd Lutherischen/ nutzlich zulesen. Ingolstadt 1568. 15 Ebd., Bl. 13'. 16 Vgl. ebd., Bl. 15v. 17 Ebd., Bl. 206 v .

230 Gottes wort gewaydet/ vnd für den Ketzern vnd reissenden Wölfen beschützet/ vnnd dem Herrn Christo/ dem aller obersten Schafshirten zugefürt." 18 Das hat aber mit persönlichem Bekenntnisdrang des Konvertiten wenig zu tun. Es ist ganz und gar zeittypische Religionspolemik. Lediglich ein kleiner Nebensatz steht diesem Befund entgegen. Franck nennt das Buch abschließend seine „erste arbayt/ so ich in dem Weinberg der Catholischen vnd Apostolischen Kirchen Jesu Christi thu [...]." 19 Doch ist das ein solch dezenter Hinweis auf die konfessionelle Herkunft des Verfassers, daß es keinesfalls gerechtfertigt scheint, vom eingangs konstatierten Befund abzurücken, daß Konversionsberichte ehemaliger Lutheraner etwa seit Ende der 50er Jahre des 16. Jahrhunderts wie Streitschriften gegliedert sind und auf dieselben theologischen Argumente zurückgreifen. Die große Ähnlichkeit von Konversionsberichten und Streitschriften wird bei der Betrachtung von Predigten und Traktaten, die Konversionen zum Gegenstand haben, noch deutlicher. Wie Franck erwähnt, war seine Konversion maßgeblich durch den Ingolstädter Pfarrer und späteren kaiserlichen Hofprediger Martin Eisengrein (1535-1578) angeregt,20 der seinerseits zu Staphylus enge Beziehungen unterhielt. Zwei Bücher21 Eisengreins über Konversionen von Katholiken ins lutherische Lager waren Francks Bericht vorausgegangen. Die Konversionen werden darin massiv angegriffen, da Eisengrein sie als Abfall vom wahren Glauben betrachtet. Der Text baut auf einer Predigt auf; ein Evangelientext, die Versuchung Jesu in der Wüste (nach Mt 4,1-11), bildet den Ausgangspunkt. Anreden,22 anschauliche Metaphorik23 und prägnante Auslegungspartien24 sind kennzeichnend. Die biblische Vorlage legt Eisengrein Satz 18

Ebd., Bl. 207'. 19 Ebd. 20 Martin Eisengrein: Predig/ Aus was vrsachen so vil Leut/ in vilen Landen/ vom Pabstumb zum Lutertumb fallen. Vnd Wie wir zu disen schweren leuffen/ den Versuchungen des bösen feinds in glaubens Sachen/ widerstand thun sollen. Köln 1563 (207 Seiten in 8°). 21 Zwei Jahre später erschien der gleiche Text bei Alexander und Samuel Weissenhorn in Ingolstadt, nun jedoch wurde das Buch nicht mehr Predig/ Aus was vrsachen [...], sondern Bericht/ Aus was vrsachen [...] genannt. Dieser Bericht ist außerdem um eine Widmungsvorrede an den Konstanzer Bischof und Kardinal Sittich erweitert (datiert auf den 25. 11. 1565). In dieser Widmungsvorrede ordnet Eisengrein das Luthertum in die historische Ketzerproblematik ein, um abschließend die Wahrhaftigkeit und Einzigartigkeit der einen, wahren, also katholischen Kirche zu betonen. Mir lagen beide Bücher vor (die Predig im Exemplar der Landes- und Universitätsbibliothek Münster [G31570, angebunden an die Via regia des Wiener Bischofs Johannes Fabri], der Bericht im Exemplar der Berliner Staatsbibliothek [Dg 6520]. Ich zitiere im folgenden nach dem Erstdruck, der Predig. 22 Ebd., S. 6: „Dlß heutig heilig Euangelium/ das ewer lieb vnd andacht jetzunder von wort zu wort von mir gehört hat/ das beschreibt vns einen kampff vnd streit/ der sich in der Wüste/ zwischen zwäien den aller künisten vnd dapffersten Potentaten/ so da seynd/ zugetragen hat: [...]." 23 Ebd., S. 7: „Vnangesehen aber daß er [der Teufel] zimblich wol getroffen/ auch jm sein kopff von dem Herrn zerknitschet worden ist: so rürt er sich noch immerzu ein wenig/ vnd vntersteht sich seinen zerschlagenen köpf widerumb aufzurichten/ [...]." 24 Ebd., S. 8: „Eben in disen stucken versucht er auch noch auff disen heutigen tag vns arme menschen/ dieweil wir auff diser Welt leben."

231 für Satz auf den folgenden gut zweihundert Seiten aus. Er stellt dabei Gegenwartsbezug her, indem er die Versuchungen in der Wüste mit denen der Gläubigen durch das Luthertum vergleicht. Beliebte Streittechnik ist die rhetorische Frage: „Welcher fauler nachlässiger Mensch höret nit gern/ daß ein Christenmensch von allem Gesatz gefreyet vnd erlöset sey/ Es sey auch der Mensch nit schuldig solches zu halten/ dann es im vnmöglich/ wie die new Euangelischen Propheten daruon gelert vnd geschriben?"25 Es muß nicht darum gehen, den Argumentationsverlauf und den teilweise hervorragenden Stil Eisengreins zu belegen und zu rekapitulieren. Für unseren Zusammenhang ist relevant, daß Eisengrein es strikt vermeidet, sich argumentativ auf die lutherische Lehre einzulassen, und statt dessen die Gemeinsamkeiten aller ,Ketzer' betont26 und mit stereotypen Mutmaßungen argumentiert, wie die rhetorischen Fragen zeigen. Ausgangspunkt ist die historische Gewißheit, der wahren Kirche anzugehören, was in einem Bekenntnis gipfelt: Also sollen auch wir vns die verfürischen Predicanten nit lassen vberreden/ daß wir vns auß der stat Gottes auff einem hohen Berg gelegen/ herab lassen/ das ist/ von der Kyrchen Gottes/ im wenigsten als im größten/ absunderen: Vnangeshen daß sie on vnderlaß schreien/ Schrifft Schrifft/ Euangelium Euanglium: dann die Schrifft haben sie wol/ aber die rechte Außlegung nit [...].

Eben diese Gewißheit ist ihrerseits Ausgangspunkt für die zahlreichen Konversionen zur katholischen Kirche. Von Bekenntnisdrang bei Staphylus und Franck und ebenso von Bekehrungsdrang bei Eisengrein kann dagegen keine Rede sein. Das führt zu einer mehr als eindeutigen Sprache der Abgrenzung gegen die ,Ketzer', niemals aber zum pathetischen Rechenschaftablegen wie zur Zeit der Reformation und in deren Folgejahren, bis hin zu Thamers Konversionsbericht von 1552.28

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Ebd., S. 18f. Eisengrein benennt im Nachwort, in dem er sich außerdem ausführlich zur Druckgeschichte äußert, seine wesentlichen Gewährsmänner. Neben den Kirchenvätern seien dies Kardinal Hosius, Martin Cromer und Friedrich Staphylus, vgl. ebd., S. 204. 27 Ebd., S. 201. 28 Ein wichtiger exemplarischer Vorläufer für den zweiten, nicht um Bekenntnisdrang bemühten Typ der Konversionsschriften dürfte das Mitte des 16. Jahrhunderts bekannte Buch Kaspar Querhammers gewesen sein: Eyne vnd vnder andern/ die achte Ursach/ so Casparn Querhammer eynen Leyen vnd Burger zu Halle bewogen/ dar yhm Lutters lere nicht mehr durchaus gefallen. Leipzig o.J. In der Vorrede dieser kleinen Schrift äußert Querhammer sein zwischenzeitliches Interesse für die Reformation, das aus den auszuführenden Ursachen in Ablehnung umgeschlagen sei. Es folgt eine typische Streitschrift mit zahlreichen Belegen aus Luthers Schriften zum Beweis seiner Hoffart; es liegt also eine biographisch gegen Luther argumentierende Schrift vor, in der Querhammer zwar eingangs auf seine persönliche Beziehung zur Reformation zu sprechen kommt, sodann aber um sachliche Argumentation jenseits seiner Person bemüht ist. Nun war Querhammer zwar kein Konvertit, doch vollzieht er erst mit dieser Schrift sein eindeutiges Bekenntnis zur altgläubigen Kirche. 26

II. Die Streitschrift eine überarbeitete Predigt, die Predigt ein Streitschriftenexzerpt? Die Predigt darf als die am besten erforschte Zweckform der Frühen Neuzeit gelten.29 Die Ursachen hierfür sind vielfaltig, zum einen sind wegen der in Predigten behandelten Themen zunächst Kirchenhistoriker, sodann Sozialhistoriker, Philologen und Volkskundler an ihr interessiert. Das hat zu teilweise verzerrenden Forschungsschwerpunkten geführt. So sind in den vergangenen etwa zwei Jahrzehnten hunderte, wenn nicht gar tausende von Leichenpredigten erforscht worden. Andere Predigttypen dagegen harren noch immer einer grundlegenden Erschließung, so die Türkenpredigten, obwohl sie keine randständige Predigtvariante darstellen.30 Die Predigt ist für die mittelalterlichen wie frühneuzeitlichen Philologien eine wichtige Gattung, weil sich an ihr die Wirkungsmacht der Rhetorik und (damit eng verknüpft) die Gebrauchsfunktionen von Literatur erforschen lassen.31 Predigten als Medium zur Bekämpfung der Häresie sowie der außerkirchlichen Feinde, also der Heiden, zu nutzen, ist keine Idee des konfessionellen Zeitalters.32 Auch verwundert es kaum, wenn wir in verschiedenen Predigttypen derbe Verunglimpfungen der ,Ketzer' vorfinden, in denen dem Titel nach gar nicht damit zu rechnen wäre. In den Fünffzehen Predigten/ wider Machomet (gehalten 1594) setzt sich Georg Scherer ausführlich mit der Religion des

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Vgl. Johann Baptist Schneyer: Geschichte der katholischen Predigt. Freiburg i.Br. 1969, S. 231-302; Werner Schütz: Geschichte der christlichen Predigt. Berlin, New York 1972, S. 76-145; zur frühen Reformationspredigt: Moeller, Stackmann: Städtische Predigt; zur katholischen Predigt: Katalog gedruckter deutschsprachiger Predigtsammlungen. Hrsg. von Werner Welzig. Bd. 1. Wien 1984; Franz M. Eybl: Gebrauchsfünktionen barocker Predigtliteratur. Studien zur katholischen Predigtsammlung am Beispiel lateinischer und deutscher Übersetzungen des Pierre de Besse. Wien 1982; Urs Herzog: Geistliche Wohlredenheit. Die katholische Barockpredigt. München 1991. Wilhelm Kühlmann: Der Poet und das Reich - Politische, kontextuelle und ästhetische Dimensionen der humanistischen Türkenlyrik. In: Europa und die Türken in der Renaissance. Hrsg. von Bodo Guthmüller, Wilhelm Kühlmann. Tübingen 2000 (= Frühe Neuzeit, 54), S. 193-248, bes. S. 205. Vgl. dazu Eybl: Gebrauchsfünktionen barocker Predigtliteratur. Schneyer (Geschichte der katholischen Predigt) verzeichnet insgesamt 24 Einträge unter dem Schlagwort,Polemische Predigten'.

233 verhaßten Feindes der Christenheit auseinander.33 Ausführlich widmet sich der Jesuitenpater darin in der elften Predigt der Polygamie - in der mit Abstand längsten Predigt. Scherer macht sogar vor anzüglichen Vergleichen nicht halt. Nachdem er den Propheten als „Dorffstier" und als „Roßgeiler Mensch"34 beschimpft hat, stellt er fest, daß „Eben ein solches Türckisch vnd Machometisch Ehe Regiment [...] Lutherus in der Christenheit [hat] anrichten wollen."35 Ebensolche unvermittelten Angriffe und Ausfalle finden sich immer wieder in Pre-

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Georg Scherer: Fünffzehen Predigten/ wider Machomet vnd sein Allcoran/ gehalten zu Wienn durch Georgium Scherer/ nach dem die Hauptvestung Raab in der Türcken Hand kommen war. In: ders.: Georgen Scherers von Schwatz/ der Societet IESV Theologi Ander Theil/ Begreifft neben einem außführlichen vnd der zeit hochnützlichen Catechismo ein vnd sibentzig Predigen von vnderschidlichen Materien/ wie hernach gesteltes Register außweiset/ deren zwar etliche hieuor/ die meisten aber noch niemals in Truck kommen. München 1613, S. 239-307. Eine ausfuhrliche Studie zu Scherers Predigten ist Forschungsdesiderat. Besonders die Postill Oder Außlegung der Sontäglichen Euangelien durch das gantze Jahr (im folgenden zitiert nach der Ausgabe München 1610) wäre dabei ins Zentrum zu stellen, weil sich darin dreizehn Regeln für den Prediger finden, die zwar bei Welzig (Hrsg.): Katalog gedruckter deutschsprachiger Predigtsammlungen, Bd. 1, S. 55-57, erwähnt, jedoch nur gekürzt zitiert und lediglich in der für einen Katalog gebotenen Bündigkeit analysiert werden. Die bisherigen Äußerungen zur katholischen Predigt sind trotz der vielfältigen Forschungsbemühungen unbefriedigend. So findet ein Prediger wie Scherer etwa bei Herzog (Geistliche Wohlredenheit) insgesamt 35 Einträge, doch klärt Herzog an keiner Stelle, ob jemand wie Scherer überhaupt als barocker Prediger gelten kann. Ohne jeden Zweifel sind Scherers Predigtsammlungen im Zeitalter des Barock im gesamten katholischen Deutschland wirkungsmächtig gewesen, dafür spricht die Vielzahl an Nachdrucken im 17. Jahrhundert. Doch ob das auch für seine Predigtlehre, die von Herzog immer wieder zitiert wird, gilt, ist m.E. nicht bewiesen. Herzog führt S. 38 zu Recht an, daß sich Scherer ausdrücklich gegen Predigtmärlein ausgesprochen hat. Scherers 10. Regel für den Prediger lautet vollständig (in der genannten Ausgabe unpaginiert): „Die Prediger sollen auch nicht Possenreisser/ Mährleinsager vnnd FabelHansen sein/ sondern GOttes Wort mit gezimlicher grauitet vnd Majestat tradieren. Zu weilen die müden Zuhörer mit einem kurtzweiligen zu der Sachen dienstlichen Historien oder Spruch zu erlustigen vnnd zuermuntern/ ist vnuerwehret/ Aber auff die lächerlichen vnd lamen Zotten vnnd Narrenthedigung sich mit fleiß ergeben/ vnnd dadurch die Leut an sich zihen/ vnd ihm ein stattliches Auditorium machen wollen/ das soll durchauß nicht sein/ vnd gehöret solchs Gespay nicht auff die Cantzel/ sondern an andere ort." Mit der Ablehnung der Predigtmärlein zeigt sich bei Scherer in bezug auf die Predigt eine entscheidende Distanz zum herzhaften Gebrauch der Predigtmärlein in den katholischen Barockpredigten. Es ist also gerade nicht legitim, wenn Elfriede Moser-Rath (Predigtmärlein der Barockzeit. Exempel, Sage, Schwank und Fabel in geistlichen Quellen des oberdeutschen Raumes. Berlin 1964, S. 5f.) Scherer als ein erstes Beispiel fur die angeblich wieder aufgenommene .volkstümliche Redeweise' anführt - Scherer war ein großer Prediger, aber eben ohne Predigtmärlein, in Theorie wie Praxis. Außerdem muß sich die Forschung der Frage zuwenden, inwieweit nicht nur die spätmittelalterlichen Prediger für Männer wie Scherer einschlägig waren, sondern auch die Predigt der Reformationszeit, deren Wirkungsmacht ja noch allgegenwärtig war; vgl. dazu Moeller, Stackmann: Städtische Predigt in der Frühzeit der Reformation; zur lutherischen Kritik an der Predigtmärlein vgl. Herbert Wolf: Erzähltradition in homiletischen Quellen. In: Brückner (Hrsg.): Volkserzählung und Reformation, S. 704-756, hierS. 705-710.

Scherer: Fünffzehen Predigten, S. 280. 35 Ebd., S. 280.

234 digten zu verschiedenen Anlässen und Materien - konfessionsübergreifend.36 Analog zum zeitgenössischen Terminus Streitschrift findet sich, allerdings selten, die Benennung von religionspolemischen Predigten als ,Streitpredigten'. 37 Der enge Zusammenhang zwischen Predigt und Streitschrift ist evident. Doch ist das allein noch kein bemerkenswerter Sachverhalt, denn es gilt Werner Welzigs grundlegende Feststellung: „Kein literarisches Genre hat einen so intensiven Bezug zu anderen Texten wie die Predigt."38 Wir haben bereits mehrfach gesehen, daß Streitschriften aus überarbeiteten Predigten hervorgehen konnten. Scherers Bericht/ Ob der Bapst zu Rom der Antichrist ist (zuerst 15 8 5)39 oder Johann von Münsters Gründtliche vnd Außfiihrliche Erklerung der gantzen Lehr vom H. Abendtmal CHRISTI (zuerst 1590) mögen dafür ebenso stehen40 wie die im vorangehenden Kapitel erwähnte Predig Eisengreins, die im Nachdruck ohne nennenswerte Überarbeitung zum Bericht wird.41 In der Analyse der Streitschriftenwechsel hat sich gezeigt, welche zentrale Bedeutung der Anrede als Mittel zur Lenkung des Streitverlaufs zukommt.42 Der Gebrauch der Anrede in den Streitschriften ist der Höreranrede in Predigten geschuldet. In keiner anderen Gattung der Frühen Neuzeit ist die Anrede als rhetorische Technik vielfaltiger und effizienter eingesetzt worden.43 Ebenso ähnelt der Aufbau der Streitschriften dem der Predigt. Diese ist in exordium, argumentatio, applicatio und peroratio gegliedert. Besonders bei kontroverstheologischen Predigten kann auf die argumentatio ergänzend eine refutatio folgen.44 Diese Struktur finden wir auch wiederholt in Streitschriften. Zwar wird der Mittelteil mit argumentatio und refutatio multipliziert - wenn der Verfasser auf eine gelungene applicatio verzichtet, kann das rasch zur Ermüdung des Lesers führen, mutmaßlich auch des frühneuzeitlichen. Doch zeigt sich beim vergleichenden Blick auf die Predigt ein erster Unterschied in der

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Leichenpredigten wurden bisher nicht näher auf ihr polemisches Potential hin untersucht, obwohl es zweifellos ein lohnendes Unterfangen wäre, dem nachzugehen, denn die Polemik ließ zumindest bei einigen Predigern sogar die Verstorbenen nicht ruhen. 37 Martin Eisengrein: Streittpredig Darin/ neben Ausslegung dess Euangelischen Gruss [...] Auss hayliger Schrifft von nachfolgenden Puncten ain gründtlicher bericht gegeben wirdt [...]. Ingolstadt 1575. 38 Werner Welzig: Vom Nutzen der geistlichen Rede. Beobachtungen zu den Funktionshinweisen eines literarischen Genres. In: Internationales Archiv fur Sozialgeschichte der deutschen Literatur 4 (1979), S. 1-23, hier S. 2. 39 Vgl. oben S. 39ff. und S. 195ff. 40 Vgl. oben 173ff. 41 Vgl. oben S. 230, Anm. 21. « Vgl. oben S. 39, S. 142. 43 Eybl: Gebrauchsfunktionen barocker Predigtliteratur, S. 152-155. 44 So etwa bei Dirk Niefanger: Barock. Lehrbuch Germanistik. Stuttgart 2000, S. 225. Da die Gestaltung des Mittelteils mit argumentatio, refutatio und applicatio im Gegensatz zum exordium und zur peroratio nicht zwangsläufige gesetzte Redeteile sind, nimmt Herzog lediglich eine Dreiteilung vor, was zwar den theoretischen Freiheiten des Predigers bei der Gestaltung der Predigt entspricht, letztlich aber der Realität frühneuzeitlicher Predigt nicht gerecht wird; vgl. Herzog: Geistliche Wohlredenheit, S. 215-250.

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dispositio zwischen Predigt und Streitschrift.45 In den Streitschriften folgt oft auf das exordium eine ausfuhrliche narratio,46 in der auf argumentative Auseinandersetzung mit dem Gegner zugunsten erster außertheologischer Angriffe verzichtet wird. Das ist der Gerichtsrede entlehnt. Ist die Streitschrift damit lediglich eine Predigt, in die gezielt Einzelelemente der Gerichtsrede eingearbeitet werden, um zu einer abwechslungsreichen Argumentensammlung zu gelangen? Nicht zuletzt das biographische Faktum, daß die meisten Streitschriftenverfasser Prediger waren, legt diese Vermutung nahe. Dafür spricht ferner, daß die wenigen Sammlungen von Streitschriften in Werkausgaben über ansehnliche Register verfugen, die einen gezielten Gebrauch der Streitschriften etwa für das Verfassen von Predigten ermöglichen sollten.47 Eben die Register sind aus Predigtsammlungen bekannt und wichtig fur den Prediger zur produktiven Texterschließung 48 Die Register verweisen auf die konsequente Ausrichtung der Streitschriftensammlungen für den praktischen Einsatz 49 Sie gestatten eine konfessionskonforme Verschiebung von Textbausteinen aus der vorliegenden Streitschrift in einen neu zu entwerfenden Text für den mündlichen Vortrag oder die Drucklegung. Die volkssprachliche Streitschrift hat viel von der Predigt gelernt, von ihren rhetorischen Techniken zur Rezipientenbindung ebenso wie von der gelehrt-technischen Aufarbeitung von Predigtsammlungen. Wahrscheinlich war die volkssprachliche Predigt insgesamt für die volkssprachlichen Streitschriften sogar wesentlicher als die lateinischen Gattungen der Gerichtsrede und die Anklänge an das Disputationswesen, die zu Beginn dieser Arbeit Erwähnung finden.50 Doch darf diese Beobachtung nicht den Blick auf die Differenzen verstellen. Wie läßt sich sonst die Schärfe in den Vorreden und Widmungen oder in der narratio erklären? Wären Streitschriften ausschließlich Ansammlungen gezielter Argumente gegen konfessionelle Gegner und deren Bücher, hätte auf diese eindrucksvollen und zum Teil streitprägenden Redeabschnitte verzichtet werden können, ebenso wie auf die bis zum Äußersten gehende Bekämpfung des konfessionellen Gegners. Zu denken ist an die gezielten Feindseligkeiten gegen Oslander in den Streitschriften der beiden Jesuiten Scherer und Rosenbusch, welche in der Forderung nach Hinrichtung des württembergischen Hofpredigers

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Auch die Ziele der Predigt (in der Regel verkürzend zusammengefaßt als doctrina und aedificatio; vgl. etwa Schütz: Geschichte der christlichen Predigt, S. 12) unterscheiden sich von denen der Streitschrift faktisch durch eine eindeutige Schwerpunktsetzung auf die doctrina bei dieser. Darauf wird in der Predigt in aller Regel verzichtet, weil eine narratio der in der Predigt gebotenen Kürze zuwiderläuft; zur bereits bei Origenes geforderten Kürze vgl. ebd. Vgl. dazu Bremer: Von der polemischen Agitation. Vgl. dazu Welzig: Vom Nutzen der geistlichen Rede; Eybl: Gebrauchsfunktionen barocker Predigtliteratur, S. 122-144. Der Hinweis auf den praktischen Einsatz berührt gleichzeitig Techniken des Exzerpierens in der Frühen Neuzeit; vgl. Wolfgang Brückner: Historien und Historie, S. 63-75; vgl. auch Florian Neumann: Jeremias Drexels ,Aurifodina' und die ,Ars excerpendi' bei den Jesuiten. In: Zedelmaier, Mulsow (Hrsg.): Die Praktiken der Gelehrsamkeit, S. 51-61. Vgl. oben S. 30ff.

