Zwischen Arktis, Adria und Armenien: Das östliche Europa und seine Ränder. Aufsätze, Essays und Vorträge 1983–2016 9783412508401, 9783412507572

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Zwischen Arktis, Adria und Armenien: Das östliche Europa und seine Ränder. Aufsätze, Essays und Vorträge 1983–2016
 9783412508401, 9783412507572

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FORSCHUNGEN ZUR GESCHICHTE UND KULTUR DES ÖSTLICHEN MITTELEUROPA | BAND 53

Zwischen Arktis, Adria und Armenien Das östliche Europa und seine Ränder

Stefan Troebst

Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CIE, KÖLN WEIMAR WIEN

GWZO Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas e. V.

Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa Herausgebergremium: Arnold Bartetzky, Winfried Eberhard, Christine Gölz, Frank Hadler, Matthias Hardt, Christian Lübke, Stefan Troebst

Band 53

Zwischen Arktis, Adria und Armenien Das östliche Europa und seine Ränder Aufsätze, Essays und Vorträge 1983–2016 von Stefan Troebst

2017 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

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Gedruckt mit Unterstützung des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas e. V. an der Universität Leipzig. Das dieser Publikation zugrunde liegende Vorhaben wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderschwerpunkt „Geisteswissenschaftliche Zentren“ (Förderkennzeichen 01UG1410) gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei dem Autor.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Sammeltassen im Museumsshop des Staatl. Stalin-Museums im georgischen Gori Foto: Stefan Troebst, 24. Mai 2014.

© 2017 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Constanze Lehmann, Berlin Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50757-2

Werner Philipp (1908–1996) in memoriam

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Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Armeno-Sueco-Muscovitica Narva und der Außenhandel Persiens im 17. Jahrhundert. Zum merkantilen Hintergrund schwedischer Großmachtpolitik . . . . . . . . . .

19

Isfahan – Moskau – Amsterdam. Zur Entstehungsgeschichte des moskauischen Transitprivilegs für die Armenische Handelskompanie in Persien (1666–1676) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

Russland als „Magazin der Handlung zwischen Asien und Europa“? Die Frage des Orienthandels bei der schwedischen Moskaugesandtschaft 1673/1674 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70

Balcanica „Hochverehrter Meister und Genosse!“ Karl Kautsky und die sozialistische Bewegung in Bulgarien (1887–1934) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

Makedonien als Lebensthema. Henry Noël Brailsford (1873–1958) . . . . . . .

100

Zwischen offizieller Außenpolitik und geheimer „Paralleldiplomatie“. Italienische Versuche zur Errichtung von Bündnissystemen in Südosteuropa unter Benito Mussolini und Dino Grandi (1922–1932) . . . . . .

111

The Internal Macedonian Revolutionary Organization and Bulgarian Revisionism, 1923–1944 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

122

Gustav Weigand, Deutschland und Makedonien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

133

Der (bulgaro-)makedonische Terrorbürokrat Ivan Michajlov (1896–1990). Eine biographische Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

137

Silesia balcanica. Die Ankunft von Griechen, Makedoniern und Bosnien-Polen in Niederschlesien 1946 bis 1950 . . . . . . . . . . . . . . . . .

144

Chronologie einer gescheiterten Prävention. Vom Konflikt zum Krieg im Kosovo, 1989–1999 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8

Inhalt

Vergangenheitsbewältigung auf Bulgarisch. Zum Umgang mit den Akten der ehemaligen Staatssicherheit und zur strafrechtlichen Verfolgung kommunistischer Staatsverbrechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

175

Sovieto-Rossica Warum wurde Finnland nicht sowjetisiert? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

191

Die Sowjetunion und die bulgarisch-jugoslawische Kontroverse um Makedonien 1967–1983 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

207

The “Transnistrian Moldovan Republic”, 1990–2002. From ConflictDriven State-Building to State-Driven Nation-Building . . . . . . . . . . . . . . . .

214

Vom „Vaterländischen Krieg 1812“ zum „Großen Vaterländischen Krieg 1941–1945“. Siegesmythen als Fundament staatlicher Geschichtspolitik in der Sowjetunion, der Russländischen Föderation, der Ukraine und Belarus’ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

241

Post-Communist Holiday Legislation as Part of Governmental Politics of History. The Case of the Russian Federation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

247

Teutonica orientalia Die „Griechenlandkinder-Aktion“ 1949/1950. Die SED und die Aufnahme minderjähriger Bürgerkriegsflüchtlinge aus Griechenland in der SBZ/DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

257

Herz, Darm und DDR – Arno Schmidt 1956 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

281

Die DDR im balkanischen Spiegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

302

Europaeica From paper to practice. The Council of Europe’s Framework Convention for the protection of national minorities . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

309

Gemeinschaftsbildung durch Geschichtspolitik? Anläufe der Europäischen Union zur Stiftung einer erinnerungsbasierten Bürgeridentität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

317

Jalta als europäischer Erinnerungsort? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

343

Inhalt

9

Historiographica Debating the Mercantile Background to Early Modern Swedish Empire-Building. Michael Roberts versus Artur Attman . . . . . . . . . . . . . . .

353

Klaus Zernack als Nordosteuropahistoriker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

372

Friedrich Braun und die Leipziger Russlandgeschichtsschreibung in der Zwischenkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

386

„Die Interdependenz von Historiographie und Politik in Osteuropa“. Ein vergessenes Forschungsprojekt der westdeutschen Osteuropageschichtsschreibung (1976–1983) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

391

Macedonian Historiography on the Holocaust in Macedonia under Bulgarian Occupation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

407

„Südosteuropäische Geschichte als gesonderte Disziplin“. Mathias Bernath in Berlin und München . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

414

Ethnien und Nationalismen in Osteuropa. Drei Vorüberlegungen zur vergleichenden historischen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

418

Nachbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

431

Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort Si hortum cum bibliotheca habes, nihil deerit Nietzsche frei nach Cicero

„This book represents a journey in self-education“ schrieb Zara Steiner im Vorwort zum ersten ihrer beiden voluminösen Bände zur Geschichte Europas in der Zwischenkriegszeit in der Reihe Oxford History of Modern Europe 1, und in gewisser Weise kann das auch für den vorliegenden Band gelten. Denn Studium und Qualifikationsschriften des Autors fallen in eine jüngere wissenschaftshistorische Vergangenheit, in der in dem Teilfach Osteuropäische Geschichte, wie es im deutschsprachigen Raum um 1900 institutionalisiert wurde, das Postulat galt, die Subdiziplin „in ihrer gesamten Breite“ abzudecken – so etwa von der Ökonomiehistorie über die Militär- und Kirchengeschichte bis zu intellectual history, von Sibirien bis auf den Balkan, vom Frühmittelalter bis zur späten Neuzeit – und dabei entweder in Dissertation oder Habilitationsschrift einen Fokus auf die Rus’, den Moskauer Staat, das Zarenreich oder die Sowjetunion zu richten. Entsprechend waren deutlich unterschiedliche thematische, regionale und epochale Schwerpunkte zu setzen. Das war eine Auflage, die in anderen geisteswissenschaftlichen Fächern, selbst in der „Mutterdisziplin“ der vermeintlich „allgemeinen“, im Kern aber germanozentrischen Geschichtswissenschaft, in dieser kategorischen Form nicht bestand. Folglich findet sich auch in meiner eigenen professionellen Biographie zwischen Dissertation und Habilitationsschrift ein relativ harter Bruch, von der Zeitgeschichte Südosteuropas zur frühneuzeitlichen Geschichte Nordosteuropas, und das mit jeweils ganz unterschiedlichen Fragestellungen. 2 Dieses in mehrfacher Hinsicht nicht einfache Umschalten binnen relativ kurzer Zeit – andere Forschungsfrage(n), andere Länder (und Archive dort), auch andere Sprachen – nimmt sich allerdings in der Retrospektive als Gewinn aus. Aus dem einen Historikermilieu in ein gänzlich anderes einzutauchen, nach Kampf um Archivzugang hier in Archivalien dort regelrecht zu ertrinken sowie vor allem sich gänzlich neue Geschichtswelten zu erschließen, erwies sich bald nicht länger als Zwang, sondern als Privileg. Und gar nicht so selten stellte sich heraus, dass in- wie ausländische Kolleginnen und Kollegen, zu denen aus dem einen Kontext Beziehungen bestanden, überraschenderweise auch

1 2

Steiner, Zara: Preface. In: Dies.: The Lights that Failed. European International History 1919–1933. Oxford 2005, S. v–x, hier S. vi (= Oxford History of Modern Europe). Troebst, Stefan: Mussolini, Makedonien und die Mächte 1922–1930. Die „Innere Makedonische Revolutionäre Organisation“ in der Südosteuropapolitik des faschistischen Italien. Köln, Wien 1987 (= Dissertationen zur neueren Geschichte, 19); ders.: Handelskontrolle – „Derivation“ – Eindämmung. Schwedische Moskaupolitik 1617–1661. Wiesbaden 1997 (= Veröffentlichungen des Osteuropa-Instituts München. Reihe Forschungen zum Ostseeraum, 2).

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Vorwort

in dem anderen präsent waren. In meinen Fall gilt dies etwa für den Prager Historiker Miroslav Hroch, dessen grundlegende Arbeiten zur Geschichte der europäischen Nationalbewegungen mir als Student natürlich bekannt waren, dessen frühneuzeitlich-nordosteuropäisches Interesse ich jedoch erst später entdeckte 3 – mit der Folge produktiven blockübergreifenden Austausches noch zu Zeiten des Kalten Krieges. Die ursprünglich auf die besagte teildisziplinäre Tradition zurückgehende Notwendigkeit des Sich-Einlassens auf Anderes und Eintauchens in Neues ist mir in der Folgezeit außerordentlich zugutegekommen, und das wiederum thematisch, regional und epochal. Der vorliegende Band kann als Beleg dafür gelten, dass das Attribut „Allesfresser“, welches Klaus Zernack einmal anerkennend-ironisch auf Manfred Hellmann, seinen Mitherausgeber des bis heute unübertroffenen Handbuchs der Geschichte Russlands gemünzt hat (und das natürlich auf ihn selbst ebenso zutrifft), zwar in der Binnenperspektive der Subdisziplin einen berechtigten Zweifel enthält, sich aber aus gesamtgeschichtswissenschaftlicher Sicht mitnichten megaloman ausnimmt. Denn dort gilt das osteuropabezogene Teilfach weiterhin (und unberechtigterweise) als parochial. Es steht zu hoffen, dass sich dies mit Blick auf die zunehmende Zahl von Veröffentlichungen mit globalhistorischer Dimension aus der Feder von Osteuropahistorikerinnen und -historikern künftig ändert. Mein im Rahmen seines historischen Europainteresses auch die Geschichte der Osthälfte des Halbkontinents eingehend berücksichtigender Wiener Kollege und Altersgenosse Wolfgang Schmale hat 2013 in seinem Buch Mein Europa. Reisetagebücher eines Historikers exemplarisch den engen Zusammenhang von Historikerbiographie und -œuvre, genauer: von persönlich in Augenschein genommener Regionalgeographie und urbaner Topographie sowie von modernen Gesellschaften und akuten Konflikten, mit geschichtswissenschaftlichen Fragestellungen und interessengeleiteter Themenfindung, augenfällig demonstriert. 4 Das kann ich mit Blick auf meine eigene Sozialisation und beginnende wissenschaftliche Laufbahn bestätigen – von einer Balkanerfahrung in den späten sechziger Jahren über einen Sommersprachkurs in der Sowjetunion in den frühen Siebzigern bis zu zwei Studienjahren in Bulgarien und im damals noch jugoslawischen Makedonien im weiteren Verlauf dieses Jahrzehnts. Das Epochenjahr 1989 hat mir dann die einmalige Chance gegeben, diese jugendliche éducation sentimentale et regionale auf ganz ungewöhnliche Art zu vertiefen: Im Auftrag des Auswärtigen Amtes war ich 1992/1993 deutscher

3

4

Hroch, Miroslav: Handel und Politik im Ostseeraum während des Dreißigjährigen Krieges. Zur Rolle des Kaufmannskapitals in der aufkommenden allgemeine Krise der Feudalgesellschaft in Europa. Praha 1976 (= Acta Universitatis Carolinae Philosophica et Historica – Monographia, 64). Schmale, Wolfgang: Mein Europa. Reisetagebücher eines Historikers. Wien, Köln, Weimar 2013. Zum selben Genre gehört die gleichfalls biographische Publikation eines kollegial verbundenen Sozialwissenschaftlers vom Jahrgang 1950, in der andere europäische (und außereuropäische) Länder, Regionen und Städte eine ähnlich prägende Rolle bezüglich Forschungsfragen und Veröffentlichungsschwerpunkten spielen: Leggewie, Claus: Politische Zeiten. Beobachtungen von der Seitenlinie. München 2015.

Vorwort

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Vertreter in der CSCE Spillover Monitoring Mission to Skopje, also der Langzeitmission der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in der jetzt unabhängigen, aber von außen bedrohten und innerlich zerrissenen Republik Makedonien – ein Déjà-vu-Erlebnis der ganz besonderen Art –, und 1994/1995 in nämlicher Funktion in einer Ex-Republik der mittlerweile zerbrochenen UdSSR als Teil der CSCE/OSCE Mission to Moldova, wo ich den aus Moskau gesteuerten separatistischen De-facto-Staat „Moldauische Dnjestr-Republik“ im Osten des Landes sowie die gleichfalls zentrifugale Region Gagausien im Süden eingehend kennengelernt habe. Die Möglichkeit eines mittels Inaugenscheinnahme vorgenommenen Vorher-Nachher-Vergleichs der beiden größten implodierten Pro-Forma-Bundesstaaten staatssozialistischen Zuschnitts Europas mit zweien ihrer Zerfallsprodukte erwies sich als inspirierender Glücksfall. Welcher Wissenschaftlergeneration bietet sich schon so eine Chance?! Im Unterschied zu zuvor veröffentlichten Sammlungen von Eigenem 5 ist die vorliegende weder strikt thematisch noch subregional ausgerichtet, wie sie auch nicht auf einen enger begrenzten Erarbeitungs- bzw. Publikationszeitraum bezogen ist. Vielmehr soll sie den Versuch, das besagte Postulat der „gesamten Breite“ ernst zu nehmen, dokumentieren. Dass ich dieser Anforderung mitnichten zur Gänze gerecht geworden bin, schon gar nicht in epochaler Hinsicht was etwa Spätantike, Völkerwanderungszeit und das gesamte Mittelalter betrifft, ist nicht zu übersehen. Auch das, was einer meiner Berliner Lehrer Hans-Joachim Torke und sein Vorgänger Werner Philipp, den als Emeritus näher kennenzulernen ich den Vorzug hatte, als „Altrußland“ bezeichneten, habe ich historisch nur gestreift. Dass Historiker gleich anderen Wissenschaftlern jeweils „auf den Schultern von Riesen“, also auf denjenigen der Vorgängergenerationen, stehen, aber aufgrund eben ihres erhöhten Standpunkts dennoch weiter als diese sehen können, hat der als Sohn von Emigranten aus einem ostmitteleuropäischen Shtetl 1910 in Philadelphia geborene Meyer Robert Schkolnick, der unter dem Namen Robert K. Merton in den USA zum selbst posthum amtierenden Papst der soziologischen Forschung aufstieg, in

5

Troebst, Stefan: West-östliche Europastudien. Rechtskultur, Kulturgeschichte, Geschichtspolitik / West-Eastern European Studies. Legal Culture, Cultural History, Politics of History. Leipzig 2015 (= Transnationalisierung und Regionalisierung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 7); ders.: Erinnerungskultur – Kulturgeschichte – Geschichtsregion. Ostmitteleuropa in Europa. Stuttgart 2013 (= Forschungen zur Geschichte des östlichen Mitteleuropa, 43); ders.: Das makedonische Jahrhundert. Von den Anfängen nationalrevolutionärer Bewegung zum Abkommen von Ohrid 1893– 2001. Ausgewählte Aufsätze. München 2007 (= Südosteuropäische Arbeiten, 130); ders.: Kulturstudien Ostmitteleuropas. Aufsätze und Essays. Frankfurt /M. 2006 (= Staaten und Gesellschaf´ ten im Epochenwandel, 11); ders: Europa Srodkowo-Wschodnia, Polska a Niemiec w Europie. Wybrane studia i esei. Wrocław 2017 (= Studia Brandtiana Translationes. Centrum Studiów Niemieckich i Europejskich im. Willy Brandta Uniwersytetu Wrocławskiego). Vgl. überdies: Zugänge zur ostmitteleuropäischen Geschichte in den Schriften Stefan Troebsts. Eine Auswahlbibliographie. In: Leipziger Zugänge zur rechtlichen, politischen und kulturellen Verflechtungsgeschichte Ostmitteleuropas. Hrsg. v. Dietmar Müller u. Adamantios Skordos. Leipzig 2015, S. 333– 336.

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Vorwort

seinem nur auf den ersten Blick kryptischen „Leitfaden durch das Labyrinth der Gelehrsamkeit“ in ebenso fesselnder wie unnachahmlicher Weise demonstriert. 6 Dessen sich bewusst zu sein, ist für Historiker einfacher als für andere Geisteswissenschaftler, verfügen wir doch über eine weitere ausgebildete Subdiziplin, die Historiographiegeschichte. Für geschichtsregional forschende Historiker ist aber neben der Vergangenheit, wie angedeutet, auch und gerade die Gegenwart und ihre Autopsie, zumal der unmittelbare Kontakt mit den Kolleginnen und Kollegen in der Untersuchungsregion, von zentraler Bedeutung, wäre doch sonst die Formel des „Forschens mit, in und über“ lediglich eine Floskel. Die nachstehend mehrheitlich wiederabgedruckten Beiträge sind teils nach regionalen, teils nach thematischen Kriterien geordnet, wobei die Reihung mitunter nach historisch-chronologischen Gesichtspunkten, in manchen Fällen nach Entstehungszeit erfolgt. Die Zwischenüberschriften sind an das Ordnungssystem des schwedischen Reicharchivs angelehnt, dessen Aktengruppen zur frühen Neuzeit mit Bezeichnungen wie „Livonica“, „Diplomatica Muscovitica“, „Diplomatica Persica“, „Extranea“ u. a. belegt sind. Die Regionalbezeichnungen im Buchtitel beziehen sich auf das nördliche Nordosteuropa, konkret: auf die Nordkaproute zum russischen Markt in der frühen Neuzeit („Arktis“), auf das Bindeglied zwischen Südosteuropa – bzw. um mit Oskar Halecki zu sprechen: dem südlichen Ostmitteleuropa – und dem „romanischen“ Südeuropa („Adria“) sowie auf die kaukasische Peripherie des östlichen Europa mit ihren merkantilen, kulturellen und politischen Verflechtungen zu Osteuropa, Westeuropa und anderen Teilen Eurasiens („Armenien“). Zitierweise und Transliteration der jeweiligen Erstveröffentlichung sind beibehalten worden, Verbindungen zu Web-Ressourcen wurden überprüft. Dem Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) an der Universität Leipzig und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung, welches das GWZO-Forschungsprogramm der Jahre 2008–2016 finanziert hat, bin ich zu Dank für nachhaltige Projektförderung sowie für einen großzügigen Druckkostenzuschuss verpflichtet. Die Entstehung zahlreicher der nachstehend versammelten Publikationen ist vom Deutschen Akademischen Austauschdienst, der Studienstiftung des deutschen Volkes, der Freien Universität Berlin, dem Deutschen Historischen Institut London, dem European Centre for Minority Issues, der Deutsche Forschungsgemeinschaft, der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung, der VolkswagenStiftung und dem Imre Kertész Kolleg „Europas Osten im 20. Jahrhundert. Historische Erfahrungen im Vergleich“ der Friedrich-SchillerUniversität Jena unterstützt worden. Attila Pók vom Historischen Institut der Ungarischen Akademie der Wissenschaften in Budapest hat dankenswerterweise ein Publikationsgutachten verfaßt.

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Merton, Robert K.: On the Shoulders of Giants. A Shandean Postscript. New York, NY, 1965. Zur deutschen Übersetzung vgl. ders.: Auf den Schultern von Riesen. Ein Leitfaden durch das Labyrinth der Gelehrsamkeit. Aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser. Frankfurt /M. 1980.

Vorwort

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Gewidmet sei diese Sammlung dem Gedenken an den Berliner Altrusslandhistoriker Werner Philipp (1908–1996), der mit seinem Vortrag „Nationalsozialismus und Ostwissenschaften“ 1966 in der Teildisziplin der Osteuropäischen Geschichte die Debatte über die problematische Fachhistorie zur Zeit des „Dritten Reiches“ in einem außerordentlichen Mut erfordernden Alleingang angestoßen hat 7 – mit bis heute anhaltenden Folgen. Leipzig und Wrocław, im Oktober 2016

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Philipp, Werner: Nationalsozialismus und Ostwissenschaften, in: Universitätstage 1966. Nationalsozialismus und deutsche Universität. Hrsg. v. d. Freien Universität Berlin. Berlin (West) 1966, S. 43– 62 (Nachdruck in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 33 [1983], S. 287–303). Zu Vita und Œuvre siehe Hans-Christian Petersen: „Die Gefahr der Renazifizierung ist in unserer Branche ja besonders groß.“ Werner Philipp und die deutsche Osteuropaforschung nach 1945, in: Neuanfang im Westen. 60 Jahre Osteuropaforschung in Mainz. Hrsg. v. Hans-Christian Petersen u. Jan Kusber. Stuttgart 2007, S. 31–53, und Hans-Joachim Torke: Werner Philipp. Leben und Werk eines Osteuropa-Historikers, in: Berliner Jahrbuch für osteuropäische Geschichte, 2 (1995), H. 1, S. 29– 42.

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Armeno-Sueco-Muscovitica

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Narva und der Außenhandel Persiens im 17. Jahrhundert Zum merkantilen Hintergrund schwedischer Großmachtpolitik

[1993]

Eure Königl. Majestät kann nicht nur den gesamten moskauischen, sondern auch einen großen Teil des persischen Handels in Ihre Hand bekommen, was Eurer Königl. Majestät viele Millionen und unsagbare Reichtümer einbringen würde, so dass Eure Königl. Majestät künftig keine französischen oder englischen Subsidien und Zahlungen bräuchte. Harald Appelboom, schwedischer Gesandter in den Niederlanden, 1658 1

Dass im Mittelalter zwischen dem Ostseeraum und dem Orient enge Handelsbeziehungen bestanden haben, ist eine bekannte Tatsache. Weniger bekannt ist indes, dass es auch am Ende des 17. Jahrhunderts einen direkten, kontinuierlichen und wertmäßig beträchtlichen Warenverkehr zwischen beiden Weltregionen auf einer Landroute durch den Moskauer Staat hindurch gegeben hat. Das Zustandekommen dieser Fernhandelsverbindung ist ein Teilergebnis des ehrgeizigen Programms zur Kontrolle des Ost-West-Handels, welches die schwedische Außen- und Großmachtpolitik von Erik XIV. bis Karl XII. maßgeblich bestimmte. Hauptziel dabei war es, das Gros des russischen Außenhandels weg von Archangel’sk am Weißen Meer und hin in die eigenen Häfen am Finnischen Meerbusen zu umzuleiten. Die schwedische Krone erhoffte sich davon fiskalische Vorteile, mittels derer die natürlichen Nachteile der ressourcenarmen Großmacht im Norden ausgeglichen werden sollten. 2 Im Zuge der Verfolgung dieses Programms geriet vom Beginn des 17. Jahrhunderts an neben dem russischen auch der persische Markt ins Blickfeld der Stockholmer Handelsstrategen. Aber erst in der Mitte der 1680er-Jahre trat eine Konstellation in den internationalen Beziehungen ein, die einen Transithandel von Persien nach Schweden via Moskau möglich machte. Narva, damals bereits Hauptumschlagort für den Russlandhandel über die Ostsee, wurde nun zum Dreh- und Angelpunkt der neuen Fernhandelsroute. Nach tastenden Anfängen in den Jahren 1687 bis 1689 kamen von 1690 an regelmäßig armenische Kaufleute aus der Isfahaner Vorstadt Neu-Julpha mit ihrem

1

2

Harald Appelboom an Karl X. Gustav. Den Haag, 28. Mai/7. Juni 1658, 6 fol., hier fol. 4 r–v. In: Riksarkivet Stockholm (im Folgenden: RAS), Diplomatica Hollandica, vol. 50: Harald Appelbooms brev till K. M:t 1658 (Maj-juli till K. M:t och maj-november till rådet). Zu diesem ambitionierten Programm vgl. Stefan Troebst: The Attman-Roberts Debate on the Mercantile Background to Swedish Empire Building. In: European History Quarterly 24 (1994), S. 485– 509 [und im vorliegenden Band].

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Armeno-Sueco-Muscovitica

Hauptausfuhr- und Monopolprodukt persische Rohseide hierher. Allerdings unterbrach bereits der Beginn des großen Nordischen Krieges im Sommer 1700 diese Handelsverbindung abrupt. Diese Rolle Narvas im Handel Asiens mit Europas soll im Folgenden auf dem genannten merkantilen Hintergrund schwedischer Großmachtpolitik in zwei Teilen beleuchtet werden: Der erste behandelt die lange Phase der Projektierung der Fernhandelsroute Persien-Schweden, der zweite dann sowohl die Praxis des Betreibens dieser Route als auch einige der Wirkungen, die der Warenverkehr mit Persien auf Narva sowie das schwedische Ostseereich insgesamt hervorrief. Dabei wird zu sehen sein, dass die Nordroute nach Westeuropa für die armenischen Seidenkaufleute eine ökonomisch lukrative und folglich regelmäßig benutzte, wenngleich in mehrfachem Sinne nicht allzu sichere Alternative zu den traditionellen Seerouten war. Die navigatorischen Tücken des Kaspischen Meers, die Rechtsunsicherheit im Süden des Moskauer Staates sowie vor allem die Notwendigkeit, vom Zaren jeweils eine Transiterlaubnis zu erhalten, schlagen hier negativ zu Buche. Dennoch bot die Nordroute dem Schah und den seinen Außenhandel besorgenden armenischen Kaufleuten Isfahans große Vorteile: Die Produktionsgebiete für Seide lagen nahe dem Kaspischen Meer, in welches die bis tief in den Moskauer Staat hinein schiffbare Volga mündete. Und von Moskau aus führten infrastrukturell gut ausgebaute Handelswege zum einen nach Vologda und von hier aus über die Suchona und die nördliche Dvina zum Hafen Archangel’sk, zum anderen über Land via Novgorod in die schwedischen Ostseehäfen. Die beiden anderen persischen Ausfuhrrouten hingegen, diejenige durch das Osmanische Reich und das Mittelmeer und die durch den Persischen Golf und um Afrika herum, waren in der Regel teurer und periodisch deutlich risikoreicher. Während also Schah und armenische Kaufleute, desgleichen der auf zusätzliche Zolleinnahmen bedachte Zar und die westeuropäischen Russlandhandelskompanien großes Interesse an einer solchen Routenverlagerung besaßen, waren die Amsterdamer Ostindienkompanie, die Londoner Levant Company und auch die russischen gosti bzw. Großkaufleute gegen eine solche eingestellt. 3 Erst nach vielen Anläufen konnte sich im Jahr 1676 die erstgenannte Interessenkoalition durchsetzen: Der Zar 3

Vgl. aus der umfangreichen Literatur vor allem E. S. Zevakin: Persidskij vopros v russko-evropejskich otnošenijach XVII v. In: Istoriˇceskie zapiski 8 (1940), S. 129–162; Hermann Kellenbenz: Der russische Transithandel mit dem Orient im 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 12 (1964), S. 481–500; V. A. Bajburtjan: Armjanskaja kolonija Novoj Džul’fy v XVII vek (Rol’ Novoj Džul’fy v irano-evropejskich politiˇceskich i e˙ konomiˇceskich svjazjach). Erevan 1969; John Emerson: Ex occidente lux. Some European Sources on the Economic Structure of Persia between about 1630 and 1690. Ph. D. Dissertation, University of Cambridge, 1969, S. 172– 194; V. K. Voskanian: Les Arméniens à Moscou du XVe au XVIIe siècle. In: Revue des études arméniennes. Nouvelle série 9 (1972), S. 425–444; Ronald W. Ferrier: The Armenians and the East India Company in Persia in the Seventeenth and Early Eighteenth Century. In: Economic History Review 26 (1973), S. 38–62; Kéram Kévonian: Marchands arméniens au XVIIe siècle. A propos d’un livre arménien publié à Amsterdam en 1699. In: Cahiers du Monde russe et sovietique 16 (1975), S. 199– 244; und N. G. Kukanova: Oˇcerki po istorii russko-iranskich torgovych otnošenij v XVII – pervoj polovine XIX veka (Po materialam russkich archivov). Saransk 1977.

Narva und der Außenhandel Persiens im 17. Jahrhundert

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gestattete armenischen Seidenkaufleuten den Handel in Archangel’sk sowie unter bestimmten Bedingungen auch die Weiterfahrt nach Amsterdam. Zwar wurde von nun an nicht, wie in Moskau erhofft, der gesamte persische Seidenexport über die neue Route abgewickelt, aber es entwickelte sich doch ein regelmäßiger Warenverkehr. 4 Das schwedische Bestreben, den russischen Außenhandel weg von Archangel’sk zur Ostsee umzuleiten, betraf selbstverständlich auch diesen neuen persischen Transithandel. Allerdings wurde das Interesse Schwedens hieran nicht erst 1676 geweckt. 5 Schon vor diesem Zeitpunkt war die Frage der Herstellung einer Handelsverbindung nach Isfahan periodisch verfolgtes Ziel schwedischer Handelsdiplomatie gewesen. Anders jedoch als das übergreifende schwedische Programm der Umlenkung des russischen Außenhandels ging das Teilprogramm einer Umleitung des persischen Transithandels nicht auf Gustav Vasa und seine Söhne zurück 6, sondern nahm erst unter seinem Enkel Gustav II. Adolf konkrete Gestalt an. Dieser König brachte in den Verhandlungen mit Moskau 1615/1617 die Forderung nach Gewährung des Rechtes auf Transit nach Persien für schwedische Kaufleute vor. 7 Im Friedensvertrag von Stolbovo 1617 drang er damit jedoch nicht durch: Lediglich Diplomaten, keinesfalls aber Kaufleuten, gewährte der Zar einen solchen Transit. 8 Dennoch versuchte der König im Folgejahr erneut, von der moskauischen Seite die Zusage zu erhalten, dass schwedische Kaufleute „nach Persien, ins Tatarische Land, auf die Krim, ins Armenische Land und zurück“ reisen dürften. 9 Die Antwort war aber auch diesmal negativ. Hartnäckig verfolgte Gustav Adolf seinen Plan in Moskau weiter, wohl nicht zuletzt aufgrund des 1621 erfolgten Zusammenbruchs des niederländischen

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Vgl. zusammenfassend zuletzt Edmund Herzig: The Iranian Raw Silk Trade and European Manufacture in the Seventeenth and Eighteenth Centuries. In: Journal of European Economic History 19 (1990), S. 73–89. Zur Kenntnis Persiens im Schweden des 17. Jahrhunderts vgl. Sven Hedin: Verwehte Spuren. Orientfahrten des Reise-Bengt und anderer Reisender im 17. Jahrhundert. Leipzig 1923, und Ture J. A. Arne: Svenskarna och österlandet. Stockholm 1952. Gustav I. lehnte 1557 sogar ein moskauisches Angebot auf freien Transit für schwedische Kaufleute nach Persien als Gegenleistung für freien Transit russischer Kaufleute nach Westeuropa ab (vgl. Sven Lundkvist: Gustav Vasa och Europa. Svensk handels- och utrikespolitik 1534–1557. Uppsala 1960, S. 382), während Karl IX. zwar an einer Handelsverbindung mit Persien interessiert war, dabei aber offensichtlich an den Seeweg dachte. Vgl. Karl R. Melander: Ruotsin neuvotteluja Persian ja Krimin kaanikunnan kanssa 1600 – luvulla kauppayhteydestä ja liitosta. In: Historiallinen Arkisto XXXIV. Juhlajulkaisu /festskrift 1875–1925. Bd. II. Helsinki 1925, Beitrag Nr. 3, S. 1–20, hier S. 2–6. I. P. Šaskol’skij: Stolbovskij mir 1617 g. i torgovye otnošenija Rossii so švedskim gosudarstvom. Moskva-Leningrad 1964, S. 43–46 und 55. Vgl. den Text des Stolbovo-Vertrages vom 27. Februar 1617 in: Sverges traktater med främmande magter jemte andra dithörande handlingar. Utg. af O. S. Rydberg och Carl Hallendorff. Bd. V /1: 1572–1632. Stockholm 1903, Dok. Nr. 24, S. 242–266, hier § 17, S. 256. Iz pis’ma švedskogo pravitel’stva russkim poslam po povodu statej Stolbovskogo dogovora, po˙ svjašˇcennych russko-švedskich torgovlej, 7. Juli 1618. In: Ekonomiˇ ceskie svjazi meždu Rossiej i ˇ Šveciej v XVII v. Dokumenty iz sovetskich archivov. Red. Lev Cerepnin [et al.]. Moskva 1978, Nr. 4, S. 20, hier § 4.

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Persienhandels über die Levante. 10 Die jetzt konkurrenzfähig werdende Route via Russland führte allerdings zu einem regelrechten diplomatischen Wettlauf nach Moskau. Auch Niederländer, Engländer, Franzosen, Dänen u. a. versuchten, vom Zaren entsprechende Privilegien zu erhalten. Am begehrtesten hierbei war die Erlaubnis, eigene Kaufleute via Moskau nach Persien schicken zu können. An zweiter Stelle strebte man die Möglichkeit an, in der russischen Grenzstadt Astrachan’ mit persischen Untertanen Geschäfte machen zu können. Und erst an dritter Stelle war man daran interessiert, im Innern des Moskauer Staates, etwa in Kazan’ oder Moskau, mit den Persern und Armeniern Gasthandel zu betreiben. Allerdings gab sich der Zar, nicht zuletzt auf Drängen der gosti, intransingent. Ausländer konnten in Russland Seide und andere persische Waren nur über den Umweg über russische Kaufleute erwerben. Das galt auch für schwedische Untertanen, denn eine Phase intensiver schwedisch-russischer Annäherung zu Beginn der dreißiger Jahre hielt nicht an. Gustav Adolfs und Axel Oxenstiernas Persienpolitik, die zeitweise in Zusammenarbeit mit dem Herzog von Holstein-Gottorp betrieben wurde, blieb daher ohne Erfolg. 11 Dennoch hatte sie zumindest eine bedeutsame Folge: Für den holsteinischen Persien- und Russlandexperten Philip Crusius, dessen Reisen Adam Olearius in seinem bekannten Buch beschrieben hat, wurde 1640 das schwedische Livland wie für so viele vor ihm zum „Blievland“: Binnen kurzem sollte er nicht nur Burggraf von Narva, sondern vor allem der wichtigste Berater der Krone in Sachen Osthandelspolitik werden. 12 Der später unter dem Namen Krusenstiern geadelte Crusius war es auch, der ab 1646 in mehreren Denkschriften den Plan einer schwedischen Gesandtschaft nach Isfahan entwarf. Die schwedischen Diplomaten sollten den Schah dazu bringen, von sich aus beim Zaren das Transitrecht für schwedische Kaufleute zu erwirken: Sie müsten [. . . ] ex tabulis Geographicis zeigen, wie der Großfurst mit Jhr. Königl Maytt: zu Schweden an der einen, und Schach an der andern Seyten so nahe grentzen, und zwischen Jhnen beschlossen liege, alß gar, dass wenn diese beyde Potentaten Einig, des Großfürsten beyderseits Unterthanen, die auß beyden Reichen biß nach Muscau zuhandeln, und denen der Weg gar woll bekand, dem weitern blossen Fahrt aufflegen, und Durchgang durch seine Landen wegen Handlung nach aller Völcker Rechten nicht würden können weigern, und hette insonderheit der Schach die beste Gelegenheit, den Großfürsten, dass Er die Persianische Kauffleuthe mit ihren Wahren nach Jhr: Königl. Maytt. in Schweden angrentzenden Landen von Muscau ab, weiter passiren lassen muste, dadurch zu constringiren, wann Er auff Erfolgende Verweygerung denen Russen, und des Großfürsten Kauffleuthen allen Han-

10 Vgl. hierzu Jonathan I. Israel: Dutch World Primacy in World Trade, 1585–1740. Oxford 1989, S. 149–156. 11 Zu diesem bislang nur unzureichend aufgehellten Kapitel schwedischer Persienpolitik vgl. vorläufig noch Ernst Markus Kiecksee: Die Handelspolitik der Gottorfer Herzöge im 17. Jahrhundert. Ein Beitrag zur schleswig-holsteinischen Handelsgeschichte. Phil. Diss. Kiel 1952 (Universitätsbibliothek Kiel, Signatur TU. 53.5356). 12 Vgl. Benigna von Krusenstjern: Philip Crusius von Krusenstiern (1597–1676). Sein Wirken in Livland als Rußlandkenner, Diplomat und Landespolitiker. Marburg /L. 1976.

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del in Persien versperrete, Nachdemmahl der Großfürst dessen, so woll seines eygenen Schatzes, als deren in seinem Lande fallender und wieder aus Persien begehrter unentbehrlicher Wahren, unmüglich entrathen kan. 13

Vor allem der Gouverneur von Estland und Sohn des Reichskanzlers, Erik Oxenstierna, griff diese Gedanken auf und brachte sie der Krone nahe. 14 Dasselbe tat Johan de Rodes, der 1650 bis 1655 als schwedischer Resident in Moskau tätig war. Er befasste sich nicht nur theoretisch mit dem Persienhandel, sondern auch praktisch, indem er dem Revaler Russlandlandkaufmann Michael Paulsen beim Erwerb persischer Seide in Novgorod und Moskau behilflich war. Da wegen des englischniederländischen Seekrieges die Archangel’skroute in der ersten Hälfte der 1650erJahre nur eingeschränkt nutzbar war, gelang es Paulsen, vom Zaren Genehmigungen zur Ausfuhr von circa 300 Ballen 15 Rohseide zu erhalten. 16 Erstmals wurde damit eine größere Quantität dieses teuren Produkts über Schweden geführt. Obwohl Aussagen über die Größenordnung des damaligen Weltseidenhandels problematisch sind, dürfte diese Menge etwa ein Fünftel dessen ausgemacht haben, was der Hauptkunde für Rohseide, nämlich die Stadt Amsterdam, in der Mitte des 17. Jahrhunderts pro Jahr aus Persien bezog. 17 Der moskauische Angriff auf Schweden vom Sommer 1656 beendete allerdings diese Art von Handel.

13 Vgl. Uppsala universitetsbibliotek. Handskriftsavdelning, L 161, fol. 38 r–v. In diesem Band finden sich unter Abschriften anderer Denkschriften Ph. Crusius’ auch solche, die sich auf Persien beziehen: (1) Gründliche Nachricht und Anweysung Worinnen die Russische Handlung furnemblich bestehe, wie es mit der Archangelschen Fahrt eygentlich beschaffen, waß für Zufälle den Handel aus dem Finnischen Meerbusen vor Jahren dahin verjaget, und auff waß Arth und Weyse der Handel von dannen wieder anhero nach Reval kan gezogen werden, Auß einiger Anmerckung des Großfurstenthumbß Rußland und angrentzender Königreiche und Lande beschaffenheit zu bezeigung Unterthänigster Devotion auffgesetzet durch. P. K. Reval, 29. Dezember 1646 [Abschrift mit „Dedication“ an Christina, Reval, 8. Januar 1647], fol. 10–35; (2) Unterthänigste Anleytung Welcher Gestalt die Archangels Fahrt zu Dismembrirn und derselben eine gute Anzahl nach Reval fueglich zuziehen sey; Auch Waß die Reducirung des Russischen Handelß nach der Ost=See mit sich führe. Stockholm, 22. Juli 1648, fol. 3–9; (3) Unterthäniges, Einfältiges Bedencken und Anweysung wie durch den Schach in Persien bey gegenwärtiger Zeitt, der Weg zu der Asiatischen Handlung über die Caspische See, durch Rußland auff der Volga nach der OstSee zueröffnen. Stockholm, 1. August 1653, fol. 36–41 [Die Datierung auf 1663 ist falsch, wie aus einer anderen Abschrift in Diplomatica Persica, vol. 1, hervorgeht]. 14 Vgl. z. B. Svenska riksrådets protokoll. Bd. XII: 1647–1648. Stockholm 1909, S. 331–332 (29. Mai 1648). 15 Ein Ballen Rohseide wog etwa 100 kg und besaß einen Wert von ca. 600 Reichstalern. 16 Vgl. hierzu die Edition von J. de Rodes’ Berichten (Boris G. Kurc: Sostojanie Rossii v 1650–1655 g. g. po donesenijam Rodesa. Moskva 1914) sowie zu J. de Rodes’ Persien-Plänen im allgemeinen seinen Brief an Kristina. O. O., o. D. [1650], 3 fol. In: RAS, Diplomatica Persica, vol. 1: Ludvig Fabricius’ papper 1679–1700. Svensk-persianska förhandlingar 1607–1700 (hier Mappe „Förhandlingar 1607–1698“). Zu M. Paulsens Seidengeschäften s. auch Helmut Piirimäe, M. Rand, T. Ilomets: Andreas Baeri perekonnakroonika. In: Folia Baeriana 2 (1976), S. 122–162, hier S. 127–133. 17 Vgl. Tab. 5.10: Estimated annual imports of raw silk to the Dutch entrepôt, 1630. Bei: Israel: Dutch Primacy, S. 154.

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Dennoch trat auch unter Karl X. Gustav die Kontinuität schwedischer Handelskontrollpolitik gegenüber Moskau einschließlich der persischen Komponente deutlich hervor. Bereits beim ersten Waffenstillstandsfühler mit Moskau Ende 1656 ließ der König durch seine Unterhändler die Forderung vortragen, „dass die Untertanen Ihrer Königl. Majestät frei und unbehindert reisen und ihren Handel und Wandel treiben mögen, sowohl in und durch alle Herrschaften, Länder, Provinzen und Städte des Großfürsten hindurch und insonderheit nach Kazan und Astrachan, wo sie ein Handelshaus haben sollen, als auch mit anderen Völker und Länder in Asien, die außerhalb des Machtbereichs des Großfürsten liegen, vor allem nach und von Persien [. . . ].“ 18 Desgleichen drängte Karl X. Gustav auf einen Durchbruch in der Frage des Persienhandels beim bevorstehenden Friedensschluss mit Moskau. Wie Ph. v. Krusenstiern berichtete, hatte der König diesbezüglich „zue untersch[i]edenen mahlen mit mihr allergnädigste unterredung gehalten“ und ihn zum Jahreswechsel 1659/1660 gefragt, „ob und wie zuegleich zue einer handlungs-correspondence mit Perßien und selbigen Asiatischen orten zue gelangen“ sei. 19 Darüberhinaus hatte er ihm zu verstehen gegeben, dass er „auß diesen [. . . ] sachen noch viel mit mihr zue reden hette“ und er, „so bald nur der damahlige reichstag geslossen, eine gewisse zeit dazue nehmen und mich alßdann vollents abfertigen wolte.“ 20 Dazu kam es durch den Tod des kriegerischen aber extrem übergewichtigen Karoliners im Februar 1660 nicht mehr. Der Friedensvertrag von Kardis von 1661 war dann auch und vor allem in handelspolitischer Hinsicht eine bloße Bekräftigung des Stolbovo-Vertrages von 1617. Weder in den Verhandlungen noch im Vertragstext tauchte die Frage des Persientransits auf. 21 Dennoch bzw. eben deshalb bemühte sich die schwedische Russlanddiplomatie auch die gesamten 1660er- und die erste Hälfte der 1670er-Jahre hindurch, vom Zaren das Transitrecht nach Persien zu erhalten. Die Konzessionen, die man dafür in Aussicht stellte, wurden immer gewichtiger: War man anfänglich bereit, russische Kaufleute von Nyen, Narva, Reval und Riga aus nun auch in nicht-schwedische Ostseehäfen weiterreisen zu lassen, so bot man in der Folgezeit den freien Transit sogar in die Niederlande und nach England an. Desgleichen offerierte man russischen Untertanen zunächst Handelsfreiheit in allen Hafenstädten des eigentlichen Schweden –

18 Instruktion Karls X. Gustav für Magnus Gabriel De la Gardie. Marienburg. 9. Dezember 1656, 22 §§. In: Den Swenska Mercurius 6 (1761), März-Heft, S. 548–561, hier § 20, S. 560. 19 Philip v[on] Krusenstiern: Allerunterthänigste eröfn- und anweisung, wie und auff waß weise bey gegenwertigen zuestande, zur destruirung der Archangelschen fahrt zue gelangen und die dahin entwichene Russische handlung nach der Ostsee und in sinum Finnicum wieder zue ziehen sey. Stockholm, 18. Juni 1660. In: Ekonomiska förbindelser mellan Sverige och Ryssland under 1600talet. Dokument ur svenska arkiv. Red. Artur Attman [et al.]. Stockholm 1978, Dok. Nr. 22, S. 142– 152, hier S. 144. 20 Ibid. 21 Vgl. Helmut Piirimäe: Kaubanduse küsimused Vene-Rootsi suhetes 1661.–1700. a. Tartu 1961, S. 14–23, sowie die einschlägigen Paragraphen 10 bis 18 des Kardis-Vertrags in: Russko-švedskie e˙ konomiˇceskie otnošenija v XII veke. Sbornik dokumentov. Red. M. P. Vjatkin, I. N. Firsov. Sost. M. B. Davydova, I. P. Šaskol’skij & A. I. Jucht. Moskva-Leningrad 1960, Dok. Nr. 136, S. 198–202.

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bis dahin konnte nur Stockholm angelaufen werden –, dann gar die Freigabe des russischerseits so geschätzten innerschwedischen Metallmarktes. 22 Dennoch wogen aus russischer Sicht die potentiellen Vorteile dieser mangels Druckmittel eingesetzten schwedischen Lockmittel die ganz realen Vorteile der Weißmeerroute mitnichten auf. Der Zar war sich des fiskalischen Nutzens eines Direkthandels mit Ausländern auf seinem eigenen Territorium wohl bewusst, wie auch derjenige einflussreiche Teil der gosti, der die Route Moskau-Archangel’sk kontrollierte, strikt gegen die Ostseeroute war. Dass trotzdem Bewegung in die Frage des Persien-Transits kam, hatte ganz andere Gründe, die mit der schwedischen Politik nur in indirektem Zusammenhang standen. Zum einen erteilte der Zar vornehmlich aus bündnispolitischen Erwägungen in den 1660er- und 1670er-Jahren den armenischen Untertanen des Schahs mehrere Privilegien, die, wie erwähnt, 1676 in einer Transitgenehmigung gipfelten. 23 Und zum anderen traf im Jahr darauf in Stockholm ein Offizier niederländischer Herkunft ein, der dort mit Erfolg an die Ideen Ph. v. Krusenstierns anknüpfte. Dieser Ludvig Fabritius war 1668 in zarischen Diensten an der Volga in die Gefangenschaft des aufständischen Bauernführers Sten’ka Razins geraten, aus der er nach Persien fliehen konnte. Dort machte er die Bekanntschaft des armenischen Großkaufmanns Grigoris Lusikjan, welcher im Auftrag des Schahs die besagten Privilegien des Zaren für die Armenische Handelskompanie ausgehandelt hatte. 24 In Stockholm angekommen bot nun L. Fabritius der schwedischen Krone an, nach Isfahan zu reisen, um mittels seiner Kontakte dort für die Umleitung der neuen persischen Ausfuhrroute nach Westeuropa, also weg von Archangel’sk und hin nach Narva, zu sorgen. König und Bürokratie waren von den Kenntnissen und Plänen des Offiziers beeindruckt und erklärten sich bereit, ihn in amtlichem Auftrag zum Schah zu schicken. Nachdem auch die schwierige Frage der Finanzierung der Mission geklärt war, brach L. Fabritius im Sommer 1679 nach Moskau und Isfahan auf. 25 In der persischen Hauptstadt übergab er ein Memorandum, welches die folgenden vier Vorschläge bzw. Mitteilungen enthielt: (1) Schweden gestattet persischen Kaufleuten die Einreise; (2) auf zwei Jahre werde Zollfreiheit gewährt; (3) Schweden werde auf eigene Kosten Frachtschiffe im Kaspischen Meer bauen; und (4), die Entfernung Moskau-Narva betrage lediglich

22 Zu diesen noch nicht systematisch untersuchten Verhandlungen 1662–1674 vgl. die fragmetarische Dokumentation samt Kommentaren in den drei Quelleneditionen Russko-švedskie e˙ konomiˇceskie ot˙ nošenija, Ekonomiˇ ceskie svjazi meždu Rossiej i Šveciej und Ekonomiska förbindelser mellan Sverige och Ryssland. 23 Vgl. hierzu Stefan Troebst: Isfahan – Moskau – Amsterdam: Zur Entstehungsgeschichte des moskauischen Transitprivilegs für die Armenische Handelskompanie Persiens (1667–1676). In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 41(1993), H. 2, S. 180–209 [und im vorliegenden Band]. 24 Zu L. Fabritius vgl. seine undatierte Autobiographie, 2 fol. In: RAS, Biographica F, vol. 1: Faber-Fabritius, sowie Johan Kempe: Kongl. Swenska Envoijen Ludwich Fabritii Lefwerne. Stockholm 1762, und Bengt Hildebrand: Ludvig Fabritius. In: Svenskt biografiskt leksikon 14 (1953), S. 733–737. 25 Vgl. die Dokumentation in: RAS, Diplomatica Persica, vol. 1: Ludvig Fabricius’ papper 1679–1700. Svensk-persianiska förhandlingar 1607–1700, hier die Mappe „L. Fabritius’ 1sta resa 1679–1689“.

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136 Meilen. 26 Während die Reaktion des Schahs freundlich, aber indifferent ausfiel, zeigten die armenischen Kaufleute Isfahans mehr Interesse. Zurück in Stockholm, riet L. Fabritius zur Entsendung einer weiteren, diesmal ranghöheren Mission nach Persien, und wiederum wurde er selbst mit dieser Aufgabe betraut. Im April 1683 begann er seine zweite Gesandtschaftsreise nach Persien. 27 Dieses Mal zeigte die persische Führung mehr Interesse an ihm, wohl nicht zuletzt, weil die niederländische Ostindienkompagnie am Golf militärischen Druck auf den Schah ausübte, um ihn zu Zollerleichterungen und Zollrückzahlungen zu zwingen. Außerdem war kurz zuvor eine umfangreiche Lieferung von 400 Ballen Rohseide auf der Route Archangel’sk-Amsterdam von Dünkirchener Kaperern aufgebracht worden. Der persische Großwesir fragte L. Fabritius daher eingehend „nach fielen umstenden wie weidt Sweden von dannen wehre, undt wie weidt Sweden von Reuslandt wehre, ob die Reise zu waßer oder zu landt gethan muste werden“ 28 und ordnete die Aufnahme von Verhandlungen zwischen dem Gesandten und der Armenischen Kompanie an. Deren Vertretern antwortete L. Fabritius auf ihre Klage über die Unsicherheit der Weißmeer-Route: [S]ie hädten sich nicht sollen von die Reüsen, Holländer undt Engelländer so verführen laßen, den[n] dero bester wech wehre über Novogrot und so auff Narwa oder Rewel undt so weiter auff Lybeck über die Ostseh. 29

Dieses Argument überzeugte die Kompanie. Obwohl L. Fabritius somit den Isfahaner Teil seiner Mission im Herbst 1684 erfolgreich abgeschlossen hatte, konnte er erst zwei Jahre später die Heimreise antreten. Allerdings wurde er diesmal von Abgesandten der Armenischen Handelskompanie begleitet, welche testhalber 30 Ballen Rohseide mit sich führten, die sie über Narva und Stockholm nach Amsterdam auszuführen gedachten. In Moskau angekommen, gelang es L. Fabritius und seinen armenischen Begleitern, der russischen Seite ihr Bestehen auf einer Benutzung der Archangel’skroute auszureden und eine Ausfuhrerlaubnis für die Route über Novgorod nach Narva zu erwirken. Eine entscheidende Rolle spielte dabei der damalige Leiter der moskauischen Außenpolitik, Fürst Vasilij V. Golicyn, der zum einen auf

26 Anlage Nr. A 2 bei Kempe: Fabritii Lefwerne, S. 158–159 (Dort irrtümlich als „Konungens af Persien öpna Bref“ bezeichnet). 27 L. Fabritius’ Gesandtschaftssekretär bei dieser Mission war der Lemgoer Forschungsreisende Engelbert Kaempfer, der eine reichhaltige Dokumentation hierzu hinterlassen hat. Vgl. British Library London. Department of Manuscripts. Sloane Collection, MSS. 2923, 3063 und 3064, sowie den Überblick über die umfangreiche Kaempfer-Literatur von Detlef Haberland: Engelbert Kaempfer. Leben – Werk – Wirkung. In: 800 Jahre Lemgo. Aspekte der Stadtgeschichte. Hrsg. Peter Johanek und Herbert Stöwe. Lemgo 1990, S. 311–325. 28 Ludvig Fabritius’s MS. entitled Kurtze Relation von meine drei gethane Reisen. Appendix zu: S[ergei] Konovalov: Ludvig Fabritius’s Account of the Razin Rebellion. In: Oxford Slavonic Papers 6 (1955), S. 72–101, hier S. 97. 29 Ibid.

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persische wie schwedische Unterstützung für seine Feldzüge gegen das Osmanische Reich hoffte, zum anderen persönlich eng mit Armeniern in Moskau liiert war. 30 Im Sommer 1687 traf L. Fabritius mit den drei armenischen Bevollmächtigten in Stockholm ein, wo auf Anweisung Karls XI. umgehend eine Regierungskommission gebildet wurde, die mit ihnen über eine Privilegienvergabe konferieren sollte. Das Ergebnis war ein königliches Oktroi vom 23. September 1687, in welchem der armenischen Kompanie die folgenden Zugeständnisse gemacht wurden: (1) „Ein Bequemes Haus“ in Narva samt Protektion der Krone in ganz Schweden; (2) eine garantierte Zollobergrenze in Höhe von 2 % auf alle Waren, die die Armenier aus Persien und Russland nach Schweden ein- bzw. im Transit durchführten; (3) eine ebensolche Obergrenze in Höhe von 1 % für europäische Retourwaren; (4) völlige Zollfreiheit auf alle Einfuhr- und Retourwaren nicht nur für die von L. Fabritius in Aussicht gestellten ersten beiden Jahre, sondern für insgesamt drei Jahre; (5) unterschiedliche Seidensorten und einige andere Waren sollten je nach Qualität mit unterschiedlichen Zöllen belegt werden; (6) für den Transport zwischen der russischen Grenze und Narva würde die schwedische Seite je nach Jahreszeit Boote, Pferdefuhrwerke und Schlitten zum üblichen Tarif bereitstellen; und (7) würde Schweden ausreichenden Schiffsraum auf dem Seeweg Narva-Amsterdam anbieten. 31 Diese Konzessionen, vor allem Zollfreiheit und Zollsatz, waren für schwedische Verhältnisse sehr weitreichend und sind ein Indikator für das Gewicht, das aus Stockholmer Sicht dem Programm zur Kontrolle des Ost-West-Handels zukam. Dass in diesem Programm nun vor allem Narva, und nicht länger Reval, als Zentrum firmierte, hatte bereits 1684 die gleichfalls höchst ungewöhliche Vergabe des Privilegs auf Religionsfreiheit durch Karl XI. an englische Kaufleute belegt. 32

30 Vgl. zu seiner Rolle zuletzt Lindsey A. J. Hughes: Russia and the West, the Life of a SeventeenthCentury Westernizer, Prince Vasily Vasil’evich Golitsyn (1643–1714). Newtonville, MA, 1984, sowie zu seinen Verbindungen zu armenischen Handwerkern in Moskau E. Lermontov: Šëlkovaja fabrika v pravlenie carevny Sofi Alekseevny. Petrograd 1915. 31 Oktroi Karls XI. „für einige Armenianische Kauffleute“, Stockholm, 23. September 1687, 7 §§. Der schwedische Wortlaut ist weder in der Riksregistratur noch in einer anderen Abschrift auffindbar gewesen. Eine zeitgenössische deutsche Übersetzung findet sich als Anlage zu einer Eingabe von Adam Brand an einen brandenburgischen „Geheimen Rat“ (Friedrich Kupner oder „Ilgen“?) aus dem Jahr 1708 in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Abt. Merseburg, Repositur 7: Preußen, Nr. 108: Acta betr. Handel der Armenischen Kaufleute nach Königsberg 1708, fol. 4–5. Friedrich I. trug sich 1708 mit dem Gedanken, den Armeniern ein Oktroi zur Niederlage in Königsberg zu erteilen, dessen Entwurf in Form und Inhalt mit dem schwedischen aus dem Jahr 1687 fast identisch war. Vgl. eine geplante „Concession“ Friedrichs I. an armenische Kaufleute, o. D. [1708], ibid., fol. 8–23. 32 Vgl. Lars Hagberg: Johannes Gezelius d. y. och engelsmännens religionsfrihet i Narva 1684. In: Kyrkohistorisk årsskrift 1948, S. 111–125, sowie weiter Dirk Erpenbeck: Die Engländer in Narva zu schwedischer Zeit. In: Zeitschrift für Ostforschung 38 (1989), S. 481–497. Gleich Reval spielte auch Riga nun lediglich eine untergeordnete Rolle hinsichtlich einer Umleitung des Außen- und Transithandels durch den Moskauer Staat hindurch. Vgl. hierzu Stefan Troebst: Stockholm und Riga als „Handelsconcurrentinnen“ Archangel’sks? Zum merkantilen Hintergrund schwedischer Großmachtpolitik 1650–1700. In: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 48 (1993), S. 259–294.

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Der König ordnete denn auch eigens an, dass „dieße Nation“, also die Armenier, „mit aller bescheidenheit soll tractiret und bey gutem humeur auf dienliche weise erhalten“ 33 werden. Wie strikt diese Weisung befolgt wurde, zeigten die zahlreichen Ausnahmegenehmigungen, mit denen die Krone in der Folgezeit zahlreichen speziellen Wünschen der armenischen Kaufleute bereitwilligst entsprach. So wurde beispielsweise auch persischen Untertanen, die nicht über die Ostsee nach Amsterdam gereist waren, auf dem Rückweg über Narva dennoch der niedrige Zollsatz für Retourwaren eingeräumt. 34 Als Gegenleistung für die Erteilung des Oktroi stellten die armenischen Unterhändler die Verlegung ihrer Nordroute via Moskau in die Niederlande von Archangel’sk nach Narva in Aussicht. Zielstrebig weckten sie dabei schwedische Hoffnungen, an deren Erfüllung sie wohl kaum ernsthaft dachten. Auf die Frage von Kommerzkollegiumspräsident Fabian Wrede, ob ihre Kompanie bereit wäre, Retourwaren statt in den Niederlanden in Narva zu erwerben, erhielt er vom Delegationsleiter Safar Nersisjan folgende Antwort: Der alte Armenier betonte, nichts mehr anzustreben, als aus Narva dieselbe Stapelstadt wie aus Amsterdam zu machen; und wenn sie in Narva ihre Retourwaren bekämen, so wären sie damit sehr zufrieden. 35

Daraus wurde zwar schon des geringen Kapitals der Narvaer Bürgerschaft und des folglich beschränkten Warenangebots in der Stadt wegen nichts, doch war nun der Grundstein für die Inbetriebnahme der neuen Handelsverbindung Persien – Schweden gelegt. Nur am Rande sei hier erwähnt, dass Karl XI. nicht nur außenhandelspolitische und fiskalische Hoffnungen auf die neue Verbindung zum persischen Markt setzte, sondern gemäß seiner merkantilistischen Politik der Importsubstitution zugleich den Aufbau einer schwedischen Seidenindustrie anstrebte und somit an ständigem Nachschub dieses Rohstoffes höchst interessiert war. 36 Aus diesem Grunde nötigte er 1687 den Stockholmer Magistrat dazu, den Armeniern die erwähnten 30 Ballen Rohseide zu überhöhtem Preis abzukaufen und eine städtische Seidenmanufaktur zu eröffnen. Dieses Unternehmen endete nach einigen Jahren mit einem finanziellen Fiasko 37, 33 Karl XI. an O. W. v. Fersen, 11. November 1691 (nicht erhalten); hier zit. nach Christoffer von Kochen an Karl XI. Narva, 6. April 1696, in: RAS, Kommerskollegium. Huvudarkivet. Inkomna handlingar. Kungliga brev och remisser. b) Supplementserie (E I b), vol. 1: 1673, 1688–1706, fol. 117–118, hier fol. 117 v. 34 Lediglich die Forderung der Armenier nach Religionsfreiheit in Narva scheint abschlägig beschieden worden zu sein. Vgl. hierzu Ja. R. Daškeviˇc: Armjano-švedskie kontakty v XVII v. In: Vsesojuznaja konferencija po izuˇceniju istorii, e˙ konomiki, literatury i jazyka skandinavskich stran i Finljandii. Teˇ zisy dokladov. Red. A. O. Cubar’jan [et. al.] 1. Halbbd. Moskva 1989, S. 49–50, hier S. 50. 35 Kommerzkollegiumsprotokoll vom Nachmittag des 13. September 1687. In: RAS, Kommerskollegium. Huvudarkivet. Protokoll (A I a 1), vol. 33: 1687. 36 Vgl. allgemein Sven Grauers: Till belysning av det karolinska enväldets näringspolitik åren 1686– 97. In: Karolinska förbundets årsbok 1960, S. 21–70. 37 Vgl. hierzu die detaillierte Darstellung bei Carl-Fredrik Corin: Självstyre och kunglig maktpolitik inom Stockholms stadsförvaltning 1668–1697. Stockholm 1958, S. 345–363.

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wohl vor allem, weil die Technologie zur Verarbeitung hochwertiger Rohseidearten fehlte. Die Probleme, die diese Kombination von wirtschaftspolitischem Protektionismus und technologischer Inkompetenz verursachten, bestanden auch zehn Jahre später noch. Angesichts von zunehmenden Protesten gegen das 1688 erlassene strikte Verbot des Imports preiswerter Seidenprodukte aus Westeuropa musste das Kammerkollegium einräumen, dass die schwedische Seidenindustrie zur Versorgung des Binnenmarktes noch immer nicht in der Lage sei. 38 Während die fiskalische Wirkung des schwedischen Oktrois von 1687 aufgrund der dort gewährten zollfreien Jahre zunächst auf sich warten ließ, war der handelspolitische Effekt beträchtlich: Wie zeitgenössische moskauische Quellen belegen, hat es eine überaus rasche und vollständige Umorientierung der Armenier von Archangel’sk nach Narva bewirkt. Schon 1688 reisten letztmals armenische Kaufleute über das Weiße Meer in die Niederlande, sodann ausschließlich über die Ostsee. 39 Die Palette an persischen Waren, welche die Armenier über Narva nach Westen führten, war nicht sehr breit. Neben Rohseide, die mit Abstand das Gros ausmachte, handelte es sich um Saffianleder sowie um kleinere Mengen an Baumwolle, Farben, Medikamenten, Safran, Weihrauch, Petroleum, Tapeten, Textilien, Porzellan, Perlen, Diamanten und anderen Edelsteinen. 40 Auf dem Rückweg wurden vor allem preiswerte Stoffe aus niederländischer, mitunter gar schwedischer Produktion sowie Kupfer- und Metallwaren oder Spiegel nach Persien mitgeführt. 41 Was den quantitativen und wertmäßigen Umfang der ab 1687 von den Armeniern über Narva umgeschlagenen Ausfuhr- und Retourwaren betrifft, so gibt es hierzu fast nur narrative, kaum statistische Quellen. Gemäß schwedischen Archivalien sowie nach einer Übersicht der Moskauer Historikerin Nina Kukanova zu urteilen sind um 1690 via Narva jährlich 200–300 Ballen Rohseide im Wert von ca. 1.200.000 Reichstalern exportiert worden. 42 Allerdings stieg in der Mitte der 1690er-Jahre das Warenvolumen beträchtlich an. So trafen allein in den ersten vier Monaten des Jahres 1696 503 Ballen Rohseide im Wert von ca. 300.000 Reichstalern in Narva ein. 43 Aufgrund der 1687 gewährten und anschließend bis 1692 verlänger-

38 Friedrich Ferdinand Carlson: Geschichte Schwedens. Bd. V: Bis zum Tode Carl’s XI. Gotha 1875, S. 468. 39 Vgl. Tab. 2: Posešˇcenie armjanskimi kupcami russkich gorodov v 1676–1697 gg. bei Kukanova: Oˇcerki, hier S. 91–99. 40 Ph. v. Krusenstiern: Allerunterthänigste eröfn- und anweisung, S. 149–150. 41 Vgl. O razrešenii vyezda iz Moskvy v Astrachan’ kupcam Anušu Vartanovu i Safaru Vasil’evu s tovarami, privezennymi imi iz Švecii. Moskau, 25. August 1688. In: Armjano-russkie otnošenija v XVII veke. Sbornik dokumentov. Red. V. A. Parsamjan, Erevan 1953, Dok. Nr. 72, S. 196–197, hier S. 197. 42 Vgl. die genannte Tab. 2 bei Kukanova: Oˇcerki. 43 Chr. von Kochen an Karl XI. Narva, 6. April 1696, fol. 117 r. Vgl. auch die Warenverzeichnisse in: ˇ Celobitnjaja armjanskich kupcov Grigorija Davydova, Jakova Davydova, Savelija Sergeeva, Nikolaja Tarasova, Nikity Bogdanova, Chaˇcika Michajlova, Isi Grigorija Christoforovych, Arakela Petrova i drugich o razrešenii vyezda s tovarami v Šveciju, Moskau, Februar 1696. In: Armjano-russkie otnošenija, Dok. Nr. 86, S. 213–224. – Zu den genannten 503 Ballen Rohseide, die Kaufleute aus Persien nach Narva gebracht hatten, kamen weitere 33 Ballen Rohseide hinzu, die von russischen Kaufleuten

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ten Zollfreiheit tauchte dieser neue Warenstrom in den Lizent- und Portorienbüchern Narvas zunächst nicht auf. 44 Mangels gesicherter Daten über den persischen Gesamtexport an Rohseide nach Westen – Schätzungen schwanken hier zwischen 1500 und 8000 Ballen pro Jahr 45 – lässt sich auch über den Anteil der Nordroute hieran wenig mehr sagen, als dass dieser wohl nur einige wenige Prozent, in Ausnahmejahren wie etwa 1696 möglicherweise bis zu 10 %, betragen haben dürfte. In Narva selbst führte der zunehmende Handel der Armenier rasch zu beträchtlichen Kapazitätsproblemen. Kamen zu Beginn der 1690er- Jahre jährlich 20 bis 30 armenische Kaufleute dort an, die für ihr Personal und ihre Waren große Platzbedürfnisse anmeldeten, so waren es in der Mitte des Jahrzehnts schon doppelt so viele. Nachdem die Untertanen des Schahs anfangs provisorisch im Keller des neuen Narvaer Rathauses untergebracht worden waren, mietete der Magistrat 1690 auf Kosten der Krone ein eigenes, im Rohbau befindliches Haus, welches nach Fertigstellung jedoch gleichfalls bald aus allen Nähten platzte. Daher wurde der Bau eines eigenen, größeren „Persianischen Hauses“ begonnen, welches aber erst Ende der neunziger Jahre bezugsfertig war. Der Narvaer Burggraf Christoph von Kochen, der die Zahl der in der Stadt befindlichen Armenier 1696 auf „über die 50: Persohnen Ihre Bedienten nicht mitgerechnet“ schätzte, zog daher die Sache an sich und brachte einige von ihnen auf Kosten der Stadtkasse unter. 46 Kein Wunder also, dass zum selben Zeitpunkt der Narvaer Farsi- und Armenisch-Dolmetscher Jochum Ekebohm über Arbeitsüberlastung klagte und zur Kompensation und Aufbesserung seines staatlichen Lohnes die Erlaubnis erbat, auf eigene Rechnung mit den Isfahaner Gästen Handel treiben zu dürfen. 47 Trotz seiner neuen Rolle im Weltrohseidehandel war Narva am Ende des 17. Jahrhunderts aber sicher keine „Stadt am seidenen Faden“, wie Peter Kriedte das Krefeld des 19. Jahrhunderts genannt hat. 48 Denn die wirtschaftliche Bedeutung der Stadt am

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dorthin geführt worden waren. Die letztgenannten kündigten Chr. v. Kochen auch die baldige Ankunft von weiteren 60 Ballen an. Vgl. wiederum den zitierten Brief Chr. von Kochens vom 6. April 1696, hier fol. 117 r–v. Zur Entwicklung der Einkünfte aus den verschiedenen in Narva erhobenen Zöllen vgl. Ch. A. Pijrimja˙e: Tendencija razvitii i ob-em torgovli Pribaltijskich gorodov v period švedskogo gospodstva v XVII veke. In: Skandinavskij sbornik 8(1964), S. 99–115, hier Tab. 3: Razvitie torgovli po dochodam ot portorija (S. 106); Tab. 4: Indeksy rosta Narvskoj torgovli (S. 108); und Tab. 6: Razvitie torgovli po dochodam ot licenzii (S. 109). Herzig: The Iranian Raw Silk Trade, S. 76–77 und 80. Chr. von Kochen an Karl XI. Narva, 6. April 1696, hier fol. 117 v (Zitat fol. 117 r). – Diese Angabe wird durch das Narvaer Zollbuch bestätigt, welches für 1696 zwei Perser und 15 Armenier registrierte, die mit ihren Retourwaren von Lübeck kommend in der Stadt eintrafen. Vgl. Ch. A. Pijrimja˙e: Russko-švedskie otnošenija i narvskaja torgovlja v 1661–1700 gg. Avtoreferat dissertacii na soiskanie uˇcenoj stepeni kandidata istoriˇceskich nauk. Tartu 1962, S. 23 (Die zugehörige Dissertation trägt den Titel Vene-Rootsi majanduslikud suhted ja Narva kaubandus a. 1661–1700). Kammer- und Kommerzkollegium – Karl XI. Stockholm, 10. März 1696, 2 fol. In: RAS, Kommerskollegium till K. M:t, vol. 13: 1696. Peter Kriedte: Eine Stadt am seidenen Faden. Haushalt, Hausindustrie und soziale Bewegung in Krefeld in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Göttingen 1991.

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Finnischen Meerbusen beruhte ja vor allem auf ihrer Funktion als Umschlagspunkt im zeitgleich stark zunehmenden Handel mit den sogenannten naval stores sowie Industriepflanzen, Waldprodukten, Häuten usw. zwischen Nordeuropa und dem Moskauer Staat. 49 Dass Narva in dem Jahrzehnt, in dem der Persienhandel über die Ostsee in Gang kam, nur einen relativ bescheidenen Anteil der persischen Rohseideausfuhr auf sich zog, lag aber nicht nur an den genannten Problemen in der Stadt selbst. Mindestens ebenso gravierend war der Mangel an ausreichendem Schiffsraum auf der Route Amsterdam-Narva. Denn immer häufiger gelangten die Armenier auf dem Rückweg lediglich bis zu den Häfen Reval, Riga oder Stockholm, von wo aus sie entweder auf ein anderes Schiff warten oder zu Land weiter nach Narva mussten. Dies kostete neben Geld vor allem zusätzliche Zeit. Aber auch andere Faktoren verlängerten die Gesamtreisedauer erheblich, so dass eine Handelsreise von Isfahan über Narva nach Amsterdam und zurück in der Regel deutlich länger als ein Jahr dauerte. Während auf die eigentliche Hin- und Rückfahrt nur ca. sechs Monate entfielen, sorgte vor allem die bürokratische Praxis der Passausgabe im Moskauer Gesandtschaftsprikaz für lange Verzögerungen. Gleichfalls nicht eben zugunsten Narvas wirkte sich auch eine innerarmenische Entwicklung aus: Die Zunahme des Warenverkehrs auf der Nordroute führte zu Rivalitäten innerhalb der armenischen Kaufmannschaft Isfahans, im Zuge derer sich ab 1695 einzelne Kaufmannsgruppen bemühten, neue Routen – etwa über das Schwarze Meer und Polen nach Mitteleuropa – oder auch andere Ausfuhrhäfen in der Ostsee zu erschließen. Libau, Königsberg und Danzig waren hier im Gespräch. Die schwedische Krone reagierte darauf, indem sie L. Fabritius 1697 zu seiner dritten Persien-Mission abfertigte. Zusätzliches Ziel war es, sowohl beim Zaren wie beim Schah die Erlaubnis zu erwirken, dass nun auch schwedische Kaufleute im Transit nach Persien reisen und in Isfahan einen Handelshof unterhalten dürften. 50 Die Mission war ein Fehlschlag, dem indes nur noch beschränkte Bedeutung zukam. Als nämlich L. Fabritius im Frühsommer des Jahres 1700 wieder in Stockholm eintraf, warf der aufziehende Krieg bereits seine Schatten auf die fragile Handelsverbindung. Im Juli des Jahres unternahmen die Armenier Schritte zur Verlegung ihrer Niederlassung vom exponierten Narva ins geschütztere Reval, doch der Kriegsausbruch im Folgemonat führte zur sofortigen und dauerhaften Unterbrechung der

49 Vgl. zur sprunghaft steigenden Bedeutung Narvas vor allem für den Russlandhandel Englands R. W. K. Hinton: The Eastland Trade and the Common Weal in the Seventeenth Century, Cambridge 1959 (Reprint Hamden, CT, 1975), und Sven-Erik Åström: From Stockholm to St. Petersburg. Commercial Factors in the Political Relations Between England and Sweden, 1675–1700. Helsinki 1962. 50 Vgl. die Dokumentation in: RAS, Diplomatica Persica, vol. 1: Ludvig Fabricius’ papper 1679–1700. Svensk-persianiska förhandlingar 1607–1700, hier die Mappe „L. Fabritius’ 1sta resa 1697–1700“, sowie einen Auszug aus der Gesandtschafskorrespondenz in: DelaGardiska Archivet, eller Handlingar ur Grefl. DelaGardiska Bibliotheket på Löberöd. Utg. af P[er] Wieselgren. Bd. IX. Lund 1837, S. 48–50.