236 gipfeln. Außerdem werden theologische Streitfragen ausführlicher und differenzierter behandelt, als das in Predigten der Fall ist. Daß der konfessionelle Gegner gegen Ende der Streitschriftenwechsel nur noch eine nachgeordnete Bedeutung in den Streitschriften einnimmt, bestätigt diesen Befund, weil die Polemiker gerade nicht zu prägnanten, leserorientierten Schlußschriften, sondern zu ausführlichen kontroverstheologischen Konvoluten neigen, die nicht im Verdacht stehen, aus überarbeiteten Predigten hervorgegangen zu sein. Weitere Forschungsperspektiven liegen auf der Hand, können und müssen im Zusammenhang dieser Arbeit aber nicht geleistet werden. Jens Haustein hat darauf hingewiesen, daß die Beziehungen zwischen den religionspolemischen Schriften und den spätmittelalterlichen Predigten unbekannt sind und daß die ,Literarisierungstendenzen' im religionspolemischen Schrifttum der Erforschung harren.51 Vor dem Hintergrund des in diesem Kapitel Skizzierten und vor dem der dargestellten sprachlichen Solidarisierung mit Polemikern der eigenen Religionspartei,52 stellt sich die Frage, ob und wie gezielt auf rhetorische Techniken aus Predigten gerade aus der vorreformatorischen Zeit zurückgegriffen wurde und wie dieses Vorgehen zu beurteilen wäre. Für das 17. Jahrhundert gilt es zu ermitteln, welche Streitschriften erneut aufgelegt wurden, obwohl der Streit längst verstummt war. Daß dies nicht für alle Bücher, sondern nur für die konfessionskonformen gilt, ist bekannt.53 Dessenungeachtet erklärt dieser Befund lediglich die Pflege der erhaltenen Bücher in den einschlägigen Bibliotheken, nicht aber die Neu- und Nachdrucke.

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Haustein: Literarisierungsstrategien. 52 Vgl. oben S. 209fF. 53 Vgl. Bremer: Von der polemischen Agitation.

III. Katechetische Schriften: Vielfalt und Anschaulichkeit fur Laien und Geistliche

Werner Welzigs im vorangehenden Kapitel zitierte Feststellung („Kein literarisches Genre hat einen so intensiven Bezug zu anderen Texten wie die Predigt.") gilt gleichfalls für die Katechese. Während der Reformationszeit waren Predigten üblich, in denen der Katechismus bzw. Stücke aus ihm darund ausgelegt wurden. Katechismuspredigten dienten der anleitenden Begleitung des Katechismusunterrichts, nahmen den einzelnen Gläubigen in die Pflicht, es nicht beim bloßen Auswendiglernen zu belassen, sondern sich mit dem Gelernten auseinanderzusetzen und es zu verstehen.54 Wenn in unserem Zusammenhang von Katechese und katechetischen Schriften die Rede ist, so ist es von großer Wichtigkeit, daß Katechese im 16. Jahrhundert wie schon im Mittelalter ausdrücklich über die verhältnismäßig klar zu fassende Textsorte Katechismus hinausgeht und letztlich „die gesamte mündl[iche] Unterweisimg der Gläubigen"55 meint. Vor diesem Hintergrund gilt es, neben den Katechismen des 16. Jahrhunderts die zahlreichen und vielgestaltigen Dialoge der Zeit in den Blick zu nehmen, die zur Unterrichtung der Laien und Geistlichen der eigenen Konfession wie zur Belehrung und Ermahnung andersgläubiger Laien verfaßt wurden.56 Wegen der überwiegend dialogischen Anlage dieser Texte ergeben sich nur kleine Schnittmengen mit den Streitschriften. Ein katechetisches Buch neigt immer dann zur Prosa der Streitschrift, wenn sich der Verfasser zu langen Erläuterungen im Traktatstil hinreißen läßt. Der aber wird vermutlich für den Unterricht nicht geeignet gewesen sein, konnte doch durch prägnante Fragen und Antworten weit größere Aufmerksamkeit der Lernenden

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Vgl. zur Einfuhrung Werner Jetter: Katechismuspredigt. In: TRE 17 (1988), S. 744-786. Bertram Stubenrauch: Katechismus. In: LThK 5 (1996), Sp. 1311-1316, hier Sp. 1312. Die Forschungsliteratur zum ,Dialog' ist umfangreich, vgl. einführend Ernest W.B. HessLüttich: Dialog. In: HWR 2 (1994), Sp. 606-621; grundlegend Jürgen Kampe: Problem ,Reformationsdialog'. Untersuchungen zu einer Gattung im reformatorischen Medienwettstreit. Tübingen 1997 (= Beiträge zur Dialogforschung, 14); vgl. außerdem demnächst Caroline Emmelius: Politische Beratung, Zwiegespräch, gesellige Unterhaltung. Zur Wortgeschichte von .Gespräch' im 15. Jahrhundert. In: Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter. Hrsg. von Gerd Dicke, Manfred Eikelmann, Burkhard Hasebrink. Berlin 2005.

238 provoziert und eingefordert werden. 5 7 D a s darf nicht die Verallgemeinerung nahelegen, jeder D i a l o g oder Katechismus mit langen m o n o l o g i s c h e n Partien sei als ,schlecht' zu bewerten. Gerade die sogenannten ,Großen Katechismen' (Luther und Canisius) bieten z u m Teil sehr ausfuhrliche Erläuterungen mit zahlreichen Zitaten e t w a aus der Bibel.

Bücher dieser Art setzten den geübten, also

auswählenden Katecheten voraus. Im f o l g e n d e n werden katechetische Bücher v o n katholischen Geistlichen näher vorgestellt. Volkssprachliche

katholische

K a t e c h i s m e n aus d e m 16. Jahrhundert w e r d e n im G e g e n s a t z z u ihren lutherischen Entsprechungen bis heute in der Forschung vernachlässigt. 5 8 Einer der frühen katholischen Katechismen in deutscher Sprache stammt v o n Georg Witzel. N e b e n seinen Streitschriften und katechetischen Texten 5 9 sind seine Lieder und Gebete v o n großer Bedeutung, sie w e r d e n im f o l g e n d e n Kapitel behandelt. 6 0 Bereits der Titel seines Catechismus Handelunge

des Heiligen

Christenthums61

Ecclesiae

Lere

vnd

ist als programmatische Abgrenzung

g e g e n die lutherische Lehre z u bewerten, die nach Witzel einer Verachtung der

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Bereits in den frühen theoretischen Abhandlungen zur Katechese aus dem 16. Jahrhundert wird ausdrücklich Kürze und Prägnanz als wesentliches Stilmittel eingefordert; vgl. Christoph Bizer: Katechetik. In: TRE 17 (1988), S. 686-710, bes. S. 687f. So nennt etwa Gerhard J. Bellinger: Katechismus II. Römisch-katholische Kirche. In: TRE 17 (1988), S. 729-736, hier S. 729f., fiir das 16. Jahrhundert eine Vielzahl von lateinischen Katechismen, aber lediglich einen deutschsprachigen. Witzeis Ende der 30er Jahre erschienenes Gesprechbüchlin (DIALOGORVM LIBRI TRES. Drey Gesprechbüchlin von der Religion Sachen/ in itzigem ferlichem Zwiespalt/ auffs kürtist vnd artigst gefertiget. Leipzig 1539) sei kurz erwähnt. Es ist als Gespräch zwischen insgesamt fünf Teilnehmern gestaltet und steht in der literarischen Tradition der humanistischen Dialoge; es ist damit nur bedingt als katechetischer Dialog angelegt, was ein Blick ins Personal zeigt (Bl. Riij v : „TEVTO/ ist ein Euangelischer burger/ wie sie es nennen. CORE/ ist ein Euangelischer prediger/ wie mans dafür helt. AVSONIVS/ ist ein vertediger der Römischen kyrchen. ORTHODOXVS/ ist einer der gleich herdurch redt/ vnd die zwo parten gern eins mechte. PALEMON/ ist fast wie ein Richter/ vnd der da bestetiget/ was orthodoxe/ das ist/ rechtsinnig geredt ist.") Bereits diese Charakterisierung des Personals legt nahe, daß Witzel in diesem Gespräch den theologischen Ausgleich propagiert, ohne dabei auf die Kritik, besonders am Luthertum, zu verzichten; vgl. etwa den Beginn des Gesprächs mit dem .Auftritt' des Lutheraners Teuto: „SIhe/ solt ich doch die predig schier verschlaffen haben/ das machen die kutzweiligen nachttrüncke/ vnd vnendlichen abendtentz. Wol uff bruder Studium/ siebenschleffer/ darffest keines Hechts zur kirchen. Gott gebe dem sauffen dis vnd das/ kan ich doch den dopff zwischen den oren kaum tragen/ so schwer ist er mir. Mus gehen/ vnd das tröstlich Euangelion hören/ vileicht vernewe ich die alten wunden wider/ wenn die predig aus ist/ vnd neme den prediger mit mir/ denn er zumal ein guter Zechbruder ist/ hats wort lieb/ singt vnd springt/ ist freuden wol." Vgl. zu diesem Dialog: Winfried Trusen: Um die Reform und Einheit der Kirche. Zum Leben und Werk Georg Witzeis. Münster 1957 (= Katholisches Leben und Kämpfen im Zeitalter der Glaubensspaltung, 14), S. 81-83. Vgl. ferner Ludwig Pralle: Die volksliturgischen Bestrebungen des Georg Witzel (1501-1573). In: Jahrbuch für das Bistum Mainz 3 (1948), S. 224-242. Zum theologischen Standpunkt Witzeis, der stark erasmisch geprägt ist, vgl. Henze: Aus Liebe zur Kirche. Georg Witzel: Catechismus Ecclesiae Lere vnd Handelunge des Heiligen Christenthums/ auss der warheit Götliches worts/ kurtz vnd lieblich beschrieben. Leipzig 1536. Vgl. Trusen: Um die Reform, S. 69-72.

239 guten Werke im Christenleben nahekommt.62 Die gleiche Tendenz verfolgt er in der Vorrede, in der er mit Väter-Belegen auf den Katechismusunterricht in der Alten Kirche hinweist. Es folgt ein direkter Angriff gegen das lutherische Katechismuswesen: „Was aber in Sonderheit Lutthers Sect beide ann der Tauffe vnd Catechismo gebessert hat/ ist nicht grosses schatzes werd. Hat sie änderst nicht vbel erger gemacht/ inn dem sie jre Catachismos vnd Rottische trewme den vnschuldigen armen Kindern listiglich eingebildet/ damit sie die selbigen auff ihre bane iung gewene/ vnd alt behalte."63 Witzeis Katechismus ist in den ersten vier Kapiteln Auslegung der Bibel, in den folgenden drei Kapiteln werden Gebete, die Zehn Gebote und der Englische Gruß erläutert. In den Kapiteln acht bis achtzehn werden die Dreifaltigkeit, die guten Werke und die Sakramente sowie die kirchlichen Zeremonien erklärt. Witzel beendet seinen Katechismus in Kapitel 19 mit einer Art Epilog „wie sich ein jegliches halten sol." Typisch fur Witzeis Werk ist das „Schema der JüngerFragen und Lehrer-Antworten",64 das sich in den Katechismen des 16. Jahrhunderts nicht durchgesetzt hat, weil diese in der Regel für den Schulunterricht verfaßt worden sind, in dem das Abfragen von theologischem Wissen im Mittelpunkt stand.65 Erst Petrus Canisius hat die Fundamente der katholischen Katechismusliteratur gelegt. Seine Summa doctrinae christianae erschien erstmals 1555 in Wien. Über den Bedarf an guten Katechismen herrschte Mitte des 16. Jahrhunderts nicht nur bei katholischen Geistlichen, sondern auch bei katholischen Fürsten Einvernehmen. In der kaiserlichen Lizenz zur deutschen Übersetzung der Summa doctrinae christianae heißt es: „Aber vnter denen Büchlein/ deren zu außtilgung der waren Catholischen Religion ein vnzalbare hauff ist/ gelten nit wenig die Catechismen/ wie sie [die ,Ketzer'] die nennen/ so ein zeit her außgangen seind/ welche [...]/ die vnschuldig edel Jugend sehr betrigen/ jemmerlich verführen vnnd verderben."66 Canisius' Katechismen sind keineswegs innovativ, sie folgen - wie Witzeis Katechismus - der augustinischen Tradition: 1. Glaube und Bekenntnis, 2. Hoffnung (Vater unser und weitere Gebete), 3. Liebe (Zehn Gebote und kirchliche Gebote), 4. die heiligen Sakramente und schließlich 5. die Werke der Gerechtigkeit, um die „katholische Position (Glaube und Werke) [zu] unterstreichen, zugleich die meisten mittelalterlichen Glaubensformeln (wie Hauptsünden, Werke der Barmherzigkeit usw.)

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Vgl.: Der Katechismus von den Anfängen bis zur Gegenwart. Ausstellung in der Bischöflichen Zentralbibliothek Regensburg. München, Zürich 1987, S. 88. Witzel: Catechismus, Vorrede unpaginiert, nach Lagenzählung Bl. B'f. Der Katechismus von den Anfangen bis zur Gegenwart, S. 88. Eine rhetorik- und praxisgeschichtliche Analyse des Katechismusunterrichts liegt m.W. nicht vor, sie wäre in Ergänzung und als Vorstufe zur Erforschung des Disputationswesens dringend erforderlich. Petrus Canisius: Catholischer Catechismus Oder Summarien CHristlicher Lehr/ In Frag vnnd antwort/ der Christlicher Jugend/ vnnd allen Einfeltigen zu nutz vnd heil gestelt/ [...]. Vnd auf Befehl der Rom. Keis. Mayestat/ in Truck erstlich verfertiget/ Nun aber mercklich gebessert vnd gemehret/ [...]. Köln 1569, unpaginiert.

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unter[zu]bringen, an die die Leute gewöhnt sind (und die sie wohl als typisch katholischen Ausdruck des Glaubens betrachten)."67 Dieser regelmäßige Aufbau wurde jedoch vielfältig umgesetzt. Neben dem großen erschien ein kleiner und der kleinste Katechismus, 1589 folgte ein Bilderkatechismus: Je nach Alter und Bildung variierte Canisius seine Katechismen.68 Auf konfessionelle Polemik verzichtet er weitgehend. In späteren Auflagen und in Übersetzungen werden die ,Ketzer' zwar in Vorreden und Widmungen immer wieder als wichtiger Anlaß für den Katechismus genannt, in den Fragen oder Antworten finden Luther oder Calvin dagegen nur selten Erwähnung. Das war in Katechismen anderer katholischer Geistlicher anders. Einer der schärfsten Polemiker aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, der Franziskaner und Weihbischof von Brixen Johannes Nas (1534—1590),69 legte 1570 sein Handbüchlein Des klein Christianismi vor, das als Katechismus angelegt ist70 und in dem daneben Lieder, Gebete und sogenannte ,Beichtformen', Beichtformeln, zu finden sind.71 Nas wendet sich im Katechismus-Teil zunächst dem Glauben zu.72 Seine Fragen sind von Beginn an religionspolemisch angelegt: „Warumb wilt du lieber Catholisch/ dann Euangelisch gehaissen werden?" heißt es in der dritten Frage. Die Antwort ist eindeutig: „Darumb/ das allweg die rechtschafnen Christen/ disen Namen/ dem die Ketzer abhold seind/ erhalten [...]. Vnnd das sich zu vnseren zeyten/ allerley Rotten vnnd Secten vndter dem Euangelischen Namen/ als vnder dem Schaf Klayd/ verbergen [...]."73 Bei aller Schärfe gegen die ,Ketzer' bemüht sich Nas um vermittelnde und ermutigende Antworten für die .verführten' Laien: „Wann ichs aber von jugent auf!/ bey den Newglaubigen auff ihr maynung empfangen hette in zweyerlay gestallt/ vnnd wie kan ichs dann erst bey den Catholischen/ mit guter gewissen in einerlay 67

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Eugen Paul: Petrus Canisius als Katechet und Pädagoge. In: Oswald, Rummel (Hrsg.): Petrus Canisius, S. 194-201, hier S. 200. Aus Anlaß des 400. Todestages erschienen weitere nennenswerte Publikationen: Petrus Canisius (1521-1597). Humanist und Europäer. Hrsg. von Rainer Berndt. Berlin 2000; Siegfried Hofmann: „Der Glaub ist ein Liecht der Seelen, ein Thür des Lebens, ein Grundvest der Seligkeit." Zum Charakterbild des Petrus Canisius, sowie: Herbert Immenkötter: „Was der Papst, der gesandt hat, anzielt". Petrus Canisius in Ingolstadt, München, Augsburg und Dillingen. Beide in: Baumstark (Hrsg.): Rom in Bayern, S. 41-48, bzw. 49-54; vgl. ferner darin den Katalogteil VI. zu Canisius, ebd. S. 499-563. Es spielten auch wirtschaftliche Überlegungen eine Rolle, ein Universalkatechismus - von Ferdinand I. erbeten - war schlicht zu kostspielig; vgl. Paul: Canisius, S. 199. Grundlegend zu Nas' Biographie Johann B. Schöpf: Johannes Nasus. Franziskaner und Weihbischof von Brixen (1534—1590). Bozen 1860. In der jüngsten Arbeit zu Nas von Richard Ernest Walker, The Uses of Polemic, wird die atemberaubende Karriere vom militanten Lutheraner bis zum Brixener Weihbischof nur knapp ausgeführt. Nas: Handbüchlein, Vorrede unpaginiert, nach Lagenzählung Bl. Aviii": „Alles den verfürten zu nutz/ den recht glaubigen zum schütz/ vnd schirm gestelt/ sunderlich der yetzigen zeyt/ zu dienen ans Liecht geben/ durch anderthalbhundert Frag vnd Antwort/ wie volget." Diese Versammlung von vielfaltigen Textsorten in einem Buch ist keine Besonderheit, sondern bei volkssprachlichen Ausgaben der Regelfall. Er folgt nur teilweise der augustinischen Tradition, indem er den Sündenkatalog bereits an dritter Stelle ansiedelt und erst im Anschluß auf die Hoffnung (mit Vater unser) eingeht. Nas: Handbüchlein, Bl. l r f.

241 gestalt empfahen?" Die Antwort lautet: „Es ist kein schand/ von jugent auff irren/ ders nit besser weiß [,..]." 74 Die Beispiele zeigen, daß Nas kein festes Frage-und-Antwort-Schema verfolgt. Der Laie wird manchmal ,abgefragt', es werden dem Geistlichen auch Antworten auf dringende Fragen der Laien dargeboten. Durch den Formenreichtum ist das Handbüchlein ein abwechslungsreicher Katechismus, der weniger starr einem bestimmten pädagogischen oder theologischen Schema folgt. Es finden sich einige psychologisierende Fragen. Gegen Ende wendet sich Nas ausführlich der Ketzerei zu:75 „Wer sein sie [die Ketzer] dem Namen nach/ sag mirs Teutsch/ damit ich mich zuhüten wiß vor ihnen?" Nicht nur durch die gespielte Unwissenheit versucht Nas, dem Eindruck der Unfehlbarkeit vorzubauen. Durch die Erklärung, der Fragende könne sich besser vor den .Ketzern' schützen, signalisiert er die subversive Gefahr, die von diesen ausgehe. Denn die Frage suggeriert, daß der Fragende ebenfalls vor der .sektischen' Gefahr nicht gefeit sei und erst durch die Antwort in rechte Kenntnis gesetzt werde. Schärfe gegen den konfessionellen Gegner, nachsichtige Milde gegen die Laien, diese Taktik verfolgt auch Petrus Michael Brillmacher in seinen katechetischen Schriften, die noch in seiner Kölner Zeit erschienen und den Jesuiten erst für die Münsteraner Aufgaben empfahlen. 1582 erschien Ein Christliches Gesprech,76 ein Dialog zwischen einem Katholischen und einer .irrenden Person', beide, wie üblich, mit sprechenden Namen (Petrus und Clemens). Bemerkenswert an diesem Personal ist die fundamentale Einschränkung Brillmachers, der sich gar nicht erst einem unerfüllbaren Zweckoptimismus hingibt, sondern die Voraussetzung für ein Gespräch klar formuliert: Ohne die Bereitschaft, „freundtlich/ milt vnd gütig" zuzuhören, sei die Überzeugung der ,irrenden Personen' nicht möglich.77 Diese Einschätzung wird im Dialog unterstrichen, denn Clemens wird auf die Rolle des Zweiflers beschränkt, Petrus führt das Gespräch („SAG mir mein lieber Clemens").78 Im Verlauf des Dialogs reduzie-

™ Ebd.,Bl. 33'. 75 Etwa Frage 131, ebd., Bl. 67 v : „Welches seind die Ketzer/ sampt ihren Rotten?" Antwort: „Das ist jetziger zeyt das gantz Eigenwillium [!]/ vom Teuffei gestiffiet/ durchs Luthers thun/ durch Babilonischen gefäncknuß/ allerley rotten vnnd zwäcknuß [...]." Solche individuellen, äußerst spitzfindigen Wortspiele und Reime sind typisch für Nas' Stil. 76 Petrus Michael Brillmacher: Ein Christliches Gesprech oder Disputation sampt freundtlicher vergleichung von Empfengnuß des allerheiligsten vnd hochwirdigsten Fronleichnams IESV Christi vnsers Erlösers vnd Heilandts/ vnder beiden oder einer Gestalt des Sacraments. Köln 1582. 77 Ebd., in der Widmungsvorrede an den Kölner Erzbischof, unpaginiert, nach Lagenzählung Bl. a4'f.: „[Ich] hab darinnen der Catholischen Person den namen Petri geben/ dieweil solche/ in der lehr vnd liebe Christi Jesu vnsers Erlösers auff den grund vnd Seul der warheit/ das ist seiner Kirchen/ bestendig als ein felß gebawet sein vnd bleiben soll [...]. Der Irrender Person aber/ die des berichts am meisten bedarfC hab ich darumb Clemens genant/ daß solche freundtlich/ milt vnd gütig/ wie der Nam mit sich bringt/ sein muß/ wofern sie sich vom irrthumb zu erkantnuß der warheit woll füren lassen." 78 Ebd., S. 1.

242 ren sich Clemens' Fragen und Anmerkungen immer stärker auf Stichworte,79 die Petrus aufgreift und zu teilweise seitenlangen Monologen nutzt. Auf Grobianismen und derbe Satire verzichtet Brillmacher. Lediglich die üblichen Vorwürfe gegen Luther finden Erwähnung.80 Die stilistische und rhetorische Schwäche und Einfallslosigkeit dürfte die seelsorgerliche Stärke dieses Christlichen Gesprechs sein. All die vermeintlichen Mängel des Dialogs, die im Vergleich zum erwähnten Gespräch Witzeis angeführt werden könnten (einfaltiges Personal, Monotonie im Gesprächsverlauf, fehlende Anbindung an eine konkrete Situation - man denke an den witzigen Eingangsmonolog bei Witzel),81 all das geht diesem Dialog ab. Doch gerade im Aufgreifen der Schlagwörter', im gezielten Reduzieren der Fragen der .irrenden Person' auf theologische Irrtümer und Widersprüche liegt die seelsorgerliche Stärke dieses Gesprächs. Ein Großteil der katholischen Geistlichen war schlecht ausgebildet; deswegen mußte es den geistlichen Eliten darum gehen, ein möglichst umfangreiches und verständliches Standardrepertoire an Antworten zu entwickeln, die im Falle eines konkreten Gespräches zu greifen vermochten. Vor diesem Hintergrund wirft die Voraussetzung, die .irrende Person' möge „freundtlich/ milt vnd gütig" sein, ein ganz anderes Licht auf die katholischen Geistlichen, die Brillmacher als Leser seines Buches im Blick hatte. Lesern, denen Schlagworte und die Repetition des Dazugehörigen nutzen konnten, wurde die selbständige Argumentation gegen weniger „freundtlich/ milt vnd gütig" Gesinnte nicht zugetraut. Das Christliche Gesprech Brillmachers ist damit indirekter Ausdruck der argumentativen und theologischen Defizite zahlreicher katholischer Geistlicher noch in den 80er Jahren des 16. Jahrhunderts.82 79

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Zur Bedeutung der Topoi für die Argumentationsstruktur (vor allem mit Blick auf Melanchthons loci communes) vgl. Wolfgang Brückner: Historien und Historie, bes.: „Loci communes als Denkform" S. 53-75. Ebd., S. 14 stellt Petrus Luther in eine ketzerische Traditionslinie mit früheren ,Sekten': „Diß vngelück hat der Sathanas erst angemacht in Behemerland durch Petrum von Dresden/ auß seinem vatterland Waldensischer Secten halben vertrieben/ volgets außgesponnen durch Martinum Lutherum vnd seiner newer Lehr verwandte [...]." Vgl. oben S. 238, Anm. 59. Brillmachers Katechismus sei nur am Rande erwähnt: CATECHISMVS, Das ist Christlicher Bericht von wahrer Religion vnd Gottes dienst/ Samt einem andechtigen Bettbuch: In welchen kürtzlich alle Lehrartickel der alleinseligmachenden Catholischen religion/ mit gründlicher Widerlegung dargegen eingebrachter Irrthumben/ außgefuret/ vnd vil andechtige Gebett vnd Betrachtung begriffen. Köln 1587. Dieses umfangreiche Werk - 670 Seiten, sowie Register und Vorrede an Johann Wilhelm und Jacobe, Herzog und Herzogin von Jülich und Kleve - ist durch Holzschnitte illustriert, die zur Meditation anregen mochten. Dieses Buch ist als allgemeines Erbauungsbuch konzipiert; zunächst (S. 1-320) mit einem katechetischen Teil im üblichen, wenn auch reduzierten Aufbau (I. Hauptartikel des Glaubens, S. 1-68, II. Sakramente, S. 70-239 [bemerkenswerter Schwerpunkt!] und III. Gebote, S. 240-320). Gebete werden im Katechismus-Teil nicht behandelt, da diese im zweiten Teil in Verbindung mit Andachten abgedruckt werden, S. 321^t69. Der letzte Teil, S. 470670, ist Meditationen vorbehalten. Das Buch ist damit als Mischung aus Katechismus und privatem Andachtbuch konzipiert. Religionspolemik ist damit (auch im katechetischen Teil des Buches) nachgeordnet, S. 116: „Auch daß die erste dichter diesr lehr [der ,ketzeri-

243 Auch der Wiener Jesuit Scherer hat sich als Verfasser von katechetischen Büchern versucht - mit Erfolg, wie einige Nachdrucke aus dem 17. Jahrhundert beweisen.83 Sein Dialog und sein Katechismus weisen zahlreiche Parallelen zu den anderen genannten katechetischen Büchern auf, besonders zu denen Brillmachers. Deshalb können wir uns auf Nennung einiger Besonderheiten beschränken. Geradezu programmatisch umrahmen die beiden dialogischen Texte Scherers, Ein Christliches Gespräch (zuerst 1587) und der Catechismvs Oder Kinderlehr (zuerst 1600), die Streitschriften und Predigten in den Schafften von 1599/1600: Mit dem Gespräch beginnt der erste Band, mit dem Catechismvs endet der zweite. Diese Gliederung darf als Bekenntnis zum seelsorgerlichen Gespräch gedeutet werden. Bereits der Titel Ein Christliches Gespräch Von der TauffCeremonien/ zwischen einem Catholischen Pfarrherrn vnnd Lutherischen Hebammen läßt eine kontroverstheologische Anlage vermuten. Die lutherische Hebamme muß von ihrem ,Irrtum' überzeugt werden.84 Ziel dieser Schrift ist es, katholische Priester zu belehren, wie den Protestanten zu begegnen sei, um sie für die katholische Kirche (zurück) zu gewinnen. Es geht um ,Fortpflanzung' des katholischen Glaubens, um Glaubenspropaganda.85 Dies setzt den moralisch integren Geistlichen voraus, so daß sich das Gespräch beinahe zwangsläufig als Moralappell an den katholischen Klerus liest. Der Dialog wird damit zu einem Dokument des Ringens um innerkatholische Reformen, die von Scherer offen als notwendig benannt werden.86 Die Gesprächspartnerin, eine lutherischen Hebamme, verweist in diesem Zusammenhang auf zweierlei. Den geistlichen Lesern wird durch diese Figurenwahl verdeutlicht, daß sie sich nicht nur um ihre katholi-

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schen' Sakramentenlehre] schier all heimliche bündtniß oder gemeinschafft mit dem Teuffei gehabt/ vnd ein schrecklichs end genommen/ nachdem sie mit dieser lehr die Christenheit hefTtig betrübt vnd beleidiget. Wie von Berengario/ Carolstadio/ Oecolampadio/ Bucero vnd Caluino zu lesen." Die Ketzer werden genannt, doch gilt es nicht mehr, sie zu bekämpfen. Leser solcher Bücher waren für den katholischen Glauben längst gewonnen. Vgl. unten Anm. 99. Im folgenden wird knapp versucht, eine .oberflächliche' Analyse des Gesprächs zu leisten; auf dieser Ebene geht es um die Rekonstruktion, wie bei einfachen Geistlichen dieser Text rezipiert worden sein könnte. Danach folgt der Versuch, eine .gelehrte' Rezeptionsebene aufzuzeigen. Vgl. Scherers Ausfuhrungen im Widmungsbrief an Bischof Urban von Passau: „Demnach/ damit [...] die Catholische Priesterschafft zu mehrerm Fleiß [...] gereitzet vnd erwecket werde/ habe ich [...] in Form eines Christlichen Gesprächs etwas kürtzlich verfasset [...]/ auff daß solches Büchlein [...] zu widerkehrung der Irrenden vnd Vnwissenden/ vnnd dann auch vnder die Pfarrherrn vnd gantzen Clero [...] außgebreitet werden möchte [...]." Georg Scherer: Ein christliches Gespräch Von der TauffCeremonien/ zwischen einem Catholischen Pfarrherrn vnnd Lutherischen Hebammen. In: ders.: Erster Theil, Bl. Γ-42', hier Bl. l v . Vgl. ebd.: Erst wenn der „Clerus reformieret" sei, sei es möglich, daß sich „die an vilen Orten gefallne Religion erhebt/ vnd die eingerißne Mängel vnd Mißbräuch verbessert/ [...] werden." Der Terminus .reformiert' hat hier eindeutig restaurativen Charakter; es geht um Wiederherstellung eines früheren, besseren Zustande in der Kirche.

244 sehen Gemeindemitglieder zu sorgen, sondern darüber hinaus das seelsorgerliche Gespräch mit protestantischen Laien zu suchen haben.87 Daß gerade eine Hebamme die Dialogpartnerin ist, muß dabei als Appell an die Geistlichkeit verstanden werden, sich um Verachtete und sozial Ausgegrenzte zu bemühen. Hebammen standen am Rand der Gesellschaft, ihnen wurde Zauberei und Hexerei unterstellt.88 Gleich zu Beginn des Gesprächs zeigt Scherer, daß der katholische Pfarrer die protestantischen Laien nicht unterschätzen dürfe, indem er daran erinnert, daß diese über eine gewisse religiöse Bildung verfugen und manch einer von ihnen lesen und diese Fähigkeit im Gespräch mit Geistlichen nutzen könne, um diese kritisch zu befragen.89 Zusätzlich wird das Gespräch mit ausdrücklicher Freundlichkeit durch den Priester eröffnet. Er antwortet auf die Höflichkeitsformel „[...] wanns euch gelegen wäre": „Es ist mir allzeit gelegen", 90 wodurch Gesprächsbereitschaft signalisiert wird. Während des Gesprächs greift der Pfarrer auf Luther-Zitate zurück, mit denen er ,widerlegt', was die lutherischen Prediger, diese „heylosen Leut", „fiirplappern".91 Er verweist regelmäßig auf die Bibel und erzählt kurze Wundergeschichten.92 Mit den Kirchenvätern stützt er dagegen nur selten seine Thesen, was möglicherweise mit der Bildung der Hebamme und der daraus resultierenden Kenntnis des sola-scriptura-Prinzips erklärt werden kann93 - Ausdruck einer gezielten Argumentationskalkulation, in der Widersprüchen nach Möglichkeit gar nicht erst eine Angriffsfläche geboten

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Als Abschlußpointe des Gesprächs hat Scherer einen knappen Disput mit einem lutherischen Prediger gesetzt, dem der katholische Pfarrer auch das Gespräch anbietet, was jener mit knappen Formulierungen ablehnt: „Hab daselbst nichts verloren." Darauf erklärt der katholische Pfarrer der Hebamme, daß die lutherischen Prediger nur „Weyber vnd vngelehrte Leyen" überzeugen könnten, bei katholischen Geistlichen versagten sie. Das überzeugt die Hebamme endgültig, sie läßt von den „Tagscheuchige/ vnd Liechtflüchtige Predicanten" ab; alle Zitate: ebd., Bl. 42'. 88 Vgl. Hanns Bächtold-Stäubli (Hrsg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Berlin, Leipzig 1930/31, Bd. III, Sp. 1587-1603. 89 Als der Pfarrer der Hebamme einen Luther-Text vorlegt, um eine These zu belegen, zieht diese ihre Brille hervor und liest selbst. Ostentativ läßt Scherer den Pfarrer die Hebamme auffordern, sich selbst zu überzeugen: „Laßt euch nur wol der weil/ vnnd sehet flüssig auff die Wort." Scherer: Gespräch, Bl. 5V. Scherer verdeutlicht die religiöse Bildung der Hebamme zusätzlich, indem er sie zu Beginn des Dialogs verschiedene thematische Fragen stellen läßt; vgl. z.B. ebd, Bl. 5V: „[...] was wil S. Paulus durch das (Wort) andeuten/ wann er spricht: Durch das Wasserbad im Wort." 90 Ebd., Bl. 4'. Ι Ebd., Bl. 5V. 92 Diese Geschichten sind knappe Predigtmärlein, schon allein wegen ihres Umfangs kaum vergleichbar mit barocken Predigtmärlein: So erzählt der Pfarrer z.B. von einer Frau in Amsterdam, die ihr Kind heimlich habe katholisch taufen lassen. Als am folgenden Tag der Mann das Kind zur protestantischen Taufe gebracht habe, sei der Täufer verstummt; vgl. ebd., Bl. 35'. 93 Hätte Scherer seine Pfarrerfigur mit der kirchlichen Tradition argumentieren lassen und wären katholische Pfarrer diesem Vorbild gefolgt, hätte diesen das sola-scriptura-Prinzip entgegengehalten werden können, was manch einen katholischen Pfarrer, der nicht über ein solides Fundament in der katholischen Dogmatik verfugte, schnell verunsichern konnte.

245 werden soll. Das Gespräch verliert im Verlauf an Dialogizität; der Hebamme kommt zuletzt eine regelrechte Statistenrolle zu. Sie gibt dem Pfarrer in einfachen Sätzen lediglich Stichworte, die dieser aufnimmt, um ausführlich die katholische Lehre auszubreiten.94 Das Gespräch ist für gering gebildete Geistliche ein Lehrtext, vergleichbar mit Brillmachers Dialog. Ihnen wird anhand eines konkreten Beispiels gezeigt, wie und mit welchen Argumenten sie den protestantischen Laien begegnen können.95 Wiederholt werden im Dialog Mißstände innerhalb der Kirche benannt, was neben der Appellfunktion, diesen entgegenzuwirken, auf eine zweite wichtige Aufgabe verweist. Den Geistlichen wird signalisiert, daß sie im öffentlichen Gespräch durchaus eine kritische Position gegen Mißstände im geistlichen Stand einnehmen dürfen. Das deutet auf eine gelehrt-ironische Ebene, die auf einen ganz anderen Rezeptionszusammenhang verweist. Die Hebammen-Funktion, die Sokrates in den Dialogen zukommt, 96 ist mit der der Hebamme im Gespräch vergleichbar. Auch sie ist die ,Unfruchtbare', nicht nur wegen des Alters der Geburtshelferin, sondern auch wegen ihrer Konfession. Sie stellt zu Beginn Fragen,97 die den Pfarrer zu ausführlichen, ,fruchtbaren' Antworten anregen, weil er sich bemüht, erschöpfende Antworten zu geben. Aus dieser Perspektive ergibt sich eine andere Bewertung des gegen Ende zunehmend monologischen Gesprächs. Gerade weil der Pfarrer bereit ist, sich mit der Hebamme zu unterhalten, kommt er zu umfassender Erkenntnis, die die alte Geburtshelferin angeregt hat. Vergegenwärtigt man sich die in der Vorrede erwähnten katholischen Reformen, so ist die ironische Pointe des Gesprächs, daß Scherer in seinem Dialog eine Situation konzipiert, in der ein protestantischer Laie den Anlaß zum reformerisch-vorbildlichen Verhalten des katholischen Geistlichen gibt. Grundsätzlich anders werden dagegen die protestantischen Geistlichen beurteilt. Mit ihnen ist kein Gespräch möglich, sie können dementsprechend weder von der Wahrheit der Kirche überzeugt werden, noch vermögen sie die katholischen Geistlichen zu besserer Erkenntnis anzuregen. Bischof Urban von Passau, der Zuschreibungsadressat des Gesprächs,98 mit seiner umfassenden literarischen Bildung dürfte diese an den Scharfsinn des gelehrten Lesers appel-

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Der längste monologische Abschnitt reicht über drei Folioseiten! D a s wird gegen Ende deutlich, als der bisher Pfarrherr Genannte unvermittelt v o n der Hebamme als „Dechant" angesprochen wird. Der erklärt der Hebamme: „ich will hinfuran/ [...]/ mit allem Ernst daran sein/ damit alle Ergernuß bey meinen Priestern/ Pfarrherrn vnd Caplän abgeschafft werde. Vnd der nächste Priester der vber mein Warnung [ . . . ] in einem ärgerlichen wesen betretten wirdt/ es sey nun Trunckenheit oder sonst ein anders Laster/ an dem will ich dermassen ein Exempel statuiren, daß die andern werden vrsach haben sich vor der gleichen Fählen zuhüten." Scherer: Gespräch, Bl. 39". Scherer spricht zuletzt die hierarchisch über den einfachen Priestern stehenden Geistlichen an und appelliert an diese, innerhalb ihrer Einflußmöglichkeiten ihnen untergeordnete Geistliche bei Verfehlungen zu bestrafen. Scherer ordnet eindeutig die Fiktionalität des Dialogs der konkreten Empfehlung an den Klerus unter. Vgl. besonders in: Theaitetos, 1 4 8 e - 1 5 1 d . Vgl. Anm. 89. Zu seiner Person vgl. oben S. 191ff.

246 lierende Pointe durchaus verstanden haben; weniger gebildete Geistliche rezipierten diesen Dialog vermutlich eher in der zuerst skizzierten Weise, weil es ihnen an Bildung gemangelt haben dürfte, die gelehrt-ironische Dimension zu erahnen, geschweige denn zu verstehen. Im zweiten Band der Schriften veröffentlichte Scherer den CATECH1SMVS Oder Kinderlehr?9 Er gleicht im Aufbau dem bereits bekannten Muster: Zunächst wird der Glauben (mit einem natürlichen Schwerpunkt im Glaubensbekenntnis) behandelt, es folgen die Sakramente (im Vergleich zu Canisius vorgezogen) und die Liebe mit den Zehn Geboten. Abschließend werden die wichtigsten Gebete thematisiert, wobei das Vater Unser im Mittelpunkt steht.100 Scherer nennt im Titel die angestrebte Präsentationsform des Katechismusunterrichts: Der Text werde „von zweyen Knaben" des Kollegs „recitiert".101 Das verweist auf eine Form des Katechismusunterrichts, bei dem ein Geistlicher zunächst einige Passagen des Katechismus mit zwei Knaben einstudiert. Diese rezitieren danach vor den Mitschülern den präparierten Text, wodurch größere Aufmerksamkeit sowohl bei den vortragenden als bei den zuhörenden Schülern erreicht werden soll.102 Der Catechismvs ist damit in mancherlei Hinsicht ein weiterer , deutscher Canisius'. Jedoch erweist sich Scherer auch in seinem Katechismus als besonders streitfertig. Bereits die einleitenden Fragen zielen auf konfessionelle Abund Ausgrenzung. Auf die zweite Frage „Wer ist vnd sol ein Christ genennet werden?" erfolgt die umfangreiche und im Zeichen der Konfessionalisierung stehende Antwort: „Der nach seiner Tauff die heylsame Lehr Jesu Christi/ deß waren Gottes [...] in seiner Kirchen [...] bekennet/ vnd nicht anhangt einiger Secten/ Spaltungen oder irrigen Lehr/ so gedachter Christlichen vnd Catholischen Kirchen zuwider."103 Noch bevor erste dogmatische Differenzen zwischen Katholiken und Protestanten thematisiert sind, wird das Katholischsein des Antwortenden in den Mittelpunkt gerückt. Auch die folgenden Fragen und Antworten unterstützen dies,104 bevor zum Glaubensbekenntnis übergeleitet wird.

99 Vollständiger Titel: CATECHISMVS Oder Kinderlehr/ Wie dieselben in der Kirchen SOCIETATIS IESV zu Wienn/ auf jeden Sonntag von zweyen Knaben/ Frag vnd Antwort weiß recitiert wirdt. In: Scherer: Ander Theil, S. 388-532. Dieser Katechismus wurde als Einzelschrift nachgedruckt: Passau 1608, Braunsberg 1621, Köln 1683. 100 vgl. ebd.: das Glaubensbekenntnis: S. 389^t21; die Sakramente: S. 4 2 2 ^ 9 2 ; die Liebe: S. 493-522; die Gebete: S. 522-532; das Vater Unser·. S. 524-529. 101

Die Fragen und Antworten des Katechismus sind zum Teil sehr detailliert, was ebenso wie die in einigen Fällen nicht übersetzten Vulgata-Zitate gebildete Katechismusschüler voraussetzt; vgl. z.B. ebd., S. 473, 474, 470. 102 vgl. Paul: Canisius, S. 198f. 103 Scherer: Catechismvs, S. 388. 104 Es folgen Fragen nach dem Christsein von Türken - vielleicht ein Hinweis auf die spezifische Wiener Entstehungssituation, denn der Islam wird in den Einleitungen der anderen zeitgenössischen Katechismen nur selten erwähnt - , Juden, Heiden und zuletzt von Ketzern, auf die geantwortet wird: „Sie seind nicht Christen/ dann ob sie gleichwol die Christlich Tauff empfangen haben/ jedoch hangen sie an besondern meinungen/ irrigen

247 Im Gegensatz zu den Katechismen des Canisius ist der Scherers wie der von Johannes Nas polemisch angelegt; die katholische Lehre wird mit der protestantischen verglichen. Um die Gefahr und die Widerwärtigkeit dieser zusätzlich zu betonen, wird der Katechismustext an einigen Stellen dramatisiert, indem die Gefühle des Fragenden und des Antwortenden in den KatechismusText mitaufgenommen werden. So folgt auf die Auseinandersetzung mit dem 5. Artikel des Glaubenbekenntnisses105 die Frage, wie denn die „Höllenfahrt Christi in ander weg von Ketzern verstanden vnd außgelegt" werde.106 Statt einer direkten Antwort wird zunächst entgegnet: „Es ist erschröcklich daruon zu sagen/ mir schawert gleich die haut/ vnd all mein Haar stehen vber sich/ wann ich daran gedenck." Durch diese Zwischenbemerkung wird die Spannung gesteigert, was durch die Reaktion des Fragenden noch verstärkt wird: „Was ists dann/ lieber Verhalts vns nit?" Der Respondent erklärt darauf, daß Calvin „mit vollem maul" gelästert habe, daß „Christi Seel [...] in die ewige Holl zu den Verdampten hinunder gefahren [sei]/ vnd daselbst Höllische pein [habe] leiden müssen." Der Fragende entsetzt sich darauf: „Behüt vns das Leyden vnd Sterben Christi/ was höre ich da für ein grewliche Gottslästerung?" Dem Antwortenden kommt die Funktion zu, der hetzerischen' die katholische Lehre entgegenzuhalten107 und abschließend die gegnerische Lehre abwertend - quasi als Schlußpunkt - anzugreifen: „Was möcht dem Son Gottes spöttlichers/ schimpflichers/ vnd schmechlichers nachgeredt werden [...]?" Nicht nur, daß Scherer ausfuhrlicher als Canisius die protestantische der katholischen Lehre gegenüberstellt. Er inszeniert und emotionalisiert die Scheu und das Entsetzen vor den ,Ketzern'. 108 Sogar Suggestionen körperlicher Abwehrreaktionen der Dialogpartner („mir schawert gleich die haut") werden in den Katechismus eingebaut.109 Dem Katechismusunterricht kommt mit diesem Catechismvs nicht nur die übliche, Wissen vermittelnde, sondern sogar eine veranschaulichende und ,ergreifende' Funktion zu; der Katechismusunterricht wird zur Vorstufe des Jesuitentheaters.110

Lehren/ Secten vnd Spaltungen/ vnd bekennen Christum nit/ in massen die Catholische Kirch bekennet." Ebd., S. 389. 105 Ebd., S. 389: „Der ffinffte/ Ist abgefahren zu der Höllen/ am dritten tag widerumb aufferstanden von den Todten." 106 Ebd., S. 400; dort auch die folgenden Zitate. 107 „Freylich [...]/ sagt nit Christus [...], Es ist vollbracht?" Ebd., S. 400; nach Joh 19,30. 108 Wiederholt wird auf das spezifisch Zeitgebundene des Ketzertums und die demgegenüber ewigwährende katholische Kirche verwiesen, womit der Anspruch der Protestanten, die .Wahrheit' zu haben, bestritten wird, indem ihr Aufkommen und Vergehen in verschiedenen historischen Epochen erwähnt wird; vgl. ebd., S. 414: „Die Seckten seind gleich einem wetter/ platzregen/ Sturmwind/ trüben wolcken/ die bald widerumb zergehen/ vnd nicht [...] bleiben." 109 Das ist im Hinblick auf die konkrete Umsetzung im Katechismusunterricht wichtig, denn dadurch wurde die Scheu nicht nur artikuliert und begründet, sondern in Szene gesetzt. 110 Daß der Katechismusunterricht auch ansonsten kein starrer Unterricht war, belegen die Katechismuslieder, vgl. dazu Moser: Verkündigung durch Volksgesang; Theo van Oorschot: Katechismusunterricht und Kirchenlied der Jesuiten (1590-1640). In: Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland. Hrsg. von