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Route. 51 Das Jahrzehnt des Transithandels vom vorderasiatischen Safavidenimperium nach Westeuropa via Moskau und Narva war im August 1700 definitiv beendet. Zusammenfassend sei festgehalten, dass die schwedische Osthandelspolitik im Teilbereich des Persien-Transits also durchaus handfeste Ergebnisse gezeitigt hat. Im Wettlauf der europäischen Mächte zum persischen Markt via Moskau hat sich Schweden nicht, wie der Persienhistoriker John Foran noch 1989 gemeint hat, als „another ‚non-starter‘“ 52 erwiesen, konnte es doch ganz im Gegenteil den übermächtigen niederländischen Konkurrenten durch die Verlegung der armenischen Ausfuhr von Archangel’sk nach Narva 1687 eine empfindliche handelsdiplomatische Niederlage bereiten. Und auch der sowohl in den orientalistischen wie diplomatischen Spuren L. Fabritius’ wandelnde Schwede Gunnar Jarring irrt, wenn er, wie unlängst getan, als Ergebnis der Bemühungen seines Kollegen aus dem 17. Jahrhundert zur Herstellung der Handelsverbindung Isfahan-Narva meinte: Fabritius’ Königsgedanke war es, den schwedisch-persischen Handel über Novgorod nach Narva und von dort weiter durch Schweden nach Lübeck zu leiten. Ein umfassenderer Handel kam indes nicht zustande. 53

Ein solcher kam, wie gezeigt, sehr wohl zustande, wenngleich er nur von armenischen und persischen, nicht hingegen von schwedischen Kaufleuten betrieben werden konnte. Dies war fachkundigen Zeitgenossen wie etwa dem Verfasser einschlägiger Kaufmannshandbücher Paul Jacob Marperger seinerzeit wohl bewusst. Nachdem 1705 sein „Moscowitischer Kauffmann“ erschienen war, legte er im Folgejahr ein weiteres Vademecum mit dem Titel „Schwedischer Kauffmann“ vor, in welchem es bezüglich „deß Persianischen Commercii, so durch die Armenianer getrieben wird“, präzise hieß: [E]s nehmen aber diese Leute ihren Weg durch Rußland / woselbst sie mit dem Czaaren einen Vergleich wegen der Fracht und Zöllen gemacht / und kommen hierauff nach Narva mit ein Hauffen Seide /Edelgesteine / und andere Güter / welche von dannen nach Lübeck / Hamburg /Amsterdam und Engeland transportiret werden / nachmahls nehmen sie wieder ihren Rückweg / durch selbige Oerter in ihr Land / und wie sie nichts als 1: pro Ct. Zoll bezahlen / so könte sich dieser Handel inskünfftig sehr vermehren / sonderlich weil bey dieser Passage, die Uberbringung der Wahren mit weniger Unkosten als durch Orient geschiehet. 54

51 Dass es „[a]m Ende der Regierung Karls XII. es hier [in Schweden] noch arme Armenier [gab], die auf Staatskosten unterhalten werden mußten“, teilt A. W. af Sillén: Handelns och näringarnes historia. [Femte del:] De tre Carlarnes tidehvarf. Upsala 1871, S. 40, mit. 52 John Foran: The Making of an External Arena: Iran’s Place in the World System, 1500–1722. In: Review. A Journal of the Fernand Braudel Center for the Study of Economies, Historical Systems, and Civilizations 12 (1989), S. 71–119, hier S. 106. 53 Gunnar Jarring: Vidgad horisont. In: Tre Karlar. Karl X Gustav, Karl XI, Karl XII. Stockholm 1984, S. 138–151, hier S. 145. 54 P J. Marperger: Schwedischer Kauffmann, in sich haltende kurze Geographische und Historische Beschreibung deß Königreichs Schweden / und aller dessen incorporirten Länder und Provincien, sonderlich aber der vornehmsten Kriegs= und Friedens=Begebenheiten /Welche Sich in Demselben

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Und 1936 hat auch der Architekturhistoriker Sten Karling in seiner Baugeschichte Narvas den „Gedanke[n], einen Handelsweg durch Russland nach Persien zu eröffnen,“ als „bestimmend für Schwedens Handelspolitik während der ganzen Großmachtperiode“ bezeichnet sowie daran die Beobachtung geknüpft: Dieses kühne Projekt war beinahe endgültig durchgeführt, als Russland unter Peter dem Großen selbst die Führung an sich riss. In Narva aber erhielt dieses grandiose handelspolitische Intermezzo ein Denkmal. 55

Allerdings ist noch einmal zu betonen, dass es nicht allein die schwedische Politik oder die diplomatischen Fähigkeiten von L. Fabritius gewesen sind, die die genannte Handelsverbindung zustande gebracht haben. Hauptproblem bei der Frage des Persien-Transits wie bei der Derivationspolitik Schwedens in ihrer Gesamtheit war und blieb die Haltung des Zaren. Dass in Moskau 1687 die anti-osmanische Interessenkongruenz mit Schweden höher veranschlagt wurde als die Prinzipien russischer Außenhandelspolitik, war die entscheidende Vorbedingung für die Inbetriebnahme der Route Isfahan-Narva. Dieser Umstand wirft ein bezeichnendes Licht auf die schwedische Handelskontrollpolitik und ihre Erfolgschancen im Allgemeinen: Erfolge und Misserfolge hierbei wurden nur wenig, wenn überhaupt, von der Intensität der eigenen Bemühungen bestimmt, sondern hingen vielmehr weitgehend von der jeweiligen Interessenlage im Moskauer Staat ab. Wesentlich klarer als die einschlägig befassten schwedischen Institutionen hat dies seinerzeit ein außenstehender Stockholm-Besucher erfasst: Rußland gegenüber haben die Schweden einen Vertrag vorgeschlagen, demzufolge alle diejenigen Waren, die jetzt über Archangel’sk geführt werden, über Narva verschifft werden sollen. [. . . ] Aber ich glaube nicht, dass eine solche Veränderung stattfinden wird, da die

von so vielen Seculis her / biß auff den anjetzo Glorwürdigstenregierenden König Carl den XII. zugetragen, Wobey zugleich denen Herren Kauffleuten und curieusen Reisenden / eine accurate Verzeichniß gegeben wird / was Sie in Schweden der Commercien halber / so wohl in Ansehung dieses Reichs überaus bequemen Situation und Fruchtbarkeit / als der (nach so vielen Königl. Verordnungen) wohleingerichteten Manufacturen, Seefahrten /Wechsel-Negotio, Müntz /Maaß /Gewicht /Zoll= und Postwesen &c. zu beobachten. Welchen endlich zum Beschluß mit beygefüget ein kurtz=gefastes Teutsch und Schwedisches Gespräch= und Wörter=Buch /Samt einem vollständigen Register. Wismar-Leipzig 1706, S. 326–327. Vgl. auch P. J. Marperger: Moscowitischer Kauffmann. Das ist: Ausführliche Beschreibung der Commercien, welche in Moscau, und andern Seiner Czaarischen Majestät Bothmäßigkeith unterworffenen Reichen und Provincien, so wol von dessen Unterthanen unter sich selbst, als mit Ausländischen Nationen getrieben werden. Wobey mit wenigen von der Rußischen Länder und Städte bequemer Situation zur Handlung denen in Rußland ein= und ausgehenden Waaren, daselbst verfertigten Manufacturen, des Landes natürlichen Früchten, Müntz=Sorten, Maaß und Gewichten, &c. gehandelt, zum Beschluß aber ein klein Vocabularium oder Rußisches Wörter=Buch mit angehänget wird. Lübeck 1705 (2. Aufl. als Russischer Kaufmann. Leipzig 1723). 55 Sten Karling: Narva. Eine baugeschichtliche Untersuchung. Stockholm 1936, S. 34. Die übrige ältere Literatur zur Geschichte Narvas enthält kaum konkrete Hinweise auf den Persienhandel. Vgl. etwa Heinrich Johan Hansen: Geschichte der Stadt Narva. Dorpat 1858, oder A. V. Petrov: Gorod Narva. Ego prošloe i dostoprimeˇcatel’nosti v svjazi s istoriej uproˇcenija russkago gospodarstva na Baltijskom poberež’e 1223–1900. St. Peterburg 1901.

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Russen ja erkennen, dass es die Absicht der Schweden ist, sich zum Herrn über ihren gesamten Handel zu machen. 56

Dass die schwedische Krone trotz der fatalen Abhängigkeit von Moskau ihr Programm einer Kontrolle des Ost-West-Handels dennoch nicht aufgab, ist ein deutlicher Beleg für die Prägekraft des merkantilen Hintergrunds auf die konkrete Ausgestaltung der Außenpolitik Schwedens im 17. Jahrhundert. Ein anderer ist die Fernwirkung über die schwedische Großmachtzeit, ja Schweden selbst hinaus: Peter der Große verwirklichte nicht nur – um mit Michail N. Pokrovskij zu sprechen – „auf Kosten des schwedischen Handelskapitals das schwedische Programm der Jahre um 1650 zugunsten Russlands: die Verlegung des Handels vom Weißen Meer zum Baltischen Meer“ 57, sondern unternahm auch und gerade Anstrengungen zur Realisierung des von Karl XI. so erfolgreich begonnenen persienbezogenen Teilprogramms: Mit militärischen Mitteln setzte er sich vorübergehend in den Besitz der nordpersischen Seideprovinzen 58 und plante darüber hinaus, seine Stadtneugründung am Finnischen Meerbusen zur Drehscheibe des Welthandels zu machen. Gleich den Konstrukteuren der schwedischen Handelskontrollpolitik konnte aber auch er aufgrund massiver gegenläufiger Interessen externer Faktoren – hier vor allem des Handelsstaats England – nur Teilerfolge verbuchen.

56 Lorenzo Magalotti: Sverige under år 1674. Utg. af Carl Magnus Stenbock. Stockholm 1912, S. 60– 61. 57 M. Pokrowski: Geschichte Rußlands von seiner Entstehung bis zur neuesten Zeit. Leipzig 1929, S. 597. 58 Vgl. A. A. Kurkdjian: La politique économique de la Russie en Orient et le commerce arménien au début du XVIIIe siècle. In: Revue des études arméniennes. Nouvelle série 11 (1975–1976), S. 245– 253.

Isfahan – Moskau – Amsterdam Zur Entstehungsgeschichte des moskauischen Transitprivilegs für die Armenische Handelskompanie in Persien (1666–1676)

[1993] 1977 hat die sowjetische Historikerin Nina G. Kukanova die bilateralen Handelsbeziehungen zwischen Persien und dem Moskauer Staat einschließlich des persischen Transithandels nach Westeuropa für den Zeitraum vom 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts auf der Grundlage moskauischer Archivalien monographisch behandelt 1. Die dabei herangezogenen und z. T. präsentierten seriellen Quellen geben ihr zufolge Aufschluss „darüber, daß im Jahr 1676 ein Umschwung im iranisch-russischen Handel eintrat“, was zu „einem intensivierten russisch-iranischen Handel mit Rohseide zwischen Rußland und dem Iran [sowie] zwischen dem Iran und dem Westen über die russischen Grenzstädte“ führte 2. Dass dieses Urteil wohlbegründet ist, geht auch und gerade aus korrespondierenden nicht-moskauischen, vor allem schwedischen Quellen deutlich hervor 3. Welche Veränderungen der politischen Rahmenbedingungen jedoch die merkantile Wende von 1676 ausgelöst haben und was insbesondere die Führung des Zarenreiches dazu veranlasste, eine beträchtliche Liberalisierung der seit dem 16. Jahrhundert äußerst restriktiven moskauischen Transithandelspolitik herbeizuführen – dazu bietet N. G. Kukanova indes keine schlüssige Erklärung. Im Folgenden soll daher der Versuch einer solchen unternommen werden, wobei die Grundlage veröffentlichte Quellen unterschiedlicher, vor allem moskauischer Provenienz sind. Deren Auswertung, Gegenüberstellung und Ergänzung durch die internationale Fachliteratur liefern diejenigen Anhaltspunkte, die notwendig sind, um den politischen Hintergrund des von N. G. Kukanova aus der Handelsstatistik abgeleiteten Umschwunges zu rekonstruieren.

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Nina G. Kukanova: Oˇcerki po istorii russko-iranskich torgovych otnošenij v XVII – pervoj polovine XIX veka (Po materialam russkich archivov). Saransk 1977. Ebenda S. 86. Vgl. dazu Stefan Troebst: Narva und der Außenhandel Persiens im 17. Jahrhundert. Zum merkantilen Hintergrund schwedischer Großmachtpolitik, in: Die schwedischen Ostprovinzen Estland und Livland im 16.–18. Jahrhundert. Hrsg. von Alexander Loit & Helmut Piirimäe. Uppsala 1993, S. 161– 178 (= Acta Universitatis Stockholmiensis. Studia Baltica Stockholmiensia Band 11) [und im vorliegenden Band].

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1. Die moskauische Politik in der Frage des persischen Transithandels von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts Nicht nur im Mittelalter war der durch die Rus’ führende „Weg von den Warägern zu den Griechen“ eine wichtige Fernhandelsverbindung zwischen Europa und dem Orient; auch in der frühen Neuzeit waren die Handelsstaaten England und Niederlande am Zugang zum persischen Markt über Moskau, die Wolga und das Kaspische Meer ebenso interessiert wie die Ostseemächte Dänemark und Schweden oder Frankreich und einige mitteleuropäische Staaten. Schufen die Eroberung von Kazan’ und Astrachan’ durch Ivan IV. sowie die parallele Erschließung der Weißmeerroute durch englische Kaufleute bereits in den fünfziger Jahren des 16. Jahrhunderts die verkehrsgeographischen Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines solchen westöstlichen Transithandels, so waren doch die handelspolitischen Prämissen dafür erst vom letzten Viertel des 17. Jahrhundert an gegeben. Die neuerworbene Position des Moskauer Staates als Brücke zwischen Europa und dem Orient bezog der hinsichtlich seiner merkantilen Ambitionen wohl unterschätzte Ivan IV. umgehend in sein außenhandelspolitisches Kalkül ein. In den schwedisch-moskauischen Friedensverhandlungen, die dem Krieg von 1555–1557 folgten, schlug er seinem Gegenüber Gustav I. Vasa daher folgendes Geschäft vor: Zum einen sollten schwedische Kaufleute „nach Moskau, Kazan’, Astrachan’ mit Waren ihrer Wahl“ kommen und von dort „nach Schemacha, Täbriz, Buchara, China, Indien, [. . . ] Konstantinopel“ weiterreisen können, zum anderen sollte der König moskauischen Untertanen als Gegenleistung das Recht auf freien Handelstransit via Wiborg nach „Lübeck, Antwerpen, Spanien, England und Frankreich“ einräumen sowie westeuropäischen Kaufleuten das Recht auf Transit nach Moskau gewähren 4. Reichsrat und Krone Schwedens hielten dies für einen ungleichen Tausch und lehnten den Vorschlag ab. Die Einnahme Narvas durch Ivan IV. im folgenden Jahr 1558 erübrigte dann eine Wiederholung dieses Angebots: Mit dem Besitz eines eigenen Hafens am Finnischen Meerbusen war ein Transit über das schwedische Wiborg nicht mehr notwendig. Allerdings bedeutete das militärische Vorstoßen bzw. merkantile Fußfassen an Ost- und Barentssee, Weißem und Kaspischem Meer nicht zugleich eine Monopolisierung der Handelsbeziehungen nach Persien durch den Zaren bzw. die moskauischen Fern- und Großkaufleute (gosti). Vielmehr erhielt 1569 die englische Muscovy Company ein Transithandelsprivileg für die Route vom Weißem Meer über Dvina, Suchona, Wolga und Kaspisches Meer in die nordpersischen Seideprovinzen Gilan, Masanderan, Schirwan und Karabach, welches sie in beschränktem Umfang 4

Posylka Isana Eviloviˇca Zamyckago k korolju Švedskomu s izvešˇceniem o zakljuˇcenii mira i s „podtverženoj“ zapis’ju, cˇ toby k nej korol’ peˇcat’ privesil i na nej krest’ celoval. 8. Juli – 28. Dezember 1557, in: Sbornik imperatorskogo russkogo istoriˇceskogo obšˇcestva 129 (1910), Dok. Nr. 3, S. 49–54. hier S. 52–53. Vgl. auch Sven Lundkvist: Gustav Vasa och Europa. Svensk handels- och utrikespolitik. Uppsala 1960, S. 382 (= Studia Historica Upsaliensia Band 2).

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auch nutzte 5. Nach dem Verlust Narvas 1581 und der Gründung von Archangel’sk 1584 wurde dieses Privileg nicht mehr erneuert. Von nun an bestand für ausländische Kaufleute de facto ein Verbot des Transits via Moskau in das Safavidenreich. Dieser Zustand blieb bis 1667 bestehen und wurde nur in einigen wenigen – und wenig folgenreichen – Ausnahmefällen durchbrochen. Aus moskauischer Sicht war die Verbindung zwischen den Toren zur orientalischen und zur westeuropäischen Welt, also Astrachan’ und Archangel’sk, außen- wie handelspolitisch zu sensitiv und fiskalisch zu lukrativ, um sie von fremden Transithändlern nutzen zu lassen. Hinzu kam, dass diese beiden Grenzstädte im Zeitraum 1581–1703 die einzigen Seehäfen des Moskauer Staates bildeten, sieht man vom 1695 eingenommenen Azov einmal ab. Die gravierendste der genannten Ausnahmen fiel in die kurze Phase engsten diplomatischen, militärstrategischen und kriegsfinanziellen Zusammenwirkens zwischen dem Leiter der moskauischen Außenpolitik Patriarch Filaret und Gustav II. Adolf im Jahr 1632: Der Zar beantwortete den Antrag von Herzog Friedrich III. von Holstein-Gottorp auf Benutzung der Transithandelsroute nach Persien gegen ein exorbitantes jährliches Nutzungsentgelt in zehnfacher Höhe der damaligen Zolleinnahmen in Archangel’sk 6 mit der Auflage, dass zuvor die schwedische Krone zustimmen bzw. an dem Geschäft beteiligt werden müsste 7. Als jedoch am 3. Dezember 1634 mit den holsteinischen Unterhändlern ein „Receß von Moskau“ geschlossen wurde, hatte sich das moskauisch-schwedische Verhältnis bereits wieder deutlich abgekühlt, und nicht zuletzt deswegen blieb diese Unternehmung eine anämische und letztlich erfolglose Angelegenheit 8. Im „Receß“ selbst wurden überdies die von der Kompanie im Transit zu führenden persischen Ausfuhrwaren beschränkt auf „Rohe Seide, Edelgestein, Farben undt andere großen Wahren, damit [= mit denen – S. T.] die Reußischen Kauffleute nichtt handeln“ 9. Es folgte eine lange Liste anderer persischer

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Zum englisch-persischen Warenverkehr über die Wolga im Zeitraum 1569–1584 vgl. Thomas Stuart Willan: The Early History of the Russia Company, 1553–1603. Manchester 1956, S. 59–153. – T. S. Willans Ansicht, wirtschaftliche Misserfolge hätten zur Einstellung dieser Route geführt, widerspricht allerdings Samuel H. Baron mit dem Hinweis auf das Eigeninteresse der gosti und den daraus resultierenden „fremdenfeindlichen“ Einfluss, den diese auf Boris Godunov genommen hätten. Vgl. Samuel H. Baron: Ivan the Terrible, Giles Fletcher and the Muscovite Merchantry: A Reconsideration, in: Slavonic and East European Review 56 (1978) S. 563–585, hier S. 572–575. Nämlich anfangs 600.000 Reichstaler (300.000 Rubel), dann jährlich mehr. – Die Archangel’sker Zollerträge schwankten in den dreißiger Jahren des 17. Jh. um 30 000 Rubel herum. Vgl. Tab. 3.6: Summer Collection of Tolls at Archangel, bei: Paul Bushkovitch: The Merchants of Moscow, 1580– 1650. Cambridge 1980, S. 50. David Normann: Gustaf Adolfs politik mot Ryssland och Polen under tyska kriget (1630–1632). Uppsala 1943, S. 115–116. – Eine gründliche Aufhellung der Rolle Schwedens im holsteinischen Persienhandelsprojekt der dreißiger Jahre steht noch aus. Ebenfalls erfolglos blieben gleichzeitige dem Persientransit geltende Vorstöße der niederländischen, dänischen und französischen Handelsdiplomatie in Moskau. Die Muscovy Company hatte in der Frage einer Erneuerung ihres Persienprivilegs bereits zuvor resigniert. Der Receß von Moskau, den 3. Dezember 1634, bei: Ernst Markus Kiecksee: Die Handelspolitik der Gottorfer Herzöge im 17. Jahrhundert. Ein Beitrag zur schleswig-holsteinischen Handelsgeschichte [1611–1713]. Phil. Diss. Kiel 1952, Anhang S. I–IX, hier S. III (im Folgenden: Receß). Vgl. auch

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Produkte, für die ein Ausfuhrverbot galt: „Dieselben sollen wir [= die Kompanie – S. T.] nicht kauffen undt den Rußischen Kauffleuten Ihre Handlung nicht verhindern.“ 10 Die Einbeziehung der Interessen der gosti in das Kalkül des Zaren wird hier also ebenso deutlich wie ein anderes vertragliches Regulativ, welches später gleichfalls von Bedeutung sein sollte, nämlich eine spezielle und willkürlich handhabbare Konfliktklausel: Im Falle eines schwedisch-moskauischen Krieges sollte der Warenverkehr von der vereinbarten Route „durch Schweden undt Lifflandt uff groß Neugart“ auf die Nordkaproute und Archangel’sk umgeleitet werden 11.

2. Der Transithandel mit persischen Waren via Moskau: Das Beispiel Rohseide Der Außenhandel Persiens, vor allem die Ausfuhr des mit Abstand bedeutendsten persischen Exportproduktes Rohseide, war die Domäne der armenischen Untertanen des Schahs. Diese waren nach der Vernichtung Erevans und des armenischen Handelszentrums Ghulfa 1604 von Schah ’Abbas I. in eine neue Isfahaner Beistadt namens Neu-Ghulfa umgesiedelt worden 12. Die armenischen Kaufleute Persiens, in den Niederlanden als Jolfalijnen bekannt 13, waren in einer eigenen Handelskompanie organisiert, deren Gründung, innere Verfassung und Funktionsweise nur wenig erforscht ist 14. Armenische Untertanen des Schahs agierten zum einen als Zwischen-

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Dogovornaja zapis’, zakljuˇcennaja meždu Rossijskim i Golštinskim dvorami. Dezember 1634, in: Akty istoriˇceskie, sobrannye i izdannye Archeografiˇceskoju komissieju. Band 3. S.-Peterburg 1841, Dok. Nr. 181, S. 329–332. Receß S. IV. Ebenda S. VI. Zu Neu-Ghulfa vgl. S. V. Ter-Avetisjan: Gorod Džuga. Materialy o istorii torgovych snošenij džul’finskich kupcov v XV–XVII vv. Tbilisi 1937; V. A. Bajburtjan: Armjanskaja kolonija Novoj Džul’fy v XVII veke (Rol’ Novoj Džul’fy v irano-evropejskich politiˇceskich i e˙ konomiˇceskich svjazjach). Erevan 1969; George Bournatian: The Armenian Community of Isfahan in the Seventeenth Century. Pt. 1, in: The Armenian Review 24 (1971), Winter, S. 27–45, und Pt. II, ebenda 25 (1972), Spring, S. 33–50; sowie Karapet Karapetian: Isfahan, New Julfa: Le case degli armeni. Una raccolta di rilevamenti architettonici. Roma 1974 = Restorations III.1. Vgl. Nicolaes J. Overschie-Vereenigde Oostindische Compagnie, Isfahan, 15. Dezember 1635, in: Bronnen tot de Geschiedenis der Oostindische Compagnie in Perzië. Eerste deel: 1611–1638. Uitg. door H. Dunlop: ’s-Gravenhage 1930, Dok. Nr. 269, S. 546–549, hier S. 547 (= Rijks Geschiedskundige Publicatiën. Grote serie Band 72). Vgl. zum Forschungsstand E. S. Zevakin: Persidskij vopros v russko-evropejskich otnošenijach XVII v., in: Istoriˇceskie zapiski 8 (1940) 5. 129–162, besonders S. 156–161; N. G. Kukanova: Rol’ armjanskogo kupeˇcestva v razvitii russko-iranskoj torgovli v poslednej treti XVII v. (Po materialam CGADA), in: Kratkie soobšˇcenija Instituta vostokovedenija AN SSSR 26 (1958) S. 20–34; N. G. Kukanova: lz istorii russko-iranskich torgovych svjazej v XVII veke (po dannym CGADA i drugich archivov), in: Kratkie soobšˇcenija Instituta narodov Azii 30 (1961) S. 41–53; R. W. Ferrier: The Armenians and the East lndia Company in Persia in the Seventeenth and Eighteenth Centuries, in: Economic History Review 26 (1973) S. 38–62; Kéram Kévonian: Marchands arméniens au XVIIe siècle. A propos d’un livre arménien publié à Amsterdam en 1699, in: Cahiers du Monde russe et

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händler zwischen den persischen Seideproduzenten und den nach Isfahan selbst oder nach Bandar ’Abbas am Persischen Golf kommenden westeuropäischen Persienhandelskompanien, zum anderen besorgten sie den Export auf der traditionellen Ausfuhrroute durch das Osmanische Reich nach Aleppo und Smyrna. Beginnend mit dem Jahr 1626 beteiligten sie sich auch am persisch-moskauischen Warenverkehr und dominierten vom dritten Viertel des 17. Jahrhunderts an den Transithandel via Moskau nach Westeuropa 15. Hauptzielland waren bei dieser Route die Niederlande, hier vor allem Amsterdam mit seiner großen armenischen Kolonie. Niederländischen Quellen zufolge soll die Handelsrepublik 1630 um die 400 Ballen bzw. ca. 27 % ihrer jährlichen Einfuhr an Rohseide über Moskau und Archangel’sk bezogen haben 16. Diese Angabe korrespondiert mit einem gleichzeitigen schwedischen Bericht, dessen Verfasser in Moskau in Erfahrung gebracht hatte, dass damals jährlich 700 Ballen Rohseide über Archangel’sk umgeschlagen wurden 17. Paul Bushkovitchs einschlägiger Untersuchung zufolge waren vor 1650 die beiden moskauischen Entrepôts Astrachan’ und Archangel’sk nicht unmittelbar miteinander verbunden. Dies galt auch und gerade für den Transithandel: Den Import persischer Waren besorgten neben Armeniern, anderen Untertanen des Schahs und

soviétique 16 (1975) S. 199–244; Kukanova: Oˇcerki S. 61–99; und Wolfgang Sartor: Die Wolga als internationaler Handelsweg für persische Rohseide im 17. und 18. Jahrhundert. Phil. Diss. FU Berlin 1993. 15 Vgl. neben der in der vorstehenden Fußnote genannten Literatur Hermann Kellenbenz: Der russische Transithandel mit dem Orient im 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 12 (1964) S. 48 1–500; John Emerson: Ex occidente lux. Some European Sources on the Economic Structure of Persia between about 1630 and 1690. Ph. D. Diss. University of Cambridge 1969, besonders S. 172–194; Laurence Lockhart: European Contacts with Persia, 1350–1736, in: The Cambridge History of Iran. Vol. VI: The Timurid and Safavid Periods. Ed. by Peter Jackson & Laurence Lockhart. Cambridge 1986, S. 373–411; Klaus Heller: Russische Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Band 1: Die Kiever und die Moskauer Periode (9–17. Jahrhundert). Darmstadt 1987, S. 201–206; John Foran: The Making of an External Arena: Iran’s Place in the World System, 1500–1722, in: Review. Journal of the Fernand Braudel Center for the Study of Economies, Historical Systems, and Civilizations 12 (1989) S. 71–119. 16 Vgl. die Schätzung bei Jonathan I. Israel: Dutch Primacy in World Trade, 1585–1740. Oxford 1989, Tab. 5.10, S. 154 (in Ballen à 280 lb. bzw. 127 kg): Via Moskau und Archangel’sk 400 Aus Surat (Nordwestindien) 400 Aus dem Persischen Golf 400 Aus der Levante und Italien 300 Summe 1.500 17 Undatierter Bericht von Bengt Skytte, einem Sohn des Gouverneurs von Livland und Ingermanland, Johan Skytte, über eine Moskau-Reise im Zeitraum Frühjahr-Sommer 1631, ausgewertet bei Axel Norberg: Bröderna Skyttes ryska resor och deras rysslandsskildringar, in: Historisk tidskrift (svensk) 111 (1991) S. 487–502, hier S. 498 und 500 (A. Norbergs Annahme, B. Skyttes Zahlenangaben bezögen sich auf das Jahr 1631, geht aus dem Dokument nicht hervor). – Da mangels serieller Quellen für die Zeit vor 1676 keine Aussagen über die Konjunkturen des Transithandels mit Rohseide durch den Moskauer Staat gemacht werden können, muss allerdings offen bleiben, ob die für 1630 genannten Mengenangaben repräsentativ sind.

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Indern vor allem Kaufleute aus Kazan’, wohingegen die Sommermesse in Archangel’sk die Domäne der Moskauer Kaufmannschaft war. In Astrachan’, Kazan’ und Moskau wurden Fertigwaren und Rohstoffe persischer Provenienz teils an einheimische Konsumenten und Handwerker zur Konsumtion bzw. Weiterverarbeitung im Land selbst veräußert, teils an andere einheimische Kaufleute weiterverkauft, die die Vermarktung in Archangel’sk besorgten. Andere Warenlieferungen schließlich wurden von ausländischen Kaufleuten direkt (und z. T. illegal 18) bzw. – wie im Fall der periodisch dem zarischen Eigenhandel vorbehaltenen Monopolwaren wie Rohseide – unter Vermittlung von Beauftragten des Zaren erworben 19. Wohl nur ausnahmsweise waren moskauische Kaufleute selbst mit dem Reexport persischer Waren befasst. Ein solcher Fall war eine Transaktion der Novgoroder Stockholm-Kaufleute Andrej und Fedor Charlamov sowie Bogdan Šorin, die 1628 auf Rechnung des zarischen Seiˇ denmonopols und im Auftrag des dafür zuständigen Bojaren I. B. Cerkasskij 18 Pud Rohseide (3–4 Ballen) im Wert von 1000 Rubel nach Schweden ausführten 20. Aber auch der Umstand, dass überhaupt die Ostseeroute beim Reexport persischer Waren benutzt wurde, stellte eine Ausnahme dar. Denn in der Regel wurde Rohseide nur in solchen Jahren, in denen die Weißmeerroute nicht benutzbar war – aufgrund von Kriegen oder von Epidemien –, über Novgorod ausgeführt. So konnte etwa der Revaler Kaufmann Michael Paulsen in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre, in welcher der erste englisch-niederländische Seekrieg bzw. die Pest die Verbindung zwischen Moskau und Westeuropa via Archangel’sk unterbanden, insgesamt 300 Ballen Rohseide in Moskau und Novgorod erwerben sowie über Narva bzw. Nyen in die Niederlande ausführen 21. Da der persische Gesamtrohseideexport nach Europa für das 17. Jahrhundert nicht zuletzt der verschiedenen Ausfuhrrouten wegen nur sehr grob zu bestimmen ist, ist auch der Anteil der über Moskau führenden Transitroute nicht eindeutig auszumachen. Während für den Beginn des Jahrhunderts die Ausfuhr persischer Rohseide

18 In einer Instruktion des Zaren an den Zollverwalter in Archangel’sk aus dem Jahr 1667 hieß es, dass englische Kaufleute dort am moskauischen Zoll vorbei Rohseide ausführten, die sie zuvor widerrechtlich von anderen Ausländern erwürben. Vgl. Nakaznaja pamjat’ gostju Averkiju Kirilovu s tovarišˇcami, naznaˇcennomu na Dvinu dlja vedanija tamožennych i kabackich sborov. 9. Mai 1667, in: Dopolnenija k Aktam istoriˇceskim, sobrannyja i izdannyja Archeografiˇceskoju komissieju. Band 5 [1665–1669]. S.-Peterburg 1853, Dok. Nr. 40, S. 181–206, hier S. 183. 19 Bushkovitch: The Merchants of Moscow S. 94–101. 20 Vgl. Rassprosnye reˇci novgorodskogo torgovogo cˇ eloveka F. Charlamova v Novgorodskoj prikaznoj izbe o poezdke ego v Stokgol’m v 1628 g. Novgorod, 7. Juni 1629, in: Russko-švedskie e˙ konomiceskie otnošenija v XVII veke. Sbornik dokumentov. Red. M. P. Vjatkin, I. N. Firsov. Sost. M. B. Davydova, I. P. Šaskol’skij & A. I. Jucht. Moskva, Leningrad 1960, Dok. Nr. 28, S. 58–60; Rassprosnye reˇci novgorodskogo kupca B. Šorina v Posol’skom prikaze o ego poezdke v Stokgol’m v 1628 g. dlja prodaži kazennogo šelka-syrca. Moskau, 15. Juni 1629, ebenda, Dok. Nr. 30, S. 60–62; und Svenska riksrådets protokoll. Band 1: 1621–1629. Stockholm 1878, S. 75–78 (28. Mai 1628). 21 Vgl. hierzu zuletzt Arno Weinmann: Reval 1646 bis 1672. Vom Frieden von Brömsebro bis zum Beginn der selbständigen Regierung Karls XI. Bonn 1991, S. 24–28, sowie das Handelstagebuch eines Mitarbeiters von M. Paulsen: H. Piirimäe, M. Rand, T. Ilomets: Andreas Baeri perekonnakroonika, in: Folia Baeriana 2 (1976) S. 122–162, hier S. 127–133.

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nach Europa auf ca. 2200 Ballen geschätzt wird 22, wird für die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts mit der doppelten Menge, wenn nicht gar der drei- bis vierfachen 23, gerechnet. Unter Zugrundelegung fragmentarischer statistischer Quellen des Moskauer Gesandtschaftsprikazes zum Transithandel der Armenischen Handelskompanie über Moskau kann davon ausgegangen werden, dass im letzten Viertel des Jahrhunderts pro Jahr durchschnittlich 5 % des persischen Westexports an Rohseide auf dieser Route nach Westeuropa gelangt sind 24. Die Quellenlage zum bilateralen wie zum Transithandel Persiens mit dem Zarenreich ist vor allem deswegen schlecht, weil die Astrachaner Zollquellen nur zum Teil erhalten sind und darüber hinaus die Waren der wichtigsten daran beteiligten Partner entweder gänzlich zollfrei waren – dies galt für die zarischen Privatgeschäfte ebenso wie für die des Schahs 25 – oder aber von der Astrachaner Zollbehörde aus anderen Gründen nicht erfasst wurden, wie im Fall der Transaktionen der privilegierten Armenischen Handelskompanie 26.

3. Die Verlagerung des Schwerpunktes moskauischer Außenpolitik von Westen nach Süden in den Jahren 1661–1667 Die seit dem Ende des 16. Jahrhunderts geübte restriktive Praxis der verschiedenen Zaren in der Frage der Erteilung des Rechts zum Persientransit an ausländische Kaufleute richtete sich nicht nur gegen West- und Nordeuropäer, sondern auch ge-

22 Niels Steensgaard: The Asian Trade Revolution of the Seventeenth Century. The East India Companies and the Decline of the Caravan Trade. London, Chicago, IL 1973, S. 160–162. – Rohseide verschiedener Qualitäten wurde üblicherweise per Ballen gehandelt, wobei das Gewicht eines Ballens 80–135 kg betrug. Ballen, die über Moskau ausgeführt wurden, wogen in der Mitte des 17. Jh. durchschnittlich 5 Pud (82 kg), um die Jahrhundertwende dann 7 Pud (115 kg). 23 Edmund Herzig: The Iranian Raw Silk Trade and European Manufacture in the Seventeenth and Eighteenth Centuries, in: Journal of European Economic History 19 (1990) S. 73–89, hier S. 80. 24 Vgl. Tab. 2: Posešˇcenie armjanskimi kupcami russkich gorodov v 1676–1687 [recte: 1676–1697] g., bei: Kukanova: Oˇcerki S. 91–99. – Die Verfasserin hat allerdings andernorts betont, dass die von ihr beigebrachten Daten „Umfang und Charakter des russisch-iranischen Handels bei weitem nicht zur Gänze charakterisieren“ (Kukanova: Rol’ armjanskogo kupeˇcestva S. 27). Vgl. auch einige zusätzliche Mengenangaben bei N. A. Baklanova: Privoznye tovary v Moskovskom gosudarstve vo vtoroj polovine XVII veka, in: Oˇcerki po istorii torgovli i promyšlennosti v Rossii v 17 i v naˇcale 18 stoletija. Moskva 1928, S. 5–118, hier S. 37 (= Trudy Gosudarstvennogo istoriˇceskogo muzeja. Otdel istoriˇceskij obšˇcij. Vyp. 4). 25 Der umfangreiche Privathandel, den beide Herrscher vorwiegend untereinander trieben, fand seit dem Anfang des 17. Jh. relativ regelmäßig in Form von gegenseitigen merkantilen Gesandtschaften statt. Vgl. zu diesem embassy trade Emerson: Ex occidente lux S. 177–183; Kukanova: Oˇcerki S. 50; und Foran: Iran’s Place in the World System S. 107–108. 26 Vgl. E. N. Kuševa: Materialy Astrachanskoj tamožni kak istoˇcnik po social’no-˙ekonomiˇceskoj istorii Rossii XVII–XVIII w, in: Iz istorii e˙ konomiˇceskoj žizni Rossii. Sbornik statej k 90 – letiju akademika Nikolaja Michajloviˇca Družinina. Moskva 1976, S. 261–272, hier S. 265 n, 266 und 270 n.

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gen Kaufleute aus dem benachbarten Persien. Demgemäß wurde 1660 der Vorschlag einer von Schah ’Abbas II. unterstützten Gesandtschaft der Armenischen Handelskompanie auf Umlenkung des persischen Außenhandels über das Kaspische Meer nach Astrachan’ und weiter nach Westeuropa vom Zaren abschlägig beschieden 27. Die Konsolidierung der Beziehungen des Moskauer Staates zu zweien seiner Hauptgegner – mit Schweden-Finnland im Frieden von Kardis am 21. Juni 1661 und mit Polen-Litauen im Waffenstillstand von Andrusovo vom 20. Januar 1667 – führte jedoch zu einer außenpolitischen Schwerpunktverlagerung, die auch das moskauischpersisch /armenische Verhältnis auf eine neue Grundlage stellte. Durch den Vertrag mit der Rzeczpospolita, der dem Moskauer Staat erhebliche Gebietsrück- und -zugewinne eintrug, war neben der Nordgrenze nun auch die Westflanke des Zarenreiches so weit abgesichert, daß eine Wendung gegen den neuen Hauptgegner im Süden, das Osmanische Reich bzw. das ihm tributpflichtige Krim-Chanat, in Erwägung gezogen werden konnte. Diese „Matveevsche Richtung der moskauischen Außenpolitik“ (Klaus Zernack 28), die bis an die Schwelle des großen Nordischen Krieges wirksam blieb, ist aber bereits vor dem 1671 erfolgten Kanzlerwechsel von dem anti-schwedisch gesinnten A. L. Ordin-Našˇcokin zu A. S. Matveev auszumachen, wie nicht zuletzt die Übereinkunft mit dem Schah und seiner armenischen Außenhandelsagentur von 1667 belegt. Denn mit Blick auf die moskauische Politik gegenüber Krim-Chan und Köprülü-Dynastie bot die Annäherung an Isfahan gleich mehrfache Vorteile: denjenigen bündnispolitischer Absicherung im Südosten, den der fiskalischen Schädigung des potentiellen Kriegsgegners bzw. der Auffüllung der eigenen Kriegskasse, weiter vielversprechende merkantile Perspektiven sowie nicht zuletzt Abhilfe für die eigenen gravierenden währungspolitischen Probleme. Vor allem die durch inflationäre Preissteigerungen ausgelöste Kupfergeldkrise von 1662/1663 demonstrierte die Notwendigkeit einer Rückkehr zur Edelmetalldeckung in der moskauischen Geldpolitik überdeutlich. Daß es vor allem A. L. Ordin-Našˇcokin war, der als einer der ersten Politiker des Moskauer Staates die „Kategorien der Staatsräson und des Merkantilismus“ miteinander verknüpfte und somit den von der letztgenannten Denkrichtung postulierten „Kausalzusammenhang zwischen Umfang und Ergiebigkeit des Außenhandels, finanzieller Leistungsfähigkeit und militärisch-politischer Macht eines Staates“ in

27 Vgl. Priezd iz Ispagani v Moskvu predstavitelja armjanskoj torgovoj kompanii kupca chodža Zakara Sagradova s almaznym tronom i drugimi darami carju Alekseju Michajloviˇcu. Moskau, 28. März – 20. August 1660, in: Armjano-russkie otnošenija v XVII veke. Sbornik dokumentov. Podgot. k peˇcati V. A. Parsamjan, V. K. Voskanjan, S. A. Ter-Avakimova. Red. V. A. Parsamjan. Erevan 1953, Dok. Nr. 5, S. 21–23 (= Materialy po istorii armjanskogo naroda. T. V: Armjano-russkie otnošenija. Sbornik dokumentov Band 1; im Folgenden: ARO). Vgl. zu dieser Quellenedition auch die kritischen Bemerkungen von A. A. Lalajan in: Voprosy istorii (1953) H. 7, S. 151–154. 28 Klaus Zernack: Die Expansion des Moskauer Reiches nach Westen, Süden und Osten von 1648 bis 1689, in: Handbuch der Geschichte Rußlands. Band 2: 1613–1856. Vom Randstaat zur Hegemonialmacht. Hrsg. von K. Zernack. 1. Halbband. Stuttgart 1986, S. 122–152, hier S. 149 (im Folgenden: HGR).

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praktische Politik ummünzte, hat Walther Mediger überzeugend begründet 29. Nach der erfolgreichen Herbeiführung des Andrusovo-Vertrages und dem Wechsel vom Amt des voevoda von Pskov an die Spitze des Gesandtschaftsprikaz Anfang 1667 machte sich der vielseitige Berufspolitiker energisch an die Umsetzung dieser Maxime. Seine erste diesbezügliche Maßnahme auf gesamtstaatlicher Ebene war die Neuordnung des moskauischen Außenhandels mit Westeuropa und dem Orient sowie die Neuregelung des Transithandels durch den Moskauer Staat.

4. Das Neue Handelsstatut (Novotorgovyj ustav) von 1667 und der persische Transithandel Das Neue Handelsstatut vom Frühjahr 1667 – erlassen am 22. April, in Kraft getreten am 10. Mai – und die parallel dazu ausgehandelte Übereinkunft mit der Armenischen Handelskompanie vom 31. Mai waren die beiden außenhandelspolitischen Instrumentarien, mit denen Zar und Kanzler den Edelmetallzustrom zu erhöhen und die besagten bündnispolitischen und fiskalischen Ziele zu verwirklichen hofften. Das Neue Handelsstatut bestimmte, daß „westliche“ Kaufleute künftig nur noch die Grenzstädte im Norden und Westen des Moskauer Staates aufsuchen dürften, also nicht länger in dessen Zentren selbst geschäftlich tätig werden könnten 30. Der Binnenhandel wur29 Walther Mediger: Mecklenburg, Rußland und England-Hannover 1706–1721 Ein Beitrag zur Geschichte des Nordischen Krieges. 2 Halbbände. Hildesheim 1967, Textband, S. 140–145, Zitate S. 142 (= Quellen und Darstellung zur Geschichte Niedersachsens Band 70). Vgl. zum politischen und merkantilen Denken A. L. Ordin-Našˇcokins auch C. Bickford O’Brien: Early Political Consciousness in Muscovy: The Views of Juraj Križani´c and Afanasij Ordin-Našˇcokin, in: Juraj Križani´c (1618–1683): Russophile and Ecumenic Visionary. A Symposium. Ed. by Thomas Eekman & Ante Kadi´c. Den Haag, Paris 1976, S. 209–222, sowie aus der umfangreichen sowjetischen Orˇ din-Našˇcokin-Literatur E. V. Cistjakova: Social’no-˙ekonomiˇceskie vzgljady A. L. Ordina-Našˇcokina (XVII vek), in: Sbornik rabot po istorii. Red. I. Ja. Razumnikova. Voronež 1950, S. 3–57 (= Trudy Voronežskogo gosudarstvennogo universiteta Band 20), und die Dissertation von Ju. V. Kurskov: Social’no-˙ekonomiˇceskie vzgljady i gosudarstvennaja dejatel’nost’ A. L. Ordina-Našˇcokina (XVII vek). Kand. diss., Leningradskij gosudarstvennyj pedagogiˇceskij institut im. A. I. Gercena 1958, samt gedrucktem Avtoreferat (Leningrad 1958). – Zum aktuellen Stand der Merkantilismusdiskussion und zu ihren divergierenden Sichtweisen vgl. Ernst Hinrichs: Merkantilismus in Europa: Konzepte, Ziele, Praxis, in: Absolutismus. Hrsg. von Ernst Hinrichs. Frankfurt /M. 1986, S. 344–360 (= SuhrkampTaschenbuch Wissenschaft Band 355), und Leonhard Bauer, Herbert Matis: Geburt der Neuzeit. Vom Feudalsystem zur Marktgesellschaft. München 1988, S. 249–282 (= dtv-Taschenbuch Band 4466). 30 In der Praxis war diese Absicht aufgrund bürokratischer Hemmnisse oder aber, wie im schwedischen Fall, aufgrund widersprechender völkerrechtlicher Verträge – hier der Paragraph 10 des KardisFriedens, der „unbehinderten und freien Kaufhandel“ schwedischer Untertanen im Moskauer Staat ˇ vorsah –, nur bedingt durchsetzbar. Vgl. E. V. Cistjakova: Novotorgovyj ustav 1667 goda, in: Archeografiˇceskij ežegodnik za 1957 god. Moskva 1958, S. 102–126. – Zur Entstehungsgeschichte des Neuen Handelsstatuts siehe K. V. Bazileviˇc: Novotorgovyj ustav 1667 g. (K voprosu o ego istoˇcnikach), in: Izvestija Akademii nauk SSSR 1932. Otdelenie obšˇcestvennych nauk. Serie VII, H. 2, S. 589–622; und A. I. Andreev: Novotorgovyj ustav 1667 g. (K istorii ego sostavlenija), in: Istoriˇceskie zapiski 13 (1942) S. 303–307. Diese Arbeiten enthalten sämtlich keine Hinweise zum parallel abgeschlossenen armenisch-moskauischen Vertrag.

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de somit vollständig den einheimischen Groß- und anderen Kaufleuten übertragen, die nun auch im Außenhandel stärker begünstigt waren. Dennoch waren „es in erster Linie rein fiskalische und nicht protektionistische Interessen [. . . ], die hinter diesen handelspolitischen Maßnahmen standen“ (Klaus Heller 31). Deutlichstes Indiz hierfür war der Paragraph 72 des neuen Regelwerkes, der bestimmte, dass russische Waren, die ausländische Käufer mit Gold- oder Silbermünzen bezahlten, nicht mit dem neuen zehnprozentigen Ausfuhrzoll belegt werden, sondern zollfrei bleiben sollten 32. Während das Neue Handelsstatut den Handel südost-, mittel-, west- und nordeuropäischer Kaufleute in Archangel’sk, Novgorod, Pskov, Smolensk und Putivl’ sehr detailliert regelte, enthielten lediglich vier der insgesamt 94 Paragraphen Bestimmungen zum Handel mit dem Orient. Paragraph 77 bestimmte, dass „überseeische Ausländer [wie] Perser, Inder, Bucharer, Armenier“ u. a. bei Handelsgeschäften in Astrachan’ 5 %, bei solchen in Moskau und anderen Städten 10 % des Warenwerts an Zoll zu erlegen hätten. Ausfuhrwaren wurden mit 10 % verzollt (§ 78) und Erwerb und Ausfuhr von Edelmetall verboten (§ 79) 33. Der (offenkundig in letzter Minute angehängte) Paragraph 94 schließlich verfügte, dass „in den Grenzstädten wie auf den großen Messen [. ..] in Kazan’ und Astrachan’ bei Ankunft von Persern und Armeniern“ eingehende Gepäckkontrollen durchzuführen seien, um versteckte Perlen und Edelsteine zu konfiszieren 34. War nun also der moskauische Außenhandel durch die Konzentration auf Archangel’sk in einem für Zar und gosti günstigen, wenn auch schwerlich praktikablen, da nicht kontrollierbaren Sinn geregelt, so traf dies für den Transithandel mit Persien nicht zu. Denn die durch das Neue Handelsstatut bewirkte räumliche Separierung von „westlichen“ und orientalischen Kaufleuten bedingte, dass gosti und andere einheimische Berufsvertreter als Zwischenhändler zwischen Astrachan’ und Archangel’sk bzw. Kazan’ oder Moskau und Archangel’sk fungieren mussten. Eine bloße Vermittlung von Handelsgeschäften zwischen Kaufleuten aus Ost und West an einem Ort war nun nicht länger möglich; vielmehr mussten Ankauf, Transport und Weiterverkauf nun zur Gänze von der moskauischen Kaufmannschaft 31 Heller: Russische Wirtschafts- und Sozialgeschichte Band 1, S. 195. ˇ 32 Vgl. Novotorgovyj ustav, in: Pamjatniki russkogo prava. Red. L. V. Cerepnin. Vyp. VII: Pamjatniki prava perioda sozdanija absoljutnoj monarchii. Vtoraja polovina XVII v. Moskva 1963, S. 303–356, hier S. 317. 33 Ebenda S. 318–319. 34 Ebenda S. 321. – Wie überaus angebracht diese Maßnahme war, belegt die Tatsache, dass der schwedische Persienhandelsexperte Philip Crusius von Krusenstiern in einem Projekt aus dem Jahr 1648 zur Entsendung einer schwedischen Gesandtschaft nach Isfahan mit dem Ziel der Herstellung einer Handelsverbindung via Moskau zu eben dieser Art des Schmuggels geraten hatte, um damit die Unkosten der Gesandtschaft zu decken. Vgl. P[hilip] v[on] C[rusenstiern]: Unterthänigste Anleytung Welcher Gestalt die Archangels Fahrt zu Dismembrirn und derselben eine gute Anzahl nach Reval fueglich zuziehen sey; Auch Waß die Reducirung des Russischen Handelß nach der Ost=See mit sich führe. Stockholm, 22. Juli 1648. Abschrift in: Uppsala universitetsbibliotek. Handskriftsavdelning (im Folgenden: UUB), L 161, fol. 3–9, hier fol. 8 r. Gemäß dem § 17 des Vertrags von Stolbovo hatte Schweden zwar das Recht, Gesandtschaften nach Persien, ins Osmanische Reich und auf die Krim über moskauisches Territorium zu entsenden, doch durften diese im Unterschied zu Gesandtschaften etlicher anderer Staaten „Kaufleute mit Waren nicht dabei haben“.

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übernommen werden. Der Zar, dessen Interesse, wie erwähnt, auf steigende Einnahmen aus dem persischen Transithandel samt dadurch bewirktem zusätzlichem Edelmetallzustrom aus Richtung Westen zielte 35, sah hier offensichtliche Probleme auf sich zukommen, die aus der Diskrepanz zwischen dem großen Kapitalbedarf für derartige Handelstransaktionen und der Kapitalknappheit der einheimischen Kaufmannschaft resultierten. Die finanzielle und organisatorische Schwäche der im Orienthandel tätigen Kazaner, Moskauer und Astrachaner Kaufleute, die durch staatliche Reglementierung noch verstärkt wurde, lag gerade in der Mitte der sechziger Jahren offen zutage: Eine von Schah ’Abbas II. 1664 verfügte Öffnung des persischen Marktes für zarische Untertanen wurde von ihnen teils mangels know-how und Kapitals, teils schlechter Erfahrungen wegen nur in sehr geringem Umfang genutzt 36. Die handelsgeographische und -kommunikative Lücke, die das Neue Handelsstatut zwischen den von „westlichen“ Kaufleuten auf der einen und orientalischen auf der anderen Seite frequentierten Messe- und Umschlagsorten im Moskauer Staat riss, bedurfte aus der Sicht des Zaren der Schließung mittels staatlichen Eingriffs. Da das Neue Handelsstatut einer Ausnahmegenehmigung für Westeuropäer zum Transit nach Persien diametral entgegenstand, mussten andere intermédiaires gefunden werden. Das Ergebnis dieser Suche war die Übereinkunft mit der Armenischen Handelskompanie.

5. Der erste armenisch-moskauische Vertrag vom 31. Mai 1667 Zusammen mit einer großen Gruppe armenischer Kaufleute und Handwerker kamen am 21. Februar 1666 zwei hochrangige Vertreter der Neu-Ghulfaer Kompanie, „Stepan Romodamskij“ (Stepanos Sagradjan) und „Grigorij Lusikov“ (Grigoris Lusikjan), nach Moskau und beantragten dort die Genehmigung zum Transithandel nach Westeuropa 37. Dabei dachten sie nicht nur an einen Verkauf von Rohseide und anderen persischen Waren an westeuropäische Kaufleute in den moskauischen Grenzund Hafenstädten zu niedrigen Zollsätzen, sondern planten auch, selbst nach Westeuropa zu reisen sowie von dort Retourwaren entweder im Transit nach Persien oder zur 35 Vgl. als deutlichen Beleg hierfür etwa die zitierte Instruktion für A. Kirillov vom 9. Mai 1667, hier S. 183. 36 Vgl. zuletzt Heller: Russische Wirtschafts- und Sozialgeschichte Band 1, S. 203. 37 V. K. Voskanjan: Les Armeniéns à Moscou du XVe au XVIIe siècle, in: Revue des études arméniennes. Nouvelle série 9 (1972) S. 425–444, hier S. 438. – Sprachlich nicht zugänglich waren mir die Dissertation sowie ein Aufsatz desselben Verfassers. Vgl. die russischen Nebentitel derselben: V. K. Voskanjan: Armjano-russkie e˙ konomiˇceskie otnošenija v XVII v. (Rol’ armjanskogo kupeˇcestva v persidskoj torgovle Rossii). Kand. diss. Erevan 1948, und Ders.: Russko-armjanskie otnošenija v 17 – om veke, in: Izvestija Akademii nauk Armjanskoj SSR (1948) No. 1 (Obšˇcestvennye nauki), S. 53–77. – G. Lusikov /Lusikjan firmiert in den Quellen auch als „Lusikenc“, S. Romodamskij / Sagradjan als „Ramadamskij“, „Romadamskij“ und „Romodanovskij“.

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Vermarktung im Moskauer Staat mitzubringen 38. Nach Verhandlungen mit A. L. Ordin-Našˇcokin tauchten in mehreren armenischen Bittschriften an den Zaren neben der Weißmeerroute auch die Handelswege von Novgorod an den Finnischen Meerbusen sowie von Smolensk nach Westen, also nach Polen-Litauen, ins kurländische Libau oder ins schwedische Riga, auf 39. Als Agent der Armenischen Kompanie in Moskau sollte der dort ansässige englische Russlandkaufmann Thomas Brayne fungieren; des Weiteren wünschte die Kompanie Agenten in Astrachan’, Novgorod und Archangel’sk 40. Im Gegenzug für diese Zugeständnisse boten die Armenier an, die gesamte persische Seidenausfuhr – den Unterhändlern zufolge 8000 Ballen pro Jahr – über den Moskauer Staat zu lenken 41. Der nach über einjährigen Verhandlungen geschlossene erste armenisch-moskauische Vertrag enthielt auf der einen Seite gewichtige Konzessionen des Zaren, die weitgehend den Forderungen der Armenier entsprachen: (1) Der Einfuhrzoll, im

38 Ihre Bittschriften sind enthalten in: Peregovory predstavitelej armjanskoj torgovoj kompanii Stepana Ramadamskogo i Grigorija Lusikova s Alekseem Michajloviˇcem o razrešenii im vyvozit’ šelk-syrec v Rossiju i cˇ erez Novgorod i Archangel’sk v zarubežnye strany. Moskau 1666, in: ARO, Dok. Nr. 6, S. 34–41 (im Folgenden: Peregovory 1666), sowie in: Peregovory predstavitelej armjanskoj torgovoj kompanii Stepana Ramadamskogo i Grigorija Lusikova s russkim pravitel’stvom ob uslovijach zakljuˇcenija torgovogo dogovora i torgovyj dogovor 31 maja 1667 g. Moskau, 21. Dezember 1666– 3. September 1667, ebenda, Dok. Nr. 10, S. 44–64 (im Folgenden: Peregovory 1666–1667). 39 Peregovory 1666, S. 37–38. 40 Peregovory 1666–1667, S. 59. – Der Umstand, dass auf Vorschlag der Armenier ein Engländer ihre Interessen in Moskau vertreten sollte, war weniger ungewöhnlich, als es auf den ersten Blick scheinen mag: Der 1671 in Isfahan gestorbene Th. Brayne, ein Schwiegersohn John Hebdonsd. Ä. und 1663–1664 dem Earl of Carlisle bei seiner wenig glückhaften Moskau-Mission als Dolmetscher zu Diensten, war nicht nur im Zeitraum 1664–1666 als Charles’ II. vice-agent in Moskau, d. h. halboffizieller und unbesoldeter diplomatischer Vertreter, sowie 1665 als zarischer Gesandter in Isfahan gewesen, sondern hielt sich 1667 zudem im Rang eines Gesandten des Schahs in der Hauptstadt des Zarenreiches auf. Vgl. Earl of Carlisle – Lord Clarendon. Moskau, 12. März 1664. Abgedruckt bei: S[ergei] Konovalov: England and Russia: Three Embassies, 1662–5, in: Oxford Slavonic Papers 10 (1962) S. 60–104, hier Appendix 1, b, S. 87–91, besonders S. 90; Phyllis S. Lachs: The Diplomatic Corps under Charles II & James II New Brunswick, NJ 1965, S. 16 und 198; V. K. Voskanjan: Novo-torgovyj ustav i dogovor s armjanskoj torgovoj kompaniej v 1667 g., in: Izvestija Akademii nauk Armjanskoj SSR. Obšˇcestvennye nauki (1947) H. 6, S. 29–43, hier S. 41; Central’nyj gosudarstvennyj archiv drevnich aktov. Putevoditel’ v cˇ etyrech tomach. Band 1. Red. M. I. Avtokratova [et al.]. Moskva 1991, S. 291; und Zapis’, zakljuˇcennaja meždu poverennymi torgovoj v Ispagani Armjanskoj kompanii Stepanom Romodamskim i Grigor’em Lusikovym i Angliˇcaninom Tomasom Brejnom. – O bytii emu Brejnu ot ich kompanii v Moskve i vo vsech gorodach Rossijskich Agentom; ob ischodatajstvovanii emu i ot Persidskago Šacha podtverždenija v sem ego zvanii, s platežem za takovuju službu s privozimych imi tovarov po den’ge, s prisylaemych že emu dlja prodaži po dve kopejki s rublja. Moskau, 31. Mai 1667, in: Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj imperii. Sobranie pervoe: S 1649 po 12 dekabrja 1825 g. Tom I: S 1649 po 1675. S.-Peterburg 1830 (im Folgenden: PSZ I,1), Dok. Nr. 410, S. 695–697 (dasselbe in: Peregovory 1666–1667, S. 58–60). 41 Peregovory 1666, S. 37. – Der Autor der neuesten Spezialuntersuchung zum Umfang der persischen Seidenproduktion samt Westexportanteil im 17. Jh. hält die genannte Mengenangabe zwar für sehr hoch, zumal die Unterhändler im eigenen Interesse übertrieben haben dürften, sieht aber die genannte Zahl durchaus noch im Bereich des Möglichen, da sie mit einer Angabe vorn Beginn des 18. Jh., die auf 9000 Ballen lautet, übereinstimmt. Vgl. Herzig: The Iranian Raw Silk Trade S. 77 und 80.

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Neuen Handelsstatut soeben auf 10 % festgesetzt, wurde für die Kompanie auf 5 % gesenkt; (2) ihren Mitgliedern wurde gegen Erlegung von weiteren 5 % das Recht des Besuchs Moskaus und des Gasthandels dort zugestanden; (3) Seide, die in der Hauptstadt nicht abzusetzen wäre. sollten sie gegen 5 % Binnenzoll in die Grenzstädte bringen und dort an Ausländer oder Russen verkaufen dürfen; (4) Seide, die auch dort nicht abzusetzen wäre, könnten sie gegen 5 % Ausfuhrzoll ins westeuropäische Ausland exportieren; und (5) wurde für Retourwaren ein Zollsatz von 7 % bestimmt. Dem standen zwei Verpflichtungen der Kompanie gegenüber: (1) Persische Rohseide sollte künftig ausschließlich über den Moskauer Staat ausgeführt werden; und (2) sollte der Edelmetallerlös, den die Armenier im Falle ihrer Weiterreise in Westeuropa erzielten, zum Ankauf russischer Waren verwendet werden, welche sodann zollfrei nach Persien ausgeführt werden könnten 42. Die Armenische Kompanie erhielt also zum einen Bewegungsfreiheit samt Gasthandelsrecht innerhalb des Moskauer Staates sowie zum anderen ein bedingtes, aber mittels des Preisregulativs durchsetzbares Transitrecht. Die auf den ersten Blick merkwürdig erscheinende Diskrepanz zwischen der Einschränkung der Bewegungsfreiheit westeuropäischer Kaufleute durch das Neue Handelsstatut einerseits und der Vergrößerung des Spielraumes der Mitglieder der Armenischen Handelskompanie in dem fast gleichzeitig geschlossenen Vertrag andererseits hat in der Historiographie sehr unterschiedliche Beurteilungen erfahren. Während der US-amerikanische Russlandhistoriker Samuel H. Baron die letztgenannte Übereinkunft „in einem flagranten Widerspruch zum Geist, wenn nicht gar Buchstaben, des neuen Statuts“ sieht 43, vermag sein sowjetarmenischer Kollege V. K. Voskanjan bloß einen „Nebenwiderspruch“ zwischen den Interessen der „handelskapitalistischen“ und der „feudalgutsbesitzenden“ Teile ein und derselben „herrschenden Klasse“, deren gemeinsames Interesse die „Ausbeutung der leibeigenen Bauernschaft“ gewesen sei, zu erkennen 44. Beide Einschätzungen sind einseitig, atmen doch beide Regelwerke den Geist vor allem fiskalischen und „bullionistischen“ Denkens, weisen insofern also durchaus eine Handschrift auf, worauf nicht zuletzt S. Baron selbst hingewiesen hat 45.

42 Zur russischen Fassung des Vertrages siehe: Žalovannaja Gramota (v spiske), na osnovanii zakljuˇcennago Bojarinom Afanasiem Lavrent’eviˇcem Ordinym-Našˇcokinym dogovora s Stepanom Romodamskim i Grigoriem Lusikovym, pri[s]lannymi ot Armjanskoj torgovoj Kompanii: o nenarušimoj s obeich storon torgovle, pri posredstve živušˇcago v Moskve Agenta Angliˇcanina Tomasa Breina. Moskau, 31. Mai 1667, in: Sobranie gosudarstvennych gramot i dogovorov, chranjašˇcichsja v goˇ sudarstvennoj kollegii inostrannych del. Cast’ cˇ etvertaja. Moskva 1828 (im Folgenden: SGGD IV), Dok. Nr. 56, S. 204–208. Dasselbe als Žalovannaja gramota Armjanskoj kompanii na privoze v Rossiju šelka i syrca, in: PSZ I,1, Dok. Nr. 409, S. 692–695, sowie in: Peregovory 1666–1667, S. 47– 52. 43 Samuel H. Baron: Vasilii Shorin: Seventeenth-Century Russian Merchant Extraordinary, in: Canadian-American Slavic Studies 6 (1972) S. 503–548, hier S. 530. 44 Voskanjan: Novo-torgovyj ustav S. 42. 45 Baron: Vasilii Shorin S. 531.

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Das ganze Bündel von Argumenten, die aus der Sicht des Zaren in seiner doppelten Eigenschaft als Privatunternehmer und Staatsoberhaupt für den Vertrag sprachen, wies neben fiskalisch-monetären aber auch solche wirtschafts-, handels- und vor allem bündnispolitischer Art auf. Die Hoffnung auf eine generelle Steigerung der Anziehungskraft des Reiches auf europäische Kaufleute, hier vor allem der Sommermesse in Archangel’sk, auf die genannte Schließung der vom Neuen Handelsstatut gerissenen Transport- und Verkehrslücke zwischen dem Wolgagebiet und dem Dvina-Delta, möglicherweise auch die Einlösung eines Versprechens der Vertreter der Kompanie, armenische Handwerker zur Ansiedlung in Moskau zu bewegen 46, sind hier zu nennen. Hinzu kamen die gleichfalls erwähnten außen- und sicherheitspolitischen Erwägungen, derer sich auch die armenischen Unterhändler wohl bewusst waren und auf die sie in den Verhandlungen deutlich anspielten: „Du, großer Herrscher, hältst mit Schah ’Abbas von Persien enge Freundschaft, aber mit dem türkischen Sultan lebt Schah ’Abbas in großem Streit.“ 47 Im Zusammenhang mit der neuen moskauischen Südpolitik erschien eine bündnispolitische Rückversicherung in Isfahan also erstrebenswert, eine handelspolitische Übereinkunft dabei als Schritt in die richtige Richtung 48. Dass der Zar vor diesem ersten Vertragsschluss mit der Armenischen Handelskompanie die hauptstädtische Kaufmannschaft entgegen moskauischem Brauch nicht um ihre Meinung gefragt hatte, weist dabei auf die primär politischen und erst sekundär ökonomischen Aspekte in seinem Kalkül hin, wie schon E. S. Zevakin betont hat 49. Folglich entschloss sich der Zar noch im April 1667, unter der Leitung des genannten Th. Brayne „an den Persianer expresse eine absendung [zu] thun“, diesmal in diplomatisch-handelspolitischem Auftrag und nicht, wie zuvor üblich, zum Zwecke des zarischen Privathandels 50. Die Erfolgsaussichten einer solchen Mission waren um so größer, als sich die Interessen des Schahs auf beiden genannten Ebenen mit denen des Zaren deck-

46 Vgl. Hans-Heinrich-Nolte: Religiöse Toleranz in Rußland 1600–1725. Göttingen [usw.] 1969, S. 53 und 92–93 (= Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft Band 41). – H.-H. Nolte sieht in diesem speziellen Punkt zugleich die Voraussetzung dafür, dass sich die armenischen Kaufleute gegen die Konkurrenz indischer Kaufleute im Inneren des Moskauer Staates durchsetzen konnten. Zur weiterhin starken Stellung der Inder in Astrachan’ vgl. R. V. Ovˇcinnikov: Obzor dokumentov Astrachanskoj prikaznoj palaty o russko-indijskoj torgovle poslednej cˇ etverti XVII veka, in: Archeografiˇceskij ežegodnik za 1957 god. Moskva 1958, S. 217–227. 47 Zitiert nach Peregovory 1666, S. 37–38. Vgl. auch Bajburtjan: Armjanskaja kolonija Novoj Džul’fy S. 98. – Die Frage, ob das von der armenischen Nationalgeschichtsschreibung der Armenischen Handelskompanie unterstellte Motiv der Gewinnung moskauischer Rückendeckung zur Wiederherstellung einer armenischen Staatlichkeit eine Rolle gespielt hat, bleibt hier ausgeklammert. Vgl. dazu z. B. Voskanjan: Novo-torgovyj ustav S. 43; oder Bournatian: The Armenian Community of Isfahan. Pt. II, S. 45–48. 48 Vgl. zum Zusammenhang von Außen- und Handelspolitik Kukanova: Rol’ armjanskogo kupeˇcestva S. 23–25; Kukanova: Ocerki S. 67–77; und Bajburtjan: Armjanskaja kolonija Novoj Džul’fy S. 96. 49 Zevakin: Persidskij vopros S. 158–159. 50 Adolf Eberskjöld – schwedische Vormundschaftsregierung. Moskau, 22. Mai 1667, in: Ekonomiska förbindelser mellan Sverige och Ryssland. Dokument ur svenska arkiv. Red. Artur Attman. Stockholm 1978, Dok. Nr. 26, S. 164 (im Folgenden: EFSR).

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ten: Der von 1665 an den Schiffsverkehr in der Levante zum Erliegen bringende osmanisch-venezianische Konflikt um Kreta machte die Benutzung der persischen Hauptausfuhrroute nach Aleppo unmöglich, so dass eine Ausweichroute zusätzlich zum ausgesprochen teuren Seeweg um Afrika überaus attraktiv erschien. Und der sich unter dem neuen Schah Safi II. (Soleiman) weiter beschleunigende Machtverfall des Safavidenreiches erforderte eine aktive Bündnispolitik gegen den Militäraktionismus des übermächtigen osmanischen Nachbarn.

6. Praxis versus Propaganda 1667–1672 Noch vor dem förmlichen Vertragsschluss mit der Armenischen Handelskompanie hatte der Zar begonnen, Kaufleute wie politische Instanzen in den Niederlanden, Hamburg, Italien, Spanien, Frankreich und England von der bevorstehenden Übereinkunft schriftlich zu informieren 51. Wie der über gute Kontakte verfügende neue schwedische Resident in Moskau, Adolf Eberskjöld, erfahren hatte, ermunterte Aleksej Michajloviˇc die Adressaten dahingehend, daß sie künftig selber mit ihre eigene landz wahren, auch mit gut silber solten nach Archangel kommen, allwohr sie näher alß über Ormus [= Hormuz am Persischen Golf – S. T.], die seide von ihnen kauffen könnten; könnten auch darbey den jährlichen caviarhandell selber an sich bringen, daß es sonsten frembden jährlich zu ihnen brachten, auch jufften, pelterey und andere stattliche wahren mehr, die sie von Archangel könnten führen; die Spaniger sollten nur Silber genung bringen. 52

Einen Monat später teilte A. L. Ordin-Našˇcokin A. Eberskjöld mit, der Armenischen Handelskompanie stünden neben der Weißmeerroute nach Westeuropa auch die Wege „über Nogorodt nach Narwa und Revel, auch über Smolensko nach Riga“ offen 53. Diese Ankündigung war insofern bemerkenswert, als sie in diametralem Gegensatz zur Generallinie bisheriger moskauischer Außenhandelspolitik, nämlich der Priorität für Archangel’sk, stand. Obwohl es hinsichtlich der Rigaroute bei der bloßen Ankündigung blieb – mit der Ausnahme einer kleinen Rohseidelieferung im Jahr 1678 54 –, 51 Ebenda. Das Foreign Office wurde von dem in moskauischen Diensten stehenden General Patrick Gordon informell in Kenntnis gesetzt: „Wee ar[e] projecting to draw the Persian and Armenian Traffique through this Countrey.“ Vgl. P. Gordon – Joseph Williamson (Under-Secretary of State). Moskau, 9. Juli 1667, bei: S[ergei] Konovalov: Patrick Gordon’s Dispatches from Russia, 1667, in: Oxford Slavonic Papers 11 (1964) S. 8–16, hier S. 9–10 (Zitat S. 9). 52 Vgl. A. Eberskjölds zitierten Brief vom 22. Mai 1667. 53 A. Eberskjöld – Vormundschaftsregierung. Moskau, 19. Juni 1667, in: EFSR, Dok. Nr. 26, S. 164– 165, hier S. 164. 54 Dem Sundzollregister zufolge wurden damals aus Riga 980 Pfund, d. h. ca. 4 Ballen, dieser Ware nach Westen ausgeführt. Nicht auszuschließen ist jedoch, dass dieser Posten nicht via Moskau, sondern via Polen-Litauen in die livländische Metropole gelangt war. Vgl. hierzu Stefan Troebst: Stockholm und Riga als „Handelsconcurrentinnen“ Archangel’sks? Zum merkantilen Hintergrund schwedischer Großmachtpolitik 1650–1700, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 48 (1993) S. 259– 294, hier S. 283.

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ist diese Absichtserklärung als Indiz für die erhebliche Bedeutung zu werten, die man in Moskau dem persischen Transithandel beimaß. Der 1687 erfolgte Sprung über den eigenen handelspolitischen Schatten, also die maßgeblich von V. V. Golicyn verfügte Öffnung der Ostseeroute für Mitglieder der Armenischen Handelskompanie, kündigte sich hier bereits an 55. In Westeuropa führte die Kunde vom armenisch-moskauischen Vertrag zwar zu einem deutlich gesteigerten Interesse am Persientransit über Moskau, doch war man in Amsterdam, Paris, Berlin u. a. weniger an einem armenisch vermittelten Zwischenhandel in Archangel’sk als vielmehr an der Erteilung des Rechtes zum Transit nach Persien via Moskau an die eigenen Kaufleute interessiert. So schlug Ludwig XIV. 1668 dem russischen Gesandten P. I. Potemkin vor, der Zar möge französischen Kaufleuten die zollfreie Durchreise nach Persien gestatten 56, und der Große Kurfürst fertigte im selben Jahr eine Gesandtschaft nach Moskau ab, die dort für Königsberg als Zielpunkt der Transitroute aus Persien werben sollte 57. Während beiden Unternehmungen kein Erfolg beschieden war 58, gelang indes der Warschauer Diplomatie in Moskau ein diesbezüglicher Durchbruch: Im antiosmanischen Bündnisvertrag zwischen Adelsrepublik und Zarenreich vom 4. Dezember 1667 wurde vereinbart, dass moskauische Kaufleute via Polen nach Westeuropa und polnische

55 Vgl. Ders.: Narva und der Außenhandel Persiens. ˇ 56 Vgl. Sergej M. Solov’ev: Istorija Rossii s drevnejšich vremen v pjatnadcati knigach. Red. L. V. Cerepnin. Kniga VI (toma 11–12): Istorija Rossii v carstvovanie Alekseja Michajloviˇca. Moskva 1961, S. 540. 57 In der Instruktion für den Gesandten hieß es: „Demnach auch verlauten will, daß in denen zwischen dem Tzaren und dem Könige in Persien Jüngsthin aufgerichteten Pactum unter anderem verglichen worden, daß die Commercien so vorhin aus Persien durch die Türckey in Italien gangen, hinfüro durch die Moscow in Pohlen gehen sollen, Alß hat er sich zuerkundigen was etwa an dieser Zeitung seyn mag, und solchen falls anzuhalten, daß Sie unsern Landen, so viel müglich, zugewendet werden mögen, Gleicher gestalt hat er zu versuchen, ob nicht Ihre Tzaar. M.tt und Ld. zu mehrer Fortsetzung der Commercien auch andere wahren Ihrer Lande nach Königsberg kommen zu lassen und des fals gewiße Verordnung machen wollten“ (Instruktion Friedrich Wilhelms für Friedrich von Dönhoff. Berlin, 18. Februar 1668, in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin. XX. Hauptabteilung. Herzogliches Briefarchiv. Abt. E: Rußland, Wallachei, Türkei, Kasten 724: 1662–1720 Gesandtsch. nach Moskau, Bll. 61–72, hier Bl. 71). 58 Zur französischen Initiative vgl. Ferdinand Grönebaum: Frankreich in Ost- und Nordeuropa. Die französisch-russischen Beziehungen von 1648–1689. Wiesbaden 1968, S. 55–57 (= Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa Band 2). – F. v. Dönhoff erkrankte unterwegs in Königsberg und musste die Reise abbrechen. Seinem Ersatzmann Samuel Arciszewski wurde von A. L. OrdinNašˇcokin die Einreise verweigert. Erst dem armenischen Kaufmann und Untertan des Schahs Jakub Samokutli, der 1670 in Moskau eine brandenburgische Vollmacht vorlegte, wurde das Transitrecht gewährt, wobei unklar bleibt, ob es sich um eine einmalige oder um eine permanente Erlaubnis handelte. Vgl. G. V. Forsten: K vnešnej politike velikago kurfjursta Fridricha Vil’gel’ma brandenburgskago, in: Žurnal Ministerstva narodnago prosvešˇcenija 1900, Teil 330 (Juli), S. 22–58, hier S. 33–35; Kurt Forstreuter: Preußen und Rußland von den Anfängen des Deutschen Ordens bis zu Peter dem Großen. 2. Aufl. Göttingen 1955, Anm. 158, S. 212–213 (= Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft Band 23); und Zevakin: Persidskij vopros S. 153.

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via Moskau nach Persien handeln dürften (§ 5) 59. Bereits 1668 traf der polnische Gesandte Bohdan Gurdziecki in Isfahan ein, wo er zum einen den Schah zum Beitritt zum polnisch-moskauischen Bündnis gegen den Sultan zu bewegen suchte, zum anderen auf die kriegsfinanzielle Bedeutung einer Verlegung des persischen Seideexportes von Aleppo ins Zarenreich hinwies 60. Auch hier also tritt die Verknüpfung von Bündnis- und Handelspolitik im Kalkül des Zaren deutlich zutage. Allerdings gab es in den Teilen Europas, die mit dem Moskauer Staat in Handelsbeziehungen standen, nicht nur Zustimmung zur neuen Transitroute aus Persien. Skeptische Stimmen erhoben sich vor allem in den großen Persienhandelskompanien der Handelsstaaten. „Opening a trade for Persian silkes at Archangel“, hieß es in einer zeitgenössischer Londoner Stellungnahme von interessierter Seite, „[. . . ] will ruin the English trade in the Levant.“ 61 Und auch der moskauerfahrene Samuel Collins gab zu bedenken, dass eine Umleitung des Weltrohseidehandels durch den Moskauer Staat hindurch die Wiederherstellung des privilegierten status quo ante 1646 für englische Kaufleute noch mehr als ohnehin der Fall erschweren würde: If the Persian and Indian Silk trade prevail in Russia, the Czar, Ifear will think it too great a boon to restore the English Immunities, and ’twill be as hard for them to regain their priviledges, as it was for the Pharoahs [sic!] people to drive their Charriots through the Red Sea when their wheels fell off. 62

Zugleich hegte er die Befürchtung, dass die an dieser Routenänderung stark interessierten niederländischen Russlandkaufleute damit der englischen Kaufmannschaft auf russischem Terrain noch stärkere Konkurrenz als bisher machen würden. Sein vielzitiertes, wenngleich die Tatsachen nicht allzu exakt wiedergebendes Diktum „The Dutch like Locusts, swarm in Mosco, and eat breat out of the English-mens mouth“ 63 ist just auf diesen Umstand gemünzt. S. Collins’ an den Vertrag von 1667 geknüpfte Befürchtungen waren vorerst jedoch ebenso grundlos wie die damit verbundenen Hoffnungen seiner Widersacher. Denn die Übereinkunft von Zar und Armenischer Kompanie setzte keinerlei Warenverkehr in Gang: Noch im Frühjahr 1667 wandten sich die Truppen des aufständischen Sten’ka Razin nach Südosten und unterbrachen den Wolga-Kaspi-Weg auf mehrere Jahre hinaus. Dabei zerstörten sie auch das Schiff Orel, das der Zar

59 Vgl. Zbigniew Wójcik: Mi˛edzy traktatem andruszowskim a wojna˛ turecka.˛ Stosunki polsko-rosyskie 1667–1672. Warszawa 1968, S. 108, sowie allgemein zum polnischen Persienhandelsinteresse Zevakin: Persidskij vopros S. 143–147. 60 Ebenda S. 144. Vgl. auch Bajburtjan: Armjanskaja kolonija Novoj Džul’fy S. 103; und Wójcik: Mi˛edzy traktatem andruszowskim a wojna˛ turecka˛ S. 122. 61 Vgl. Ferrier: The Armenians and the East India Company S. 59, Anm. 7. 62 Samuel Collins: The Present State of Russia, in a Letter to a Friend at London, Written by an Eminent Person Residing at the Great Tzars Court at Mosco for the Space of Nine Years. London 1671, S. 127–128. 63 Ebenda S. 128.

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zum Transport von Rohseide auf dem Kaspischen Meer bauen ließ 64. Zugleich trübte diese innerrussische Rebellion das Verhältnis zu Persien: Als die Razinovšˇcina auf den Kaspi-Raum übergriff, armenische Persien-Kaufleute Warenverluste erlitten und persische Städte angegriffen wurden, forderte der Schah vom Zar Kompensation, was abgelehnt wurde 65.

7. Der zweite armenisch-moskauische Vertrag vom 7. Februar 1673 Erst Ende 1671 gelang es der Moskauer Zentralmacht, die Rebellion der RazinAnhänger im Südosten des Reiches zu ersticken und mit der Rückeroberung von Astrachan’ die Handelsroute aus Persien wieder benutzbar zu machen. Noch im selben Jahr fertigte der Schah das Führungsmitglied der Armenischen Handelskompanie G. Lusikjan formell als Gesandten nach Moskau ab, damit dieser das von ihm selbst mitausgehandelte Abkommen vom Jahre 1667 bestätigen ließe 66. Jedoch zögerten Aleksej Michajloviˇc und sein neuer Kanzler A. S. Matveev, das der Kompanie seinerzeit gewährte Gasthandels- und Transitrecht wie zuvor ohne Rücksprache mit der einheimischen Kaufmannschaft zu erneuern. Vielmehr wurden am 15. Juli 1672 etliche hauptstädtische gosti mit dem im Handel mit persischen Waren besonders erfahrenen Vasilij Šorin an der Spitze in den Gesandtschaftsprikaz gerufen, um ihre Meinung über den Vertrag von 1667 und seine anstehende Bestätigung einzuholen 67. Die Moskauer Großkaufleute lehnten die Erteilung des Gasthandels- und Transitrechts an ihre persischen und armenischen Konkurrenten entschieden ab und rieten zur gesetzlichen Beschränkung von deren Handel auf die Stadt Astrachan’ 68. In den direkten Verhandlungen mit G. Lusikjan machte sich A. S. Matveev diese Forderungen der gosti dann zwar nicht gänzlich zu eigen, nahm aber doch auf ihre Interessen Rücksicht 69. Daher wurde die Übereinkunft von 1667 nicht bestätigt, sondern am 7. Februar 1673 ein neuer und modifizierter Vertrag zwischen Zar und Armenischer

64 Vgl. hierzu Samuel H. Baron: A. L. Ordin-Nashchokin and the Orel affair, in: Ders.: Explorations in Muscovite History. Aldershot 1991, X, S. 1–22, besonders S. 8–11. 65 Kukanova: Oˇcerki S. 82. 66 ARO, Dok. Nr. 16–18, S. 70–74. 67 Vgl. Hans-Joachim Torke: Die staatsbedingte Gesellschaft im Moskauer Reich. Zar und Zemlja in der altrussischen Herrschaftsverfassung 1613–1689. Leiden 1974, S. 204–205 (= Studien zur Geschichte Osteuropas Band 17). 68 Ob-jasnenie, prizvannych v Posol’skij prikaz, Rossijskich gostej na zapros: ne delaet li kakogo podryva Rossijskomu kupeˇcestvu torgovyj dogovor s Armjanami, v 1667 godu zakljuˇcennyj? Moskau, 15. Juli 1672, in: SGGD IV, Dok. Nr. 81, S. 277–279. Dasselbe in: ARO, Dok. Nr. 19, S. 74–76, sowie in Russko-indijskie otnošenija v XVII v. Sbornik dokumentov. Red. K. A. Antonova, N. M. Gol’dberg & T. D. Lavrencov. Moskva 1958, Dok. Nr. 95, S. 172–173. 69 Zu den Verhandlungen in Moskau in der zweiten Hälfte des Jahres 1672 vgl. ARO, Dok. Nr. 20–24, S. 76–95.

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Kompanie geschlossen 70. Die Mitglieder der Kompanie sollten nun zwar weiterhin über Astrachan’ hinaus in den Moskauer Staat einreisen und überall mit einheimischen Kaufleuten Handel treiben dürfen, doch vom Gasthandelsrecht war keine Rede mehr. Wie bereits 1667 wurde den Armeniern aber auch diesmal gestattet, in die Grenzstädte einschließlich Archangel’sks sowie – im Falle fehlender Absatzmöglichkeiten dort – weiter in westeuropäische Länder zu reisen. Die letztgenannte Konzession wurde jetzt jedoch mit einer zusätzlichen Einschränkung versehen: Das Transitrecht sollte nur dann gelten, „wenn mit diesen [Ziel-] Staaten nicht irgendwelche Streitigkeiten bestehen“ (Bude s temi Gosudarstvy ssory kakija ne budet) 71; in einem solchen Konfliktfall müsste bereits in den Grenzstädten eingetroffene Rohseide entweder an den Zaren selbst oder an einheimische Kaufleute verkauft werden. G. Lusikjan erklärte sich damit notgedrungen einverstanden, allerdings unter der Voraussetzung, dass für diesen Fall ein verbindlicher Mindestpreis festgesetzt würde. Die moskauische Seite gab daraufhin einen Preis von 30 bis 35 Rubel pro Pud für unterschiedliche Rohseidequalitäten an 72, was deutlich unter den Archangel’sker Marktpreisen von 40 bis 46 Rubel pro Pud lag 73. In einem gesonderten Rechtsakt musste G. Lusikjan im Namen der Armenischen Handelskompanie ebenfalls am 7. Februar 1673 noch einmal explizit versichern, dass persische Rohseide künftig ausschließlich in den Moskauer Staat bzw. von dort weiter nach Europa exportiert würde 74. Desgleichen sollten die Armenier allen ausländischen Kaufleuten, die innerhalb Persiens von ihnen Seide aufkaufen wollten, dies verweigern und ihnen erklären: „Die gesamte Seide geht nach Russland“ (Ves’ šelk idet v Rossiju) 75. Die genannte, das Transitrecht einschränkende Konfliktklausel ist in der historischen Fachliteratur häufig missverstanden worden und hat daher zu wenig begründeten Vermutungen bzw. irrigen Schlussfolgerungen Anlass gegeben. Dabei hatte noch N. I. Kostomarov, der sich als einer der ersten mit dem Vertrag von 1673 und der besagten Klausel befasste, weitgehend zutreffend, wenngleich stark interpretierend geurteilt: „Dieser letztgenannte Vorbehalt wurde lediglich pro forma gemacht, da es sich in Wirklichkeit so verhielt, daß die Regierung, von den gosti agitiert, die Auslandsreisen [der Armenier] einschränken und ihre Waren innerhalb Rußlands an sich

70 Dogovornaja torgovaja Zapis’ (v spiske), zakljuˇcennaja, v podtverždenie pervoj, Okol’niˇcim Artemonom Sergeeviˇcem Matveevym s prislannym Armjanskoju torgovoju Kompanieju doverennym Grigoriem Lusikovym: o vozobnovlenii s Rossieju prežnej torgovli, prervavšejsja na nekotoroe vremja po konˇcine Šacha Abbasa II. Moskau, 7. Februar 1673, in: SGGD IV, Dok. Nr. 83, S. 280–283 (im Folgenden: Dogovornaja torgovaja Zapis’). Eine andere Fassung in: ARO, Dok. Nr. 29, S. 110–113. 71 Dogovornaja torgovaja Zapis’ S. 281–282. 72 Ebenda S. 283. 73 Vgl. Kukanova: Rol’ armjanskogo kupeˇcestva S. 26. 74 Obešˇcanie Grigorija Lusikova, dannoe im v Posol’skom prikaze ot imeni Armjanskoj torgovoj kompanii ne prodavat’ šelk-syrec priezžim inostrancam, a vvozit’ ego v Rossiju i vyvozit’ cˇ erez Moskvu. Moskau, 7. Februar 1673, in: ARO, Dok. Nr. 30, S. 113–114. 75 Zitiert nach Solov’ev: Istorija Rossii kn. VI, t. 11–12, S. 571.

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bringen wollte.“ 76 Während nach ihm P. P. Mel’gunov in einer Übersicht aus dem Jahr 1904 zwar die persisch-moskauischen Handelsbeziehungen, die Transitfrage und das Neue Handelsstatut behandelte, aber weder die Armenische Handelskompanie noch den Vertrag mit ihr erwähnte 77, behauptete Pavel P. Smirnov 1912 lakonisch, dass „die Regierung [. . . ] im Jahr 1673 die Einfuhr von Seide nach Archangel’sk zum Handel mit Ausländern verbot“ 78. Dass „der Hauptvorteil der Kompanie – das Transitrecht – ihr verlorenging“, glaubte in einer Kiever Publikationsreihe 1915 dann auch Boris G. Kurc konstatieren zu können 79, wohingegen sich bereits im Folgeband dieser Reihe vom selben Jahr eine textnähere Interpretation der Konfliktklausel aus der Feder von A. Ja. Špakovskij fand 80. Ähnliche Verwirrung herrscht auch in der modernen westlichen Literatur: Während W. Mediger 1967 im Wesentlichen korrekt feststellte, dass der 1667 geschlossene moskauisch-armenische „Vertrag 1673 mit einigen für Moskau vorteilhaften Abänderungen erneuert wurde“, da „die Gosten [. . . ] weder seine Aufhebung noch seine durchgreifende Änderung in ihrem Sinne zu erreichen“ vermochten 81, meinte H.-H. Nolte 1969 in Vermengung von Wortlaut und Handelspraxis, „bei der Verlängerung des Vertrages 1673 mußten die Armenier [. . . ] auf den Handel bis zu den russischen Westgrenzen verzichten“ 82. Und gar von einer „1673 widerrufene[n] Erlaubnis für die armenische Handelskompanie, über Astrachan’ [!] hinaus Handel zu treiben“, sprach 1987 K. Heller 83. Dem war, wie gezeigt, nicht so. 76 N. I. Kostomarov: Oˇcerk torgovli Moskovskogo gosudarstva v XVI–XVII stoletijach. S.-Peterburg 1862 (Reprint Den Haag 1966), S. 48. 77 P. P. Mel’gunov: Oˇcerki po istorii russkoj torgovli IX–XVIII vv. Moskva 1904. ˙ 78 P. P. Smirnov: Ekonomiˇ ceskaja politika Moskovskogo gosudarstva v XVII v., in: Russkaja istorija v oˇcerkach i stat’jach. Band 3. Red. M. V. Dovnar-Zapol’skij. Kiev 1912, S. 369–410, hier S. 386–387. 79 B. G. Kurc: Soˇcinenie Kil’burgera o russkoj torgovle v carstvovanie Alekseja Michajloviˇca. Kiev ˙ 1915, S. 357 (= Sbornik Studenˇceskago Istoriko-Etnografiˇ ceskago Kružka pri Universitete Sv. Vladimira. Vyp. VI). 80 A. Ja. Špakovskij: Torgovlja Moskovskoj Rusi s Persiej v XVI–XVII vekach. Kiev 1915, S. 27 ˙ (= Sbornik Istoriko-Etnografiˇ ceskago Kružka pri Universitete Sv. Vladimira. Vyp. VII). 81 Mediger: Mecklenburg, Textband S. 171 und 172. 82 Nolte: Religiöse Toleranz S. 93. 83 Heller: Russische Wirtschafts- und Sozialgeschichte Band 1, S. 203–204. K. Heller beruft sich hierbei auf N. I. Kostomarov. Tatsächlich dürfte die Quelle für diese Fehlinformation aber nicht dieser, sondern J. Ph. Kilburger gewesen sein. Diesem Augenzeugen zufolge „sind die Perser in Moscau so verhaßt worden, daß sie im Jahr 1673 alle Freyheit verlohren, und nun kein Perser und Indianer [. . . ] seine Güter weiter als nach Astrachan bringen darf“ (Johann Philipp Kilburger: Kurtzer Unterricht von dem Rußischen Handel, wie selbiger mit aus= und eingehenden Waaren 1674 durch ganz Rußland getrieben worden, in: Magazin für die neue Historie und Geographie, angelegt von D. Anton Friderich Büsching [Hamburg] 3 [1769] S. 243–342, hier S. 311). Diese an sich zutreffende Feststellung – vgl. den nachstehend erwähnten Zarenukas vom Frühjahr 1673 – wird dadurch falsch, daß J. Ph. Kilburger am persischen Export lediglich „Perser und Indianer“ bzw. „Persianer, wie auch einige indostanische Indianer“ beteiligt wähnte (ebenda), jedoch vom maßgeblichen Anteil der Armenier keine Kenntnis besaß und diese daher überhaupt nicht aufführte. Dies ist umso merkwürdiger, als sein Vorgesetzter bei der schwedischen Moskau-Gesandtschaft von 1673/1674, der Stockholmer Großkaufmann und Assessor im Kommerzkollegium, Jochim Pötter Lillienhoff, durch enge Kontakte zu orientalischen Russlandkaufleuten Anfang 1674 den genauen Inhalt des armenisch-moskauischen

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Hatten also die gosti ihre Interessen in dem zweiten Vertrag zwar besser wahren können als im ersten, so erzielte jedoch auch die Armenische Handelskompanie bald nach Vertragsschluss eine Verbesserung ihrer Stellung auf dem russischen Markt. Denn am 21. Mai 1673 versammelte A. S. Matveev erneut die hauptstädtischen Großkaufleute mit V. Šorin an der Spitze, um ihnen einen zarischen Ukas vorzulesen, demzufolge der persisch-russische Handel in Astrachan’ konzentriert werden sollte, fürderhin also weder moskauische Kaufleute nach Persien noch persische Kaufleute ins Innere des Moskauer Staates reisen dürften. Die Mitglieder der Armenischen Handelskompanie indes sollten davon ausgenommen bleiben 84. Während die gosti aufgrund der Willkür persischer Behörden auf ihr Recht, im Inneren des Nachbarlandes Geschäfte zu tätigen, leichten Herzens verzichteten und das Verbot einer Weiterreise von Persern, Indern und anderen orientalischen Kaufleuten über Astrachan’ hinaus begrüßten, warnten sie vor dem ungesetzlichen Handelsgebaren der Armenier in Moskau und andernorts: Diese würden „mit allen möglichen Leuten Kleinhandel mit ihren Waren zu hohen Preisen betreiben, hingegen die besten russischen Waren zu niedrigem Preis erwerben“ 85. Zusätzlich holte A. S. Matveev auch die Meinung des noch in Moskau befindlichen G. Lusikjan zu dem Ukas ein. Der Armenier beruhigte den Kanzler sowohl hinsichtlich etwaiger negativer Reaktionen des Schahs auf den Ukas wie in Bezug auf die Vorwürfe der gosti: „Wir, die Armenier, werden weder mit Tabak handeln noch Russen betrügen, weil wir Christen sind.“ 86 Der Ukas des Zaren vom Mai 1673 konsolidierte also die im Vertrag vom Februar desselben Jahres partiell geschwächte Stellung armenischer Kaufleute. Das Recht, als einzige orientalische Kaufmannsgruppe auch über Astrachan’ hinaus in den Moskauer Staat einreisen zu können, gewährte ihnen deutliche Vorteile vor allem vor ihren indischen Konkurrenten. Im Unterschied zum Vertrag von 1667, mit dem der Zar Privat- und Staatsinteressen durchsetzte, diejenigen der gosti aber überging, war die Übereinkunft von 1673 das Ergebnis eines Kompromisses zwischen diesen Interessenpolen. Während der Zar zwar in eingeschränktem Umfang sein fiskalisches Anliegen festschreiben konnte, aber in handels-, geld- und bündnispolitischer Hinsicht zurückstecken musste, erzielte die moskauische Kaufmannschaft mit der Rücknahme des den Armeniern

Vertrages von 1673 in Erfahrung gebracht hatte. Vgl. hierzu die informationsträchtige Dokumentation: Åthskillige Papper Ryske Handeln angående /mäst papper effter J. Lillienhoff som han Med sig i Musco hafft. 1673 och 1674, in: UUB, Nordinska samlingen, vol. 438: Diplomatica Sveco-Moscovitica, fol. 194–359. 84 Solov’ev: Istorija Rossii kn. VI, t. 11–12, S. 571. Vgl. auch Kukanova: Oˇcerki S. 53 und 82; sowie Tri gramoty Astrachanskomu voevode bojarinu knjazju Jakovu Odoevskomu, otnositel’no preimušˇcestv Armjanskoj Kompanii. Moskau, 31. Mai–20. Juni 1673, in: Dopolnenija k Aktam istoriˇceskim, sobrannyja i izdannyja Archeografiˇceskoju komissieju. Band 6 [1670–1676]. S.-Peterburg 1857, Dok. Nr. 80, S. 286–289. 85 Zitiert nach Solov’ev: Istorija Rossii kn. VI, t. 11–12, S. 572. 86 Ebenda S. 572–573 (Zitat S. 573). – Hier wie bei anderen Entscheidungen des Zaren hinsichtlich des Orienthandels „mag die Tatsache eine Rolle gespielt haben, daß die Armenier, wenn auch Ketzer, so doch Christen waren“ (Nolte: Religiöse Toleranz S. 93 n).

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1667 verliehenen Gasthandelsrechtes und der Beschneidung von deren Transitrecht einen klaren Erfolg 87. Denn von nun an hatten die gosti zumindest auf dem Papier die Möglichkeit, in Archangel’sk als Vermittler bei Handelstransaktionen zwischen armenischen und westeuropäischen Kaufleuten zu fungieren.

8. Von der Stagnation zum Stau 1673–1675 Zu einer solchen merkantilen Vermittlungs- und Kontrolltätigkeit kam es den vorliegenden Quellen zufolge wenn überhaupt, dann nur in sehr geringem Umfang 88. Denn in den auf den zweiten Vertrag folgenden drei Jahren trafen keine Mitglieder der Armenischen Handelskompanie im moskauischen Weißmeeremporium ein. Ob der Grund hierfür eine „überaus pedantische Anwendung“ der Konfliktklausel von 1673 durch moskauische Zentralbehörden war, wie N. G. Kukanova vermutet hat 89, oder ob Schikanen moskauischer Beamter in Astrachan’ die Armenier abschreckten, so ein anderer sowjetischer Historiker 90, ist dabei wohl unerheblich. Denn unabhängig davon dürfte man sich auf armenischer Seite durchaus im Klaren darüber gewesen sein, dass der Zar jederzeit auf „irgendwelche Streitigkeiten“ mit jedem beliebigen Zielland in Westeuropa verweisen und damit einmal nach Archangel’sk gelangte Seideposten unter Preis an sich bringen konnte. Wohlweislich stellten daher die Armenier in Moskau erst gar keine Anträge auf Erlaubnis zur Weiterreise nach Archangel’sk bzw. nach Amsterdam, sondern beschränkten sich ganz auf Handelsgeschäfte innerhalb des Zarenreiches, wie nicht zuletzt aus den von N. G. Kukanova selbst beigebrachten Quellenfunden hervorgeht 91. Aber sogar diese Handelsaktivitäten hielten sich 1673 und 1674 in bescheidenem Rahmen, denn es gelangten jährlich nur ca. 100 Pud Rohseide, das sind um die 15 Ballen, nach Moskau 92. Das den Armeniern neuerlich zugesagte, wenngleich nun eingeschränkte Transitrecht war also auch diesmal in der Praxis wertlos. Das hatte bereits der von Herbst 1673 bis zum Sommer 1674 mit einer schwedischen Gesandtschaft in Moskau weilende Johann Philipp Kilburger erkannt:

87 Vgl. Kostomarov: Oˇcerk torgovli S. 48; und Zevakin: Persidskij vopros S. 159. 88 Der einzigen verfügbaren Angabe zufolge erwarb der gost’ Andrej Suchanov 1673 von G. Lusikjan und anderen Armeniern die bescheidene Menge von insgesamt 96 Pud Rohseide (ca. 14 Ballen), die er mit einem Gewinn von 1056 Rubel in Archangel’sk an Ausländer veräußerte. Vgl. Kukanova: Oˇcerki S. 84. 89 Ebenda S. 85. 90 Zevakin: Persidskij vopros S. 160. 91 Tab. 1: Posešˇcenie armjanskimi kupcami russkich gorodov v 1673–1675, bei: Kukanova: Oˇcerki S. 89–91, hier S. 89. 92 Ebenda. – Die gosti nutzten diesen Umstand, um die Armenier des Vertragsbruches zu zeihen. Vgl. Predloženie gollandskogo posla Kondratija fon Klenka carju Fedoru Alekseeviˇcu i mnenie russkich kupcov ob uˇcastii Gollandii v vostoˇcnoj torgovli. Moskau, Februar 1676, in: ARO, Dok. Nr. 37, S. 129–142, hier S. 139 (im Folgenden: Predloženie).

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So siehet auch der Schach sehr ungern, daß jährlich noch eine nicht geringe Quantität [Seide] mit der Caravane durch die Türkey auf Aleppo gehet [. . . ]; in Erwegung, daß sein größter Feind, der Türk, so großen Nutzen daraus ziehet, und seinen Schatz damit vermehret; ist auch dannenhero um so viel mehr geflissen, diesen Handel zu divertiren, und gänzlich nach Rußland zu Richten. Die Russen aber wissen in diesem Punkt ihren Nutzen selbst nicht zu beobachten, und sperren vielmehr den persischen Handel. 93

Allerdings trat Ende 1675 – aus nur unzureichend aufhellbaren Gründen – eine deutliche Veränderung ein: Im November und Dezember führten einer zeitgenössischen moskauischen Quelle zufolge armenische Kaufleute „in den Moskauer Staat Rohseide, zwar nicht vertragsgemäß, jedoch in großer Menge“ 94 ein – insgesamt über 1000 Pud bzw. mehr als 150 Ballen 95. Die gosti weigerten sich, diese Ware anzukaufen, da sie zum einen deren Preis für überhöht hielten 96, zum anderen Taktik hinter dem Vorgehen der Neu-Ghulfaer Kompanie wähnten: Diese, so ihre Klage, hätten in den Jahren zuvor deswegen so wenig Rohseide nach Moskau gebracht, um dort den Preis hochzutreiben, was ihnen auch gelungen sei. Durch den Boykott wollten die Moskauer Großkaufleute ihren armenischen Konkurrenten einen Strich durch die mutmaßliche Spekulationsrechnung machen. Desgleichen argwöhnten sie, „daß [den Armeniern] von den überseeischen Ausländern gewisse Hoffnungen gemacht worden sind“ 97, die Armenier daher „auf Anraten der Holländer [nur] mit Ausländern handeln wollen“ 98. Da die moskauischen Kaufleute also Obstruktion betrieben, gemäß Neuem Handelsstatut Westeuropäern zumindest de iure der Weg nach Moskau versperrt und schließlich den Armeniern seit 1673 der Gasthandel verboten war, fanden sich auch keine „westlichen“ Käufer für die in der Hauptstadt befindlichen Seideposten. Dem Zaren blieben daher nur zwei Auswege, wollte er den nun augenscheinlich in Gang kommenden Seidehandel mit der Armenischen Kompanie nicht zum Erliegen bringen: entweder unter Übernahme aller finanzieller Risiken selbst als go-between tätig zu werden oder aber den Armeniern gegen den Widerstand der gosti den ungehinderten Zugang nach Archangel’sk freizumachen und ihnen dort den Gasthandel, wenn nicht gar den Transit, zu erlauben. Eine denkbare dritte Möglichkeit, nämlich die Erteilung eines Transitprivilegs an westeuropäische Russlandkaufleute, die bis 1667 theoretisch und, wie gezeigt, ausnahmsweise auch praktisch bestanden hatte, war des Neuen Handelsstatuts wegen mittlerweile nicht mehr gegeben.

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Kilburger: Kurzer Unterricht S. 310. Zitiert nach Kurc: Soˇcinenie Kil’burgera S. 357. Vgl. Tab. 1 bei Kukanova: Oˇcerki S. 89–90. Kurc: Soˇcinenie Kil’burgera S. 357. Vgl. auch Boris Raptschinsky: Bescheiden betreffende het Gezantschap van Koenraad van Klenck naar Moscovië in 1675–1676, in: Bijdragen en Mededeelingen van her Historisch Genootschap 59 (1938) S. 83–190, hier S. 128 n. 97 Zitiert nach Kurc: Soˇcinenie Kil’burgera S. 357. 98 Zitiert nach Zevakin: Persidskij vopros S. 160.

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9. Die niederländisch vermittelte moskauische Transiterlaubnis für die Armenische Handelskompanie 1676 Das Dilemma, in dem sich Aleksej Michajloviˇc zwischen Eigen- samt Staatsinteresse und den Interessen der gosti in Sachen Persientransit befand, wurde erst unter seinem Nachfolger Fedor Alekseeviˇc gelöst: Erstmals im Frühjahr 1676 beantragten armenische Kaufleute in Moskau eine Genehmigung zur Ausfuhr von über 500 Ballen Rohseide via Archangel’sk, die ihnen umgehend erteilt wurde 99. Dass dies keine Ausnahme war, belegt das gute Dutzend gleichfalls positiv beschiedener Ausfuhranträge, das Mitglieder der Armenischen Handelskompanie im Durchschnitt in den folgenden Jahren stellten. Zwar wurde von nun an nicht, wie von moskauischer Seite 1667 und 1673 nachdrücklich gefordert, die gesamte persische Rohseideproduktion im Transit über Moskau nach Westeuropa exportiert, aber doch ein nicht unerheblicher und zudem wachsender Anteil derselben. Wie ist dieser Kurswechsel in der moskauischen Transithandelspraxis gegenüber Persien zu erklären? Auch hier dürfte nicht ein einzelner Grund, sondern ein ganzes Bündel von Ursachen und Anlässen eine leidlich plausible Erklärung bieten. Denn wiederum spielten sowohl fiskalische wie monetäre, handels- wie außenpolitische Aspekte eine Rolle. Den entscheidenden Impuls hat dabei offensichtlich der Vorstoß des als niederländischer Gesandter fungierenden Amsterdamer Russlandkaufmanns Coenraat van Klenck im Winter 1675/1676 gegeben 100. Dass dem 1675 eine niederländisch-armenische Absprache vorausgegangen war, wie die gosti misstrauisch mutmaßten, erscheint dabei zwar angesichts der besagten Steigerung der Rohseideeinfuhr durch die Armenier als wahrscheinlich, muss aber mangels Quellenbelegen dahingestellt bleiben. In deutlichem Gegensatz zur englischen Diplomatie, die ebenso unermündlich wie fruchtlos in Moskau ihre 1646/1649 aberkannten Privilegien einzufordern fortfuhr, hatten es die Generalstaaten vermieden, in Moskau einmal abgelehnte Forderungen zu wiederholen. Daher war die auch aus niederländischer Sicht bedeutsame 99 Kukanova: Oˇcerki S. 85–86, und Tab. 2, S. 91–92. 100 Zu dieser Gesandtschaft vgl. die gründliche Auswertung moskauischer und niederländischer Quellen bei Boris Raptschinsky: Het gezantschap van Koenraad van Klenck naar Moskou, in: Jaarboek van het genootschap Amstelodamum 36 (1939) S. 148–199, und Raptschinsky: Bescheiden, sowie in dem umfangreichen Band: Posol’stvo Kunraada fan-Klenka k carjam Alekseju Michajloviˇcu i Feodoru Alekseeviˇcu. Voyagie van den Heere Koenraad van Klenk, Extraordinaris Ambassadeur van haer Ho: Mo: aen Zyne Zaarsche Majesteyt van Moscovien. Izdanie Archeografiˇceskoj Kommissii. Perevod, vvedenie, primeˇcanija i ukazatel’ A. M. Lovjaginym. S.-Peterburg 1900. Dieser enthält eine ausführliche Einleitung des Bearbeiters A. M. Lovjagin (Vvedenie, S. I–CLXXXVI) und einen dem Gesandtschaftsmitglied Balthasar Coyet zugeschriebenen Historisch Verhael, of Beschryving van de vovagie, Gedaen onder de suite van den Heere Koenraad van Klenk. Amsterdam 1677 (S. 1–264; im Folgenden: Historisch Verhael) samt russischer Übersetzung (S. 265–571). Gleichfalls detaillierte Angaben finden sich bei Jakobus Scheltema: Rusland en de Nederlanden beschouwd en derzelver wederkeerige Betrekkingen. Eerste Deel. 2. Aufl. Utrecht 1836 (1. Aufl. Amsterdam 1817), S. 307–327 und 332–347.

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Frage des Persientransits seit 1648 offiziell nicht mehr erwähnt worden. Und selbst die moskauischen Verträge mit der Armenischen Handelskompanie von 1667 und 1673 scheinen die niederländischen Russlandkaufleute nicht zum Ausüben politischen Drucks auf ihre Regierung hinsichtlich einer flankierenden Persien-Initiative in Moskau veranlasst zu haben. Dass 1676 dennoch eine solche stattfand, war den erreichbaren Informationen zufolge daher weniger das Ergebnis eines diplomatisch-handelspolitischen Sinneswandels der Generalstaaten als vielmehr dasjenige eines doppelten kairos: Der Tod Aleksej Michajloviˇcs am 29. Januar 1676 und das gleichzeitige Eintreffen größerer Seidenlieferungen aus Persien veranlaßten C. van Klenck – sei es aus Eigeninitiative bzw. Eigenmächtigkeit 101, sei es aufgrund geheimer Instruktionen 102 – zu einem Vorstoß in Sachen Persientransit. Zwar konnte er dabei sein Maximalziel, den freien Transit nach Persien für niederländische Kaufleute, in Moskau nicht durchsetzen, doch gelang es ihm, für die Armenische Kompanie die Route Moskau – Archangel’sk – Amsterdam frei zu machen. Der eingangs erwähnte Aufschwung im Transithandel mit Persien von 1676 ging also nicht auf einen weiteren moskauisch-persisch /armenischen Vertrag, sondern wesentlich auf eine moskauisch-niederländische Übereinkunft zurück. Zusätzlich zur Beherrschung des zum Großteil über die Weißmeer-Route abgewickelten russischen Außenhandels zog die Amsterdamer Kaufmannschaft nun auch den zwar noch nicht allzu bedeutsamen, aber doch ausbaufähigen persischen Rohseideexport via Moskau an sich. Von nun an entwickelte sich auf dieser Route ein kontinuierlicher Warenverkehr zwischen Persien und Europa, der ab 1687 über die Ostseeroute fortgesetzt wurde. C. van Klenck, im Moskauer Staat als Kondratij Jur’eviˇc fon-Klinkin bekannt, war der Sohn des namhaften Amsterdamer Russlandkaufmanns Georg Everhart van Klenck 103 und hatte vom Zaren in den fünfziger Jahren den Rang eines gost’ erhalten. Seine Verbindungen zur Spitze des Moskauer Staates waren eng, und es deutet sogar einiges darauf hin, dass er mit Aleksej Michajloviˇc persönlichen Umgang

101 So Lovjagin: Vvedenie S. CXLVII. 102 Die offizielle Instruktion der Generalstaaten für C. van Klenck vom 18. Juni 1675 enthielt keinerlei Bestimmungen hinsichtlich des Persientransits. Vgl. den Text bei Raptschinsky: Bescheiden S. 93– 103. – Keine Erklärung zu C. van Klencks Persieninitiative bietet Scheltema: Rusland en de Nederlanden Band 1, S. 337–338. 103 Vgl. Boris Raptschinsky: Uit de geschiedenis van den Amsterdamschen handel op Rusland in de XVIIe eeuw. Georg Everhard Klenck, in: Jaarboek van het genootschap Amstelodamum 34 (1937) S. 57–83. – Die Familie van Klenck besaß in Archangel’sk einen eigenen Lagergebäudekomplex, den „Klenckenhof“, sowie einen eigenen Pier, „de Klenckbrug“. Vgl. ebenda S. 71, sowie Simon Hart: Amsterdam Shipping and Trade to Northern Russia in the Seventeenth Century, in: Mededelingen van de Nederlandse Vereniging voor der Zeegeschiedenis No. 26, März 1973, S. 5–30 und 105–116, hier S. 28 (siehe auch die Corrigenda hierzu, ebenda No. 27 [September 1973], S. 77– 78). – S. Baron verwechselt Vater und Sohn van Klenck, obwohl er deren unterschiedliche Vornamen benutzt. Vgl. Samuel H. Baron: Who Were the Gosti?, in: California Slavic Studies 7 (1973) S. 1–40; Ders.: Vasilii Shorin; und Ders.: Muscovite Russia. Collected Essays. London 1980, Index, S. 5.

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pflegte 104. Zusätzlich zu diesen günstigen äußeren Voraussetzungen verfügte C. van Klenck über diplomatisches Fingerspitzengefühl, vor allem in den heiklen Form- und Titulaturfragen, was ihn gleichsam als Idealbesetzung auf dem Gesandtenposten erscheinen ließ. Das politische Hauptziel dieser niederländischen wie vorangegangener dänischer und brandenburgischer Missionen war es, Moskau im Rahmen der antifranzösischen Koalition zu einem Angriff auf Schweden, den Verbündeten Ludwigs XIV., zu bewegen. Zwar war der Zar nicht bereit, den „ewigen Frieden“ von Kardis zu brechen, doch verlegte er immerhin einige Truppen an die livländische Grenze. Auch in wirtschaftlicher Hinsicht zeigte sich Moskau den Generalstaaten gegenüber entgegenkommend – eine Getreidelieferung über 40.000 cˇ etvert’ (ca. 10 Schiffsladungen) wurde kontraktiert 105 –, so dass die Mitte Januar 1676 aufgenommenen Verhandlungen mit A. S. Matveev durchaus unter einem guten Stern standen. Aber erst nach dem Tod Aleksej Michajloviˇcs schob C. van Klenck die bündnispolitischen und wirtschaftlichen Aspekte seiner Mission in den Hintergrund und konzentrierte sich stattdessen auf die Frage des Persienhandels 106. Zunächst fühlte er in einem informellen Gespräch mit dem Gesandtschaftsprikazbeamten Andrej Vinius am 2. Februar 1676 vor, wie sich die Regierung zur Frage der Erteilung eines Transitprivilegs für niederländische Kaufleute stellte 107. Daraufhin erhielt er am folgenden Tag Besuch von dem Moskauer gost’ Averkij Kirillov, dem er gleichfalls sein Anliegen zum Zwecke der Weiterleitung an A. S. Matveev vortrug. Die Reaktionen A. Vinius’ und A. Kirillovs deutete C. van Klenck als Zustimmung zu seinem Vorschlag, denn er berichtete umgehend an die Generalstaaten, dass das Transitrecht schon so gut wie erteilt sei 108. Am 16. Februar fand eine weitere Verhandlungsrunde statt, in der der Gesandte sein Ansinnen erläuterte. Außerdem reichte er am 17. ein Memorandum über den Persienhandel ein, in welchem er eine Übersicht über die seiner Meinung nach vom Zaren zu erwartenden Einnahmen aus dem Rohseidetransit gab. Unter Zugrundelegung der Zahl von 8000 Ballen pro Jahr, die er dem armenischrussischen Vertrag von 1667 entnommen hatte und als stark untertrieben kennzeichnete, errechnete er zusätzliche jährliche moskauische Zoll- und Wegegeldeinnahmen in Höhe von 237.600 Rubel 109 – das Dreifache der damaligen Zolleinnahmen in Archangel’sk. Weiter führte er darin aus, dass die Freigabe der Strecke Astrachan’ –

104 Vgl. zur Person C. van Klencks Johan E. Elias: De Vroedschap van Amsterdam, 1578–1795. 2 Halbbände. Harlem 1903–1905, S. 564–568 und 622 (hier zitiert nach einem [einbändigen] Reprint, Amsterdam 1963), sowie die Zusätze von Raptschinsky: Gezantschap S. 152–156. 105 M. I. Belov: Rossija i Gollandija v poslednej cˇ etverti XVII v., in: Meždunarodnye svjazi Rossii v XVII–XVIII vv. (ékonomika, politika i kul’tura). Sbornik statej. Moskva 1966, S. 58–83, hier S. 64– 65. 106 Raptschinsky: Gezantschap S. 156–174. 107 Ebenda S. 174–177. 108 Ebenda S. 177–178. 109 C. van Klenck: Memorie aen den doorluchtighsten Grootmaghtighsten Grooten Heer Zaer. Moskau, 17. Februar 1676, bei: Raptschinsky: Bescheiden S. 121–126 (Zahlenangaben S. 123).

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Archangel’sk für den Transithandel mit Waren aus Persien zu einer größeren Attraktivität der Handelsstadt an der Dvina-Mündung führen und eine weitaus größere Zahl westeuropäischer Kaufleute als bisher dorthin ziehen würde 110. Und schließlich bot er die Entsendung niederländischer Handwerker an, die auf dem Kaspischen Meer Schiffe zum Transport von Waren aus Persien bauen sollten 111. Nach weiteren Verhandlungen reichte C. van Klenck dann fünf Tage später ein zweites „Memorandum zur Erläuterung des vorigen wegen des Persischen Handels“ ein, in welchem er vor den negativen Folgen einer allzu detaillierten Regelung des persischmoskauischen Handels warnte. Zu starke Reglementierung, so der Gesandte, könne das rasche Anwachsen des Handelsvolumens und damit der zarischen Zolleinnahmen hemmen, führe zu überhöhten Preisen sowie zu ungerechter Bevorteilung „einiger weniger reicher Leute“. Nach dieser Spitze gegen die gosti wiederholte er seinen eigenen Vorschlag: Bei Erlegung eines relativ hohen Einfuhrzolls in Astrachan’ sollten Seide und andere Waren aus Persien in Moskau und Archangel’sk an einheimische und ausländische Kaufleute gleichermaßen frei verkauft werden dürfen; was an diesen Orten nicht absetzbar sei, solle dann gegen einen relativ niedrigen Ausfuhrzoll über Archangel’sk in die Niederlande exportiert werden können 112. C. van Klencks eindringliche Beschreibung der fiskalischen Vorteile einer Freigabe des Persientransits verfehlte bei A. S. Matveev ihre Wirkung ebensowenig wie die uneingeschränkt positive Antwort des Gesandten auf die ihm am 19. Februar gestellte Frage, ob die Niederlande zum Ankauf sämtlicher im Moskauer Staat mittlerweile angestauten Seidevorräte bereit wären 113. Die moskauische Regierung, in der neben dem beim Zarenwechsel unglücklich taktierenden Kanzler der Bojar M. Ju. Dolgorukij an Einfluss gewann, begann nun, die Sache ernsthaft zu ventilieren. Aus diesem Grund wurden gemäß der bereits 1672/1673 geübten Praxis am 23. Februar 1676 die gosti zu einer Beratung über die Transit-Freigabe zusammengerufen. Wiederum unter Führung von V. Šorin fanden sich 21 hauptstädtische Großkaufleute, darunter auch C. van Klencks Gesprächspartner A. Kirillov, ein, denen zunächst die Verträge von 1667 und 1673, dann die beiden Memoranda des niederländischen Gesandten vom 17. und 22. Februar 1676 vorgelesen wurden. Bezeichnend dabei war, dass von seiten der Regierung neben der fiskalischen auch die außen- und sicherheitspolitische Bedeutung des Themas betont wurde. Die gosti sollten sich daher nicht nur zu den von C. van Klenck prognostizierten moskauischen Mehreinnahmen, sondern auch zu den mutmaßlichen Mindereinnahmen des osmanischen Kriegsgegners äußern 114. Die Angesprochenen jedoch stellten ihrerseits Prognosen auf: Ein aufgrund

110 Ebenda S. 124. 111 Ebenda S. 125. 112 C. van Klenck: Een memorie tot Elucidatie van de vorige weegen den Parssiaenssen handel. Moskau [22. Februar] 1676, ebenda S. 126–129. Vgl. dazu die zeitgenössische russische Übersetzung: Predloženie S. 129–132 (Datumsangabe ebenda S. 129). 113 Raptschinsky: Gezantschap S. 179. 114 Das Protokoll dieser Diskussion ist wiedergegeben bei Lovjagin: Vvedenie S. CXLIX–CLVI, hier S. CL. Dasselbe in: Predloženie S. 132–137.

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eines Transitprivilegs für die Armenier ungehinderter Verkehr zwischen Persien und Westeuropa müsse zwangsläufig zur Verdrängung moskauischer Kaufleute aus dem Handel mit persischen Waren führen. Als ihnen daraufhin von den Bojaren entgegnet wurde, dass einheimische Kaufleute von einem regen Warenverkehr durch den Moskauer Staat hindurch doch nur profitieren könnten, brachten die gosti einen weiteren Einwand vor: „Die überseeischen Ausländer und Armenier und Perser sind reiche Leute und tätigen gewaltige Handelsgeschäfte“, an denen sich zu beteiligen die kapitalarmen gosti keine Chance hätten. Als nächstes erhoben die Bojaren den Vorwurf, die Großkaufleute würden entgegen ihren 1672 gemachten Zusagen die Seidenlieferungen, die der Zar nicht auf eigene Rechnung erwerbe, nicht ankaufen, so dass die armenischen Kaufleute das Moskauer Reich mieden. Dem wurde entgegnet, der von den Armeniern in Moskau geforderte Preis für Rohseide sei im Vergleich zum Ankaufspreis in Persien überhöht. Die Bojaren hielten dieses Argument für stichhaltig und stellten in Aussicht, den Zaren hiervon zu informieren. Aber unabhängig davon erachteten sie eine auf ein bis zwei Jahre begrenzte Freigabe des Transits für nützlich, um während einer solchen Testphase die tatsächlichen Auswirkungen auf die zarischen Einnahmen feststellen zu können. Davon rieten die gosti dringend ab, da ihnen, so ihre Warnung, bereits während eines einzigen Jahres großer Schaden entstünde. Zugleich baten sie darum, C. van Klencks Memoranda einsehen zu können, um eine ausführliche schriftliche Antwort darauf zu geben 115. Damit erklärten sich die Bojaren einverstanden, und am 29. Februar reichten V. Šorin und seine Kollegen ihre Entgegnung ein 116. Unter Berufung auf ihre bereits 1672 in nämlicher Angelegenheit erteilte Antwort argumentierten sie ziemlich holzschnittartig: Wenn armenische und persische Kaufleute Rohseide und andere Waren aus Persien in den Moskauer Staat transportierten und dort mit dem Zaren und russischen Kaufleuten Handel trieben, dann profitierten Zar wie gosti davon; wenn aber dieselben Waren von denselben Kaufleuten innerhalb des Moskauer Staates an Ausländer verkauft oder im Transit verschifft würden, dann erlitten Zar wie gosti finanziellen Schaden 117. Das eigentliche Problem sahen sie darin, dass Schah und Armenische Kompanie sich nicht an den Vertrag von 1673 gehalten hätten, da entgegen der Vereinbarung mitnichten die gesamte persische Rohseideproduktion über Astrachan’ ausgeführt, sondern weiter die Ausfuhrrouten durch das Osmanische Reich sowie über den Persischen Golf favorisiert worden seien. Dieser Punkt, so die gosti, und nicht etwa die Vorschläge C. van Klencks, müsse der Kern einer neuen Abmachung sein, denn die Erlangung des 115 Lovjagin: Vvedenie S. CXLIX–CLVI, hier S. CLVI. 116 Ob-jasnenie, podannoe v Otvetnoj palate Bojaram ot Rossijskich gostej: o vygodach i neudobstvach v torgovle s Armjanami šelkom syrcom, i o sredstvach dlja ograniˇcenija domogatel’stv inostrannogo kupeˇcestva povredit’ družestvennym svjazjam Rossii s Persieju. Moskau, 29. Februar 1676, in: SGGD IV, Dok. Nr. 105, S. 337–342 (im Folgenden: Ob-jasnenie). Das hier angegebene Datum 23. Februar 1676 bezieht sich auf die erwähnte Diskussion. Dass die Antwort erst am 29. Februar 1676 eingereicht wurde, teilt Lovjagin Vvedenie S. CLVI mit. Der Text der in Frage stehenden Entgegnung findet sich auch in: Predloženie S. 137–142. Siehe außerdem ebenda S. 142 die Namen der Unterzeichner des Dokuments. 117 Ob-jasnenie S. 338.

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De-facto-Weltmonopols auf Rohseide brächte Zarenschatz, Staatskasse und Kaufmannschaft gemeinsam weit mehr Gewinn als alle anderen Regelungen. Allerdings erkannten V. Šorin und seine Berufskollegen klar die Schwäche der moskauischen Position: Es gäbe bedauerlicherweise kein Druckmittel, mit dem man armenische Untertanen des Schahs und Westeuropäer zwingen könnte, bei ihren Handelsbeziehungen ausschließlich die über Moskau führende Route zu benutzen 118. Parallell zu den Beratungen zwischen gosti und Regierung hatte C. van Klenck in Moskau intensive Gespräche mit Vertretern der Armenischen Handelskompanie, anderen Kaufleuten aus Persien und dem übrigen Asien sowie am 1. März mit einem inoffiziellen Vertreter des persischen Hofes geführt. Es gelang ihm dabei, von seinen Gesprächspartnern die Zusage zu erwirken, dass persische Rohseide im Falle einer Freigabe des Transits durch den Zaren ausschließlich nach Amsterdam, nicht hingegen nach England oder Hamburg, ausgeführt werden würde 119. Am 6. März 1676 lag C. van Klenck dann die offizielle Antwort auf seinen Persien-Vorstoß vor. Sie enthielt im Wesentlichen eine Wiederholung der Bestimmungen der armenisch-moskauischen Verträge von 1667 und 1673 samt partiellen Erweiterungen: Kaufleute jedweder Nationalität, die Untertanen des Schahs seien, sollten Rohseide nach Astrachan’, Moskau sowie in andere russische Städte bringen und dort an einheimische Kaufleute veräußern dürfen; Ware, die nicht absetzbar wäre, sollte anschließend nach Archangel’sk gebracht und dort zur Messezeit auch an ausländische Käufer verkauft werden können; und ausschließlich Mitgliedern der Armenischen Handelskompanie werde erlaubt, diejenigen Rohseidekontigente, die auch in Archangel’sk keinen Käufer fänden, selbst weiter nach Westeuropa zu exportieren 120. Am folgenden Tag, dem 7. März 1676, teilte A. S. Matveev den in Moskau befindlichen armenischen Kaufleuten die neuen Regelungen für den Transit nach Westeuropa mit 121. Zum selben Zeitpunkt erhielten auch die gosti und die übrigen Untertanen des Zaren Kenntnis von dem entsprechenden Ukas, dessen Titel bereits durch den darin hergestellten außenpolitischen Bezug möglichem Widerspruch vorbeugte: Über die Genehmigung für armenische Kaufleute, mit Rohseide und anderen persischen Waren aus Moskau nach Archangel’sk und Übersee [fahren zu dürfen], damit die armenischen Kaufleute Seiner Majestät des Schahs mit Rohseide und anderen persischen Waren

118 Ebenda S. 339. – Schließlich verwarfen die gosti auch C. van Klencks Angebot, mit niederländischer Hilfe im Kaspischen Meer Schiffe bauen zu lassen, sowie den Vorschlag der Bojaren, eine Transitfreigabe zunächst auf zwei Jahre zu begrenzen (ebenda S. 340). 119 Historisch Verhael S. 161. Vgl. auch die Anmerkung zur russischen Übersetzung, ebenda S. 457– 458, sowie Raptschinsky: Gezantschap S. 180. 120 Vgl. die zeitgenössische niederländische Ubersetzung dieser zweiten russischen Antwort an C. van Klenck vom 6. März 1676 bei: Raptschinsky: Bescheiden S. 130–139, S. 138. 121 Posol’stvo Kunraada fan-Klenka S. 463, Anm. 7. Das bei Bajburtjan: Armjanskaja kolonija Novoj Džul’fy S. 108 genannte Datum 17. Juli 1676 ist falsch.

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aus Persien und Schemacha nicht[länger] gemäß ihrem früheren Brauch durch das Osmanische Reich in die westeuropäischen Staaten reisen. [Hervorhebung von mir – S. T.] 122

C. van Klenck, der ganz offenkundig weitergehende Zugeständnisse erwartet hatte 123, machte stehenden Fußes den Versuch einer Nachbesserung dieses Ergebnisses. Seine Forderung nach Freigabe des Gasthandels nicht nur in Archangel’sk, sondern in allen Städten des Moskauer Staates, wurde indes unter Verweis auf das Neue Handelsstatut abgelehnt 124. Und ebenfalls abschlägig beschieden wurde seine Forderung nach Außerkraftsetzung eben dieses Neuen Handelsstatuts für Niederländer 125. Es war daher nur ein Teilerfolg, den der Gesandte errungen hatte, denn das Recht auf Transit nach Persien für niederländische Kaufleute war nicht einmal angeklungen 126. Es blieb also beim alleinigen Transithandelsrecht für die Armenische Handelskompanie, deren Mitglieder davon umgehend Gebrauch machten. Noch am 7. März, also am selben Tag, an dem der zarische Ukas bekanntgegeben wurde, stellte eine zwölfköpfige Gruppe armenischer Kaufleute um „Jakub Pogosov“ im Gesandtschaftsprikaz den Antrag, vier Ballen Rohseide über Archangel’sk in die Niederlande ausführen zu dürfen. Binnen einiger Wochen wurde dieses Gesuch genehmigt 127. Ebenfalls noch im Frühjahr 1676 stellten auch andere armenische Kaufleute und Kaufmannsgruppen derartige Anträge, so dass den Angaben von N. G. Kukanova

122 „Ob otpuske armjan torgovych ljudej s šelkom-syrcom i inymi persickimi tovarami s Moskvy k Archangels’komu gorodu i za more, i cˇ tob šachova veliˇcestva torgovye ljudi armjane s šelkom-syrcom i inymi persickimi tovarami iz Persidy i iz Šemachi cˇ erez Tureckuju zemlju protiv prežnego svoego obyˇcaja v nemeckie Gosudarstva ne ezdili“ (zitiert nach Bajburtjan: Armjanskaja kolonija Novoj Džul’fy S. 109; Quelle: Central’nyj Gosudarstvennyj Archiv Drevnich Aktov [Moskau], Reestr po armjanskim delam, delo No. 14, 1676, list 2). 123 Vgl. zahlreiche Hinweise hierauf bei Raptschinsky: Gezantschap S. 175–193. 124 Vgl. die am 29. April 1676 erteilte Antwort des Zaren auf eine neuerliche Eingabe C. van Klencks vom 8. März 1676 bei: Raptschinsky: Bescheiden S. 149–162, hier besonders S. 157–159. 125 Ebenda S. 139. 126 Auch muss bezweifelt werden, ob C. van Klencks Mission als Erfolg der Niederlande in ihrem Bestreben, die schwedische Umleitungspolitik zu durchkreuzen und den russischen Außen- und Transithandel allein auf Archangel’sk zu beschränken, gewertet werden kann, wie dies A. S. Lappo-Danilevskij sehr dezidiert getan hat (A. S. Lappo-Danielevskij: Novye perevody i kommentarii donesenij i zapisok Rodesa i Kil’burgera o Rossii, in: Russkij istoriˇceskij žurnal 5 [1918] S. 33–69, hier S. 62–63; Reprint Den Haag, Paris 1971). Denn das von 1677 an Gestalt annehmende Persienprojekt der Stockholmer Handelsdiplomatie erwies sich – nicht zuletzt dank offener und heimlicher Unterstützung durch etliche niederländische Offiziere, Kaufleute und Diplomaten – von 1687 an als erfolgreich. ˇ 127 Vgl. hierzu Celobitnaja Jakuba Pogosova i tovarišˇcej o razrešenij prodavat’ tovary v Moskve, Archangel’ske i v zarubežnych stranach. Rospis’ privezennym tovaram. Moskau, 7. März 1676, in: ARO, Dok. Nr. 40, S. 145–146 (in N. G. Kukanovas Tab. 2 figuriert „Jakub“ bzw. „Egupko Pogosov“ auch als „E. Boguzov“, „Ja. Borosov“ und „Ja. Pogaosov“). Am 30. Mai 1676 machte sich der Ende November 1675 in Moskau eingetroffene Kaufmann mit neun Kompagnons und 1170 Pud Rohseide (ca. 167 Ballen) nach Archangel’sk auf. Vgl. Tab. 2 bei Kukanova: Oˇcerki S. 91. – Zweifellos war „Ja. Pogosov“ einer von C. van Klencks armenisch-persischen Gesprächspartnern in Moskau gewesen.

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zufolge im selben Jahr mehrere hundert Ballen Rohseide in das Weißmeeremporium transportiert und von dort auf niederländischen Schiffen ausgeführt wurden 128. War die Übereinkunft von 1676 für die Niederlande also nur ein partieller Erfolg, so stellte sie für die Armenische Handelskompanie einen Durchbruch dar, der zudem im folgenden Jahr durch die Ausschaltung ihrer schärfsten Konkurrenz auf dem russischen Markt gekrönt wurde: Indische Kaufleute wurden aus Moskau verbannt und ausschließlich auf ihren Astrachaner Handelshof verwiesen 129. Allerdings traten ebenfalls in diesem ersten Jahr auch einige der Nachteile der Weißmeer-Route zutage: Im Zuge des niederländisch-französischen Krieges 1672–1679 nahmen einem späteren Bericht zufolge Dünkirchener Kaperer trotz Sicherung durch niederländische Konvoischiffe „die guten Persianer beim kopp [recte: Topp] undt Declarirten die Seide vor preys [= Prise – S. T.] weilen sie auff dhero Feinde Schiffe wahren gewehsen“. Dabei verlor die Armenische Handelskompanie 400 Ballen Rohseide im geschätzten Wert von 120.000 Rubel. „Dieses“, so hieß es weiter, „tähte den Persianer grosen schaden, wurden auch bange, weiter auff Reuslandt zu Handeln.“ 130 Dennoch hielt, wie aus N. G. Kukanovas statistischem Material erhellt, bis 1688 ein relativ regelmäßiger Export von Rohseide durch die Kompanie nach Archangel’sk an 131. C. van Klenck hat also zum einen erreicht, dass westeuropäische Kaufleute unter Umgehung moskauischer Zwischenhändler in Archangel’sk persische Waren von Armeniern erwerben, zum anderen, dass armenische Kaufleute in bestimmten Fällen mit ihrer Ware via Russland nach Westeuropa reisen konnten. Dass sie dies regelmäßig taten, belegen russische, schwedische und andere zeitgenössische Quellen sehr deutlich. Auch bezüglich des handelspolitischen Ertrages der Klenck-Mission finden sich in der Fachliteratur etliche schiefe bis falsche Urteile. Wie im Fall der Einschätzung des Vertrages von 1673 gehen diese auf die Fehlinterpretation einer einzelnen Textpassage – hier einer Äußerung des russischen Historikers A. M. Lovjagin – zurück. Dieser hatte 1900 in seiner Einleitung der genannten Quellenedition zur niederländischen Gesandtschaft von 1675/1676 auf die seinerzeit schlechte Quellenlage hinsichtlich der ökonomischen Ergebnisse dieser Mission hingewiesen und mit aller gebotenen Vorsicht festgestellt: Daher befinden wir uns – zumindest bis jetzt – im Ungewissen hinsichtlich der Resultate der von Klenck erzielten Erleichterungen, so daß wir auch über keine statistischen Angaben darüber verfügen, wieviel Seide genau von den Armeniern ausgeführt worden ist, welchen

128 Ebenda S. 91–92. 129 Nolte: Religiöse Toleranz S. 53–54. 130 Ludvig Fabritius’s MS. entitled Kurtze Relation von meine drei gethane Reisen. Appendix zu: S[ergei] Konovalov: Ludvig Fabritius’s Account of the Razin Rebellion, in: Oxford Slavonic Papers 6 (1955) S. 72–101, hier S. 96. Die Mengenangabe „ein Kargesun von 400 balen seide“ deckt sich mit den Angaben in Tab. 2 bei Kukanova: Oˇcerki S. 92–93. 131 Ebenda S. 91–95. Und auch danach zwang der Zar zumindest nicht-armenische Untertanen des Schahs, ausschließlich die Weißmeerroute zu benutzen, so etwa 1693 den persischen Gesandten Aga Karim Murat Chan, der 45 Ballen Rohseide via Narva nach Amsterdam ausführen wollte.

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Profit die moskauische Regierung daraus gezogen hat, ob der moskauische Staatsschatz irgendwelche Verluste erlitten hat, ob der Gewinn für Holland groß war usw. 132

Die Lovjaginsche Vorsicht außer Acht ließen zwei niederländische Russlandhistoriker, die 1966 die Behauptung aufstellten, daß C. van Klencks „Pochen auf den niederländischen Handel mit Persern und Armeniern in Archangel’sk [. . . ] schließlich auf nichts hinauslief“ 133. Ins selbe Horn stieß 1976 S. Baron, der bezüglich der 300 Jahre zuvor zustande gekommenen Übereinkunft nur um ein weniges vorsichtiger urteilte, „the agreement’s practical significance appears to have been nil“ 134. Und ebenso pauschal wie unzutreffend äußerte sich 1986 schließlich der in den Niederlanden tätige tschechische Osteuropahistoriker Zdenˇek R. Dittrich, wenn er zum Ausgang der Klenck’schen Mission meinte, „ook hier was her resultat nihil“ 135. Diese Fehlurteile sind um so auffallender, als gerade in der niederländischen Handelsgeschichtsschreibung die angeführten Forschungen von B. Raptschinsky rezipiert worden sind und folglich ihr Nestor J. G. van Dillen in seinem einschlägigen Handbuch aus dem Jahr 1970 zutreffend von einem 1676 in Moskau erzielten „Kompromiß“ in der Frage des Persienhandels gesprochen hat 136. Denn ein Kompromiss war es, hatte doch C. van Klenck kein niederländisches Rohseide-Monopol, geschweige denn ein Transitprivileg für niederländische Persienkaufleute, erwirkt. Welch großen Wert die moskauische Führung gerade auf merkantile Konkurrenz der den Außenhandel des Landes im Allgemeinen und den Transithandel mit Persien im besonderen besorgenden ausländischen Kaufleute und Kaufmannsgruppen legte, zeigte ein Brief des neuen Zaren Fedor Alekseeviˇc nach London vom 20. April 1676. Zum einen teilte er Charles II. hierin mit, dass armenische Kaufleute künftig persische Rohseide zur Messe nach Archangel’sk bringen dürften, zum anderen forderte er ihn auf, diese Nachricht der englischen Kaufmannschaft zukommen zu lassen und diese zum Einstieg in das Seidegeschäft zu

132 Lovjagin: Vvedenie S. CLVI. 133 Th. J. G. Locher, Piet De Buck: Inleiding, in: Nicolaas Witsen: Moscovische Reyse 1664–1665. Journaal en aentekeningen. Uitg. door Th. J. G. Locher en P. De Buck. Band 1: Journaal. Eerste gedeelte. ’s-Gravenhage 1966, S. XIX–LXXV, hier S. XLIII (= Werken uitgegeven door de Linschotenvereeniging Band 66). 134 Baron: Vasilii Shorin S. 532. Bereits 1967 hatte derselbe Autor hinsichtlich des armenisch vermittelten persischen Transithandels via Moskau die Ansicht geäußert, „this enterprise soon foundered“, die er noch 1983 bekräftigte: „The great expectations [. . . ] proved illusionary“. Vgl. Samuel H Baron: Introduction, in: The Travels of Olearius in Seventeenth Century Russia. Transl. and ed. by Samuel H. Baron. Stanford, CA 1967, S. 1–30, hier S. 11, und Ders.: Entrepreneurs and Entrepreneurship in Sixteenth /Seventeenth Century Russia, in: Entrepreneurship in Imperial Russia and the Soviet Union. Ed. by Gregory Guroff & Fred V. Carstensen. Princeton, NJ 1983, S. 27–58, hier S. 35. 135 Zdenek R. Dittrich: Illusies, misverstanden, wanklanken. De Republiek en Moskovië in de zeventiende eeuw, in: Rusland in nederlandse ogen. Een bundel opstellen. Amsterdam 1986, S. 33–50, hier S. 49. 136 J. G. Van Dillen: Van Rijkdom en Regenten. Handboek tot de economische en sociale geschiedenis van Nederland tijdens de Republiek. ’s-Gravenhage 1970, S. 347.

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ermuntern 137. Wie im Außenhandel des eigenen Reiches vermied der Zar also auch im persischen Transithandel einseitige Abhängigkeiten. *** 1983 hat Samuel H. Baron betont, dass nicht nur der moskauische Außenhandel mit Europa passiver Art gewesen war, sondern ebenso derjenige mit Asien: „Armenian [. . . ] merchants performed the role of middlemen between Russia and the Orient much as the Dutch, English, and German merchants did between Russia and the West.“ 138 Die niederländisch vermittelte Übereinkunft zwischen Zar und Armenischer Handelskompanie von 1676 demonstrierte aber nicht nur einmal mehr dieses doppelte Abhängigkeitsverhältnis, sondern machte darüber hinaus eine noch weitaus gravierendere Schwäche moskauischer Handelspolitik und russischen merkantilen Potentials deutlich: Die mit dem Handel befassten einheimischen Agenturen – gosti und andere Fernkaufleute, „Binnenkaufleute“ und Zar – waren angesichts des steigenden Aufkommens persischer Waren nicht einmal zur Vermittlung zwischen Westeuropäern und Orientalen auf eigenem Boden in der Lage. Die Mitglieder der Armenischen Handelskompanie waren daher nicht bloß „Mittelsmänner zwischen Rußland und dem Orient“, um S. Barons Ausdruck aufzugreifen, sondern fungierten von 1676 an sowohl innerhalb des Moskauer Staates als Vermittler zwischen den persischen Produzenten und den westeuropäischen Russlandkaufleuten als auch im Transithandel als direkte Verbindung zu den Konsumenten Westeuropas 139. Dabei waren sie durchaus effektiv, und so wurde nach dem diplomatischen Teilerfolg C. van Klencks die Route Isfahan-Moskau-Amsterdam zu einem kontinuierlich benutzten Fernhandelsweg zunächst zweiter Ordnung, im 18. Jahrhundert zeitweilig gar zur Hauptausfuhrroute für persische Rohseide 140. Anfänglich gingen persische Waren via Moskau über Archangel’sk und die Weißmeer-Route nach Amsterdam, ab 1687 dann fast ausschließlich über Narva, wobei nun auch Lübeck als Absatzmarkt an Bedeutung gewann 141. Im Durchschnitt sind bis zum Beginn des großen Nordischen Krieges jährlich ca. 400 Ballen Rohseide bzw um die 5 % des persischen Seideexportes auf diesem Weg nach Westeuropa gelangt 142 . Auf dem Rückweg führten die armenischen Kaufleute preiswerte niederländische Textilien, schwedische

137 Fedor Alekseeviˇc-Charles II. Moskau, 20. April 1676. Englische Übersetzung in: Public Record Office (London), State Papers, Foreign: Russia (S. P. 91), vol. 3: 1634–1680, fol. 208–209. Zum russischen Wortlaut dieses Briefes (mit der Datumsangabe 25. April) vgl. Lovjagin: Vvedenie S. XCIII–XCIV. Ein Zarenbrief analogen Inhalts ging auch nach Hamburg. Vgl. Raptschinsky: Gezantschap S. 182–183. Beide Briefe wurden C. van Klenck am 13. Mai 1676 zugänglich gemacht. Vgl. ebenda S. 193, und Posol’stvo Kunraada fan-Klenka S. 508, Anm. 11. 138 Baron: Entrepreneurs S. 34. 139 Dass S. Baron diese wesentlich weiterreichende Mittlerfunktion der Armenier nicht nennt, geht auf seine zitierte Unterschätzung der Ergebnisse der armenisch-moskauischen Verhandlungen 1667– 1673 zurück. 140 Vgl. Sartor: Die Wolga als internationaler Handelsweg. 141 Ebenda. 142 Vgl. Tab. 2 bei Kukanova: Oˇcerki S. 91–99.

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Buntmetalle sowie russische Retourwaren nach Persien. Dem Moskauer Staat brachte dieser Warenverkehr jährlich 2000–3000 Rubel an Zoll- und Wegegeldzahlungen ein 143, was indes lediglich 3–4 % der damaligen Archangel’sker Zolleinnahmen entsprach 144. Im Ergebnis sind es daher weniger die konkreten wirtschaftlichen und fiskalischen Resultate, die den Stellenwert des moskauischen Transitprivilegs für die Armenische Handelskompanie ausmachen, sondern eher dessen verkehrs- und handelspolitische Wirkungen. Denn die Erteilung dieses Vorrechts zeigt, dass „der Durchbruch der Neuzeit unter Fedor und Sof’ja“ (Hans-Joachim Torke 145) auch und gerade durch eine Wende in der Außenhandelspolitik des Moskauer Staates markiert wurde: Während am Beginn dieser unmittelbar prä-petrinischen Periode 1676–1689 die Revision moskauischer Transitpolitik steht, erfolgte gegen deren Ende hin 1687 eine partielle, aber nicht minder spektakuläre Revision der Handelsverkehrspolitik. Dem über ein Jahrhundert lang anhaltenden schwedischen Drängen nach Verlegung des moskauischen Außenhandels von der Weißmeer- auf die Ostseeroute wurde nun insofern entsprochen, als der mittlerweile in Gang gekommene persische Transithandel mit dirigistischen Mitteln dorthin, nach Narva, verlegt wurde 146. Eine mittelbare Folge hiervon war, dass etwa vom selben Zeitpunkt an auch die moskauische Ausfuhr über Narva steil anstieg, der armenisch vermittelte Transithandel hier also als Wegbereiter für den moskauischen Außenhandel fungierte. Nach einer neuerlichen kriegsbedingten, aber kurzen Umleitung nach Archangel’sk in den Jahren 1701–1711 stieg die Bedeutung der Transithandelsroute vom Orient zur Ostsee weiter an. In Peters I. ambitiösem Plan, Russland – und hier vor allem die Hauptstadtneugründung St. Petersburg – „zum Mittler des Handels zwischen Asien und Europa zu erheben“ (W. Mediger 147), spielte der persische Transithandel eine zentrale Rolle. Eine erheblich intensivierte Zusammenarbeit mit der Armenischen Handelskompanie und dem Schah sowie schließlich der nur kurzfristig erfolgreiche Versuch einer Eroberung der nordpersischen Seidenprovinzen belegen dies 148. Der Feldzug von 1722/1723 stellte so gesehen zwar einen politischen Höhepunkt, aber mitnichten den merkantilen 143 Ebenda S. 52–53. 144 Im Zeitraum 1676–1699 waren diese auffallend konstant und betrugen durchschnittlich 75.000 Rubel pro Jahr. Vgl. Spisok s 1763 goda k Archangel’skomu gorodu bylo v prichode karablej i v tamožne u pošlinnogo zboru kto byli služiteli i kakogo zvanija i kto imjany i cˇ to v kotorom godu v zbore bylo, in: Archiv Sankt-Peterburgskogo Instituta istorii Akademii nauk Rossii (früher: Archiv Leningradskogo otdelenija Instituta istorii SSSR Akademii nauk SSSR), fond 36: Voroncovy, op. 1, delo 566, listy 125–128 (D-r Nikolaj N. Repin von der Universität Omsk sei für eine Abschrift dieses Dokuments gedankt). 145 Hans-Joachim Torke: Der Durchbruch der Neuzeit unter Fedor und Sof’ja (1676 bis 1689), in: HGR 2/I, S. 152–182. 146 Vgl. hierzu Troebst: Narva und der Außenhandel Persiens. 147 Mediger: Mecklenburg, Textband S. 460. 148 Ebenda S. 172–174. Vgl. auch die Übersicht bei Aristide Fenster: (in Zusammenarbeit mit Fikret Adanır und Michael G. Müller) Rußland und Asien 1689–1725, in: HGR 2/I, S. 363–369, sowie zuletzt die Edition: Poslannik Petra I na Vostoke. Posol’stvo Florio Beneveni v Persiju i Bucharu v 1718–41725 godach. Red. V. G. Volovnikova [et al.]. Moskva 1986.

Isfahan – Moskau – Amsterdam

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Schlusspunkt dar: Denn nicht nur blieb Russland bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ein wichtiges Transitland für den persischen Export, sondern nun wurde ein beträchtlicher Prozentsatz der Rohseideausfuhr – ca. 20 %, in Spitzenjahren wie 1744 bis zu 42 % 149 – über Astrachan’ und durch das Zarenreich hindurch geführt. Nicht zuletzt deswegen ist also die in der Literatur mehrheitlich vertretene Ansicht einer weitgehenden Folgenlosigkeit der beiden ersten armenisch-moskauischen Übereinkünfte zu revidieren. Denn zum einen wurde der Armenischen Handelskompanie in dem vorstehend beschriebenen dreistufigen Entscheidungsprozess von 1667 über 1673 bis 1676 sehr wohl das Transitrecht gewährt; zum anderen aber hatte diese Gewährung auch ganz konkrete Folgen: Zunächst kam unter armenischer Vermittlung ein begrenzter Fernhandel mit persischer Rohseide durch den Moskauer Staat hindurch in die Niederlande in Gang, was dann mittel- und langfristig eine neue und periodisch erstrangige Ost-West-Handelsroute entstehen ließ.

149 Sartor: Die Wolga als internationaler Handelsweg.

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Russland als „Magazin der Handlung zwischen Asien und Europa“? Die Frage des Orienthandels bei der schwedischen Moskaugesandtschaft 1673/1674

[2001] Unter den zahlreichen Gesandtschaften der Großmacht Schweden-Finnland zum Zaren besitzt diejenige von 1673/1674 regelrechte Berühmtheit, sind doch zwei zentrale Quellen zur Kenntnis des Moskauer Staates unmittelbares Produkt dieser diplomatischen Mission. Dies sind zum einen Johann Philip Kilburgers vielzitierte Mercatura Ruthenica Oder Kurtzer Unterricht Von den Reußischen Commercien 1, zum anderen „Schwedens schönster Diplomatenbericht“ (Kari Tarkiainen 2), nämlich Erik Palmquists Någre /. . . / Observationer öfwer Ryßland. 3 So bekannt diese von Reichsrat Graf Gustav Oxenstierna geleitete bevollmächtigte Großgesandtschaft somit auch ist, so unbekannt sind doch zu großen Teilen Ziele, Verlauf, Resultate und Folgen der Mission. Dies deshalb, weil sie in die „Fahlborg-Zernack-Lücke“ fällt, die in der internationalen Forschungsliteratur zu den schwedisch-moskauischen Beziehungen im 17. Jahrhundert zwischen den Jahren 1672 und 1675 klafft. 4 Eine aus den Quellen gearbeitete Darstellung samt Analyse der langen Planungsphase dieser Gesandtschaft, der Instruktion und der Weisungen des Königs an die Gesandten, des überaus zähen Verhandlungsverlaufs samt abruptem Abbruch sowie der vielfälti-

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[Kilburger, Johann Philipp:] Mercatura Ruthenica Oder Kurtzer Unterricht Von den Reußischen Commercien, Wie Selbige mit Auß= und Eingehenden Wahren A.o 1674 durch gantz Moscovien getrieben worden. O. O., o. D. In: Riksarkiv, Stockholm [im Folgenden: RAS], Manuskriptsamlingen, vol. 78. Zu einer gekürzten veröffentlichten Version s. Kilburger, Johann Philipp: Kurtzer Unterricht von dem Rußischen Handel, wie selbiger mit aus= und eingehenden Waaren 1674 durch ganz Rußland getrieben worden. In: Magazin für die neue Historie und Geographie 3 (1769), S. 243–342. Tarkiainen, Kari: Stormaktstidens vackraste diplomatrapport. Erik Palmquists Rysslandsbeskrivning 1674. ln: Källor till den svenska historien. Årsbok för Riksarkivet och Landsarkivet 1993. Stockholm 1993, S. 73–78. [Palmquist, Erik:] Någre widh Sidste Kongl: Ambassaden till Tzaren i Muskou giorde Observationer öfwer Ryßlandh, des Wägar, Paß medh Fästningar och Gräntzer, Sammandragne Aff Erich Palmquist Anno 1674. O. O. [Stockholm] 1674. In: RAS, Kartor och ritningar utan känd prov. N:o 636. Dass. als photolitographischer Nachdruck herausgegeben von Karl Sandgren und Axel Lagrelius (Stockholm 1898). Vgl. hierzu Fahlborg, Birger: Sveriges yttre politik 1660–1664. Stockholm 1932; Ders.: Sveriges yttre politik 1664–1668. 2 Bde. Stockholm 1949; Ders.: Sveriges yttre politik 1668–1672. 2 Bde., Stockholm 1961; und Zernack, Klaus: Studien zu den schwedisch-russischen Beziehungen in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts. Teil I: Die diplomatischen Beziehungen zwischen Schweden und Moskau von 1675 bis 1689. Gießen 1958.

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gen Aktivitäten, welche die 44 Gesandtschaftsmitglieder und ihre 116 schwedischen Bediensteten in der Hauptstadt des Zarenreiches entfalteten 5, würde eine eigene Monographie erfordern. Und selbst die Untersuchung der handelspolitischen Agenda dieser Mission, nämlich der neuerliche Versuch Stockholms, den Stapel des russischen Außenhandels von Archangel’sk am Weißen Meer in die schwedischen Hafenstädte Nyen, Narva, Reval oder Riga zu verlegen bzw. – so der Quellenterminus: – zu „derivieren“, sprengt den Rahmen eines Aufsatzes. Im Folgenden soll daher der Schwerpunkt auf der schwedischen Orienthandelspolitik und ihrem Russlandfokus liegen – zwei zentrale Punkte in der Instruktion König Karls XI. an Graf Oxenstierna und seine Gesandtenkollegen Hans Heinrich von Tiesenhausen und Gotthard Johan von Budberg, deren konkrete Umsetzung einem eigens ernannten handelspolitischen Berater der Gesandtschaft oblag. Da der Nestor der russland- und persienbezogenen „Wirtschaftwissenschaft“ in Schweden, der Revaler Statthalter Philip Crusius von Krusenstiern, zwar weiterhin Expertisen produzierte 6, aber aufgrund seines hohen Alters nicht mehr reisefähig war, wurde der Stockholmer Großkaufmann, Industrielle, Reeder und Bankier Jochim Pötter Lillienhoff mit dieser Funktion betraut. 7 Zugleich wurde Lillienhoff zum Assessor im Kommerzkollegium ernannt und erhielt den Titel eines „Russlandgesandtschaftskommerzienrat“ verliehen. 8 Einem ungewöhnlichen Glücksfall ist es zu verdanken, dass nicht nur die offiziellen Berichte, Denkschriften und Expertisen, die Lillienhoff während und im Umfeld der Gesandtschaft verfasst hat 9, sondern auch seine Konzepte sowie Teile seiner von Russland aus geführten kaufmännischen Korrespondenz in schwedische Archive gelangt sind. 10 Das Interesse der frühneuzeitlichen Großmacht Schweden-Finnland an der „Derivation“ des Russlandhandels von der Nordkaproute in die Ostsee, das seit der Mitte des 16. Jahrhunderts die Moskaupolitik Stockholms bestimmte, besaß durchgängig auch eine persische Komponente. Denn ebenso wie man schwedischerseits eine 5

Zu einem Überblick vgl. Forsten, G. V.: Snošenija Švecii i Rossii vo vtoroj polovine XVII veka (1648–1700). Žurnal Ministerstva Narodnogo Prosvešˇcenija 328 (1899), ijun’, S. 277–339, hier S. 286–308. 6 Krusenstjern, Benigna von: Philip Crusius von Krusenstiern (1597–1676). Sein Wirken in Livland als Rußlandkenner, Diplomat und Landespolitiker. Marburg /L. 1976, S. 81. 7 Zu seiner Person s. Högberg, Staffan: Lillienhoff, Joachim. In: Svenskt biografiskt leksikon 23 (1980–1981), S. 127–129; und Rosevaere, Henry: Markets and Merchants of the Late Seventeenth Century: The Marescoe-David Letters, 1668–1680. Oxford 1987, S. 27–34. 8 Vgl. Karls XI. Ernennungsschreiben vom 28. Juni 1673 in: RAS, Riksregistratur 1673 (Juni), Bll. 297 und 313. 9 S. die Mappe „Kommercierådet på ambassaden till Ryssland 1674 Jochim Pötter Lillienhoff“. In: RAS, Kommerskollegium. Huvudarkivet. Inkomna handlingar. Skrivelser från konsuler och minister. a) Skrivelser från svenska (svensk-norska) konsuler (E VI a), vol. 345. 10 S. das umfangreiche Konvolut „Åtskillige Papper Ryske Handeln angående, mäst papper effter J. Lillienhoff som han Med sig i Musco hafft. 1673 och 1674“. In: Uppsala universitets bibliotek. Handskriftsavdelning [im Folgenden: UUB]. Nordinska samlingen, vol. 438, f. 194–359. Zum schriftlichen Nachlaß s. auch Hedar, Samuel: Enskilda archiv under karolinska enväldet. Stockholm 1935, S. 261–265.