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Zum Abschluß dieses Kapitels soll es um einen Text gehen, der im Titel ,Katechismus' genannt wird. Diesem Anspruch wird er nur bedingt gerecht. 1587 erschien in Ingolstadt ein Minor Catechismus cum figuris ex Lutheri scriptis Wittembergae excusis eductus. Nun ließ nicht nur der augenscheinlich katholische Erscheinungsort dieses Buches, sondern auch dessen Kompilator, der Grazer Jesuit Sigismund Ernhoffer (gest. 1597), mehr als nur Zweifel an der Zuverlässigkeit dieses Katechismus aufkommen. Bereits ein kurzer Blick in dieses Buch genügt hinlänglich, um zu sehen, daß Ernhoffer eine umfangreiche Darlegung der Äußerungen Luthers vorgelegt hat, die entweder gängiger lutherisch-frühorthodoxer Lehre widerspricht oder aber Widersprüche zwischen unterschiedlichen Äußerungen Luthers aufzeigt. Aus Anlaß dieser Publikation entspann sich umgehend ein heftiger Streit zwischen den beiden lutherischen Theologen Jacob Heerbrand und Wilhelm Zimmermann auf der einen und Ernhoffer auf der anderen Seite.111 Im selben Jahr erschien eine anonyme Schrift ebenfalls in Ingolstadt, die den bezeichnenden Titel Der Evangelische Wetterhan/ das ist: ungleiche Reden Martini Lutheri trägt.112 Auch der Aufbau dieses Buches weist eine Dialogstruktur auf. Letztlich aber unterliegt dieses Buch einem topischen Aufbau, dessen Ziel immer die Betonung des .ungleichen Redens' Luthers ist. Die erste Frage lautet: „Ob Lutherus sein Lehr/ inn Gottes Namen angefangen/ vnd derselben gewiß gewest?" Es folgt ein zentriert gesetztes „Ja."113 Doch ist nicht etwa die folgende Antwort entscheidend - denn auf Blatt 6 r folgt als Antwort zentriert gesetzt ein „Nain". ,Ja' und ,Nein' ordnen die Aussagen. Auf ,Ja' folgen drei Äußerungen Luthers zur Bestätigung und auf ,Nein' fünf als Widerspruch. Die Antworten sind grundsätzlich aus Luthers Schriften genommen und - nach einem umfangreichen Stichprobenbefund immer korrekt zitiert.114 Allerdings sind zahlreiche Zitate verkürzt, so daß die Aussagen mißverständlich sind oder manchmal verfälscht werden. Der erste Beleg für das „Nain" lautet „Mein Hertz ist also gethan/ Daß ich hoffe/ ich habs inn Gottes Namen angefangen/ aber so kiine bin ich nicht/ daß ich dasselb vrtheile vnnd außrueff/ es sey gewißlich nicht anders. Ich wolte nicht gern

Wolfgang Brückner, Peter Blickle, Dieter Breuer. Wiesbaden 1985 (= Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, 13), Tl. 2, S. 543-558. 111 Dieser Streit kann nicht weiter verfolgt werden, einführende Angaben (unter Nennung der Schriften Heerbrands, jedoch nicht derer Zimmermanns) bei de Backer, Sommervogel (Hrsg.): Bibliotheque de la Compagnie de Jesus, Bd. III (1892), Sp. 420f. 112 Sigismund Ernhoffer [Verfasserschaft nicht endgültig geklärt]: Der Evangelische Wetterhan/ das ist: ungleiche Reden Martini Lutheri von der fürnembsten Artickeln Christlicher Religion [...]. Ingolstadt, Graz 1587; 172 Bl. Drei Jahre später erschien in Braunsberg/Preußen ein Nachdruck. " 3 Ebd., Bl. 5'. 114 Der erste Beleg zur Zustimmung lautet Bl. 5r: „ICh hab bißher nur geschertzt vnnd gespielt/ mit des Bapsts sach/ Ich habs in Gottes Namen angefangen/ hoff es sey an der zeit/ daß es auch in demselben/ ohn mich selbst außfüre." Bei Luther heißt es einleitend noch: „Es sollen diße [Artikel des Buchs] eyn anfangk des ernsts seyn, denn ich [...]"; vgl. Warumb des Bapsts und seyner Jungern bucher von Doct. Martino Luther vorbrannt seynn. In: WA 7, S. 161-182, hier S. 180.

249 Gottes Gericht darüber leiden."115 Dieses Zitat erweckt den Eindruck, Luther furchte Gottes Urteil über die Reformation. Doch heißt es bei Luther erläuternd im Anschluß: „[...] ich wolt nit gerne gottis gericht darüber leyden, szondem ich kriech zu seyner gnaden und hoff, er soll es ynn seynem namen lassen angefangen seyn [,..]." 116 Ob dieser Wetterhan ebenfalls aus der Feder Ernhoffers stammt, gar als deutsches Nebenprodukt seines lateinischen Luther-Katechismus betrachtet werden kann, wissen wir nicht genau. Die Parallelen zu seinem .Katechismus' sind immerhin frappierend. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts hat man dies ähnlich beurteilt. 1617 erschien wiederum in Ingolstadt eine Neuauflage dieses Buches. Diese Auflage ist 600 Seiten stark.117 Darin sind neben dem ursprünglichen Text des Wetterhans zahlreiche andere ehedem selbständige Schriften und Auszüge versammelt, die in anderen Zusammenhängen bereits erwähnt wurden. So findet sich unter dem Titel Lutherischer Irrgarten eine Schrift Caspar Querhammers118 und ein Auszug aus dem Septiceps von Johannes Cochlaeus.119 Und es birgt eine Ubersetzung von Ernhoffers Luther-Katechismus sowie eine Schutzschrifft aus seiner Feder gegen Heerbrand und Zimmermann: ENCHIRIDION: Das ist/ Der kleine vnnd Raine Catechismus/ mit einer notwendigen Schutzred/ für die gemeine Pfarrherrn vnd Prediger gemehret vnd gebessert. Auß D.M. Lutheri Schrifften vnd Büchern/ zu Wittemberg getruckt.uo Dem Text voran stehen zwei Luther-Zitate, die das Selbstbewußtsein des Reformators dokumentieren: „Der Luther sey ein Bub oder Heylig/ da ligt mir nichts an1 sein Lehr aber ist nicht sein/ sondern Christus selbs."121 Durch die unkommentierte Nennung dieses Zitats erweckt Ernhoffer zunächst den Eindruck, es liege vielleicht tatsächlich ein lutherischer Katechismus vor. Doch wird schon bei der ersten Frage deutlich, wie wenig dieser Katechismus der gängigen lutherischen Lehrmeinung entspricht:

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Ernhoffer: Wetterhan 1587, Bl. 6'f. Martin Luther: Auf des Bocks zu Leipzig Antwort. In: WA 7, S. 271-283, hier S. 279. Sigismund Ernhoffer: Der Evangelische Wetter=Han/ das ist: ungleiche Reden Martini Lutheri/ von den fürnembsten Artickeln Christlicher Religion: jetzt auffs new zugericht [...]. Ingolstadt 1617. Caspar Querhammer: Sechs vnd dreissig Stell vnd Ort/ da der einige vnd irrige Luther/ in einem einigen Puncten/ von der Communion einer oder beyder Gestalt/ ihm selbs zuwider gelehret [zuerst Halle 1535]. In: Ernhoffer: Wetter=Han 1617, S. 350-375 [Druckfehler: auf Seite 352 folgt S. 363]. Zu Querhammer vgl. oben S. 50ff. Johannes Cochlaeus: Siben widerwertige Köpf deß Luthers. In: Ernhoffer Wetter=Han 1617, S. 376-379. Vgl. dazu Bremer: Von der polemischen Agitation, S. 86-89. Sigismund Ernhoffer: ENCHIRIDION: Das ist/ Der kleine vnnd Raine Catechismus/ mit einer nothwendigen Schutzred/ für die gemeine Pfarrherrn vnd Prediger gemehret vnd gebessert. Auß D.M. Lutheri Schrifften vnd Büchern/ zu Wittemberg getruckt. In: ders.: Wettei=Han 1617, S. 411-600. Ebd., S. 412; das Zitat wörtlich in: Von beider Gestalt des Sakraments. In: WA 10,11, S. 11-41, hier S. 40.

250 Das Erste. Du solt nicht ander Götter haben. Was ist das? Antwort. Wir sollen Gott vber alle ding förchten/ lieben vnd vertrawen. Sol man auch die lieben Heiligen ehren vnnd anrüffen? Antwort Ich sage vnd halte fest mit der gantzen Christenheit/ daß man die lieben Heyligen ehren vnd anrüffen sol/ dann wer mag doch das widerfechten/ daß noch heutiges Tags sichtigklich/ bey der lieben Heyligen Cörper vnd Gräber/ Gott durch seiner Heyligen Namen Wunder thut.

Ernhoffers Schrift ist - im Gegensatz zur topologischen Anlage des Wetterhans - wie ein Katechismus aufgebaut. Doch weist bereits dieses Zitat darauf hin, daß dieser durch und durch polemisch angelegt ist. Sein ,Katechismus' und der Wetterhan zielen in die gleiche Richtung: Aufzeigen der Widersprüche und Zitieren der vermeintlich ,katholischen' Äußerungen Luthers, um die lutherisch-orthodoxe Lehre anzugreifen. Es war deshalb nur konsequent, 1617 diese beiden und die genannten Schriften Querhammers und Cochlaeus' in einem Band zu vereinen. Damit lag ein umfangreiches Buch vor, in dem allein auf der Basis der Schriften Luthers die Evangelischen angegriffen werden konnten. Es geht im Wetterhan von 1617 nicht um die theologische Positionierung der eigenen Konfession, sondern ausschließlich um Widerlegung des Gegners mittels seiner eigenen widersprüchlichen Äußerungen - eine auf Irritation setzende Kompilation der hetzerischen' Widersprüche. Mit einem Katechismus hat Ernhoffers Buch nur dem Titel und der Struktur nach zu tun. Die Fragen zielen in eine ganz andere Richtung. Einzelstücke aus diesem Buch in den Katechismusuntericht eingestreut, mögen vielleicht als religionspolemischer Scherz fur fortgeschrittene Schüler gedient haben, der übliche Katechismusunterricht ließ sich mit Ernhoffers Kompilation nicht gestalten.

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Ebd., S. 414; das Zitat wörtlich in: Unterricht auff etliche artickell, die im von seynen abgunnern auff gelegt und zu gemessen Vverden. In: WA 2, S. 69-73, hier S. 69; zu den historischen Umständen dieses Zitats vgl. ebd., S. 66.

IV. Am Rande der Religionspolemik: Lieder und Gebete zwischen Psychagogik und Erbauung Geistliche Lieder123 und Gebete sind rhetorische Textsorten mit vergleichsweise ähnlichen Funktionen und Stilinventar.124 Beide erheben nicht den Anspruch auf Originalität. Aufbau und Motivik sind regelmäßig und gut verständlich. Gebete und Lieder nehmen in der alltäglichen Religiosität eine zentrale Funktion ein, die christliche Frömmigkeitsgeschichte ist ohne sie nicht denkbar. Auf der Textebene lassen sich Lieder von Gebeten oftmals nur schwer trennen. Das mag zunächst etwas überraschen, doch wenn man sich vergegenwärtigt, welch zahlreiche Formen und Varianten das Gebet aufweisen kann, wird dieser Sachverhalt rasch einsichtig. Selbst im Prosagebet, wie dem Vater unser, wird durch Inversionen und Elisionen nicht völlig auf Redeschmuck verzichtet. In religiösen Sprüchen oder in Stundengebeten sind darüber hinaus zahlreiche repetitive Stilmittel wie die Anapher oder Wiederholungen ganzer Verse prägend. Wichtig ist ferner, daß nicht in allen Liederbüchern Noten abgedruckt waren - Notendruck war teuer sondern ausschließlich der Text des Liedes. So macht erst der Verwendungszusammenhang aus einem religiösen Gedicht ein Lied oder ein Gebet. Die Verfasser von Lieder- und Gebetbüchern haben darauf in vielen Fällen Rücksicht genommen.125 Zumal sie in den Vorreden den Lesern immer wieder erklären, daß die vorliegenden Lieder sowohl gesungen als auch gelesen werden können. Bereits im vorangehenden Kapitel über Katechismen wurde erwähnt, daß zahlreiche Frömmigkeits-Bücher des 16. und des 17. Jahrhunderts als Kompilationen angelegt sind. Auf einen umfangreichen Katechismus folgen oftmals Lieder und Gebete. Andere Bücher zur Beförderung der Volksfrömmigkeit versammeln Lieder, religiöse Sinnsprüche, Gebete und Meditationsbilder nebeneinander. Dabei sind die Texte oftmals nur durch Hinweise auf eine bekannte Melodie als Lieder gekennzeichnet.

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Vgl. Irmgard Scheitler: Das Geistliche Lied im deutschen Barock. Berlin 1982, S. 12-59, bes. S. 13-15. Scheitler unterscheidet zwischen .geistlichem' und ,Geistlichem' Lied; im vorliegenden Buch wird diese Unterscheidung nicht übernommen, vielmehr wird g e i s t lich' hier als Gegensatz zu ,weltlich' verstanden. 124 Wegen der deutlichen Funktionsverhaftetheit der geistlichen Lieder im 16. und 17. Jahrhundert hat Ernst-Walter Zeeden die Erforschung u.a. von geistlichen Liedern für die Geschichtswissenschaft angemahnt: Zeeden: Literarische und ,unliterarische' Texte. 125 Als erstes Gesangbuch, in dem neben Liedern auch Gebete zu finden sind, gilt das von Joseph Klug 1529 herausgegebene Wittenberger Gesangbuch.

252 1. Das geistliche Lied im Spannungsfeld zwischen polemischer Kontrafaktur und literarischem Traditionalismus Im folgenden wird nur am Rande nach Religionspolemik im protestantischen geistlichen Lied gefragt. Das läßt sich dadurch rechtfertigen, daß das geistliche Lied der evangelischen in der germanistischen Literaturwissenschaft besser erforscht ist126 als das der katholischen Kirche.127 Das soll jedoch nicht heißen, daß die Erforschung des lutherischen geistlichen Lieds bisher in einem befriedigendem Maße erfolgt ist, selbst wenn Studien zum geistlichen Lied in der Germanistik eine lange Geschichte haben.128 Vielmehr steht „bis heute keine wissenschaftlich brauchbare Geschichte des geistlichen kirchlichen Liedes und Gesangbuchs zur Verfügung" und noch sind „Detailuntersuchungen zu einzelnen Perioden, Strömungen, Autoren, Typen, Liedern und Gesangbüchern" Forschungsdesiderat.129 Dies gilt gerade für die katholischen geistlichen Lieder, und zwar sowohl im Hinblick auf die Zuverlässigkeit von Einzeluntersuchungen - wie wir sehen werden als auch beim Blick in prominente Literaturgeschichten. In der Darstellung über Das Zeitalter der Reformation geht Hans Rupprich auf geistliches Lied und Kirchenlied ein.130 Das katholische geistliche Lied wird nur am Rande erwähnt, so daß lediglich ein kleiner Ausschnitt aus dem reichhaltigen Fundus vermittelt wird. Luthers Liedschaffen ist der Ausgangspunkt, weil zahlreiche katholische geistliche Lieder ohne die Vorlagen des Wittenberger Reformators vermutlich niemals erschienen wären. Als ein erstes Beispiel sei deswegen die Adaptation von Luthers Mitten wyr im leben sind im ersten katholischen Gesangbuch von Michael Vehe, dem 1537 in Leipzig publizierten New Gesangbüchlin Geystlicher Lieder, vorgestellt. Bei Luther lautet der Text:

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Scheitler (Das Geistliche Lied) geht nur am Rande auf das katholische Lied ein. In einem jüngeren Handbuchartikel nimmt sie katholische und reformierte Lieder in den Blick; vgl. Scheitler: Geistliche Lyrik. Ein äußerst instruktives Bild zum Zusammenhang zwischen Rhetorik und Musik bei Luther (leider ohne Berücksichtigung seines Liedschaffens) bei Stolt: Martin Luthers Rhetorik, S. 127-146. Grundlegend Kemper: Reformationszeit, S. 175-209. Zu diesem Befund gelangt auch Erika Heitmeyer: Das Gesangbuch von Johann Leisentrit 1567. Adaption [sie!] als Merkmal von Struktur und Genese früher deutscher Gesangbuchlieder. St. Ottilien 1988, S. 5f. Für die Musikgeschichte stellt sich dieser Sachverhalt anders dar, weil mit dem umfangreichen ersten Band von Wilhelm Baumker (Das katholische deutsche Kirchenlied in seinen Singweisen von den frühesten Zeiten bis gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts. Freiburg i.Br. 1886) ein musikhistorisches Standardwerk zum katholischen, geistlichen Lied vorliegt. August Heinrich Hoffmann von Fallersleben: Geschichte des Deutschen Kirchenliedes bis auf Luthers Zeit. Hannover 3 1861, Nachdr. Hildesheim 1965. Gerhard Hahn: Die Vermittlung christlicher Lehre in den ,Katechismusliedern' Martin Luthers. In: Harms, Müller: (Hrsg.): Mediävistische Komparatistik, S. 315-331, S. 316f. Rupprich: Das Zeitalter der Reformation, S. 247-264. In der populären Literaturgeschichte von Erika und Ernst von Borries (Deutsche Literaturgeschichte. München 1991, Bd. 1, S. 336-338) gehen die Verfasser gar ausschließlich auf Luthers Lieder ein.

253 Mitten wyr im leben sind mit dem tod umbfangen, Wen suchen wyr der hulffe thu, das wyr gnad erlangen? Das bistu Herr alleyne, uns rewet unser missethat, die dich Herr erzürnet hat. Heyliger herre Gott, Heyliger starcker Gott, Heyliger barmhertziger Heyland, du ewiger Gott, las uns nicht versincken ynn des bittern todes not. Kyrieleyson. Mitten ynn dem tod anficht uns der Hellen rächen, Wer will uns aus solcher not frey und ledig machen? Das thustu Herr alleyne. Es iamert deyn barmhertzikeyt unser klag und grosses leyd. Heyliger Herre Gott, Heyliger starcker Gott, Heyliger barmhertziger Heyland, du ewiger Gott, las uns nicht verzagen fur den tieffen hellen glut. Kyrieleyson. Mitten ynn der Hellen angst unser sund uns treyben,131 Wo soln wyr denn fliehen hyn, da wyr mugen bleyben? Zu dyr herr Christ alleyne. Vergossen ist deyn thewres blut, das gnug fur die sunde thut. Heyliger Herre Gott, Heyliger starcker Gott, Heyliger barmhertziger Heyland, du ewiger Gott, las uns nicht entfallen132 von des rechten glaubens trost. Kyrieleyson.133

Die erste Strophe dieses Liedes geht auf die mittelalterliche Antiphone Media vita in morte sumus zurück, von der es bereits im 15. Jahrhundert verschiedene Übertragungen ins Deutsche gibt. Sowohl der Strophenstruktur als auch der Wortwahl dieser Übertragungen folgt Luther in der ersten Strophe weitgehend. Lediglich einzelne Worte werden ausgetauscht, so ersetzt das Wort „gnad" im vierten Vers die Wörter „huld" bzw. „trost" in den spätmittelalterlichen Vorbil-

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Im Sinne von ,agitant',,beunruhigen' Im Sinne von .abfallen'. Text nach WA 35, S. 453f.

254 dem.134 Doch könnte gewiß trefflich darüber gestritten werden, ob allein durch solche Aktualisierungen aus dem Lied bereits ein reformatorisches wird - der Luther-Gegner Querhammer übernimmt, wie sogleich zu zeigen, die erste Strophe von Luther wörtlich! Dezidiert reformatorisch sind erst die zweite und dritte Strophe, die von Luther neu verfaßt werden. Der leibliche Tod tritt als Bedrohung hinter die fundamentale Sündhaftigkeit und die Angst vor der Hölle zurück, die jeweils in der Anrufung des Herrn und der abschließenden Bitte um Vergebung münden.135 Luther durchbricht in der dritten Strophe an entscheidender Stelle die Perspektive des anbetenden „Ichs" auf Gott. Alle Strophen folgen dem gleichen thematischen Aufbau: In den ersten zwei Versen wird der Standort des Sprechers erläutert. Es folgt in den Versen drei und vier die Frage, auf die im fünften Vers geantwortet wird. In den beiden folgenden Versen wird das Verhältnis zwischen „Ich" und Gott näher ausgeführt, und an dieser Stelle setzt Luther an. In den ersten beiden Strophen werden Sünden der Menschen genannt, die Gott .erzürnen'. In der dritten Strophe dagegen handelt nicht der Mensch, sondern Gott bzw. das ,teure Blutt' Christi. Die Vergebung der Sünden durch den Tod des Heilands am Kreuz bildet in der dritten Strophe den Ausgangspunkt für die Lobpreisung Gottes und die abschließende Bitte. Erst in der dritten Strophe vermittelt das Lied Mitten wyr im leben sind die theologische Einsicht, daß bei allem Schuldbewußtsein und bei aller Sündhaftigkeit des Christen die grundlegende Voraussetzung für die Vergebung der Sünden nicht etwa Reue (Strophe I) und Klage (Strophe II) sind, sondern daß der Kreuzestod Christi, daß also keine menschliche Tat den Christen frei machen kann. Caspar Querhammer war nicht nur ein bekannter Verfasser von Streitschriften gegen Luther,136 er war ebenso ein erfolgreicher Verfasser von Liedtexten einzelne Melodien hat er selbst komponiert, in der Regel sind sie aus älteren Vorlagen übernommen, oder sie wurden von den Organisten Johannes Hoffmann und Wolfgang Heintz komponiert. Von den 52 Liedern des Veheschen New Gesangbüchlin Geystlicher Lieder sind nach Meinung des Musikhistorikers Bäumker 25 von Querhammer getextet worden,137 doch geht bereits Wackernagel davon aus, daß außerdem zahlreiche ,Umdichtungen', die Bäumker unter der Rubrik ,alt' verzeichnet, Querhammer zuzuschreiben sind.

134 Vgl. dazu die Einfuhrung zu Mitten wyr im leben sind, ebd., S. 126-132. 135

Vgl. dazu ebd., S. 128. Vgl. oben S. 50fF., sowie Schräder: Querhammer. 137 Vgl. Bäumker: Das katholische deutsche Kirchenlied, S. 125f. 136

255 Mitten wir ym leben synt mit dem todt vmbfangen: Wen suchen wir der hilffe thu, das wir gnad erlangen? Das bist du, Herr, alleyne. Vns rewet vnser missethat, die dich, Herr, erzürnet hat Heyliger Herre Gott, heyliger starcker Gott, heyliger barmhertziger Heyllandt du ewiger Gott, Laß vns nit versyncken in des byttern todtes nodt Kyrieeleyson. Mitten in dem byttern todt schrecket vns dein vrtheyll: Wer will vns aus solcher nodt helffen zu der seien heyl? Ο Herr, du bists alleyne Der auß grosser guttickeyt vns beystandt thut alle zeyt. Heyliger Herre Gott, heyliger starcker Gott, heyliger barmhertziger Heylland, du ewiger Gott, Laß vns nit verzagen so vns die Sünd thut nagen. Kyrieeleyson. Mitten in der feynden handt thut die forcht vns treyben: Wer hilfft vns, dann der Heylland, das wir gantz sicher bleyben? Christe, du bists alleyne. Denn du der gute hyrtte bist der vns woll bewaren ist. Heyliger Herre Gott, heyliger starcker Gott, heyliger barmhertziger Heylland, du ewiger Gott, Laß vns frydlich sterben, mach vns deines reychs erben. Kyrieeleyson. 138

Querhammer übernimmt die erste Strophe wörtlich von Luther, und er verfaßt ebenfalls drei Strophen, die thematisch eine Einheit bilden, was wie bei Luther durch die Anapher „Mitten" betont wird. Er setzt sich in den Strophen zwei und drei offensiv von Luther ab, indem konsequent die Furcht thematisiert wird, die

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Zit. nach Philipp Wackernagel: Das deutsche Kirchenlied. Von der ältesten Zeit bis zum Anfang des XVII. Jahrhunderts. Leipzig 1877, Reprint Hildesheim, Zürich, N e w York 1990, Bd. V, S. 953f.

256 sich aus der gegenwärtigen Situation des „Ichs" ergibt. In Strophe zwei ist es die Furcht vor dem Urteil Gottes im Angesicht des eigenen Todes. In der dritten Strophe konkretisiert Querhammer nicht etwa die Furcht vor dem Letzten Gericht, sondern die gegenwärtige Situation: „Mitten in der feynden handt | thut die forcht vns treyben". Das „Ich" berichtet von seiner Furcht, die es durch nicht näher benannter Feinde befällt. Dabei dürfte es sich um weltliche Feinde handeln, denn ein teuflischer Feind wäre mit großer Sicherheit nicht im Plural genannt worden, es hätte „in des feyndes handt" und nicht etwa „in der feynden handt" heißen müssen. Diese defensive Ausrichtung, die noch durch den Hinweis auf die schützende Funktion des Herrn als Hirten (etwa Psalm 23) und die abschließende Bitte um einen friedlichen Tod unterstrichen wird, unterscheidet Querhammers Liedtext von dem Luthers. Querhammer hat bis zu seinem Tod unter militanten Lutheranern leiden müssen, weswegen davon ausgegangen werden darf, daß es sich in diesem Lied um Ansätze zu verhaltener, persönlich gefärbter Gereiztheit und Abscheu gegen das Luthertum handelt. Bemerkenswert ist ferner die Tendenz, den Liedtext möglichst eingängig zu gestalten. In der zweiten und dritten Strophe verändert Querhammer die vier Eingangsverse nicht nur inhaltlich, er greift auf einen Kreuzreim zurück, der bei Luther fehlt (bei diesem ist das Reimschema der ersten vier Verse jeweils xaya). Er nimmt das letzte Wort der ersten Strophe in der zweiten als Reimwort wieder auf („nodt - todt") und beschließt die Strophen zwei und drei vor dem „Kyrieeleyson" jeweils mit einem Paarreim. Ferner zieht Querhammer im fünften Vers die Anrufung Gottes bzw. Christi an den Versanfang, während Luther es bei einer Stellung mitten im Vers beläßt. Dadurch betont Querhammer die dialogische Struktur der ersten Strophenhälfte. Die appellative Anrufung signalisiert, daß nun die Antwort auf die unruhige Frage des „Ichs" („Wer will vns aus solcher nodt I helffen zu der seien heyl?") folgt: „O Herr, du bists alleyne". Mitten wir ym leben synt von Caspar Querhammer ist kein geeignetes Beispiel für Polemik im Lied. Allerdings kann die Technik der Kontrafaktur, mit der Querhammer aus Luthers Lied ein katholisches macht, als polemisch intendiert bewertet werden. Es galt, die Bekanntheit und Beliebtheit des vermeintlichen Luther-Liedes für die katholische Kirche dienstbar zu machen. Die Varianten des Media vita blieben im 16. Jahrhundert verbreitet. Es ist in Leisentrits Liederbuch von 1567,139 und im von den Jesuiten beförderten Catho-

139 vgl. Johann Leisentrit: Geistliche Lieder vnd Psalmen/ der alten Apostolischer recht vnd warglaubiger Christlichen Kirchen/ so vor vnd nach der Communion/ vnd sonst in dem haus Gottes/ zum theil in vnd vor den Heusern/ doch zu gewönlichen zeitten/ durchs gantze Jar ordentlicher weiß mögen gesungen werden/ Aus klarem Göttlichem Wort/ vnd Heiliger geschrifft Lehrern (Mit vorgehenden gar schönen vnterweisungen) Gott zu lob und ehre/ Auch zu erbawung vnd erhaltung seiner heiligen allgemeinen Christlicher Kirchen/ Auffs fleissigste vnd Christlichste zusamen bracht. Olmütz o.J. [1567]. Nachdr. Kassel 1966, Bl. CCCXXIIir-CCCXXVr. Zur Bedeutung des Veheschen Gesangbuchs für das Leisentrits vgl. Heitmeyer: Das Gesangbuch von Johann Leisentrit, S. 50-57. Beide Gesangbücher waren Druckprodukte der gleichen Familie; Nicolaus Wolrab druckte Vehes Liederbuch, sein Sohn Hans Wolrab Leisentrits.

257 tischen Gesangbüchlein von 1613 ist eine einstrophige Variante abgedruckt. Dort wird das Lied in Anlehnung an seine Ursprünge explizit Das Media vita, Teutsch genannt,140 dazu im folgenden. Gerade das von Querhammer wie von Luther vorgenommene Verfahren der Adaptation bekannter, oft spätmittelalterlicher Lieder verhieß rasche Verbreitung im Kirchenvolk.141 1567 erschien das umfangreiche und prächtige Liederbuch von Johann Leisentrit (1527-1586). 142 Dieser war nach dem Studium der Theologie und der Priesterweihe zunächst als Dekan und als Administrator mit zum Teil bischöflicher Gewalt im Bistum Bautzen tätig. Nimmt man Leisentrits umfangreiches Liederbuch in die Hand, fallt es um so schwerer, Querhammers Adaptation Mitten wirym leben synt zu den polemischen Liedern zu zählen. Ein Beispiel: BEy deiner kirch erhalt vns Herr/ Behüt vns vor allr Sectenlehr/ dein Kirch ist einig vnzertrent/ Bey deinem Rock man sie erkennt.143 Der Secten lehr seindt menschen fundt/ Sie sein zertheilt vnd han kein grundt/ Vorführen manches frommes hertz/ Vor Gott ist es fürwar kein schertz. Der Türck auch schrecklich morden thut/ vnd tilget aus der Christen Blut/ durch deinen schweren bittern Todt/ Erlöset aus der Hellen noth. Beweis Ο HERR dein gwaltig kraffi/ Damit der Türck an vns nichts schafft/ Hilff das die Secten außgerott/ Werden durch dein Göttliches Wort. Ach HErr dich es erbarmen las/ der du hilffest ohn alle maß/ die hertzlich dir vertrawen thun/ vnd Jesu Chiristo deinem Sohn.

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Vgl. Catholisch Gesangbüchlein. München 1613. Photomechan. Nachdr., mit Kommentar und Nachwort von Otto Holzapfel. Amsterdam 1979, S. 18f. Wie wesentlich dieses Verfahren in Leisentrits Liederbuch ist, fuhrt Heitmeyer: Das Gesangbuch von Johann Leisentrit, S. 25, aus. Zum musikhistorischen Hintergrund vgl. Walther Lipphardt: Johann Leisentrits Gesangbuch von 1567. Leipzig 1963. Der einige Rock der Kirche ist Metapher für deren Einheit und spielt auf den heiligen, nahtlosen Rock Christi an, der als Trierer Rock ein wesentliches Symbol der katholischen Frömmigkeit geblieben ist; vgl. dazu Heitmeyer: Das Gesangbuch von Johann Leisentrit, S. 129, Anm. 285.

258 Gott heiliger Geist du tröster werdt/ Erhalt dein Kirch eins sins auff Erd/ Steh bey j r in der letzten noth/ 144 Gleit vns ins leben aus dem Todt. 145

Das Lied trägt die Überschrift „Ein Kinder Liedt zusingen wider die zwene Erbfeindt der heiligen Allgemeiner CHristlichen Kirch/ Als den Ketzer vnd Türcken." Auch dieses Lied geht auf ein Luther-Lied zurück, das heute in einer entschärften Variante gesungen wird.146 Luthers Überschrift ist nicht weniger aggressiv: „Ein Kinder lied, zu singen, wider die zween Ertzfeinde Christi und seiner heiligen Kirchen, den Bapst und Türcken, etc." Der Liedtext lautet: ERhalt uns HErr bey deinem Wort Und steur 147 des Bapsts und Türcken Mord, Die JHesum Christum deinen Son Wolten stürtzen von deinem Thron. Beweis dein Macht, HERR Jhesu Christ, Der du HErr aller HErren bist, Beschirm dein arme Christenheit, Das sie dich lob in ewigkeit. Gott heiliger Geist du Tröster werd, Gib deim Volck einrley sinn auff Erd. Sthe bey uns in der letzten Not, Gleit uns ins Leben aus dem Tod. 148

Luthers ERhalt uns, HErr wurde um 1542 verfaßt und in den folgenden Jahren vielfach verbreitet und um einige Strophen erweitert, so daß es zu Leisentrits Zeit bereits als sechs-strophiges Lied vorlag. Dadurch verliert es den Trinitätscharakter, der fur Luthers Lied ursprünglich kennzeichnend ist. Nicht nur die einfache Paarreimstruktur, auch der Bittcharakter und die Appelle an Gott legen eine Verwendung als Gebet nahe.149 Bereits auf Luther selbst geht die Funktionszuschreibung im Titel zurück. ERhalt uns, HErr ist damit ein frühes Beispiel für den psychagogischen Einsatz von Gebeten und Liedern zur Kindererziehung mit den Mitteln der Religionspolemik. 150 Dem Papsttum wie den

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Mit diesem Vers wird auf die besonders in nachtridentinischer Zeit beliebte Bildlichkeit der streitenden Kirche (ecclesia militans) rekurriert; die letzte „noth" steht für die letzten, aber auch schwersten Angriffe in der Apokalypse, die die Kirche erleiden muß, bevor sie über ihre Widersacher obsiegt (ecclesia triumphans)·, vgl. Barbara Bauer: Einleitung. In: Bauer, Leonhardt (Hrsg.): Triumphus divi Michaelis, S. 53-59. 145 Leistentrit: Geistliche Lieder, Bl. CCLXXVIII v -CCLXXX r . 146 „Erhalt uns Herr, bei deinem Wort und steure deiner Feinde Mord, [...]." 147 Im Sinne von ,gebiete Halt'. l « WA 35, S. 467f. 149 Vgl. ebd., S. 235-248. 150 Seit sich die Psychologie verstärkt der Kirche zugewandt hat, ist wiederholt vor Psychagogie bei der Frömmigkeitserziehung von Kindern gewarnt worden, vgl. etwa den Kirchenkritiker und Psychoanalytiker Tilmann Moser: Von der Gottesvergiftung zum erträglichen

259 Türken wird mörderische Absicht unterstellt, um Christus vom .Thron' zu stürzen. Doch sei dieses Unterfangen bereits vergangen und also gescheitert, worauf der Einsatz des Präteritums im Relativsatz der ersten Strophe („Wolten stürtzen") verweist. Gott wird als Schützer und als Tröster vorgestellt, auf den es zu vertrauen gilt, um die lebensbedrohliche Situation zu überstehen. Der Liedtext gibt die lutherische Deutung der Türkenkriege als Geißel des Christentums wieder, der nicht durch militärische Gegenwehr, sondern durch defensives Gottvertrauen und Frömmigkeit zu begegnen sei, was jedoch militärischen Widerstand der weltlichen Obrigkeit ausdrücklich nicht ausschließt.151 Dementsprechend ist das Hauptanliegen Luthers in diesem Lied weniger Polemik gegen das Papsttum und Aggression gegen die Türken (beide Aggressoren werden kurz genannt), er wendet sich vielmehr dem Christenvolk, vornehmlich den Kindern zu, um sie im rechten christlichen Verhalten zu unterweisen. ERhalt uns, HErr ist ein polemisches und ein didaktisches Lied. Das katholische BEy deiner Kirch ist eine polemische Kontrafaktur von ERhalt uns, HErr. Zunächst werden übliche Topoi der Ketzerpolemik zitiert, die Einigkeit der Kirche wird der Uneinigkeit der ketzerischen Lehren gegenübergestellt (Strophe l). 152 In der zweiten Strophe wird das Wesen der Ketzerei näher erläutert. Sie ist nicht göttlicher, sondern menschlicher Natur, sie ist uneins, und sie ist unbegründet, folgt nicht der kirchlichen Auslegung der Heiligen SchriftZiel der Ketzerei sei die Verführung des Christen. Das nimmt sich vielleicht defensiv aus, beim Blick in die dritte Strophe aber wird durch den Vergleich mit dem ,türkischen Morden' die Qualität der Ketzerei einsichtig: Beiden geht es um die Auslöschung der Christenheit. Die Türken, die bei Luther Anlaß zur Lieddichtung sind,154 dienen in BEy deiner Kirch nur noch zur Erläuterung. Ins Zentrum des Interesses tritt der konfessionelle Feind, was in

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Gott. In: Kirche ohne Z u k u n f t ? Evangelische Kirche - W e g e aus der Krise. Hrsg. von Heike Schmoll. Berlin 1999, S. 13-35, bes. S. 20. Vgl. Martin Brecht: Luther und die Türken. In: Guthmüller, Kühlmann (Hrsg.): Europa und die Türken, S. 9 - 2 7 , bes. S. 25f. Bereits in der Vorrede z u m Kap. 13 ,Von der K i r c h ' , Leisentrit: Geistliche Lieder, Bl. C C L X V I ' - C C L X X " , hier Bl. CCLXX", erklärt Leisentrit die Bedeutung der kirchlichen Tradition für die B e k ä m p f u n g der Ketzerei: „ D e s w e g e n soll ein jeder f r o m m e r Christlicher mensch wissen/ es auch dafür halten/ vnd entlich gleuben/ das zu förderung der Seelen Seligkeit hoch dinstlich ist/ in der alten waren Allgemeinen Christlichen Kirchen/ bis z u m ende/ bestendiglich zuuorbleiben vnd nach zu volgen/ den Fusstapffen der heiligen Väter/ Märtyrer/ Lehrer/ vnd Vorfarn vnsers Christlichen glaubens/ durch welche Gott grosse wunderwerck gewircket/ die heilige schrifft ( D a r u m b m a n jtzo zancket) vns außgeleget." Dazu erläutert Leisentrit in der Vorrede zum Kap. 13, ebd., Bl. C C L X X ' : „ D a r u m b wird die Authoritet vnd gewalt der Kirchen hier durch auch voracht/ daraus dann erfolget w a n n einer wider den andern Disputirn/ vnd sich widersetzen wil/ pfleget ein j e d e r a n z u n e m e n vnd zu zulassen/ auch zu vorwerffen/ welche Schrifft er wil/ vnd wird solcher gestalt kein w e g mehr gefunden/ jrgent ein weitleufftige vnd in dem außgedruckten klarem wort Gottes vngegründter Materiam/ zu Decidiren vnd zu orttem. D a r u m b die alten so wol auch nun mehr die newen Ketzer/ wollen die Schrifft (jeder nach seinem gefallen vnd gutdüncken) deuten vnd außlegen [...]."

15" Vgl. W A 35, S. 2 4 0 - 2 4 3 .

260 dem Appell „Hilff das die Secten außgerott/ Werden durch dein Göttliches Wort" gipfelt. Es ist der Kürze der Gattung geschuldet, daß die Ketzer nicht näher differenziert werden. BEy deiner Kirch ist in Leisentrits Liederbuch im Kapitel „Von der Waren heiligen Christlichen Kirch vnterweisung" abgedruckt, in dem weitere religionspolemische Lieder gegen Ketzer und Türken zu finden sind. In der Einleitung zu diesem Kapitel geht Leisentrit auf die genannten Wesensmerkmale der Ketzerei ein und nennt historische Beispiele. Dabei beläßt er es nicht. Er konkretisiert, welche Varianten der Ketzerei Mitte des 16. Jahrhunderts bekannt seien: Man sehe an zu vnsern zeitten/ die Caluiner/ Osiandrische/ Schwenckfeldische/ Stanckarische/ Illiricisten/ Heßhusianer/ Schmideliner vnd andere mehr/ ob wol keiner mit dem andern in der Lehre gleich stimmet/ dennoch eines jeden hauffen spricht/ bey j m sey die Kirch/ vnd die es mit ihnen nicht halten/ müssen für Ketzer geachtet werden. 155

In ihrer Dissertation aus dem Jahr 1988 attestiert Erika Heitmeyer Leisentrit mit Blick auf BEy deiner Kirch eine „kompromißbereite Haltung" und einen „ironischen Umgang mit der polemischen Vorgabe Luthers".156 Sie begründet dies mit dem Fehlen Luthers in der zitierten Liste der ,Ketzer'. Doch ist diese Deutung irreführend, weil Leisentrit nicht einfach die „kirchenpolitische Situation" widerspiegelt, wie Heitmeyer meint.157 Vielmehr repräsentiert Calvin bei Leisentrit eine theologische Position, die jenseits der Confessio Augustana steht. Außerdem nennt er die unterschiedlichen lutherischen Parteiungen, für die Flacius („Illyricus") und Andreae („Schmidel") stehen. Aus dieser Liste zu folgern, „Anhänger Luthers" würden nicht zur „Liste der Ketzer" gezählt,158 ist falsch. Leisentrit nennt Luther nicht, doch wird er den Reformator ebenso wie Andreae zu den Ketzern gezählt haben. Beide wurden von Leisentrit mit seiner gewiß sehr differenzierten Wahrnehmung der Reformation vielleicht weniger geringschätzig beurteilt als vermeintlich schwärmerische' Positionen oder als die Calvinisten - Leisentrit erwähnt Calvin grundsätzlich an prominenter Stelle, wenn er von den ,Ketzern' redet. Doch entspricht deswegen die Einschätzung dieses Liedes durch Heitmeyer nicht schon den historischen Gegebenheiten. Jenseits der Kirche standen Luther wie Calvin aus Sicht Leisentrits zweifellos. Gegen Heitmeyers Interpretation spricht auch, daß jeder Leser dieses Gesangbuchs BEy deiner Kirch als polemisches Lied gegen Lutheraner verstanden hat - unabhängig von Leisentrits persönlicher Differenzierung der reformatorischen Positionen. Wenn in diesem Zusammenhang überhaupt von irenischen Momenten die Rede sein kann, trifft das ausschließlich für die Lösung des Ketzerproblems zu. Der Appell der vierten Strophe „Hilff das die Secten außgerott/ Werden durch dein Göttliches Wort" favorisiert eine theologische Lösung des Konflikts. Eine militärische .Ausrottung' der Ketzer wird nicht in Erwägung gezogen, was vor 155

Leisentrit: Geistliche Lieder, Bl. CCLXIX v f. Heitmeyer: Das Gesangbuch von Johann Leisentrit, S. 124. Ebd. '58 Ebd. 156

261 dem Hintergrund der zunehmenden Militanz der Religionsstreitigkeiten nicht selbstverständlich war, sondern zum einen der gemischtkonfessionellen Situation im Bistum Bautzen und zum anderen Leisentrits persönlichen Neigung zur religiösen Toleranz geschuldet sein dürfte. Er folgt mit dieser irenischen Geste einer vermittelnden Linie innerhalb der Papsttreuen, die für einen anderen prominenten Lieddichter und einflußreichen Theologen, für Georg Witzel, kennzeichnend ist. Witzel hat mehrere Bücher veröffentlicht, in denen er neben Liedern Gebete und kurze religiöse Sinnsprüche gesammelt hat. Nach Caspar Querhammer hat er die meisten Lieder zum Veheschen Liederbuch beigetragen. 159 In seinen kleinen Odae Christianae von 1541 160 hat er einige Lieder publiziert, die er zwar in die altkirchliche Liedtradition stellt, für die er jedoch Aktualisierungen ausdrücklich rechtfertigt. In der Vorrede erklärt er: Dem Leser genad vnd heil in Christo Jesu. DIse vnd der gleychen vil mehr Cantilen/ machet ich vorzeytten in Sachssen/ wenn mich etwa ein lust zu singen ankame. Was der Kyrchischen Hymnen ist/ hab ich mehr nach dem sinn/ weder nach den Worten deudschet/ Vnd solches müsset ich auch der Choralischen melody halben thun. [...] Glaube wol/ es sol auch dir/ Christen lay/ wenn du dis singest oder lisest/ on grossen schaden sein. Eigentlich siiche ich/ wie bis anher/ deiner lieben seien nutz. Weichs mir/ so bald dis langwirig vnd scheuslich wetter vergangen/ auch meine bitterste feinde bezeugen sollen. Jesu Christi/ der vnser lobgesang alzeit ist/ Geist/ trost vnd heil/ sey mit vns allen/ Amen.' 6 1

In den Odae Christianae findet sich „Der Läyen tegliche Litania/ oder supplication für die gemeyne Kyrche zu singen/ wie die Clerisey die Litany auff den Osterabent singet."162 In dieser Litanei erwähnt Witzel die Ketzer mit einer ähnlichen Formel wie Leisentrit: Sih herab auff deine heilige samlung/ Ο Herr erbarm dich über vns. Das dein ehre sey in jrer handelung/ Ο Herr erbarm dich über vns. [...] Beware sie vor schedlichen geistern/ Ο Herr erbarm dich über vns. Das sie sich nit laß Rotten meistern/ Ο Herr erbarm dich über vns. Halt sie fest in frid vnd einigkeit/ Ο Herr erbarm dich über vns. Das sie bleibe in der lauterheit/ Ο Herr erbarm dich über vns. [...]

159 160

161 162

Vgl. Baumker: Das katholische deutsche Kirchenlied, S. 125f. Georg Witzel: ODAE CHRISTIANAE Etliche Christliche Gesenge/ Gebete vnd Reymen/ für die GotsfÖrchtigen Layen. O.O. [Mainz] 1541. Ebd., keine Blattzählung, nach Lagenzählung Bl. Aij'f. Ebd., nach Lagenzählung Bl. Bij v -Biiij'.