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fiskalische Abschöpfung der Warenströme zwischen dem Zarenreich und den nordwesteuropäischen Handelsstaaten Niederlande und England anstrebte, hoffte man auch, den Rohseidehandel Persiens auf der Russlandroute nach Amsterdam in eigene Häfen zu ziehen und dort mit Zöllen belegen zu können. Bis zur schrittweise erfolgten Freigabe der Kaspi-Volga-Weißmeerroute in die Niederlande durch Zar Aleksej Michajloviˇc in den Jahren 1667, 1673 und 1676, im Jahr 1687 dann auch der Kaspi-Volga-Ostseeroute dorthin durch Kanzler V. V. Golicyn 11, schlug sich das schwedische Persienhandelsinteresse kaum in Form tatsächlicher Warengeschäfte in der Handelsstatistik nieder. Dies war erst in den neunziger Jahren des 17. Jahrhunderts der Fall, als bis zu 7 % der jährlichen persischen Rohseideausfuhr nach Westeuropa über den schwedischen Hafen Narva verschifft wurden. 12 Durchgeführt wurden diese Warentransaktionen von der im Vorort Neu-Julpha der Safavidenhauptstadt Isfahan ansässigen Armenischen Handelskompagnie, welche 1618 vom Schah das Ausfuhrmonopol für den persischen Exportschlager Rohseide erhalten hatte. 13 Die schwedische Außenhandelsdiplomatie musste also ein Spiel mit mindestens drei Bällen beherrschen: Sie musste sich mit dem Schah ins Benehmen setzen, mit den Armeniern handelseinig werden sowie die Transitgenehmigung des Zaren für die Route Moskau-Novgorod-Narva sichern.

1. Die handels- und verkehrspolitischen Zielsetzungen der schwedischen Moskaugesandtschaft 1672 wurde mit Karl XI. ein schwedischer König für volljährig erklärt, der sich binnen kurzem zu einem energischen sowie nachhaltigen Verfechter einer Handelsverbindung mit dem Safavidenreich entwickelte. 14 In den ersten Jahren seiner Herrschaft war dieses Interesse das Resultat der Persienhandelspläne von Reichskanzler Magnus Gabriel De la Gardie, der von 1664 an eine partielle Verlagerung

11 Vgl. Troebst, Stefan: Handelskontrolle – „Derivation“ – Eindämmung. Schwedische Moskaupolitik 1617–1661. Wiesbaden 1997, S. 167–203, 369–391, 459–460 und 486–490; ders.: Isfahan – Moskau – Amsterdam: Zur Entstehungsgeschichte des moskauischen Transitprivilegs für die Armenische Handelskompanie in Persien (1666–1676). In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 41 (1993). S. 180–209 [und im vorliegenden Band]; und ders.: Die Kaspi-Volga-Ostsee-Route in dem Handelskontrollpolitik Karls XI. Die schwedischen Persien-Missionen von Ludvig Fabritius 1679–1700. In: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 54 (1998), S. 127–204. 12 S. Tab. Transithandel mit persischer Rohseide über Narva 1683–1697. Ebd., S. 175 13 Zum Forschungsstand vgl. Aghassian, Michel, Kéram Kévonian: The Armenian Merchant Network: Overall Autonomy and Local Integration. In: Merchants, Compagnies and Trade. Europe and Asia in the Early Modern Era. Hrsg. Chaudhury, Sushil, Michel Morineau. Cambridge 1999, S. 74–94; und Matthee, Rudolph P.:The Politics of Trade in Safavid Iran. Silk for Silver, 1600–1730. Cambridge 1999. 14 Zu Person und Politik vgl. Dahlgren, Stellan: Karl XI. In: Florén, Anders, Stellan Dahlgren, Jan Lindegren: Kungar och krigare. Tre essäer om Karl X Gustavus, Karl XI och Karl XII. Stockholm 1992, S. 81–148 und S. 234; und Upton, Anthony F.: Charles XI and Swedish Absolutism. Cambridge 1998.

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des Schwerpunkts weg vom russischen Außenhandel und hin zum russischen Transithandel mit dem Krim-Khanat, Persien und Indien ins Werk zu setzen trachtete. 15 Über vorbereitende diplomatische, propagandistische und administrative Schritte war dieses Vorhaben indes nie hinaus gekommen. Mit dem Perspektivwechsel zarischer Außenpolitik, wie er 1670 durch den Übergang vom anti-schwedisch gesinnten A. L. Ordin-Našˇcokin zur anti-osmanisch orientierten und als pro-schwedisch geltenden A. S. Matveev im Kanzleramt personifiziert wurde, sah man in Stockholm dann günstige Chancen für einen neuerlichen Vorstoß zur Verbesserung der bilateralen Beziehungen auf allen Ebenen. Noch im Jahr seiner Volljährigkeitserklärung verfügte Karl XI. daher die Entsendung einer Großgesandtschaft nach Moskau. Schweden wollte den Zaren zu einem universalen Bündnisvertrag bewegen, der indirekt gegen die antifranzösischen Koalitionsmächte Niederlande und Dänemark-Norwegen gerichtet war. Hinzu kamen die Erneuerung des Kardis-Friedens von 1661, die durch die Volljährigkeitserklärung Karls XI. erforderlich geworden war, sowie eine Reihe von strittigen Punkten, die sich aus eben diesem Vertrag ergaben. 16 Auf der informellen Tagesordnung ganz oben standen überdies handelspolitische Ziele, vor allem das „Derivationsprogramm“. Die Details hierzu sollte das Kommerzkollegium anhand grober Vorgaben des Königs ausarbeiten. Das Streben nach Umlenkung des russischen Außenhandels bildete dabei den Rahmen, die Frage des Persien-Transits einen der zentralen Punkte. Am 28. Oktober 1672 forderte die Krone das Kollegium auf, zum Zwecke der Abfassung der Instruktion für die Gesandten Uns ihren Vorschlag darüber mitzuteilen, auf welche Weise [. . . ] zu erreichen ist, daß die Archangel’sk-Fahrt hierher in die Ostsee deriviert werden kann und daß Unseren Untertanen freigegeben werde, entweder an allen oder an den vornehmsten [russischen] Handelsplätzen, insonderheit in Astrachan’, mit allen Fremden und Persern Handel zu treiben [. . . ]. 17

Dieser Aufforderung kamen Kommerzkollegiumspräsident Knut Kurck und seine Mitarbeiter Ende April 1673 nach. Sie rieten dazu, die russische Seite auf die bereits geschlossenen bilateralen Verträge festzulegen: Der Paragraph 10 des KardisVertrages, der schwedischen Untertanen „freien und unbehinderten Handel“ im gesamten Moskauer Staat gestattete, beziehe sich selbstredend auch auf die Volga und auf Astrachan’. 18 Diese Ansicht machte sich der König im Paragraph 37 sei-

15 Fahlborg: Sveriges yttre politik 1664–1668. Bd. 1. S. 551. 16 Zernack: Studien zu den schwedisch-russischen Beziehungen, S. 54–55. 17 Karl XI.-Kommerskollegium. Stockholm, 28. Oktober 1672. In: RAS, Kommerskollegium. Huvudarkivet. Inkomna handligar. Kungliga brev och remisser. Huvudserie (E I a), vol. 3, f. 553. 18 Kommmerzkollegium-Karl XI. Stockholm, 29. April 1673. In: Ekonomiska förbindelser mellan Sverige och Ryssland under 1600 – talet. Dokument ur svenska arkiv. Red. Artur Attman et al. Stockholm 1978 [im Folgenden: EFSR], Dok. Nr. 35, S. 189–191, hier S. 190 (nach einer Abschrift in: RAS, Handel och sjöfart, vol. A 15).

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ner umfangreichen Instruktion an die Gesandten vom 28. Juni 1673 zu eigen. 19 Sie sollten klarstellen, dass das Neue Handelsstatut (Novotorgovyj ustav), das der Zar 1667 erlassen hatte, samt dem darin enthaltenen Verbot der Einreise ausländischer Kaufleute in den Moskauer Staat gemäß Kardis-Frieden für schwedische Untertanen nicht gelten könne. Vielmehr sei diesen im gesamten Staatsgebiet und namentlich in 15 Städten, darunter Astrachan’ und Terskij gorod am Kaspischen Meer, Reiseund Handelsfreiheit zuzugestehen. 20 Zudem enthielt die Instruktion einen weiteren Paragraphen zum Persien-Handel (§ 39), der über die knappen Empfehlungen des Kommerzkollegiums deutlich hinausging: Als Gegenleistung für das schwedischen Kaufleuten vom Zaren zu erteilende Recht des Transithandels nach Persien „und die anderen an des Zaren Gebiet angrenzenden fremden Länder“ sollte russischen Kaufleuten „erlaubt werden [. . . ] durch K[önigliche] M[ajestä]ts Deutsche Provinzen Pommern und Bremen mit ihren Waren ein- und auszureisen, nach und von Holland, Frankreich, England, Deutschland und andere angrenzende Länder und Nationen“. 21 Damit gestand Schweden der russischen Seite nicht nur zu, über die eigenen transbaltischen Häfen mit den übrigen Ostseeanrainern in Handelbeziehungen zu treten, sondern weitete den Kreis der potentiellen russischen Handelspartner auf alle europäischen Staaten aus. Bezeichnend ist allerdings die Verfügung, dass diese neuen Handelsverbindungen nicht direkt von Nyen, Narva, Reval und Riga, sondern über den Umweg über die schwedischen Besitzungen Vorpommern, Wismar und Bremen-Verden zu unterhalten wären. Dies bot zum einen die Möglichkeit, auch in den Reichsterritorien Zölle zu erheben, zum anderen die, diesen Territorien zusätzliche ökonomische Stimuli zu verschaffen. Die praktisch-politische Umsetzung des skizzierten Tauschgeschäftes verlief jedoch alles andere als glatt. Obwohl Stockholm bereits im Februar 1673 die Ankunft der Oxenstiernaschen Gesandtschaft avisiert hatte, konnte diese sich gravierender finanzieller Probleme wegen erst am 21. August 1673 auf den Weg über die Ostsee machen. Am 18. November 1673 erreichte man die russische Grenze und zog am 31. Dezember in Moskau ein. Die für den 2. Januar 1674 geplante Begrüßungsaudienz bei Aleksej Michajloviˇc kam nicht zustande, da die russische Seite forderte, dass die Gesandten ohne Kopfbedeckungen vor den Zar treten sollten, wohingegen diese in einer aus ihrer Sicht so gravierenden Änderung des Zeremoniells erst ihren König konsultieren wollten. Am 19. März traf Karls XI. zustimmende Antwort ein, so dass die Audienz am 30. März stattfinden und am 2. April schließlich die

19 Instruktion Karls XI. für die Gesandten Gustav Oxenstierna, Hans Heinrich von Tiesenhausen, Gotthard Johan von Budberg und Jonas Klingstedt. Stockholm, 28. Juni 1673. In: RAS, Diplomatica Muscovitica, vol. 90. Gedruckt nach einer Abschrift in RAS, Handel och sjöfart, vol. A 15, in: EFSR, Dok. Nr. 36, S. 192–198. 20 Ebd., S. 194. 21 Ebd., S. 194–195.

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Verhandlungen beginnen konnten. 22 Geführt wurden diese moskauischerseits von Fürst Ju. A. Dolgorukij, seinem Sohn M. Ju. Dolgorukij, und Kanzler Matveev. 23 Gleich zu Beginn erwies sich, dass der Zar in keiner Weise geneigt war, der schwedisch-französischen Koalition gegen die Niederlande und Dänemark-Norwegen beizutreten, sondern lediglich an Unterstützung gegen die im Süden Polen-Litauens vordringenden Osmanen und Krimtataren interessiert war. Daraufhin schlugen die schwedischen Gesandten vor, Bündnisfragen ganz auszuklammern und allein die strittigen Punkte der existierenden bilateralen Verträge zu behandeln, darunter auch handelspolitische. 24 Am 11. April überreichte Graf Oxenstierna ein entsprechendes Memorandum zur Handelspolitik, in welchem unter Berufung auf die Kardisund Pljussa-Vertragsschlüsse von 1661 und 1666 für schwedische Kaufleute das Recht, auch Kazan’ und Astrachan’ zum Zwecke von Handelsgeschäften aufsuchen zu können, geltend gemacht wurde. 25 Die russische Antwortschrift vom 30. April, die hauptsächlich aus Gegenforderungen und Beschwerden bestand, ging auf diesen speziellen Punkt gar nicht erst ein. 26 Endgültig näherten sich die Verhandlungen ihrem Scheitern als die zarischen Unterhändler zur Wiedergutmachung von Titularund Zeremoniellverfehlungen, die sich die schwedische Seite in der Vergangenheit zuschulden habe kommen lassen, die Abtretung Ingermanlands und des karelischen Läns Kexholms forderten. Zwar kam es am 16. Juni zu einer Diskussion zwischen Graf Oxenstierna und Fürst Dolgorukij über Handels- und Zollfragen, doch wurde den schwedischen Gesandten bereits am 18. Juni der Abbruch der Verhandlungen mitgeteilt. 27 Die Frage des Persien-Transits und die besagte schwedische Konzession an russische Kaufleute kamen gar nicht erst zur Sprache: „Aufgrund der [. . . ] Dickköpfigkeit der Russen“, so die Gesandten selbigentags an Karl XI., „ist es uns dieses Mal nicht gelungen, [der russischen Seite gegenüber] eine Bemerkung über den Persien- und Archangel’sk-Handel anzubringen“. 28 Am Folgetag fand die Abschiedsaudienz für die Gesandten bei Aleksej Michajloviˇc statt, und weitere vier Tage später mussten Graf Oxenstierna und sein Tross die Rückreise antreten. 29

22 Kurc, Boris G.: Izsledovanie o Kil’burgera i ego soˇcinenii o russkoj torgovle tret’ej cˇ etverti XVII veka. In: Ders.: Soˇcinenie Kil’burgera o russkoj torgovle v carstvovanie Alekseja Michajloviˇca. Kiev 1915, S. 1–83, hier S. 2–3. 23 Forsten, G. V.: Snošenija Švecii i Rossii, S. 296–297. 24 Zernack: Studien zu den schwedisch-russischen Beziehungen, S. 55. 25 Memorandum der schwedischen Gesandten zur Handelspolitik. Moskau, 11. April 1674. Auszug in ˙ russ. Übers. in: Ekonomiˇ ceskie svjazi meždu Rossiju i Švecii v XVII v. Dokumenty iz sovetskich ˙ archivov. Moskva 1978 [im Folgenden: ESRŠ], Dok. Nr. 85/I, S. 124–139, hier S. 135. 26 Vgl. die beiden Auszüge in: Russko-švedskie e˙ konomiˇceskie otnošenija v XVII veke. Sbornik ˙ dokumentov. Red. M. P. Vjatkin, I. N. Firsov. Moskva, Leningrad 1960 (im Folgenden: RŠEO], ˙ Dok. Nr. 213, S. 346–354, und ESRŠ, Dok. Nr. 86/I, S. 139–145. 27 Gesandte-Karl XI. Moskau, 16. Juni 1674. In: RAS, Diplomatica Muscovitica, vol. 88; GesandteKarl XI. Mšaga, 16. Juli 1674. Ebd. 28 Gesandte-Karl XI. Moskau, 18. Juni 1674. Ebd. 29 Forsten, G. V.: Snošenia Švevii i Rosii, S. 307.

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2. Handelspolitische Konzepte und merkantile Phantasie: Lillienhoff in Moskau (Dezember 1673 – Juni 1674) Das Ergebnis der Gesandtschaft stand also in krassem Missverhältnis zu den Erwartungen, die schwedischerseits auf diese Mission gesetzt worden waren und die sich im Winter 1673/1674 noch verstärkten, als Karl XI. erfuhr, dass in der Zarenstadt „ein großer Persischer Kaufmann in der Eigenschaft eines Ambassadeurs“ eingetroffen war. 30 Gemeint war der Gesandte des Schahs Grigoris Lusikjan (russ. Grigorij Lusikov), der zugleich führendes Mitglied der Armenischen Handelskompagnie Isfahans war und der am 7. Februar 1673 den zweiten armenisch-moskauischen Vertrag über Transithandel geschlossen hatte. 31 Nach erfolgreicher Durchführung des Persien-Punktes in der Instruktion, so der König am 9. Dezember 1673 an Graf Oxenstierna, sollte dieser umgehend mit Lusikjan in Verbindung treten und die Aufnahme direkter Handelsbeziehungen vereinbaren. Dadurch möglicherweise hervorgerufene „Jalousie und Ombrage“ auf russischer Seite sollte durch Hinweise auf von Schweden soeben gemachte Hilfszusagen an den zarischen Verbündeten PolenLitauen in dessen Kampf gegen das Osmanische Reich neutralisiert werden. 32 Während die Gesandten jedoch die Information besaßen, ihr persischer Kollege werde gleich allen anderen Persern durch einen zarischen Ukas vom Mai 1673 daran gehindert, weiter als bis nach Astrachan’ in das Moskauer Reich einzureisen 33, war Handelsexperte Lillienhoff deutlich besser informiert. Dass der Zar und die Armenische Handelskompagnie die Umleitung des persischen Rohseidehandels von Ormus (fars. Hormuz) am Persischen Golf und Smyrna (türk. ˙Izmir) an der Ägäis nach Archangel’sk vertraglich vereinbart und auch schon in die Wege geleitet hatten, war ihm bereits bekannt. In einem Brief aus Moskau an das Kommerzkollegium vom 15. Januar 1674 sah er daher gute Chancen für eine „Derivation“ des persischen Rohseidehandels mit Nordwesteuropa in die Ostsee, da seiner Meinung nach der Zar selbst aus Gründen der Belebung seines eigenen Außenhandels daran interessiert sei. Lillienhoff schlug daher vor, an Stelle der in der königlichen Instruktion genannten

30 Karl XI.-Gesandte. Stockholm, 9. Dezember 1673. In: RAS, Diplomatica. Muscovitica, vol. 90. 31 Dogovornaja torgovaja Zapis’ (v spiske), zakljuˇcennaja v podtverždenie pervoj, Okol’niˇcimi Artemonom Sergeeviˇcem Matveevym s prislannym Armjanskoju torgovoju Kompanieju doverennym Grigoriem Lusikovym: o vozobnovlenii s Rossieju prežnej torgovli, prervavšejsja na nekotoroe vremja po konˇcine Šacha Abbasa II. Moskau, 7. Februar 1673. In: Sobranie gosudarstvennych gramot i dogovorov, chranjajušˇcichsja v gosudarstvennoj kollegii inostrannych del. Teil 4, Moskva 1828, Dok. Nr. 83, S. 280–283. 32 Karl XI.-Gesandte. Stockholm, 9. Dezember 1673. In: RAS, Diplomatica. Muscovitica, vol. 90. 33 Gesandte-Karl XI. Moskau, 22. Januar 1674, f. 2 r–v. In: RAS, Diplomatica Muscovitica, vol. 88. Der Ukas besagte, dass der persisch-russische Handel prinzipiell auf Astrachan’ beschränkt sein sollte, d. h. persische Kaufleute nicht mehr in das Innere des Zarenreiches geschweige denn im Transit nach Nordwesteuropa reisen könnten. Allerdings sollten die Mitglieder der Armenischen Handelskompagnie, also auch Lusikjan selbst, davon ausgenommen bleiben. Vgl. Solov’ev, Sergej M.: Istorija ˇ Rossii s drevnejšich vremen v pjatnadcati knigach. Red. L. V. Cerepnin. Buch 6 (Bd. 11–12): Istorija Rossii v carstvovanie Alekseja Michajloviˇca. Moskva 1961. S. 572.

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Konzession russisch-nordwesteuropäischer Handelsbeziehungen über schwedische Reichsterritorien dem Zaren anzubieten, dass russische Kaufleute in Schweden nicht nur Hafen- und Stapelstädte, sondern auch Landstädte sowie vor allem die mittelschwedische Industrie- und Bergbauregion Bergslagen aufsuchen dürften. 34 Unmittelbar nach Eingang dieses Briefes beriet das Kollegium am 7. und 10. Februar über diesen Vorschlag und gelangte zu der Ansieht, dass der erfolgreichen Herstellung einer direkten Handelsverbindung zwischen Schweden und Persien durch die Ostsee eine Vorreiterfunktion bei der „Diversion“ des eigentlichen russischen Außenhandels zukommen könne. 35 In einer umgehend angefertigten ausführlichen Stellungnahme für den König stimmten Kurck und Kollegen daher Lillienhoffs Vorschlag zu. Die innenpolitisch nur schwer vermittelbare Freigabe des Handels in Landstädten sowie in Bergslagen wurde hier zum einen mit dem bekannten Paragraph 10 des KardisVertrages, zum anderen wie folgt begründet: Zweitens ist der russische Handel nicht nur an sich sehr beträchtlich und bedeutsam [. . . ], sondern auch deshalb um so mehr in Betracht zu ziehen, als dort in Moskau bereits ein guter Weg zur Derivation des persischen Handels von Ormus und Smyrna sowie auch nach und von Cathay und China gebahnt worden ist. Woraus folgt, daß im Falle einer Verlegung des russischen Handels hierher ein Großteil des Profits des ostindischen und Smyrnaer Handels, der sich derzeit in den Händen der Holländer und anderer Nationen befindet, der Krone Schwedens und ihren Untertanen zufiiele. 36

Karl XI. beauftragte daraufhin den Reichsrat mit der Erstellung weiterer Expertisen. Am 24. März konferierten die Reichsräte Bengt Horn und Johan Gyllenstierna sowie der für die Moskaupolitik zuständige Hofrat Jonas Klingstedt mit dem Kommerzkollegiumspräsidenten Kurck, während gleichzeitig auch das übrige Kollegium über diese Frage beriet. 37 In beiden Fällen fiel die Antwort positiv aus, so dass der Reichsrat noch am selben Tag dem König seine eigene Stellungnahme zur Erweiterung der Handelsprivilegien für russische Kaufleute zukommen ließ. Wohl nicht zuletzt der Beteiligung Kurcks wegen stand auch hier das Argument der „Derivation“ nicht nur des russischen Außenhandels, sondern auch und gerade derjenigen des „persischen und ostindischen Handels“ im Mittelpunkt. 38 Aufgrund der positiven Stellungnahmen von Kommerzkollegium und Reichsrat zur Frage der Freigabe der Landstädte und der Bergslagen-Region für russische Kaufleute wies Karl XI. am

34 Lillienhoff-Kommerskollegium. Moskau, 14. [recte: 15.] Januar 1674, Original in: RAS, Kommerskollegium, E VI a, vol. 345, f. 184–190, hier f. 187 v–188 r. 35 Protokoll des Kommerzkollegiums vom 10. Februar 1674. In: RAS, Kommerskollegium. Huvudarkivet. Serie A. Protokoll och föredragningslistor. Protokoll. Kollegii protokoll. Serie 1651–1752, vol. 20, f. 21–23, hier f. 22. Vgl. auch das Protokoll vom 7. Februar 1674, ebd. f. 20. 36 Kommerzkollegium-Karl XI. Stockholm, 10. Februar 1674, f. 1 v–2 r. In: RAS, Kommerskollegium till Kungl. Maj.t, vol. 4. 37 Protokoll des Kommerzkollegiums vom 24. März 1674. In: RAS, Kommerskollegium (A I 1 a: 20), f. 86–91, hier f. 91. 38 Riksråd-Karl XI. Stockholm, 24. März 1674. In: RAS, Rådets handlingar och bref, vol. 26, f. 68–72, hier f. 70 v.

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25. März die Gesandten in Moskau an, dem Zaren diese Konzession nun als Gegenleistung für die Freigabe des Persien-Transits in Aussicht zu stellen. 39 Offensichtlich wurde schwedischerseits dieses Zugeständnis mittlerweile als erfolgversprechender erachtet als die in der Instruktion vom Vorjahr aufgeführte Möglichkeit direkter russisch-nordwesteuropäischer Handelsverbindungen durch schwedisches Gebiet. Aus etlichen Stellungnahmen geht hervor, dass es vor allem die erheblich verbesserten Möglichkeiten des Erwerbs schwedischen Kupfers durch russische Kaufleute waren, von denen man sich ein Einlenken in der Frage des Persien-Transits erhoffte. Dass die Oxenstiernasche Gesandtschaft trotz der demonstrativen schwedischen Kompromissbereitschaft in Moskau auf Granit biss, erklärte Lillienhoff durch den starken Einfluß der gosti auf Regierung und Zar. Am 8. März schickte er einen Bericht an das Kommerzkollegium, in dem er die Chancen für die Verlegung des Persien-Handels nicht mehr so positiv wie noch am 15. Januar beurteilte. Dies stützte er auf die Erkenntnis, dass die gosti in diesem Punkt ganz andere Interessen als der Zar verfolgten. Während Lillienhoffs Mitarbeiter Kilburger wenig später die vielzitierte Ansicht vertrat, „die Gosten sind des Zaaren Commercienräthe und Factoren“ 40, widersprach ihm sein Vorgesetzter entschieden: Zwar hätten die Großkaufleute zahlreiche Aufgaben im zarischen Auftrag auszuführen, aber dennoch seien „diese Goster nicht gemäß früheren Beschreibungen des Zaren Faktoren, sondern treiben ganz auf eigene Rechnung Handel“. 41 Aus diesem Grund seien sie bestrebt, ausländische Kaufleute vom russischen Binnenmarkt völlig zu verdrängen und sie auf die Grenzstädte Astrachan’ und Archangel’sk zu beschränken, um so für sich selbst ein Monopol über den Außen- und Transithandel zu erlangen. Allerdings schloss Lillienhoff daraus nicht auf völlige Chancenlosigkeit der schwedischen Persien-Pläne. Diese hielt er im Gegenteil für umso lohnender, als er inzwischen nicht nur über die Aktivitäten persischer, armenischer. griechischer und anderer Kaufleute in Astrachan’ zahlreiche Informationen gesammelt, sondern auch die Bekanntschaft eines indischen Kaufmanns christlicher Konfession namens Zachaj gemacht hatte. Dieser teilte ihm mit, dass die auf Drängen der gosti erfolgten Verschärfungen der russischen Handelsgesetzgebung „über 100 Familien“ indischer Kaufleute „aus Hindustan und vom Ganges bzw. Bengalen im Gebiet des Großmoguls“, die in Astrachan’ ansässig gewesen waren, vertrieben hätte. Da die gosti aufgrund ihrer notorischen Kapitalschwäche nicht zur Schließung dieser Lücke im Stande waren, so Lillienhoff, böte sich schwedischen Kaufleuten hier eine interessante Chance. 42 In einem 39 Karl XI.-Gesandte. Stockholm, 25. März 1674. In: Diplomatica Muscovitca, vol. 90. 40 Kilburger: Kurtzer Unterricht von dem Rußischen Handel, S. 322. 41 Lillienhoff-Kommerzkollegium. Moskau, 8. März 1674. In: RAS, Kommerskollegium, E VI a, vol. 345, f. 184–190. Hier zit. Nach einer Abschrift in: UUB, Nordinska samlingen, vol. 438, f. 207– 209, hier f. 207 r. 42 Ebd., f. 207 v–208 r; J. P. Lillienhoff: Berättelse om ett samspråk med en Hindu vid namn Zachaj. Moskau, 17. Februar 1674. In: UUB, Nordinska samlingen, vol. 438, f. 321. – Zu den indischen Kaufleuten in Astrachan’ vgl. Dale, Stephen Frederic: Indian Merchants and Eurasian Trade, 1600– 1750. Cambridge 1994; und Jucht, A. I.: Russko-vostoˇcnaja torgovlja v XVII–XVIII vv. i uˇcastie v nej indijskogo kupˇcestva. In: Istorija SSSR 1978, H. 6, S. 42–59.

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ausführlichen Zwischenbericht vom 24. März über den Stand der Gesandtschaftsangelegenheiten an Reichskanzler De la Gardie skizzierte Lillienhoff erneut die handelspolitischen Perspektiven, die sich Schweden durch Erlangung des Transitrechtes eröffneten: Der direkte Umgang mit armenischen, persischen und indischen Kaufleute brächte Schweden in Handelskontakte mit Südostasien, Indien, dem Vorderen Orient und der Levante und würde darüber hinaus Niederländer, Engländer, Franzosen und Hamburger vermehrt in die eigenen Ostseehäfen ziehen. Vorbedingung sei allerdings die Überwindung des Widerstandes der gosti gegen die Vergabe des Transitrechts. Zu diesem Zwecke müsse man mit allem Fleiß danach trachten, die Glaubwürdigkeit der gosti beim Zaren zu diskreditieren, vor allem indem man ihm beweist, mit welch schädliche Ratschlägen sie hinsichtlich des Handels allein um ihren eigenen Nutzen und Interesse willen erteilen. 43

Hatte Lillienhoff in diesem Bericht das Interesse hervorgehoben, das seinen Vorschlägen vor allem vom moskauischen Kanzler Matveev entgegengebracht wurde, so war ein Brief der Gesandten an den König vom selben Tag eher sybillinisch: Artamon Sergeeviˇc [Matveev] hat sich Kommerzienrat Lillienhoff gegenüber dahingehend ausgelassen, daß er vermutet, daß unsere Kommission rasch zum Ende komme, da sie über die [. . . ] Punkte, die schon zuvor vorgelegt worden waren, zur Genüge informiert seien und beschlossen hätten, was diesbezüglich zu tun sei. 44

Obwohl der reale Verlauf der Verhandlungen mitnichten zu großen Hoffnungen Anlass gab, blieb Lillienhoff weiterhin optimistisch. Am 28. April schrieb er seinem Nachfolger an der Spitze des vormaligen Handelshauses Pötter & Thuen, Peter von Cölln, er erwarte weitreichende handelspolitische Zugeständnisse innerhalb von zwei Wochen 45, und noch am 12. Mai teilte er dem Kommerzkollegium mit, „wir hoffen im übrigen auf eine gute Verrichtung, wenngleich es auch nur langsam voran geht“ 46. Selbst nach der Abschiedsaudienz der Gesandten beim Zaren am 19. Juni gab er nicht auf und sprach am 21. Juni davon, dass „der Vertrag zu einem guten Eide gebracht“ sei. 47 Worauf sich Lillienhoffs hochgespannte Erwartungen stützten, ist nicht eindeutig auszumachen. Zu einem Teil dürfte er sie aus informellen Gesprächen mit zarischen Beamten gezogen haben, zu einem anderen aus den in Moskau gesammelten Informationen und Grunddaten zu Verkehrs- und Wirtschaftsgeographie. Von deren vorläufiger Auswertung ausgehend, hatte er am 6. Mai 1674 eine Denkschrift zur Handelspolitik verfasst, die er dem Kommerzkollegium zukommen 43 Lillienhoff-de la Gardie: Moskau, 24. März 1674. In: RAS, Kommerskollegium, E VI a, vol. 345, f. 180–183, hier f. 180 r. 44 Gesandte-Karl XI. Moskau, 24. März 1674, 4 f. In: RAS, Diplomatica Muscovitica, vol. 88. 45 Lillienhoff-Von Cölln. Moskau, 28. April 1674. In: UUB, Nordinska samlingen, vol. 438, f. 219–220, hier f. 219 r. P. von Cölln war zusammen mit Lillienhoff nach Moskau gereist und Ende Januar 1674 von dort nach Stockholm zurückgekehrt. 46 Lillienhoff-Kommerzkollegium. Moskau, 12. Mai 1674. In: RAS, Kommerskollegium, E VI a, vol. 345, f. 178 r–179 v. hier f. 178 v. 47 Lillienhoff-Kommerzkollegium. Moskau, 21. Juni 1674. Ebd., f. 198–204, hier f. 211 r.

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ließ und die ihres propagandistischen Untertons wegen unverkennbar für russische, aber wohl auch für armenische und indische Leser bestimmt war. Gleich in den ersten Sätzen wurde hier die Transitfunktion Russlands für den Ost-West-Handel thematisiert: Wem dieses landz Situation bekandt, muss sich verwundern, dass nach so vielen jahren hero die handlung in diesem reich nicht auf einen andern fuss ist gestehet alss biss hiehero geschehen, da es doch mit so herrlichen, fruchtbahren und köstlichen ländern und landschafften umb und umb umbfangen ist, welcher einwohner sehr und fast mehr alss alle andre nationen in Europa zu der handlung incliniret seind und wegen der miserablen lebens-Unterhaltung ihre wahren fast bessern kauffs geben können alss irgendt anderswo in der welt. Nun hat die natur diesen theil dess erdreichs, und in Sonderheit respectu der herumbliegenden Länder, alss Kithaja, China, Indien und Persien wie auch des gantzen umbkreisses vom Ponto Euxino biss an den Archipellagum, mit zwo herrlichen commoditäten begabet, ihre commertien und handlungen mit den Europäern, und die Europäern mit ihnen, zu befordern und ihre wahren zu- und abzuführen, nemlich eine zu wasser und die andre zu landt. Wann man aber nun will examiniren wie selbige beyde gelegenheiten belegen sind und welche sich zu des handels beforderung am bequämsten zu bediene, so befindet sich warlich, was die sei[de]nen wahren angehet, derjenige passage, selbige durch das Moscowitische reich über landt nach der Ostsee zu transportiren, wohl viel näher und bequämer alss selbige durch lange weitläuffige und kostbare reysen nach der Indianischen see zu bringen, welche handlung hernach alldorten nur allein unter der Holländischen und Englischen OstIndianischen compagnie zwang bestehet und sehr kostbar und mit viel zeitverlust zu andrer traffiquanten hemmunge muss unterhalten werden. wodurch man die wahren gegen dem, was sie einkauffs kosten, allezeit in hohem preise haltet. 48

In Ormus, Smyrna und Archangel’sk, so Lillienhoffs Argument, bestimmten ausschließlich Niederländer und Engländer die terms of trade – ein für russische wie für orientalische Kaufleute gleichermaßen negativer Umstand, dem durch Benutzung der Ostseeroute via Russland begegnet werden könne. Um „dieses reich zu einem magazin der handlung zwischen Asien und Europa in wenig jahren“ zu machen 49, müsse der Zar daher zwei Änderungen verfügen: in der Handelspolitik und -gesetzgebung sollten fürderhin nicht ausschließlich die Interessen der gosti, sondern diejenigen sämtlicher Stadtbewohner des Reiches berücksichtigt werden; und wegen der zu befürchtenden Reaktionen der Niederlande und der Vereenigde Oostindische Compagnie (VOC) auf die Verlegung des Weltseidenhandels auf die Russlandroute müsse der Persien-Transit weg vom ungeschützten Archangel’sk in die sicheren schwedi-

48 J. P. Lillienhoff: Ein kurtzer doch unvergreifflicher auffsatz über die handelung in gantz Moscowien und Reusslandt, wie dieselbige zu der einwohner grossem nachtheil und desselbigen reichs einkünffter verminderung anitzo alda beführet wirdt, und wie hiengegen durch eine gute verordung und abschaffung voriger abüsen in den commercien der tzarliche Schatz auf ein merckliches könne vermehret und die handelung zu des landt grossem aufnehmen und der untersassen und einwohner hohem nutzen und gedeyen genosse und verbessert werden. Moskau, 6. Mai 1674. In: RAS, Kommerskollegium, E VI a, vol. 345, f. 170–177. Gedruckt nach einer Abschrift in RAS, Handel och sjöfart, vol. A 17, in: EFSR, Dok. Nr. 39, S. 203–209, hier S. 203–204. 49 Ebd., S. 207.

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schen Ostseehäfen umgelenkt werden. Sodann schilderte der Stockholmer Tycoon die Verschiebungen im Ost-West-Handel, die nach Ergreifung der von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen zu Russlands Gunsten einträten. Aber auch strategische und mächtepolitische Vorteile wusste er zu nennen. So würde der Bau einer Handelsflotte auf dem Kaspischen Meer dem Zaren „in selbiger see [. . . ] das dominium“ bringen, „insonderheit wann I. Königl. May:t von Schweden bequäme schiffs-zimmerleute und botzleute dazu geben möchten und auch selbige schiffe mit guter defension von geschütze alss ammunition besetzet würden“ 50 – alles Gründe also, die aus der Sicht des Autors für ein bündnis- wie handelspolitisches Zusammengehen Moskaus mit Schweden sprachen. Der jenseits dieser propagandistischen und entsprechend partiell phantastischen Zukunftsvisionen nüchtern denkende, da europaweit tätige und profitorientierte Großunternehmer errechnete für den Transithandel aber auch intern Gewinnspannen, die seine ursprünglichen Erwartungen weit übertrafen und sein wirtschaftliches Interesses in höchstem Maße weckten. „Ich für meine Person“, schrieb er seinen Kollegen im Kommerzkollegium am 12. Mai, „muß bekennen, daß ich, je mehr ich die Beschaffenheit dieses Landes untersuche und mich darüber informieren lasse, um so größere Lust und Neigung habe ich, seine Kultivierung und die Beförderung seines Handels zu planen.“ 51

3. Nachrichtendienstliche Aktivität und merkantile Realität: Lillienhoffs Stockholmer Abschlussbericht (Oktober 1674) War also die diplomatisch-handelspolitische Mission der Gesandtschaft ein Fehlschlag, so war doch deren nachrichtendienstliche Ausbeute beträchtlich. Neben militärisch relevanten, vor allem kartographischen Informationen, die Palmquist zusammentrug, waren auch solche über Manufakturwesen und Handel einschließlich der innenpolitischen Verflechtung dieser beiden Bereiche in großer Menge gesammelt worden. Federführend für die Wirtschaftsspionage war dabei Lillienhoff gewesen, dem Kilburger zur Hand ging. Seine gesammelten Erkenntnisse übersandte der im Laufe des August 1674 wieder in Stockholm eingetroffene Kommerzienrat dem Kommerzkollegium in einem umfangreichen Abschlussbericht vom 22. Oktober 1674, der wohl die letzte handelspolitische Expertise vor seinem Tod am 26. Februar 1676 darstellte. 52 Dieser Bericht bestand aus einer Einleitung sowie einer

50 Ebd., S. 208. 51 Lillienhoff-Kommerzkollegium. Moskau, 12. Mai 1674. In: RAS, Kommerskollegium, E VI a, vol. 345, f. 178 r–179 v, hier f. 178 v. 52 J. P. Lillienhoff: Oförgripelige relation til dhet höglåfvelige konungzl. commerciae-collegium, hvadh som uppå min reesa til Moscou jagh hafver kunnat observera och i acht taga, sambt mit ringa betenkkiandhe om handelen dhersammastädes och huru dhen skulle ståå at bringa undher handhen hit til Östersiönn. Stockholm, 22. Oktober 1674. In: RAS, Handel och sjöfart, vol. A 17, sowie gedruckt in: EFRS, Dok. Nr. 38, S. 199–203.

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Sammlung von 17, mit „Lit. A“ bis „Lit. G“ sowie „N:o 1“ bis „N:o 10“ nummerierten Text-, Tabellen- und Kartenanlagen, die jedoch in ihrer ursprünglichen Form nicht erhalten ist. Bei den Anlagen handelte es sich teils um Originale, teils aber um Kopien von solchen Briefen, Denkschriften, Dokumenten und Karten, die Lillienhoff im Original von Moskau aus nach Schweden geschickt hatte. Wohl im Zuge ihrer archivalischen Bearbeitung wurden einige dieser Dokumente dem Provenienzprinzip gemäß unterschiedlichen Aktenserien des Reichsarchivs zugeordnet. Allerdings lässt sich die Sammlung, wie Per Nyström demonstriert hat, aufgrund der Hinweise in Lillienhoffs Einleitung sowie anhand der korrespondierenden Buchstaben und Zahlen, mit denen er andere Schriftstücke aus seiner Feder versah, weitgehend rekonstruieren. 53 Im Zusammenhang mit dem Orienthandel sind die Anlagen „Lit. B“ und „Lit. C“ sowie „N:o 9“ und „N:o 10“ von Interesse, vor allem aber auch Lillienhoffs Einleitung. Anhand dieser wird der Erkenntnisprozess deutlich, den der Handelsexperte während und im Anschluss an die Moskaumission durchlaufen hat. Hatte er sich in seinen Briefen aus der Zarenstadt, wie gezeigt, enthusiastisch über die merkantilen Möglichkeiten schwedisch-moskauischer Zusammenarbeit bezüglich des russischen Außenhandels wie des Transithandels mit dem Orient geäußert, so stellten sich ihm nun dieselben Möglichkeiten in ganz anderem Licht dar. Den „moskowitschen Handel“ und „besonders den Handel mit Persien und Indien samt allen anderen umliegenden Ländern, Herrschaften und Dominien“ mit schwedischer Hilfe „durch das Moskowiterreich zu führen“ erschien ihm jetzt nicht mehr angebracht – und zwar primär aus politischen Gründen: Aber da dies eher geeignet ist, dem Russen zu nutzen und ihn mächtig zu machen, gar mächtiger als es nützlich sein kann, eher zum Präjudiz für Königliche Majestät und das Reich Schweden gereicht als daß deren eigene Provinzen irgendwelchen Nutzen und Vorteil davon haben könnten, so betrachte ich es nicht als ratsam, [dem Russen] derzeit die Augen darüber zu öffnen. 54

Hinzu kam in Lillienhoffs Sicht, dass aus gleichfalls politischen Erwägungen heraus weder Zar und gosti noch deren nordwesteuropäische Handelspartner irgendein Interesse an der Einstellung der Weißmeerroute bzw. deren Verlagerung durch schwedisches Territorium hindurch haben könnten. Wenn man also schwedischerseits „dem Russen die Augen“ bezüglich des Orienthandels „öffne“, schneide man sich ins eigene Fleisch, da dann auch dieser Warenverkehr über Archangel’sk abgewickelt werde. Schließlich sprachen Lillienhoff zufolge auch merkantile Erwägungen gegen eine Fortsetzung des „Derivationsprogramms“ in seiner bisherigen Form: Die Verkehrsinfrastruktur und die natürlichen Gegebenheiten der Kaspi-Volga-Weißmeerroute stellten sich ihm deutlich vorteilhafter als diejenigen der kürzeren Strecke an die Ostsee dar, wie auch die höhere Zollbelastung durch den Transit durch die schwedischen Ostprovinzen gegen diese Route sprach. Als ultima ratio erschien dem

53 Nyström, Per: Mercatura Ruthenica. In: Scandia 10 (1937), S. 239–296, hier S. 291–292. 54 Lillienhoff: Oförgripelige relation til dhet höglåfvelige konungzl. commerciae-collegium, S. 201.

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Kommerzienrat daher die militärische Option: Der König sollte „sich der Archangel’sk-Einfahrt bemächtigen und sie absperren“ – ein Unternehmen, das Lillienhoff noch in Moskau vorsorglich hatte projektieren lassen. 55 Bei der Anlage „Lit. C“ handelt es sich um die Beschreibung der besagten militärischen Operation zur Sperrung des Hafens Archangel’sk samt Karte, um dergestalt russischen Außenhandel und persischen Transithandel mit Gewalt zu „derivieren“. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist diese Anlage identisch mit dem anonymen Text „Unvorgreifliches Projekt, auf welche Weise Krieg gegen Rußland zu führen wäre“, der sich in Lillienhoffs Gesandtschaftsunterlagen findet und in seinem Auftrag verfasst wurde. 56 Als eine von mehreren außenpolitischen Voraussetzungen für eine solche Operation nennt der anonyme Autor eine Übereinkunft mit dem Schah. 57 Parallel zu einem anschließenden Friedensschluss mit dem Zar sollte das Safavidenreich überredet werden, seine Seide und seine Waren lieber durch das Kaspische Meer zu transportieren als nach Ormus oder Smyrna, sowie zu remonstrieren, wie der Handel aus Hindustan und Indien durch dieses Land gelenkt werden könnte und wie nötig es wäre, den Zaren zu einem solchen Handel und zur Durchfahrt durch sein zu obligieren. 58

Bezüglich der Verkehrsinfrastruktur enthielt das Projekt den Vorschlag zum Bau eines Volga-Don-Kanals, welcher persischen Waren den Weg über das Azovsche Meer in die Dneprmündung sowie weiter dnepraufwärts zur Dvina und schließlich nach Riga eröffne. Damit würde man sich den langen Weg über die Volga sowie anschließend zu Lande nach Narva sparen. 59 Im Zusammenhang damit ist eine „PassCaert van de Caspische Zee“ zu sehen, die Palmquist seinem eigenen Bericht einfügte. 60 Schließlich wurde in dem anonymen Projekt ganz ähnlich wie in Lillienhoffs Propagandadenkschrift vom 6. Mai 1674 vorgeschlagen,

55 Ebd. Vgl. auch unten die Ausführungen zu „Lit. C“ sowie Attman, Artur: Swedish Aspirations and the Russian Market in the 17th Century. Göteborg 1985, S. 32–33. 56 O. A.: Oförgripeliget project på huadh sätt krigh emott Ryßland ståår at föra. Moskau, 28. März 1674. In: UUB, Nordinska samlingen, vol. 438, f. 316–320. Vgl. dazu die Faksimilewiedergabe samt deutscher Übersetzung bei Zernack, Klaus: Imperiale Politik und merkantiler Hintergrund. Ein Dokument der schwedischen Russlandpolitik im 17. Jahrhundert. In: Russland – Deutschland – Amerika. Russia – Germany – America. Festschrift für Fritz T. Epstein zum 80. Geburtstag. Hrsg. Alexander Fischer, Günter Moltmann, Klaus Schwabe. Wiesbaden 1978, S. 24–36, hier zwischen den Seiten 29 und 30. 57 O. A.: Oförgripeliget project på huadh sätt krigh emott Ryßland ståår at föra, f. 316 v. 58 Ebd., f. 317 v (Die Übersetzung ist an diejenige bei Zernack: Imperiale Politik, S. 35, angelehnt). 59 Ebd., f. 317 r. 60 Vgl. Palmquist: Någre widh Sidste Kongl: Ambassaden till Tzaren i Muskou giorde Observationer öfwer Ryßlandh, ohne Seitenzahl. Zu Palmquists kartographischer Ausbeute insgesamt vgl. Bagrow, Leo: Croneman, Prytz and Palmqvist. In: Ders.: A History of Russian Cartography up to 1800. Hrsg. Henry W. Castner. Wolfe Island, Ontario, 1975, S. 26–30.

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daß [der Zar] Schiffe für das Kaspische Meer bauen ließe und daß Königliche Majestät gutes Holz anschaffen wolle und anderes was vonnöten sein könnte zu dieser Sache und zur Förderung des Handels. 61

Die nicht auffindbare Anlage „N:o 9“ war Lilienhoff zufolge „der Vertrag, den der König in Persien mit dem Zaren bezüglich des Transports seiner Rohseide in und durch das Moskowitische Reich geschlossen hat.“ 62 Da hier der Schah als Vertragspartner erwähnt wird, dürfte es sich um den Text des besagten zweiten armenischmoskauischen Vertrages vom 7. Februar 1673 handeln. Ebenfalls nicht auffindbar ist Anlage „N:o 10“ zu Lilienhoffs Abschlussbericht, in der beschrieben wird, „wie der Handel durch Persien nach Indien und Hindustan betrieben wird“ 63 bzw. „wie der Handel mit Persien mit Nachdruck auch bis Indien ausgedehnt werden kann.“ 64 *** Der Fehlschlag von 1673/1674, dem 1676 der Tod der beiden wichtigsten schwedischen Russland- und Persienhandelsexperten Lillienhoff und Krusenstiern folgte, führte nur vorübergehend zu einer Umorientierung schwedischer Handelskontrollpolitik in Gestalt verstärkter diplomatischer und propagandistischer Bemühungen gegenüber den nordwesteuropäischen Haupthandelspartnern des Zarenreiches und zu einem Eingehen auf das Drängen der nordwestrussischen Kaufmannschaft nach Handelserleichterungen im livländischen Emporium Riga. Der von Karl XI. 1676 eingeführte Rigaer Oktroizoll, ein bis 1691 gültiger Niedrigzoll für Waren, die über die Grenze bei Pskov eingeführt wurden, ließ die russischen Exporte auf dieser Route dann in der Tat unverzüglich hochschnellen. 65 Aber sowie sich in der Person des russland- und persienkundigen niederländischen Offiziers Ludvig Fabritius 1677 die nächste Möglichkeit für einen weiteren schwedischen Vorstoß in Sachen persischer Transithandel durch Russland ergab, griff Karl XI. zu. Nach zähen Verhandlungen mit Schah, Zar und Armeniern erließ er am 23. September 1687 ein Oktroi für die Armenische Handelskompagnie, und 1690 kam der Rohseideverkehr auf der Moskau-Novgorod-Narva-Route nach Amsterdam tatsächlich in Gang. Bis zum Beginn des großen Nordischen Krieges 1700 fungierte Russland nun für ein Jahrzehnt in der Tat als „Magazin der Handlung zwischen Asien und Europa“. 66 Von größerer Bedeutung als die Realien dieses Warenverkehrs war jedoch die Übernahme der

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O. A.: Oförgripeliget project på huadh sätt krigh emott Ryßland ståår at föra, f. 320 r. Lillienhoff: Oförgripelige relation til dhet höglåfvelige konungzl. commerciae-collegium, S. 202. Ebd. Lillienhoff-Kommerzkollegium, Moskau, 21. Juni 1674. In: RAS, Kommerskollegium, E VI a, vol. 345, f. 200 v. 65 Kotilaine, J. T.: Riga’s Trade with its Muscovite Hinterland in the Seventeenth Century. In: Journal of Baltic Studies 30 (1999), S. 129–161; Troebst, Stefan: Stockholm und Riga als „Handelsconcurrentinnen“ Archangel’sks? Zum merkantilen Hintergrund schwedischer Großmachtpolitik 1650–1700. In: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 48 (1993), S. 259–294, hier S. 274–294. 66 Troebst: Die Kaspi-Volga-Ostseeroute, S. 164–176.

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Persienkomponente des schwedischen „Derivationsprogramms“ durch den neuen Zaren Peter I. Neben seiner merkantil begründeten expansiven Ostseepolitik betrieb er mit ähnlicher Intensität im Kaukasus-Kaspi-Raum eine Expansionspolitik, die auf die Kontrolle des gesamten Produktionsgebiets für persische Rohseide zielte. Zwar scheiterte auch er an dem Versuch, „Rußland zum Mittler des Handels zwischen Asien und Europa zu erheben“, wie Walther Mediger in Anlehnung an Lillienhoff formuliert hat, doch wurden im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts kontinuierlich ca. 10 % der jährlichen Ausfuhr persischer Rohseide über die jetzt vollständig russisch kontrollierte Kaspi-Volga-Ostseeroute abgewickelt. Das von Krone, Reichsrat und Handelsexperten Schwedens so viele Jahrzehnte ventilierte und immer wieder in Angriff genommene Projekt einer „Derivation“ des Ost-West-Handels in die baltisches Provinzen des Ostseereiches war also mitnichten bloß „a favourite pipedream of Swedish statesmen“ (Michael Roberts), sondern – so das Ergebnis der neueren Forschung von Artur Attman bis Jarmo T. Kotilaine – vollauf realitätstauglich.

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„Hochverehrter Meister und Genosse!“ Karl Kautsky und die sozialistische Bewegung in Bulgarien (1887–1934)

[1990] Der Kenntnisstand zu Karl Kautskys Verbindungen nach Südosteuropa hat 1986 eine deutliche Verbesserung erfahren, und dies durch das Erscheinen einer umfangreichen Edition von Kautskys Korrespondenz mit südosteuropäischen Sozialisten 1 sowie durch einen längeren Artikel über die Verbindung Kautskys mit dem bulgarischen Sozialisten Janko Sak˘azov aus der Feder des italienischen Bulgarienhistorikers Armando Pitassio. 2 Beide Publikationen machen deutlich, dass Kautskys Blick auf den Balkan ein gänzlich anderer war als derjenige von Karl Marx und vor allem von Friedrich Engels. 3 Die gegenwartsbezogenen weltpolitischen Analysen von Engels, nicht minder diejenigen von Marx, kreisten bis in die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts hinein vor allem um das von ihnen als Hort der Reaktion ausgemachte zaristische Russland und dessen unter panslavisch-orthodoxem Vorzeichen betriebene Orient- bzw. Europapolitik. Dies führte sie gleichsam zwangsläufig zu einer negativen Beurteilung der politischen Rolle der neuen orthodoxen Nationalstaaten Griechenland und Rumänien, vor allem aber der neuen südslavischen Staaten Montenegro, Serbien, Bulgarien und Ostrumelien. „Nun können Sie mich fragen“, so Engels 1882 an Kautsky, „ob ich denn gar keine Sympathie habe für die kleinen slawischen Völker und Volkstrümmer [. . . ]? In der Tat, verdammt wenig.“ 4 Und weiter: „Erst wenn durch den Zusammenbruch des Zarentums die nationalen Bestrebungen

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Karl Kautsky und die Sozialdemokratie Südosteuropas. Korrespondenz 1883–1938, hrsg. v. Georges Haupt, Janos Jemnitz u. Leo van Rossum, Frankfurt /M., New York, NY, 1986 (= Quellen und Studien zur Sozialgeschichte, Bd. 5) (im Folgenden: Korrespondenz). In einem hier wiedergegebenen Brief an Kautsky vom 8. Oktober 1909 verwendete der bulgarische Sozialist Georgi Kirkov die Anrede „Hochverehrter Meister und Genosse!“ (Dok. Nr. 24, S. 118). Armando Pitassio, „Janko Sakazov e Karl Kautsky. Un socialista balcanico di fronte al papa rosso“, Annali del Dipartimento di Studi dell’Europa Orientale. Sezione storico-politico IV–V (1982–1983) [Napoli 1986], S. 269–327. France Klopˇciˇc, „Friedrich Engels und Karl Marx über die ‚geschichtslosen‘ slawischen Nationen 1847–1895“, in: Internationale Tagung der Historiker der Arbeiterbewegung. Sonderkonferenz „Marxismus und Geschichtswissenschaft“. Linz, 6. bis 9. Jänner 1983, bearb. v. Brigitte Galanda, Wien 1984, S. 217–249, sowie für die Jahrhundertmitte die monographieartige Untersuchung von Roman Rosdolsky, „Friedrich Engels und das Problem der ‚Geschichtslosen Völker‘ (Die Nationalitätenfrage in der Revolution 1848/49 im Lichte der ‚Neuen Rheinischen Zeitung‘)“, Archiv für Sozialgeschichte (1964), S. 87–276. Der Aufsatz von Donko Doˇcev, „Fridrih Engels za B˘algarija i b˘algarite“, Istoriˇceski pregled 44 (1988), H. 10. S. 66–76, geht trotz seines Titels auf die hier interessierenden Zusammenhänge nicht ein. Engels an Karl Kautsky in Zürich, London, 7. Februar 1882, Dok. Nr. 57, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke (im Folgenden MEW), Bd. 35, Berlin (Ost) 1973, S. 269–273, hier S. 272.

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dieser Völkerknirpse von der Verquickung mit panslawistischen Weltherrschaftstendenzen befreit sind, erst dann können wir sie frei gewähren lassen.“ 5 Und an Eduard Bernstein schrieb Engels im gleichen Jahr: Haben Sie übrigens so viel Sympathie mit den Naturvölkchen, wie Sie wollen [. . . ], aber Handlanger des Zarentums sind und bleiben sie [. . . ]. Und wenn aus dem Aufstand dieser Burschen ein Weltkrieg zu entbrennen droht, der uns unsre ganze revolutionäre Situation verdirbt, so müssen sie und ihr Recht auf Viehraub den Interessen des europäischen Proletariat ohne Gnade geopfert werden. 6

Trotz dieser politischen Begründung schimmert in vielen Äußerungen Engels’ eine höchst unpolitische Aversion gegen „alle diese interessanten Natiönchen“ 7 bzw. „die lausigen Balkanvölker“ 8 durch. Dies gilt zuvörderst und in ganz besonderem Maße für Bulgarien und die Bulgaren. Bei der Begründung seiner diesbezüglichen Aversion führte der eine der beiden Gründerväter des Marxismus Argumente an, die ob ihrer Simplizität, ja Primitivität, nur schwer mit seinem übrigen Œuvre in Verbindung zu bringen sind. Die Lektüre der Sammlung bulgarischer Volkslieder von Alphonse de Lamartine entlockte ihm in dem obengenannten Brief an Kautsky den Ausruf „Wo in der Welt finden Sie ein solches Sauvolk wieder?“ 9 Im selben Brief wird jedoch deutlich, was das Gegenstück von Engels’ Antipathie gegen die Bulgaren war, nämlich die gleichsam zwangsläufig aus seiner Russophobie resultierende Sympathie für das Osmanische Reich. Denn weiter heißt es in dem Brief: Allerdings räumen die biedern Bulgaren jetzt in Bulgarien und Ostrumelien mit den Türken rasch auf, indem sie sie totschlagen, vertreiben und ihnen die Häuser überm Kopf anzünden. Wären die Türken ebenso verfahren statt ihnen mehr Selbstregierung und weniger Steuern zu lassen als sie jetzt haben, so wäre die ganze Bulgarenfrage aus der Welt. 10

Dabei handelte es sich mitnichten um situationsbedingte, einmalige Ausrutscher, sondern um einen basso continuo in Engels’ Briefen und Schriften der achtziger Jahre. 1885 etwa ist in einem Brief an August Bebel von „elenden Trümmerstücken ehemaliger Nationen“, nämlich „Serben, Bulgaren, Griechen und anderem Räubergesindel“, bzw. von „Zwergstämmen“, die Rede, die „sich einander die Luft nicht gönnen, die sie einatmen, und sich untereinander die gierigen Hälse abschneiden“. 11 Zwar soll Engels einer vagen Quelle zufolge in den neunziger Jahren eine gemäßigtere Haltung gegenüber Bulgarien eingenommen haben, ja 1893, zwei Jahre vor 5 6

Ibid. Engels an Eduard Bernstein in Zürich, London, 22.–25. Februar 1882, ibid., Dok. Nr. 60, S. 278–285, hier S. 281–282. 7 Ibid., S. 279 8 Engels an August Bebel in Berlin, London, 17. November 1885, MEW, Bd. 36, Berlin (Ost) 1967, S. 391–391, hier S. 391. 9 Engels an Eduard Bernstein in Zürich, London, 22.–25. Februar 1882, MEW, Bd. 35, Berlin (Ost) 1973, S. 269–273, hier S. 282. 10 Ibid. 11 Engels an August Bebel in Berlin, London, 17. November 1885, MEW, Bd. 36, Berlin (Ost) 1967, S. 390–391, hier S. 390.

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seinem Tode, noch mit dem Erlernen der bulgarischen Sprache begonnen haben 12, doch blieben seine obengenannten Ansichten bis weit in die neunziger Jahre hinein Gemeingut in der deutschen Sozialdemokratie. Aus dem Jahre 1897 stammt Wilhelm Liebknechts bekanntes Wort von der „albernen Sentimentalität, die – um mich in Marx’ Worten auszudrücken – in jedem Hammeldieb, der mit Türken in Streit gerät, eine, unterdrückte Nationalität erblickt und bemitleidet [. . . ].“ 13 Vor diesem Hintergrund also sind die gänzlich neuen Analysen der politischen Verhältnisse in Ost- und Südosteuropa zu sehen, die von führenden SPD-Mitgliedern wie Rosa Luxemburg, Eduard Bernstein, Hermann Wendel und vor allem Karl Kautsky gegen den massiven Widerstand der sozialdemokratischen „Orientspezialisten“ mit Wilhelm Liebknecht an der Spitze im Laufe der neunziger Jahre angestellt wurden. 14 Mit dem Beginn des neuen Jahrhunderts war dann dieser Wandel vollzogen. In seinem Aufsatz „Die Slaven und die Revolution“ von 1902 schrieb Kautsky: „Heute scheint es, daß die Slaven nicht nur in die Reihen der revolutionären Nationen eingetreten sind, sondern daß das Schwergewicht des revolutionären Denkens und Handelns immer mehr zu den Slaven rückt.“ 15 Eines der großen Verdienste Kautskys, so sahen es die Sozialisten Bulgariens, war die durch ihn erfolgte Rehabilitierung der slavischsprachigen Nationen, darunter natürlich auch die ihrer eigenen. Aus der Perspektive der Sozialisten in Südosteuropa, ja eigentlich derjenigen in ganz Europa, war die Sozialdemokratische Partei Deutschlands unter den seit 1889 in der Zweiten Internationale zusammengeschlossenen sozialistischen Parteien Europas unbestritten die „Führungspartei“ bzw. parti guide, wie Georges Haupt so treffend formuliert

12 Joseph Rothschild, The Communist Party of Bulgaria. Origins and Development, 1883–1936, New York, NY, 1959, S. 206–208, unter Berufung auf den schwer zugänglichen Artikel „Dva pis’ma Fridricha Engel’sa k Bolgaram“, Letopisi marksizma (Leningrad) I (1926), S. 73–77. 13 Wilhelm Liebknecht, „Kreta und die Sozialdemokratie“, Vorwärts, 14. Jg. Nr. 58 v. 10. März 1897, S. 1–2, hier S. 1 S. hierzu die Antwort von Eduard Bernstein, „Kreta und die russische Gefahr“, Die Neue Zeit 15 (1896–1897), Bd. 2, Nr. 27, S. 10–20. Ähnlich hatte sich W. Liebknecht bereits in seiner Broschüre Zur Orientalischen Frage oder soll Europa kosakisch werden?, o. O. 1878, geäußert. 14 Vgl. etwa die aufschlussreiche Polemik R. Luxemburgs gegen Vorwärts-Chefredakteur W. Liebknecht, der sie „aus der orientalischen Frage ausgewiesen [. . . ] hat“, in: Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 1, Erster Halbbd.: 1893 bis 1905, Berlin (Ost) 1974, S. 57–68 („Die nationalen Kämpfe in der Türkei und die Sozialdemokratie“) und S. 69–73 („Zur Orientpolitik des ‚Vorwärts‘“ [Zitat auf S. 69]). Zu H. Wendel s. Roswitha Bauer, Hermann Wendel als Südosteuropapublizist, Neuried 1985; und den ausgezeichneten Überblick „Die Zweite Internationale und die nationale Frage“ bei Antje Helmstaedt, Die Kommunistische Balkanföderation im Rahmen der sowjetrussischen Balkanpolitik zu Beginn der zwanziger Jahre, Phil .Diss. Freie Universität Berlin, 2 Halbbde., Berlin (West) 1978, S. 126–149. – Bernsteins Ansichten in Bezug auf Südosteuropa im Allgemeinen und auf den zentralbalkanischen Konfliktknoten der Makedonischen Frage sind m. W. noch nirgends zusammenhängend dargestellt worden. Vgl. dazu Eduard Bernstein, „Zur macedonischen Frage I.“, Vorwärts, 20. Jg., Nr. 50 v. 28. Februar 1903, S. 1.; ders., „Zur macedonischen Frage II (Schluß)“, ibid., Nr. 52 v. 3. März 1903, S. 1; sowie als Auslöser die Zuschrift ibid., Nr. 47 v. 25. Februar 1903). 15 Karl Kautsky, „Die Slaven und die Revolution“, März-Festschrift, Wien 1902 (Erschienen erstmals in Iskra Nr. 18 v. 10. März 1902).

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und wohl begründet hat. 16 Die SPD übte vor allem in Bezug auf die sozialistischen Parteien in Bulgarien eine gewaltige Anziehungskraft und Vorbildfunktion aus. Der wichtigste Transmissionsriemen hierbei war die Person Karl Kautskys, das wichtigste Medium das von diesem redigierte theoretische Organ der SPD, Die Neue Zeit. Diese Wochenschrift, die Kautsky von 1883 bis 1917 in alleiniger Verantwortung herausgab, stellte zugleich das übernationale Diskussionsforum des Internationalen Sozialistischen Büros, also der ständigen Vertretung der Zweiten Internationale, dar. Und Kautsky war es auch, der Bulgaren und anderen Südosteuropäern die Spalten der Neuen Zeit in großzügiger Weise als Forum für Diskussion und Selbstdarstellung zur Verfügung stellte. Karl Kautsky (1854–1938) war ein Intellektueller bürgerlicher Herkunft, dem innerhalb der deutschen Sozialdemokratie das „Deutungsmonopol für den Marxismus“ und damit die Funktion des „Chefideologen“ zukam. 17 Der Umstand, dass Kautsky den Prototyp des „Parteiintellektuellen“ schlechthin darstellte, bietet möglicherweise die Erklärung für die Affinität, die namhafte bulgarische Sozialisten ihm gegenüber an den Tag legten. Denn die bulgarischen sozialistischen Parteien waren ja im Kern bis weit nach der Jahrhundertwende Zusammenschlüsse von Intellektuellen, da die Industrialisierung im Lande und damit auch das Entstehen einer Arbeiterschaft nur langsam und stockend voranging. In diesem Zusammenhang sei das aus südosteuropäischer Perspektive zweite große Verdienst Kautskys erwähnt, nämlich seine Rolle als Vermittler Marx’schen Denkens. „Durch seine Erläuterungen“, so der serbische Sozialist Živko Topalovi´c, „und nicht aus den Originalquellen haben die Gründer der modernen sozialistischen Bewegung in allen Balkanstaaten den Marxismus kennengelernt.“ 18 Das bereits erwähnte Abgehobensein der bulgarischen Sozialisten von der mikroskopisch kleinen Arbeiterschaft wird gemeinhin als Grund für Sektierertum und ständige Spaltungen angesehen. Zwar vereinigten sich die beiden 1891 und 1892 gegründeten sozialdemokratischen bulgarischen Parteien 1894 zur Bulgarischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, doch führten seit 1899 schwelende Differenzen über Fragen der Bündnispolitik 1903 zur neuerlichen, diesmal endgültigen Spaltung

16 Georges Haupt, „‚Führungspartei‘? Die Ausstrahlung der deutschen Sozialdemokratie auf den Südosten Europas zur Zeit der Zweiten Internationale“, Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (im Folgenden: IWK) 15 (1979), S. 1–30. 17 Dieter Schuster, „Kautsky“, in: Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft. Eine vergleichende Enzyklopädie, Bd. III. Ideologie bis Leistung, Freiburg, Basel, Wien 1969, Spp. 596–609; Marek Waldenberg, Wzlot i upadek Karola Kautskyego. Studium z historii my´sli społeczniej i polityczniej, 2 Bde., Kraków 1972; sowie Massimo L. Salvadori, Sozialismus und Demokratie. Karl Kautsky 1880–1938, Stuttgart 1982. Zum aktuellen Stand der Kautsky-Forschung vgl. Ursula Ratz, „Perspektiven über Karl Kautsky. Neuerscheinungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung anläßlich des 50. Todestages des ‚Chefideologen‘“, Neue politische Literatur 33 (1988), S. 7–24, und Inge Marßolek, „‚Karl Kautskys Bedeutung in der Geschichte der sozialistischen Arbeiterbewegung‘. Ein Tagungsbericht“, IWK 25 (1989), S. 96–103. 18 Živko Topalovi´c, „Mein geistiger Vater“, in: Ein Leben für den Sozialismus. Erinnerungen an Karl Kautsky, hrsg. v. Benedikt Kautsky, Hannover 1964, S. 76.

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in sogenannte „enge“ und „breite Sozialisten“. Die Spaltung stand dabei in keinem Zusammenhang mit der zeitgleichen Spaltung der russischen Sozialdemokratie in Bol’ševiki und Men’ševiki, denn dort zerstritt man sich über die Frage der Parteiorganisation – zentralistisch oder nicht –, nicht über Bündnisfragen. Folglich gab es auch keine wie auch immer geartete ideologische Affinität zwischen bulgarischen „engen Sozialisten“ und russischen Bol’ševiki bzw. zwischen bulgarischen „breiten Sozialisten“ und russischen Men’ševiki. 19 Die bulgarischen Sozialisten beider Couleur betrachteten die SPD als ihr Identifikationsobjekt, orientierten sich also weder an Vladimir I. Lenin noch an Julij O. Martov. Dimit˘ar Blagoev, der Führer der Engen, wies 1910 diesbezügliche Behauptungen Lev D. Trockijs explizit zurück: Unsere Partei entwickelte und entwickelt sich nicht unter Einfluß der russischen Partei, sondern unter Einfluß der deutschen. Nicht die [bol’ševistische Parteizeitung] Iskra, sondern die Neue Zeit und die deutschen sozialistischen Gedanken bilden einen, lebendigen Begriff’ für sie. 20

Natürlich ist es auch kein Zufall, dass Blagoev das 1897 gegründete theoretische Organ seiner Partei in Anlehnung an sein Vorbild Kautsky Novo vreme, „Neue Zeit“, nannte – ein Name, den das theoretische Organ der Bulgarischen Kommunistischen Partei noch heute trägt. In Bulgarien galt Kautsky als einziger legitimer Erbe bzw. Verwalter des Erbes von Marx und Engels, und daher war er der mit Abstand am häufigsten ins Bulgarische übersetzte sozialistische Autor. Zwischen 1880 und 1916 erschienen auf Bulgarisch 51 Broschüren und Bücher von Kautsky, während Marx selbst nur 21-mal und Engels 17-mal übersetzt wurden. 21 Hinzu kam eine große Zahl von KautskyÜbersetzungen in Form von Aufsätzen in der sozialistischen Presse. 22 Bulgarien war, wie Georges Haupt schreibt, hinsichtlich der sozialistischen Publikationstätigkeit ein „Sonderfall“: „Bulgarien steht weit an der Spitze [. . . ]: Hier gehören die sozialistischen Publikationen, die sich durch eine große Vielfalt auszeichnen, zur Volkskultur.“ 23 Nicht vergessen werden darf in diesem Zusammenhang auch, dass fast jeder im öffentlichen Leben des Landes Tätige, egal welcher politischer Richtung, irgendwann in seinem Leben einmal als Sozialist begonnen hat, der Sozialismus

19 Vg. hierzu Leo van Rossum, „Einleitung“, in: Korrespondenz, S. 13–58, hier S. 52 und bes. Anm. 135. 20 Dimit˘ar Blagoev, „Statijata na dr. Trocki“, Rabotniˇceski vestnik v. 7. September 1910 (Zit. nach van Rossum, „Einleitung“, S. 18). Gemeint ist ein Artikel Lev D. Trockijs, in dem er unter anderem auf die Geschichte der bulgarischen Engen einging und der später auch auf Deutsch veröffentlicht wurde: N. Trotzky, „In den Balkanländern“, Der Kampf 4 (1910–1911), Nr. 2. v. 1. 11. 1910, S. 68–74. – Zu den Beziehungen der bulgarischen Sozialisten zur Zweiten Internationale 1889–1912 s. die detaillierten annotierten bibliographischen Beiträge von Živka K˘aneva-Damjanova in Izvestija na instituta po istorija na BKP 47 (1987), S. 297–321; 58 (1987), S. 251–289; und 59 (1988), S. 236–270. 21 G. Haupt, „‚Führungspartei‘“?, Tab. 5, S. 20. 22 Els Wagenaar, „Bibliographie der Arbeiten K. Kautsky, veröffentlicht in Südosteuropa“, Korrespondenz, S. 572–602; Le Mouvement ouvrier bulgare. Publications socialistes bulgares 1882–1918. Essai bibliographique, hrsg. v. Georges Haupt [et al.]. Paris 1984. 23 G. Haupt, „‚Führungspartei‘“?, S. 16.

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hier als eine Art unvermeidliche – und somit entschuldbare – Kinderkrankheit auf der politischen Karriereleiter zu betrachten ist, woraus folgt, dass die große Mehrzahl der Angehörigen der politischen Eliten des Landes mehr oder weniger enge Bekanntschaft mit den Schriften Kautskys gemacht hat. Wie überragend und alles dominierend der politische, ideologische und vor allem persönliche Einfluss von Kautsky auf sämtliche Spektren der sozialistischen Bewegung Bulgariens – und zwar ungeachtet ihrer Spaltungen – gewesen ist, mag ein Beispiel erläutern: Auf der 10. Sitzung des Internationalen Sozialistischen Büros am 11. Oktober 1908 in Brüssel kam es über die Frage der Zulassung der britischen Labour Party zur Zweiten Internationale zu einer im Grunde geringfügigen Meinungsverschiedenheit zwischen Kautsky und Lenin, im Zuge derer sich der Vertreter der bulgarischen Engen, Stefan Avramov, der Meinung Lenins anschloss. Bezeichnend war die Reaktion Blagoevs, der Avramov brieflich Folgendes vorhielt: Begreifst Du eigentlich, was Du getan hast? Wie hast Du Dich so hinreißen lassen können, daß Du mit Lenin gegen Kautsky gestimmt hast? Wer bist Du denn, im Vergleich zu Kautsky? Ich habe Dich immer als einen jungen talentierten Menschen gekannt, bescheiden und eifrig. Jetzt sieht man das Resultat. Du denkst genau wie alle Andern unserer jungen Garde, die nach Europa gingen: Du bildest Dir ein, daß Du es selbst mit Kautsky aufnehmen kannst. 24

Und Avramov selbst schrieb ein Jahr später in einem Brief: Sie haben gesehen, daß ich im Oktober 1908 gegen mich selber als orthodoxen Marxisten gesprochen und gestimmt habe! Gegen Kautsky! Vielleicht bin ich verrückt – ich weiß es nicht! 25

Allerdings wäre es falsch anzunehmen, der Einfluss Kautskys als Vertreter des „faktischen sozialdemokratischen Imperialismus in der Zweiten Internationale“ (Hans Mommsen 26) sei konstant und allgegenwärtig gewesen. Zwar wurden Schriften und Person Kautskys von beiden verfeindeten sozialistischen Parteien Bulgariens als Bibel und Argumentsteinbruch bzw. Klageinstanz ständig benutzt, doch suchte sich jede Seite nur die für sie passenden Versatzstücke heraus. Und natürlich sah man mit dem Sinken von Kautskys Stern im Laufe des Ersten Weltkriegs den „hochverehrten Meister und Genossen“ in zunehmend realistischerem Licht. Die Themen, die die Auseinandersetzungen zwischen Engen und Breiten nach der Spaltung von 1903 vornehmlich bestimmten und bei denen sich beide Seiten ständig auf Kautsky als Kronzeugen beriefen, waren zum einen die Agrarfrage, die zugleich die Frage nach der Haltung gegenüber dem sich 1899 formierenden Bulgarischen Nationalen Bauernbund beinhaltete, sowie die nationale Frage, hier vor 24 Ico Samuilov, „Desetata sesija na Meždunarodnoto socialistiˇcesko bjuro i partijata na tesnite socialisti“, Nauˇcni trudove na Visšata partijna škola „Stanke Dimitrov“ pri CK na BKP. Otdel istorija 38 (1969), S. 343–378, hier S. 374. 25 Ibid. 26 Hans Mommsen, „Zum Problem der vergleichenden Behandlung nationaler Arbeiterbewegungen am Beispiel Ost- und Südostmitteleuropas [sic!]“, IWK 15 (1979), S. 31–34, hier S. 33.