262 Wir bitten für alle Heydenschafft/ Ο Herr erbarm dich über vns. Türcken/ Inseln/ vnd gantze Judenschaft Ο Herr erbarm dich über vns. Wir bitten für alle ketzer vberall/ Ο Herr erbarm dich über vns. Vnd Secten die da gehn nach eigner wal Ο Herr erbarm dich über vns. Wirck/ dz sie vom vnglauben ablassen Ο Herr erbarm dich über vns. Mach das sie die warheit fassen Ο Herr erbarm dich über vns. [...] 1 6 3

Wie im beinahe 25 Jahre später erschienenen BEy deiner Kirch wird zunächst das Wesen der einheitlichen Kirche dargelegt. Erst darauf folgt die Hinwendung zur ,Heidenschaft' und zu den Ketzern. Für beide wird explizit um Erbarmen gebetet. Witzel legt damit ein Zeugnis konfessioneller Toleranz ab. Er grenzt die Ketzer, die .Rotten', aus und reicht ihnen trotzdem mit einer Geste christlicher Milde und Vergebungsbereitschaft die Hand.164 Offene verbale Aggression fehlt in seiner Litanei. Doch rechtfertigt dieses Lied andererseits die These, daß die Lieder von Leisentrit, der bestens mit Witzeis Werk vertraut war,165 deutlich polemisch gehalten sind. Dieser Befund läßt sich durch die im Vergleich zu Witzel aggressivere Wortwahl Leisentrits rechtfertigen. Er spricht vom schrecklichen Morden' und von der drohenden , Austilgung' der Christen, der allein durch die .Ausrottung' der Ketzer begegnet werden könne. Und in einem anderen Lied formuliert Leisentrit: „Darumb spricht Gott ich muß auff sein/ mein Kirch ist schier zurstöret/ Ihr seufftzen dringt zu mir herein/ ich hab ihr klag erhöret/ Die alt war lehr soll auff dem plan/ die Ketzer weidlich greiffen an/ wie vor alters auch gschehen."166 Witzel schildert dagegen recht verhalten die Gefahr, die von den Ketzern und Heiden für die Christenheit ausgehe. Jene seien ,schädliche Geister', die die Christen versuchten. Solch zurückhaltende Umschreibungen für die Taten vermeintlicher Ketzer sollten in den folgenden Jahrzehnten die Ausnahme bleiben. Querhammer, Witzel und Leisentrit haben in ihren Liedern darauf verzichtet, die Ketzer namentlich zu erwähnen. Kommt es dagegen zur Namensnennung, geht dies mit deutlicher Aggressivität einher. Johannes Nas verfaßte mit Ein new geistlich Gesang eine besonders streitsüchtige Bewertung der Reformation.167 Das Lied sei in „Bruder Veitens Thon", als Landsknechtlied zu singen, was sogleich einen militärischen und weniger, wie bei den bisher erwähnten Liedern, einen geistlichen Kontext nahelegt.

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>66 167

Ebd., nach Lagenzählung Bl. Bij v -Biij v . Das entspricht der um Irenik bemühten theologischen Position Witzeis, vgl. Henze: Witzel. Vgl. Heitmeyer: Das Gesangbuch von Johann Leisentrit, S. 26f. Ach Gott von Himel. In: Leisentrit: Geistliche Lieder, Bl. C C L X X M X L X X I F , hier Bl. CCLXXrf. Zuerst erschienen im Handbüchlein von Nas aus dem Jahr 1570, hier zit. nach Wackernagel: Das deutsche Kirchenlied, S. 1025-1027.

263 [...] 4 Der Luther, so was kommen, ein mitternächtlich Man, Het die Kirch furgenommen vnd jr vil arges than, Mit schreiben vnd mit lehren die einfalting bethort, darauf nahent vnd feren kam jamer, blut vnd mort. 5 Eben wie seine schuppen all Predigcautzen argk Haben die steten schuppen, der Sathan raitzt sie starck Wider die Teütschen frommen, die Teütschen frommen all, die sie gar thun verdummen auß Gottes Kinder zal. 6 Fälschlich sie jetzundt schreyen wanns auff der Cantzel stehn ,Mort der Papistereye wils dann nit vndergehn? [...]. 7 Gründlich thu ich euch lehren, setz euch mein seel zupfannt: Wer glaubt des Luthers mären ist ewigklich verdampt. Dann er sein lehr mit schaden, mit trug vnd Tyranney der Welt hat auffgeladen, für dwarheit Ketzerey. [-] 19 Thu Fürst vnd all ir Herren, auch du gemainer Man, Der Ketzer thut euch weren, Gots kirchen hanget an, Das wirdt euch nit gerewen weder hie oder dort, dann selig die verharren im guten biß in Tod.

In Johannes Nas' Lied finden sich, im Gegensatz zu den bisher vorgestellten Liedern, keine Ansätze zur Vermittlung oder zur Toleranz - durch die zeitliche Nähe zu Leisentrits Gesangbuch könnte das immerhin erwogen werden. In den Strophen vier bis sechs agitiert er mit derber Wortwahl und massiven Vorwürfen gegen das Luthertum. Luther selbst sei eine höchst dubiose Gestalt gewesen, die für zahlreiche Blut- und Mordtaten verantwortlich sei. Das Attribut „mitternächtlich" für Luther verweist nicht nur auf eine zweifelhafte Gestalt, die heimlich, in tiefster Dunkelheit operiert. Es steht für nordisch, was aus Sicht des Brixener Weihbischofs weniger eine lokale, als vielmehr eine theologische Be-

264 deutung hat. Nach dem Propheten Jeremias wird alles Unheil von Norden her auf Jerusalem losbrechen.168 Mit diesem Attribut aktualisiert Nas die Vorhersage des Propheten; dabei bezieht sich das ,nordische Unheil' nicht auf Nas' Amtssitz Brixen, sondern auf Rom. Die lutherischen Prediger setzten dieses zerstörerische Werk fort. Die Verballhornung des Wortes ,Predikant', Hilfsprediger, als ,Predigcautz' gehört dabei zum Standardrepertoire der religiösen ebenso wie der allgemeinen Satire und ist keineswegs nur von einer Konfessionspartei in Anschlag gegen den Gegner gebracht worden. So verwendet es etwa Johann Fischart in der Geschichtklitterung (zuerst 1575, fünf Jahre nach dem Erscheinen von Nas' Lied): „Kont doch jener Predikautz, wie im Sauffteufel steht, am besten predigen, wann er eyn rausch hat [,..]." 169 Und mit den ,festen Schuppen', die Luther und seine Anhänger auszeichneten, greift Nas eine satirische Wendung auf, die auf Luther selbst zurückgeht. Dieser hat dem Papst und seinen Anhängern mehrfach drachenhafte Schuppen unterstellt, in Anspielung auf die Darstellung des Teufels als Drachen.170 Nas nimmt den gegnerischen Vorwurf auf und wendet ihn gegen Luther - eine reßexio, eine Streittechnik, die wir im Zusammenhang der Streitschriftenanalyse ausfuhrlich kennengelernt haben und die durch die Kürze des Liedtextes besonders prägnant wirkt. In einem anderen Lied von Johannes Nas gipfelt die satirische Verunglimpfung des Luthertums in der anachronistischen ,Prophezeiung' des Apostel Paulus: „ [...] wie Paulus hat verkündet: | Der Glaub nimbt ab durchs Lutherthumb, I all boßhait sich entzündet."171 Nas' Angriffe gegen das Luthertum sind keinesfalls beliebig. Vielmehr versucht er, den evangelischen Anspruch auf satirische Weise zu erschüttern und als abiblisch und teuflisch bloßzustellen. Zur Untermauerung seiner Vorwürfe wirft Nas seine eigene Seele in die Waagschale, um den Ketzervorwurf gegen die Lutherischen zu betonen: „setz euch mein seel zupfannt". Im Vergleich mit den übrigen Liedern wirkt dieses Lied aus zwei Gründen sehr polemisch. Zum einen ist es die konkrete Anbindung des Ketzervorwurfs an Luther und dessen Nachfolger. Während in anderen Liedern auf konkrete Namensnennung verzichtet wird und die Ketzer-Gefahr durch die Nennung der Türken manchmal als eine von mehreren Bedrohungen relativiert wird, steht das Luthertum bei Nas singulär als einzige Ursache fur Gewalttaten und Mordappelle. Zum anderen unterscheidet sich Nas' Ein new geistlich Gesang von den zuvor genannten Liedern durch die Aufforderung an die Fürsten, Herren und den gemeinen Mann, sich gegen die Ketzer zu wehren. Dadurch erhält das Lied eine ausgesprochen weltlich-gewaltsame Dimension. Die drei sozialen Gruppie-

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Jer 1,13-19. Johann Fischart: Geschichtklitterung. Text der Ausgabe letzter Hand hrsg. von Ute Nyssen. Darmstadt 1967, S. 29. Käuzen wird bereits in den Satiren bei Brant und Murner ein zweifelhaftes und wenig schmeichelhaftes Wesen unterstellt; vgl. Grimms DWb 5 (1873), Sp. 366-370. Vgl. Grimms DWb 9 (1899), Sp. 2014. Aus der 6. Centurie von Johannes Nas aus dem Jahr 1569, zit. nach Wackernagel: Das deutsche Kirchenlied, S. 1024.

265 rungen wird der Franziskaner zweifellos nicht in die Pflicht nehmen, die Ketzerei durch die Bibel zu bekämpfen. Die Strophe 19 muß als Appell an Feldherren und Soldaten gewertet werden, mit festem Mut dem Luthertum militärisch zu begegnen. Erst durch diesen Appell erklärt sich die Zuordnung als Landsknechtlied. Vor dem Hintergrund des Liedtextes wird davon auszugehen sein, daß Nas mit Ein new geistlich Gesang ein propagandistisches Lied fur gegenreformatorische Heerzüge verfaßt hat. Es ist nur bedingt zu den geistlichen Liedern zu zählen.172 Ohne einer breiten Gattungsdiskussion an dieser Stelle den Raum bieten zu können, sei andererseits daran erinnert, daß es im uns schon bekannten Handbüchlein publiziert wurde, in dem wir einen Katechismus besonders polemischer Prägung finden. Zwar rekurriert sein Lied nicht auf einen kirchlichen Kontext wie Witzeis Lieder. Andererseits kann ein geistlicher Kontext, etwa eine Prozession, nicht ausgeschlossen werden. Die meisten Verfasser von katholischen geistlichen Liedern wenden sich gegen Ende des 16. Jahrhunderts und zu Beginn des 17. Jahrhunderts Themen der Volksfrömmigkeit zu und vernachlässigen zunehmend religionspolemische Tendenzen. Bereits der zweite Teil von Leisentrits Liederbuch weist diesen Weg. Er ist im selben Jahr wie der erste Teil erschienen und findet sich sowohl als einzelnes Buch als auch als Gesamtausgabe in zahlreichen Bibliotheken.173 Im Zentrum steht die Marien-, die Heiligen- und die Märtyrerverehrung, wie bereits auf dem Titelblatt angekündigt wird: Das ander Theil Geistlicher lieder von der allerheiligsten Jungfrawen Maria der außerweiten Mutter Gottes/ Auch von den Aposteln/ Martyren/ Vnd anderen lieben Heiligen. Noch eindeutiger wird diese Hin- und Rückwendung zur Marien- und Heiligenverehrung in jesuitischen Liederbüchern. Beredtes Zeugnis von dieser Tendenz legt etwa das erwähnte Münchener Catholische Gesangbüchlein aus dem Jahr 1613 ab.174 Dieses Buch scheint nicht von einem Jesuiten verfaßt zu sein, doch belegen Besitzvermerke erhaltener Exemplare und die Angabe der Druckerei „Anna Bergin, Wittib" den jesuitischen Kontext, in dem dieses Buch entstanden und eingesetzt worden ist. Anna Berg hatte die Druckerei von ihrem Mann Adam Berg nach dessen Tod übernommen und an ihren Sohn Adam Berg d.J. später weitergegeben. Bücher von Münchener Jesuiten erschienen in ihrer Druckerei, aber auch Musikdrucke von Orlando di Lasso und Matthäus Rader.175 Zahlreiche Lieder knüpfen an spätmittelalterliche Texttraditionen an, wie etwa die Variante des Media vita, Teutsch:176

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Es handelt sich vielmehr um ein Volkslied im Sinne Mosers: Verkündigung durch Volksgesang, S. 9-15. 173 Vgl. Heitmeyer: Das Gesangbuch von Johann Leisentrit, S. 63f. Die in der vorliegenden Arbeit zitierte Reprint-Ausgabe versammelt den ersten und zweiten Teil. 174 Vgl. oben S. 257, Anm. 140. 175 vgl. Leisentrit: Geistliche Lieder, Nachwort S. lf. 176 Es gab noch zahlreiche weitere Varianten des Liedes, vgl. bereits Hoffmann von Fallersleben: Geschichte des Deutschen Kirchenlieds, S. 326.

266 Mitten in dem Leben sein/ Wir mit dem Todt vmbfangen/ Wen suchen wir der hülffe geit/ Daß wir Gnad erlangen/ Das bist du HERR alleine/ Vns rewet vnser Missethat/ Die dich HERR erzürnet hat/ Heiliger HERRE GOTT/ Heiliger starcker GOTT/ Heiliger Barmhertziger Heylandt/ Du ewiger GOTT/ Hilffdaß wir nicht verderben/ Deß bitterlichen Todts/ Laß vns dein Huld erwerben/ Hilff vns auß aller Noth/ Kyrieleyson.

Der anonyme Verfasser rekurriert mit der Wortstellung zu Beginn, die dem lateinischen Original angenähert ist („Media vita", „Mitten in dem Leben"), und mit dem Einsatz des Enjambements zwischen erstem und zweitem Vers auf den lateinischen Ursprung des Liedes. In der altkirchlichen Antiphone heißt es in nur einem Vers „Media vita in morte sumus."177 In den deutschen Übertragungen wird dieser Satz immer in zwei Versen übersetzt. Durch den Zeilensprung „sein/ I Wir" wird eine Sinneinheit zwischen erstem und zweitem Vers hergestellt, wodurch ein Zusammenhalt erreicht wird, der der lateinischen Prägnanz nahezukommen versucht. Luther und Querhammer verzichten darauf zugunsten einer überraschenden Wendung hin zum Tod (vom ersten zum zweiten Vers), die sich bereits in den spätmittelalterlichen Übertragungen ins Deutsche ankündigt. In diesen wird die jeweilige Übersetzung von „sumus" im zweiten Vers genannt, während Luther und Querhammer im ersten Vers „sumus" vollständig übersetzen.178 Die Trennung von „sein/ | Wir" auf zwei Zeilen ist dagegen neu. Ob die im Münchener Gesangbüchlein vorliegende Lösung durch das Enjambement gelungen ist, mag dahingestellt sein. Sie spricht auf jeden Fall für eine erneute Auseinandersetzung mit der Liedtradition und für eine gute sprachliche und literarische Bildung des Verfassers, weil sie ohne jeden Zweifel eine um Originalität bemühte Lösung des Übersetzungsproblems ist. Während in den früheren Varianten zwei Verse das Lied ausklingen lassen, sind es nun vier Verse. Zunächst folgt der Verfasser ausdrücklich der Bitte um Beistand im Tod, die auch in den Vorlagen zu finden ist. Neu ist dagegen die Bitte um Huld, die es ausdrücklich zu „erwerben" gilt, ein Rekurs auf spätmittelalterliche Vorlagen. Pointiert wird aus Mitten wir im leben sind ein dezidiert katholisches Media vita, Teutsch mit abschließendem Kreuzreim. Mit Polemik hat das nichts zu tun, vielmehr liegt ein literarischer Traditionalismus vor, mit dem gezielt die kirchliche Liedtradition vor der Reformation aufgegriffen wird. Er ist Ausdruck einer gezielten Konfessionsbildung im engeren, nicht strukturhistorischen

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Vgl. WA 35, S. 126. Vgl. ebd., S. 127.

267 Sinne. Weitere Beispiele dafür ließen sich aus dem Münchener Gesangbüchlein anführen. Bemerkenswert sind neben Liedern zum Marienlob179 vier Lieder mit lokalem Bezug,180 hier werden Sankt Kilian, Sankt Salvator, die ,Liebe Frau' zu Altöttingen sowie Sankt Benno angerufen. Münchens Stadtpatron war in dieser Zeit auch Gegenstand mehrerer Jesuitendramen, deren Periochen übrigens ebenfalls in der Bergschen Offizin gedruckt wurden.181 Anders als die alten Orden hatten die Jesuiten keine eigene Ordensliturgie und eigenen liturgische Bücher. Begründet wurde dies mit der möglichen Ablenkung von der Seelsorge.182 Da andererseits die Bedeutung des volkssprachlichen Liedes für die Reformation erkannt wurde, ergab sich aus dem engen Zusammenhang von Katechismusunterricht und Kirchenlied183 eine Hinwendung der Jesuiten zum volkssprachlichen Lied.184 Erste Andeutungen finden sich dazu bereits 1576 im Dillinger Gesangbuch.185 Neben dem Münchener Gesangbüchlein sei abschließend noch ein Buch vorgestellt, das von Conrad Vetter verfaßt wurde. Vetter (1548-1622) war, ähnlich wie Nas, ein wortgewandter und wortgewaltiger Polemiker, der in seinen eigenen Streitschriften und Übersetzungen der Polemiken Jacob Gretsers vor derber Wortwahl und grobianischen Wendungen nicht zurückschreckte. Auch als Lieddichter hat er sich einen Namen gemacht. Doch zeigt sich auch bei ihm, daß die Tage der Polemik im katholischen geistlichen Lied gezählt waren.186 Vetters Paradeißvoge/187erschien im gleichen Jahr wie das Münchener Gesangbüchlein. Es enthält lediglich 15 Lieder, doch sind diese zum Teil sehr umfangreich. Die Nachtigall deß H. Bonauenture etwa umfaßt 90 Strophen, die auf 30 Seiten abgedruckt sind.188 Der Umfang der Lieder und das weitgehende Fehlen von Noten legen eher die Lektüre als das Singen der Lieder nahe. Doch fordert Vetter ausdrücklich auch zum Singen der Lieder auf. Die Lieder seien „nicht

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Etwa: Ο Maria dich heben wir an zu loben. In: Catholisch Gesangbüchlein, S. 59-65. •80 Ebd., S. 136-194. 181 Vgl. Fidel Rädle: .Benno Comoedia'. Münchens Stadtpatron auf der Jesuitenbühne. In: Literatur in Bayern 49 (9/1997), S. 2 - 1 1 . 182 Vgl. Dietmar von Huebner: Jesuiten. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. von Ludwig Finscher. 2. neubearb. Aufl. Kassel, Stuttgart 1996, Bd. 4, Sp. 1460-1475, bes. Sp. 1462. 183 Theo van Oorschot: Katechismusunterricht und Kirchenlied. Zum lutherischen Katechismuslied vgl. Hahn: Die Vermittlung christlicher Lehre. 184 Im Gegensatz dazu war das katholische Volkslied durch „unauffällige Konfessionalität" gekennzeichnet; Moser: Verkündigung durch Volksgesang, S. 19. 185 Vgl. ebd., S. 547. 186 Einzelne Ausnahmen ebd, S. 195 oder S. 604f. 187 Conrad Vetter: Paradeißvogel/ Das ist/ Himmelische Lobgesang/ vnd solche Betrachtungen/ dardurch das Menschliche Hertz mit Macht erlustiget/ von der Erden zum Paradeiß/ vnd Himmelischen Frewden gelockt/ erquickt/ entzündt/ vnd verzuckt wirdt: Meisten theils auß den heiligen alten Vättern/ mit sonderm Fleiß außerlesen/ zusamm gezogen/ vnd auß dem Latein/ allen frommen alten Teutschen zugefallen in vnser Sprach gebracht. Ingolstadt 1613, Reprint Stuttgart 1999 (= Rarissima litterarum, 8). ' 8 8 Ebd., S. 50-80.

268 allein zulesen/ vnd zubetrachten/ sonder auch andächtig zusingen".189 Sie sind in der Regel nicht auf einen bestimmten „Thon", eine eindeutige Melodie, festgelegt. Religionspolemik findet sich in diesen Liedern, die überwiegend zum Lob der Jungfrau Maria verfaßt sind, nur punktuell. Vor einem Marienlob heißt es knapp: „Da findt man die vralt Andacht/1 Die Luthers newe Pursch verlacht."190 Dem in der Ketzerpolemik üblichen Hinweis auf die Neuartigkeit der ketzerischen Lehre wird das Alter des Liedes als Beweis seiner Rechtmäßigkeit gegenübergestellt. Zu einem anderen Marienlob zählt folgende Strophe: „Schaw an eben/ ihr gantz Leben/ | Ist ein Himmelische Zucht/ | Alle Ketzer/ lose Schwetzer/ [ Sie allein treibt in die Flucht."191 Maria wird Gewalt zugesprochen, die Ketzer zu bekämpfen, die „lose Schwetzer" seien. Die Lieder von Conrad Vetter sind Ausdruck eines gefestigten katholischen Glaubens. Aggressive, gegenreformatorische Polemik haben die katholischen Lieder des frühen 17. Jahrhunderts hinter sich gelassen192 - selbst wenn sie ihren Dichtern weiterhin nicht fremd war. Ein vollständiger Eindruck vom volkssprachlichen Lied der Katholiken und von seiner funktionalen Anbindung an der Schwelle zum 17. Jahrhundert kann in dieser Arbeit nicht vermittelt werden. Andere, allen voran Dietz-Rüdiger Moser, haben sich weit umfassender und vollständiger zu diesem Thema geäußert und dabei nicht, wie es hier geschehen ist, die Lieddichter anderer Orden vernachlässigt.193

2. Gottes Liebe und die Macht des Gebets: Festigung und Pflege des Konfessionsbewußtseins Gebete sind Stiefkinder der literaturwissenschaftlichen Forschung, nur mühsam gelangt der Interessierte an Informationen über den Formenreichtum des volkssprachlichen Gebets und über seine Verwendungszusammenhänge im religiösen Kultus und Alltag der Frühen Neuzeit. Dieses Defizit kann in diesem Kapitel nicht behoben werden. Es soll anhand weniger ausgewählter Beispiele gezeigt werden, daß wir bei den Gebeten ähnliche Tendenzen wiederfinden, wie sie für das Lied gelten. Das thematische Spektrum reicht abermals von irenischer Milde bis zu schärfster Psychagogik. Wieder sind es die gleichen Schriftsteller, die für die unterschiedlichen Tendenzen stehen. In den ODAE CHRISTIANAE Georg Witzeis findet sich beispielsweise ein Stundengebet, das für jede Stunde des (hellichten) Tages einen Zweizeiler im Paarreim vorsieht. Eröffnet wird das Gebet mit: „Gottes Sohn ist mensch geboren warlich/ | Darbey bleiben wir alle

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So in der Vorrede an den Leser, unpaginiert. Ebd., S. 27. Ebd., S. 32. Vgl. zu diesen Tendenz oben S. 207ff. Moser (Verkündigung durch Volksgesang) geht nicht nur auf jesuitische Liedpropaganda, sondern auch auf franziskanische Liedkatechese ein.