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allem das makedonische Problem. 1899 hatte Kautsky sein voluminöses Buch Die Agrarfrage 27 veröffentlicht, welches Janko Sak˘azov, der spätere Führer der Breiten und Vertraute Kautskys, mit einer Mischung aus Enttäuschung und Optimismus als ein Werk bezeichnete, „welches nicht gerade für unsere Verhältnisse geschrieben ist, aber wo wir das Bild unserer Zukunft erblicken können.“ 28 Im selben Jahr schrieb Kautsky ein Vorwort zu der von Sak˘azov initiierten bulgarischen Übersetzung der Agrarfrage 29, wo er diesem wichtige Argumente lieferte. Zwar seien die meisten seiner anhand der deutschen bzw. preußischen Verhältnisse gewonnenen Erkenntnisse in diesem Buch nicht auf andere, zumal unterentwickelte Länder übertragbar, so Kautsky, doch müsse „der Schutz der Landbevölkerung vor Militarismus und vor dem Steuersystem“ ein Anliegen der Sozialisten aller Länder sein. 30 Und in denjenigen unterentwickelten Ländern, in denen das zahlenmäßig schwache städtische Proletariat und die mit ihm verbündete Intelligenzija „genügend stark sind, um eine kräftige Sozialdemokratie – oder auch nur eine Demokratie – zu bilden, kann man daran denken, um den Kern dieses politischen und sozialen Forschrittheeres herum die Bauern als Hilfstruppen zu gruppieren.“ 31 Die Frage eines Bündnisses mit dem sich politisch organisierenden Bauerntum bildete den Hauptstreitpunkt in der bulgarischen sozialistischen Partei seit 1899 und führte direkt in die Spaltung von 1903. 32 Der mit dem Schlagwort „gemeinsame Sache“ (obšto delo), nämlich mit den Bauern, aber auch mit Handwerkern, Industriellen und Kaufleuten, operierende Parteiflügel um Sak˘azov konnte sich bei seiner Forderung nach Zusammenarbeit aller sogenannten „produktiven Kräfte“ nun also explizit auf Kautsky berufen. 33 Die Engen hingegen bemühten sich, diesen Vorteil der Breiten durch andere Mittel wettzumachen: „Die ‚Schirokite‘“, also die Breiten, „sind eine kleinbürgerliche Partei von Strebern, Demagogen und Übermenschen“, schrieb das Führungsmitglied der Engen, Georgi Kirkov, an Kautsky nach Berlin 34, und Blagoev berichtete ihm gar, diese seien „eine im vulgärsten Sinne [sich] als radikal gebärdende kleinbürgerliche Gruppe von Intelligenten.“ 35 27 Karl Kautsky, Die Agrarfrage. Eine Übersicht über die Tendenzen der modernen Landwirtschaft und die Agrarpolitik der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899. 28 J. Sakazov an K. Kautsky, Sofija, 12. Februar 1899, Korrespondenz, Dok. Nr. 5, S. 85–88, hier S. 87. 29 Karl Kaucki, „Pregovor kam b˘algarskoto izdanie“, in: ders., Zemedelˇceskata politika na socialnata demokracija, Sofija 1900, S. 7–10 (dt. Rückübers. in Korrespondenz, Anhang A, S. 615–617). 30 Ibid., S. 615. 31 Ibid., S. 617. 32 Vgl. hierzu Armando Pitassio, „La socialdemocrazia Bulgara e la questione agraria (1883–1904)“, Annali della facolta di scienze politiche (Perugia) 18 (1981–1982), S. 35–52 (= Materiali di storia, Bd. 6), sowie Frederick Chary, „Agrarians, Radicals, Socialists, and the Bulgarian Peasantry: 1899– 1905“, The Peasantry of Eastern Europe, vol. I: Roots of Rural Transformation, ed. by Ivan Volgyes, New York, NY u. a.] 1979, S. 35–55, hier bes. S. 38–42. 33 1900 gründete J. Sak˘azov die gleichnamige Zeitung Obšto delo, von der sich auch die Bezeichnung obštodelci als Synonym für Breite ableitete. Vgl. dazu Pitassio, „Janko Sakazov“, S. 274–294. 34 G. Kirkov an K. Kautsky, Sofija, 5. November 1909, Korrespondenz, Dok. Nr. 26, S. 121. 35 D. Blagoev an K. Kautsky, Sofija, 8./21. Februar 1910, Korrespondenz, Dok. Nr. 29, S. 127–129, hier S. 127.

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Doch auch die Engen hatten Gelegenheit, sich gegenüber den Breiten auf Kautsky zu berufen. 1908 hatte dieser auf Anraten Blagoevs einen Artikel über „Die nationalen Aufgaben der Sozialisten unter den Balkanslawen“ veröffentlicht 36, der zum Auslöser der sozialistischen Diskussion über eine Balkanföderation werden sollte. Kautsky leitete seine Gedanken mit einer Analyse der Situation und der Aufgaben der südosteuropäischen sozialdemokratischen Parteien ein, und ging dann zum eigentlichen Problem über: Die Lage der Sozialisten in einem ökonomisch unterentwickelten Lande, in dem der proletarische Klassenkampf noch eine geringe Rolle spielt, ist keine einfache. Natürlich müssen sie hier wie überall die Interessen des Proletariats in erster Linie aufs energischste vertreten. Aber ist diese Klasse nur in embryonalem Zustande vorhanden, dann besteht die Aufgabe der Sozialisten mehr darin, ihre künftigen, als ihre augenblicklichen Interessen zu verfechten; weniger darin, den Klassenkampf zu führen, als darin, den Boden für ihn vorzubereiten. Dazu gehört auch das Streben nach voller Unabhängigkeit der Nation. Ohne solche Unabhängigkeit kann der proletarische Klassenkampf nicht seine volle Kraft entfalten. [. . . ] Es gibt nur einen Weg, die bulgarische Nation vollständig zu einigen, die Bulgaren Mazedoniens mit ihren Brüdern zu vereinigen, ohne äußere Hilfe für Bulgarien und ohne ewiges Zerwürfnis mit Serben, Griechen, Türken, und das ist die Vereinigung aller Nationen der Balkanhalbinsel in einer Föderativrepublik. 37

Dem hielt Sak˘azov im Namen der Breiten, deren patriotische Kehrtwende von 1915 sich hier bereits andeutete, entgegen, die Idee einer Balkanföderation sei „eine Fata Morgana“ 38, die dringend der Revision bedürfe. 39 Überdies sei sie überflüssig, denn [d]ie tatsächliche Entwicklung in Südosteuropa untergräbt alle diese Rassenfiktionen und nationalistischen Ideologien und macht Platz einer anderen, sozialistischen Staatsidee, deren Formen noch nicht zu bestimmen sind, deren Inhalt aber die Annäherung und die Verbrüderung aller Völker auch im Südosten Europas sein wird. 40

Mit anderen Worten: Die nahende sozialistische Weltrevolution mache eine demokratische Balkanföderation überflüssig. Dem widersprach unter Berufung auf Kautsky und in dessen Organ Die Neue Zeit Blagoevs Mitarbeiter Christo Kabakˇciev: Solange aber die Politik der Balkanstaaten eine dynastische bleibt, solange die Bourgeoisien dieser Staaten in chauvinistischem Nationalismus und Militarismus ihr Heil suchen, kann es auf dem Balkan nicht zu Ruhe, Frieden und Unabhängigkeit kommen. Zu deren Er-

36 Karl Kautsky, „Die nationalen Aufgaben der Sozialisten unter den Balkanslawen“, Der Kampf, 2. Jg., Nr. 3 v. 1. Dezember 1908, S. 105–110 (hier zit. nach dem Wiederabdruck in Korrespondenz, Anhang C, S. 621–626). 37 Ibid., S. 621–622. 38 Janko Sakasoff, „Neoslawismus, Balkanföderalismus und Sozialdemokratie“, Der Kampf 4. Jg., Nr. 5 v. 1. Februar 1911, S. 209–214, hier S. 212. 39 Ibid., S. 214. 40 Ibid.

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reichung führt nur ein Weg, jener, den das klassenbewußte Proletariat des Balkans betreten will, der Weg der demokratischen Föderation der Balkannationen. 41

Mit anderen Worten: Kautsky optierte für die Bildung von ethnisch weitgehend homogenen Nationalstaaten, die sich in einem zweiten Schritt zu einem Bundesstaat formieren sollten, wobei seiner Meinung nach die osmanische Region Makedonien künftig dem sich kurz zuvor als unabhängig von der Hohen Pforte erklärten und seit 1885 um Ostrumelien erweiterten Bulgarien zugeschlagen werden sollte – eine Ansicht, welche zwar die große Mehrheit der politischen Klasse dieses Fürstentums (bzw. jetzt: Königreichs) einschließlich der Engsozialisten, nicht hingegen die Breitsozialisten teilte. Zwar fiel die erhöhte Interaktivität zwischen Kautsky und bulgarischen Sozialisten unterschiedlicher Couleur in den Zeitraum 1899–1915, doch ist ein erster Kontakt bereits für das Jahr 1887 nachgewiesen. Damals schrieb Spiro Gulabˇcev, der Gründer der genuin bulgarischen Siromachomilstvo-Ideologie, ein Konglomerat aus Sozialismus und Anarchismus, das dann vom Marxismus verdrängt wurde, an Kautsky, um Die Neue Zeit zu abonnieren. 42 Das Jahr 1890 war dann der Beginn einer langjährigen Freundschaft zwischen Kautsky und Sak˘azov, welche bis zum Beginn der 1930er-Jahre anhielt. Erste Trübungen erfuhr diese Freundschaft, wie gesagt, im Zuge der Debatte über die Balkanföderation ab 1908. 43 In dieser Zeit löste der besagte Kirkov Sak˘azov in seiner Funktion als Kautskys Hauptinformant in und über Bulgarien ab. Aber auch die Engen gingen bald zu Kautsky auf Distanz. Im Juli 1915 übte ihr Führer Blagoev offen Kritik an ihm, indem er ihm angesichts des Weltkriegs Tatenlosigkeit vorwarf. 44 Kurz vor dem endgültigen Bruch der Engen mit Kautsky im Sommer 1917 schrieb ihm Kirkov einen Brief, in welchem es in später Selbsterkenntnis hieß: „Es scheint, daß unsere Vorstellungen – die Vorstellungen der Sozialdemokraten der kleineren noch unterentwickelten Länder – von der Sozialdemokratie Deutschlands sehr übertrieben waren [. . . ].“ 45 Während die 1919 gegründete, aus den Engen hervorgegangene Bulgarische Kommunistische Partei Kautsky nicht mehr zu ihren Autoritäten rechnete, verbes-

41 Christo Kabaktschieff, „Fürstenbund oder Balkanrepublik?“, Die Neue Zeit 31 (1912–1913), Bd. I, Nr. 9, S. 311–320, hier S. 313. 42 S. hierzu Stefan Troebst, „Anarchisten aus Bulgarien in der makedonischen national-revolutionären Bewegung (1896–1912)“, 1300 Jahre Bulgarien. Studien aus der Bundesrepublik Deutschland und Berlin-West zum I. Internationalen Bulgaristik-Kongreß Sofia 1981, hrgs. v. Wolfgang Gesemann et al. Bd. I, Neuried 1981, S. 93–114, hier S. 97 u. 109. 43 Vgl. dazu Janko Sak˘azovs Beitrag „Die Bedeutung der Lebensarbeit Karl Kautskys für die Entwicklung des Sozialismus in Bulgarien“, in: Karl Kautsky, dem Wahrer und Mehrer der Marx’schen Lehre zum 70ten Geburtstage. Ein Sonderheft von Die Gesellschaft zu Karl Kautskys 70. Geburtstag, Berlin 1932 [recte: 1924] (Reprint Frankfurt /M. 1968), S. 110–113, wo es auf S. 112 heißt, „eine geradezu feindliche Entfremdung gegenüber dem warm geliebten und bei uns allgemein verehrten Vorkämpfer des europäischen Sozialismus“ habe sich bei einigen bulgarische Sozialisten breitgemacht. 44 G. Haupt, „‚Führungspartei‘“?, S. 30. 45 G. Kirkov an K. Kautsky, Sofija, 14. April 1917, Korrespondenz, Dok. Nr. 55, S. 171–172, hier S. 172.

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serte sich das Verhältnis von Sak˘azovs Sozialdemokratischer Partei zu ihm neuerlich zunehmend. 1922 schrieb ihm Sak˘azov: Sie können jetzt ruhig aufatmen nach so vielen Verleumdungen und Mißverständnissen. Sie waren und Sie sind im Rechte. Man soll Sie nur lesen und verstehen lernen. [. . . ] Ihr Buch [= Die Proletarische Revolution und ihr Programm, Stuttgart 1922] ist die Antwort, die man von Ihnen von der ganzen soz. Welt erwartet hatte. 46

Zehn Jahre später jedoch, im Zuge der nationalsozialistischen Bedrohung in Deutschland, gingen die Ansichten zwischen Kautsky und den bulgarischen Sozialdemokraten wieder stark auseinander. Kautsky war gegen jede Zusammenarbeit mit der Kommunistischen Partei, während Sak˘azov wie zuvor auf „gemeinsame Sache“ bzw. jetzt: Volksfront drängte. 47 Der letzte Briefwechsel Kautskys mit einem Bulgaren ist derjenige mit dem Makedonierfunktionär und Rechtsaußen der bulgarischen sozialdemokratischen Partei, Pet˘ar Džidrov 48, aus dem Winter 1933/1934, und er ist in gewisser Weise symptomatisch für Kautskys politische Entwicklung. Džidrov wandte sich an Kautsky mit der Erwartung, daß Sie werter Genosse Kautzky [sic!], im Stande sein werden die Idee für eine unparteiische Regierung bei den jetzigen Verhältnissen in Bulgarien und bei der herrschenden ökonomischen Krise aufklären zu können und uns den Weg (den wirklichen Weg) zur Transformation der Demokratie – wenn das möglich ist – zu zeigen. 49

Genau drei Monate vor dem Staatsstreich vom 19. Mai 1934 in Bulgarien, der dann eine solche Regierung an die Macht brachte, antwortete Kautsky: Es ließe sich gegen eine „Regierung, die nicht aus Parteihäuptern gebildet wird, sondern aus Fachleuten und Bureaukraten, die von den Parteien unabhängig sind [. . . ], principiell sicher nichts einwenden“. 50 Das Symptomatische an dieser Antwort wie überhaupt am Briefwechsel Kautskys mit bulgarischen Sozialisten ist, dass am Anfang, 1887, der linksextreme, ja anarchistisch denkende Gulabˇcev stand, dann „bürokratische Sozialisten“ wie Sak˘azov und Kirkov die Hauptkorrespondenzpartner waren, um schließlich von einem autoritär gesinnten Nationalisten wie Džidrov, der nur mit Mühe mit 46 J. Sakazov an K. Kautsky, Sofija, 16. Dezember 1922, Korrespondenz, Dok. Nr. 59, S. 177–178, hier S. 177. 47 A. Pitassio, „Janko Sakazov“, S. 32. 48 Zur Person P. Džidrovs s. Korrespondenz, S. 193–194, zu seinen makedonienpolitischen Ansichten Pet˘ar Džidrov, Problem˘at za Makedonija, Sofija 1930, und ders., Edinstvoto v makedonskoto dviženie, Sofija 1931, sowie zu seinen makedonienpolitischen Aktivitäten Stefan Troebst, Mussolini, Makedonien und die Mächte 1922–1930: Die „Innere Makedonische Revolutionäre Organisation“ in der Südosteuropapolitik des faschistischen Italien, Köln, Wien 1987, S. 106. 49 P. Džidrov an K. Kautsky, Sofija, 6. Dezember 1933, Korrespondenz, Dok. Nr. 75, S. 190–193, hier S. 193. 50 K. Kautsky an P. Džidrov, Wien, 20. Februar 1934, Korrespondenz, Dok. Nr. 78, S. 199–200, hier S. 199. Vgl. auch K. Kautsky an P. Džidrov, Wien, 31. Dezember 1933, Korrespondenz, Dok. Nr. 76, S. 194–195, sowie P. Džidrov an K. Kautsky, Sofija, 3. Februar 1934, Korrespondenz, Dok. Nr. 77, S. 196–198.

„Hochverehrter Meister und Genosse!“

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sozialdemokratischen Grundsätzen in Verbindung gebracht werden kann, abgelöst zu werden. Der Einfluss des „roten Papstes“ Karl Kautsky, wie ihn in Anlehnung an den zeitgenössischen Sprachgebrauch der polnische Historiker Marek Waldenberg genannt hat 51, auf die sozialistischen Bewegungen in Bulgarien hat nach seiner Entlassung als Herausgeber der Neuen Zeit am 28. September 1917 und seit dem Beginn einer anderen „neuen Zeit“ nur wenige Wochen später, der bol’ševistischen Revolution in Russland, nicht mehr existiert. Die engsozialistischen Schüler Kautskys in Bulgarien wandten sich nun einem anderen „Lehrer“, nämlich Lenin, zu, während die Breiten für ca. 15 Jahre mehr an Posten und Pfründen als am Marxismus und seinem mittlerweile zweifelnden Verkünder Kautsky interessiert waren. Dies ist auch der Grund dafür, dass der Name Karl Kautsky heute in Bulgarien selbst in der Geschichtswissenschaft in Vergessenheit zu geraten droht 52, wäre da nicht der Parteihistoriker Dobrin Miˇcev, der mehrfach einen Leitartikel aus Blagoevs Parteizeitung Rabotniˇceski vestnik vom Oktober 1914 zitiert hat, in dem es heißt: Wie die deutsche Sozialdemokratie unserer Partei, die sich stets an der gewaltigen Erfahrung und an dem großen Beispiel dieser mächtigsten sozialdemokratischen Partei der Welt orientiert hat, als Vorbild gedient hat, so ist auch der namhafte Theoretiker der deutschen und internationalen Sozialdemokratie, Karl Kautsky, unser bester Lehrer gewesen. 53

51 Marek Waldenberg. Il papa rosso. Karl Kautsky, Roma 1980. 52 Vgl. etwa das Standardwerk über die Beziehungen der bulgarischen Sozialisten zur SPD von Marija Marinova, B˘algarskite marksisti i germanskoto rabotniˇcesko dviženie 1900–1912, Sofija 1979; dies., „B˘algarskite marksisti i germanskoto socialdemokratiˇceskot dviženie prez 1903–1912 g.“, Istoriˇceski pregled 24 (1968), H. 3, S. 52–57. 53 Rabotniˇceski vestnik Nr. 150 v. 19. Oktober 1914, zit. bei Dobrin Miˇcev, Georgi Dimitrov i rabotniˇceskoto dviženie v Germanija, Sofija 1984, S. 24. Vgl. auch ders., „Georgi Dimitrov und die deutsche Sozialdemokratie (bis 1919)“, Bulgarian Historical Review 4 (1976), H. 1, S. 3–24, hier S. 5.

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Makedonien als Lebensthema Henry Noël Brailsford (1873–1958)

[2015] Am 18. Juli 1913 schlossen die Gegner im Interallianz- bzw. Zweiten Balkankrieg, also das unterlegene Bulgarien auf der einen und die siegreichen Nachbarn Rumänien, Serbien, Griechenland und das Osmanische Reich auf der anderen Seite, einen Waffenstillstand. Unmittelbar danach beschloss die Leitung des 1910 von dem US-amerikanischen Industriellen und Philanthropen Andrew Carnegie gegründeten Carnegie Endowment for International Peace in New York die Entsendung einer internationalen Kommission auf den Kriegsschauplatz zur Untersuchung von Gründen und Verlauf der beiden Balkankriege von 1912/1913 und 1913. Insonderheit sollte die Kommission Massaker und Grausamkeiten, welche Kombattanten an Nicht-Kombattanten, d. h. an der Zivilbevölkerung begangen hatten, untersuchen, die Schuldigen identifizieren sowie den wirtschaftlichen Schaden kalkulieren, welchen die Kriege bewirkt hatten. Eine solche Kommission war sowohl für die Stiftung eine Premiere als überhaupt die erste Unternehmung dieser Art einer Nicht-Regierungsorganisation weltweit. Ziel der „Carnegie men“ war dabei zum einen, das Endowment im globalen Maßstab, vor allem aber im transatlantischen Bereich auf die Karte der internationalen Beziehungen zu setzen. Und zum anderen sollte der US-amerikanischen Außenpolitik ein Professionalisierungsschub versetzt werden. 1 Beide Ziele wurden nur sehr bedingt erreicht. Dies lag vor allem daran, dass der Bericht der Kommission über ihre Vor-Ort-Recherchen im August und September 1913 in Serbien, Griechenland, dem Osmanischen Reich und Bulgarien nur mit großer zeitlicher Verzögerung, im Mai 2014, erschien 2 und daher seiner potentielle Wirkung von der Juli-Krise und dem Beginn des Ersten Weltkriegs weitgehend erstickt wurde. Hinzu kam der Umstand, dass es sich bei dem Bericht um ein schwer lesbares Konglomerat stark unterschiedlicher Kapitel und Dokumentenanhängen handelte. Die personelle Zusammensetzung der achtköpfigen Kommission geht zum einen auf ein Schneeballsystem persönlicher Bekanntschaften des konservativen Philosophen, späteren Friedensnobelpreisträgers und damaligen Präsidenten von Columbia University und Carnegie Endowment, Nicholas Murray Butler, sowie des Leiters

1

2

Rausch, Helke: Professionalisierung als diplomatische Strategie: Das US-amerikanische Carnegie Endowment in Europa vor 1945. In: Löhr, Isabella, Matthias Middell, Hannes Siegrist (Hrsg.): Kultur und Beruf in Europa. Stuttgart: F. Steiner, 2012, S. 217–226. Siehe auch Dies.: Internationales Recht und Verständigungs-Internationalismus unter Druck: Politische Profile der Carnegie Men im Umfeld des Balkanberichts von 1914. In: Comparativ 24 (2014), H. 6, S. 25–51. Carnegie Endowment for International Peace: Report of the International Commission to Inquire into the Causes and Conduct of the Balkan Wars. Washington, DC: Carnegie Endowment for International Peace, 1914 (im Folgenden zitiert als Report).

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des Pariser Carnegie-Büros, des Diplomaten Baron Paul d’Estournelles de Constant, zurück. 3 Zum anderen gaben persönliche Umstände der von beiden Eingeladenen den Ausschlag, da etliche aus gesundheitlichen und anderen Gründen ihre Mitwirkung an der Kommission generell absagten oder aber an der geplanten Reise auf den Balkan nicht teilnehmen konnten bzw. wollten. So war etwa der „special correspondent“ des Carnegie Endowment in Deutschland und Butler-Vertraute Professor Wilhelm Paszkowski von der Berliner Universität sowohl an der Mitwirkung in der Kommission wie an der Reiseteilnahme verhindert, schlug aber den Marburger Staats- und Völkerrechtler Walter Schücking vor. Ebenso sagte Francis Hirst, Herausgeber des Londoner Economist, zwar seine Mitwirkung an der Kommission, nicht aber seine Beteiligung an der Balkanreise zu, verwies jedoch diesbezüglich auf seinen Journalistenkollegen Henry Noël Brailsford. Der gleichfalls absagende St. Petersburger Soziologe Maksim M. Kovalevskij regte erfolgreich an, den russischen Historiker, Journalisten und Politiker Pavel N. Miljukov als Kommissionsmitglied zu berufen. Ähnlich verhielt es sich mit dem französischen Balkanexperten Victor Bérard, der als Ersatz den Lyoner Politiker Justin Godart vorschlug, desgleichen mit dem sprachkundigen US-Amerikaner Pr. Price, der den in der Hilfe für armenische und syrische Flüchtlinge aus dem Osmanischen Reich engagierten Pazifisten und Juristen Samuel Dutton von der Columbia University in New York an seiner Statt empfahl. 4 Das Ergebnis war eine in mehrfacher Hinsicht heterogene Gruppe was Sprachund Regionalkenntnisse, aber auch politische Einstellung und ideologische Ausrichtung betraf. Eine Folge davon war, dass die Kommissionsmitglieder nach beendeter Kommissionsarbeit zwar, wie im Falle Godarts, Duttons und Schückings, weiterhin Kontakt zum Carnegie Endowment, nicht aber untereinander hielten. Der Umstand, dass die Biographien der Mehrheit der die engere Kommission bildenden Mitglieder, welche 1913 zu Fact-finding-Zwecken nach Belgrad, Thessaloniki, Istanbul und Sofija reisten, also Godart, Miljukov, Brailsford und Dutton, als gut bis sehr gut erforscht gelten können 5, lässt diesen Schluss zu. In besonderem Umfang gilt dieser bemerkenswerte Forschungsstand für die überaus gründliche wie kritische Biogra3

4 5

Mitglieder der Kommission waren d’Estournelles de Constant (Vorsitz), Francis Hirst, Walter Schücking, Justin Godart, Henry N. Brailsford, Pavel N. Miljukov, Samuel Dutton und Joseph Redlich. Vgl. Akhund, Nadine: The Two Carnegie Reports: From the Balkan Expedition of 1913 to the Albanian Trip of 1921. A Comparative Approach. In: Balkanologie. Revue d’études pluridisciplinaires 14 (2012), H. 1–2 (URL http://balkanologie.revues.org/2365, letzter Zugriff: 04. 10. 2016). Ebd. Vgl. zu Godart Wieviorka, Annette (dir.): Justin Godart. Un homme dans son siècle (1871–1956). Paris: CNRS Éditions, 2004, und Bilange, François: Justin Godart. La Plaisante Sagesse Lyonnaise. Lyon: Éditions Lyonnaises d’art et d’histoire, 2006; zu Brailsford Leventhal, F. M.: The Last Dissenter. H. N. Brailsford and His World. Oxford: Clarendon Press, 1985; und zu Miljukov Riha, Thomas: A Russian European. Paul Miliukov in Russian Politics. Notre Dame, IN: University of Notre Dame Press, 1969, Kirschke Stockdale, Melissa: Paul Miliukov and the Quest for a Liberal Russia 1880– 1918. Ithaca, NY: Cornell University Press, 1996, und P. N. Miljukov: Istorik, politik, diplomat. Materialy meždunarodnoj nauˇcnoj konferencii, Moskva, 26–27 mart 1999 g. [P. N. Miljukov: Historiker, Politiker, Diplomat. Materialien einer internationalen wissenschaftlichen Konferenz, Moskau, 26.–

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phie von Fred Leventhal über H. N. Brailsford aus dem Jahr 1985, die auch und gerade dessen Balkaninteresse sowie seine Aufenthalte dort zwischen 1897 und 1951 umfassend berücksichtigt. 6 Hinzu kommt, dass Brailsford – gleich Miljukov – bis heute ein „Markenname“ in der Region ist. Nicht zufällig ist sein 1906 in London erschienenes Buch Macedonia. Its Races and Their Future, mit dem er sich international als MakedonienExperte etablierte, im Juni 2013, also über einhundert Jahre später, in Sofija, der Hauptstadt Bulgariens, in bulgarischer Übersetzung glamourös präsentiert worden. 7 Dies vor allem deshalb, weil Brailsford 1906 die ostsüdslawisch sprechende christlich-orthodoxe Bevölkerungsmehrheit des osmanischen Makedonien als „Bulgaren“ klassifizierte. Von selbst versteht sich, dass die in späteren Jahrzehnten erfolgte Wandlung Brailsfords von einem in der Makedonischen Frage pro-bulgarischen Saulus zu einem pro-makedonischen Paulus bei dieser Gelegenheit explizit unerwähnt blieb. Denn im bzw. nach dem Zweiten Weltkrieg gelangte er zu der Überzeugung, bei den orthodoxen Slavophonen Vardar-Makedoniens handle es sich um eine eigenständige südslawische Nation der „Makedonier“. Eben dieser Deutungswechsel macht Brailsford bis heute zu einem schwierigen Autor für Geschichtswissenschaft und historisch interessierte Öffentlichkeit in Sofija wie in Skopje. Zu betonen ist dabei allerdings, dass Brailsfords eigentliche Aufmerksamkeit nicht der indifferenten und häufig fluktuierenden ethnischen Zugehörigkeit der Bewohner der Region galt, sondern vielmehr den Möglichkeiten zur Lösung des spät- und post-osmanischen Konfliktknotens Makedonien. Dabei changierten, wie noch zu zeigen sein wird, seine Sympathien nicht nur zwischen der Hohen Pforte und dem Fürstentum Bulgarien, sondern auch zwischen autochthonen und austro-serbischen Modellen. Sein Lebensthema Makedonien war Brailsford mitnichten bereits an der Wiege gesungen worden. Der in Yorkshire aufgewachsene und in Schottland zur Schule gegangene Sohn eines Methodistenpredigers profilierte sich nach Versuchen als klassischer Philologe und Romancier zunächst als Linksaußen der Labour Party sowie als überaus einflussreicher Journalist mit einem Schwerpunkt auf dem Commonwealth, seinen Kolonien und seinen Beziehungen zu den anderen Großmächten. Wie viele junge Briten im 19. Jahrhundert war er hochgradig graecophil und meldete sich 1897, im Alter von 24 Jahren, ungeachtet des Fehlens jeglicher militärischer Erfahrung freiwillig zur britischen Philhellenic Legion, die auf Seiten des Königreichs Griechenland in den Krieg gegen das Osmanische Reich eingriff. Bei Larissa leicht

6 7

˙ 27. März 1999]. Moskva: ROSSPEN, 2000. Vgl. speziell auch Bohn, Thomas: Wissenschaftliche Expedition und politische Reise: Bulgarien in der Balkankonzeption P. M. Miljukovs. In: Österreichische Osthefte 34 (1992), S. 312–333, sowie ders.: Geschichte und Politik.Makedonien im Kalkül des russischen Historikers und Dumaabgeordneten Pavel N. Miljukov. In: Comparativ 24 (2014), H. 6, S. 52–67. Allerdings ist zu Leben und Werk Duttons wenig bekannt. Leventhal: The Last Dissenter. Brejlsf˘ard, Chenri Noel: Makedonija. Nejnite narodi i tjachnoto b˘adešte [Makedonien. Seine Völker und ihre Zukunft]. Prevod ot anglijski Dimit˘ar Beˇcev. Sofija: Institut „B˘algarija – Makedonija“, 2013.

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verletzt und tief frustriert von der Disziplinlosigkeit und dem fehlenden Heldenmut seiner griechischen Ko-Kombattanten kehrte er indes bald nach Großbritannien zurück. Sein Biograph Leventhal schreibt dazu: Seven weeks in Greece had shattered his ideals, leaving a permanent distaste for the excesses of patriotism and the brutalities of war. 8

Brailsfords griechisches Abenteuer hatte aber noch eine weitere Folge. Denn im Krisenjahr 1903 schickte ihn C. P. Scott, der Herausgeber des Manchester Guardian, seines kurzen, aber heftigen Balkanabenteuers wegen als Korrespondent in die osmanische Krisenregion Makedonien, wo er zwischen April und Juli gemeinsam mit seiner Frau Jane Städte wie Monastır (heute Bitola), Kalkandelen (heute Tetovo), und Üsküb (heute Skopje) sowie zahlreiche Dörfer der Region bereiste. 9 Kaum zurück in London brach der Aufstand der Inneren Makedonisch-Thrakischen Revolutionären Organisation vom St.-Elias-Tag (Ilinden) gegen die Hohe Pforte aus 10, und die Brailsfords kehrten im Oktober 1903, d. h. unmittelbar nach der Niederschlagung des Aufstandes durch reguläre und irreguläre osmanische Truppen, in das jetzt kriegszerstörte Makedonien zurück – diesmal allerdings nicht zum Zwecke der Berichterstattung, sondern in humanitärer Mission als regionale Vertreter im Vilayet Monastır des neu gegründeten Londoner Macedonian Relief Committee. Henry Brailsfords Aufgabe war es, Hilfsgüter in entlegene Dörfer zu bringen, während Jane Brailsford in Ochrid eine Krankenstation betrieb. Hier steckte sie sich mit Typhus an, was im April 1904 die Rückkehr der Brailsfords nach Großbritannien erzwang. 11 Nun begann Brailsford die Arbeit an seinem besagten Makedonien-Buch, das Anfang 1906 erschien und neben einer „Ethnographical Map of Macedonia“, welche die Region als primär bulgarisch besiedelt auswies, sowie Fotografien der aktuellen Kriegszerstörungen von Dörfern, Kirchen und Infrastruktur vor allem konkrete Politikempfehlungen enthielt. 12 Der türkische Makedonien-Historiker Fikret Adanır hat diese wie folgt zusammengefasst: Entschieden wendet sich der Verf. gegen eine Teilung Makedoniens zwischen Österreich und Rußland oder zwischen den Balkanstaaten, da keiner der letzteren in der Lage wäre, die anderen Nationalitäten gerecht zu behandeln, und plädiert für das Verbleiben des Landes beim Osman. Reich unter einer wirksamen internationalen Kontrolle. Darüber, wie diese

8 Ebd., S. 32. 9 Ebd., S. 46–48. 10 Zum Aufstand vgl. Adanır, Fikret: Die Makedonische Frage. Ihre Entstehung und Entwicklung bis 1908. Wiesbaden: Franz Steiner Verlag, 1979, S. 160–199; Perry, Duncan M.: The Politics of Terror. The Macedonian Liberation Movements, 1893–1903. Durham, NC: Duke University Press, 1988, S. 107–142; und die zeitzeugenbasierte Untersuchung von Brown, Keith: Loyal unto Death. Trust and Terror in Revolutionary Macedonia. Bloomington, IN, Indianapolis, IN: Indiana University Press, 2013. 11 Leventhal: The Last Dissenter, S. 49–50. 12 Brailsford, H. N.: Macedonia. Its Races and Their Future. London: Methuen, 1906 (Reprint New York: Arno Press and New York Times, 1971).

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beschaffen sein müßte, arbeitet er in zehn Punkten genaue Vorschläge aus. Abschließend schlägt er eine Teilung der europ. Türkei in drei Verwaltungsgebiete: Makedonien, Albanien und Thrakien vor. 13

In den Folgejahren machte Brailsford Karriere in der Labour Party, der er 1907 beitrat, während Jane Brailsford eine führende Stellung in der Sufragetten-Bewegung einnahm. Parallel dazu war er weiterhin im 1903 gegründeten Balkan Committee tätig, einer einflussreichen pro-bulgarischen Lobbyorganisation britischer Politiker. Aber auch wenn Brailsford die Bewohner des osmanischen Makedonien mehrheitlich für Bulgaren hielt, favorisierte er im Unterschied zu den meisten anderen KomiteeMitglieder keinen Anschluss der Region an das Fürstentum Bulgarien, sondern kulturelle Autonomie unter einer idealerweise liberalisierten Herrschaft des Sultans. Entsprechend positiv war seine anfängliche Reaktion auf die Jungtürkische Revolution von 1908. Ein neuerliches Angebot des Macedonian Relief Committee von 1911, als regionaler Vertreter in Makedonien zu fungieren, lehnte er jedoch unter Verweis auf die Gesundheit seiner Frau ab. 14 Im Sommer 1912 entwickelte Brailsford in einer Reihe von Zeitungsartikeln Szenarien für die Zukunft der neuerlich krisenhaften zentralbalkanischen Region. Drei Entwicklungen hielt er für denkbar sowie jeweils für akzeptabel, nämlich erstens „some qualified form of Home Rule“, also Territorialautonomie für Makedonien und Albanien innerhalb des Osmanischen Reiches. Zweitens eine Aufteilung des osmanischen Restbestandes in Europa unter den Nachbarstaaten Bulgarien, Serbien und Griechenland. Und drittens den Ausbau Österreich-Ungarns zu einer Dreiermonarchie unter Einbeziehung der habsburgischen und serbischen Slaven wie auch Makedoniens, da dessen Bevölkerung „undoubtedly Slav“ sei. 15 Der Beginn des Ersten Balkankrieges im Oktober 1912 machte diese Szenarien gegenstandslos. Brailsford berichtete von London so eingehend und lebhaft über den Kriegsverlauf, dass sein Lesepublikum ihn im Brennpunkt des Geschehens vermutete. Dabei prognostizierte er frühzeitig, dass sich die siegreiche Balkanfronde gegen das Osmanische Reich bald über Grenzziehungsfragen zerstreiten würde. Und bereits während des Interallianzkriegs, also des Zweiten Balkankrieges, sagte er voraus, dass ein Bulgarien von Serbien und Griechenland aufoktroyierter Friedensvertrag weitere militärische Konflikte zwischen den Bulgaren und ihren Nachbarn nach sich ziehen werde. 16 Mit anderen Worten: Im Zeitraum 1903 bis 1913 hatte sich Brailsford als führender britischer Balkankenner profiliert und daher war es seinem Biographen Leventhal zufolge „perhaps inevitable that he would be selected as one of the two British

13 [Adanır, Fikret:] 1531. Brailsford, H[enry] N[oël]: Macedonia. Its races and their future. In: Bernath, Mathias, Karl Nehring (Hrsg.): Historische Bücherkunde Südosteuropa. Bd. II. Neuzeit: Teil 1. Osmanisches Reich, Makedonien, Albanien. München: R. Oldenbourg, 1988, S. 335. 14 Leventhal: The Last Dissenter, S. 98–100. 15 Ebd., S. 102–103. 16 Ebd., S. 104.

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representatives on the Commission, established by the Carnegie Endowment for International Peace in 1913, to inquire into the causes and conduct of the two Balkan Wars.“ 17 Es waren allerdings zwei gänzlich unterschiedliche Gründe, die Brailsford zur umgehenden Annahme der Einladung durch d’Estournelles de Constant bewogen: Zum einen hatte er seit 1904 weder vom Sultan noch von der jungtürkischen Führung die von ihm dringlich beantragte Einreiseerlaubnis für die Europäische Türkei mehr erhalten und war entsprechend froh, jetzt erneut dorthin reisen zu können, und zum anderen hatte er sich im Mai 1913 von seiner Frau Jane getrennt, wenngleich nur temporär. Brailsford brach gemeinsam mit den drei anderen Mitgliedern, nämlich Godart, Miljukov und Dutton, am 20. August 1913 in Richtung Wien und Belgrad auf. 18 Während die serbische Reserviertheit bezüglich einer Kooperation mit der Kommission ausschließlich mit der Teilnahme des „bulgarophilen“ russischen Kommissionsmitglieds Miljukov, der 1897/1898 an der Universität Sofija Geschichte gelehrt und 1898 an einer Expedition bulgarischer Archäologen ins osmanische Makedonien teilgenommen hatte, begründet wurde, geriet in Saloniki vor allem Brailsford wegen „Bulgarophilie“ ins Visier der Regierung in Athen und der Verwaltung der seit dem Vorjahr griechischen Stadt. 19 Ein Besuch der nahegelegenen kriegsverheerten Kleinstadt Kukuš/Kilkis wurde ihm zweimal untersagt. 20 Kommissionsleiter d’Estournelles de Constant nahm ihn in seiner Einführung zum Carnegie-Bericht von 1914 gegen die griechischen Vorwürfe in Schutz: Brailsford [. . . ] had been frankly partisan, but for whom? For the Greeks. He took up arms for them and fought in their ranks, the true disciple of Lord Byron and of Gladstone; and in spite of this fact today Brailsford is held to be an enemy of Greece. Why? Because, passionately loving and admiring the Greeks, he has denounced the errors that bid fair to injure them, with all the heat and vigor of a friend and of a companion in arms. This did

17 Ebd., S. 105. 18 Eine systematische Darstellung der Kommissionsaktivitäten von Sommer bis Herbst 1913 samt textkritischer Analyse des Kommissionsberichts existiert nicht. Vgl. überblicksartig Ilˇcev, Ivan: Die Carnegie-Mission von 1913: Ausgangslage, Durchführung und internationale Reaktionen. In: Comparativ 24 (2014), H. 6, S. 105–125; Boeckh, Katrin: Von den Balkankriegen zum Ersten Weltkrieg. Kleinstaatenpolitik und ethnische Selbstbestimmung auf dem Balkan. München: R. Oldenbourg, 1996, S. 371–376; .und Akhund: The Two Carnegie Reports. Zur Rezeption des Kommissionsberichts in Bulgarien, Frankreich und im Osmanische Reich vgl. Ilˇcev: Die Carnegie-Mission von 1913, sowie Adamiak, Patrick J.: Perceiving the Balkan Wars: Western and Ottoman Commentaries on the 1914 Carnegie Endowment’s Balkan Wars Inquiry. In: Yavuz, M. Hakan, Isa Blumi (eds): War and Nationalism. The Balkan Wars, 1912–1913, and Their Sociopolitical Implications. Salt Lake City: The University of Utah Press, 2013, S. 474–495. 19 Siehe dazu Skordos, Adamantios: Zum Scheitern verurteilt: Die Carnegie-Mission in Griechenland. In: Comparativ 24 (2014), H. 6, S. 79–104. 20 D’Etournelles de Constant [, Paul Henri]: Introduction. In: Carnegie Endowment for International Peace: Report, S. 1–19, hier S. 5–10. Ivan Ilˇcev zufolge gelang es Brailsford dennoch, nach Kukuš/Kilkis zu reisen. Vgl. Ilˇcev: Die Carnegie-Mission von 1913, S. 115, sowie etliche Fotografien des Berichtsbandes von Orten von Massenmorden und ethnischen Säuberungen, an denen die Möglichkeit von nicht überwachten Kontakten mit zivilen Opfern des Krieges bestand.

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not seem to be a sufficient motive for demanding his resignation. As we could not condemn Brailsford for being at one and the same time, both the friend and the enemy of Greece, we kept him, and have been very fortunate in doing so. 21

Dank seiner griechischen und südslawischen Sprachkenntnisse war Brailsford bezüglich der Feldforschung, welche die Kommissionsmitglieder mittels Interviews mit Flüchtlingen aus Makedonien in Bulgarien sowie mit Militärpersonal, Geistlichen, Lehrern, Dorfbewohnern, Ortsvorstehern und vielen anderen in Vardar- und Ägäisch-Makedonien unternahm, deren wichtigstes Mitglied. Gemeinsam mit Miljukov sprach Brailsford in Saloniki mit dem Führer der bulgarischen Sozialisten dort, Dimit˘ar Vlachov, desgleichen mit dem Vorsitzenden der dortigen jüdisch-sephardischen Sozialistischen Arbeiterföderation, Avraam Benaroya 22, dito in Sofija mit dem bulgarischen Außenminister Nikola Genadiev, mit dem bulgarischen MakedonienEthnographen Jordan Ivanov und sogar mit König Ferdinand I. von Sachsen-KoburgKoháry. 23 Dolmetscher waren dabei nicht vonnöten, da Brailsford sowohl Bulgarisch wie Deutsch sprach. In Bulgarien wurden die Kommissionsmitglieder am 13. September mit großem Bahnhof empfangen. Da die Regierung sich vom Kommissionsbericht eine für Bulgarien positive Wirkung versprach, gewährte sie weitreichende politische wie logistische Unterstützung, so etwa die Bereitstellung von Fahrzeugen zum Besuch entlegener Flüchtlingslager. 24 Auf einer im Bericht abgedruckten Fotografie, welche die Kommissionsmitglieder Miljukov und Brailsford im Gespräch mit Flüchtlingen aus Makedonien in Samokov bei Sofija zeigt, sind überdies bulgarische Offiziere zu erkennen. 25 Wenn George F. Kennans Aussage in seiner Einführung zum Reprint des Kommissionsberichts von 1993 zutrifft, dann war Brailsford der Autor des Kapitels II, das mit „The War and the Noncombatant Population“ überschrieben sowie mit einem umfangreichen Anlagenteil ausgestattet ist. 26 Entgegen den griechischen Befangenheitsvorwürfen gegen ihn beschrieb Brailsford hier in einem umfangreichen Abschnitt 21 D’Etournelles de Constant: Introduction, S. 7. 22 Vlahov, Dimitar: Memoari. Skopje: NIP „Nova Makedonija“, 1970, S. 183–184. Nach wenigen Tagen allerdings wurden Brailsford und Miljukov vom griechischen Gouverneur Thessalonikis der Stadt verwiesen. Vgl. Ilˇcev: Die Carnegie-Mission von 1913, S. 115. 23 Balkan War Report Will Shock World. Prof. Dutton, a Member of Carnegie Commission, Says the Worst Has Not Been Told. Studied Loss of Allies. With an Englishman, a Russian, and a Frenchman, He Investigated All Causes and Effects. In: New York Times vom 14. Oktober 1913. 24 Ilˇcev: Die Carnegie-Mission von 1913, S. 116–117. 25 Carnegie Endowment for International Peace: Report, S. 153. 26 Kennan, George F.: Introduction. The Balkan Crises: 1913 and 1993. In: Carnegie Endowment for International Peace: The Other Balkans Wars. A 1913 Carnegie Endowment Inquiry in Retrospect with a New Introduction and Reflections by George F. Kennan. Washington, DC: Carnegie Endowment for International Peace, 1993, S. 3–16, hier S. 8. Kennan zufolge war Miljukov Autor der Kapitel I (The Origin of the Two Balkan Wars), III (Bulgarians, Turks, and Servians), IV (The War and the Nationalities) und V (The War and International Law), wohingegen Godart Kapitel VI (Economic Results of the War) und Dutton Kapitel VII (The Moral and Social Consequences of the Wars and the Outlook for the Future of Macedonia) beisteuerten. – Maria Todorova ist nicht zuzustimmen, wenn sie dem

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über „The Conduct of the Bulgarians in the Second War“ detailliert Massaker der bulgarischen Armee in der Kleinstadt Doxato (bulg. Doksat), gelegen zwischen Drama und Kavalla, sowie im Regionalzentrum Serres (bulg. Sjar) nordöstlich von Saloniki 27 und belegte das mit zahlreichen Zeugenaussagen, Fotos und Dokumenten im Anhang. 28 Dem Kapitel nachgestellt ist eine Schlussbemerkung, die sowohl Brailsfords Perzeption des Balkans als auch sein Berufsethos als investigativer Journalist samt seiner moralischen Weltsicht widerspiegelt: In bringing this painful chapter to a conclusion, we desire to remind the reader that it presents only a partial and abstract picture of the war. It brings together in a continuous perspective the sufferings of the noncombatant populations of Macedonia and Thrace at the hands of armies flushed with victory or embittered by defeat. To base upon it any moral judgment would be to show an uncritical and unhistorical spirit. An estimate of the moral qualities of the Balkan peoples under the strain of war must also take account of their courage, endurance, and devotion. If a heightened national sentiment helps to explain these excesses, it also inspired the bravery that won victory and the steadiness that sustained defeat. The moralist who seeks to understand the brutality to which these pages bear witness, must reflect that all the Balkan races have grown up amid Turkish models of warfare. Folksongs, history and oral tradition in the Balkan uniformly speak of war as a process which includes rape and pillage, devastation and massacre. In Macedonia all this was not a distant memory but a recent experience. The new and modern feature of these wars was that for the first time in Balkan annals an effort, however imperfect, was made by some of the combatants and by some of the civil officials, to respect an European ideal of humanity. The only moral which we should care to draw from these events is that war under exceptional conditions produced something worse than its normal results. The extreme barbarity of some episodes was a local circumstance which has its root in Balkan history. But the main fact is that war suspended the restraints of civil life, inflamed the passions that slumber in time of peace, destroyed the natural kindliness between neighbors, and set in its place the will to injure. That is everywhere the essence of war. 29

Ungeachtet seiner kritischen Haltung gegenüber der politischen Elite Bulgariens und den Kriegsverbrechen der bulgarischen Armee in den Balkankriegen optierte Brailsford auch nach 1913 für einen Anschluss Makedoniens an Bulgarien, und damit nicht

Carnegie Endowment 1997 den Vorwurf machte, man hätte besser eine weitere Kommission auf den Balkan entsenden sollen als lediglich den Bericht von 1914 nachzudrucken. Denn die Stiftung hat (gemeinsam mit dem Aspen Institute Berlin) 1995 eine ebensolche Kommission gegründet, welche die Region intensiv bereiste und 1996 einen detaillierten Bericht mit konkreten Politikempfehlungen vorlegte. Vgl. Todorova, Maria: Imagining the Balkans. New York, Oxford: Oxford University Press, 1997, S. 4, und Tindemans, Leo u. a.: Unfinished Peace. Report of the International Commission on the Balkans. Washington, DC: Carnegie Endowment for International Peace, 1996. Zu einer deutschen Übersetzung siehe Aspen Institute Berlin und Carnegie Endowment for International Peace (Hrsg.): Der trügerische Frieden. Bericht der Internationalen Balkan-Kommission. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1997. 27 Carnegie Endowment for International Peace: Report, Chapter II, S. 71–108, hier S. 78–95. 28 Ebd., Appendix B, Documents Relating to Chapter II, S. 285–325, hier S. 285–297. 29 Carnegie Endowment for International Peace: Report, S. 108.

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an Serbien und /oder Griechenland. 1915 appellierte er gar an die britische Regierung, Bulgarien die Angliederung Makedoniens anzubieten, um einen Beitritt Sofijas zu den Mittelmächten zu verhindern. 30 Ja selbst nach dem Kriegseintritt dieses Landes auf Seiten des Osmanischen Reiches, Österreich-Ungarns und Deutschlands im Ersten Weltkrieg sah er in einer Inkorporation Makedoniens in Bulgarien die Lösung der Makedonischen Frage und warb dafür im Vorfeld der Pariser Friedenskonferenz von 1919. 31 Überdies ventilierte er damals die Idee einer Neuauflage der CarnegieBalkankommission, der neben ihm, Miljukov und Hirst der bulgarophile Unterhausabgeordnete Edward Noel Buxton sowie weitere Mitglieder des Londoner Balkan Committee angehören sollten. Dazu kam es indes nicht. 32 In der fieberhaften journalistischen und publizistischen Tätigkeit Henry Brailsfords in der Zwischenkriegszeit, welche die Veröffentlichung von einem Dutzend Bücher einschloss, spielte der Balkan keine prominente Rolle – im Gegensatz zur Sowjetunion, Deutschland, Indien, Voltaire, dem Völkerbund oder dem Spanischen Bürgerkrieg. Ob seine Sympathien für einen Anschluss Makedoniens an Bulgarien fortbestanden oder ob seine Zustimmung zu einem autonomen Makedonien innerhalb einer südslawischen Föderation, wie sie im und nach dem Zweiten Weltkrieg manifest wurde, sich bereits vor dem Krieg abzeichnete, ist nicht bekannt. Die Aussage „Brailsford is too purely Macedonian in his reputation“, welche der langjährige Vorsitzende des Balkan Committee, Edward Boyle, im März 1940 in einem Privatbrief an den Komitee-Präsidenten und Brailsfords Labour-Genossen Buxton machte, gibt keinen Aufschluss darüber, ist sie doch zu lakonisch bzw. vieldeutig. 33 Allerdings geht aus einem Artikel von Moša Pijade, dem Chefideologen der kommunistischen Tito-Partisanen im besetzten und annektierten Jugoslawien des Zweiten Weltkriegs, veröffentlicht am 15. Mai 1944 im Parteiorgan Nova Jugoslavija, hervor, dass Brailsford kurz zuvor in der BBC die Entscheidung des jugoslawischen Partisanenparlaments AVNOJ in Jajce vom November 1943 zur Gründung einer makedonische Teilrepublik in einem föderativen Jugoslawien begrüßt hatte: Thus a Norwegian [sic!] publicist, Brailsford, a connoisseur of Macedonians, speaking over the London radio, said [. . . ] ‚For me, who knows Macedonia well, the promise of Tito and his comrades, is the best guarantee that independent Macedonia will go as a member into the South Slav Federation, that is the sole way to assure victory and real peace.‘ 34

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Leventhal: The Last Dissenter, S. 140–141. Ebd., S. 143–144. Ilˇcev: Die Carnegie-Mission von 1913, S. 125. Faksimile eines Briefes von Edward Boyle an Edward Noel Buxton, London, 8. März 1940. In: Ilˇcev, Ivan (red.): Balkanskijat komitet v London (1903–1946) [Das Balkan Committee in London (1903– 1946)]. Sofija: Universitetsko izdatelstvo „Sv. Kliment Ochridski“, 2003, S. 509–510, hier S. 510. Vgl. zur britischen Sicht auf Makedonien auch Livanios, Dimitris: The Macedonian Question. Briˇ tain and the Southern Balkans, 1939–1949. Oxford: Oxford University Press, 2008, und Cepreganov, Todor, Teon Džingo (red.): Velika Britanija i Makedonija. Dokumenti (1918–1940) [Großbritannien und Makedonien. Dokumente (1918–1940)]. Skopje: Institut za nacionalna istorija, 2011. 34 Hier zitiert nach Palmer, Stephen J., Robert R. King: Yugoslav Communism and the Macedonian Question. Hamden, CT: The Shoe String Press, 1971, S. 110.

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Auf Einladung Titos unternahm der fast 80-jährige Brailsford im Winter 1950/1951 mit seiner zweiten Frau Eva-Maria, einer aus NS-Deutschland nach London geflohenen jüdischen Sozialistin, eine zweimonatige Reise nach Jugoslawien, die ihn auch an seine ehemaligen Wirkungsstätten in der neuen jugoslawischen Teilrepublik Makedonien führte. Hier war der dogmatische Ministerpräsident Lazar Koliševski sein großzügiger Gastgeber, dem er mit Elogen im Manchester Guardian und anderen britischen Periodika dafür dankte. So pries er unter der Überschrift „New Jugoslavia – Macedonian Renaissance“ noch im Januar 1951 im New Statesman die kommunistische Modernisierungspolitik samt forcierter Industrialisierung 35 und war überwältigt von dem Umstand, dass er in Skopje, das er erstmals 1903 als malariaverseuchtes Armenhaus eines osmanischen Vilayets kennengelernt hatte, einer Aufführung von Mozarts Oper „Die Entführung aus dem Serail“ beiwohnte. 36 Eva-Maria Brailsford geb. Perlmann berichtete vor ihrem Tod 1988 Fred Leventhal überdies von einem makedonischen Déjà-vu-Erlebnis ihres Gatten der besonderen Art: In one village to which [in 1903 – S. T.] he had travelled by mule, carrying food and blankets, an old woman who recognized him declared that everything was fine now since the new regime was giving the people electricity. 37

Infolge der Strapazen dieser Reise erlitt Brailsford nach seiner Rückkehr nach London einen gesundheitlichen Zusammenbruch, von dem er sich bis zu seinem Tode 1958 nicht mehr erholte. Unter den Mitgliedern der Carnegie-Kommission von 1913 war Brailsford zweifelsohne derjenige mit den breitesten Sprach-, Regional- und Vorkenntnissen, hatte er sich doch bereits seit einem Jahrzehnt intensiv mit der Lage im osmanischen Makedonien und mit der Makedonischen Frage befasst. Aber er war auch derjenige der Kommissionäre, der nach Abschluss des Berichts am kontinuierlichsten das Thema Makedonien weiter verfolgt hat, zumindest bis zum Beginn der Zwischenkriegszeit. Dass er im Zweiten Weltkrieg und danach, jetzt bereits in hohem Alter, noch einmal darauf zurückkam, belegt sein anhaltendes Interesse an der Region augenfällig. Seine euphorische Kontrastierung des „modernen“ Makedonien im „neuen“, ihm zufolge sozialistischen, de facto aber bis in die 1950er-Jahre hinein noch dezidiert stalinistischen Jugoslawien Titos mit den spätosmanischen Verhältnissen dort mag blauäugig gewesen sein; die von ihm beschriebenen dramatischen Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft jedoch sind ebenso realitätsnah wie in ihrem positiven 35 Brailsford, H. N.: New Jugoslavia – Macedonian Renaissance. In: The New Statesman 41 (13 January 1951), 31. Vgl. auch Ders.: Macedonia Revisited. I – The Revolution in Kossovo, In: Manchester Guardian (14 March 1951); II – A Textile Centre. Ebd. (17 March 1951); III – Its Intellectual Life. Ebd. (21 March 1951). 36 Leventhal: The Last Dissenter, S. 294–295. Die Malariasümpfe südöstlich von Skopje wurden erst Ende der 1930er-Jahren trockengelegt. Vgl. Zylberman, Patrick: Mosquitos and the Komitadjis: Malaria and Borders in Macedonia (1919–1938). In: Borowoy, Iris, Wolf D. Gruner (eds.): Facing Illness in Troubled Times. Health in Europe in the Interwar Years 1918–1939. Frankfurt /M. u. a.: Peter Lang, 2005, S. 304–343. 37 Leventhal: The Last Dissenter, S. 295.

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Gehalt, zumindest was Gesundheits- und Bildungswesen betrifft, begründet. Diese als „very British“ zu charakterisierende Kombination bezüglich eines lebenslangen Interesses an der Balkanregion hatte er mit etlichen seiner gleichfalls politisch oder journalistisch bzw. diplomatisch oder literarisch tätigen Londoner Zeitgenossen gemein. 38 Bis heute, so kann mit Fug und Recht konstatiert werden, lesen sich Henry Noël Brailsfords Publikationen der Jahre 1903 bis 1951 zu Makedonien mit Gewinn, wie überdies sein Beitrag zu Arbeit und Bericht der Carnegie-Kommission von 1913 ebenso sachlich wie substantiell ist.

38 Zu nennen sind hier etwa die Schriftstellerin und Gesellschaftsdame Rebecca West (1892–1983), der schriftstellernde Diplomat David Footman (1895–1983), der Journalist Joseph S. Swire (1903– 1978), der Kriminalschriftsteller Eric Ambler (1909–1998) oder der Offizier und Politiker Julian Amery (1919–1996). Vgl. Hammond, Andrew: British Literature and the Balkans. Themes and Contexts. Amsterdam, New York, NY: Rodopi, 2010, und Goldsworthy, Vesna: Inventing Ruritania. The Imperialism of Imagination. New Haven, CT, London: Yale University Press, 1998.

Zwischen offizieller Außenpolitik und geheimer „Paralleldiplomatie“ Italienische Versuche zur Errichtung von Bündnissystemen in Südosteuropa unter Benito Mussolini und Dino Grandi (1922–1932)

[1983] Holm Sundhaussen hat mit Blick auf die Rolle der Kleinen Entente als destabilisierendem Faktor in den Internationalen Beziehungen im Südosteuropa der Zwischenkriegszeit 1 deutlich gemacht, dass in der Formulierung des Themas der diesjährigen Hochschulwoche der Südosteuropa-Gesellschaft „Friedenssicherung in Südosteuropa: Föderationspläne und Allianzen seit dem Beginn der nationalen Eigenständigkeit“ eine unzutreffende, wenn nicht gar unzulässige Gleichsetzung steckt: Allianzen – wie etwa die Kleine Entente – tragen keineswegs an sich, also durch ihre bloße Existenz, zur Sicherung des Friedens bei; auch dann nicht, wenn sie ausdrücklich als Defensivbündnis gemeint sind. Oft ist das Gegenteil der Fall. Dies gilt in besonderem Maße für die von der faschistischen Diplomatie projektierten italienischsüdosteuropäischen Bündnissysteme, die – hätten sie reale Bedeutung gewonnen – nicht nur das Gleichgewicht im Balkan-Donau-Raum empfindlich gestört, sondern auch in absehbarer Frist den Status quo dort verändert hätten. Dass dies wohl kaum mit friedlichen Mitteln geschehen wäre, bedarf keiner gesonderten Erwähnung. Die von Italien geplanten Allianzen sollten der Verwirklichung eindeutig expansiver und revisionistischer Ziele dienen, denen die Kleine Entente und vor allem der jugoslawische Staat im Wege standen. Anders als erwartet, führte die Machtübernahme der Faschisten mit dem „Marsch auf Rom“ Ende Oktober 1922 in Italien nicht zu einer abrupten Kehrtwendung in der Außen- und Südosteuropapolitik. Die von den liberalen Nachkriegskabinetten vorgezeichneten Grundlinien dienten auch Mussolini, der bis 1929 neben sechs anderen Ressorts zugleich das des Außenministers versah, als Richtschnur. Dies galt insbesondere für das Verhältnis zu Italiens wichtigstem politischen Partner in Südosteuropa, zum Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen beziehungsweise Jugoslawien. Als „schwächste Großmacht und stärkster Kleinstaat Europas“ verfolgte auch das faschistische Italien in Richtung Südost anfänglich einen kooperativen, ausgleichenden Kurs, und dies trotz bestehender Differenzen über die italienischjugoslawische Grenzziehung und vor allem in der Frage der Stadt Fiume beziehungsweise Rijeka. 1

Sundhaussen, Holm: Die Rolle der Kleinen Entente bei der Stabilisierung und Destabilisierung des Friedens im Donau-Balkan-Raum. In: Friedenssicherung in Südosteuropa. Föderationspläne und Allianzen seit dem Beginn der nationalen Eigenstaatlichkeit. Hrsg. v. Mathias Bernath u. Karl Nehring. München 1985, S. 139–153.

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Erst im Sommer 1923 klangen die ersten genuin faschistischen Töne in der italienischen Balkanpolitik an, als Mussolini die Bombardierung der griechischen Insel Korfu anordnete. Das internationale Echo auf diese Aktion, besonders das Eingreifen des britisch-französisch dominierten Völkerbundes, hatte allerdings einen stark retardierenden Einfluss auf den „Duce“ und seine außenpolitischen Mitarbeiter. Für mehrere Jahre blieb Korfu eine untypische Episode. Unmittelbar nach der KorfuKrise schlug die italienische Außenpolitik wieder den traditionellen Kurs ein, was mit dem Abschluss des „Paktes von Rom“, einem italienisch-jugoslawischen Freundschaftsvertrag im Januar 1924 ganz deutlich wurde. Noch im März 1924 ließ daher König Aleksandar von Jugoslawien an Mussolini die Aufforderung ergehen, Italien möge sich an die Spitze der Kleinen Entente stellen. Überhaupt stand diese Allianz, zumal in den ersten Jahren ihres Bestehens, in dem Ruf, ein Werkzeug der italienischen Außenpolitik – „une machine italienne“ – zu sein. 2 Im Zuge der durch den Mord an dem italienischen Sozialistenführer Matteotti im Juni 1924 ausgelösten schweren innenpolitischen Krise kam es zu einer Verlangsamung des Prozesses der Faschisierung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in Italien. Das faschistische Regime war auf Monate hinaus sowohl in seiner Innen- wie in der Außenpolitik nahezu paralysiert. Bevor die Sprache auf die mit der Jahreswende 1924/1925 einsetzende dynamischere Phase in der Südosteuropapolitik Roms kommt, vorab einige Anmerkungen zur Stellung außenpolitischer Themen in der gesamten Politik des Faschismus. Als einziges Ministerium war der Palazzo Chigi, das italienische Außenministerium, in der ersten Dekade nach dem „Marsch auf Rom“ kaum von den Faschisierungsbestrebungen des Partito Nazionale Fascista erfasst worden. Bis ins Jahr 1926 hinein stellte die alte Garde italienischer Vorkriegsdiplomaten die Weichen der italienischen Außenpolitik und erst allmählich rückten jüngere Karrierediplomaten und gemäßigte Faschisten nach. Aber noch in den dreißiger Jahren saßen Nicht-Faschisten auf Schlüsselpositionen des Palazzo Chigi. Mit ein Grund hierfür war sicherlich das lediglich sporadische und insgesamt geringe Interesse, welches der „Duce“ der Außenpolitik entgegenbrachte. Die Innenpolitik erforderte seine gesamte Aufmerksamkeit und daher war er an außenpolitischen Themen nur im Hinblick auf ihre innenpolitische, vor allem propagandistische Verwertbarkeit interessiert. Seine öffentlich gemachten Äußerungen zur Außenpolitik waren daher auch in erster Linie für das italienische, nicht für das internationale Publikum bestimmt. Seinem Nachfolger im Amte des Außenministers, dem faschistischen ras von Bologna, Dino Grandi, gegenüber stellte er klar, dass dieser ihm außenpolitisch den Rücken für seine innenpolitischen Vorhaben freizuhalten habe. Trotz seiner rabiaten Reden betrachtete man im Ausland, vor allem in Großbritannien und in den USA, den „Duce“ und seine Außenpolitik als berechenbar und insgesamt vernünftig, auch wenn Diplomaten, wie der langjährige britische Botschafter in Rom, Ronald Graham, der Ansicht waren, die Politik des Palazzo Chigi ähnele mehr „einer Amateuraufführung“ als einer profes-

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Sforza, Carlo: L’Italia dal 1914 al 1944 quale io la vidi. Roma 1944, S. 102.

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sionellen Veranstaltung. 3 Dies letztere Urteil war maßgeblich dadurch bestimmt, dass die offizielle Außenpolitik oft gänzlich unkoordiniert mit der von Mussolini mittels persönlicher Emissäre – zumeist Parteimitglieder, Journalisten, Militärs u. a. – betriebenen geheimen „Paralleldiplomatie“ vonstattenging. Mehr als einmal knirschte es daher im Getriebe der italienischen Außenpolitik und mitunter kam es gar zu schweren Interessenkollisionen. Das Ende des Jahres 1924 brachte nicht nur die Überwindung der Folgen der Matteotti-Krise, sondern auch eine Reihe anderer einschneidender Veränderungen der innen- und außenpolitischen Situation Italiens. Entscheidend zur Wiedergewinnung der außenpolitischen Handlungsfreiheit der italienischen Regierung trug die so genannte „quota novanta“, die Stabilisierung der Lira mit amerikanischer Hilfe durch drastische Aufwertung gegenüber dem britischen Pfund zum Kurs von 92:1 bei. Zugleich hatte aber diese Stabilisierung negative Folgen für die stark exportorientierte italienische Wirtschaft, was Überlegungen zur Schaffung einer gegen Konkurrenz gesicherten italienischen Schutzzone – etwa in Ost- und Südosteuropa – begünstigte. Im internationalen Rahmen wirkte sich die Rückkehr der britischen Konservativen an die Macht vorteilhaft für Italien aus. Stanley Baldwin sowie vor allem sein Außenminister Austen Chamberlain hegten den Plan, Italien als Gegengewicht zur destruktiven französischen Deutschland- und Osteuropa-Politik zu benutzen. Anstelle des französischen Cordon Sanitaire, gebildet aus der Kleinen Entente und Polen, wollten sie mit italienischer Hilfe ein System regionaler Bündnisse unter einem Kondominium der drei Westmächte in Ost- und Südosteuropa installieren. Zugleich war Frankreich aufgrund der verheerenden Folgen der Krise seiner Staatsfinanzen in seiner außenpolitischen Bewegungsfreiheit, zumal in Südosteuropa, stark eingeschränkt. All diese Umstände ermöglichten es Italien, erstmals als Großmacht in Europa aufzutreten. Die politische Gegenleistung für eine italienische Unterstützung der britischen Europapläne sahen der „Duce“ und seine außenpolitischen Mitarbeiter eben in Südosteuropa, welches sie am liebsten als „Jagdsperrgebiet“ (riserva di caccia) ganz allein italienischem Einfluss vorbehalten sehen wollten. 4 Die internationalen Voraussetzungen für dieses Vorhaben schienen günstig zu sein: Das durch den Zerfall des Osmanischen Reiches, der Habsburger wie der Zaren-Monarchie in dieser Region entstandene und von Frankreich nur dürftig ausgefüllte Machtvakuum bot vielversprechende Expansionsmöglichkeiten. Obwohl die italienische Außenpolitik zu Beginn des Jahres 1925 gleichsam in den Startlöchern in Richtung Südosteuropa stand, musste doch dieser Start noch einmal verschoben werden. Grund hierfür war das britische Projekt eines internationalen Abkommens zur Sicherung der französischen Ostgrenze, wie es im Oktober 1925 dann in Locarno geschlossen wurde. Die Aufwertung Italiens zur Garantiemacht

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Botschafter Ronald Graham an den Permanent Under-Secretary des Foreign Office, William Tyrrell, Rom, 3. Februar 1928. In: Documents on British Foreign Policy, Serie 1A, Bd. IV. London 1971, Dok.-Nr. 128, S. 237–239, hier S. 238 (C978/804/21). Carocci, Giampiero: La politica estera dell’Italia fascista (1925–1928). Bari 1969, S. 13 f.

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des deutsch-französischen Ausgleichs verzögerte ein direktes Engagement im Balkan-Donau-Raum. Allerdings bot die von Großbritannien geförderte Ausweitung der Locarno-Verträge zu einem so genannten Balkan-Locarno bereits Gelegenheit zur Konstruktion eines pro-italienischen Bündnissystems in Südosteuropa. Die Verhandlungen über ein Balkan-Locarno Ende 1925/Anfang 1926 stellten eine verdeckte französisch-italienische Auseinandersetzung um die Vorherrschaft im Südosten dar, die indes von keiner Seite eindeutig entschieden werden konnte. Die Initiative zu diesem ersten, über bilaterale Abkommen hinausgehenden Bündnisprojekt Italiens ging von den beiden Mitgliedsstaaten der Kleinen Entente Jugoslawien und Tschechoslowakei aus. Im Palazzo Chigi merkte man jedoch bald, dass diese Verhandlungen zumindest jugoslawischerseits lediglich deshalb geführt wurden, um den eigenen Preis gegenüber Frankreich in die Höhe zu treiben. Als dann klar wurde, dass weder Jugoslawien allein noch die Kleine Entente als Ganze bereit waren, die französische Hegemonie gegen eine italienische einzutauschen, sondern an einem dreiseitigen, Italien und Frankreich einschließenden Abkommen interessiert waren, brach Italien die Gespräche ab. Dies hatte die endgültige Orientierung Jugoslawiens auf Frankreich zur Folge und im März 1926 wurde der Plan eines jugoslawisch-französischen Paktes bekannt gegeben. Die Fronten in Südosteuropa hatten sich damit geklärt, aber ein Balkan-Locarno war unmöglich geworden. Ein analoger Vertragsabschluss mit den beiden einzigen Italien verbliebenen Locarno-Partnern, Ungarn und Bulgarien, wäre aufgrund des mangelnden politischen Einflusses dieser Staaten wertlos gewesen. Mit dem Beginn des Jahres 1926, allgemein als anno napoleonico der italienischen Außenpolitik bezeichnet, gewann diese noch deutlicher an Dynamik. Jetzt stand nicht mehr ein auf Ausgleich zwischen Sieger- und Verlierermächten in Südosteuropa zielendes pro-italienisches Bündnis im Vordergrund, sondern ein Zusammenschluss von Staaten mit prononciert antijugoslawischer Zielsetzung. Dies erklärt auch, dass die italienische Südosteuropapolitik immer aggressivere Züge annahm. Bereits im Sommer 1925 war ein geheimes militärisches Abkommen mit Albanien geschlossen worden und im Oktober 1926 hatte der „Duce“ gar seinem Generalstabschef die Teilmobilmachung gegen Jugoslawien befohlen. Bis ins Jahr 1926 hinein hatten Mussolini und seine Strategen einen Plan zur militärischen Zerschlagung des Rivalen an der Adria und im Balkan-Donau-Raum griffbereit in der Schublade, den sie mehrmals hervorholten, im Endeffekt aber aus Furcht vor der französischen Reaktion jedes Mal wieder zurücklegten. Im Frühjahr 1926, als klar geworden war, dass ein italienisches Balkan-Locarno gescheitert war, gewann die Südosteuropapolitik des Palazzo Chigi dennoch Auftrieb, und dies dadurch, dass das Foreign Office zu weitreichender Unterstützung Italiens gegen Frankreich entschlossen war. Dies war auf die Ankündigung des französisch-jugoslawischen Paktes zurückzuführen gewesen. Mit britischer Rückendeckung machte sich Italien jetzt an die Verwirklichung eines weiteren ehrgeizigen Planes: Frankreich sollte dadurch aus Südosteuropa verdrängt werden, dass sein Instrument, die Kleine Entente, unbrauchbar gemacht werden würde. Dies sollte einerseits durch das Herausbrechen Rumäniens aus diesem Bündnis sowie ande-

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rerseits durch die Einbindung dieses Staates in eine Viererallianz mit Italien und den südosteuropäischen Verliererstaaten Ungarn und Bulgarien geschehen. Jugoslawien, Frankreichs Vorposten im Südosten, sollte also gleichzeitig von West und Ost in die italienische Zange genommen werden. Zum offensichtlichen und inzwischen auch erklärten Ziel der italienischen Politik war es geworden, Jugoslawien einzukreisen und gleichsam sturmreif zu machen. Zunächst schien die Verwirklichung des italienischen Viererprojekts verdächtig leicht zu sein: Im September 1926 schloss die rumänische Regierung Averescu mit Italien einen Freundschaftsvertrag. Doch bald zeigte sich, dass Rumänien nicht bereit war, sich über dieses bilaterale Abkommen hinaus enger an Italien anzulehnen. Selbst die bessarabische Karte, von Mussolini ins Spiel gebracht, stach im Spiel um Rumänien nicht. Zugleich aber hatte der „Duce“ die zwischen Rumänien und dessen potentiellen ungarischen und bulgarischen Bündnispartnern bestehenden Probleme – Stichworte: Siebenbürgen und die Dobrudža – nicht in seine Rechnung mit einbezogen. Wie wenig durchdacht der italienische Plan der Viererallianz war, zeigte auch die Reaktion Ungarns und Bulgariens: Ungarn, durch die italienischen Avancen an Rumänien irritiert, suchte jetzt die Annäherung an den Nachbarstaat, mit dem es die geringsten territorialen Konflikte hatte, also an Jugoslawien; und auch die bulgarische Regierung legte alarmierende jugoslawienfreundliche Tendenzen an den Tag. Nur mit Mühe konnten die professionellen Diplomaten im Palazzo Chigi den von ihrem Dienstherrn angerichteten politischen Schaden in Südosteuropa wiedergutmachen. Der Seitenwechsel Ungarns wurde durch den italienisch-ungarischen Pakt vom April 1927 abgewendet, die bulgarisch-jugoslawische Annäherung wurde mit der Hilfe der terroristischen IrredentaOrganisation IMRO zunichte gemacht. Der gegen Jugoslawien gerichtete I. Tirana-Pakt zwischen Italien und Albanien vom November 1926, vor allem aber der Pakt mit Ungarn, führten deutlich vor Augen, dass die Stoßrichtung der italienischen Südosteuropapolitik jetzt nicht mehr nur auf Jugoslawien, sondern auf die Kleine Entente als Ganzes zielte. Hierdurch veränderten sich aber auch die internationalen Vorzeichen dieser Politik: Frankreich fasste trotz fundamentaler Differenzen finanzieller Art den Abschluss des angekündigten Freundschaftsvertrages mit Jugoslawien ernsthaft ins Auge und im Foreign Office begann man, sich über die Zuspitzung des italienisch-jugoslawischen und italienischfranzösischen Gegensatzes sowie über die zielstrebige italienische Vorgehensweise in Albanien Sorgen zu machen. Bevor die Politik der Einkreisung Jugoslawiens mit Hilfe eines von Italien inspirierten Bündnisses subversiver Organisationen und revisionistischer Staaten in den Jahren 1927 bis 1929 thematisiert werden soll, einige Bemerkungen zum letzten diplomatischen Bündnisprojekt des Palazzo Chigi in Südosteuropa, einer aus Italien, Griechenland und der Türkei gebildeten Dreierallianz, wie es besonders 1928 ventiliert worden ist. Zunächst schien sich auch hier ein italienischer Erfolg abzuzeichnen: Im Mai und September 1928 schlossen sowohl die Türkei wie auch Griechenland bilaterale Abkommen mit Italien; die griechisch-türkischen Gegensätze erwiesen sich indes als zu groß, als dass die italienische Diplomatie sie hätte überwinden können. Probleme der Grenzrevision, der Entschädigung der kleinasiatischen griechischen

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Flüchtlinge und anderes standen hierbei im Vordergrund. Dass dennoch im Herbst 1930 ein griechisch-türkischer Pakt geschlossen wurde, war bereits nicht mehr auf italienische Initiative zurückzuführen, eher im Gegenteil: Nun begann eine Entwicklung in Südosteuropa ihren Anfang zu nehmen, die den Interessen Italiens diametral entgegenlief. Die südosteuropäischen Machtgruppierungen, also die Kleine EntenteStaaten Jugoslawien und Rumänien im Norden, und die neue griechisch-türkische Kombination im Süden näherten sich einander so weit an, dass sie 1934 den Balkanpakt schlossen. Die Gründe für das um die Jahreswende 1926/1927 zu beobachtende Anwachsen der Dynamik der italienischen Südosteuropapolitik, besonders das Bestreben, den jugoslawischen Staat von außen einzukreisen und von innen zu zerrütten, sind ebenso vielfältig wie in ihrer Gänze schwer durchschaubar. Ein wesentlicher Grund war sicherlich die Verlockung, die vom innenpolitisch gänzlich desolaten Zustand des SHS-Gebildes ausging; von Ende 1926 bis Ende 1928 taumelten die schnell wechselnden jugoslawischen Regierungen von einer Krise in die andere, was zur außenpolitischen Manövrierunfähigkeit des jugoslawischen Staates führte. Der italienische Anfangserfolg in Albanien hatte hierzu wesentlich beigetragen. Dieser Erfolg hatte seinerseits Mussolini in seinem antijugoslawischen Kurs ermuntert, ebenso wie sein Treffen mit Austen Chamberlain in Livorno Anfang Oktober 1926, auf dem ihm der britische Konservative weitreichende Zugeständnisse im Hinblick auf Südosteuropa gemacht hatte. Ein weiterer, nicht zu unterschätzender Grund war eher innenpolitischer Natur: Ähnlich wie die russischen Bol’ševiki in der ersten Dekade ihrer Macht fühlten sich auch die Faschisten außenpolitisch isoliert und belagert von den Internationalen der Kommunisten, Sozialisten, Katholiken, Freimaurer und plutokratischen Demokratien. Hinzu kam die aus k.u.k.-Tagen herrührende Furcht vor einer deutschen und slawischen Übermacht. Die beiden letzteren Feindbilder schienen in Form eines Anschlusses Österreichs an Deutschland, der eine unmittelbare Bedrohung der italienischen Nordgrenze bedeutet hätte, und in einer freimaurerisch-plutokratischen slawischen Barriere im Osten reale Gestalt anzunehmen bzw. angenommen zu haben. Der geostrategische und politische Effekt des 1926 angekündigten, im November 1927 dann geschlossenen jugoslawisch-französischen Bündnisses kann hierbei nicht überschätzt werden. In den Jahren 1926 bis 1928 spielte die faschistische Führung also nicht nur ihrerseits mit dem Gedanken einer militärischen Aktion gegen Jugoslawien, sondern hegte mehrfach ganz konkrete Besorgnis, zu einem Zweifrontenkrieg gegen Jugoslawien und Frankreich gezwungen zu werden. Daher ist die italienische Jugoslawienpolitik jener Jahre treffend als „Symbiose von Angst und Aggression“ bezeichnet worden. 5 Mag die italienische Politik der Schaffung von Bündnissen in Südosteuropa 1925 und 1926 auch als wenig realistisch und insgesamt mangelhaft geplant erscheinen, so

5

Burgwyn, H. James: Il revisionismo fascista. La sfida di Mussolini alle grandi potenze nei Balcani e sul Danubio 1925–1933. Milano 1979, S. 144.

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drängt sich doch der Verdacht auf, dass sowohl der I. Tirana-Pakt wie auch der italienisch-ungarische Freundschaftsvertrag nicht nur Fragmente größerer, nicht zustande gekommener Kombinationen, sondern zugleich Bausteine eines durchdachten, aber nicht auf den ersten Blick erkennbaren neuen italienischen Konzeptes gewesen waren. Dieses Konzept sei im Folgenden kurz skizziert. Ziel war es, nicht durch ein System verbündeter Staaten den jugoslawischen Einfluss zu beschneiden, sondern mittels einer Kombination offizieller und illegaler Faktoren den jugoslawischen Staat zu untergraben. Wichtigste Komponenten, sozusagen Brückenköpfe dieser Politik, waren zunächst Albanien und Bulgarien, zwei Staaten, von denen aus die mit Italien liierte makedonische Untergrundorganisation IMRO gegen Jugoslawien aktiv wurde. Diese albanisch-makedonisch-bulgarische Achse zielte auf die Achillesferse des Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen, welche im Kern ja immer noch ein Königreich der Serben war, nämlich auf Makedonien, das serbische Tor nach Saloniki. Im September 1927 war die Konstruktion dieser Achse abgeschlossen. Sie funktionierte bis ins Jahr 1928, wurde aber dann weitgehend unbrauchbar, da sowohl innerhalb Bulgariens wie auch innerhalb der IMRO Entwicklungen eintraten, die den italienischen Interessen zuwiderliefen. Sukzessive wurde daher diese Achse durch ein paralleles Gebilde im Norden, bestehend aus dem ungarischen Staat, der kroatischen Unabhängigkeitsbewegung, vor allem Ustaša, sowie aus Italien selbst beziehungsweise aus der Provinz Venezia Giulia mit der Hauptstadt Triest ergänzt und ersetzt. Genau wie die IMRO besaß nun auch die Ustaša zwei Operationsbasen, von denen aus sie Einfälle und Attentate in Jugoslawien unternehmen konnte. Von 1929 an übernahm diese julisch-kroatisch-ungarische Achse zunehmend die Funktion der geschwächten albanisch-makedonisch-bulgarischen Koalition. Selbstverständlich handelte es sich bei diesen beiden Achsen nicht um offizielle Bündnissysteme und wohl auch deshalb funktionierten sie besser als alle anderen Kombinationen der italienischen Diplomatie. Letztere war indessen nur zum Teil am Zustandekommen und an der Tätigkeit dieser beiden Achsen beteiligt; dies war weitgehend Verdienst und Aufgabe Mussolinis sowie seines Nachfolgers Grandi. Allerdings barg diese Form der Geheimdiplomatie auch große Risiken: Die illegalen Organisationen waren unberechenbar und nur schwer zu steuern und der internationale Schaden, der aus dem Bekanntwerden dieser Mesalliancen des „Duce“ entstehen konnte, war beträchtlich. Die Unterstützung subversiver Organisationen in Südosteuropa war im Übrigen kein neues Moment in der italienischen Außenpolitik; Kontakte zu fast allen Gruppierungen im balkanischen nationalrevolutionären Spektrum hatte es vor dem „Marsch auf Rom“ auch schon gegeben. Und 1924, als die sowjetische Außenpolitik den Versuch der Errichtung einer Einheitsfront verschiedener dieser Gruppierungen unternahm, hatten führende Vertreter der Mussolini’schen „Paralleldiplomatie“ bereits einmal ein umfassendes Programm zur Koordination der Aktivitäten einzelner pro-italienischer Gruppen und Fraktionen vorgelegt. Geplant war ein „Geheimes Balkan-Donau-Komitee“ als Dachorganisation aller antisowjetischer, antijugoslawischer revisionistischer Faktoren, darunter auch Ungarn, Bulgarien und Albanien. Zielgruppen waren damals wie auch 1927 an erster Stelle die Makedonier, weiter

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Kroaten, montenegrinische Föderalisten, das Komitee der Kosovo-Albaner, der nach 1923 nach Jugoslawien emigrierte linke Flügel der bulgarischen Bauernpartei, aber auch Organisationen und Parteien in Griechenland und Rumänien. Im Frühjahr 1927 wurden all diese Verbindungen, die mehr oder weniger unkoordiniert teils von der Partei, teils vom Palazzo Chigi und teils vom „Duce“ persönlich gehalten wurden, auf eine neue politische Grundlage gestellt. In einem Schreiben an den italienischen Botschafter in Bukarest zur Frage einer italienischen Unterstützung für die politische Organisation der aus Jugoslawien nach Rumänien emigrierten makedonischen Aromunen skizzierte Mussolini am 28. Juni 1927 den neuen italienischen Kurs: Der Standpunkt der K[öniglichen] Regierung [Italiens] gegenüber diesem wie auch gegenüber anderen nationalen Brandherden, die in einem geeigneten Moment in einer dem auf dem Balkan bestehenden Status quo zuwiderlaufenden Art und Weise geschürt werden können und die daher Ursache für eine Schwächung und eine Zersplitterung der Stärke jener etablierten Mächte bilden können, die kleineren Nationen Schaden zufügen, ist folgender: 1. Eine günstige Gelegenheit, einem Staat, der unser Gegner sein könnte, in einem geeigneten Moment Ungelegenheiten zu bereiten, kann man nicht ungenutzt vorübergehen lassen. 2. Eine solche Gelegenheit muss daher umsichtig genutzt werden. 3. Ein leicht entstehendes Missverständnis muss man indessen unbedingt vermeiden, und zwar jenes, dass die K[önigliche] Regierung bei der angelegentlichen Beschäftigung mit einer solchen Gelegenheit versucht sein könnte, diese zur Unzeit explodieren zu sehen. 4. Die unzeitgemäße Explosion eines isolierten oder gar aller Brandherde gleichzeitig würde bloß deren blutige Unterdrückung zur Folge haben und wäre nichts als ein sinnloses Opfer. 5. Eine Explosion zur richtigen Zeit, und zwar innerhalb eines Zeitraums, in dem eine Phase großer militärischer Operationen (von wem auch immer sie ausgehen mögen) gegen einen Unterdrückerstaat anbricht, würde hingegen einen nützlichen Beitrag darstellen, und alle Kräfte müssten allein auf diesen Moment hin am Leben gehalten werden. 6. Um solche Kräfte auch in der Stillhalteperiode, die äußerst lang sein kann, aufrecht zu erhalten, bedarf es des Vorhandenseins hartnäckig und vorsichtig operierender Organisationen, denen aber bloße Sympathiekundgebungen ganz offensichtlich nicht genügen würden. 7. Die K[önigliche] Regierung ist bereit, solchen Organisationen ‚nicht nur mit bloßen Sympathieerklärungen‘ zu helfen, allerdings unter der Bedingung, dass alle in den obigen Punkten genannten Forderungen zur grundsätzlichen Lebensnorm dieser Organisationen werden, das heißt, dass die K[önigliche] Regierung bereit ist, die Existenz von Organisationen zu unterstützen, die kämpferisch gesinnt sind, ausreichend Mittel und Wege in der Hinterhand haben, aber mucksmäuschenstill Gewehr bei Fuß stehen und erst dann von der statischen in die dynamische Phase übergehen, wenn das fragliche Objekt von allen Seiten gleichzeitig sowohl von äußeren wie von inneren Kräften angegriffen wird [Hervorhebungen im Original – S. T.]. 6

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Telex Nr. 232843 von Außenminister Benito Mussolini an Botschafter Carlo Durazzo, Rom,

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Bereits wenige Monate später gab der „Duce“ das Signal zum Übergang von der „statischen in die dynamische Phase“, als die IMRO mit einer Serie von Bombenattentaten und Anschlägen auf führende Militärs eine Art Bürgerkrieg im jugoslawischen Teil Makedoniens, dem so genannten „Südserbien“, auslöste. Als im Juli 1929 der „Duce“ den Palazzo Chigi mehr oder weniger desillusioniert verließ, traten die Verbindungen zu den illegalen Bewegungen Südosteuropas in den Hintergrund. Zwar hielt auch Dino Grandi Kontakt zur IMRO und vor allem zur Ustaša, aber auf diskreterer Basis, da man die guten Verbindungen nach London nicht durch diese Art von Geheimpolitik gefährden wollte. Jetzt war also wieder eine „statische Phase“ angebrochen. Erst ab 1932, nachdem der „Duce“ erneut Außenminister geworden war, reaktivierte man die Drähte zum südosteuropäischen Untergrund wieder. 1932 unternahm die Ustaša von italienischem Territorium aus einen Einfall nach Jugoslawien und 1933 bemühte sich der Chef des Kosovo-Komitees, Hasan Bey Prishtina, gar, ein ungarisch-makedonisch-kroatisch-kosovoalbanisches Bündnis unter italienischer Ägide zustande zu bringen. 1934 schließlich musste man auch in Rom einsehen, dass Risiken und Erfolge der „Paralleldiplomatie“ mit den subversiven Bewegungen in keinerlei Verhältnis mehr standen. In einer kroatisch-ungarischmakedonischen Kooperation wurden zwar der jugoslawische Diktator und König sowie der französische Außenminister ermordet, doch warf dieses Komplott dunkle Schatten auf die italienische Regierung. Nur die besondere politische Konstellation im Europa des Jahres 1934 ließ Großbritannien und Frankreich vor einer deutlichen Anklage Italiens Abstand nehmen. Der Umstand, dass Italien fast nur noch mit Hilfe von Untergrundbewegungen in Südosteuropa aktiv werden konnte, zeigte deutlich die Schwäche des italienischen Einflusses in dieser Region. Bereits die Weltwirtschaftskrise, die ein Erstarken des deutschen Einflusses in Südosteuropa mit sich brachte, hatte die italienischen Positionen dort gefährdet. Ebenfalls zu Beginn der dreißiger Jahre setzte eine weitreichende Umorientierung der italienischen Außenpolitik weg vom Balkan-DonauRaum und hin zu Interessen in Libyen und Äthiopien ein. Zur Erreichung kolonialer Ziele war aber eine gesicherte Adria-Flanke unabdingbare Voraussetzung. Von 1932 an suchte Italien daher die Wiederannäherung an Frankreich, was zur Entspannung des Verhältnisses zur Kleinen Entente beitrug. Ihren organisatorischen Ausdruck fand diese Umorientierung im Juli 1932 in der Entlassung des gemäßigte Faschisten Dino Grandi und in der Einsetzung von Leuten wie Fulvio Suvich im Palazzo Chigi, die die koordiniert wirtschaftlich-politische der rein politischen Aktion vorzogen. Trotz südosteuropäischer Rückschläge wie dem Organisationspakt der Kleinen Entente 1933 und dem Balkanpakt 1934 konnte die italienische Diplomatie jetzt ihren ersten realen, dauerhaften politischen Bündniserfolg in dieser Region verzeichnen. Bezeichnenderweise war dieses italienisch-österreichisch-ungarische Bündnis eher ein Wirtschaftspakt denn eine Offensivallianz mit revisionistischer Zielsetzung.

28. Juni 1927. In: I documenti diplomatici italiani, Serie VII, Bd. 4. Rom 1962, Dok.-Nr. 302, S. 294– 295.

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Was waren die Gründe für das Scheitern der verschiedenen italienischen Bündniskombinationen in Südosteuropa in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre? Da wären zunächst etliche politische Gründe anzuführen: – Mussolini, Grandi und die anderen Strategen der italienischen Südosteuropapolitik unterschätzten die Kohärenz der Kleinen Entente sowie die Stabilität der Verbindungen zwischen dieser und Frankreich. – Sie unterschätzten weiter die Kluft zwischen den in der Kleinen Entente organisierten Siegerstaaten und den südosteuropäischen Verlierern Ungarn und Bulgarien. – Schließlich unterschätzten sie die Entschlossenheit der auf isolationistisch-kolonialpolitischem Kurs steuernden konservativen britischen Regierung, Südosteuropa nicht noch einmal zu einem gefährlichen Krisenherd der Politik der Großmächte werden zu lassen. – Vollends jegliches Gespür hatte der Palazzo Chigi bei der Einschätzung des zwischen den einzelnen südosteuropäischen Staaten angehäuften bilateralen Konfliktpotentials von Grenzstreitigkeiten, territorialen Ansprüchen u. a. vermissen lassen. Dies hatten die Beispiele Ungarn /Rumänien und Bulgarien /Rumänien sowie Griechenland /Türkei 1928 ganz deutlich gezeigt. – Hinzu kam schließlich, dass die italienische Regierung keinen konsequenten Kurs in Fragen der internationalen Politik gegenüber Südosteuropa steuerte: Zwar unterstützte man in Rom etwa die bulgarische Regierung gegen die Angriffe durch die Nachbarstaaten, nicht aber, wenn z. B. in Genf Fragen der bulgarischen Reparationen verhandelt wurden. In solchen Fällen hielt man in Rom lediglich die Hand auf und gab sich noch unnachgiebiger als Großbritannien oder gar Frankreich. Ein weiterer Grund für das Versagen der italienischen Südosteuropapolitik lag in deren mangelnder, um nicht zu sagen: fehlender ökonomischen Untermauerung. Man könnte sogar so weit gehen und behaupten, dass die italienische Wirtschaftspolitik in Südosteuropa die verschiedenen Bündniskombinationen der italienischen Diplomatie unmöglich machte. Ein Beispiel: Jugoslawien, ein Land, das auf den Export von Rohstoffen wie Erz und vor allem Holz, von Schlachtvieh und Fleisch, aber auch von anderen agrarischen Produkten wie Getreide angewiesen war, wickelte ein gutes Viertel seines Exportes mit Italien ab, war also an seinen politischen Gegner wirtschaftlich gebunden. Nicht so Bulgarien, eng mit Italien liiert, das aber in wirtschaftlicher Hinsicht von Italien so gut wie nichts zu erwarten hatte, im Gegenteil: Italien verfocht seine eigenen wirtschaftlichen Anliegen in Bulgarien mit besonderer Härte und Unnachgiebigkeit. Die Tschechoslowakei und Griechenland wären zwei weitere Extrembeispiele. Hinzu kam, dass auch auf Sektoren, die durch neue Technologien den italienischen Bedarf an Rohstoffen steigerten, wie etwa die Entdeckung der Produktion von Viskose, einer aus Zellstoff bzw. Holz hergestellten künstlichen Faser – eine italienische Erfindung! –, einseitig Länder wie Jugoslawien begünstigt wurden. Mit anderen Worten: Vom Außenhandel mit Italien profitierten die politischen Gegner, während die tatsächlichen und potentiellen Partner leer ausgingen. Die einzige Ausnahme hierbei war Albanien, gleichzeitig das einzige Land in Süd-

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osteuropa, in dem der Palazzo Chigi im Verbund mit anderen Ministerien und der Privatwirtschaft eine systematische Wirtschaftspolitik betrieb. Nicht zufällig war Albanien vom I. Tirana-Pakt an völlig von Italien abhängig. Es wäre allerdings nicht richtig zu meinen, der „Duce“ und ein Teil seiner Mitarbeiter hätten diese Probleme nicht erkannt. Ihnen war durchaus klar, dass Italien in wirtschaftlicher Hinsicht gegenüber den Westmächten, aber auch gegenüber Deutschland dadurch benachteiligt war, dass die Aufnahmefähigkeit seines Marktes begrenzt war. Doch ausgehend vom Interesse des Landes, Rohstoffe zu importieren und Fertigwaren zu exportieren, verband man den Plan der Errichtung eines italienischen „Jagdsperrgebiets“ in Südosteuropa mit dem der Errichtung eines italienischen Wirtschaftsraumes dort. Dieser Plan funktionierte nur zum Teil, etwa auf dem Gebiet der Viskoseproduktion, und dies nicht nur, weil weder die italienischen Banken noch die Privatwirtschaft noch das Finanzministerium Interesse an Auslandsinvestitionen und Kapitalexport hatten, sondern auch weil im Palazzo Chigi eine starke Fraktion gegen derartige Pläne opponierte. Dino Grandi selbst meinte noch als Unterstaatssekretär 1929, als Frankreich einen wirtschaftspolitischen Vorstoß nach Südosteuropa plante, Überlegungen zu einem stärkeren wirtschaftlichen Engagement Italiens dort seien „dummes Geschwätz“, da „unrealistische Träume“: „Der italienischen Wirtschaft kann im gegenwärtigen Moment keine einzige Lira entzogen werden.“ 7 Die Folgen der Weltwirtschaftskrise und vor allem des verstärkten wirtschaftlichen Vordringens Frankreichs und Deutschlands in den Balkan-Donau-Raum zwangen jedoch auch Italien zu einem ähnlichen Vorgehen. Im Mai 1930 entwarf Staatsrat Iginio Brocchi das Projekt eines Wirtschaftblockes, gebildet aus Italien, Österreich und Ungarn, wie es dann 1934 erfolgreich in die Tat umgesetzt wurde. Die italienischen Versuche zur Errichtung von Bündnissystemen in Südosteuropa, deren Ziel die Vormacht in diesem Gebiet sowie die Revision der Pariser Verträge von 1919 war, waren also so lange erfolglos gewesen, bis man sich in Rom zu einer koordinierten politisch-wirtschaftlichen Aktion entschloss. Die Anfangserfolge dieser Aktion fielen jedoch bereits in eine Periode, in der Italien ein übermächtiger Konkurrent, und zwar sowohl auf politischem wie auch auf wirtschaftlichem Gebiet in Südosteuropa erwachsen war, dem es nichts Substantielles entgegenzusetzen hatte: das „Dritte Reich“.

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Handschriftliche Randbemerkung von Unterstaatssekretär Dino Grandi auf einer Mitteilung des Büros III der Generaldirektion für Europa und die Levante des italienischen Außenministeriums an Außenminister Benito Mussolini. Rom, Januar 1929. In: I documenti diplomatici italiani, Serie VII, Bd. 7. Rom 1970, Dok.-Nr. 229, S. 251–252, hier S. 252.

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The Internal Macedonian Revolutionary Organization and Bulgarian Revisionism, 1923 – 1944 [2013] Vision turned into politics: The Bulgarian syndrome of San Stefano It was a German Federal chancellor who once dryly remarked “If you have visions, go and see a doctor!” 1 In applying this advice to the political elites of Bulgaria, one would expect them spending significant parts of their life in the doctor’s waiting room. This comment rings true because from the founding of the Principality of Bulgaria at the Congress of Berlin of 1878 until the country’s accession to the European Union in 2007 it was a vision that decisively shaped Bulgaria’s foreign policy for almost 130 years. What is meant here is, of course, the Preliminary Russian-Ottoman Peace Treaty of March 3, 1878, signed in the village of San Stefano near Istanbul. At San Stefano, the victorious Tsar had forced upon the Sultan a Greater Bulgaria reaching from the Danube to the Aegean Sea and from the Black Sea to Lake Okhrid. This geopolitical design, however, never became a political reality. Instead, a few months later, at the Congress of Berlin, Greater Bulgaria was replaced by a threefold setup: (a) Macedonia and Thrace along with Saloniki remained integral parts of the Ottoman Empire; (b) Plovdiv was made the capital of an autonomous Ottoman province called Eastern Rumelia; and (c) a Principality of Bulgaria under the suzerainty of the Sublime Porte was founded to the south of the Danube with Veliko Turnovo and then Sofia as its capital. The Treaty of Berlin of July 1878 came as a deep disappointment to the leaders of the Bulgarian national movement who after a year of provisional Russian administration had just started working in their new capacities as cabinet ministers, army officers, state servants and so on. The political elite of the new principality soon turned the new state into a tool to ‘regain’ the territories ‘lost’ in Berlin, first of all Macedonia and Thrace. The first step towards a realization of what was by now called ‘San Stefano Bulgaria’ through a revision of Berlin was the ‘reunification’ of Bulgaria with Eastern Rumelia in 1885. The second step was the setting up of a movement for the liberation of still Ottoman Macedonia, consisting of an Internal Macedonian and Adrianopolitan i. e., Thracian) Revolutionary Organization (IMARO) founded in 1893 and in 1895 of a Supreme Macedonian and Adriano-

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Wolfgang Schäuble, “90. Geburtstag: Helmut Schmidt berauscht mit seiner Nüchternheit”. Die Welt, December 22, 2008 (URL http://www.welt.de/politik/article2916542/Helmut-Schmidt-berauschtmit-seiner-Nuechternheit.html, letzter Zugriff: 04. 10. 2016).

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politian Committee (SMAC) loyal to Sofia and fighting also for an Anschluss of Macedonia to Bulgaria. The third step then was the military occupation of Northern Macedonia, also called Vardar Macedonia, and Western Thrace in World War I. When Bulgarian troops had to withdraw from these territories in 1918 and the Paris Peace Conference restored Vardar Macedonia to Serbia respectively to the new Serbian-dominated Kingdom of the Serbs, Croats and Slovenes (SHS), renamed in 1929 into Yugoslavia, as well as Western Thrace to Greece a significant change took place in Bulgaria’s San Stefano programme: For two decades to come not military force but ‘peaceful revisionism’ was applied to reach the aim of a ‘return’ of Macedonia and Thrace to ‘mother Bulgaria’. However, the formerly anti-Ottoman Macedonian movement reorganized itself in 1919 on Bulgarian territory in the form of the Internal Macedonian Revolutionary Organization (IMRO). Its main enemy was from now on the SHS State resp. Yugoslavia, but up to 1923 also the Bulgarian government led by Aleksandur Stamboliiski, the founder of the country’s peasant party, was hostile to the organization. When Stamboliiski was overthrown by the bourgeois opposition in 1923 IMRO took revenge by mutilating and killing him. It was the Ribbentrop-Molotov Pact of 1939 which once again turned the Bulgarian San Stefano vision into diplomatic initiatives and military alliances – a strategy that ultimately resulted in ‘regaining’ Vardar Macedonia and Western Thrace. The years of 1941 to 1944 brought a ‘re-enactment’ of what had happened from 1915 to 1918: In the wake of the attack of the German armed forces the Bulgarian army occupied almost the same formerly Serbian resp. Yugoslav and Greek territories for a second time. 2 Once more, the vision of San Stefano was realized to a considerable degree. And when the Paris Peace Treaty with Bulgaria of 1946 brought another revision of the revision, the vision still lingered on while acquiring various forms: First in the late 1940s, a federation of Bulgaria and Tito’s Yugoslavia (with Macedonia as a link between the two) was envisioned. Then, after the Tito-Stalin split of 1948, another military occupation of Vardar Macedonia in the wake of a Soviet attack on Yugoslavia was hoped for. And finally, in 1991 the hope arose within Bulgaria that newly independent Macedonia would strive for a voluntary ‘reunification’. None of these hopes, however, came true: Today, Bulgaria and Macedonia are neighboring, but separate states, and the ‘special relationship’ between them claimed by the Bulgarians is denied by most citizens of Macedonia. Also, Aegean Macedonia and Western Thrace remained parts of Greece, another neighbor of Bulgaria and nowadays its partner in the EU and NATO. Today, territorial revisionism, be it by peaceful means or by force, is no longer part of Bulgaria’s foreign policy – yet nevertheless the specter of San Stefano still haunts the Bulgarians, in particular their intellectual, cultural, clerical and even political elites. Therefore, what is described in the following parts can only partly be labeled ‘history’ and ‘memory’ – for Bulgarian

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Björn Opfer, Im Schatten des Krieges. Besatzung oder Anschluss – Befreiung oder Unterdrückung? Eine komparative Untersuchung über die bulgarische Herrschaft in Vardar-Makedonien 1915–1918 und 1941–1944 (Münster, 2005).

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society and politics these topics still belong to categories of ‘reality’ and ‘present’. Three intertwined developments will be covered: First, two phases of Bulgarian revisionism in the interwar period – a ‘peaceful’ one up to 1939 followed by one of tacit support of the Third Reich in 1940/1941; Second, two differing phases in which the degree of influence of IMRO on Bulgarian foreign policy varied – before 1934 it was strong while from 1934 to 1941 it was still there, yet much weaker; And third, Bulgaria and IMRO in the German orbit 1941–1944. Well into the 1930s the two terms cum concepts (‘Bulgarian’/‘Bulgaria’ and ‘Macedonian’/‘Macedonia’) did not exclude each other, to the contrary: In historical and political terms, Macedonia was perceived as a part of Bulgaria, and in ethnic and linguistic terms Macedonians were part of the Bulgarian ethnos, if not nation. Whether at that time a Macedonian called himself either ‘Macedonian’, ‘Bulgarian’, ‘Bulgaro-Macedonian’ or ‘Macedonian Bulgarian’ he basically meant the same thing: a Christian-Orthodox speaker of the Eastern variety of Southern Slav languages – and he implied that all members of this group should live in one state called Bulgaria. The concept of a separate Macedonian state was a product of the late 1920s and favored by just a small group within the Macedonian movement. The idea that next to the Bulgarian nation a Macedonian nation existed with its own identity, language, literature, history and so on was of an even more recent nature. This concept was conceived in the 1930s and put into practice by Tito’s partisans at the end of World War II.

‘Peaceful revisionism’: Official Bulgarian foreign policy in the interwar period In between 1912 and 1918, Bulgaria fought three wars, of which it won one – the First Balkan War –, but lost the two others – the Second Balkan War and World War I. Still, its territory increased by ten percent. Nevertheless, the Peace Treaty with Bulgaria of Neuilly of 1919 was perceived by the elites and the inhabitants of the country as a ‘national catastrophe’. The main reason for this was the fact that Vardar Macedonia which from 1915 to 1918 was occupied respectively ‘liberated’ by Bulgarian troops and administered by Sofia became a part of the neighboring SHS Kingdom. Furthermore, Western Thrace, also under Bulgarian occupation, as well as Aegean Macedonia became a part of Greece after World War I. And finally, Southern Dobruja was lost to Romania, and the Western Outlands around the towns of Pirot, Bosilegrad and Tsaribrod to Yugoslavia. Pirin Macedonia and the Rhodope Region, however, remained within Bulgaria. Bulgarian revisionism after Neuilly had two faces – an official one of a ‘peaceful’ revisionist strategy aiming at a return of the ‘lost Bulgarian lands’, and an unofficial one represented by a number of semi-legal paramilitary nationalist movements based on Bulgarian territory and operating in coordination with the Bulgarian King, the army, and /or the government. The most influential ones were those from Mace-

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donia, first among them IMRO. 3 National-revolutionaries from now Greek Thrace set up an Internal Thracian Revolutionary Organization (ITRO) as did the ones from Southern Dobruja, now in Romania (Internal Dobrujan Revolutionary Organization – IDRO), and from the Western Outlands in Yugoslavia (Revolutionary Organization for the Liberation of the Western Outlands “Vurtop”). 4 Official Bulgarian revisionism only formally strove for the ‘return’ of Vardar Macedonia, Aegean Macedonia, Western Thrace, Southern Dobruja and the Western Outlands – although in political rhetoric this aim was upheld consistently. In fact, all Bulgarian interwar governments excluded the use of military force against one or more of their neighbors but hoped for a change in the international situation in their own favor. Four principles functioned as guidelines in Bulgaria’s foreign policy well into the 1930s: First, the most important international factor for Bulgaria was the League of Nations; Second, Bulgaria pursued a policy of equidistance to Great Britain, France and Italy while not reactivating historical and cultural ties with Weimar Germany and Soviet Russia; Third, Bulgaria strictly obeyed the military and financial obligations of the Treaty of Neuilly; And fourth, Bulgaria kept an equidistance also to her four neighbors, i. e., Turkey, Greece, Yugoslavia and Romania. 5

Although Sofia did not always stick closely to these principles – e. g., cultivated a special relationship with Mussolini’s ‘new’ Italy – the policy of ‘peaceful revisionism’ was highly successful: The League of Nations reduced Bulgaria’s reparation load substantially, granted two large loans, abolished the Inter-Allied Military Control Commission for Bulgaria and even intervened swiftly in Sofia’s favor when in 1925 the Greek army crossed into Bulgarian territory. Yet by 1936, the League of

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Kostadin Paleshutski, Makedonskoto osvoboditelno dvizhenie sled Purvata svetovna voina (1918– 1924) (Sofia, 1993); idem, Makedonskoto osvoboditelnoto dvizhenie 1924–1934 (Sofia, 1998); Spyridon Sfetas, Makedonien und interbalkanische Beziehungen 1920–1924 (München, 1992); Zoran Todorovski, Vnatreshnata Makedonska Revolutsionerna Organizatsiia 1924–1934 (Skopje, 1997); Ivan Katardzhiev, Makedoniia sproti Vtorata svetska voina (Skopje, 1999); idem: Makedoniia megu Balkanskite i Vtorata svetska voina (Skopje, 2000) (= Istoriia na makedonskiot narod, vol. 4); Aleksandur Grebenarov, Legalni i taini organizatsii na makedonskite bezhantsi v Bulgaria (1918– 1947), (Sofia, 2006). Dobrin Michev et al. (eds.): Natsionalno-osvoboditelnoto dvizhenie na makedonskite i trakiiskite bulgari. T. IV: Osvoboditelnite borbi sled Purvata svetovna voina 1919–1944 (Sofia, 2006); Staiko Trifonov, Bulgarskoto natsionalnoosvoboditelnoto dvizhenie v Trakiia 1919–1934 (Sofia, 1988); Petur Todorov, Osvoboditelnite borbi na Dobrudzha. Dobrudzhanskata revoliutsionna organizatsiia 1925–1940 (Sofia, 1992); Metodi Petrov, “Vurtop” – revoliutsionna organizatsiia za osvobozhdenie na Zapadnite pokrainini (Sofia, 2003.) Iltscho Dimitrov, Bulgarien in der europäischen Politik zwischen den beiden Weltkriegen (Vorläufige Schlussfolgerungen), in Bulgarische Sprache, Literatur und Geschichte, ed., Wolfgang Gesemann (Neuried bei München, 1980), 203–225; Elz˙ bieta Znamierowska-Rakk, Sprawa Tracji Zachodniej w polityce bułgarskiej (1919–1947 (Warsaw, 1991).

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Nations had virtually disintegrated. Simultaneously, in 1934 the country’s four neighbors had signed a Balkan Pact which completely encircled Bulgaria – a development which forced Bulgarian diplomacy to seek an alliance with one of its neighbors. It turned out that Yugoslavia was willing to make an offer, notwithstanding Bulgaria’s aspirations on Vardar Macedonia. Parallelly, the emergence of King Boris III of Saxony-Coburg-Gotha as Bulgaria’s strong man from 1935 on led to an intensification between Sofia and now National-Socialist Berlin. Still, for several years Bulgaria had great difficulties in re-orienting itself between Fascist Italy and the Third Reich on the one hand, and the Western Powers as well as the Soviet Union on the other. It was the German-Soviet Pact of 1939 which put an end to this difficult situation: Now the two powers which mattered most for Bulgaria and the Bulgarians were allies, and Sofia’s ‘peaceful revisionism’ acquired a different quality. It is in this context that the famous bon mot by King Boris III has to be understood: “My army is pro-German, my wife is Italian, my people are pro-Russian. I’m the only pro-Bulgarian in this country.” 6 In 1940, the new Bulgarian government of the pro-German Bogdan Filov joined Hungary and the Soviet Union in pressing the Third Reich for territorial concessions at the expense of Romania. And in the Treaty of Craiova of September 7, 1940, Romania had to cede Southern Dobruja to Bulgaria. Still, however, Bulgaria pursued a policy of formal neutrality between Nazi Germany and Great Britain. This situation changed in late 1940 when Hitler insisted on preparing his attack on Greece and Yugoslavia – “Unternehmen ‘Marita’” – from Bulgarian soil. On March 1, 1941, Bulgaria signed the German-Italian-Japanese Tripartite Pact, on March 2, German troops entered Bulgaria, and on 6 April, the Wehrmacht invaded Greece and Yugoslavia from Bulgarian territory. After the successful German military operations in the Balkans, Bulgaria was awarded with formerly Yugoslav Vardar Macedonia and with formerly Greek Western Thrace – without a single shot from a Bulgarian gun fired. Sofia’s ‘peaceful revisionism’ had achieved two major aims in the direction of realizing the vision of San Stefano. 7

Militant revisionism: Informal Bulgarian interwar Balkan policy The unofficial face of Bulgarian revisionism was shaped by legal, semi-legal, illegal and even terrorist emigré organizations, first of all by IMRO, but also by ITRO, IDRO and “Vurtop”, and, particularly, operating on and from Bulgarian territory against the neighboring states Yugoslavia and Romania, to a lesser degree Greece. In contemporary Bulgarian terminology, these organizations were described as neotgovorni faktori – that is literally political forces which could not be held responsible for what

6 7

Marshall Lee Miller, Bulgaria during the Second World War (Stanford, CA, 1975), 1. Hans-Joachim Hoppe, Bulgarien – Hitlers eigenwilliger Verbündeter. Eine Fallstudie zur nationalsozialistischen Südosteuropapolitik (Stuttgart, 1979).

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they did since they were beyond the reach of state organs. The most powerful of these formations was the IMRO – founded in 1893 in Ottoman Saloniki, reorganized in 1919 in Sofia, flourishing up to 1934 in Bulgaria, temporarily in disgrace there until 1941, resurrected under Croat and German protection till 1944 and disbanded and eliminated by Bulgarian and Yugoslav Communists in 1946. In particular, between 1919 and 1934, IMRO possessed not only ‘a state within a state’ – the Southwestern Bulgarian district of Petrich, also called Pirin Macedonia, bordering on Yugoslavia and Greece – but functioned temporarily as ‘a state above the state’. 8 More often than not this organization forced the King, the parties, individual politicians, army officers, judges, journalists and others to do what it demanded from them – irrespective of the national interest of Bulgaria. In fact, in between 1923 and 1934, at various occasions the Bulgarian state as such and its entire foreign policy towards Yugoslavia were virtually taken hostage by IMRO. Prime Minister Andrei Lyapchev, himself of Macedonian origin and in office from 1926 to 1931, openly confessed that IMRO and its ally Italy forced their will upon his government: No rapprochement with Yugoslavia, no efficient control of the Bulgarian-Yugoslav border, and no giving in to British and French demands for narrowing the operational freedom of IMRO within Bulgaria. While Lyapchev, like other conservative, liberal and rightist Bulgarian politicians, in principle sympathized with the IMRO, in everyday politics and diplomacy he opposed it. In doing so, he got under severe pressure not only from the organization itself but also from its sympathizers in his own government as well as in the military, the court and the church. The same was true for his predecessor of the years 1923 to 1926, Aleksandur Tsankov, as well as for his successors up to 1934, Aleksandur Malinov and Nikola Mushanov. Up to 1929, IMRO’s declared aim was a ‘reunification’ of all Macedonian territories with the Bulgarian state; from 1933 on, however, IMRO’s revised aim was the founding of ‘a free and independent Macedonia’ as ‘a second Bulgarian state in the Balkans’. IMRO’s Central Committee was able to mobilize some 5,000 fighters plus terrorist cells within Bulgaria as well as a tight logistical network of supporters in Yugoslav Macedonia and Albania plus training camps in Hungary and Italy. Up to 1927, in spring and summer of each year, a mobile IMRO state consisting of 1,000 to 2,000 uniformed fighters operated in the Vardar region and engaged in open field battles with Yugoslav army, other security forces, and Serbian counterinsurgents. In addition, IMRO had permanent structures in most of Europe’s capitals and major cities run by its diplomatic unit, the Foreign Representation. In interwar Europe, IMRO was unique in any respect. The Croat Ustasha or the Ukrainian terrorists in Poland had set up much smaller and less professional structures, and they were much more dependent on revisionist sponsor states like Italy, Hungary, Austria, or Germany. Founded in 1929, ‘Ustasha-Croatian Revolutionary Movement’ led by Gustav Perˇcec and Ante Paveli´c remained an exile organization with very little backing in Yugoslavia itself. Like the Ukrainian Military Organization (UVO), founded in

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Dimitur Tyulekov, Obrecheno rodolyubie. VMRO v Pirinsko 1919–1934 (Blagoevgrad, 2001).

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1920, and its successor of 1929, the Organization of Ukrainian Nationalists (OUN), in Poland, Ustasha managed never to control a territory as IMRO did in the Petrich region or set up a mobile and temporary state like IMRO in Yugoslav Macedonia. 9 Also unlike Ustasha, UVO and OUN, IMRO could rely on a fiscal system of its own in Bulgaria (including several banks), on a highly lucrative tobacco monopoly and on the revenues from the production and distribution of opium, the basis for heroin. 10 While connections between IMRO and Ustasha were close from the beginning and resulted in intense cooperation in the 1930s and early 40s, no contacts to UVO or OUN are known of. IMRO, however, suffered from two serious weaknesses. First of all, serious differences of opinion occurred in its Central Committee after the assassination of its charismatic member Todor Aleksandrov in 1924. One faction led by General Aleksandur Protogerov opted for a continuation of the tactics of full-fledged partisan warfare while another one led by Ivan Mikhailov favoured individual terrorist acts. After Mikhailov had Protogerov murdered in 1928, the organization split into two factions – a strong Mikhailovist wing and a weaker Protogerovist one led by Pero Shandanov. From 1928 to 1934, both factions engaged into bloody infighting and mass-fratricide. IMRO’s second weakness was its poor diplomatic performance: Attempts at strategic alliances with Germany and the Soviet Union failed in 1923 and 1924 respectively, and a formal agreement with Mussolini’s Italy in 1927 proved to be a disappointment not only in terms of financial subsidies and supply of military equipment but even harmful in terms of the Central Committee’s authority among the rank and file. 11 By 1934, IMRO’s strength and prestige had decreased to such a degree that the organizers of a coup d’état in Sofia, namely the Military League and the pro-Yugoslav political group ‘Zveno’, succeeded in destroying the organization’s stronghold in the Pirin region. IMRO was disbanded by the Bulgarian army within days and its leader Ivan Mikhailov sentenced to death. He managed, however, to flee to Turkey where Kemal Atatürk granted him political asylum. 12 It was the Marseille Murder of October 1934 which partly restored IMRO’s international

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Stefan Troebst, “Nationalismus und Gewalt im Osteuropa der Zwischenkriegszeit. Terroristische Separatismen im Vergleich”, Bulgarian Historical Review 24 (1996), no. 2, 25–55. 10 Stefan Troebst, Mussolini, Makedonien und die Mächte 1922–1930. Die “Innere Makedonische Revolutionäre Organisation” in der Südosteuropapolitik des faschistischen Italien (Köln, Wien, 1987), 88–128. 11 Ilcho Dimitrov, Bulgaro-italianski politicheski otnosheniia 1922–1943 (Sofia, 1976); Troebst, Mussolini, Makedonien und die Mächte. 12 Stefan Troebst, “Vanche Michajlov – teroristut-byurokrat” Kultura [Sofia], no. 4 (2576), 5 February 2010, 10–11 (URL http://www.kultura.bg/bg/article/view/16572, letzter Zugriff: 04. 10. 2016) [German original in this volume]; idem: Ivan Mihajlov im türkischen und polnischen Exil 1934–1939/40; idem, “Fragmente zur politischen Biographie des Chefs der ‘Inneren Makedonischen Revolutionären Organisation’”, Südost-Forschungen 46 (1987), 139–196. This as well as other articles by the author cited here are reprinted in idem, Das makedonische Jahrhundert. Von den Anfängen nationalrevolutionärer Bewegung zum Abkommen von Ohrid 1893–2001 (München, 2007).

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prestige. In close cooperation with Paveli´c’s Ustasha, Mikhailov’s top hitman Vlado Chernozemski succeeded in assassinating the Yugoslav King Aleksandar I Karadjordjevi´c and the French foreign minister Louis Barthou.

Revision achieved – and lost again: Bulgaria and IMRO in World War II In the early 1940s, IMRO experienced a revival due to the founding of the Independent State of Croatia (NDH) as well as the Bulgarian occupation of Vardar Macedonia and parts of Aegean Macedonia. Paveli´c, now the Poglavnik (leader) of Ustasha Croatia, was a long-standing active supporter of the Macedonian cause and a personal friend of Mikhailov. 13 Having moved in 1938 from Turkey to Poland, in 1939 to Germany, and in 1940 to Hungary, in 1941 Mikhailov settled in Zagreb where he functioned as personal foreign policy adviser to Paveli´c. From Zagreb, Mikhailov reorganised the remnants of IMRO’s structures in Bulgaria and directed the establishment of new structures in what was now Bulgarian-occupied Vardar Macedonia. The reports of Bulgarian ambassador to Zagreb Yordan Mechkarov published in Sofia in 2004 demonstrate Mikhailov’s influence on the Ustasha government. 14 In April 1941, Bulgaria’s pro-German government of Bogdan Filov was awarded with Greek and Yugoslav territories. In 1942, occupied Aegean and Vardar Macedonia were formally annexed to Bulgaria and turned into provinces governed directly from Sofia. Among the newly nominated mayors, judges, military commanders, police officers, teachers, and others were many IMRO members and activists. 15 The close interaction between the organization and Bulgaria’s political, military, administrative, intellectual and other elites which had been weakened in 1934 was now re-established. This was the reason for the King and the government to try to solve the issue of Mikhailov: On several occasions, the King’s emissaries tried to convince Mikhailov to return to Sofia where he not only would be granted amnesty but awarded with a high-level governmental position in Vardar Macedonia. However, Mikhailov refused and stayed on with Paveli´c in Zagreb. Thus, from April 1941 on, when Bulgarian troops entered Yugoslav Macedonia alongside the Wehrmacht, up to September 1944, when they were forced to withdraw from there in the wake of the Red Army’s march on Sofia, relations between official Bulgaria and the IMRO leadership remained close yet tense. The King always suspected that the Mikhailov

¯ Hitlera i Mussolinija (Za13 Bogdan Krizman, Paveli´c i Ustaše (Zagreb, 1978); idem, Paveli´c izmedu greb, 1980); idem: Paveli´c i Tre´ci Rajh, 2 vols. (Zagreb, 1983); idem, Paveli´c u bjekstvu (Zagreb, 1986). 14 Milena Todorakova (ed.), Bulgariia i Nezavisimata Khurvatska Durzhava (1941–1944). Diplomaticheski dokumenti (Sofia, 2004); Nada Kisi´c-Kolanovi´c (ed.): Poslanstvo NDH u Sofiji. Diplomatski izveštai 1941–1945, 2 vols. (Zagreb, 2003). See also eadem (ed.): Zagreb – Sofija. Prijatelstvo po mjeri ratnog vremena 1941–1945 (Zagreb, 2003). 15 Opfer, Im Schatten des Krieges.

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would turn against Bulgaria and set up a Macedonian state with German help. This was indeed Mikhailov’s political aim but he soon came to realize that (a) Berlin had no immediate interest in this scheme and (b) the majority of his followers in Bulgaria proper and in annexed Vardar Macedonia favored the actual ‘reunification’ with Bulgaria over the vague prospect of Macedonian independence. So in 1941, 1942 and most of 1943 the situation remained as it was. However, things changed considerably when in September 1943 Italy dropped out of the war and retreated from the Balkans. Now Berlin relied on IMRO in the administration of formerly Italian-occupied Northern Greece. In the fall of 1943, the SS took over from the Italians an irregular pro-IMRO military formation called Okhrana (Defense) and operating in the Greek districts of Kastoria, Florina, Pella and Edessa. In coordination with Mikhailov in Zagreb, Okhrana commander-in-chief Atanas Kalchev set up a unit of 500 men which participated in German anti-partisan raids during the winter of 1943/44. In doing so Kalchev made it clear to the Germans that Okhrana was part of IMRO and now fighting for an independent Macedonian state, no longer for ‘reunification’ with Bulgaria. 16 During the spring and summer of 1944, IMRO and the SS then reorganized Okhrana into a regular military unit called Third Macedonian Brigade with a planned strength of 12,000 men. In fact, however, it consisted just of two battalions of 250 men each, initially under Kalchev’s command, who was later replaced by IMRO member and officer of the Bulgarian Air force Georgi (Gyosho) Dimchev. He and some 50 other IMRO members functioning as the Okhrana’s officer corps chose Edessa as headquarters. They hoped for a state-like Macedonian structure of governance in Northern Greece under German occupation. When the German Army Group E evacuated Greece in September 1944, Okhrana was dissolved. While its officers moved to Skopje and Sofia, the rank and file joined the Slavic units of the Greek pro-Communist partisan army of ELAS where they fought until the end of the Greek Civil War in 1949 under the name of SNOF (Slavic National Liberation Front). In the summer of 1944, with the Red Army advancing swiftly into the Balkans and the German retreat from Greece and Yugoslavia thus in sight, Mikhailov even became a potential ally for Hitler’s Balkan policy: On August 29, 1944, German foreign minister Joachim von Ribbentrop proposed to Hitler a contingency plan for the proclamation of a Macedonian puppet-state with Mikhailov as head. This should secure the German army’s withdrawal from the Balkans and open up the possibility for British diplomatic recognition of the new state which then would prevent the Red Army from advancing into Macedonia. On September 1, Hitler issued a ‘Fuehrerbefehl’ ordering the SS, the Wehrmacht and the German legations in Zagreb and Sofia to carry out Ribbentrop’s proposal immediately. On September 5, Mikhailov arrived from Zagreb via Sofia in Skopje. After two days of consultations with his followers, he declined the German offer. With Germans and Bulgarians retreating, the British 16 Stefan Troebst, “I drasi tis ‘Ochrana’ stous nomous Kastorias, Florinas kai Pellas, 1943–1944”, in: I Ellada 1936–44. Diktatoria – katochi – antistasi. Praktika tou diethnous istorikou synedriu, Hagen Fleischer and Nikos Svoronos (eds.), (Athens, 1989), 258–261.

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and the Soviets advancing, his own lieutenants defecting and the Communist partisans of Tito as well as the regional non-Communist partisan movement of Metodiia Andonov-Chento gaining the upper hand Mikhailov had realized that by now it was too late. 17 On September 6, the Soviet Union declared war on Bulgaria, and three days later the Red Army crossed into the country. By that time the Bulgarian authorities and military had already evacuated Vardar Macedonia. (With Soviet consent, Western Thrace was held until October 20.) On November 12, 1944, the German army left Skopje: Bulgaria’s territorial gains were now lost and Mikhailov sought shelter in the Austrian Alps. In 1945 due to a Yugoslav warrant he was said to have moved temporarily to Franco’s Spain, finally reappearing in Italy in 1948. Although he never was granted an US entry visa, he succeeded in re-organizing from his Italian exile the Macedonian Political (from 1952 on: Patriotic) Organization of Northern America (MPO) into an efficient legal successor organization of IMRO in the United States and Canada. In the mid-1980s, he re-established clandestine relations with Bulgaria under Todor Zhivkov in order to form a united front against the Yugoslav project of a Macedonian nation, and in 1990, after sixty years in exile, Mikhailov died in Rome peacefully at the age of 94. His former followers in Communist Bulgaria and Tito’s Yugoslavia suffered a different fate: In Bulgaria, the Protogerovist (Shandanovist) wing of IMRO had formed an alliance with the Communist Party already during World War II, and after 1944 many of its members got positions in the new Committee for State Security. This enabled them to clamp hard down on their Mikhailovist rivals in 1946. Several leaders were executed, the rank and file tried and imprisoned. And in Communist Yugoslavia attempts at a reorganization of Mikhailovist structures ended also in execution grounds and forced labour camps.

Legacies: IMRO in today’s Bulgarian and Macedonian politics The interaction between IMRO and Bulgarian revisionism was intense. The organization tried to push the Bulgarian government away from the policy of a ‘peaceful revisionism’ toward a policy of militant revisionism in order to ‘liberate’ Macedonia. By 1941, when Bulgaria got its second chance to occupy the Vardar region, IMRO under Mikhailov’s leadership had changed its program: Now it was no longer ‘reunification’ of Macedonia with Bulgaria, but the establishment of a ‘free and independent Macedonia’. When Berlin finally terminated the support for Sofia in 1944 and turned to Mikhailov, the military situation in the Balkans had changed to the advantage of the partisans and the Red Army.

17 Stefan Troebst, “‘Führerbefehl!’ – Adolf Hitler und die Proklamation eines unabhängigen Makedonien (September 1944)”, Osteuropa 52 (2002), 491–501. Cf. also Marjan Dimitriievski, Makedoniia vo antifašistiˇcka vojna (1944–1945) (Skopje: Menora, 1995); idem (ed.): Tretiot Rajh i Makedoniia 1941–1945 (Skopje, 1995.)

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There is, however, a postscript: In 1989, both in Bulgaria and in Macedonia, political movements were set up under the label of IMRO. Yet while the revived organization in Sofia – IMRO-Union of Macedonian Brotherhoods (VMRO-SMD) since 1996 IMRO-Bulgarian National Party (VMRO-BNP) – is Greater Bulgarianoriented and decidedly anti-Macedonianist, IMRO-Democratic Party for Macedonian National Unity (VMRO-DPMNE) in Skopje favours a ‘re’-unification of Vardar Macedonia with Aegean and Pirin Macedonia and is despite its Macedonian nationalism sympathetic to neighboring Bulgaria. Nikola Gruevski, the current Prime Minister of Macedonia, as well as Macedonia’s president Gorgi Ivanov are members of that party. And Bozhidar Dimitrov, director of the National Historical Museum of Bulgaria and until 2010 cabinet minister in the current Bulgarian government in charge of Bulgarians abroad, in a book called The Ten Lies of Macedonism holds that today’s Macedonians are in fact Bulgarians, that there is no such thing as a Macedonian nation, and that the Macedonian language is just a dialect of the Bulgarian literary language. 18 Although Dimitrov stops short of advocating an Anschluss of Macedonia to Bulgaria, he makes it clear that in his view Macedonian statehood is not more than a regrettable accident in the contemporary history of the Balkans. The immense popularity of Dimitrov’s TV programs on Bulgarian history points to the fact that a considerable part of Bulgarians share his views. So it seems that in Bulgaria the vision of San Stefano is still lingering on while in Macedonia political actors still dream of Mikhailov’s Greater Macedonia.

18 Bozhidar Dimitrov, The Ten Lies of Macedonism (Sofia, 2003).

Gustav Weigand, Deutschland und Makedonien [2005]

Der von 1893 bis 1930 an der Universität Leipzig lehrende Ostromanist und Balkanlinguist Gustav Weigand (1860–1930) war nicht nur ein umtriebiger Hochschullehrer, der neben seinem Lehrstuhl eine ganze Reihe inner- wie außeruniversitärer Institute gründete, sondern zugleich ein kaisertreues und deutschnationales zoon politikon. Besonders deutlich wird dies bezüglich seines intensiven Interesses an der zentralbalkanischen Region Makedonien im Ersten Weltkrieg und in den zwanziger Jahren. 1917 war es dem Berliner Geographen Albrecht Penck gelungen, von Wilhelm II. 50.000 Goldmark zur Bildung einer „Makedonischen Landeskommission“ (Malako) zu erhalten. „Die Okkupation von Mazedonien durch deutsche Truppen“, so Penck am 7. Mai 1917 in einem Brief an Weigand, „soll benutzt werden, um möglichst viel Material zur Kenntnis des Landes zu gewinnen.“ Der spätere Begründer einer „nationalen Erdkunde“ hielt dabei Weigand für „die einzige Persönlichkeit [. . . ], welche objektives Licht breiten könnte über das bunte Völkerbild“. Weigand machte sich umgehend auf den Weg ins bulgarisch besetzte Niš, wo er mit deutschen und bulgarischen Stellen die Arbeit der Malako koordinierte. Ein Teilergebnis seiner eigenen Feldforschung ist sein 1919 abgeschlossenes und 1924 im Leipziger Verlag Friedrich Brandstätter erschienenes Buch Ethnographie von Makedonien. Geschichtlich-nationaler, sprachlich-statistischer Teil. (Es gehört zu den Besonderheiten der das „Zeitalter der Extreme“ nicht unmaßgeblich prägenden Makedonischen Frage, dass diese Broschüre 1981 im Sofijoter Partizdat, dem Verlag der Kommunistischen Partei Bulgariens, als Faksimile nachgedruckt wurde.) Am Ende dieses Buches findet sich zum einen ein vehementer Protest gegen „das Verbrechen von Neuilly“, d. h. die Pariser Nachkriegsregelung bezüglich Bulgariens und Makedoniens, sowie gegen „die zentralistische, chauvinistische Belgrader Regierung unter Leitung von [Nikola] Paschitsch“. Zum anderen plädiert Weigand hier für ein politisch-territoriales Programm, das zeitgleich die von Bulgarien aus gegen das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen agierende Guerilla samt Terrorgruppen der Inneren Makedonischen Revolutionären Organisation (IMRO) vertrat: Vardar-, Ägäisch- und Pirin-Makedonien sollten zu einem „freien Makedonien“ zusammengefasst und in Gestalt eines zweiten bulgarischen (und daher bulgarischsprachigen) Staates konstituiert werden: „Das“, so Weigand, „wäre die einzige gerechte und vernünftige, weil mögliche Lösung des makedonischen Problems, nach dem die Makedonier mit allen Kräften streben.“ Unter dem Ethnonym „Makedonier“ verstand Weigand – wiederum analog zur IMRO – sämtliche Bewohner der Großregion Makedonien, nicht hingegen eine eigenständige ethnische Gruppe. Unter den so verstandenen Makedoniern bildeten in seiner Sicht die Bulgaren die Mehrheit, Türken, Albaner („Albanesen“), Griechen, Aromunen („Wlacho-Megleniten“), sephardische

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Juden („Spanjolen“), Roma („Zigeuner“), Serben, Pomaken (Muslime bulgarischer Zunge), Armenier und Tscherkessen jeweils Minderheiten. Höchstwahrscheinlich hat Weigand in seiner Zeit in Makedonien die Führer der IMRO, Hauptmann Todor Aleksandrov und Generalleutnant Aleksand˘ur Protogerov, denen Wilhelm II. 1916 in Niš eigenhändig eiserne Kreuze an die Brust heftete, persönlich kennengelernt. Jedenfalls ist seitdem der Name Weigand bis heute ein Markenname in Bulgarien. Seine Sympathien für eine Revision des Systems von Versailles im Allgemeinen und für die Gründung eines makedonischen Staates gemäß dem Programm der militant-terroristischen IMRO im Besonderen vertrat Weigand auch in der Weimarer Öffentlichkeit. So war er der Hauptredner auf der Gründungskonferenz der IMROFrontorganisation „Bund der makedonischen Studentenvereine im Ausland“, die vom 5. bis 8. Januar 1925 im Leipziger Hotel „Deutsches Haus“ stattfand und vom „Makedonischen Akademischen Verein Leipzig“ organisiert wurde. Wie bereits in seinem im Vorjahr erschienenen genannten Makedonien-Buch verwendete Weigand auch bei dieser Gelegenheit die IMRO-Parole „Freiheit oder Tod!“, was den Leipziger Polizeipräsidenten zu einem kritischen Bericht an das Auswärtige Amt veranlasste. Als Reaktion auf eine Protestkundgebung griechischer Studenten der Universität Leipzig gegen den Gründungskongress und Weigands Auftritt hielt dieser in Anwesenheit des Rektors und der Kongressteilnehmer spontan einen zweiten Vortrag, in welchem er die Pariser Nachkriegsregelung geißelte und deren Revision forderte. Dieser Vortrag löste erneut heftige Proteste aus, diesmal vor allem der griechischen und jugoslawischen Presse, die unisono die Vermutung äußerten, der IMRO sei es gelungen, die deutsche Politik auf ihre Seite zu ziehen. Eine nicht ganz unbegründete Vermutung, denn im Frühjahr 1923 hatte es in der Tat Geheimgespräche zwischen dem Auswärtigen Amt und dem ZK der IMRO gegeben, wobei die letztgenannte eine „Parallelaktion“ von IMRO und Reichswehr im serbischen Teil Makedoniens und im polnischen Teil Oberschlesiens anregte. Mit dem Amtsantritt Gustav Stresemanns als Reichskanzler und Außenminister im Sommer 1923 wurden diese Kontakte umgehend eingestellt. Der Leipziger Gründungskongress vom Januar 1925 richtete abschließend einen Aufruf „An die akademische Jugend der ganzen Welt!“, in dem er unter Verweis auf Weigand um Unterstützung der makedonischen Sache warb. Wie die Polizeidirektion Wien dem österreichischen Bundeskanzleramt berichtete, befanden sich unter den 313 „studentischen“ Delegierten des Leipziger Gründungskongresses etliche wegen Mordes und anderer Kapitalverbrechen gesuchte makedonische Guerillakämpfer, die von der IMRO aus dem jugoslawisch-bulgarischen Kampfgebiet vorübergehend in die universitären Schonräume Mittel- und Westeuropas geschickt worden waren. Der besagte „Bund der makedonischen Studentenvereine im Ausland“ stand übrigens unter der Kontrolle des ZK-Mitglieds der IMRO Ivan Michajlov. Michajlov hatte 1924 die Ermordung von ZK-Chef Aleksandrov organisiert und sollte 1928 auch für das erfolgreiche Attentat auf ZK-Mitglied Protogerov verantwortlich zeichnen. In seinen Memoiren nennt der 1990 in Italien friedlich verstorbene Michajlov Weigand mehrfach als Freund der IMRO.

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Nun könnte man natürlich vermuten, dass der Leipziger Romanistikprofessor in seinem Elfenbeinturm keine Kenntnis von den kriminellen Verstrickungen seiner makedonischen Studierenden besaß. Das indes ist in hohem Maße unwahrscheinlich. Denn die Tagespresse der Weimarer Republik war voll von glorifizierenden Artikeln über den damals so genannten „makedonischen Freiheitskampf“. So las man etwa am 9. Oktober 1924 in den liberalen Münchner Neuesten Nachrichten: Wir Deutsche, die wir selbst gutes, kerndeutsches Land unter feindlicher Macht haben, können die mazedonische Freiheitsbewegung, die gegen viel brutalere Vergewaltigung seit Jahren vergeblich ankämpft und verblutet, mit innerstem Mitgefühl verstehen. Hier wird ein Kampf auf Leben und Tod geführt, nicht von zuchtlosen Banden, sondern von Männern, die ihr Leben für des Vaterlands Befreiung einsetzen. Eindringlinge nisten sich im Lande ein, verjagen das seßhafte Volk hinaus in die Welt und zwingen den gemarterten Rest, das abzuschwören, was jedem Volk das Heiligste ist. Tiefer wie in jedem anderen Volk wurzelt in diesem die Idee der Freiheit; für sie bringen sie alle Opfer bis zum Tod. Es ist ein Volk von Brüdern trotz der verschiedensten Stammeszugehörigkeit. Wir dürfen einem solchen Volk, das durch sein Verhalten der größten Hochachtung wert ist, die moralische Unterstützung nicht versagen.

Das traf ziemlich genau den Weiheton, den die deutsche Presse von ganz rechts bis hin zur KPD bezüglich der makedonischen Bewegung anschlug. Noch expliziter äußerte sich der Bremer Kaffeeröster und Flugzeugbauer Ludwig Roselius, der im Weltkrieg das Bindeglied zwischen Berlin und der IMRO war und der gleichfalls zu Weigands Bekannten aus makedonischen Tagen zählen könnte. Roselius schrieb ebenfalls 1924 in einem Nachruf auf den im Auftrag seines eigenen Mitarbeiters Michajlov ermordeten IMRO-Chef Aleksandrov: Dort oben in den mazedonischen Bergen haben sich Reste in der Völkerwanderung streifender Germanen niedergelassen. In den freien, weiten Bergen, in denen nachts der Himmel sich zu den Menschen herabsenkt, konnte das Gefühl für wahre Freiheit, die Mitgift der nordischen Heimat, niemals sterben. Die 2000 Jahre konnten wohl die Völker der Flußtäler und Niederungen, in denen es ostwärts und westwärts wogte, verändern, wechseln, auslöschen. Die Asen-Söhne in den Bergen hielten der alten Sitte treue Wacht. Was macht die Änderung der Sprache, die Vermischung mit Töchtern fremder Völker? Das Heldenblut der Väter feiert immer wieder den Triumph seiner Kraft und schafft einen Menschentypus, wie er in Leonardo da Vinci und Giovanni Segantini verkörpert worden ist.

Damit ist der intellektuelle Kosmos, in dem sich Weigand außerhalb seiner philologischen Interessen bewegte, relativ exakt umrissen. Dass es sich bei der deutschen Heroisierung der makedonischen Bewegung, zumal nach 1918, um eine politische Projektion handelte, lag dabei auf der Hand. Unter der Überschrift „Mazedoniens Freiheitskampf“ schrieb etwa am 21. März 1930, in Weigands Todesjahr, die Rheinisch-Westfälische Zeitung, die IMRO-Kämpfer seien „Männer [, die] wissen, wie man Europa zu behandeln hat“, Männer also, die sich nicht wie „Pazifisten und Paneuropäer“ (ergänze: in Berlin) dem Diktat „Europas“ fügten, wobei „Europa“ dabei für den „Westen“ in Form von Weltkriegsentente, Pariser Friedenskonferenz und Völkerbund stand. „Wenn die Großmächte haben wollen“, so Weigand 1924, „daß auf

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dem Balkan, dem Wetterwinkel Europas, dauernd Ruhe herrschen soll“, dann müßten „die Verträge von Neuilly, St. Germain und besonders der von Versailles [. . . ] abgeändert werden, das erfordert die Gerechtigkeit.“ Die Richtung dieser Änderung skizzierte er dabei wie folgt: Ein autonomes Makedonien zwischen Bistritza und Drin im Westen und Mesta in Osten, bis zum Schargebirge und Karadag (also Skopska Crna Gora) im Norden würde die glücklichste Lösung sein für die Zufriedenheit und das Wohlergehen der Makedonier und für die Vermeidung von blutigen Aufständen in der Zukunft.

Was der Professor aus Leipzig nicht erwähnte, war, dass in seiner Sicht wie in derjenigen der IMRO Michajlovs dieses Gemeinwesen von einer diktatorisch herrschenden gewalttätigen vormaligen Untergrundorganisation regiert werden sollte. Ein Demokrat war Weigand also nicht, nicht einmal ein Vernunftrepublikaner.

Der (bulgaro-)makedonische Terrorbürokrat Ivan Michajlov (1896 – 1990) Eine biographische Skizze

[2010] Ivan „Vanˇco“ Michajlov (1896–1990) war von 1928 bis 1944 de facto alleiniger Chef der in Bulgarien ansässigen terroristischen Inneren Makedonischen Revolutionären Organisation (IMRO), Verbündeter Mussolinis, Hitlers und des kroatischen Ustaša-Staates, politischer Asylant in der Türkei, Polen, Österreich und Italien sowie Auftraggeber zahlreicher politischer Morde. Dennoch blieb er nach 1945 nicht nur unbehelligt, sondern ist heute außerhalb Bulgariens, Makedoniens und den anderen Nachfolgstaaten Jugoslawiens weitgehend unbekannt. Unter den nationalrevolutionären, eine Revision der Versailler Nachkriegsordnung anstrebenden Guerrillaformationen des Europas der Zwischenkriegszeit war die IMRO mit Abstand die schlagkräftigste. Ihr Nahziel war der Anschluss der 1918 jugoslawisch gewordenen Region Vardar-Makedonien an Bulgarien, ihr Fernziel die Vereinigung sämtlicher Teile der historischen Landschaft Makedonien zu einem Großmakedonien mit Solun (Thessaloniki) als Hauptstadt. Von bulgarischem und albanischem Territorium aus bekämpfte die IMRO den neuen jugoslawischen Staat, indem sie in jedem Frühjahr mehr als eintausend ihrer uniformierten Kämpfer über die Grenze schickte. Im Südwesten Bulgariens, im Pirin-Gebirge, errichtete sie mit zähneknirschender Billigung der Regierungen in Sofia von 1922 an einen Staat im Staate mit separatem Steuer- und Justizwesen, eigenen Medien und Banken sowie einer eigenen Fraktion im bulgarischen Parlament. Ihr umfangreicher diplomatischer Apparat kooperierte mit der Türkei und Ungarn, warb für die „makedonische Sache“ in den USA, Großbritannien und der Schweiz, schloss gar Bündnisse mit der neuen Sowjetunion und dem faschistischen Italien. Lediglich die Weimarer Republik verweigerte eine Zusammenarbeit, auch wenn etliche deutsche Politiker, Professoren, Diplomaten, Unternehmer und Journalisten glühende Sympathisanten der Organisation waren. 1927 kam es über der Frage der Taktik zu einem Schisma in der Führung der IMRO: Der personalintensive Guerrillakampf wurde jetzt durch die terroristische Taktik des Ansetzens von Dreier- und Fünfergruppen auf führende Repräsentanten Jugoslawiens, von Selbstmordattentätern auf Vertreter der neuen europäischen Nachkriegsordnung und von Auftragsmördern auf Dissidenten in den eigenen Reihen ersetzt. 1928 zerbrach die Organisation über diesem internen Konflikt in zwei sich erbittert bekämpfende Flügel. Treibende Kraft dieser neuen Entwicklungen war Ivan Michajlov alias „Radko Dejanov“, der 1925 für den im Jahr zuvor ermordeten charismatischen IMRO-Führer Todor Aleksandrov in das dreiköpfige Zentralkomitee der Organisation aufgerückt war. Der Volksschullehrer und Offizier Aleksandrov, von

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Wilhelm II. 1916 mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet, hatte die 1893 gegründete, damals für die Autonomie Makedoniens unter dem Sultan kämpfende Organisation nach dem Ersten Weltkrieg gemeinsam mit dem bulgarischen General Aleksand˘ar Protogerov reorganisiert und auf den Kurs eines Anschlusses Makedoniens an Bulgarien gebracht. Michajlov nutzte seine Vertrauensstellung als Sekretär Aleksandrovs, um nach einem Mordkomplott gegen diesen dessen ZK-Sitz zu übernehmen. 1928 ordnete Michajlov dann den Mord an seinem ZK-Kollegen Protogerov an, installierte in der Folge zwei seiner engsten Vertrauten im Leitungsgremium und erlangte so die Kontrolle über die Organisation. Allerdings leisteten die Anhänger Protogerovs erbitterten Widerstand. Dies führte zu einem jahrelangen innerorganisatorischen Brudermord, dem mehrere tausend IMRO-Aktivisten beider rivalisierenden Flügel zum Opfer fielen. Bis heute bezeichnet im Bulgarischen der Begriff makedonska rabota – „etwas auf makedonische Art und Weise erledigen“ – ein besonders grausames und blutiges Vorgehen. 1929 initiierte Michajlov eine strategische Wende der IMRO weg vom Ziel eines Anschlusses Makedoniens an Bulgarien und hin zu demjenigen der Gründung eines „freien und unabhängigen Makedonien“ als „zweitem bulgarischen Staat auf dem Balkan“. 1933 wurde der neue Kurs dann zur Organisationsdoktrin. Die Michajlov zufolge aus „makedonischen Bulgaren“ bestehende Titularnation des zu gründenden Staates definierte er dabei als eine „bulgaro-makedonische“, die in ethnokultureller wie sprachlicher Hinsicht bulgarisch, in regionaler hingegen makedonisch sei. Damit machte er sich die der IMRO gegenüber zuvor mehrheitlich positiv eingestellte politische Elite Bulgariens zum Feind. Die Folge war, dass eine sich 1934 in Sofia an die Macht putschende Militär- und Intellektuellengruppierung die bulgarische Armee gegen die IMRO-Hochburg im Südwesten des Landes in Marsch setzte. Binnen weniger Tage wurden die Strukturen der Organisation zerschlagen, ihre Führungsspitze interniert und die Mitglieder ihres Zentralkomitees zum Tode verurteilt. Dem überrumpelten Michajlov gelang es im Unterschied zum übrigen IMRO-Leitungskader, sich mehrere Monate lang im Lande zu verstecken und im September 1934 über die Grenze in die benachbarte Türkei zu fliehen. Mustafa Kemal Atatürk, der aus Makedonien gebürtige Staatschef der neuen Türkei, gewährte Michajlov politisches Asyl – wohl um ihn gegebenenfalls gegen eine südslawische Hegemonie auf dem Balkan in Form einer Allianz Jugoslawiens mit Bulgarien instrumentalisieren zu können. Unmittelbar nach Michajlovs Flucht in die Türkei gelang der IMRO ihr größter terroristischer Coup: das Attentat von Marseille vom 9. Oktober 1934, dem der jugoslawische König Aleksandar I. Kardjordjevi´c und der französische Außenminister Louis Barthou zum Opfer fielen. Der Einsatz des erprobten IMRO-Attentäters Vlado ˇ Cernozemski, genannt „der Chauffeur“, ging auf die enge antijugoslawische Kooperation Michajlovs mit der kroatischen Ustaša-Bewegung Ante Paveli´cs zurück. Paveli´c, der eigentliche Initiator des Attentatsplans, schätzte den Professionalitätsgrad seiner eigenen Leute realistisch, d. h. niedrig, ein und bat entsprechend Michajlov um kollegiale Hilfe. Nachdem gleich drei kroatischen Scharfschützen auf der Marˇ seiller Hafenpromenade die Nerven versagt hatten, erledigte Cernozemski den ihm von Michajlov erteilten Auftrag in bewährter Weise. Es war dann eben das Atten-

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tat von Marseille, welches den Völkerbund zu dem Versuch veranlasste, mittels der Genfer Konvention zur Verhütung und Bestrafung von Terrorismus die Staatengemeinschaft zu einem konzertierten Vorgehen gegen terroristische Vereinigungen zu bewegen und die Bekämpfung von Terrorismus völkerrechtlich zu verankern. Bemerkenswert ist, dass der abgebrochene Jurastudent Michajlov persönlich über keine Erfahrung im Guerillakampf verfügte, ja das „Innere“ Makedoniens (daher das „I“ im Organisationsnamen), also die Kampfzone in Jugoslawien, nicht einmal betreten hatte. Dieses Manko, das sich auf seine Stellung in einer ganz auf Heldenund Märtyrerkult ausgerichteten Organisation negativ auswirkte, suchte er durch die Eheschließung mit einer erfolgreichen IMRO-Terroristin auszugleichen: 1926 heiratete er Menˇca K˘arniˇceva, die 1925 im Wiener Burgtheater während einer Aufführung von Ibsens „Peer Gynt“ ein von Michajlov persönlich angeordnetes spektakuläres Attentat auf den makedonischen Exilpolitiker Todor Panica durchgeführt hatte. Aus gesundheitlichen Gründen entließ die österreichische Justiz die verurteilte Mörderin K˘arniˇceva bereits nach anderthalb Jahren Haft. Während der vier Jahre im türkischen Exil, in denen Michajlov und K˘arniˇceva zunächst im Norden Anatoliens, dann auf der Insel Büyük Ada nahe Istanbul interniert waren, versuchten beide, ein Visum für die USA zu erhalten, wo die IMRO in Gestalt der Macedonian Political Organizations in the United States and Canada mit Hauptsitz in Fort Wayne im US-Bundesstaat Indiana über ein dichtes Unterstützernetz verfügte. Auch die Schweiz, Rumänien und Großbritannien, ja selbst das vormals mit der IMRO verbündete Italien Mussolinis, wollten das Terroristenpaar nicht aufnehmen. Erst 1938 gestattete Polen beiden die Einreise – unter der Auflage, sich jeglicher politischer Tätigkeit zu enthalten. Die Erteilung eines Visums für Michajlov und Frau ging auf die persönliche Initiative des polnischen Gesandten in Sofia, Adam Tarnowski, zurück, der im Ersten Weltkrieg bereits ÖsterreichUngarn dort diplomatisch vertreten und mit der IMRO eng kooperiert hatte. Obwohl Warschau aufgrund heftigen Protests Belgrads das Visum annullierte, verbrachten die türkischen Behörden das Ehepaar Michajlov auf das im Hafen von Izmir ankernde polnische Handelsschiff „Lewant“. Nach einer längeren Odyssee durch das Mittelmeer lief das Schiff am 23. September 1938 schließlich mit seinen beiden unwillkommenen Passagieren in Gdynia (Gdingen) ein. Obwohl Michajlov zunächst in einer entlegenen Region Polens, dann in der Nähe Warschaus untergebracht wurde, konnte er, wie zuvor von der Türkei aus, engen Kontakt zu seinen Anhängern in Bulgarien und Nordamerika halten. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Warschau offenbarten sich Michajlov und seine gut Deutsch sprechende Frau im Herbst 1939 der Gestapo, welche das Ehepaar zu einem unbekannten Zeitpunkt ins Reich verbrachte. Dort nahmen sie vorübergehenden Wohnsitz in Berlin-Neukölln – in unmittelbarer Nachbarschaft zu Paveli´c und seiner Entourage. Zu welchen NS-deutschen Stellen Michajlov vom Neuköllner Rollbergviertel aus Kontakt hielt, ist nicht bekannt; die archivalische Hinterlassenschaft des Dritten Reiches enthält dazu kaum Informationen. Im Frühjahr 1940 soll Michajlov nach Budapest übersiedelt sein und dort sowohl mit Berlin als auch mit Rom über die Möglichkeit der Gründung eines makedonischen Staates im Zuge der vom Dritten

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Reich wie dem faschistischen Italien betriebenen territorialen Neuordnung Südosteuropas verhandelt haben. Sein Einfluss auf die Reststrukturen der IMRO in Bulgarien verringerte sich allerdings deutlich nach der neuerlichen Besetzung Vardar-Makedoniens durch bulgarische Truppen im April 1941 samt Aufbau einer bulgarischen Zivilverwaltung dort. Die Mehrheit der Michajlov-Anhänger begrüßte diesen de factoAnschluss der Region am oberen Vardar als „Wiedervereinigung“ Makedoniens mit der „Mutter Bulgarien“ und übernahm Funktionen im besetzten Gebiet. Michajlov, der unbeirrt am Ziel eines „freien und unabhängigen Makedonien“ festhielt, nahm im Mai 1941 bereitwillig eine Einladung seines langjährigen Bündnispartners Paveli´c an, der mittlerweile zum Oberhaupt („Poglavnik“) des deutsch-italienischen Marionettenstaates Kroatien avanciert war, zur Übersiedelung nach Zagreb an. Bis 1944 fungierte Michajlov als wichtigster außen- und militärpolitischer Berater von kroatischer Regierung und Ustaša, gar als rechte Hand Paveli´cs, wie etwa die Berichte japanischer, ungarischer und bulgarischer Diplomaten belegen. Vom Zagreber Tuškanac-Hügel aus hielt Michajlov weiterhin engen Kontakt mit Rom und Berlin. Mit der italienischen Heeresleitung vereinbarte er im Frühjahr 1943 die Aufstellung von IMRO-Verbänden zur Unterstützung der italienischen Besatzungstruppen in Nordgriechenland. Im Oktober 1943, unmittelbar nach dem Rückzug Italiens vom Balkan, sagte Michajlov in Verhandlungen mit dem Reichsführer SS Heinrich Himmler die Aufstellung einer 12.000 Mann starken IMRO-Schutztruppe („Ochrana“) im deutsch besetzten griechischen Teil Makedoniens zu. Deren Aufbau ging indes schleppend vonstatten und erreichte die angestrebte Stärke nicht. Auch Michajlovs Angebot an Paveli´c, eine schlagkräftige IMRO-Söldnerarmee zur Bekämpfung der serbischen, muslimischen und kommunistischen Partisanenformationen im kroatischen Landesteil Bosnien aufzustellen, konnte nicht realisiert werden. König Boris III. von Bulgarien sowie Regierung und Armeeführung des Landes sahen Michajlovs Zagreber Aktivitäten mit Sorge, da man befürchtete, dass er mit seinem Plan der Gründung eines „freien und unabhängigen Makedonien“ in Berlin doch noch Erfolg haben könnte. Um ihn unter Kontrolle zu bringen, wurde das Todesurteil gegen ihn aufgehoben und ihm die Rückkehr nach Bulgarien samt der Übernahme eines Amtes im 1942 annektierten Vardar-Makedonien angeboten. Zur Überraschung Sofias wie seiner eigenen Anhänger lehnte Michajlov dies kategorisch ab. Partiell positiver fiel seine Reaktion auf ein Angebot des deutschen Außenminister Joachim von Ribbentrop aus, Staatschef eines unabhängigen Makedonien unter der Ägide des Dritten Reiches zu werden. Am 1. September 1944 hatte Hitler einen „Führerbefehl“ zur sofortigen Ausrufung eines solchen staatlichen Gebildes erlassen. Im Zuge des raschen Vorstoßes der Roten Armee auf den Balkan sollte damit der Rückzug der deutschen Heeresgruppe E aus Griechenland abgesichert werden. Michajlov behielt sich vor, seine endgültige Entscheidung zum deutschen Angebot erst nach einer Inspektionsreise nach Bulgarien und Makedonien zu treffen. Am 3. September 1944 brachte ihn ein deutsches Militärflugzeug von Zagreb nach Sofia, wo er mit seinen dort verbliebenen Anhängern die Lage beriet. Am 5. September telegrafierte Michajlovs Verbindungsmann zur SS, der Chef des Amtes VI im Reichssicherheitshauptamt, SS-Brigadeführer Walter Schellenberg, an Ribbentrop:

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„In einigen Besprechungen soll Michailoff heute und morgen noch versuchen, zu retten was zu retten ist. Situation scheint aber aussichtslos. Auch Michailoff steht auf diesem Standpunkt, nachdem er sich selbst von dem Stand der Dinge hat überzeugen können.“ Die selbigentags erfolgte Kriegserklärung der UdSSR an Bulgarien, der dadurch unmittelbar bevorstehende Einmarsch sowjetischer Truppen in das Balkanland und damit deren Vorrücken bis an die deutsche Hauptverbindungslinie im Vardar-Tal führte zu einer dramatischen Zuspitzung der militärischen Lage. Ribbentrop drängte folglich gegenüber dem deutschen Gesandten in Sofia, SA-Obergruppenführer Adolf Heinz Beckerle: „Der Führer hat heute erneut angeordnet, dass die Ausrufung der Selbständigkeit Mazedoniens jetzt ohne weitere Verzögerung erfolgen soll.“

Ebenfalls am 5. September reiste Michajlov von der bulgarischen Hauptstadt ins makedonische Skopje, wo er am 6. September eine Reihe von Besprechungen mit IMRO-Aktivisten und örtlichen Honoratioren, aber auch mit Vertretern der kommunistischen Partisanen und der bürgerlichen anti-bulgarischen Widerstandsbewegung abhielt. Am Abend teilte er seine Entscheidung mit, welche das deutsche Generalkonsulat Skopje umgehend an die Botschaft Sofia kommunizierte: „Komitee hat sich durch Vantscho Michailov kategorisch geweigert, nach eingehender Prüfung unter den gegebenen Umständen Unabhängigkeitserklärung Mazedoniens auszurufen. Als Begründung führte Michailov insbesondere an: 1. Fehlt Anhängerschaft, die bereit sei, die Unabhängigkeit zu vertreten und sie durchzusetzen. 2. Unaufhaltsame fortschreitende Demoralisierung gesamter Bevölkerung.“

Während Hitler, Himmler und Ribbentrop über Michajlovs Weigerung wütend waren, nahm die Wehrmachtsführung die Verwaltung des jetzt von bulgarischen Besatzungstruppen entblößten Makedonien selbst in die Hand. Am 12. November 1944 verließen dann die letzten deutschen Einheiten Skopje in Richtung Prishtina, am Folgetag marschierten die Partisanen ein. Michajlov wurde mit seiner Frau und etlichen Getreuen von der SS aus Skopje nach Wien evakuiert und im Frühjahr 1945 nach Alt-Aussee im steirischen Salzkammergut gebracht. Im Unterschied zu den hier zahlreich anwesenden NS-Größen wurde er weder von den US-amerikanischen Truppen, die am 9. Mai 1945 das Städtchen erreichten, noch von der anschließend errichteten britischen Militärverwaltung behelligt – auch nicht als das neue Jugoslawien Josip Broz-Titos ein Auslieferungsgesuch stellte. Wo Michajlov und seine Frau die ersten Nachkriegsjahre verbrachten, ist unbekannt. Vorübergehend soll er sich im Spanien Francos aufgehalten haben. 1948 konnte er dann seinen Wohnsitz in Italien nehmen, das er in den folgenden 42 Jahren nur noch zu Kuraufenthalten in Österreich und in der Bundesrepublik verließ. Seit 1958 lebte er als „Professor Giovanni aus Ungarn“ getarnt im römischen Stadtteil Montesacro, in der Via Ponza 6/7. Protegiert wurde er von seinem langjährigen Bekannten Angelo Roncalli, der von 1925 bis 1934 Apostolischer Visitator für Bulgarien, wo Michajlov damals lebte, dann bis 1939 Apostolischer Legat in Michajlovs Asylland Türkei war und 1958 als Johannes XXIII. zum Papst gewählt wurde. Anders als Paveli´c und zahlreiche weitere Ustaša-Führer nutzte Michajlov seine guten Verbindungen zum Vatikan jedoch nicht, um sich über die „Rattenlinie“ nach

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Südamerika in Sicherheit zu bringen – wohl weil er sich in Rom außerhalb jeglicher Gefahr wähnte. Während die Reste des Michajlov-Flügels der IMRO in Bulgarien 1946 von der kommunistischen Geheimpolizei liquidiert wurden, machten die mit der Bulgarischen Kommunistischen Partei verbündeten Protogerov-Anhänger Karrieren in Regierung und Staatssicherheit der Volksrepublik Bulgarien. Auch in der neuen jugoslawischen Teilrepublik Makedonien wurden die Reorganisationsversuche der Michajlov-Getreuen von der dortigen Geheimpolizei bald erstickt. „Michajlovist“ war von nun an sowohl in Bulgarien als auch in Jugoslawien ein im Wortsinne lebensgefährliches Etikett. Dennoch ordnete der langjährige bulgarische Staats- und Parteichef Todor Živkov 1978 eine klandestine Kontaktaufnahme zu Michajlov in seinem italienischen Exil an. Grund war die sich zuspitzende bulgarisch-jugoslawische Kontroverse um Makedonien, genauer: die Frage, ob es eine makedonische Nation gibt, wie von Belgrad und Skopje postuliert, oder ob die Bevölkerungsmehrheit Makedoniens Bulgaren sind, so der Standpunkt Sofias. Da Michajlov in dieser Angelegenheit die bulgarische Sicht teilte, galt er Živkov als wichtiger potentieller Verbündeter vor allem in der bulgarischen und makedonischen Diaspora Nordamerikas und Ozeaniens. Und Michajlov sah im kommunistischen Bulgarien einen möglichen Partner gegen Tito und dessen Projekt einer eigenständigen makedonischen Nation samt Nationalsprache, Nationalliteratur und Nationalkirche. Befragt, ob die zahlreichen von ihm in Auftrag gegebenen Morde sein Gewissen belasteten, antwortete der betagte Michajlov, dass er solche Aufträge nur in einigen wenigen gravierenden Fällen von Hochverrat oder Veruntreuung von Organisationsgeldern sowie jeweils auf der Grundlage von juristisch korrekten Todesurteilen durch die IMRO-Gerichtsbarkeit getan habe. „Ich musste sogar Todesurteile meiner eigenen Freunde unterschreiben“, äußerte er selbstmitleidig im Gespräch mit dem bulgarischen Vatikanoffiziellen Giorgio Eldarov. Im Übrigen sei die IMRO eine „souveräne staatliche Struktur gewesen“ und habe „wie andere Staaten auch gehandelt“. Dass die Zahl der Todesurteile vergleichsweise hoch war, war Michajlov zufolge vor allem auf den Umstand zurückzuführen, „dass die Organisation über keine eigenen Gefängnisse zur Unterbringung von Verurteilten verfügte“. Nach dem Epochenjahr 1989 entstanden sowohl in Bulgarien als auch im ab 1991 unabhängigen Makedonien politische Parteien, die sich als Nachfolgeorganisationen der IMRO betrachteten und auch als solche bezeichneten. Im jetzt demokratischen Bulgarien wurde Michajlov zu einem nationalen Heroen, was in Gestalt einer martialischen Büste im Stadtzentrum Sofia augenfällig wird. Doch auch in der neuen Republik Makedonien wurde der im makedonischen Štip 1896 Geborene ungeachtet seiner Ansichten in der nationalen Frage teilrehabilitiert. 2000 nahmen etliche Abgeordnete des makedonischen Parlaments an einem Gedenkgottesdienst für den IMROˇ Selbstmordattentäter Cernozemski teil, der 1934 im Auftrag Michajlovs in Marseille so erfolgreich gewesen war. Und 2002 wurde im Stadtzentrum von Skopje eine Gedenktafel für eine weitere IMRO-Selbstmordattentäterin, Mara Buneva, enthüllt, die 1928 ebenfalls auf Anweisung Michajlovs zunächst einen hochrangigen Belgrader Beamten und dann sich selbst erschossen hatte.