269 verharlich." Es geht um Vermittlung einfachster Glaubensinhalte, wie das Gebet für die vierte Stunde zeigt: „Wir glauben stracks nach heiliger Schriffi/ | Jud/ Ttirck vnd Sect ist tödtlich gift." Auch wenn der alte Glauben niemals als „Sect" bezeichnet worden wäre, vielleicht hat Witzel trotzdem befurchtet, daß der erste Vers dieses Reimpaars protestantisch (miß-)verstanden werden kann, als Betonung des allein selig machenden Glaubens. Auf jeden Fall trägt er für die folgende fünfte Stunde eine Erläuterung zur Bedeutung der guten Werke nach: „Wer nur glaubt/ vnd nit wircken wil/ | Der irret weit vom rechten zil."194 Außerdem finden sich Sinn- oder Merksprüche in der ODAE CHRJSTIANAE: „Predig/ wie dirs die Bibel sagt/ | Der Herr mit dir/ sey vnuerzagt/ | Vor newen leren hüt du dich/ | Gerewets ymand/ so schelt er mich."195 Witzeis Gebete und Sprüche sind sehr allgemein gehalten, sie benennen nicht, wer mit der ,Sekte' gemeint ist, und sie entwerfen kein konkretes Feindbild. Das ist bei Johannes Nas erneut anders. Seine Gebete gegen Ketzer und Türken setzen unverhohlen auf die Angst des Betenden und vermeiden die satirischen und anspielungsreichen Metaphern, die wir in seinen Liedern finden: Lieber Herr Gott/ behüt vns vor dem bösen Türcken/ vor den abtrünnigen Mammalucken/ Ketzern/ vnd Lutherischen/ vnd vor allen Rotten vnd Secten/ das wir nicht von ihn erwürget oder verfüret werden/ inn Aberglauben/ erhalt vns bey vnser lieben Mutter/ der alten beständigen Kirchen/ wider alle Pforten vnd eingäng der Hölle/ durch Christum vnsern Herrn Amen. 196

Ohne bemerkenswertes Stilinventar entwirft der Franziskaner in diesem Kindergebett ein Schreckensszenario. Die betont schlicht gehaltene Wortwahl und das einfache Gut-B Öse-Muster des Gebets unterstreicht, daß es Nas um die Einschwörung der Kinder auf die katholische Kirche durch eindringliche Worte geht. Dieses Gebet ist um eine vergleichbare psychagogische Wirkung bemüht wie Luthers Lied ERhalt uns, HErr. Der Einsatz der sprachlichen Mittel und die Drastik der Darstellung orientieren sich an der Zielgruppe des Gebets. Das zeigt ein Beispiel von Petrus Michael Brillmacher. Es findet sich am Ende seines deutschen Katechismus: Gebett vmb abwendung der schedlichen Spaltung Christlicher Religion. HErr Jesu Christe/ du allergütigster vnd trewster Hirt des Schaafstalls/ vnd stewrman des Schiffleins deiner Kirchen/ Ο aller trewster Breutigam deiner Braut/ vnd fleissiger versorger vnd arbeiter deines Weinbergs. Ach Herr wie lang wiltu schlaffen? wann wiltu auffwachen vnd vns nicht in grund verderben lassen? Was sollen wir sagen von der heimlichen Zerrüttung deines Christlichen Volcks/ von der schedlichen Spaltung/ von der verfelschung deines heiligen Worts/ von schendung deiner hochheiligen Sacramenten/ von vndergang vnd Verweisung deines rechten Diensts? Was sollen wir gedencken/ vnd sagen/ Ο Barmhertziger Gott/ dann daß dir wol solches nicht vnbewußt/ sonder daß vnser sünd dein angesicht von vns gewendt/ Daher der leidig Satanas gewalt bekommen die vilfeltige Secten des Verderbens einzufuren/ vnd solches grosses verderben zu verursachen. Ο Herr/ erbarme

194 Alle Zitate aus Georg Witzel: ODAE CHRISTIANAE, nach Lagenzählung Bl. Ciiij v . ι « Ebd., Bl. Cvij'. 196 Johannes Nas: Handbüchlein, Bl. 102vf.

270 dich der vbrigen deines volcks/ die noch nit ihre knie vor dem Baal vnd gülden Kelbern der newen Secten gebeuget. Erhalte sie Herr/ vnd lasse sie wie das gold im fewr bewert vnd gereiniget werden. Erbarme dich der vnuerstendigen irrigen Schäflin/ die auß deinem Schafstall verfurt/ vnd schwerlich irren: Vnd lasse sie durch deine trewe Diener mit gutem wandel vnd lehr versehen vnd funden werden. Wehre Ο Herr den reissenden wölffen/ Entdeck der weit/ wie sie vnder den schafskleidern/ falschem schein der warheit/ des worts Gottes vnd Euangelio/ so schrecklich das volck zerstrewen/ zerreißen vnd würgen. Beweg die hertzen deiner Bischoffen vnd Prelaten/ vnd aller Seelsorger/ daß sie ihre ampt wol bedencken/ wol vorsehen sich vnd ihrer herd/ vber welche du sie gesetzt hast zu regieren deine Kirch/ die du dir erworben durch kostbarlich Blut. Gib ihnen ein hertz. Gib der Weltlichen Obrigkeit/ Fürsten vnd Herrn/ daß sie ihr lust setzen zu der zier des hauß des Herrn/ mit allem fleiß darnach trachten/ wie durch widerbringung gemeinen fridens in der alleinseligmachenden Catholischen Kirchen diß groß verderben einmal angeschafft wird/ das reich des Teuffels zertrennet/ dein Reich/ glory vnd ehr in allen vnd von allen gemehret von nu an biß in ewigkeit. Amen.' 97

Dieses Gebet entspricht dem gängigen Aufbau eines Prosagebets. Am Anfang steht die wiederholte Anrufung Christi durch synonyme Tropen der christlichen Heilslehre, auf die eine Vielzahl rhetorischer Fragen folgt, die zur Darstellung des beklagenswerten Zustandes der Christenheit dienen. Dabei geht es weniger darum, Christus in die Pflicht zum Handeln zu nehmen („Ach Herr wie lange wiltu schlaffen?"). Die rhetorischen Fragen dienen zur Vorbereitung der Erkenntnis des eigentlichen Übels: „daß vnser sünd dein angesicht von vns gewendt [...]." Das Umsichgreifen Satans ist durch die Sündhaftigkeit des christlichen Volks provoziert worden. Diese Einsicht gibt keinen Anlaß zur weiteren Klage, vielmehr hilft das Gebet mit der Bitte um Vergebung und Unterstützung fur die Menschen, die als Geistliche und Fürsten in besonderer Verantwortung für die Christenheit stehen. Das Gebet folgt den üblichen Topoi der Schuldbekenntnisse und Appelle um Vergebung, wie auch der gängigen Bitten um Unterstützung der bestehenden, im Sinne von bewährten Schutzmächte. Gebete konnten für die Festigung und Pflege der Konfession des Betenden wichtige Dienste leisten, sie unterstützten die Laienkonfessionalisierung und das sich entwickelnde Konfessionsbewußtsein.

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Brillmacher: CATECHISMUS, S. 439f.

V. Jesuitischer Humanismus statt gegenreformatorischer Agitation: Die Vertreibung der Religionspolemik von der Bühne des späten 16. Jahrhunderts Ganz anders verhielt es sich mit dem Theater. Das frühe Reformationsdrama war neben der Predigt wichtiger Ort der religionspolemischen Agitation. 198 Die Beispiele sind zahlreich, vom lateinischen Eckius dedolatus über den Pammachius bis hin zum Totenfresser des Pamphilus Gengenbach reicht das breite Spektrum der reformatorischen Polemik gegen das Papsttum auf dem Theater.199 Fragt man sich, welche Funktion und welches Gewicht der konfessionellen Polemik im Theater des 16. und frühen 17. Jahrhundert zukam, ist ohne eine zuvor vorgenommene Differenzierung des Dramentyps keine befriedigende Antwort möglich. Statt dessen läßt die Frage den nachhaltigen Wandel erahnen, den das religionspolemische Theater im 16. Jahrhundert vollzogen hat. Daß die religiöse Polemik als ein Hauptkennzeichen des deutschen Theaters, wie es sich ab etwa 1520 allmählich durchsetzte, anzusehen ist, ist heutzutage unumstrittene communis opinio der Literaturwissenschaft. Daß die Kunst im Dienste der Belehrung und Erbauung stand, darf nicht wundernehmen, insbesondere wenn man bedenkt, daß die Reformation in hervorragendem Maße auf alle literarischen Gattungen zurückgriff, um ihr Programm zu popularisieren. 200

Jean-Marie Valentins Äußerung bezieht sich auf Moralitäten, auf tendenziöspädagogische Spiele des 16. Jahrhunderts, deren bekanntestes Stück auf katholischer Seite der Euripus des niederländischen Minoriten Levin Brecht (1502/03— 1560) ist.201 Darin läuft die moralische Erbauung der bloßen, in seelsorgerlicher Hinsicht unproduktiven Religionspolemik bereits den Rang ab, was einer der Gründe dafür sein dürfte, daß die Jesuiten auf ihren Bühnen das Stück des

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Zu diesem Funktionszusammenhang grundlegend Fidel Rädle: Theater als Predigt. Formen religiöser Unterweisung in lateinischen Dramen der Reformation und Gegenreformation. In: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 16 (1997), S. 4 1 - 6 0 . Zur Einführung vgl. Rupprich: Das Zeitalter der Reformation, S. 313-389; eine schöne Anthologie immer noch: Froning (Hrsg.): Das Drama der Reformationszeit. Jean-Marie Valentin: Die Moralität im 16. Jahrhundert: Konfessionelle Wandlung einer dramatischen Struktur. In: ders.: Theatrum catholicum, S. 113-127, hier: S. 113. Livinus Brechtus: Euripus. Tragoedia Christiana. Zusammen mit der Übersetzung von Cleophas Distelmayer hrsg. von Fidel Rädle. In: ders. (Hrsg.): Lateinische Ordensdramen des XVI. Jahrhunderts. Berlin, N e w York 1979 (= Ausgaben Deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts, Reihe Drama, VI), S. 1-293.

272 Franziskaners wiederholt gaben. Das Jesuitentheater wird gegen Ende des 16. Jahrhunderts zunehmend zu einem Massenphänomen und zu einem der literarhistorisch gewichtigsten Gegenstände der Frühen Neuzeit überhaupt - man vergegenwärtige sich die Dauer und die Vielzahl der Stücke: Die Anfange des Jesuitentheaters liegen in den 1550er Jahren, und es endet erst mit der Aufhebung des Ordens 1773. In jedem Jahr wurden durchschnittlich - nach vorsichtigen Schätzungen - 120 Stücke aufgeführt. 202 Neben der moralischen Erbauung der Zuschauer waren auf der Bühne der Jesuiten Stücke zu sehen, in denen die Bedeutung der humanistischen Bildung betont wird, wie etwa im Stratocles des Jacob Pontanus.203 Fidel Rädle hat diese Tendenz des Jesuitentheaters „gegenreformatorischen Humanismus" genannt, die katholische Kirche obsiegt über die Häresie mittels Glauben und Bildung204 - die Jesuitendramatiker haben sich „mit direkter konfessioneller Polemik auf der Bühne in erstaunlichem Maße zurückgehalten."205 Jesuitische Streitschriften und Jesuitentheater existierten nicht losgelöst nebeneinander. Vielmehr muß eine Funktionsteilung zwischen diesen beiden rhetorischen Medien sowie der Predigt angenommen werden,206 die zwar eine Differenz, aber auch eine Wechselwirkung wahrscheinlich macht. Allein schon ein Blick auf die Namen der Dramatiker des Ordens läßt ahnen, wie eng Schauspiel und Streitschrift (und die Predigt) miteinander verknüpft waren. Peter Michael Brillmacher oder Jacob Gretser207 etwa waren ebenso produktive Polemiker wie Dramenautoren. Wie wichtig szenische und dialogische Elemente für die Streitschriften waren, ist im Rahmen der Streitanalyse ausgeführt worden.208 Doch stellt sich umgekehrt die Frage, ob und in welcher Form Streitschriften Bedeutung für das Jesuitendrama hatten. Um dies beantworten zu können, sei zuvor anhand eines Beispiels skizziert, wie konfessionelle Polemik im Drama des Ordens realisiert wurde. Es wird sich zeigen, wie gering ihr Anteil im Jesuitentheater selbst bei Anlässen von konfessionspolitisch höchster Bedeutung war.

202 Vgl. Jean-Marie Valentin: Das Jesuitendrama im Dienste der religiösen und moralischen Erziehung. In: ders.: Theatrum catholicum, S. 77-91, bes. S. 77f. 203 Jacob Pontanus: Stratocles sive bellum. In: Rädle (Hrsg.): Ordensdrama, S. 297-365. 204

Fidel Rädle: Gegenreformatorischer Humanismus: Die Schul- und Theaterkultur der Jesuiten. In: Hammerstein, Walther (Hrsg.): Späthumanismus, S. 128-147. 205 Rädle: Das Jesuitendrama in der Pflicht, S. 185. 206 vgl. Barner: Streitschriften und Theater. 207 Man denke etwa an den bekannten Udo von Magdeburg Jacob Gretsers; Edition des Texts von 1587 mit Übersetzung bei Rädle (Hrsg.): Ordensdrama, S. 369-433; Urs Herzog: Jacob Gretsers „Udo von Magdeburg" 1598. Edition und Monographie. Berlin 1970 (= Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker, N.F. 33). 208 Vgl. etwa oben S. 1291T.

273 1. Agonistik statt Polemik 1597 wurde in München die Jesuitenkirche St. Michael in einem prächtigen Festakt eingeweiht.209 Die herzogliche Familie210 war ebenso wie zahlreiche Vertreter der Kirche, weitere bayerische Adelige und Repräsentanten der Stadt erschienen. Für das Gelingen des Festaktes waren die Hausherren der neuen Kirche, die Münchener Jesuiten, zuständig. Hier in München bzw. in Ingolstadt lebten, lehrten und predigten die wichtigsten Jesuiten nördlich der Alpen. Nirgendwo sonst, nicht einmal in Wien oder Köln, war Rom so präsent wie in München. Das galt es, zur Schau zu stellen und zu feiern. Für den Festakt hatten die zwei bedeutendsten Köpfe in München, Rader und Gretser, zusammen mit anderen Jesuiten211 eine prächtige Festschrift mit dem Titel Trophaea Bavarica verfaßt, die Wilhelm V. gewidmet ist und den Gästen während des Festaktes überreicht wurde. In der Festschrift wird von den drei .bayerischen Siegeszeichen' berichtet. Das erste .Siegeszeichen' ist der apokalyptische Sieg des Erzengels Michael über die Heerscharen des Satans, der in epischer Breite erzählt wird. Zahlreiche Andeutungen und Zitate aus der Aeneis Vergils sowie aus anderen antiken Erzählungen dokumentieren die hohe argute Erzählkunst jesuitischer Prägung, die die Trophaea kennzeichnet.212 Das zweite ,Siegeszeichen' ist das Haus Wittelsbach, dessen Geschichte in Form einer Chronologie der Herzöge als Geschichte eines stets der militia Christi verpflichteten Herrscherhauses dargestellt wird. Das dritte .Siegeszeichen' ist die Jesuitenkirche St. Michael selbst. In diesem Kapitel der Festschrift wird der Leser wie ein Besucher durch die Kirche geführt. Dabei geht es den Erzählern nicht um eine Beschreibung kunsthistorischer Prägung. Vielmehr findet sich ein beinahe meditativ-andächtiger Bericht über die Kunstschätze und Reliquien, die den Besucher beeindrucken sollten.213 In den Trophaea Bavarica hat der Erzengel Michael trotz der Gefahren und Versuchungen der Zeit sein Siegeszeichen errichten können, und die Verfasser nehmen kein Blatt vor den Mund, welche Männer das Seelenheil der rechtgläubigen Bayern vor allen anderen gefährdet haben:

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Vgl. das Material über den Bau der Münchener Jesuitenkirche im 4. Teil des Katalogs von Baumstark (Hrsg.): Rom in Bayern, S. 375-412, sowie ebd., S. 83-146: Johannes Terhalle: ... ha della Grandezza de padri Gesuiti. Die Architektur der Jesuiten um 1600 und St. Michael in München. 210 Vgl. dazu Glaser: nadie sin fructo; sowie im Katalog das 3. Kapitel ,Das Haus Wittelsbach und die Gesellschaft Jesu', ebd., S. 330-374. 211 Vgl. Hess, Schneider, Wiener (Hrsg.): TROPHAEA BAVARICA, S. 270. 212 Hervorragend aufgearbeitet im Kommentar der Faksimile-Ausgabe. Zur arguf/a-Bewegung vgl. Volker Kapp: Argutia. In: HWR 1 (1992), Sp. 991-998; grundlegend Barner: Barockrhetorik, S. 355-360. 213 Sabine M. Schneider: Bayerisch-römische Siegeszeichen. Das Programm der Münchener Michaelskirche und seine zeitgenössische Rezeption aus der Perspektive der Einweihungsfestschrift. In: Baumstark (Hrsg.): Rom in Bayern, S. 171-198.

274 Impia non illam scelerarunt ausa Lutheri, Nulla propinauit Caluinus toxica, nulla Zuinglius, et quicquid monstri tulit ilia Chimaera. 214

Luther, Calvin und Zwingli werden als die , Wesen' genannt, die die Chimäre, die antikisierende Umschreibung fur Luzifer, in der jüngsten Vergangenheit hervorgebracht habe. Der Triumph des Erzengels, des Herzogs Wilhelm V. und der Jesuitenkirche wird damit von Beginn der Festschrift an nicht nur ein Triumph der jesuitischen Rhetorik und der kunstfertigen Latinität. Die TROPHAEA BA VARICA sind eine Festschrift des triumphierenden Katholizismus über die protestantische Ketzerei. Im Triumphus Divi Michaelis, dem Jesuitendrama, das aus Anlaß der Einweihung von St. Michael verfaßt und aufgeführt wurde, finden sich weniger konkrete Hinweise auf konfessionspolemische Elemente als in der Festschrift.215 Zunächst dürfte es angebracht sein, einen Blick auf die deutschsprachige Perioche des Spiels zu werfen.216 Diese knappen, gedruckten Inhaltsangaben waren hervorragende Mittel der Rezeptionssteuerung besonders der Zuschauer, die nicht der lateinischen Auffuhrungssprache mächtig waren. Sie halfen zu verstehen, was aus Sicht der Patres das für das Volk, die Laien, Wichtige an diesem Stück war. In der Vorrede der Perioche findet sich neben einer Lobpreisung des Erzengels Michael eine Dankadresse an Wilhelm V., in der dieser wegen seiner rühmlichen Schenkungen an den Jesuitenorden und seiner Stiftungen für die Kirche St. Michael gepriesen wird. Auf die Vorrede folgt ein dreiseitiges Personenverzeichnis, das erahnen läßt, welch ungeheure Anzahl an Beteiligten für dieses festliche Schauspiel notwendig waren, insgesamt wird von ca. 900 Darstellern auszugehen sein.217 Bezugspunkt des Dramas ist der apokalyptische Sieg des Erzengels Michael über den Drachen, den das erste Siegeszeichen in den Trophaea Bavarica zum Gegenstand hat. Im Drama wird nicht die knappe Episode in der Offenbarung dargestellt. Der oder die Verfasser des Spiels218 nehmen den apokalyptischen Stoff zum Anlaß, um einen triumphalen Sieg der Kirche mit Hilfe des Erzengels Michael über alle teuflischen Wesen zu zeigen.

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Hess, Schneider, Wiener (Hrsg.): TROPHAEA BAVARICA, S. 12, die Übers. S. 13: „Nicht Luthers frevlerisches Tun hat dieses Volk [die Bayern] verdorben, auch Calvin konnte ihm genauso wenig seinen Gifttrank einflößen wie Zwingli und was an Mißgeburten sonst diese Chimäre hervorgebracht hat." Bauer, Leonhardt (Hrsg.): Triumphus divi Michaelis. Zum Triumph-Gedanken im Jesuitentheater außerdem Fidel Rädle: Frischlin und die Konfessionspolemik im lateinischen Drama des 16. Jahrhunderts. In: Holtz, Mertens (Hrsg.): Nicodemus Frischlin, S. 495-524, hier das Kapitel 5: „Das Jesuitentheater: Werben, Rechtbehalten, Triumphieren", S. 521-524. Triumph vnnd Frewdenfest/ Zu Ehren dem Heiligen Ertzengel Michael/ Als Schutzfiirsten vnd Patron/ der Newgeweychten Herrlichen Kirchen. In: Das Jesuitendrama im deutschen Sprachgebiet. Eine Periochen-Edition. Texte und Kommentare hrsg. von Elida Maria Szarota. 3 Bde. München 1979-1983, hier: Bd. 3,2 (1983), S. 417^138. Vgl. Szarota (Hrsg.): Das Jesuitendrama, Bd. 3,1 (1983), S. 2093. Bauer, Leonhardt (Hrsg.): Triumphus divi Michaelis, S. 35, folgen diesen Zahlen. Bauer, Leonhardt (Hrsg.): Triumphus divi Michaelis, S. 93f., schließen die bekannten jesuitischen Dramatiker in München, Rader und Gretser, aus.

275 Es verschwinden die Grenzen zwischen biblischen, antiken, historischen und zeitgeschichtlichen Stoffen, so daß neben Luzifer zahlreiche heidnische Gottheiten wie ein Donnergott auftreten, der gleichzeitig die ,Hoffart' verkörpert die Germanisierung der Hoffart kann dabei als Bezug auf Luther gedeutet werden, doch wird das nicht konkretisiert. Mit Luzifer verbündet sind .tyrannische Kaiser und Könige', wie Nero oder Attila. Den Bogen zur Gegenwart schlagen, das Personenverzeichnis beschließend, ,Mammalucken und Ketzer'. 219 Im ersten der fünf Akte werden die erste Niederlage des Drachen und sodann seine erneuten Bemühungen gegen die Kirche dargetan. Der Drache versucht in den folgenden drei Akten mit Hilfe der genannten allegorischen und historischen Figuren, die christliche Kirche zu vernichten. Auf zwischenzeitliche Erfolge der Kirche in der Heidenmission (2. Akt) wird daneben knapp verwiesen. Im fünften und letzten Akt triumphiert der Erzengel Michael. Als Zeichen für den Triumph der Kirche wird der Münchener Bau genannt. Das Stück endet in der Gegenwart und am Ort der Auffuhrung. Dadurch gelingt es nicht nur, ein abwechslungsreiches, ergreifendes und mahnend-appellatives Stück den Zuschauern vor Augen zu fuhren. Durch den Bezug auf die konkrete Situation des Schauplatzes gewinnt es eine beeindruckende Unmittelbarkeit. Zur offenen Konfessionspolemik bietet ein Spiel dieser Art einige Möglichkeiten.220 Schon wegen des wiederholten Auftritts der allegorischen Figur ,Ketzerei' sowie zahlreicher Ketzer und eines Hauptmanns der Ketzer fanden sich mehrere Gelegenheiten in der Perioche, diese Figuren zu konkretisieren. Doch lediglich in der 5. Szene im 4. Akt wird der Periochentext eindeutig. Hier wird gezeigt, wie der „Kriegsobrister der Ketzer [...] ettlich seiner mitgenossen [...] Gewalt [gibt ...]/ Kirchen [zu] stürmen".221 Ein Schelm, wer glaubt, hier spielten die Patres nicht auf die Reformation an. Jede namentliche Auflösung dieser Figur fehlt allerdings. Das ist vor dem Hintergrund der Bewertung der Reformation als eine weitere Variante der Ketzerei nur konsequent. Denn jeder allzu konkrete Bezug auf die Gegenwart, barg die Gefahr, den Ketzern mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, als ihnen ,zustand'. Mit dem Hauptmann der Ketzer ist jedoch Luther gemeint, wie der Blick in den Dramentext zeigt, der aber - das sei noch einmal betont - für einen Teil, vermutlich sogar den Großteil der Zuschauer nicht verständlich war. Die Szene wird vom Hauptmann der Häretiker mit dem bezeichnenden Namen Furius - eine Attribut, das schon aus Emsers Polemik gegen Luther bekannt ist222 - eröffnet:

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Vgl. Triumph vnnd Frewdenfest. In: Szarota (Hrsg.): Das Jesuitendrama, Bd. 3,2 (1983), S. 421 f. Man kann jedoch das Stück insgesamt als Allegorie auf die konfessionspolitische Situation bewerten: „Die erfolgreiche Abwehr des in den nördlichen Regionen erfolgreichen Protestantismus wird im Triumphus mit dem Sieg Michaels über den Höllendrachen gleichgesetzt, findet aber auch in der architektonischen Anlage ihren Ausdruck, insbesondere in der Ausrichtung der Michaelskirche nach Norden." Bauer, Leonhardt (Hrsg.): Triumphus divi Michaelis, S. 49. Triumph vnnd Frewdenfest. In: Szarota (Hrsg.): Das Jesuitendrama, Bd. 3,2 (1983), S. 433. Vgl. dazu auch oben S. 88.