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Dass Michajlov, der am 5. September 1990 im biblischen Alter von 94 Jahren in seinem italienischen Exil friedlich verstarb, dutzende, gar hunderte politische Morde angeordnet hat, wird heute in Bulgarien und Makedonien gezielt verdrängt. Dass die Türkei, Polen, Ungarn, Kroatien und Österreich, mutmaßlich auch Spanien, den wegen Terrorismus steckbrieflich Gesuchten gedeckt und geschützt haben, ist dort heute unbekannt. Und in Italien wie Deutschland ist der Komplize Mussolinis und Hitlers gänzlich vergessen. Lediglich indirekt ist die Erinnerung an Michajlov und seine Mordtaten bewahrt – in der internationalen Anti-Terrorismus-Gesetzgebung.

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Silesia balcanica Die Ankunft von Griechen, Makedoniern und Bosnien-Polen in Niederschlesien 1946 bis 1950

[2010] In seinem seinerzeit heftige politische Diskussionen auslösenden Roman Eleni aus dem Jahr 1983 schreibt der US-griechische Schriftsteller Nicholas Gage über Zgorzelec, den seit 1945 polnischen Ostteil von Görlitz, dieser „war fast verlassen, bis griechische Exilierte dort angesiedelt wurden, um die Fabriken wieder in Schwung zu bringen.“ 1 Und der britische Polen-Historiker Norman Davies berichtet in seiner Geschichte Breslaus vom Fall des ebenfalls in Zgorzelec lebenden Makedoniers aus Griechenland Petro Damovsky, der 1950 von der polnischen Staatssicherheit unter falschen Anschuldigungen als „titoistischer Provokateur“ und „makedonischer Nationalist“ verhaftet und verurteilt wurde. 2 Wie es kam, dass es Griechen vom Peloponnes und Makedonier aus dem Epirus an die Neiße verschlagen hat und warum etliche von ihnen bis heute hier leben, soll im Folgenden mittels einiger Schlaglichter erhellt werden. 3 „Chairetizmous apo tin Tsechoslovakia“ – „Willkommen in der Tschechoslowakei“ – heißt es in griechischer Sprache auf einer tschechoslowakischen Postkarte aus den sechziger Jahren, auf der Ansichten der Städte Ostrava (Mährisch Ostrau), Krnov (Jägerndorf), Brno (Brünn) und Praha (Prag) abgebildet sind. 4 Gedruckt wurde sie, ˇ damit die in der CSSR lebenden Griechen ihre in Polen, der DDR und Ungarn, aber auch in Griechenland selbst lebenden Verwandten zum Urlaubmachen in Böhmen und Mähren animieren sollten. Griechen lebten damals vor allem in Mährisch-Schlesien, in Jeseník (Freiwaldau), Žamberk (Senftenberg) und dem genannten Krnov, also ˇ in den vormals mehrheitlich deutsch besiedelten Grenzgebieten der damaligen CSR, 5 auf Deutsch auch als Sudetenland bekannt.

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Gage, Nicholas: Eleni. New York 1983, zit. nach der deutschen Übersetzung von Gisela Stege: Gage: Eleni. München 1987, S. 486. Davies, Norman /Moorehouse, Roger: Microcosm. Portrait of a Central European City. London 2002, zit. nach der deutschen Übersetzung von Thomas Bertram: Davies /Moorehouse: Die Blume Europas. Breslau – Wrocław – Vratislavia. Die Geschichte einer mitteleuropäischen Stadt. München 2002, S. 567. Dieser Beitrag stützt sich auf den zusammen mit Anna Tutaj verfassten Aufsatz „Zerstrittene Gäste. Bürgerkriegsflüchtlinge aus Griechenland in Polen 1948–1988“. In: Bömelburg, Hans-Joachim / Troebst, Stefan (Hrsg.): Zwangsmigrationen in Nordosteuropa im 20. Jahrhundert. Lüneburg 2006 (Themenheft von Nordost-Archiv. Zeitschrift für Regionalgeschichte 14 (2005)), S. 193–225. ˇ Koneˇcný, Karel: Recké a makedonské dˇeti v Sobotínˇe [Griechische und makedonische Kiner in Sobotina]. In: Severní Morava 74 (1997), S. 45–57, hier S. 46. Hradeˇcný, Pavel: Die griechische Diaspora in der Tschechischen Republik. Die Entstehung und Anfangsentwicklung 1948–1956. In: Konstantinou, Evangelos (Hrsg.): Griechische Migration in Eu-

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Die Bezeichnung „Griechen“ steht dabei als Sammelbegriff für „griechische Staatsbürger“ bzw. genauer für „ehemalige griechische Staatsbürger“, denn es handelte sich um Flüchtlinge aus Griechenland, die das Land im Zuge des Griechischen Bürgerkriegs der Jahre 1946 bis 1949 fluchtartig verlassen hatten. In der Regel geschah dies zu Fuß über die Grenzen nach Albanien, Jugoslawien und Bulgarien. In den Jahren 1948 und 1950 wurden die in albanischen und bulgarischen Flüchtlingslagern Lebenden mittels Bahntransporten auf die Volksdemokratien aufgeteilt, also ˇ auf Rumänien, Ungarn, die CSSR und Polen, des Weiteren auf die Sowjetische Besatzungszone Deutschland (SBZ) bzw. DDR und auf die Sowjetunion, hier auf die Usbekische SSR. Fast allen Flüchtlingen war nach dem Verlassen Griechenlands von den dortigen Behörden die Staatsangehörigkeit aberkannt worden, das heißt, sie kamen als Staatenlose in Mitteleuropa an. Auch waren viele von ihnen, möglicherweise die Hälfte, in ethnisch-sprachlicher Hinsicht keine Griechen, sondern Makedonier, also Südslawen. Des Weiteren gab es romanischsprachige Vlachen bzw. Aromunen, albanischsprachige Çam und muslimische Pomaken unter ihnen 6. Circa 28.000 Flüchtlinge waren minderjährig, darunter viele unbegleitete Kinder, die teils mit, teils ohne Zustimmung ihrer Eltern außer Landes gebracht worden waren. 7 Siedlungsschwerpunkte von Griechen und Makedoniern waren neben MährischSchlesien und dem nördlichen Böhmen das jetzt polnische Niederschlesien sowie das Land Sachsen in der SBZ bzw. dann in der DDR, hier vor allem das Elbtal bei

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ropa. Geschichte und Gegenwart. Frankfurt (Main), Bern, Oxford u. a. 2000, S. 95–117. Vgl. auch ˇ ˇ ders.: Recká komunita v Ceskoslovensku. Její vznik a poˇcáteˇcní vývoj [Die griechische Gemeinschaft in der Tschechoslowakei. Ihre Entstehung und anfängliche Entwicklung] (1948–1954). Praha 2000. Kirjazovski, Risto: Makedonskata politiˇcka emigracija od Egejskiot del na Makedonija vo Istoˇcnoevropskite zemji po Vtorata svetska vojna [Die makedonische politische Emigration aus dem ägäischen Teil Makedoniens in den Staaten Osteuropas nach dem Zweiten Weltkrieg]. Skopje 1989; Boeschoten, Riki van: „Unity and Brotherhood“? Macedonian Political Refugees in Eastern Europe. In: Jahrbücher für Geschichte und Kultur Südosteuropas 5 (2003), S. 189–202; Troebst, Stefan: Vogel des Südens, Vogel des Nordens. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. September 2003; Lagaris, Theodoros: Griechische Flüchtlinge in Ost- und Südosteuropa seit dem Bürgerkrieg 1946–1949. In: Bade, Klaus J./Emmer, Pieter C./Lucassen, Leo u. a. (Hrsg.): Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Paderborn 22008, S. 608–661. Zu den Flüchtlingskindern aus dem Griechischen Bürgerkrieg siehe vor allem Bærentzen, Lars: The „Paidomazoma“ and the Queen’s Camps. In: ders./Iatrides, John O./Smith, Ole (Hrsg.): Studies in the History of the Greek Civil War 1945–1949. Copenhagen 1987, S. 127–157; Lagani, Eirini: To „paidomazoma“ kai oi ellino-gioukoslavikes scheseis [Die „Knabenlese“ und der griechisch-jugoslawische Konflikt] 1949–1953. Athens 1996; Boeschoten, Riki van: The Impossible Return. Coping with Separation and the Reconstruction of Memory in the Wake of the Civil War. In: Mazower, Mark (Hrsg.): After the War Was Over: Reconstructing the Family, Nation, and State in Greece 1943–1960. Princeton 2000, S. 122–144; Brown, Keith S.: Macedonia’s Child-Grandfathers. The Transnational Politics of Memory, Exile and Return 1948–1998. Washington D. C. 2003; Troebst, Stefan: Evacuation to a Cold Country. Child Refugees from the Greek Civil War in the German Democratic Republic 1949–1989. In: Nationalities Papers 32 (2004), S. 675–691; ders.: „Grieche ohne Heimat“ – Hellenische Bürgerkriegsflüchtlinge in der DDR 1949–1989. In: Totalitarismus und Demokratie 2 (2005), S. 245–271.

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Dresden und Radebeul sowie Leipzig. In Polen gab es insgesamt 15.000 Bürgerˇ kriegsflüchtlinge, darunter je zur Hälfte Griechen und Makedonier. 8 In der CSSR dürfte in etwa dieselbe Zahl mit derselben Verteilung angekommen sein, wohingegen in der SBZ und der DDR lediglich 1128 Flüchtlinge, sämtlich minderjährig und fast ausschließlich Griechen, untergebracht wurden. Wer die Verteilung der Flüchtlinge beschloss und durchführte oder wie sie vor sich ging, ist nicht eindeutig zu bestimmen. Offenkundig geschah dies im Hauptquartier der griechischen Exil-KP in Budapest in Abstimmung mit sowjetischen Stellen. Der Transport der Flüchtlinge aus Albanien und Bulgarien nach Mitteleuropa erfolgte teils per Schiff durch Mittelmeer, Atlantik und Ostsee in polnische Häfen und von dort aus weiter ins Landesinnere, teils per Zug in Sammeltransporten über Ungarn. Die in die SBZ/DDR gebrachten griechischen Kinder kamen in zwei Zügen aus Budapest via Prag im August 1949 und im August 1950 in Bad Schandau an. 9 Ganz

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Grundlegend zu Polen neuerdings Fleming, Michael: Greek ‘heroes’ in the Polish People’s Republic and the geopolitics of the Cold War 1948–1956. In: Nationalities Papers 36 (2008), S. 375– 397. Außerdem: Nakovski, Petre: Makedonski deca vo Polska (1948–1968). Politološka studija. [Makedonische Kinder in Polen (1948–1968). Eine politologische Studie.] Skopje 1987; Wojecki, Mieczsław: Uchod´zcy polityczni z Grecji w Polsce [Politische Flüchtlinge aus Griechenland in Po´ asku len] 1948–1975. Jelenia Góra 1989; ders.: Ludno´sc´ grecko-macedo´nska na Dolnym Sl ˛ [Die ´ aski griechische und makedonische Bevölkerung in Niederschlesien]. In: Sl ˛ Kwartalnik Historyczny „Sobótka“ (1980), S. 83–96; ders.: Ludno´sc´ grecko-macedo´nska w Polsce [Die griechisch-makedonische Bevölkerung in Polen]. In: Czasopismo geograficzne 46 (1975), S. 313–314; ders.: Osadnictwo ludno´sci greckiej na ziemi lubuskiej [Die Ansiedlung griechischer Bevölkerung um Zielona Góra]. In: Przeglad ˛ lubuski 7 (1977), S. 22–31; ders.: Adaptacja i stabilizacja ludnosci grecko-macedonskiej na ziemiach zachodnich i polnocnych [Adaption und Stabilisierung der griechisch-makedonischen Bevölkerung in den West- und Nordgebieten]. In: Studia i materialy. Wyzsza Szkola Pedagogiczna w ´ ´ Zielonej Gorze (1982), Nr. 4, S. 119–129; ders.: Srodowisko uchod´zców greckich w Swidnicy [Das ´ Milieu der griechischen Flüchtlinge in Schweidnitz]. In: Rocznik Swidnicki (1987), S. 74–99; ders.: Zwiazki ˛ serdeczne. Polacy i Grecy [Herzliche Beziehungen. Polen und Griechen]. Wolsztyn 1999; sowie Knopek, Jacek: O osadnictwie Greków i Macedo´nczyków na Ziemiach Odzyskanych po II wojnie s´ wiatowej [Über die Ansiedlung von Griechen und Makedoniern in den wiedergewonnenen Gebieten nach dem Zweiten Weltkrieg]. In: Chodubski, Andrzej (Hrsg.): Przemiany społeczne, kwestie narodowo´sciowe i polonijne. Toru´n 1994, S. 145–152; Terzudis, Christos: Trzydziestolecie pobytu uchod´zców politycznych z Grecji i działalno´sc´ ich zwiazku ˛ im. Nikosa Belojannisa. Wybrane problemy. [Der 30. Jahrestag des Aufenthalts der politischen Flüchtlinge aus Griechenland und die Tätigkeit ihres Nikos-Belojannis-Bundes. Ausgewählte Probleme.] In: Rocznik Dolno´slaski ˛ 7 (1980), S. 231–251; Fiedor, Karol: Dzieci macedo´nskie w Polsce [Makedonische Kinder in Polen] 1948–1968. Manuskript. O. D., Glówna Komisja Badania Zbrodni, Instytut Pami˛eci Narodowej [Hauptkommission zur Erforschung von Kriegsverbrechen, Institut für Nationales Gedenken], Abt. Wrocław; und Pudło, Kazimierz: Grecy i Macedo´nczycy w Polsce 1948–1993. Imigracja, przemiany, zanikanie grupy. [Griechen und Makedonier in Polen 1948–1993. Immigration, Veränderungen, Schwinden der Gruppe] In: Sprawy Narodowo´sciowe 4 (1995), S. 133–151; ders.: Uchod´zcy polityczni z Grecji w Polsce [Politische Flüchtlinge aus Griechenland in Polen] (1948–1995). In: Kurcz, Zbigniew (Hrsg.): Mniejszo´sci narodowe w Polsce. Wrocław 1997, S. 149–152. Troebst, Stefan: Die „Griechenlandkinder-Aktion“ 1949/50. Die SED und die Aufnahme minderjähriger Bürgerkriegsflüchtlinge aus Griechenland in der SBZ/DDR. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 52 (2004), S. 717–736 [und im vorliegenden Band]; ders.: Von Epirus ins Elbtal. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. Juli 2004.

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ähnlich die Transporte nach Polen, über den Seeweg von Juli 1949 bis Januar 1950, danach im Juli und August 1950 per Zug. 10 Eine Spätfolge dieser beiden Transportwege sind die späteren Siedlungsschwerpunkte von Griechen und Makedoniern in Polen. Das sind zum einen die Regionen um die Hafenstädte Gda´nsk (Danzig) und Gdynia (Gdingen) sowie um Szczecin (Stettin), zum anderen Niederschlesien mit den beiden größten Agglomerationen von Griechen und Makedoniern, nämlich Zgorzelec und Wrocław (Breslau). Inner´ ask, halb der Woiwodschaft Wrocław, heute Dolny Sl ˛ waren zusätzlich zu den beiden Städten auch deren Umland Siedlungsschwerpunkte, darunter das gesamte Neißetal bis Bogatynia. Das hat seinen administrativ-politischen Grund darin, dass bis zum Sommer 1950 in Polen zwei große Auffanglager für Bürgerkriegsflüchtlinge aus Griechenland bestanden, und zwar Police (Pölitz) bei Szczecin und eben der Ostteil von Görlitz, das heute polnische Zgorzelec. Ganz Zgorzelec war ein riesiges Flüchtlingslager sowie zugleich der Standort eines „Staatlichen Erziehungszentrums“ (Pa´nstwowy O´srodek Wychowawczy, POW) für Kinder und Jugendliche aus Griechenland – mit Untergliederungen wie Grundschule, Lyzeum, Internat usw. 11 Die Griechen nannten Zgorzelec damals „Paidopolis“ – „Kinderstadt“ –, die Makedonier entsprechend „Detski grad“. Die Kindertransporte aus Griechenland waren von Beginn an nach Niederschlesien gelenkt und wegen der ausreichend großen Zimmer- und Bettenzahl in Kurorten untergebracht worden. Überall dort wurden seit 1949 POW-Zentren geschaffen. Der Heimalltag war für die durch Krieg, Flucht, Vertreibung, Unterernährung und die monatelange Reise traumatisierten und mehrheitlich unter schweren Krankheiten leidenden Flüchtlingskinder bei allen Beschränkungen etwas fundamental Neues im positiven Sinne: Drei Voll- und zwei Zwischenmahlzeiten am Tag, medizinische Versorgung, pädagogische Betreuung, Heizung, Bettwäsche und Badewannen, vor allem aber den Unterricht in ihrer Muttersprache empfanden sie als bislang ungekannte Erfahrung. In vielen autobiographischen Berichten bedeutet der Tag ihrer Ankunft in den niederschlesischen Kurorten einen Wendepunkt im eigenen Leben. Der Tag, an dem sie die monatelang getragenen, zerschlissenen, verschmutzten und verlausten Lumpen endgültig ablegen durften und neue Kleidung erhielten. Der Alltag in den Internaten war aber auch von zeitbedingten Konflikten geprägt: Während griechische Parteioffizielle, Lehrer und Erzieher auf dem spezi-

10 Vgl. zum Seeweg die Karte „Kierunki napływu emigrantów greckich do Polski w latach 1949–1950“ [Richtungen des Zustroms griechischer Emigranten nach Polen in den Jahren 1949–1950] bei Wojecki, Mieczysław: Ludno´sc´ grecka w Polsce Ludowej [Die griechische Bevölkerung in Volkspolen]. In: Przeglad ˛ Geograficzny 47 (1975), S. 763–767, hier S. 765; sowie zur Landroute die Karte von Blagoja Markoski und Dimitra Karˇcicka „Evakuacija na decata i nivnoto prifak’anje vo istoˇcnoevropskite zemji“ [Evakuierung der Kinder und ihre Aufnahme in den osteuropäischen Ländern] bei Martinova-Buckova, Fana: I nie sme deca na majkata zemja . . . [Auch wir sind Kinder des Mutterlandes . . . ] Skopje 1998, S. 34. 11 Zu einer Karte der Lozierung der Flüchtlingsunterkünfte im Stadtgebiet von Zgorzelec siehe das Kartenfaksimile „Pa´nstwowy O´srodek Wychowaczy w Zgorzelcu“ [Staatliches Erziehungszentrum in Zgorzelec] bei Nakovski: Makedonski deca, S. 106.

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fisch griechisch-nationalen Gehalt von Unterricht und Freizeit bestanden, suchten die makedonischen Lehrer, Erzieher und älteren Mädchen (majki), die sich bereits auf der Flucht mütterlich um die Kinder gekümmert hatten, die makedonisch-nationale Erziehung der slawischsprachigen Kinder zu gewährleisten. Die zuständigen polnischen Parteifunktionäre, Verwaltungsbeamten und Pädagogen unterstützten sie darin. In Zgorzelec lebten zeitweilig bis zu 9000 griechische und makedonische Kinder und Erwachsene. Denn seit Sommer 1949 wurden alle bereits in Polen befindlichen Flüchtlinge aus Griechenland in Zgorzelec zusammengezogen und auch alle Neuankömmlinge dorthin geschickt. In das soeben gegründete POW-Zentrum wurden zwischen Dezember 1949 und Januar 1950 sämtliche niederschlesischen Kinderheime sowie alle anderen für die Flüchtlinge zuständigen Einrichtungen Polens verlegt. 12 Von nun an befand sich dort der zentrale Sammelpunkt der Bürgerkriegsflüchtlinge, darunter 2675 Heimkinder und weitere 350 Kinder, die in Familien lebten. Die Gründe für die Konzentration der Flüchtlinge 1949/1950 in Zgorzelec liegen im Dunkeln. Denkbar, aber wenig wahrscheinlich ist ein Kalkül Warschaus, dass im Zuge der laufenden Verhandlungen mit der neuen DDR eine Wiedervereinigung der Stadthälften von Görlitz unter sowjetischer Ägide erwartet wurde. In einem solchen für die polnische Seite ungünstigen Fall wäre man wenigstens die kostenintensiven, streitsüchtigen Flüchtlinge vom Balkan losgeworden. Im Sommer 1950 wurden dann Lager und POW-Zentrum wegen der bevorstehenden Übernahme der dortigen Kasernen durch das polnische Militär aufgelöst und Erwachsene wie Minderjährige in der Folgezeit auf umliegende Städte und Agrarbetriebe der Region verteilt. Im niederschlesischen Fall waren das vor allem die industriellen Zentren Wrocław, Legnica (Liegnitz), Wałbrzych (Waldenburg) und andere. Die Mehrheit der Kinder kam in ein neues POW-Zentrum in Police bei Szczecin, der Rest in Heime Niederschlesiens. Ein substantieller Teil der Griechen und Makedonier blieb allerdings in Zgorzelec, wo etliche von ihnen heute noch leben. Die Haltung Polens gegenüber den Bürgerkriegsflüchtlingen aus Griechenland war von patronisierender Fürsorge bestimmt. Partei und Staat bemühten sich intensiv um gute Bedingungen für deren Aufenthalt und stellten Mittel für einen Lebensstandard zur Verfügung, der deutlich über dem für Nachkriegspolen üblichen lag. Die Privilegien der Makedonier und Griechen ließen gelegentlich Unmut bei der örtlichen Bevölkerung aufkommen. Erhebliche Gelder flossen auch in Kultur, Bildung, Sprachunterricht und patriotische Erziehung. Die polnische Seite wies den Flüchtlingen Wohnungen zu, garantierte über einen längeren Zeitraum kostenlose Verpflegung, ärztliche Versorgung, Hilfe bei der Suche nach einem neuen Wohnsitz, nach Arbeitsplätzen, bei Umschulungen sowie der Organisation des Lebens unter den neuen Bedingungen. Kindern und Jugendlichen wurde eine kostenlose Schulbildung in der Muttersprache und Zugang zu allen Ebenen innerhalb des Schulwesens unter Berücksichtigung von deren Präferenzen garantiert. Junge Emigranten, deren

12 Vgl. das Kartenfaksimile des POW-Zentrums Zgorzelec bei Nakovski: Makedonski deca, S. 106.

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Eltern außerhalb Polens lebten oder in Polen mittellos waren, erhielten Stipendien oder Unterstützung. 13 Außerdem empfahl das polnische Bildungsministerium, für zukünftige Lehrer griechischer und makedonischer Kinder Kurse zur Vorbereitung auf den Griechischunterricht als Muttersprache zu organisieren. Ab Herbst 1954 wurden zusätzliche Unterrichtsstunden in griechischer und makedonischer Sprache in den staatlichen Kinderheimen Wrocławs organisiert, in Zgorzelec zwei Griechischkurse für je 27 Schüler und vier Makedonischkurse für je 26 Schüler. Die Regierung betrachtete die Bildungsmaßnahmen wohlwollend und übte geradezu Druck auf den „Bund der Politischen Flüchtlinge aus Griechenland“ aus, um Lehramtskandidaten zu gewinnen. Angesichts fehlender qualifizierter Kräfte und niedriger Lehrergehälter war dies allerdings schwierig. Gleichsam in Klammern sei eingefügt, dass zuvor, im Winter 1946/1947, auch eine andere Gruppe vom Balkan in Niederschlesien angekommen war, nämlich die sogenannten jugoslawischen bzw. bosnischen Polen, die sich vor allem in Bolesławiec (Bunzlau) ansiedelten. Dabei handelte es sich um circa 15.000 polnische Katholiken, die um 1900 aus dem damals habsburgischen Galizien in die neue habsburgische Provinz Bosnien und Herzegowina ausgewandert waren und vor allem um Banja Luka herum lebten. Als Katholiken wurden sie von der muslimischen wie orthodoxen Bevölkerung der Region als „Kroaten“ klassifiziert und deshalb nach dem Zweiten Weltkrieg von ihren serbischen Nachbarn dermaßen drangsaliert, dass Warschau und Belgrad ihre Rücksiedlung vereinbarten. 14 Mit anderen Worten: „Silesia balcanica“, das balkanische Schlesien, besteht nicht nur aus Griechen und Makedoniern, sondern auch aus ehemaligen Bewohnern Bosniens, denen sich im Zuge des Bosnienkrieges der neunziger Jahre auch „richtige“ Bosnier, nämlich Kriegsflüchtlinge hinzugesellten. Und noch etwas ist hinzuzufügen, denn auch die Griechen der Region bestehen bei näherer Betrachtung aus zwei unterschiedlichen Gruppen – aus den Flüchtlingen der Jahre 1948 bis 1950, aber auch aus den Nachkommen griechischer Kriegsgefangener aus dem Ersten Weltkrieg. Denn von 1916 bis 1919 lebten 6500 griechische Soldaten in Görlitz, von denen sich circa 200 ganz hier niederließen. 15 Während die nach Polen gelangten Makedonier von 1958 an sukzessive nach Jugoslawien, vor allem in die südliche Teilrepublik Makedonien übersiedelten, konnten 13 Wojecki: Uchod´zcy polityczni, S. 163–165. 14 Vgl. dazu den Überblick bei Kamberovi´c, Husnija: Polnische Siedler in Bosnien und Herzegowina seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. In: Bade: Enzyklopädie Migration, S. 889–890; ders.: Iseljavanje Poljaka iz Bosne i Hercegovine 1946. godine [Die Aussiedlung der Polen aus Bosnien und Herzeˇ gowina im Jahr 1946]. In: Casopis za suvremenu povijest 30 (1988), S. 95–104; und Kara´s, Julita: Reemigranci z Jugosławii w Bolesławcu – pół wieku pó´zniej [Die Remigration aus Jugoslawien nach Bolesławiec – ein halbes Jahrhundert danach]. In: Sprawy Narodowo´sc´ iowe 12 (2003), S. 217–232. 15 Irmscher, Johannes: Griechen in Görlitz. Die Internierung des IV. griechischen Armeekorps 1916– 1918. Manuskript. O. O. 1993; Toubekis, Konstantinos: Görlitz, die Griechen und die geheime Kommission. Dokumentation über eine außergewöhnliche deutsch-griechische Begegnung. Sendung auf 3sat am 12. Oktober 2006, 21:30 Uhr.

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Griechen erst nach dem Ende der Obristendiktatur 1974 Anträge auf Rückkehr nach Griechenland stellen. Die Aussicht auf Erfolg war allerdings gering, da sie keine griechische Staatsangehörigkeit mehr besaßen. Erst der Sieg von Andreas Papandreous sozialistischer PASOK 1981 brachte eine Änderung, so dass jetzt auch die Griechen Polen in großer Zahl verließen. Dennoch blieb ein beträchtlicher Teil von ihnen da, was mit den guten Bildungschancen zu tun hatte, die ihnen Polen bot. Etliche einst analphabetische Bergbauern hatten Fach- und Hochschulausbildung erhalten und waren auf qualifizierten Arbeitsstellen tätig. Dies galt auch und gerade für den Kulturbereich. Die aus dem niederschlesischen Bielawa (Langenbielau) stammende Schlagersängerin Eleni Tzoka (geb. Milopolu), bekannt als „Eleni“, der Warschauer Opernsänger Paulos Raptis, der Slawist Kole Simiczijew aus Wrocław, der Maler Stathis Jeropulos aus Łód´z oder der Posener Lyriker Nikos Chadzinikolau sind hierfür gute Beispiele. 16 In diesem Zusammenhang ist ein Dokument interessant, das ein Historikerkollege aus Wrocław in einem dortigen Archiv gefunden hat. Es handelt sich um die handschriftliche autobiographische Aussage eines 14-jährigen makedonischen Waisenjungen aus dem Jahr 1953, die typisch für viele Lebensläufe makedonischer und griechischer Flüchtlingskinder ist: Ich bin am 18. Dezember 1938 im Dorf Ezerec [griech. Petropoulaki] bei Kostur [griech. Kastoria] in Makedonien geboren. Mein Vater hieß Nikola und meine Mutter Benka [. . . ] Zuhause kümmerten sie sich um unseren eineinhalb Hektar großen Landbesitz. Ich habe zwei Brüder und eine Schwester. Der Kleinste ist in Ungarn, der andere in Polen und meine Schwester in der UdSSR. Ich bin Makedonier. Als ich fünf, sechs Jahre alt war, wurde ich Schäfer. Im März 1948 ging ich als Emigrant nach Albanien. Nach einem neunmonatigen Aufenthalt reiste ich nach Rumänien. Im April 1949 kam ich in Polen an, in Solice Zdrój [Bad Salzbrunn]. Hier begann ich erstmals in die Schule zu gehen. Ich kam in die zweite Klasse. Jetzt bin ich in der siebten. [. . . ] Ich interessiere mich für den Beruf des Ingenieurs. 17

Was aus diesem Jungen wurde, ist unbekannt. Über einen seiner Schicksals- und Altersgenossen namens Stavros hat der US-amerikanische Griechenland-Ethnologe Loring Danforth auf einer Tagung im Jahr 2003 berichtet: Der musikalisch wie sprachlich hochbegabte Stavros erhielt während seiner Gymnasialzeit in Wrocław Klavierunterricht und bereitete sich auf eine Ausbildung zum Konzertpianisten vor, als sein in Griechenland lebender Vater Mitte der fünfziger Jahre seine Rückkehr in

16 Chadzinikolau, Ares: Polsko-greckie zwiazki ˛ społeczne, kulturalne i literackie w ciagu ˛ wieków [Gesellschaftliche, kulturelle und literarische polnisch-griechische Verbindungen im Laufe der Jahrhunderte]. Pozna´n 2002, S. 59–61; Adrja´nski, Zbigniew: Kalejdoskop estradowy [Kaleidoskop der Estrade] 1944–1989. Warszawa 2002, S. 129 und 375. 17 Pudlo, Kazimiež [Pudło, Kazimierz]: Nekoi refleksi za prestojot na decata od Egejska Makedonija vo Polska [Einige Reflektionen zum Aufenthalt von Kindern aus Ägäisch-Makedonien in Polen] (1948– 1968). In: Glasnik na Institutot za nacionalna istorija [Skopje] 30 (1986), S. 193–209, hier S. 19 ˙ (Quelle: Zyciorys, G. K. in: Archivum Kuratorium O´swiaty i Wychowania we Wrocławiu, 15/1953, S. 20).

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das heimische Gebirgsdorf erwirkte. In den folgenden zwanzig Jahren war Stavros durchgängig das Objekt von Überwachung und zum Teil Misshandlung durch Polizei und Geheimdienst Griechenlands, da er als „Kommunist“ und „Slawenfreund“ verdächtigt wurde. Der Besuch eines polnischen Standes auf einer Industriemesse in Thessaloniki trug ihm gar eine Gefängnisstrafe ein. Im Interview mit Danforth unterteilte Stavros sein Leben in zwei fundamental verschiedene Abschnitte: Die in jeder Hinsicht aufregenden Jahre in Polen und die anschließenden bleiernen Jahrzehnte in Griechenland. 18 Aber auch in Polen hatte das Leben der Bürgerkriegsflüchtlinge düstere Seiten. Nach 1952 wurden 3000 von ihnen aus Niederschlesien in die Beskiden umgesiedelt, wo in Kro´scienko bei Ustrzyki Dolne eine griechischsprachige LPG namens „Nea Zoi“ (Neues Leben) gebildet wurde. Auch in den umliegenden Dörfern Liskowate, Moczary, Jureczkowa, Wojtkowa, Graziowa ˛ und Trzcianiec wurden griechische und makedonische LPG-Arbeiter angesiedelt. Es handelt sich dabei um eine schwer zugängliche und klimatisch schwierige Region, die kurz zuvor in menschenleerem Zustand von der Sowjetunion im Austausch gegen einen anderen Grenzstreifen an Polen abgetreten worden war. 19 Die abgelegene LPG diente der stalinistischen Führung der griechischen Exil-KP zugleich als Verbannungsort für missliebige Parteimitglieder, darunter vor allem Makedonier. Dem makedonischen Historiker Risto Kirjazovski zufolge wurden die Verbannten in „Brigaden der Abtrünnigen“ zur Zwangsarbeit im Kanalbau eingesetzt. 20 Und dem Pariser Historiker griechischer Herkunft Ilios Yannakakis zufolge, selbst Bürgerkriegsflüchtling in der Tschechoslowakei und Funktionär der Kommunistischen Partei Griechenlands, war Kro´scienko „ein KolchoseLager, in dem vor allem slavo-mazedonische Oppositionelle gefangen gehalten wurden. Die kommunistische Partei [Griechenlands] hatte eine Sicherheitstruppe zur Überwachung des Lagers aufgebaut. Die Bedingungen waren extrem: Vasilis Panos, der an der Spitze dieser Sicherheitspolizei stand, gab zu, dass zur Hinrichtung der Verurteilten keine Feuerwaffen eingesetzt wurden. Das Opfer wurde mit Stockschlägen schlichtweg zu Tode geprügelt.“ 21 18 Danforth, Loring: „We Crossed a Lot of Borders“: Refugee Children from the Greek Civil War Who Returned to Greece. Ms. eines Vortrags auf dem internationalen Colloquium „The Child Refugees from Greece in Eastern and Central Europe after World War II“. Joseph Károlyi Foundation, Fehérvárcsurgó, Ungarn, 3.–4. Oktober 2003. 19 Vgl. die Karte „Osadnictwo ludno´sci greckiej i macedo´nskiej w Bieszczadach“ [Die Ansiedlung griechischer und makedonischer Bevölkerung im Bieszczady-Gebirge] bei Wojecki: Uchod´zcy polityczni, S. 52; Biernacka, Maria: Greek Refugees in the Bieszczady Mountains. Processes of Adaption and Integration. In: Ethnologia Polonica 7 (1981), S. 35–45; dies.: Osady uchod´zców greckich w Bieszczadach [Siedlungen griechischer Flüchtlinge im Bieszczady-Gebirge]. In: Etnografia Polska 17 (1973), S. 83–93; Marya´nski, Andrzej: Mniejszo´sc´ grecka w wojewódstwie Rzeszowskim [Die griechische Minderheit in der Wojewodschaft Rzeszów]. In: Czasopismo geograficzne 33 (1962), S. 362–363. 20 Kirjazovski: Makedonskata politiˇcka emigracija, S. 186 und 250. 21 Yannakakis, Ilios: Die griechischen Opfer des Kommunismus. In: Courtois, Stéphane /Galli, Berthold /Rullkötter, Bernd: Das Schwarzbuch des Kommunismus 2: Das schwere Erbe der Ideologie. München /Zürich 2004, S. 447–468 und 521 f., hier S. 466.

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Dass die Makedonier unter den Flüchtlingen Ende der fünfziger Jahre massenhaft nach Jugoslawien übersiedelten, hatte in doppeltem Sinne politische Gründe: Zum einen war es die griechische Exil-KP, die gegenüber den polnischen Behörden als Sprecher aller Flüchtlinge auftrat – mit der Folge, dass die slawischsprachigen Makedonier sich bei der Vergabe von Arbeitsstellen, Wohnungen, Studienplätzen und anderem häufig benachteiligt fühlten. Zum anderen aber richtete sich die AntiTito-Kampagne der polnischen Kommunisten primär gegen die Makedonier unter den Flüchtlingen. Der eingangs erwähnte, von Norman Davis genannte „Petro Damovsky“ aus Zgorzelec, dessen richtiger Name German Petrov Damovski lautete, war ein solcher Fall. 22 Die Lage spitzte sich zu, als in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre das Ansinnen der polnischen Makedonier auf Gründung einer eigenen Organisation analog zum seit 1953 existierenden „Bund der Politischen Flüchtlinge aus Griechenland in Polen ‚Nikos Belojannis‘“ abgelehnt wurde. Im Ergebnis bildeten Makedonier aus Zgorzelec, Wrocław und Legnica 1960 eine Untergrundorganisation, die sie „Egejska zora“ – „Morgenröte der Ägäis“ – nannten. 23 Sie „wird für die Erziehung der makedonischen Jugend im Geiste des proletarischen und sozialistischen Internationalismus kämpfen“, hieß es in der Satzung, und weiter: „sie wird für die makedonisch-nationale Bewusstwerdung der Jugend und allgemein der Makedonier in Polen kämpfen; sie wird für die Aufrechterhaltung der Autorität der Volksrepublik Makedonien unter den Makedoniern kämpfen; sie wird einen unermüdlichen Kampf gegen die [griechischen] Chauvinisten, welche die ‚Megali Idea‘ propagieren, führen; sie wird für die Schaffung einer makedonischen kulturellen Gesellschaft kämpfen, welche die makedonische Kultur unter den in Polen lebenden Makedoniern anleitet und entwickelt [. . . ]“ 24 Die Aktivitäten der „Morgenröte der Ägäis“ bestanden primär in agitatorischer Arbeit wie dem Verteilen von Flugblättern und dem Kleben von Aufrufen. So zierte im März 1961 ein Appell etliche Häuserwände von Zgorzelec, mit dem die Makedonier der Stadt in ihrer Muttersprache aufgerufen wurden, „den großgriechischen und großbulgarischen Chauvinismus entschieden zu bekämpfen“. Der Aufruf endete mit der Parole: „Es lebe das makedonische Volk! Es lebe die Volksrepublik Makedonien, unser teures Vaterland! Es lebe die Volksrepublik Polen! Es lebe die rechtmäßige Regierung des Kongo! Es lebe das Werk Lumumbas!“ 25 Das war dann selbst den polnischen Kommunisten zu

22 Kirjazovski: Makedonskata politiˇcka emigracija, S. 236–243. 23 Martinova-Buckova: I nie, S. 62–63. Vgl. auch Vragoterov, Kostas: Hronologija od životot i dejnosta na politiˇckite emigranti od Egejskiot del na Makedonija vo NR Polska za godinite od 1950 do 1962 [Chronologie von Leben und Tätigkeit der politischen Emigranten aus dem ägäischen Teil Makedoniens in der VR Polen in den Jahren von 1950 bis 1962]. Manuskript. Skopje 1961, S. 162–165, zit. nach Boeschoten: „Unity and Brotherhood“?, S. 199. 24 Arhiv na Makedonija, Skopje, fond br. 997, Sign. K-4/32: Programa na „E. Zora“, zit. nach Martinova-Buckova: I nie, S. 62. 25 Kirjazovski, Risto: Makedonski nacionalni institucii vo Egejskiot del na Makedonija (1941–1961) [Makedonische nationale Institutionen im ägäischen Teil Makedoniens (1941–1961)]. Skopje 1987, S. 255.

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internationalistisch, so dass die Organisation im Herbst 1961 aufgelöst und ihre Protagonisten nach Jugoslawien ausgewiesen wurden. Im Zuge der Auswanderungs- bzw. Rückkehrwellen von Makedoniern in den sechziger und von Griechen in den achtziger Jahren verringerte sich die Zahl der Bürgerkriegsemigranten und ihrer Nachkommen in Polen von etwa 20.000 im Jahr 1958 auf rund 8.000 im Jahr 1981. Lediglich 850 waren es im Jahr 1995. Darunter befanden sich 600 Griechen und 250 Makedonier, die mehrheitlich in Niederschlesien lebten. Das aktivste Zentrum von Griechen in Polen befindet sich in Zgorzelec – dem Ort, der ihnen unmittelbar nach ihrer Ankunft Ende der vierziger Jahre zugewiesen wurde. 26 Seit 1998 finden dort wieder griechische Folklorefestivals statt, die Außenstelle der „Gesellschaft der Griechen in Polen“ ist hier besonders aktiv. Es war also kein Zufall, dass sich im Mai 2004 ausgerechnet in Zgorzelec eine „Griechen in Polen – in Geschichte, Wissenschaft, Kunst“ betitelte Konferenz erstmals mit der Geschichte der Bürgerkriegsflüchtlinge aus Griechenland in Niederschlesien befasste. 27

26 Prosyniak, Kazimierz /Czarnecki, Ryszard: O Grecji i Grekach w Zgorzelcu [Über Griechenland und die Griechen in Zgorzelec]. Zgorzelec 2007; Rusketos, Nikos: Ich werde immer für Griechenland in Polen werben . . . /Zawsze b˛ed˛e propagował Grecj˛e w Polsce. In: Pfeiffer, Stella /Opiłowska, Elz˙ bieta: Görlitz – Zgorzelec. Zwei Seiten einer Stadt. Dwie strony miasta. Dresden 2005, S. 170–189. 27 Siehe das Tagungsprogramm „Grecy w Polsce – poprzez histori˛e, nauk˛e, sztuk˛e. Mniejszo´sc´ grecka w Polsce. Konferencija Kola Naukowego Stosunków Mi˛edzynarodowych, 29–30 marzec 2004“ [Griechen in Polen – in Geschichte, Wissenschaft, Kunst. Die griechische Minderheit in Polen. Konferenz des Wissenschaftszirkels Internationale Beziehungen, 29. bis 30. März 2004].

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Chronologie einer gescheiterten Prävention Vom Konflikt zum Krieg im Kosovo, 1989–1999

[1999] Vom Beginn der Kriege im ehemaligen Jugoslawien 1991 an ist von diplomatischer Seite häufig zu hören gewesen, der blutige Zerfall des Bundesstaates knapp zwei Jahre nach der epochalen Wende in Osteuropa habe die internationale Gemeinschaft gleichsam auf dem falschen Fuß erwischt: Die Instrumente Frühwarnung, präventive Diplomatie und Krisenmanagement seien sowohl auf der Ebene der Vereinten Nationen wie der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE, seit 1995: OSZE) erst im Entstehen begriffen, d. h. noch nicht einsatzbereit gewesen. Beim Beginn des Krieges im Kosovo 1998 konnte ein solches Argument nicht vorgebracht werden: Zum einen war die Brisanz dieses stark asymmetrischen ethnopolitischen Konflikts um die Kontrolle über die knapp 11.000 Quadratkilometer große Provinz im Südwesten der jugoslawischen Teilrepublik Serbien spätestens seit März 1989 bekannt, als der damalige serbische Präsident Slobodan Miloševi´c unter Bruch der Bundesverfassung das Statut über Territorialautonomie für das Kosovo aufhob und die albanische Bevölkerungsmehrheit dort einer repressiven, besatzungsähnlichen Direktherrschaft Belgrads unterstellte. Die Folge waren schwere Ausschreitungen zwischen Miliz und Albanern sowie die Gründung eines kosovoalbanischen „Schattenstaates“ 1. Zum anderen hatten Vertreter eben dieses Schattenstaates im Dezember 1991 der Haager Jugoslawienkonferenz der Europäischen Gemeinschaft ihre Forderung nach diplomatischer Anerkennung analog zu den Teilrepubliken der zerfallenden jugoslawischen Föderation präsentiert. 2 Und schließlich waren von 1992 an eine Reihe multilateraler Organisationen, darunter eben UN und KSZE, mit Versuchen zur Entschärfung der Zeitbombe Kosovo befasst. 3 Genützt im Sinne einer Transformation oder gar Lösung des Konflikts, nicht nur eines Hinausschiebens seiner gewaltförmigen Phase, hat dies bekanntlich nichts. Umso dringli-

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Vgl. Marc Weller (Ed.): The Crisis in Kosovo, 1989–1999. London 1999. – Reneo Lukic, Allen Lynch: Europe from the Balkan to the Urals. The Disintegration of Yugoslavia and the Soviet Union. Oxford 1996, S. 144–173, sowie die Beiträge in dem Sammelband Ger Duijzings, Dušan Janji´c, Shkëlzen Maliqi (Hrsg.): Kosovo – Kosova: Confrontation or Coexistence. Nijmegen 1997. Vgl. die deutsche Übersetzung des entsprechenden Briefes der „Regierung der Republik Kosova“ bei Christine von Kohl, Wolfgang Libal: Kosovo: Gordischer Knoten des Balkans. Wien /Zürich 1992, Anhang 1. Fabian Schmidt: Has the Kosovo Crisis Been Internationalized?, in: Radio Free Europe /Radio Liberty Research Reports, 44/1993, S. 35–39. – Sophia Clément: Conflict Prevention in the Balkans: Case Studies of Kosovo and the FRY of Macedonia. Paris 1997 (Chaillot Papers, 30). – Stefan Troebst: Conflict in Kosovo: Causes and Cures. An Analytical Documentation, in: Hans-Georg Ehrhart, Albrecht Schnabel (Eds.): The Southeast European Challenge: Ethnic Conflict and the International Response. Baden-Baden 1999, S. 85–116.

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cher ist daher die Frage nach dem Warum hinter der gescheiterten Prävention vor Beginn der ersten Runde des Kosovo-Kriegs im Februar 1998 und nach dem Fehlschlag des internationalen Krisenmanagements. Diese Frage drängt sich auch deswegen auf, weil die Ausgangsbedingungen für eine Verhütung des 1913 entstandenen und seit zehn Jahren eskalierenden Konflikts 4 zumindest in der ersten Hälfte der neunziger Jahre relativ günstig gewesen waren. Zum einen hat die Staatengemeinschaft Frühwarnsignale durchaus registriert, darauf gar reagiert, und zum anderen sorgte eine der beiden Konfliktparteien, nämlich die kosovoalbanische, dafür, dass der Konflikt unter der Gewaltschwelle blieb. Denn im Unterschied zu anderen zentrifugalen Nationalbewegungen Osteuropas setzte die Führung der Kosovoalbaner nach den Rückschlägen von 1989 und 1991 bei der Durchsetzung ihres Anliegens nicht auf Gewalt, sondern im Gegenteil auf Gewaltfreiheit. Dieses Anliegen – äußere Selbstbestimmung in Form staatlicher Unabhängigkeit – hoffte man durch eine Internationalisierung des Konflikts zu erreichen. Mit anderen Worten: Das kosovoalbanische Kalkül zielte als Gegenleistung für den Gewaltverzicht auf eine staatsrechtliche „Belohnung“ durch die Staatengemeinschaft in Form eines Protektorats als Übergangsstufe zur Unabhängigkeit. Während die pazifistische Taktik von internationalen Organisationen und Großmächten mit Wohlwollen zur Kenntnis genommen wurde, ignorierte man das politische Anliegen der Eigenstaatlichkeit. Aufgrund dieser einäugigen Wahrnehmung entstand bei den meisten internationalen Akteuren der Eindruck, das Kosovo-Problem sei nicht sonderlich dringend, zetteln doch Pazifisten in aller Regel keine Bürger- oder Staatenkriege an. Zur Gewaltfreiheit kam ein zweites Moment hinzu, das die zunehmend mit dem Krieg in Bosnien und Herzegowina präokkupierte internationale Gemeinschaft gleichfalls als Entwarnung bezüglich Kosovo deutete. Dies war die verfassungsrechtliche und praktisch-politische Ausgestaltung dessen, was die Kosovoalbaner „Republika Kosova“ nannten, einen „Staat im Staate“, der gleichsam im Halbschatten der offiziellen serbischen Strukturen existierte. Dieser „Parallelstaat“ gab sich von 1990 an Verfassungsorgane wie Parlament, Präsident und Regierung, baute ein eigenes Steuersystem, ein separates Schulwesen und ein privat organisiertes Gesundheitssystem auf. Hinzu kam eine vom Regime in Belgrad weitgehend geduldete breite albanischsprachige Printmedienlandschaft, während Radio und Fernsehen in albani-

4

Zu Vorgeschichte und Verlauf vgl. Holm Sundhaussen: Kosovo: „Himmlisches Reich“ und irdischer Kriegsschauplatz. Kontroversen über Recht, Unrecht und Gerechtigkeit, in: Südosteuropa 48 (1999) (im Erscheinen). – Noel Malcolm: Kosovo: A Short History. London, New York, NY, 1998. – Miranda Vickers: Between Serb and Albanian: A History of Kosovo. London, New York, NY, 1998. – Peter Schubert: Zündstoff im Konfliktfeld des Balkan: Die albanische Frage. Baden-Baden 1997. – Robert Elsie (Ed.): Kosovo: In the Heart of the Powder Keg, Boulder, CO, New York, NY, 1997. – Stefan Troebst: Still Looking for an Answer to the „Albanian Question“, in: Transition, 4/1997, S. 24–27. – Michel Roux: Les Albanais en Yougoslavie. Minorité nationale, territoire et développement. Paris 1992. – Marco Dogo, Kosovo: Albanesi e Serbi: le radici dei conflitto. Lungro di Cosenza 1992. – und Jens Reuter: Die Albaner in Jugoslawien. München 1982.

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scher Sprache verboten blieben. 5 Dieses eigentümliche Nebeneinander zweier „Staaten“ auf ein und demselben Territorium, die kaum Berührungspunkte (und damit wenige Reibungsflächen) aufwiesen sowie sich gegenseitig ignorierten (aber auch tolerierten), wirkte auf Betrachter von außen „stabil und explosiv“ zugleich. 6 Entsprechend der politikwissenschaftlichen Erkenntnis, dass Entscheidungsträger, konfrontiert mit unterschiedlichen Entwicklungsszenarien, in aller Regel das günstigste zugleich für das wahrscheinlichste halten 7, festigte sich in den Jahren kosovoalbanischer „Parallelstaatlichkeit“ auf internationaler Ebene die Ansicht, der KosovoKonflikt sei zumindest mittelfristig eingedämmt.

Frühe Vermittlungsversuche: Die KSZE und die Genfer Jugoslawien-Konferenz Unter den internationalen Organisationen war es im Krisenjahr 1991 die amorphe, aus dem Kalten Krieg stammende und mitten in einem tiefgreifenden Umbruch steckende KSZE, die sich als erste des Themas Kosovo annahm. 8 Auf einem KSZEExpertentreffen über Nationale Minderheiten im Juli 1991 in Genf wurde Belgrad seiner Kosovo-Politik wegen heftig kritisiert, und im Mai 1992 empfahl eine KSZEBerichterstattermission nach Kosovo die Entsendung von ständigen Beobachtern in diese Krisenregion. Das auf dem KSZE-Gipfel im Juli 1992 angenommene Helsinki-II-Dokument sah die Einrichtung von KSZE-Beobachter- und Vermittlungsmissionen vor, und im August 1992 wurden die „KSZE-Langzeitmissionen nach Kosovo, Sandžak und Vojvodina“ entsandt. 9 Ihre Aufgabe war die Herbeiführung eines Dialogs zwischen der kosovoalbanischen Bevölkerung und den serbischen Behörden sowie die Dokumentierung von Menschenrechtsverletzungen. 10 Im September 1992 eröffnete die Mission ein Büro in Priština (alb. Prishtina), der Hauptstadt des Kosovo, im Februar 1993 Außenstellen in Pe (Peja) und Prizren. 5

Denisa Kostovicova: Parallel Worlds: Response of Kosovo Albanians to Loss of Autonomy in Serbia, 1986–1996. Keele 1997 (Keele European Research Centre Research Papers: Southeast Europe Series, 2). – Fabian Schmidt: Kosovo: The Time Bomb That Has Not Gone Off, in: Radio Free Europe / Radio Liberty Research Reports, 39/1993, S. 21–29. – Jens Reuter: Die politische Entwicklung in Kosovo 1992/93. Andauernde serbische Repressionspolitik, in: Südosteuropa, 1–2/1994, S. 18–30. 6 Franklin De Vrieze: Kosovo: Stable and Explosive, in: Helsinki Monitor, 2/1995, S. 43–51. 7 Urs Leimbacher: Krisenmanagement – die Herausforderung der 90er Jahre, in: Europa-Archiv, 17/1993, S. 481–490. 8 Zu diesem Wandlungsprozess vgl. Victor-Yves Ghebali: L’OSCE dans l’Europe postcommuniste, 1990–1996. Vers une identité paneuropéen de sécurité. Buxelles 1996. 9 Zur Tätigkeit der KSZE im Kosovo in den Jahren 1992–1993 vgl. Stefan Troebst: Conflict in Kosovo: Failure of Prevention? An Analytical Documentation, 1992–1998. Flensburg 1998, S. 26–29 (ECMI Working Papers, 1) (URL http://www.ecmi.de/uploads/tx_lfpubdb/working_paper_1.pdf, letzter Zugriff: 08. 10. 2016). 10 Fifteenth CSO Meeting, Prague, 13–14 August 1992, Decision on Missions of Long Duration, in: Arie Bloed (Ed.): The Conference on Security and Co-operation in Europe. Analysis and Basic Documents, 1972–1993. The Hague, Boston, London 1993, S. 959.

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Dass Belgrad der Entsendung der KSZE-Mission zustimmte, ging wesentlich auf den im Juni 1992 gewählten neuen jugoslawischen Ministerpräsidenten Milan Pani´c, einen nordamerikanischen Exilserben, zurück. Dieser, ein Opponent Miloševi´cs, verfolgte eine Politik des Ausgleichs im Kosovo und trat zu diesem Zweck mit dem kurz zuvor gewählten „Präsidenten“ der Kosovoalbaner, Ibrahim Rugova, in Kontakt. Im September 1992 schlug Pani´c eine Übereinkunft über die Wiedererrichtung des albanischen Bildungswesens im Kosovo vor, das im Zuge der Aufhebung der Autonomie 1989 weitgehend geschlossen worden war. Ziel dabei war es, 270.000 albanischen Grundschülern, 60.000 Mittelschülern, 20.000 Studierenden und 20.000 Lehrern den Umzug aus den Kellern, Dachböden und Schuppen, in denen das „parallele“ Bildungswesen des Kosovo stattfand, in ihre Schul- und Universitätsgebäude zu ermöglichen. 11 Sowohl die KSZE-Mission unter ihrem norwegischen Leiter Tore Bøgh als auch die mit der Mission eng zusammenarbeitende Genfer Konferenz über das Ehemalige Jugoslawien, das die Vereinten Nationen und die Europäische Gemeinschaft im August 1992 eingesetzt hatten, machten sich nun die Vermittlung eines solchen Abkommens zur Aufgabe. Dabei hoffte man auf einen raschen Erfolg, der dann den Weg zu einer grundsätzlichen Regelung des KosovoProblems bahnen würde. Dem bundesdeutschen Diplomaten Geert-Hinrich Ahrens, der die Working Group on Ethnic and National Communities and Minorities der Genfer Jugoslawienkonferenz leitete, gelang es am 14. Oktober 1992, den jugoslawischen Erziehungsminister und Vertreter der Kosovoalbaner zur Unterschrift unter eine Erklärung über die „Rückkehr zu normalen Arbeitsbedingungen für Schulen und andere Bildungseinrichtungen“ im Kosovo zu bewegen. 12 Dies war der Auftakt zu einer Gesprächsserie, welche die Wiedereröffnung der albanischen Grund- und Mittelschulen zum Ziel hatte. Die Verhaftung eines prominenten kosovoalbanischen Bildungspolitikers durch die serbische· Miliz führte wenige Wochen später indes zum Abbruch des Dialogs, und die von Miloševi´c betriebene Abwahl Pani´cs im Dezember 1992 bewirkte eine rasche Klimaveränderung. Zwar wurden die Gespräche fortgesetzt, jetzt in Genf, doch blieben sie ohne greifbares Ergebnis. Im Juni 1993 verweigerte Miloševi´c eine Verlängerung des Mandats der KSZE-Mission, so dass diese im Folgemonat das Land verlassen musste. 13 Damit war sowohl die internationale Präsenz im Kosovo

11 International Helsinki Federation for Human Rights: Annual Report 1997: Human Rights Developments in 1996. Wien 1997, S. 295. 12 Report of the [United Nations] Secretary-General on the International Conference on the Former Yugoslavia [11 November 1992], in: Bertie G. Ramcharan (Ed.): The International Conference on the Former Yugoslavia- Official Papers. The Hague, London, Boston, 1997, S. 558. Vgl. auch Geert Ahrens, Praktische Erfahrungen bei der ausländischen Vermittlung in Minderheitenkonflikten im früheren Jugoslawien, in: Ekkehard Hetzke, Michael Donner (Hrsg.); Weltweite und europäische Sicherheit im Spannungsfeld von Souveränität und Minderheitenschutz. Berlin, Bonn, Herford 1994, S. 77–89, und Geert-Hinrich Ahrens: „Das Augenmaß auf dem Balkan nicht verlieren“: Die Albaner im Kosovo und in Mazedonien, in: Das Parlament, 12. April 1996, S. 11. 13 CSCE Mission to Kosovo, Sandzak and Vojvodina: Special Report: Kosovo – Problems and Prospects. Belgrade, 29. 6. 1993; Auszug bei Troebst: Conflict in Kosovo, S. 27–28.

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als auch die Beschäftigung der KSZE mit diesem Problemknoten auf Jahre hinaus unterbrochen. Von der Eröffnung eines Büros des United States Information Service in Priština am 5. Juni 1996 abgesehen, dauerte es bis zum Juli 1998, bevor die Staatengemeinschaft wieder ständig vor Ort präsent war – nun in Gestalt der Kosovo Diplomatic Observer Mission (KDOM) von USA, Russländischer Föderation und EU. Auch wenn der „Miloševi´c-Faktor“ beim Scheitern dieser Vermittlungsinitiative nicht zu unterschätzen ist, erscheint doch fraglich, ob das mit Souveränitäts- und Statusfragen verknüpfte und somit besonders schwierige Reizthema Bildungswesen in der Tat ein vielversprechender und damit sinnvoller Ansatzpunkt gewesen ist. Selbst Diplomaten wie der Ahrens-Nachfolger, Botschafter Martin Lutz, haben die Vermutung geäußert, das exemplarische Aufgreifen eines anderen und graduell weniger aufgeladenen Problemkomplexes wie etwa derjenige des zwischen serbischem Staat und albanischer Bevölkerung gleichfalls segregierten Gesundheitswesens hätte rascher einen ersten Erfolg bringen und damit den erforderlichen Schub für einen wirklichen Vermittlungsdurchbruch erzeugen können. 14

Mediation durch Nichtregierungsorganisationen 1996–1998 Der Kosovo-Konflikt unterschied sich von anderen Krisenherden nicht nur durch relativ frühe Präventionsversuche seitens diplomatischer Akteure, sondern auch durch den verhältnismäßig hohen Grad an Koordinierung zwischen der Tätigkeit internationaler Organisationen und Nichtregierungsorganisationen. Dies gilt in besonderem Maße für die Kosovo-Aktivitäten der katholische Laienorganisation Comunità di Sant’Egidio aus Rom, die gleich KSZE und Genfer Jugoslawienkonferenz beim Problemkomplex Bildungswesen ansetze. Ihrem Vorsitzenden Monsignore Vincenzo Paglia gelang es am 1. September 1996, Miloševi´c und Rugova zur Unterschrift unter eine gemeinsam Erklärung über die „Normalisierung des Bildungssystems für albanischeKinder und Jugendliche im Kosovo“ zu bewegen. 15 Mit der Erklärung setzten beide Seiten eine paritätisch besetzte Kommission ein und listeten in einem nicht veröffentlichten Anhang 24 Grundschulen, 66 Mittelschulen, sieben Oberschulen und 13 Fakultäten der 1990 geschlossenen albanischen Universität Priština auf, die sämtlich wieder für albanische Schüler und Studierende zu öffnen waren. Das positive Echo seitens internationaler Organisationen war so groß, dass die Kosovo-Resolutionen von UN, OSZE, Europarat, EU, Kontaktgruppe,

14 Martin Lutz: How to implement the school agreement? Vortrag auf der Konferenz „Strategies and Options for Kosovo“ der Bertelsmann Wissenschaftsstiftung und der Forschungsgruppe Europa in Thessaloniki, 20.–21. 4. 1998. 15 Text bei Thanos Veremis, Evangelos Kofos (Eds.): Kosovo: Avoiding Another Balkan War. Athen 1998, S. 40–41?. – Vgl. auch die Analyse von Gordana Igri´c: Education is the Key in Serb-Kosovar Negotiations, in: Transition, 4/1997, S. 19–23. Zur außerordentlich öffentlichkeitsscheuen Comunità di Sant’Egidio siehe Sergej Starcev: OON iz Trastevere: Mirotvorcy, kotorye prosty, kak golubi, no ostorožny, kak zmei, in: Nezavisimaja gazeta, 27. 11. 1997, Beilage „NG-Religija“, S. 5.

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WEU u. a. der Jahre 1997 und 1998 durchgängig auf dieses Dokument Bezug nahmen. Greifbare Ergebnisse brachte all dies jedoch nicht. Auch zwei unter Vermittlung der Comunità di Sant’Egidio zustande gekommene Sitzungen der vereinbarten paritätischen Kommission im Oktober 1997 und Februar 1998 führten nicht zur Umsetzung der Vereinbarung. 16 Ebenfalls um Konfliktmediation mittels Schaffung von Dialogforen für Serben und Kosovoalbaner bemüht waren das vom US Department of State unterstützte Project on Ethnic Relations in Princeton, New Jersey, der European Action Council for Peace in the Balkans in Amsterdam 17 sowie die Bertelsmann Wissenschaftsstiftung in Gütersloh, die in Zusammenarbeit mit der Forschungsgruppe Europa am Zentrum für Angewandte Politikforschung der Universität München in den Jahren 1996 bis 1998 acht Dialogrunden mit Politikern, Journalisten, Wissenschaftlern und Menschenrechtsaktivisten aus Belgrad und Priština abhielt. 18

„Die Vergessenen von Dayton“ Zum Zeitpunkt der Vermittlungsinitiative der Comunità di Sant’Egidio hatten sich die Ausgangsbedingungen für eine konstruktive Bearbeitung des Kosovo-Konflikts seitens Dritter bereits dramatisch verschlechtert. Grund war die Wirkung des Dayton-Abkommens vom November 1995, in dem das Kosovo-Problem aufgrund der kategorischen Haltung Miloševi´cs ausgeklammert wurde. 19 Dies bewirkte eine Radikalisierung großer Teile vor allem der jüngeren Kosovoalbaner, die sich in einer Abkehr von der pazifistischen Taktik Rugovas und in einer Hinwendung zu aggressiveren Aktionsformen wie einer Intifada-Taktik äußerte. Zugleich trat vom Februar 1996 an eine „Kosovo-Befreiungsarmee“ (Ushtria Çlirimtare e Kosovës, UÇK) mit Anschlägen in Erscheinung. Allerdings dauerte es bis zum September 1997, bevor die UÇK zu koordinierten Aktionen gegen die über-

16 Anna Husarska: Milosevic Shows His True Colors on Education Accord, in: International Herald Tribune, 5.–6. 9. 1998, S. 8. 17 Zu den Politikempfehlungen dieser beiden Nichtregierungsorganisationen vgl. Troebst: Conflict in Kosovo: Failure of Prevention?, S. 91–93. 18 Vgl. Josef Janning, Martin Brusis (Eds.): Exploring Futures for Kosovo: Kosovo Albanians and Serbs in Dialogue-Project Report. München 1997 (Forschungsgruppe Europa, Arbeitspapier Nr. 4). – Matthias Rüb: Vertrauensbildung und Statusfragen. Vorschläge für eine Annäherung zwischen Serben und Albaner im Streit um das Kosovo, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. 1. 1998, S. 12. 19 Fabian Schmidt: Teaching the Wrong Lesson in Kosovo, in: Transition, 14/1996, S. 37–39. Der damalige Politische Direktor im Auswärtigen Amt, Wolfgang Ischinger, berichtete am 4. November 1995 über ein Gespräch mit Miloševi´c in Dayton, beim Thema Kosovo sei der serbische Präsident „regelrecht explodiert: Beim Kosovo handele es sich um ein ausschließlich inneres Problem seines Landes, er lehne Internationalisierungsbestrebungen rundweg ab“. – Vgl. Auswärtiges Amt (Hrsg.): Deutsche Außenpolitik 1995. Auf dem Weg zu einer Friedensregelung für Bosnien und Herzegowina. 53 Telegramme aus Dayton. Eine Dokumentation. Bonn 1998, S. 65.

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mächtigen serbischen Sicherheitskräfte in der Lage war. 20 Wie rasch dann allerdings der Prozess der Mobilisierung, aber auch der Polarisierung unter den Kosovoalbanern voranschritt, wurde deutlich, als es im Folgemonat zur Massendemonstration albanischer Studenten in Priština kam und sich im November die UÇK zum ersten Mal in der Öffentlichkeit zeigte. Das Belgrader Regime reagierte darauf zunächst mit Polizeieinsätzen und Schauprozessen, von Weihnachten 1997 an dann mit einer massiven Erhöhung der Präsenz der Armee Jugoslawiens (Vojska Jugoslavije) und von Spezialpolizeieinheiten des serbischen Innenministeriums (Ministarstvo unustrašnjih poslova Republike Srbije). 21 Ungeachtet der seit Dayton, vor allem aber seit dem Herbst 1997 sprunghaft steigenden Spannung im Kosovo reagierte die Staatengemeinschaft in Gestalt internationaler Organisationen und Großmächte nahezu ausschließlich durch das gebetsmühlenartige Äußern „tiefer Besorgnis“ über eben diese Entwicklung. Dies galt auch für dasjenige internationale Gremium, das seit der neuerlichen Eskalation zunehmend als Koordinationsstelle von NATO und Russländischer Föderation auftrat – die Kontaktgruppe für das ehemalige Jugoslawien, bestehend aus den USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Italien sowie der Russländischen Föderation. In ihrer ersten Erklärung zum Kosovo-Konflikt vom 24. September 1997 tat auch dieses Gremium wenig mehr als zu „friedlichem Dialog“ aufzurufen, vor „jeglicher Anwendung von Gewalt bei der Durchsetzung politischer Forderungen“ zu warnen und eben seiner „tiefen Besorgnis über Spannungen im Kosovo“ Ausdruck zu verleihen. 22 Dasselbe galt für eine aus der Kontaktgruppe hervorgegangene Initiative der Außenminister Frankreichs und Deutschlands, Hubert Védrine und Klaus Kinkel, die in einem Brief an Präsident Miloševi´c vom 19. November 1997 diesen zu „einer Verhandlungslösung“ aufriefen und ihm im Gegenzug „die Wiedergewährung von Handelspräferenzen durch die Europäische Union“ in Aussicht stellten. 23 Und die

20 Zur UÇK vgl. Tim Judah: Inside the KLA, in: New York Review of Books, 10/1999, S. 1923. – Jens Reuter: Wer ist die UÇK?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 3/1999, S. 281–284. – Matthias Rüb: „Phönix aus der Asche“: Die UÇK: Von der Terrororganisation zur Bodentruppe der Nato?, in: Thomas Schmid (Hrsg.): Krieg im Kosovo. Reinbek 1999, S. 47–62. – Tim Judah: Impasse in Kosovo, in: New York Review of Books, 15/1998), S. 4–6. – Stefan Lipsius: Untergrundorganisationen im Kosovo. Ein Überblick, in: Südosteuropa, 1–2/1998, S. 75–82. 21 Vladimir Jovanovi´c: Kosovo prioritet VJ, in: Naša borba, 13. 1. 1998, S. 2. – Ders.: „Adut“ za kasnije pregovore. Pripremali se ograniˇcen udar na Drenicu?, in: Nedeljna naša borba, 31. 1./1. 2. 1998, S. 2. – Zur Armee Jugoslawiens, zu den verschiedenen Spezialeinheiten der Sicherheitspolizei sowie zu den paramilitärischen Formationen vgl. die Homepage der Federation of American Scientists (http://www.fas.org/irp/world/serbia, letzter Zugriff: 04. 10. 2016). 22 Statement on Kosovo of the Contact Group of Foreign Ministers. New York, 24 September 1997, in: Heike Krüger (ed.): The Kosovo Conflict and International Law: An Analytical Documentation 1974–1999. Cambridge 2001, S. 121 (= Cambridge International Document Series, vol. 11). 23 Die Situation im Kosovo. Brief von Bundesaußenminister Klaus Kinkel und Außenminister Hubert Védrine an den Präsidenten der Bundesrepublik Jugoslawien Slobodan Miloševi´c. Frankfurt an der Oder, 19. November 1997, in: Troebst (ed.): Conflict in Kosovo, S. 60–61.