276 Fur. Dedecore nos notauit indelebili, Si dicere fas, Ecclesia, dum fidelium Expunxit e numero Sathanaeque tradidit Vt arbitratur. Suscitauit hercule In se crabrones. Milites, praestate uos Viros; ego dux uester praeibo; amittere Nil possumus; lucrabimur quam plurima. Bona nostra dissipauimus inter pocula Cauponibusque pendimus censum - annuum, Si non quotidianum; [...]. 223

Nicht nur der drastische Hinweis auf das Säufertum der Ketzer und ihres Hauptmanns ist ein Indiz für die Vermutung, es werde auf Luther angespielt, der als Trinker galt.224 Im Kommentar zu dieser Szene wird auf die Ironie hingewiesen, die dem als Ermutigung gemeinten Appell des Hauptmanns „wir haben nichts zu verlieren" innewohnt. Das kann auf die vierte Strophe von Ein feste Burg ist unser Gott bezogen werden: „Nehmen sie den Leib,/ Gut, Ehr, Kind und Weib:/ laß fahren dahin/ sie haben's kein Gewinn,/ das Reich muß uns doch bleiben." Was in Luthers kämpferischem Lied als radikale Bereitschaft, alles außer dem Seelenheil aufzugeben, gemeint ist, wird im Triumphus mittels einer reflexio aufgegriffen und als Ausdruck jedweder Heilslosigkeit den Ketzern vorgeworfen. Diese Bezüge setzen nicht nur Lateinkenntnisse voraus, sie sind ohne Wissen über die einschlägige antilutherische Literatur nicht verständlich. Sie stehen dem zitierten Befund, daß sich die Jesuiten „mit direkter konfessioneller Polemik auf der Bühne in erstaunlichem Maße zurückgehalten" haben,225 gerade nicht entgegen. Vielmehr bezieht sich der Triumphus auf die gegnerische Konfession, von diesem kleinen Beispiel abgesehen, lediglich in einer agonalen Tendenz:226 Es wurde jedem Zuschauer vor Augen gefuhrt, zu welch herausragenden gelehrten, auch anspielungsreichen und künstlerischen Leistungen der immer noch junge Orden und das vorbildlich katholisch geführte bayerische Herzogtum in der Lage waren.

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Bauer, Leonhardt (Hrsg.): Triumphus divi Michaelis, S. 246, die Übers. S. 247: „Furius Mit einem unauslöschlichen Schandfleck hat uns die Kirche gezeichnet, wenn man so sagen darf, indem sie uns aus der Zahl der Gläubigen gestrichen und dem Satan übergeben hat - wie sie glaubt. Da hat sie in ein Wespennest gestochen! Soldaten, zeigt, daß ihr Männer seid, ich werde als euer Führer vorangehen, wir haben nichts zu verlieren, aber wir werden sehr viel gewinnen. Unsere Güter haben wir beim Saufgelage verschleudert, den Gastwirten zahlen wir - nicht einen Tageslohn, sondern ein Jahreseinkommen [...]."

Brückner: Luther als Gestalt der Sage, S. 284f. Rädle: Das Jesuitendrama in der Pflicht, S. 185. 22 « Ebd., S. 192. 225

277 2. Mißverständliche Rezeptionsangebote im Jesuitentheater für volkssprachige Laien In der Literaturgeschichtsschreibung wird an erster Stelle nicht der Münchener Triumphus erwähnt, wenn sich der jeweilige Verfasser aufgefordert sieht, ein typisches Jesuitendrama zu nennen. Mit zuverlässiger Regelmäßigkeit wird in diesem Fall der Cenodoxus des Jakob Bidermann (gest. 1639) genannt,227 der Schüler der Münchener Jesuiten Rader und Gretser war und seine Karriere im Orden als Professor der Rhetorik in München (1606-1614) begann. Cenodoxus ist sein erstes Drama, es wurde 1602 in Augsburg erstmals aufgeführt. 228 Seine Popularität in der Literaturwissenschaft verdankt es neben der literarischen Qualität nicht zuletzt der Übersetzung des Geheimen Sekretärs des bayerischen Kurfürsten, Joachim Meichel, von 1635, die 1889 in der Berliner Staatsbibliothek wiederentdeckt und von Willi Flemming 1930 publiziert wurde. Daß von diesem Jesuitendrama229 eine deutsche Übersetzung angefertigt wurde, ist einmalig.230 Meichels Übersetzung gelangte in der Frühen Neuzeit nicht auf die Bühne.231 Hintergrund des Cenodoxus ist die Legende vom Heiligen Bruno, dem Gründer des Kartäuserordens. Im Zentrum des Spiels steht nicht die conversio Brunonis. Es wird die Vorgeschichte des Wunders auf die Bühne gebracht, die den Heiligen zur Ordensgründung bewegt hat. In Paris lebt der hochgeschätzte Doktor Cenodoxus, dessen sprechender Name bereits auf sein Laster und damit auf sein zu erwartendes Ende verweist. Die cenodoxia ist die eitle Ruhmsucht, die zu Bidermanns Zeit zur superbia, zur allgegenwärtigen Hoffart zählt. Nach dem Tod des Cenodoxus geschieht im fünften Akt das Wunder, daß die Leiche dem Ordensgründer offenbart, der Doktor habe ein hoffartiges Leben geführt und werde die gerechte Strafe in der Hölle erleiden - Anlaß und Ausgangspunkt der Konversion des Bruno. Wichtig für die folgenden Überlegungen ist, daß in

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Eine exemplarische Auswahl bietet Georg Braungart: Jakob Bidermanns .Cenodoxus'. Zeitdiagnose, superbia-Kritik, komisch-tragische Entlarvung und theatralische Bekehrungsstrategie. In: Daphnis 18 (1989), S. 581-640, hier S. 583f. mit Anm. 8. Einen ersten Überblick über den Autor, das Stück und den Stoff vermittelt Rolf Tarot: Nachwort. In: Jakob Bidermann: Cenodoxus. Dt. Übers, von Joachim Meichel (1635). Hrsg. von Rolf Tarot. Stuttgart 1986, S. 160-172. Auf Fragen nach der Gattungstradition des Stücks kann hier nicht näher eingegangen werden. Vgl. dazu Braungart: Jakob Bidermanns .Cenodoxus', S. 612-627; sowie JeanMarie Valentin: Das Jesuitendrama und die literarische Tradition. In: ders.: Theatrum catholicum, S. 209-225, bes. S. 217. Die Gründe hierfür sind vielfaltig; Meichel stand als Schüler Bidermanns mit weiteren Mitschülern noch lange in Kontakt, seine Übersetzung ist als späte Würdigung seines verehrten Lehrers und dessen Schülerkreises zu bewerten; vgl. Günter Hess: Spectator Lector - Actor. Zum Publikum von Jacob Bidermanns .Cenodoxus'. Mit Materialien zum literarischen und sozialgeschichtlichen Kontext der Handschriften von Ursula Hess. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 1 (1976), S. 30-106, bes. S. 5 7 66.

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Valentin: Jesuitendrama, S. 222.

278 den Periochen keine Differenzierung der Hoffart vorgenommen wird. Bereits im argumentum wird der Name ,Cenodoxus' als „ein ruhmsichtiger/ ehrgeitziger vnd hoffertiger" übersetzt.232 Die Perioche entspricht damit, wie an anderen Stellen des Dramas auch, der Dramenvorläge. Im argumentum des lateinischen Dramentextes ist ebenfalls ausdrücklich von superbia die Rede.233 Ebenso ist in Meichels Übersetzung die Warnung vor der Hoffart auf moralisierende und psychagogische Weise234 allgegenwärtig. Die Mahnung davor ist nichts Neues oder besonders Überraschendes. Bereits in der volkssprachlichen Literatur des Mittelalters und erst recht im moraltheologischen Schrifttum finden sich zahlreiche Warnungen vor der superbia, was Ausdruck für die allgegenwärtige und fundamentale Gefahrdung für das Seelenheil ist, die in christlichen Laster- und Sündenkatalogen dieser Todsünde zugeordnet wurde.235 Und in Katechismen wurde katholischen Laien seit Mitte des 16. Jahrhunderts die Gefahr für ihr Seelenheil vor Augen geführt, die auf ein hoffartiges Leben folgte. In der deutschen Übersetzung der Summa doctrinae christianae findet sich folgende Frage mit dazugehöriger Antwort: Was ist die Hoffart/ vnd was hat sy für Döchter? Die Hoffart ist ein vnordenliche begirde ander zuübertreffen/ es steck nun die selb inwendig im gemut vnd hertzen/ oder erzeig sich von außwendig. Dise ist ein Mutter/ Königin vnd Fürstin aller laster/ vnd fürnemlich gebieret sie diese vnselige frücht/ Vngehorsam/ prächtlichs außgeben vnd rhümen/ Gleißnerei/ Haderey/ Hartneckigkeit/ Vneinigkeit/ Fürwitzigkeit.236

Die Zuschauer von Bidermanns Stück hatten recht gute Vorstellungen von der Hoffart, ohne daß sie des Lateinischen der Aufführungssprache mächtig sein mußten. Hinweise auf konfessionelle Polemik finden sich dagegen nicht in Bidermanns Stück. Waren die Seitenhiebe auf den Protestantismus im Triumph schon spärlich gesät, so darf dem Cenodoxus erst recht keine konfessionspolemische Agitation vorgeworfen werden. Statt dessen wendet sich das Stück gegen den Tugendstolz des Humanismus,237 ein Hinweis auf Kritik an spezifisch protestantischer Gelehrsamkeit fehlt. Man wird sogar festhalten müssen, daß Konfessionspolemik den gelehrten und halb-gelehrten Zuschauern bei Aufführungen des Cenodoxus nicht in den Sinn gekommen sein wird.238 Sie ver-

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Die Periochen zu den Aufführungen München 1609 und Ingolstadt 1617 sind abgedruckt in der Ausgabe: Jacob Bidermann: Cenodoxus. Abdruck nach den „Ludi theatrales" (1666) mit den Lesarten der Kelheimer und Pollinger Handschrift. Hrsg. von Rolf Tarot. Tübingen 1963 (= Neudrucke Deutscher Literaturwerke, N.F. 6), S. 135-164, das Zitat S. 137. 233 Vgl. ebd., S. 1. 234 Vgl. Braungart: Jakob Bidermanns ,Cenodoxus', S. 595-597. 235 Ausführlich: Wolfgang Hempel: Übermuot diu alte . . . . Der Superbia-Gedanke und seine Rolle in der deutschen Literatur des Mittelalters. Bonn 1970. 236 Canisius: Catechismus Oder Summarien Christlicher Lehr, Bl. Rvr. Vgl. auch: Nas: Handbüchlein, Bl. 96". 237 So Tarot. In: Bidermann: Cenodoxus. Dt. Übers, von Meichel, S. 164f. 238 Vgl. Hess: Spectator - Lector - Actor. Zu der Problematik der Aufführungssprache Latein für das volkssprachige Publikum vgl. Fidel Rädle: Lateinisches Theater fürs Volk. Zum

279 standen sehr wohl, daß die Warnung vor der Ruhmsucht der Gelehrten an sie selbst adressiert war und nicht etwa an Ketzer, die im Zweifelsfall nicht einmal im Auditorium saßen.239 Trotzdem ist eine mißverstehende, aus Sicht der Patres sogar falsche Rezeption möglich - allerdings nur bei den ausschließlich volkssprachigen Zuschauern. Man sollte wegen der Latinität des Jesuitendramas von einem außergewöhnlich breiten Spektrum des Verstehens und Mißverstehens bei den Zuschauern ausgehen, das je nach Auffiihrungsort zu differenzieren ist. Bei Inszenierungen innerhalb des Kollegs wird der Anteil der ausschließlich volkssprachigen Laien geringer zu veranschlagen sein als auf öffentlichen Plätzen. Eben die Laien aber können das Stück vom Doktor in Paris als Polemik gegen den Protestantismus, genauer als eine Parabel auf den noch berühmteren Doktor aus Wittenberg mißverstanden haben. Bereits in der frühen christlichen Kirche wurde der superbia- Vorwurf gegen Feinde der Kirche, besonders gegen Häretiker erhoben.240 Damit wurde aus einem ursprünglich moraltheologischen Problem schon früh ein Vorwurf von eindeutig agitatorisch-polemischer Qualität, was sich im Verlauf der folgenden Jahrhunderte nicht grundsätzlich ändern sollte. Noch im 16. Jahrhundert war diese Vorstellung allgemein präsent. So schrieb beispielsweise der in Köln tätige Priester Caspar Ulenberger, einer von zahlreichen katholischen Konvertiten, der nach der Konversion zu Amt und Würden kam, gegen Ende des Jahrhunderts über die Ketzerei: „Ja wen man die sache wol erwegen/ vnd im gründe ansehen will/ so findet man diese feindselige vnart/ nemlich hoffarl/ vnd Verachtung der alten Lerer/ in allen Ketzern/ die sich jemal wider die heilige Kirche gelegt haben."241 Der superbia- Vorwurf gegen Ketzer ist am Ende des 16. Jahrhunderts längst zum Topos geronnen und in Laster- und Sündenkatalogen manifestiert, ohne daß eine weitere Erläuterung notwendig wird. Um so naheliegender war es, den superbia-Vormai gegen einzelne Ketzer, allen voran gegen Luther, zu erheben. Bereits zu Beginn der Reformation sind es die beiden bekanntesten Gegner Luthers, Eck und Emser, die dem Wittenberger Reformator dessen hoffartiges Wesen vorhalten. Johannes Eck versuchte gerade in seinen wenigen deutschen Schriften, Luther als hoffartig hinzustellen: Wenn man Luther glaube, bemerkt er grobianisch-ironisch, dann „ist er kayn sauffer, kein spiler, [...] nicht hoffertig, wie all wissendt, die yn von yugendt auff ge-

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Problem des frühen Jesuitendramas. In: Zwischen Festtag und Alltag. Zehn Beiträge zum Thema .Mündlichkeit und Schriftlichkeit'. Hrsg. von Wolfgang Raible. Tübingen 1988 (= Script-Oralia, 6), S. 133-147. Lediglich bei der Erstaufführung in Augsburg ist eine größere Anzahl an protestantischen Zuschauem wahrscheinlich, die folgenden Aufführungen (München 1609, Ingolstadt 1617) fanden mutmaßlich vor überwiegend katholischem Publikum statt. Hempel: Übermuot diu alte ..., S. 96-102, bes. S. 97. Caspar Ulenberger: Erhebliche vnd wichtige Vrsachen warumb die altgleubige Catholische Christen bey dem alten waren Christenthumb bis in den tod bestendiglich verharren [...]. Köln 1596, S. 152.

280 kandt haben."242 Und im Streit um Luthers Adelsschrift hält Hieronymus Emser Luther vor, dieser habe eine arge „seuch an seynem hertzen [...], nämlich seyn hoffertigen geyst, vnd bösen wollust die leut tzu schmehen vnnd tzu affterkosen [...].'11243 In den folgenden Jahrzehnten wird Luther immer wieder Hoffart vorgehalten, er habe den Bruch mit der Kirche wegen seines Stolzes und seines Hochmutes herbeigeführt. Ehemalige Befürworter der reformatorischen Sache begründen ihre Rückkehr zur römischen Kirche mit Luthers Hoffart und nicht etwa mit theologischen Argumenten. Caspar Querhammer schreibt, die Ursache, „worumb mir des Luters schrifften nit mher durchaus/ wie anfengklich gefallenn", sei Luthers „hoffart oder stoltz".244 Wenn Luther superbia vorgeworfen wird, so zielt das also auf zweierlei: zum einen auf die Gehorsamsverweigerung gegenüber Papst und Kirche (ein theologischer Vorwurf), zum anderen auf seine hochtrabende Art (ein psychologisierend-charakterologischer Vorwurf). Im Verlauf der deutschsprachigen Religionspolemik war der Streit um theologische Fragen oftmals weniger bedeutend als persönliche Angriffe gegen Luther, damit kam dem superbia- Vorwurf gegen ihn in den gegenreformatorischen Streitschriften zentrale Bedeutung zu und fand häufig Anwendung. Als in der Mitte der 80er Jahre die Jesuiten begannen, sich an den volkssprachlichen Religionsstreitigkeiten zu beteiligen, änderte sich an der Verunglimpfung Luthers nichts. Sie griffen auf den superbia-Vorwurf zurück, um Luther als unchristlich und selbstherrlich zu beschimpfen. Der Kölner Jesuit Franz Coster spricht von den angeblich geordneten Verhältnissen in Deutschland bis zu Luthers Auftreten, „welcher mit vnertreglichem hoffart alle andere neben sich verachte/ vnd für nichts schetzte [,..]." 245 Die Liste der katholischen Polemiker ließe sich beliebig erweitern, beinahe jeder erwähnt früher oder später den superbia- Vorwurf, und zwar in aller Regel, wenn er von Luther spricht und seltener, wie Ulenberger, wenn allgemein von der Ketzerei die Rede ist. Viele Zuschauer des Cenodoxus kannten diesen gewaltigen, konkret auf Luther bezogenen swperWa-Diskurs. Die Warnung vor der Hoffart war gegen Ende des 16. Jahrhunderts den Laien zunächst aus der Ketzerpolemik und aus moralisierenden Äußerungen vertraut. Als Warnung vor dem Stolz und der Eigenliebe der Gelehrten war ihnen die Hoffart dagegen fremd. Wer nicht lesen konnte, erfuhr von Luthers Hoffart in Predigten oder im kirchlichen Unterricht, nicht aber vom humanistischen Bildungsdünkel. Gerade Laien wurden zwar immer wieder vor Hoffart gewarnt, doch war die Todsünde immer als Synonym für Ketzerei dienstbar. Daß Luther selbst längst eine historische Figur war, wird diese Tendenz noch unterstützt haben. Noch im 242

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Johannes Eck: Gegen Martin Luthers Anklage wider das Konzil von Konstanz in Sachen des Johannes Hus und des Hieronymus von Prag. In: ders.: Vier deutsche Schriften, S. 1 18, hier S. 11. Emser: Auff des Stieres tzu Wiettenberg wiettende replica, S. 33. Caspar Querhammer: Eyne vnd vnder andern/ die achte Ursach, Bl. 2r. Franz Coster: ENCHIRIDION CONTROVERSARIUM Das ist: Streittiger Religions Puncten kurtzer begriff. Köln 1595, Bl. Fff 2'.

281 19. Jahrhundert hätte manch ein gewitzter Lutheraner den .gerissenen' Jesuiten vielleicht eine Art subversive Glaubenspropaganda vorgeworfen, das ist nicht Absicht dieser Überlegungen. Den Jesuiten standen dafür effizientere Mittel und Medien zur Verfügung. Doch vielleicht ließen sich, bei ausführlicherer Suche weitere, .versteckte', mißverständliche Rezeptionsangebote finden.

3. Streitschriften, unzeitgemäße Medien bei der Invention von Dramen Kehren wir abschließend zu den Streitschriften zurück. Anlaß zur Dramenproduktion scheinen sie nicht gegeben zu haben, zumindest finden sich in den einschlägigen Studien keinerlei Hinweise darauf. Einige Mutmaßungen mögen dazu beitragen, diesen Befund einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Zur Fastnacht 1602 wurde im Münchener Jesuitenkolleg ein Stück mit dem Titel Cento Lutheranus bzw. Lutheri Bettlermantel aufgeführt. Es wird in den einschlägigen Darstellungen verzeichnet246 und in der Forschung erwähnt,247 aber es fehlen Studien dazu.248 Das hängt nicht zuletzt mit dem Fehlen einer Perioche geschweige denn eines Dramentextes Stück zusammen. Valentin gibt als Autor in seiner Chronologie den Jesuiten Georg Scherer an. Doch ist diese Angabe mutmaßlich falsch. Scherer war nach 1600 nur als Kontroversprediger in Österreich tätig und hatte wahrscheinlich kaum Gelegenheit, für die Jesuiten in München ein Stück zu schreiben. Auch sind keine weiteren Dramen von ihm überliefert. Trotzdem ist Valentins Angabe nicht aus der Luft gegriffen. Scherer hat eine Flugschrift gleichen Titels verfaßt. Diese Schrift kann die Grundlage für das Stück gewesen sein. Scherer war nicht der erste und nicht der letzte katholische Polemiker, der auf die Idee kam, die lutherische Lehre mit einem aus alten Ketzereien zusammengeflickten Bettlermantel zu vergleichen249 - als Gegenstück zum nahtlosen 246

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Jean-Marie Valentin: Le Theatre des Jesuits dans les Pays de Langue Allemande. Repertoire chronologique des pieces representees et des documents conserves (15551773). 2 Bde. Stuttgart 1983, 1984, S. 55, Nr. 487. Johannes Müller: Das Jesuitendrama in den Ländern deutscher Zunge vom Anfang (1555) bis zum Hochbarock (1665). Augsburg 1930, Bd. 2, S. 55. Szarota (Hrsg.): Das Jesuitendrama, Bd. 1,1 (1979), S. 29. Vgl. Rädle: Das Jesuitendrama in der Pflicht, S. 190. Sowie Karl von Reinhardtstöttner: Zur Geschichte des Jesuitendramas in München. In: Jahrbuch für Münchener Geschichte 3 (1889), S. 53-176, hier: S. 87, Anm. 248. Die umfangreichste Ausfuhrung zu diesem Stück ist von Szarota (Hrsg.): Das Jesuitendrama, Bd. 1,1 (1979), S. 29: Im „Münchener Cento Lutheranus - Lutheri Betlermantel wird Luther verspottet: sein Werk sei,[!] aus Exzerpten alter Häretiker zusammengeflickt. Diese Idee entstammte aus der Kontroverstheologie und wurde von ihr auch wieder aufgenommen." Vgl. etwa Wolfgang Sedelius: Geistlicher Layenspiegel [...]. O. O. 1559, Bl. 146v: „Mochten aber etliche fromme Christen gern sehen/ daß jnen diß wunderthier zerlegt würde/ vnnd von glid zu glid möchten sehen die thail/ als wie man ein Thier zerlegt/ vnnd ein Bettlermantel zertrennt/ Vnnd wo solche weren/ köndten wir in solchen dienst nit versagen." Johannes Pistorius: ANATOMIAE LVTHERI PARS SECVNDA. Köln 1598, nach Lagenzählung Bl. b*r: Durch Luther seien die Deutschen in einen „Bettlermantischen

282 heiligen Rock Christi.250 Scherers BettlerMantel war erfolgreich, was sich daran festmachen läßt, daß die Flugschrift wiederholt nachgedruckt und ins Flämische und Böhmische übersetzt wurde.251 Der Flugschrift vorausgegangen war ein Flugblatt, das Titelblatt der Flugschrift (Abb. 4).252

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