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EU echote im Dezember, Gewaltverzicht, „umfassender Dialog“ und „Respekt für Menschen- und Bürgerrechte im Kosovo“ seien das Gebot der Stunde. 24 Wesentlich elaboriertere und pragmatischere Vorschläge, von der EU bereits im Sommer des Krisenjahres 1997 bezüglich einer Deeskalation der Spannungen im Kosovo in Auftrag gegeben bzw. selbst erstellt, hatten den Aufstieg aus Planungsgruppen und think tanks in die eigentlichen Entscheidungsebenen offensichtlich nicht geschafft. Zu diesen Vorschlägen gehörte ein Drei-Stufen-Plan, den das von der EU initiierte und finanzierte Conflict Prevention Network (CPN) am 30. Juni 1997 EU-intern vorstellte, sowie ein Fünf-Punkte-Konzept der Zentralen Planungsabteilung für Außenbeziehungen in der Generaldirektion IA der Kommission vom 17. September 1997. 25 Beide Empfehlungen sahen nachhaltige und behutsame Konfliktintervention in Form von vertrauensbildenden Maßnahmen und humanitärer Hilfe vor, um den akuten Spannungszustand zu beenden. In weiteren Schritten sollte das Zustandekommen direkter serbisch-kosovoalbanischer Gespräche über eine weitere Verbesserung der Lebensbedingungen in der Region gefördert werden, die dann möglicherweise in regelrechte Verhandlungen über den künftigen Status der Provinz, gar in eine internationale Konferenz einmünden könnten. Aus der Palette dieser Politikempfehlungen griff die Europäische Kommission lediglich den Vorschlag der Eröffnung eines EU-Büros in Priština auf – ein Ansinnen, das in Belgrad auf demonstratives Desinteresse stieß. 26 Angesichts dieser Lethargie spricht der britische Politikwissenschaftler Richard Caplan von einem „Vernachlässigungsmuster“ (pattern of neglect), das die Kosovo-Politik der Staatengemeinschaft bis ins Jahr 1998 hinein durchzogen habe. 27 Sämtliche staatlichen Akteure auf internationaler Bühne betonten dabei die Notwendigkeit einer auf dem Dialogweg zu erzielenden Lösung, bei der die Unverletzlichkeit der Grenzen der Bundesrepublik Jugoslawien zu respektieren seien. „Terrorismus“ – gemeint war die Tätigkeit der UÇK – wurde dabei vor allem seitens der US-Politik verurteilt. 28 Als Verhandlungsziel wurde ein „verbesserter Status“ des Kosovo, etwa in Form einer „substantiellen Autonomie“, benannt. 29

24 New Transatlantic Agenda. Senior Level Group Report to the EU-U. S. Summit December 5, 1997, in: Toward Transatlantic Partnership. Cooperation Project Report. Ed. by Transatlantic Policy Network. O. O., 1998, S. 55–56 (http://www.tpnonline.org/WP/wp-content/uploads/2013/09/Toward_ Transatlantic_Partnership_Cooperation_Project.pdf, letzter Zugriff: 09. 10. 2016). 25 [Marie-Janine Calic:] CPN Kosovo Policy Study: A Three-Step Approach to Conflict Prevention in Kosovo. Brussels, 30 June 1997. – European Commission. Directorate General I A. Central Planning Department for External Relations: EU Policy Concept for Kosovo. Brussels, 17 September 1997. Auszüge bei Troebst: Conflict in Kosovo, S. 51–54. 26 Ein entsprechender Antrag wurde am 7. November 1997 förmlich gestellt und von einer EU-Delegation am 18. Februar 1998 in Priština wiederholt. – Vgl. o. A.: Delegacija Evropske Unije u Prištini, in: Naša borba, 20. 2. 1998, S. 3. 27 Richard Caplan: International Diplomacy and the Crisis in Kosovo, in: International Affairs, 4/1998, S. 745–761, hier S. 747. 28 Ismet Hajdari: SAD osudjuju i policijsku represiju i terorizam OAK, in: Naša borba, 23. 2. 1998, S. 1. 29 Marie-Janine Calic: Kosovo vor der Katastrophe?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 4/1998, S. 404–410, hier S. 409.

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Während die kosovoalbanische Seite zwar weiterhin auf äußerer Selbstbestimmung – sprich: Eigenstaatlichkeit – insistierte, aber dennoch Bereitschaft zu Verhandlungen über eine innere Selbstbestimmungslösung, etwa in Gestalt einer Reföderalisierung Rest-Jugoslawiens, signalisierte 30, versteifte sich die serbische Seite auf den Status quo. Die Staatengemeinschaft ihrerseits konnte sich nicht zum Ausüben des nötigen Druckes auf Belgrad entschließen, um den so häufig angemahnten Dialog zu initiieren. Von einem aktiven Versuch zur Lösung des Kosovo-Problems kann daher eigentlich nicht gesprochen werden. „Concern is not a policy“, so eine kosovoalbanische Stimme im Januar 1998 31 – Besorgnis ist kein politisches Konzept.

Internationales Krisenmanagement im Krieg: März – August 1998 Im Februar 1998 war der Aufbau der jugoslawischen Truppenkonzentration im Kosovo abgeschlossen; Nun waren rund 20.000 Soldaten und Sonderpolizisten vor Ort, denen einige tausend UÇK-Mitglieder gegenüberstanden. 32 Ein UÇK-Hinterhalt am 28. Februar, dem vier Polizisten zum Opfer fielen, bot dann den Anlass zu einem massiven Einsatz von Armee und Sonderpolizei in der Region Drenica im Zentrum des Kosovo. Während einer einwöchigen Serie von Massakern wurden 83 Albaner getötet, darunter die Mehrzahl der Angehörigen zweier Clans, in deren Patriarchen Belgrad die Führer der UÇK wähnte. 33 Die Reaktion der Kontaktgruppe auf den Beginn des Krieges fiel schwach aus: Während die USA und Großbritannien auf eine rasche und harte Antwort drängten, rieten Italien, Frankreich und die Russländische Föderation zur Zurückhaltung. Eine umfängliche Erklärung der Kontaktgruppe vom 9. März 1998 geriet entsprechend vage. 34 Auch distanzierte sich Moskau von der Androhung konkreter Maßnahmen wie einem Moratorium bei Staatskrediten an Belgrad und der Ausstellung von Visa 30 Gazmend Pula: Kosova – Republic in a New (Con-)Federation Via Re-Federalization of Yugoslavia. General Considerations, Preconditions, Processes and Relevant Features, in: Südosteuropa, 3– 4/1997, S. 184–196. – Matthias Rüb: „Balkania“ statt „Kosova“? Ein Oppositionsmodell zur Lösung der Krise auf dem Amselfeld, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. 3. 1998, S. 8. 31 International Helsinki Federation for Human Rights: Kosovo: Urgent Appeal For Courage, Leadership, and Cooperation. Belgrade, Pristine, Podgoriza, 21 January 1998 (http://www.ihf-hr.org, letzter Zugriff: 04. 10. 2016). 32 International Crisis Group: Kosovo Spring. Bruxelles 1998, S. 71–72. 33 Zur ersten Runde des Kosovo-Kriegs vgl. Sinasi A. Rama: The Serb-Albanian War, and International Community’s Miscalculations, in: International Journal of Albanian Studies 2 (1998), S. 3–36. – Stefan Troebst: The Kosovo War, Round One: 1998, in: Südosteuropa, 34/1999, S. 156–190. – William Hayden: The Kosovo Conflict and Forced Migration: The Strategie Use of Displacement and the Obstacles to International Protection, in: Journal of Humanitarian Assistance 1999 (https://sites. tufts.edu/jha/archives/133, letzter Zugriff: 09. 10. 2016). 34 Erklärung des Ministertreffens der Kontaktgruppe am 9. März 1998 in London zu Kosovo, in: Internationale Politik, 4/1998, S. 115–118.

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für jugoslawische Politiker. In der Folgezeit schob die Kontaktgruppe dann selbst das Inkrafttreten dieser zaghaften Schritte immer weiter hinaus. „Milosevic“, so der Kommentar einer Nichtregierungsorganisation, „has succeeded in his effort to stare down the Contact Group and parry its threat to impose new economic sanctions.“ 35 Immerhin verhängte der UN-Sicherheitsrat auf Vorschlag der Kontaktgruppe in seiner Resolution 1160 am 31. März 1998 ein Waffenembargo über die Bundesrepublik Jugoslawiens einschließlich des Kosovo. 36 Während der Krieg zwischen der UÇK auf der einen und Armee wie Sonderpolizei auf der anderen Seite sich in den Westen des Kosovo, an die Grenze zu Albanien, verlagerte, starteten die USA eine Verhandlungsoffensive, die am 15. Mai 1998 in einem Treffen zwischen Präsident Miloševi´c und „Präsident“ Rugova resultierte. Was als Auftakt zu wöchentlichen Konsultationen zwischen Belgrad und Priština gedacht war, stellte sich indes als bloße Public Relations-Aktion des jugoslawischen Präsidenten heraus. 37 Eine jugoslawisch-serbische Offensive Ende Mai ebenfalls im Westen des Kosovo hatte nicht nur die Flucht von rund 50.000 Albanern, sondern auch die Aktivierung der bis dahin bezüglich des Kosovo-Konflikts überaus passiven NATO zur Folge. Grund war die genannte Paralyse der Kontaktgruppe durch Moskau. Am 15. Juni 1998 hielt das nordatlantische Bündnis in Sichtweite der Außengrenzen des Kosovo das Manöver „Determined Falcon“ ab, an dem 83 Flugzeuge teilnahmen. 38 Der politische Effekt dieser Drohgebärde verpuffte indes aufgrund eines Treffens Miloševi´cs mit dem russländischen Präsidenten Boris El’cin in Moskau am Folgetag. In einer gemeinsamen Erklärung vom 16. Juni 1998 sprachen sich beide Politiker für eine friedliche Lösung des Konflikts mittels Fortsetzung der direkten serbisch-kosovoalbanischen Gespräche, für die Rückkehr aller Flüchtlinge sowie für freien Zugang sowohl humanitärer Organisationen als auch internationaler Beobachter in das Kampfgebiet aus. 39 Allerdings wurde einzig diese letztgenannte Ankündigung in die Tat umgesetzt: Am 6. Juli 1998 erhielt die erwähnte Kosovo Diplomatie Observer Mission, bestehend aus den in Belgrad akkreditierten Diplomaten der USA, der Russländischen Föderation und der EU, Zugang zum Kampfgebiet. Diese anfänglich aus 200 Mitgliedern bestehende Mission wuchs bis zum Jahresende auf 400 an, bevor sie in die von Oktober 1998 bis März 1999 vor Ort tätige

35 International Crisis Group: Inventory of a Windfall: Milosevic’s Gains from the Kosovo Dialogue. Belgrade, 28 May 1998 (https://www.crisisgroup.org/europe-central-asia/balkans/serbia/inventorywindfall, letzter Zugriff: 09. 10. 2016). 36 Resolution 1160 (1998) des UN-Sicherheitsrats zur Lage im Kosovo vom 31. März 1998 (http:// www.un.org/depts/german/sr/sr_98/sr1160.pdf, letzter Zugriff: 09. 10. 2016). – Marie-Janine Calie: Kosovo: Krieg oder Konfliktlösung?, in : Südosteuropa-Mitteilungen, 2/1998, S. 112–123. 37 International Crisis Group: Inventory of a Windfall. 38 Statement by NATO Secretary General, Dr. Javier Solana, on Exercise „Determined Falcon“, Press Release (98)80, 15 June 1998 (http://www.nato.int/cps/en/natohq/news_25849.htm?selectedLocale= en&mode=pressrelease, letzter Zugriff: 09. 10. 2016). 39 Zum Wortlaut vgl. Troebst: The Kosovo War, S. 175–176.

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Kosovo Verification Mission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSCE KVM) integriert wurde. 40 Parallel zu diesen diplomatischen Schritten verordnete Präsident Miloševi´c der Armee und der Sonderpolizei temporäre Zurückhaltung. Dies bot der UÇK im Zeitraum von Mitte Juni bis Mitte Juli 1998 die Möglichkeit zum Ausbau ihrer Positionen sowie zu regional begrenzten Gegenoffensiven. 41 Die Untergrundarmee, so hatte es nun zumindest den Anschein, war zu einem ernstzunehmenden militärischen Faktor geworden. Um nicht als „Luftwaffe der UÇK“ zu erscheinen, milderte die NATO daraufhin ihre Drohungen in Richtung Belgrad deutlich ab. Gemäß serbischem Kalkül wurden mit der Passivierung der NATO, der Instrumentalisierung der Russländischen Föderation und der Scheinblüte der UÇK die Bedingungen für die Vernichtung der „Kosovo-Befreiungsarmee“ geschaffen. Dies geschah im Rahmen einer Großoffensive, die im Zeitraum Mitte Juli bis Mitte August stattfand. Dabei führte die serbische Seite den Gnadenstoß für die UÇK außerordentlich behutsam aus, um die Staatengemeinschaft nicht zur Intervention zu provozieren – „A village a day keeps NATO away“ war die Devise. 42 Mit dem Fall der UÇK-Hochburg Junik an der albanischen Grenze am 15. August war die Operation abgeschlossen, und am 17. August mussten die Reste der „Befreiungsarmee“ einem von der KDOM vermittelten Waffenstillstand für den Westen des Kosovo zustimmen. 43 In den folgenden sechs Wochen zerschlugen Armee und Sonderpolizei kleinere UÇK-Widerstandsnester im ZentralKosovo, bevor sie sich in den ersten Oktobertagen in ihre Kasernen zurückzogen. Die Initiative ging nun auf die Judikative über, die Verfahren gegen 1200 Kosovoalbaner wegen „terroristischer Aktionen“ eröffnete. 44 Bis Ende August waren dem Krieg rund 1500 Kosovoalbaner sowie rund 100 Serben, darunter 40 Angehörige der Armee Jugoslawiens und der Truppen des Innenministeriums, zum Opfer gefallen. 45 Überdies waren bis zu 45.000 Häuser zerstört worden. Neben 200.000 innerhalb des Kosovo vertriebenen Albanern waren nach UNHCR-Angaben 98.100 Kosovoalbaner aus dem Kosovo geflohen. 46

40 Die Berichte des US-amerikanischen. Teils der KDOM sind auf der Webseite des US Department of State zu finden (http://www.state.gov/www/regions/eur/98_kosovo_more.html, letzter Zugriff: 04. 10. 2016). 41 Vgl. International Crisis Group: Kosovo’s Long Hot Summer: Briefing on Military, Humanitarian and Political Developments in Kosovo. Prishtina, 2 September 1998 (https://www.crisisgroup.org/ europe-central-asia/balkans/kosovo/kosovos-long-hot-summer, letzter Zugriff: 09. 10. 2016) und Troebst: The Kosovo War, S. 176–177. 42 Constanze Stelzenmüller: Zögernder Falke, in: Die Zeit, 15. 10. 1998, S. 7. 43 Troebst: The Kosovo War, S. 177–180. 44 Federal Republic of Yugoslavia: Human Rights Developments, in: Human Rights Watch World Report 1999 (http://www.hrw.org/hrw/worldreport99/europe/yugoslavia.html, letzter Zugriff: 04. 10. 2016). 45 Fred Hiatt: Strang Talk About Kosovo Was Just Talk, in: International Herald Tribune, 1. September 1998, S. 8. 46 United Nations High Commissioner for Refugees: UN Inter-Agency Update on Kosovo Situation Re-

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Die UN-Sicherheitsratsresolution 1199 Zwar waren die militärischen Operationen im Wesentlichen bis Mitte August beendet, doch befanden sich unter den genannten 200.000 intern dislozierten Kosovoalbanern 50.000 in Wäldern und Bergen herumirrende Flüchtlinge. 47 Angesichts eines sich abzeichnenden frühen Wintereinbruchs und einer drohenden humanitären Katastrophe bewog das Schicksal dieser sogenannten „Waldmenschen“ die Staatengemeinschaft erstmals zur Ausübung massiven und koordinierten Drucks auf Belgrad. Am 23. September 1998 erließ der UN-Sicherheitsrat seine Resolution 1199, in der mit der Stimme der Russländischen Föderation bei Enthaltung Chinas ein sofortiger Waffenstillstand im Kosovo, der umgehende Rückzug von jugoslawischer Armee und serbischer Sonderpolizei, freier Zugang für humanitäre Organisationen und volle Kooperation der Behörden mit dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag gefordert wurden. 48 Das nordatlantische Bündnis nahm diese Resolution zum Anlass, am Folgetag eine Aktivierungswarnung für eine auf militärische Ziele beschränkte und phasenweise zu intensivierende Luftkriegsoperation zu erlassen. Ziel dieser Warnung war es, Belgrad zur umgehenden Erfüllung der UN-Forderungen zu veranlassen. 49 Angesichts des Ausbleibens einer jugoslawischen Reaktion auf diese Aktivierungswarnung drohte die NATO umgehend mit dem Erlass einer Aktivierungsanordnung, welche die Entscheidung über den Beginn des Luftkriegs dem Generalsekretär übertragen hätte. Erster Schneefall am 28. September sowie das am gleichen Tag bekannt gewordene Massaker an 16 Albanern im Dorf Gornje Obrinje (Obri e Epërme) in der Drenica-Region erhöhten die Entschlossenheit der internationalen Gemeinschaft zum Handeln. Parallel zum Aufbau der Drohkulisse durch die NATO bemühte sich nun auch wieder die Kontaktgruppe um eine diplomatische Lösung des Problems. Dabei wurde auf einem Treffen in London am 2. Oktober 1998 der Plan einer zeitlich begrenzten trilateralen, d. h. serbisch-albanisch-internationalen Übergangsverwaltung für das Kosovo angenommen, den der US-Diplomat Christopher Hill entworfen hatte. Am 8. Oktober trafen die Außenminister der Kontaktgruppe mit dem Amtierenden Vorsitzenden der OSZE zusammen und beschlossen das weitere gemeinsame diplomatische Vorgehen. Die Gruppe beauftragte den US-Sondervermittler Richard Holbrooke, der jugoslawischen Seite einen sechsteiligen Forderungskatalog zu übermitteln, der Kern eines Abkommens mit Belgrad sein sollte. Dieser Katalog bestand

port. Period Covered: 14–20 October 1998, Prishtina, 22 October 1998, S. 4 (http://www.reliefweb. int, letzter Zugriff: 04. 10. 2016). 47 Matthias Rüb: Im Kosovo sind ganze Landstriche entvölkert, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. 10. 1998, S. 3. 48 Resolution 1199 des UN-Sicherheitsrates vom 23. September 1998 (Wortlaut), in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 12/1998, S. 1511–1514. 49 Statement by the NATO Secretary General following the ACTWARN decision, Press Statement, Vilamoura 24 Sept. 1998 (http://www.nato.int/docu/pr/1998/p980924e.htm, letzter Zugriff: 04. 10. 2016).

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aus den vier Elementen der Resolution 1199 sowie Forderungen nach Rückkehr aller Flüchtlinge an ihre Wohnorte und dem Beginn eines serbisch-albanischen Dialogs über den Hill-Plan. Zugleich kam man überein, dass ein allfälliges Abkommen in eine entsprechende UN-Sicherheitsratsresolution umzugießen sei. Als Überwachungsinstanz vor Ort wurde die OSZE vorgeschlagen.

Informeller Waffenstillstand: ´ Die Holbrooke-Miloševi c-Absprache Nach mehrtägigen Verhandlungen erhielt Holbrooke am 12. Oktober von Präsident Miloševi´c die Zusage auf Erfüllung der sechs Forderungen. Im Gegenzug machte der Kontakgruppenvermittler drei zentrale Konzessionen: Erstens durfte Belgrad weiterhin 15.000 Mann seiner Armee sowie 10.000 Sicherheitspolizisten im Kosovo stationieren; zweitens würde das in Form bilateraler Verträge der Bundesrepublik Jugoslawien mit NATO und OSZE zu regulierende internationale Überwachungsregime für den informellen Waffenstillstand ein unbewaffnetes sein; und drittens schließlich sollte der geforderte serbisch-albanische Dialog über eine friedliche Lösung des Konflikts ausschließlich bilateraler Natur sein, also ohne internationale Beteiligung stattfinden. 50 Am 13. Oktober erschien der jugoslawische Präsident Miloševi´c erstmals seit dem Dayton-Abkommen von 1995 wieder im serbischen Fernsehen, um seine Landsleute in vagen Formulierungen Über „die erzielten Übereinkünfte“, welche „die Gefahr einer Militärintervention gegen unser Land ausschließen“, in Kenntnis zu setzen. 51 Die Aufgabe der Verkündung der Einzelheiten überließ er dem serbischen Präsidenten Milan Milutinovi´c. Diesem oblag die Mitteilung, dass die Aufgabe der „vollständigen Überwachung der Situation in Kosovo-Metochien [. . . ] von einer OSZEMission ausgeführt“ werde. Zugleich teilte er Elemente des Hill-Plans für eine Übergangsverwaltung im Kosovo mit, wie etwa die Gründung einer „lokalen Polizei, die repräsentativ für die örtliche Bevölkerung sein [. . . ] und von den Verwaltungsorganen des Kosovo koordiniert werden wird“. 52 Ebenfalls am 13. Oktober wandelte die NATO ihre Aktivierungswarnung in eine Aktivierungsanordnung um. Ziel war es, die Umsetzung der von Belgrad nun eingegangenen Verpflichtung zu beschleunigen. Am 15. Oktober wurde in der jugoslawischen Hauptstadt das verabredete Abkommen über die Errichtung einer Luftverifizierungsmission der NATO über dem Kosovo (Operation „Eagle Eye“) durch

50 Matthias Rüb: Serbische Truppen ziehen aus dem Kosovo ab, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. 10. 1998, S. 1. 51 President Milosevic Announces Accord on Peaceful Solution, in: Yugoslav Daily Survey. Special Issue, 13 October 1998. 52 Federal Ministry of Foreign Affairs: Serbian Government Endorses Accord Reached by President Milosevic. Belgrade, 13 October 1998, in: Weller (ed.): The Crisis in Kosovo, S. 279.

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den Chef des Generalstabes der Armee Jugoslawiens und den Oberkommandierenden der NATO in Europa unterzeichnet. Diesem Abkommen zufolge hatte die NATO das Recht, mittels bemannter und unbemannter, auf jeden Fall aber unbewaffneter Flugkörper das Kosovo aus der Luft zu überwachen. 53 Am Folgetag traf der Amtierende OSZE-Vorsitzende in Belgrad ein, um mit dem jugoslawischen Außenminister eine Übereinkunft über die gleichfalls unbewaffnete OSZE-Verifizierungsmission im Kosovo zu schließen. Um den Waffenstillstand flächendeckend überwachen zu können, sollte die bis zu 2000 Mann starke Mission neben ihrer Zentrale in Pristina Koordinierungszentren in den Hauptorten sämtlicher 29 Kommunen des Kosovo sowie Außenposten in weiteren Städten und Gemeinden eröffnen können. 54 Zum Leiter der Verifizierungsmission wurde am 17. Oktober der balkanerfahrene US-amerikanische Diplomat William G. Walker ernannt. Am 24. Oktober billigte der UN-Sicherheitsrat in seiner Resolution 1203 die Entsendung der beiden Verifizierungsmissionen von NATO und OSZE und erinnerte die Regierung in Belgrad an ihre Verantwortung für die Sicherheit des Missionspersonals. Da dieser Schutz seitens der Kontaktgruppe und der OSZE als nicht ausreichend 55 erachtet wurde, kündigte die NATO am 27. Oktober ihre Operation „Joint Guarantor“ an. Dabei handelte es sich um die Entsendung einer bewaffneten Eingreiftruppe nach Makedonien, welche die Mitglieder der OSZE-Verifizierungsmission im Notfall aus dem Kosovo „extrahieren“ sollte. Am 2. Dezember stimmte die Regierung in Skopje der Stationierung dieser „Extraction Force“ (XFOR) in einer Stärke von über 1500 Mann in der nordmakedonischen Stadt Kumanovo zu. Hier war bereits am 26. November ein Zentrum für die Koordinierung der Kosovo-Verifizierungvon NATO und OSZE eingerichtet worden. 56 Die Führung der Kosovo-Albaner war weder an der Holbrooke-Miloševi´c-Absprache noch an der Übereinkunft über die OSZE-Verifizierungsmission beteiligt worden. Diese Tatsache sowie der Umstand, dass die Überwachung des Waffenstillstandes unbewaffnet geschehen sollte, und der Wortlaut etlicher Paragraphen der Übereinkunft wurden von ihnen scharf kritisiert. Aus kosovoalbanischer Sicht war zur Umsetzung jedweder Übergangslösung die Stationierung einer bewaffneten NATO-Friedenstruppe im Kosovo zwingend erforderlich. 57

53 Statement to the Press by the Secretary General Following Decision on the ACTORD, NATO HQ, 13 Oct. 1998(http://www.nato.int/docu/speech/1998/s981013a.htm, letzter Zugriff: 09. 10. 2016). 54 Abkommen über die Kosovo-Verifizierungsmission zwischen der OSZE und der Bundesrepublik Jugoslawien vom 16. Oktober 1998 (Wortlaut), in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 12/1998, S. 1516–1518. 55 Resolution 1203 des UN-Sicherheitsrates vom 24. Oktober 1998 (Wortlaut), in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 12/1998, S. 1518–1520. 56 Troebst: The Kosovo War, S. 186–187. 57 Erich Rathfelder: Die Albaner im Kosovo sind enttäuscht, in: Die Tageszeitung, 15. Oktober 1998, S. 10. – Serb Texture on Draft Document for OSCE Kosova Verification Mission, in: Kosova Daily Report, #1582, 14 October 1998 (http://www.hri.org/news/balkans/kosova/1998/98-10-14.ksv.html, letzter Zugriff: 09. 10. 2016).

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Gleichfalls auf Kritik seitens der kosovoalbanischen Führung stießen die verschiedenen Überarbeitungen des Entwurfs für eine trilaterale Interimsverwaltung für das Kosovo, die der US-amerikanische Vermittler Hill in den Monaten Oktober bis Dezember 1998 vorlegte. 58 Auch Belgrad verwarf die Hill-Vorschläge und unterbreitete statt dessen am 20. November einen eigenen Entwurf. Hierin wurde der Anteil der Albaner an der Bevölkerung des Kosovo auf nur rund 50 Prozent veranschlagt – eine Provokation aus Sicht der Kosovoalbaner. Am 3. Dezember schließlich lehnte das jugoslawische Parlament jede weitere Vermittlung Hills mit der Begründung ab, diese ziele auf „die Abtrennung von Kosovo und Metochien von Serbien“ und auf „Angliederung an ein ‚Großalbanien‘“. 59 Damit waren die Bemühungen um eine Verhandlungslösung festgefahren.

Der Waffenstillstand bröckelt In den ersten acht Wochen des Waffenstillstandes kam es zu rund 170 leichten und mittelschweren Verstößen, bei denen insgesamt rund 200 Menschen – in ihrer Mehrzahl Albaner – ihr Leben verloren. Am 14. Dezember ereignete sich erstmals ein schwerer Zwischenfall, als 37 UÇK-Kämpfer beim Versuch des Grenzübertritts zwischen Albanien und dem Kosovo von jugoslawischen Grenztruppen getötet wurden. Am selben Tag fielen sechs serbische Jugendliche in Pe´c einem Racheanschlag der UÇK zum Opfer. 60 Die Spannung stieg weiter an, als die Armee Jugoslawiens am 21. Dezember ein Manöver nahe Podujevo (Podujeva) im Osten des Kosovo ankündigte. Diese Militärübung nahm an Heiligabend die Form eines Panzerangriffs auf albanische Dörfer an, dem die Flucht von rund 5000 Albanern folgte. 61 Zwar gelang der OSZEVerifizierungsmission am 27. Dezember die Vermittlung eines regionalen Waffenstillstandes 62, doch entspannte sich die Lage nicht. Am 8. Januar nahm die UÇK acht Soldaten der Armee Jugoslawiens gefangen, die sie aufgrund der Vermittlung der OSZE-Mission allerdings wieder frei ließ. Dennoch wurden im Gegenzug am 15. Januar im Dorf Raˇcak (Reçak) 45 albanische Zivilisten ermordet. Der OSZEMissionsleiter, der der serbischen Sicherheitspolizei die Schuld für dieses Massaker gab, wurde daraufhin zur persona non grata erklärt. Am 27. Januar kam es in

58 Troebst: The Kosovo War, S. 187–189. 59 Declaration by the Federal Assembly of the Federal Republic of Yugoslavia, Belgrade, 03 December 1998, in: Yugoslav Daily Survey – Special Issue, 3 December 1998. 60 Matthias Rüb: Holbrooke vermittelt wieder zwischen Serben und Albanern, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. 12. 1998, S. 6. 61 Four Days of Clashes in Kosova, in: Radio Free Europe /Radio Liberty NewsLine, Southeastern Europe, 28 December 1998(http://reliefweb.int/report/serbia/four-days-clashes-kosova; letzter Zugriff: 09. 10. 2016). 62 Yugoslavia: OSCE Monitors Say Truce Restored in Kosovo, In Radio Free Europe /Radio Liberty Features, 28. 12. 1998 (http://www.rferl.org/a/1090251.html, letzter Zugriff: 09. 10. 2016).

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Rogovo (Rugova) zu einem neuerlichen Massaker an 20 Albanern. Mittlerweile waren erneut rund 45.000 Albaner innerhalb des Kosovo auf der Flucht. 63 Die OSZEVerifizierungsmission konnte die immer zahlreicher werdenden Waffenstillstandsverstöße nurmehr registrieren und berichten 64 – eindämmen konnte sie die Eskalation nicht.

Von Rambouillet nach Paris Die immer rascher voranschreitende Erosion des Waffenstillstands, das Scheitern der Vermittlungsbemühungen Hills sowie vor allem die als Vorboten einer neuerlichen Eskalation gedeuteten Massaker von Raˇcak und Rogovo bewogen die Kontaktgruppe, am 29. Januar 1999 eine neue Taktik gegenüber den Konfliktparteien einzuschlagen: Mit Hinweis auf die in Kraft befindliche Aktivierungsanordnung der NATO wurden diese ins französische Schloss Rambouillet bei Paris zitiert, wo ihnen in einem Dayton-ähnlichen Verhandlungsmarathon ein Vertrag über eine dreijährige trilaterale Übergangsverwaltung für das Kosovo aufoktroyiert werden sollte. 65 Zwar nahm Belgrad die ultimative Einladung zu der in Rambouillet stattfindenden jugoslawischkosovoalbanischen Verhandlungsrunde vom 6. bis 23. Februar 1999 an, steigerte aber bereits während des Intervalls vor der zweiten Verhandlungsrunde in Paris vom 15. bis 19. März die Frequenz und Intensität der Repression im Kosovo. 66 Die Zusammensetzung der serbischen Delegation und deren Verhandlungsführung in Rambouillet und Paris machten deutlich, dass Belgrad zu einer Regelung auf der Basis des von Hili ausgearbeiteten Vertragsentwurfs bereit war. Entsprechend wurde die Kernfrage der praktischen Umsetzung und militärischen Absicherung des Abkommens gar nicht erst verhandelt. 67 Als am 18. März allein die

63 Rüb, „Phönix aus der Asche“, S. 60. – Report of the EU forensic expert team on the Racak incident, 17. 03. 1999 (https://www.phdn.org/archives/www.ess.uwe.ac.uk/Kosovo/Kosovo-Massacres2.htm, letzter Zugriff: 09. 10. 2016). 64 Gjerqina Tuhina: Tenous Cease-Fire, in: Transitions, 21/1999, S. 12–13. 65 Contact Group Statement, London, 29 January 1999, in: Weller (ed.): The Crisis in Kosovo, S. 415– 416; Marie-Janine Calic: Vor dem Frieden in Kosovo? Ebenhausen 1999 (SWP-aktuell, No. 35, Februar 1999). 66 Vgl. KDOM Kosovo Updates vom 23. Februar sowie für den Zeitraum 10.–18. März 1999 (http:// www.state.gov/www/regions/eur, letzter Zugriff: 04. 10. 2016). 67 Marc Weller: The Rambouillet Conference on Kosovo, in: International Affairs, 2/1999, S. 163– 203. – Jens Reuter, Melpomeni Katsaropoulou: Die Konferenz von Rambouillet und die Folgen, in: Südosteuropa, 3–4/1999, S. 146–155. – Zur innerdeutschen Kontroverse über den Vertragstext vgl. Ulrich Schneckener: Der Vertragsentwurf von Rambouillet: Miloševi´cs verpaßte Chance, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. 4. 1999, S. 4. – Andreas Zumach: „80 Prozent unserer Vorstellungen werden durchgepeitscht“. Die letzte Chance von Rambouillet und die Geheimdiplomatie um den „Annex B“, in: Schmid (Hrsg.): Krieg im Kosovo, S. 63–81. – Gunter Hofmann: Wie Deutschland in den Krieg geriet, in: Die Zeit, 12. 5. 1999, S. 17–20. – und Andreas Platthaus: Farbbücher. Offenheit in Kriegszeiten: Die Akten der deutschen Kosovo-Politik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. 5. 1999, S. 44.

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kosovoalbanische Seite das „Vorläufige Abkommen für Frieden und Selbstverwaltung im Kosovo“ 68 unterzeichnete, die serbische jedoch die Unterschrift verweigerte, beschloss die NATO ihre Luftkriegsdrohung aus dem Vorjahr wahrzumachen. Zu diesem Zweck war der Rückzug der auf rund 1400 Mitglieder angewachsenen OSZE-Verifizierungsmission erforderlich, der am 19. und 20. März 1999 erfolgte. Am 22. März wurde Holbrooke zu einem letzten Gespräch mit Präsident Miloševi´c nach Belgrad geschickt, das indes kein Ergebnis erbrachte. Die Holbrooke-Miloševi´c-Absprache vom 2. Oktober war damit hinfällig. Entsprechend ordnete die NATO am 23. März für den Folgetag ihre beschränkte Luftkriegsoperation in Form einer Luftkriegsphasenkampagne (Operation „Allied Force“) an, wie sie seit dem 24. September 1998 mit dem Ziel der Umsetzung der UN-Sicherheitsratsresolution 1199 angedroht worden war und jetzt um die Forderung nach Annahme des Rambouillet-Vertrages erweitert wurde. 69 Zeitgleich erhöhten Armee, Sicherheitspolizei und paramilitärische Formationen im Kosovo das Tempo von Austreibung und Tötung der albanischen Bevölkerungsmehrheit. 70 Die Prävention des Konflikts war gescheitert.

Negativbilanz präventiver Diplomatie War die Erfahrung diplomatischer Konfliktprävention während des Zerfalls Jugoslawiens 1991–1992 entmutigend, so ist sie im Falle des Kosovo-Konflikts niederschmetternd: Die frühzeitig unternommenen, aber zaghaften Versuche, eine Eskalation zu verhindern, blieben ebenso erfolglos wie die verspäteten und nur graduell energischeren Bemühungen, während der „heißen Phase“ die Eskalationsspirale hinter die Gewaltschwelle zurückzudrehen. Die Folgen der verpassten Verhütung des Kosovo-Konflikts tragen seitdem die Kosovoalbaner, von denen von Dezember 1998 bis Mitte Mai 1999 nach ersten Schätzungen rund 30.000 getötet 71 mehr als rund 960.000 über die Staatsgrenzen hinweg vertrieben und etwa 550.000 intern disloziert worden sind 72, desgleichen die anderen Bürger der jugoslawischen Teilrepublik Serbien, von denen bis zu tausend im Zuge der NATO-Bombardements ums Leben

68 Interim Agreement on Peace and Self-Government in Kosovo, 23 February 1999, in: Weller (ed.): Crisis in Kosovo, S. 453–469. Zu einer deutschen Übersetzung vgl. Vorläufiges Abkommen für Frieden und Selbstverwaltung im Kosovo, Rambouillet, 23. Februar 1999 (Auszüge), in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 5/1999, S. 611–630. 69 Press Statement by Dr. Javier Solana, Secretary General of NATO, Press Release (1999)040, 23 March 1999, in: Weller (ed.): Crisis in Kosovo, S. 495. 70 Mark Danner: Endgame in Kosovo, in: New York Review of Books, 8/1999, S. 8–11. 71 Matthias Rüb: 30 000 Albaner getötet. Männer vermißt. Bericht der Gesellschaft für bedrohte Völker, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. 6. 1999, S. 7. 72 Genozid im Kosovo. Eine Dokumentation der Gesellschaft für bedrohte Völker. Göttingen (Juni) 1999. – Matthias Rüb: Soll das Kosovo „ethnisch besenrein“ werden?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. 5. 1999, S. 6.

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gekommen sind, darunter 114 Sonderpolizisten und 462 Soldaten, 73 sowie – last but not least – die Staatengemeinschaft, die zwar bis Ende Mai keine Todesopfer, jedoch einen gravierenden Vertrauensverlust bezüglich ihrer Fähigkeit zu vorausblickender Präventivdiplomatie, friedlicher Konfliktbearbeitung und entschlossenem Krisenmanagement zu verzeichnen hatte. Wie im Falle des Krieges in Bosnien und Herzegowina der Jahre 1992–1995 hinkte auch im 1989 eskalierenden Konflikt um Kosovo sowie im 1998 ausgebrochenen Kosovo-Krieg die aufgrund divergierender nationaler Interessen nur sehr schleppend erfolgende Willensbildung der internationalen Gemeinschaft dem Konflikt- und Kriegsverlauf hinterher. Im Unterschied zum bosnisch-herzegowinischen Fall aber kam es nicht zu einem mehrjährigen „Triumph des fehlenden Willens“ (James Gow 74), sondern „lediglich“ zu einer um rund ein Jahr verspäteten Willensbildung. Erst als die Kontaktgruppe dreizehn Monate nach dem Drenica-Massaker mit ihrem serbische und albanische Interessen ausbalancierenden Rambouillet-Plan in Belgrad auf Granit biss, stimmten die 19 NATO-Mitgliedstaaten für die militärische Option. Und erst seit der dadurch beschleunigten Austreibung der Kosovo-Albaner durch das Belgrader Regime kam die Staatengemeinschaft von ihrer Festlegung auf die Unveränderbarkeit der Grenzen Rumpf-Jugoslawiens ab. Bezüglich des künftigen Status der Provinz werden seitdem neben der Autonomie innerhalb der Teilrepublik Serbien die Idee eines internationalen Protektorates, wie sie die kosovoalbanische Führung schon seit 1991 als Vorstufe zur Eigenstaatlichkeit gefordert hatte, desgleichen die Vorstellung einer Teilung der Provinz sowie eben die staatliche Unabhängigkeit ventiliert. 75 Das Festhalten der Staatengemeinschaft an den „Prinzipien der Souveränität und territorialen Integrität der Bundesrepublik Jugoslawien“, wie in der Resolution der G-8-Außenminister vom 6. Mai 1999 und in der UN-Resolution 1244 vom 10. Juni geschehen, ist daher bestenfalls temporär, wenn nicht gar bloße Rhetorik. 76 Die ausschließliche Festlegung auf den Verbleib des Kosovo innerhalb Serbiens, wie sie die Staatengemeinschaft 1991 vorgenommen hat, war zweifelsohne einer der Fehler, welche die präventiv-diplomatischen Bemühungen am stärksten behindert haben. Denn ein Offenlassen dieser Frage hätte gegenüber Belgrad als Druckmittel bezüglich kooperativen Verhaltens, gegenüber den Kosovoalbanern als Anreiz dazu gewirkt. Zugleich ist aber auch zu fragen, ob die vorrangige Behandlung eben der

73 Milosevic: Unser Militär hat der Welt gezeigt, wie man seine Nation verteidigen soll, in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. 6. 1999, S. 2. 74 James Gow: Triumph of the Lack of Will: International Diplomacy and the Yugoslav War. London 1997. 75 Zu den Optionen „1974 (Plus)“, „Kosova Republika“, „Balkania“, Teilung und Regionalisierung vgl. Troebst: Conflict in Kosovo, S. 12–15. 76 Resolution 1244 (1999) Adopted by the UN-Security Council at its 4011th meeting on 10 June 1999. Annex 1; Annex 2, pt. 5 (https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/N99/172/89/PDF/ N9917289.pdf?OpenElement, letzter Zugriff: 04. 10. 2016).

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Statusfrage nicht an sich schon ein Missgriff gewesen ist, ob dieser Problemkomplex nicht besser an das Ende statt an den Anfang der Agenda aus dem Weg zu räumender Stolpersteine zu setzen gewesen wäre. Das Bemühen um eine Verbesserung der katastrophalen Menschenrechtssituation im Kosovo oder die Stabilisierung der seit 1996 zum Zerreißen gespannten Sicherheitslage wären solche vordringlich zu lösenden Probleme gewesen. Aber auch in der konkreten Konfliktbearbeitung wurden Fehler gemacht. Die problematische Fokussierung erster Vermittlungsbemühungen von 1992 auf den notorisch konfliktträchtigen und daher keinen raschen Durchbruch versprechenden Bildungsbereich wurde bereits genannt. Hinzuzusetzen sind die ohne Not erfolgte ständige Beteuerung der territorialen Integrität der Bundesrepublik Jugoslawien sowie die Etikettierung des bewaffneten Widerstandes im Kosovo als „Terrorismus“. Nicht zuletzt aufgrund des negativen Synergieeffektes dieser beiden letztgenannten Fehler konnte das Regime in Belgrad relativ sicher sein, dass die als militärische Operationen gegen die UCK porträtierten Rachemassaker in der Drenica-Region im Frühjahr 1998 keine entschlossenen Gegenreaktionen der Staatengemeinschaft auslösen würden. Und auch das zögerliche Taktieren von Kontaktgruppe, EU, NATO und den USA nach diesem Auftakt leistete dem Vorgehen von Armee und Sicherheitspolizei gegen die kosovoalbanische Zivilbevölkerung während der ersten Kriegsrunde vom Frühjahr bis zum Spätsommer 1998 Vorschub. Ähnliches traf für die zweite Kriegsrunde von 1999 mit ihren groß angelegten Austreibungs- und Vernichtungsaktionen zu: Die erneut ohne zwingenden Grund getroffene Festlegung der NATO auf Verzicht des Einsatzes von Bodenkampftruppen bot zum einen der Armee Jugoslawiens die Möglichkeit, auf ihre traditionelle Militärdoktrin des Eingrabens und Abwartens zurückzugreifen, und gewährte zum anderen der Sicherheitspolizei und ihren paramilitärischen Verstärkungen die Möglichkeit, das Austreibungstempo drastisch zu steigern. Die gravierende Fehleinschätzung des Gegners durch die NATO 77 wird auch am Festhalten des „bosnischen“ Konzepts der auf militärische Ziele „begrenzten Luftschläge“ (limited air strikes) in Form einer zunächst nadelstichartigen und in ihrer Intensität nur sehr langsam gesteigerten „Phasenluftkampagne“ (phased air campaign) deutlich. Dadurch erhielten Armee und Sonderpolizei im Kosovo genügend Zeit für die Massenaustreibungen. Neben diesen offenkundigen Fehlleistungen liegen auch die Lehren aus Konflikt und Krieg im Kosovo für künftiges präventives Handeln der Staatengemeinschaft offen zutage: – Frühwarnung ohne umgehendes Handeln ist wirkungslos, führt doch ein Intervall von zehn Jahren zwischen Alarm und Aktion, wie im Falle Kosovo, bei den Konfliktparteien in der Regel zu irreversiblen Frontverhärtungen. 77 Timothy Garton Ash: Kosovo and Beyond, in: The New York Review of Books, 24. 6. 1999, S. 4–7, hier S. 7. – Vgl. dazu Vamık D. Volkan: Das Versagen der Diplomatie. Zur Psychoanalyse nationaler, ethnischer und religiöser Konflikte. Gießen 1999, S. 95–96. – S. auch ebd., S. 84–95, eine Beschreibung des „gewählten Traumas“ (chosen trauma) des serbischen Nationalismus bezüglich Kosovo sowie dessen Reaktivierung 1989.

Chronologie einer gescheiterten Prävention

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– Gewaltfreiheit als Modus zur Austragung territorialer und interethnischer Konflikte darf seitens der internationalen Gemeinschaft nicht durch Passivität gleichsam bestraft werden, sondern ist im Gegenteil durch verstärkte Präventivdiplomatie und Konfliktbearbeitung, im Falle systematischer Menschenrechtsverletzungen auch durch präventive militärische Intervention zu honorieren. – Das Wortspiel von den interblocking institutions an Stelle von interlocking institutions hat weiterhin seine traurige Berechtigung. Selbst hoch angebundene Koordinierungsinstanzen wie die Kontaktgruppe sind zur Formulierung und Umsetzung einer kohärenten Politik und damit zur Überwindung der Differenzen zwischen „Russen“, „Europäern“ und „Amerikanern“ nur ausnahmsweise in der Lage. – Seit dem Ende weltpolitischer Bipolarität sind staatliche Souveränität und Integrität der Grenzen nicht länger sakrosankte Kategorien internationaler Rechtsordnung, sondern können durch systematische Verletzung der Menschenrechte eingeschränkt, gar verwirkt werden.

Ausblick Um Vorhersagen darüber zu machen, wie der Kosovo-Knoten zu lösen sei, muss man Tim Judah zufolge „entweder ein Lügner oder ein Dummkopf“ sein. 78 Dennoch stehen schon jetzt drei Punkte fest: – Ein gewaltfreies multiethnisches Zusammenleben unter Einschluss von Albanern und Serben ist im Kosovo künftig nicht vorstellbar, wie es dergleichen auch zuvor nicht gegeben hat. Denn anders als im Falle Bosniens hat diese Region im „kurzen“ 20. Jahrhundert keine einzige Phase interethnischer Entspannung gekannt. Vielmehr herrscht seit 1913 durchgängig ethnopolitische Hochspannung, die während der häufigen Perioden von Krieg, Besatzung und Fremdherrschaft in völliger Entgrenzung der Kombattanten auf serbischer wie albanischer Seite in Massakern, Austreibungen und verbrannter Erde resultierte. – Die aus dem Kosovo nach Albanien, Makedonien, Montenegro und anderswohin vertriebenen Albaner können nur unter drei Bedingungen auf Dauer in ihre Heimat zurückkehren: Erstens: Die Staatengemeinschaft muss umfassende und nachhaltige Sicherheit auf dem gesamten Territorium der Provinz und entlang ihrer Grenzen gewährleisten. Zweitens: Dieser Rückkehrprozess muss von massivem internationalem finanziellem Engagement zum Wiederaufbau der zerstörten Region begleitet sein. Drittens: Mittelfristig muss die Perspektive einer Änderung des staatsrechtlichen Status des Gebiets offenstehen. – Die Stationierung einer internationalen Friedenstruppe und die Rückkehr der Kosovo-Albaner haben eine umfassende Migration der Kosovo-Serben und der übrigen Serben im Kosovo ins engere Serbien zur Folge. Zu groß sind das Bewusstsein der eigenen Schuld sowie die Angst vor der Rache der Rückkehrer. Dieser Exodus 78 Judah: Inside the KLA, S. 22.

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wird vermutlich von der Auswanderung von Teilen regimenaher Minderheiten wie Türken, Montenegriner, Roma, Ägypter, Gora-Muslimen u. a. begleitet sein. Der Kosovo-Krieg war und ist eine Katastrophe für alle, die von ihm unmittelbar betroffen sind. Sein seit langem prognostizierter Ausbruch war zugleich eine verheerende Niederlage für diejenigen multilateralen Organisationen, die sich die Prävention von Konflikten auf ihre Fahnen geschrieben haben. Das gesamte Konzept der Konfliktprävention, so die Lehre aus dem Kosovo-Krieg, ist neu zu überdenken: Künftig muss Prävention früher, massiver, energischer, koordinierter und mit wesentlich größerem finanziellem, nötigenfalls auch militärischem Aufwand erfolgen. Der Vorwurf des Alarmismus, des Übereifers, der Ressourcenvergeudung und der Instrumentalisierung durch Konfliktparteien ist dabei zum einen in Kauf zu nehmen, zum anderen muss ihm durch professionelle Öffentlichkeitsarbeit vorgebaut werden. Konfliktprävention „im Stillen“, so die Lehre des Kosovo-Kriegs, erfüllt ab einer bestimmten Eskalationsstufe ihren Zweck nicht. Vielmehr muss „pro-aktive“ Konfliktprävention als innovatives Instrument internationaler Politik neuerlich erheblich gestärkt sowie umgehend ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit gerückt werden.

Vergangenheitsbewältigung auf Bulgarisch Zum Umgang mit den Akten der ehemaligen Staatssicherheit und zur strafrechtlichen Verfolgung kommunistischer Staatsverbrechen

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„Stojo Petkanow, Sie werden vor dem Obersten Gericht dieses Landes der folgenden Vergehen angeklagt. Erstens, Betrug in Verbindung mit offiziellen Dokumenten, gemäß Artikel 127 (3) des Strafgesetzbuches. Zweitens, Amtsmißbrauch in Ihrer offiziellen Funktion, gemäß Artikel 212 (4) des Strafgesetzbuches. Und drittens . . . “ [„Massenmord.“ „Völkermord.“ „Zerstörung des Landes.“] „. . . Mißwirtschaft gemäß Artikel 332 (8) des Strafgesetzbuches.“ [„Mißwirtschaft!“ „Mißwirtschaft der Gefangenenlager.“ „Er hat die Leute nicht angemessen gefoltert.“ „Scheiße, Scheiße.“] 1

Zum politischen und juristischen Umgang mit dem Erbe des kommunistischen Regimes im Nach-„Wende“-Bulgarien vorab einige autobiographische Bemerkungen: Im Zeitraum 1974 bis 1989 war ich mehrfach – circa 20 Mal – in der Volksrepublik Bulgarien, darunter im akademischen Jahr 1976/1977 als Stipendiat des (West-)Deutschen Akademischen Austauschdienstes an der Historischen Fakultät der KlimentOhridski-Universität Sofia. Den zum Teil deutlichen Anzeichen einer Überwachung durch das Komitee für Staatssicherheit im Innenministerium der Volksrepublik Bulgarien habe ich seinerzeit keine besondere Bedeutung beigemessen. Vorgeladen und befragt, zugeführt und verhört, ausgewiesen oder gar inhaftiert wurde ich nie. 2 Al1

2

Julian Barnes: Das Stachelschwein. Aus dem Englischen von Stefan Howald und Ingrid HeinrichJost. Zürich 1992, S. 40. – Die Figur von „Stojo Petkanow“ steht bei Barnes für den langjährigen bulgarischen Partei- und Staatschef Todor Živkov. Noch vor dem Erscheinen des englischen Originals (The Porcupine. London 1992) wurde eine bulgarische Übersetzung veröffentlicht: Džulian Barnes: Bodlivo svinˇce. Sofia 1992. Vgl. dazu „Antib˘algarskata dejnost“ na edin zapadnogermanec. Intervju s˘as Štefan Tr’obst [Die „antibulgarische Tätigkeit“ eines Westdeutschen. Interview mit Stefan Troebst]. In: Deutsche Welle. Bulgarisches Programm, 6. Januar 2016, URL: http://www.dw.com/bg/антибългарската-дейностна-един-западногерманец/a-18962749, letzter Zugriff: 04. 10. 2016, sowie die deutsche Kurzfassung: Freiwillig in Bulgarien? Er muss ein Spion sein. Interview mit dem deutschen Historiker Stefan Troebst. In: Deutsche Welle vom 19. Januar 2016, URL: http://www.dw.com/de/freiwillig-in-bulgarien-er-muss-spion-sein/a-18988825, letzter Zugriff: 04. 10. 2016.

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lerdings konnte ich 1993 meiner vom Ministerium für Staatsicherheit der DDR angelegten Akte entnehmen, dass das MfS in den Jahren 1979 bis 1986 mit seinem bulgarischen Pendant in regelmäßigem Austausch über mich stand. Dies deshalb, weil man in Sofia gegen mich den Verdacht auf „antibulgarische Tätigkeit und antibulgarische wissenschaftliche und andere Publikationen“ hegte. 3 Im März 1997 erließ die bulgarische Nationalversammlung nach langem parlamentarischem Streit ein „Gesetz über den Zugang zu den Dokumenten der ehemaligen Staatssicherheit und der ehemaligen Spionageabteilung des Generalstabs“, das mehrmals geändert wurde. 4 Aus diesem Grund habe ich im Februar 2000 den bulgarischen Botschafter in Deutschland brieflich gebeten, den in Sofia zuständigen Stellen meinen Wunsch auf Einsicht in meine bulgarische Staatssicherheitsakte zu übermitteln 5. Eine Antwort auf meinen Brief erhielt ich nicht, sondern stattdessen eine E-Mail des mir flüchtig bekannten Bruders (!) des Botschafters: I wanted to write you a message [. . . ] about your request from my brother [. . . ]. The things stand like this: my brother does not like at all those people from the security services since his student years. [. . . ] [H]e is unwilling to do anything related to the security services. I would suggest to you to contact for the information that you need Krassimir Karakachanov. I think he would be more in a position to help you. 6

3

4

5

6

Diese Formulierung findet sich in der Anlage „MdI der VRB [Ministerium des Innern der Volksrepublik Bulgarien], Übersetzung aus dem Russischen. STRENG GEHEIM!“ zu einem Brief von Generalmajor Willi Damm an Generaloberst Mischa Wolf, Berlin, 5. Februar 1986 (X /1273/86 – Re) in Antwort auf ein Schreiben der Hauptverwaltung Aufklärung IX des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR vom 12. Dezember 1985 (207 – bö/2512/85) bezüglich „Überprüfung der Sicherheitsorgane der VRB von TROEBST, Stefan“ (BStU ZA, MfS-Abt. X, Nr. 579, Bll. 279 und 280). In dieser Anlage heißt es: „Seit Juli 1985 hat Troebst ein auf 5 Jahre befristetes Einreiseverbot für die VRB wegen antibulgarischer Tätigkeit und antibulgarischer wissenschaftlicher und anderer Publikationen“. (Das Einreiseverbot wurde im Mai 1986 auf Intervention des damaligen Ministers für Volksbildung Ilˇco Dimitrov aufgehoben.) – Zur Kooperation des MfS mit seinem bulgarischen Gegenüber vgl. Christopher Nehring: Die Zusammenarbeit der bulgarischen Staatssicherheit mit dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR. In: Konrad Adenauer Stiftung. Auslandsbüro Bulgarien (Hrsg.): Texte zum Kommunismus in Bulgarien, 18. Februar 2013, URL:http://www.kas.de/bulgarien/de/publications/33548/, letzter Zugriff: 04. 10. 2016; und Christian Domnitz: Kooperation und Kontrolle. Die Arbeit der Stasi-Operativgruppen im sozialistischen Ausland. Göttingen 2016, hier Kapitel 3, Die Operativgruppe in Bulgarien, S. 87–115. Zakon za dost˘ap do dokumentite na bivšata D˘aržavna sigurnost i bivšeto razuznavatelno upravlenie na Generalnija štab [Gesetz über den Zugang zu den Dokumenten der ehemaligen Staatssicherheit und der ehemaligen Spionageabteilung des Generalstabs]. In: D˘aržaven vestnik [Staatsanzeiger] Nr. 24 vom 13. März 2001. – Zu den Wirkungen des Gesetzes vgl. Heinz Brahm: Bulgariens Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit. In: Gernot Erler /Johanna Deimel (Hrsg.): Bulgarien – Ein Jahr nach dem Regierungswechsel. München 1998, S. 103–116. Brief von Stefan Troebst an Botschafter Nikolaj Apostolov, Leipzig, 14. Februar 2000, S. 2. In: Archiv S. Troebst; Nachfrage in Brief von Stefan Troebst an Botschafter Nikolaj Apostolov, Leipzig, 23. März 2000. In: ebd. E-Mail von Dr. Mario Apostolov an Stefan Troebst, 30. Mai 2000, 14:54 Uhr (Betreff: „Flensburg et al.“) (Archiv S. Troebst). – Der bulgarische Historiker Krasimir Karakaˇcanov hat 1990 die Partei „Innere Makedonische Revolutionäre Organisation“ gegründet – so benannt nach einer zunächst antiosmanischen, dann anti-jugoslawischen terroristischen Organisation der Jahre 1893–1934/46 –, der

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Eine ebenso merkwürdige, aber für die damalige Zeit bezeichnende Antwort: Das Thema war zum einen politisch heikel und zum anderen gab es ungeachtet des genannten Gesetzes keine klaren Regelungen zum Aktenzugang, schon gar nicht für Ausländer. Ich habe daraufhin im Juni 2000 die Deutsche Botschaft Sofia gebeten, den zuständigen bulgarischen Stellen meinen dringlichen Wunsch nach Einsichtnahme in meine Akte [. . . ] zu übermitteln und auf eine amtliche schriftliche Reaktion zu drängen. 7

Eine Antwort habe ich auch darauf nicht erhalten. 2002 hob dann eine neue Regierung unter Simeon Sakskoburggotski, 1943 bis 1946 als Simeon II. von SachsenCoburg-Gotha auf dem bulgarischen Thron, das Gesetz von 1997, das noch 2001 vom Verfassungsgericht bestätigt worden war, ersatzlos auf. Die Folge war, dass in den Jahren 2002 bis 2006 keinerlei Zugangsmöglichkeiten zu den Staatssicherheitsakten bestanden. 8 Im Frühjahr 2007 habe ich dann einen neuen Anlauf unternommen, da zum einen das bulgarische Parlament am 6. Dezember 2006, also wenige Wochen vor dem EU-Beitritt des Landes am 1. Januar 2007, ein neues „Gesetz über den Zugang zu den Unterlagen der bulgarischen Staatssicherheit und der Nachrichtendienste der Bulgarischen Volksarmee, über die Aufdeckung dieser Unterlagen und über die Veröffentlichung der Zugehörigkeit von bulgarischen Bürgern zur bulgarischen Staatssicherheit und zu den Nachrichtendiensten der Bulgarischen Volksarmee“ erlassen hatte. 9 Zum anderen aber teilte im April 2007 der vormalige Generalsekretär des Komitees für Staatssicherheit und seinerzeit Mitglied des Parteirates der regierenden Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP), Oberst a. D. Cvjatko Cvetkov, bulgarischen Medien mit, er sei im Zeitraum 1979 bis 1985 für meine Überwachung zuständig gewesen und habe eine umfangreiche Akte über mich angelegt. 10 Daraufhin habe ich mich unter Verweis auf diese Pressemeldungen bei der bulgarischen Botschafterin in Berlin im Mai 2007 brieflich danach erkundigt, ob es eine gesetzliche Regelung für den Zugang von Bürgern der Europäischen Union zu den Akten des KDS im MVR [Komitee für Staatssicherheit im Ministerium für innere An-

er bis heute vorsitzt und die de facto für den Anschluss der Republik Makedonien an das EU-Land Bulgarien optiert. Er ist Abgeordneter der bulgarischen Nationalversammlung und hat 2011 für den Posten des Staatspräsidenten kandidiert. 2005 wurde er vom bulgarischen Innenministerium als Informant „Ivan“ des Komitees für Staatssicherheit geoutet. 7 Brief von Stefan Troebst an die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Sofia, Leipzig, 13. Juni 2000, S. 1. In: Archiv S. Troebst. 8 Vgl. Klaus Schrameyer: Politiker im Dienst der Dienste. Das bulgarische Gesetz über die Stasi-Unterlagen. In: Europäische Rundschau 36 (2008), H. 2, S. 85–104, hier S. 86. 9 Zu einer deutschen Übersetzung des Gesetzes vgl. Klaus Schrameyer: Bulgarien: Das Gesetz über die Unterlagen der Staatssicherheit vom 6. Dezember 2006. In: Jahrbuch für Ostrecht 49 (2008), S. 169– 197, hier S. 182–197. 10 DS razrabotvala nemskija r˘akovoditel na „Bataškija proekt“ [Die Staatssicherheit hat den deutschen Leiter des „Batak-Projektes“ überwacht]. In: mediapool.bg vom 26. April 2007, URL: http://www. mediapool.bg/ds-razrabotvala-nemskiya-rakovoditel-na-batashkiya-proekt-news128163.html, letzter Zugriff: 04. 10. 2016.

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gelegenheiten] gibt und – falls ja – wie diese aussieht bzw. ob im Zuge des mittlerweile erfolgten EU-Beitritts der Republik Bulgarien in Bälde eine solche gesetzliche Regelung zu erwarten ist. 11

Auch darauf blieb eine Antwort aus. Immerhin wurde mir von der Behörde der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU) auf Anfrage ebenfalls im Mai 2007 mitgeteilt: Der BStU ist kein Fall bekannt, bei dem ein deutscher Staatsbürger Akteneinsicht in Sofia erhalten hätte. Die Kontaktversuche der BStU zur Partnerinstitution in Sofia sind leider bislang nicht wirklich erfolgreich. Es gab einen Besuch der Bulgaren vor rund 2 Jahren. Unsere Nachfragen vom Ende 2006 wg. der geränderten Gesetzeslage sind aber bislang nicht beantwortet worden. 12

Erneut habe ich die Sache ruhen lassen, bis ich im Juni 2013 Gelegenheit hatte, anlässlich einer Studienreise der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur nach Bulgarien dem Leiter der 2007 gegründeten neuen bulgarischen Behörde für die Unterlagen der dortigen Staatssicherheit einen Antrag auf Akteneinsicht persönlich zu überreichen. 13 Diese Behörde trägt die überlange Bezeichnung „Kommission der Republik Bulgarien zur Offenlegung der Dokumente und zur Bekanntmachung der Zugehörigkeit bulgarischer Staatsbürger zur Staatssicherheit und zu den Spionagediensten der Bulgarischen Volksarmee“. 14 Da ihre bulgarische Abkürzung aus nicht weniger als 14 Buchstaben – KRDOPBGDSRSBNA – besteht, hat sie sich selbst die Kurzbezeichnung KOMDOS (Komisija za dosietata = Kommission für die Akten) gegeben. So praktisch diese Selbstbezeichnung ist, so pragmatisch handelte auch der Kommissionsvorsitzende Emil Kostadinov: Ungefähr 15 Minuten, nachdem ich ihm meinen Antrag in die Hand gedrückt hatte, legte er mir meine Akte mit der durchaus passenden Vorgangsbezeichnung „Makedonec“ (Makedonier 15) im Original vor.

11 Brief von Stefan Troebst an Botschafterin Dr. Meglena Plugˇcieva, Berlin 24. Mai 2007, S. 2. In: Archiv S. Troebst. 12 E-Mail der Fachbereichsleiterin Politische Bildung bei der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, Dr. Gabriele Camphausen, an Stefan Troebst, 9. Mai 2007, 10:07 Uhr (Betreff „Bulgarien“). In: ebd. 13 Vgl. ein entsprechendes Foto der Übergabe bei Christo Christov: Za kakvo se interesuvat germancite of archivite na D˘aržavna sigurnost [Wofür sich die Deutschen in den Archiven der Staatssicherheit interessieren]. In: D˘aržavna sigurnost.com vom 13. Juni 2013, URL:http://desebg.com/ 2011-01-06-11-45-23/1298-2013-06-28-13-58-12, letzter Zugriff: 04. 10. 2016. 14 Vgl. dazu die (englischsprachige) Website der Kommission (URL: http://www.comdos.bg/p/language/en/, letzter Zugriff: 04. 10. 2016) sowie die Übersicht: Die Kommission zur Offenlegung der Dokumente und der Zugehörigkeit bulgarischer Bürger zur Staatssicherheit und zu den Nachrichtendiensten der Bulgarischen Volksarmee. Bulgarien. In: BStU (Hrsg.): Das „Europäische Netzwerk der für die Geheimpolizeiakten zuständigen Behörden“. Ein Reader zu ihren gesetzlichen Grundlagen, Strukturen und Aufgaben.. Berlin 2010, S. 6–17, URL: https://www.bstu.bund.de/DE/BundesbeauftragterUndBehoerde/AufarbeitungImAusland/Download%20Reader.pdf?__blob=publicationFile, letzter Zugriff: 04. 10. 2016. 15 Ich habe von 1977 bis 1989 versucht, Zugang zu den Beständen bulgarischer Archive zu den im Zeitraum 1918 bis 1946 in Bulgarien tätigen legalen wie halblegalen makedonischen Organisationen zu

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Ich habe die 700 Seiten dann im Verlaufe mehrere Tage gelesen und anschließend in gescannter Form auf einer CD erworben. Mein Fall ist in gewisser Weise symptomatisch für den Umgang im Nach-„Wende“-Bulgarien mit der papierenen Hinterlassenschaft der Parteidiktatur der Jahre 1944 bis 1989, vor allem mit den Akten der Staatssicherheit: Vor dem 1. Januar 2007, dem EU-Beitritt des Landes, haben die meisten der in rascher Folge wechselnden Regierungen den Zugang zu diesen nach Möglichkeit versperrt oder zumindest erschwert – auch über deren vollständige Vernichtung hat die bulgarische Nationalversammlung mehrfach debattiert –, doch seitdem haben sämtliche Bürger Bulgariens, der EU und anderer Staaten ungehinderte Akteneinsicht, und zwar in die Originalakte, also nicht wie bei der BStU in die Kopie einer teilweise geschwärzten Kopie. 16 Der erstaunliche bulgarische Sinnes- und Politikwandel von 2007 in Sachen Staatssicherheitsakten geht natürlich auf eine Brüsseler Bedingung im Kontext des EU-Beitritts zurück, an deren Zustandekommen die seinerzeitige grüne Europaabgeordnete Gisela Kallenbach aus Leipzig beträchtlichen Anteil hatte. So professionell die Kommission also in einem politisch schwierigen und weiterhin korrupten Umfeld agiert und etliche Erfolge in Form erzwungener Rücktritte von Politikern, die vormals Staatssicherheitsmitarbeiter waren, aufweisen kann, so bescheiden sind doch weiterhin die Möglichkeiten einer strafrechtlichen Verfolgung von kriminellen Taten durch das Personal des Komitees für Staatssicherheit. 17 Dies

bekommen – mit höchst bescheidenem Erfolg. Vgl. dazu Stefan Troebst: Mussolini, Makedonien und die Mächte 1922–1930. Die „Innere Makedonische Revolutionäre Organisation“ in der Südosteuropapolitik des faschistischen Italien. Köln, Wien 1987, S. XVI, 533 f. 16 Was nicht heißt, dass nicht auch nach 2007 bulgarische Regierungen, Ministerien und andere Behörden versucht haben, Einfluss auf KOMDOS zu nehmen. Vgl. Martin Woker: Bulgariens Mühen mit der Vergangenheit. Nur zögerliche Öffnung der Archive aus der kommunistischen Zeit. In: Neue Zürcher Zeitung vom 31. Oktober 2007, URL: http://www.nzz.ch/bulgariens-muehen-mit-dervergangenheit-1.576686,letzter Zugriff: 04. 10. 2016; Vanya Eftimova: „Welcher normale Mensch interessiert sich noch für die Geheimdienstakten“. In: Wirtschaftsblatt [Sofia] Nr. 11 vom November 2007, S. 6 (Beim Titel dieses Aufsatzes handelt es sich um ein Zitat des postkommunistischen Ministerpräsidenten Sergej Stanišev); Diljina Lambreva: Geheimdienstakten und verfehlte Vergangenheitspolitik in Bulgarien. In: Südosteuropa-Mitteilungen 2007, H. 5–6, S. 71–85; Björn OpferKlinger: Die bulgarische Staatssicherheit vom Kalten Krieg bis zur gescheiterten Vergangenheitsbewältigung. In: Halbjahresschrift für südosteuropäische Geschichte, Literatur und Politik 22 (2010), H. 1–2, S. 90–111, hier S. 109–110; Maria Dermendzhieva: Die Akten der Staatssicherheit in Bulgarien und die Folgen ihrer verspäteten Öffnung. In: Südosteuropa-Mitteilungen 51 (2011), H. 5– 6, S. 73–80 sowie Christopher Nehring: Von Dossiers, Kommissionen und hochrangigen Agenten. Das Erbe der bulgarischen Staatssicherheit 1989–2015. In: Halbjahresschrift für südosteuropäische Geschichte, Literatur und Politik 27 (2015), H. 1–2, S. 31–52. 17 Vgl. Momchil Metodiev: Bulgaria. In: Lavinia Stan (Hrsg.): Transitional Justice in Eastern Europe and the Former Soviet Union. Reckoning with the Communist Past. London /New York 2009, S. 152– 175; Ana Luleva: Transitional Justice and Memory Culture in Post-Socialist Bulgaria. In: Our Europe. Ethnography – Ethnology – Anthropology of Culture 2013, H. 2, S. 117–128, URL: http:// www.ptpn.poznan.pl/Wydawnictwo/czasopisma/our/OE-2013-117-128-Luleva.pdf, letzter Zugriff: 09. 10. 2016).

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gilt selbst für international so aufsehenerregende Verbrechen wie den berüchtigten Regenschirmmord an dem Schriftsteller Georgi Markov in seinem Londoner Exil oder den gleichartigen Mordanschlag auf den Exil-Journalisten Vladimir Kostov in Frankreich, beide verübt 1978. 18 Das liegt nicht zuletzt daran, dass die politische Klasse des Landes, die 1990 aus einem lediglich generationellen Elitenwechsel, keinem tatsächlichen hervorgegangen ist, eine informelle Mitarbeit bei der Staatssicherheit, desgleichen eine hauptamtliche, gar eine leitende, nicht als gravierendes Manko auffasst. 19 In dieser Hinsicht mag bezeichnend sein, dass das renommierte Sofioter Verlagshaus Ciela, das 2008 unter dem Titel Legitimitätsmaschine eine mustergültige Analyse über die Rolle der Staatssicherheit im kommunistischen Bulgarien aus der Feder des Zeithistorikers Momˇcil Metodiev veröffentlicht hatte 20, 2013 eine apologetische Kurze Geschichte der Staatssicherheit von 1907 bis 2013 eines als Historiker dilettierenden ehemaligen Hauptabteilungsleiters der Staatssicherheit publizierte. Darin wird die Staatssicherheit der Jahre 1949 bis 1989 als Bindeglied zwischen der politischen Polizei des Fürstentums bzw. später Königreiches Bulgarien vor 1944 und dem 1990 formierten Sicherheitsdienst des heutigen EU-Mitglieds Bulgarien, also als ganz „normaler“ sowie primär von patriotischen Motiven beseelter Nachrichtendienst, porträtiert. 21 Neben einem relativ kleinen Teil der Medien und der Öffentlichkeit bezieht nur der seit 2012 amtierende Staatspräsident Rosen Plevneliev klar Stellung in Sachen Vereinbarkeit früherer Staatssicherheitstätigkeit mit gegenwärtigen politischen und administrativen Funktionen. So hat er seit seinem Amtsantritt im Januar 2012 seine Unterschrift unter sämtlichen Ernennungsurkunden zum Botschafter für solche bulgarischen Diplomaten verweigert, die Offiziere oder Zuträger der Staatssicherheit gewesen waren. Im Gespräch mit der besagten Delegation der Bundesstiftung Aufarbeitung sagte Plevneliev im Sommer 2014:

18 Vgl. Christo Christov: D˘aržavnata sigurnost sreštu b˘algarskata emigracija [Die Staatssicherheit gegen die bulgarische Emigration]. Sofia 2000; Vladimir Kostov: The Bulgarian Umbrella. The Soviet Direction and Operations of the Bulgarian Secret Service in Europe. New York 1988. 19 Vgl. Iskra Baeva: How Post-1989 Bulgarian Society Perceives the Role of the State Security. In: Maria Todorova /Augusta Dimou /Stefan Troebst (Hrsg.): Remembering Communism. Private and Public Recollections of Lived Experience in Southeast Europe. Budapest /New York 2014, S. 367–383. 20 Momˇcil Metodiev: Mašina za legitimnost. Roljata na D˘aržavna sigurnost v komunistiˇceskata d˘aržava [Legitimitätsmaschine. Die Rolle der Staatssicherheit im kommunistischen Staat]. Sofija 2008. Vgl. auch ders.: Der bulgarische Staatssicherheitsdienst: Ursprung, Entwicklung, Vermächtnis. In: Konrad Adenauer Stiftung. Auslandsbüro Bulgarien (Hrsg.): Texte zum Kommunismus in Bulgarien, 3. Juni 2014, URL: http://www.kas.de/bulgarien/de/publications/38252/, letzter Zugriff: 04. 10. 2016. Zu einer umfassenden und aktuellen Bibliographie zu Personal, Struktur und Funktionsweise der bulgarischen Staatssicherheit vgl. ders./Marija Dermendžieva: D˘aržavna sigurnost – predimstvo po nasledstvo. Profesionalni biografii na vodešti oficeri [Staatssicherheit – ererbter Vorrang. Berufsbiographien der führenden Offiziere]. Sofia 2015, S. 933–999. 21 Vgl. Dimit˘ar Ivanov: Kratka istorija na D˘aržavna sigurnost 1907–2013 [Kurze Geschichte der Staatssicherheit 1907–2013]. Sofia 2013.

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In der einen Koalitionspartei der gegenwärtigen Regierung sind die Hälfte aller Minister ehemalige Mitarbeiter der Staatssicherheit. In der anderen Koalitionspartei sind es alle. 22

Rückendeckung erhielt er dabei überraschenderweise vom Verfassungsgericht, das im März 2012 eine Kehrwende weg von seiner bis dahin lustrationsfeindlichen Rechtsprechung vollzog und den Präsidenten bei seinen Bemühungen um eine Säuberung des diplomatischen Dienstes von ehemaligen Stasi-Spitzeln unterstützte. 23 Das Ministerium für auswärtige Angelegenheiten bildet damit die Ausnahme von der bulgarischen Regel. Aber auch die strafrechtliche Verfolgung von Angehörigen anderer Teile des kommunistischen Repressionsapparates, also der Justiz, der Miliz, der Armee, der „roten Barette“ – das sind Spezialtruppen des Innenministeriums – sowie der Verwaltungen der circa 50 Zwangsarbeits- und Umerziehungslager, durch die eine geschätzte Viertelmillion Menschen gegangen ist, ist defizitär. Relativ zügig nach der politischen „Wende“ von 1989 wurde immerhin die repressive Gesetzgebung aus der Stalinzeit aufgehoben. Dies betraf Enteignungen und Zwangsumsiedlungen, jedoch zunächst nicht die Willkürurteile des berüchtigten Volksgerichtshofs der Jahre 1944/1945 sowie die Opfer des kommunistischen Terrors in den ersten Tagen nach dem Einmarsch der Roten Armee am 9. September 1944. 24 Eher symbolischen Charakter trugen „De-Kommunisierungs-Gesetze“, so etwa das „Gesetz zur Erklärung des kommunistischen Regimes in Bulgariens als verbrecherisch“ vom Dezember 1992. 25 Ilija Trojanows aktueller Bestseller-Roman Macht und Widerstand liefert erschreckende Einblicke sowohl in die grausamen bulgarischen Lagerregime wie in das Ausbleiben bzw. Scheitern einer juristischen Aufarbeitung nach 1989. 26 Während die in den Lagern der Stalinzeit verübten Verbrechen nach bulgarischem Recht 1990 bereits verjährt waren, galt dies nicht für das, was im Frauen-Arbeitslager Skravena sowie in einem Steinbruch bei Loveˇc, in dem Männer Zwangsarbeit leisten mussten, geschah. Beide Lager waren von 1959 bis 1962 „in Betrieb“. Ebenfalls zu nennen sind das Gefangenenbergwerk Kucijan in Pernik sowie vor allem das große Arbeits-

22 Gespräch Staatspräsident Rosen Plevnelievs mit der Delegation der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur am 24. Juni 2013 in seinem Sofijoter Amtssitz. Eigene Mitschrift. In: Archiv S. Troebst. 23 Vgl. Klaus Schrameyer: Die Rechtssprechung des bulgarischen Verfassungsgerichts zum Stasi-Unterlagengesetzt. In: Osteuropa-Recht 58 (2012), H. 3, S. 54–66; ders.: Bulgariens Stasi-Diplomaten. In: Europäische Rundschau 39 (2011), H. 1, S. 93–109. 24 Vgl. dazu Iskra Baeva /Evgenija Kalinova /Nikolaj Poppetrov: Die kommunistische Ära im kollektiven Gedächtnis der Bulgaren. In: Stefan Troebst (Hrsg.): Postdiktatorische Geschichtskulturen im Süden und Osten Europas. Bestandsaufnahme und Forschungsperspektiven. Göttingen 2010, S. 405– 501, hier S. 422–426; Luleva: Transitional Justice, S. 119–122. 25 Vgl. Klaus Schrameyers: Das bulgarische Parlament erklärt das kommunistische Regime für verbrecherisch. In: Südosteuropa 49 (2000), S. 624–628. – In ebd., S. 626–628, findet sich eine deutsche Übersetzung des Gesetzes. 26 Vgl. Ilija Trojanow: Macht und Widerstand. Roman. Frankfurt a. M. 2015; auch ders.: Die fingierte Revolution. Bulgarien, eine exemplarische Geschichte. 2München 2006, S. 238–249 (Kapitel: Die Macht kommt aus den Dossiers).

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und Umerziehungslager Belene auf der Donau-Insel Persin, in dem von 1949 bis 1953 und von 1956 bis 1959 Zwangsarbeiter einsaßen und das 1984 wiedereröffnet wurde. 27 Ein ebenso paradigmatisches wie prominentes Beispiel strafrechtlicher Verfolgung à la bulgare ist der Fall des Parteichefs der Jahre 1954 bis 1989, Todor Živkov, der seit 1962 überdies Staatschef war. 28 Nachdem er am 10. November 1989 von seinen Politbürokollegen „mit Dank“ seiner Funktionen erhoben worden war, wurde er bereits im Januar 1990 wegen „Anstiftung zu Rassismus und zu nationaler Feindseligkeit“ – gemeint ist die gewaltsame Kampagne zur Namensänderung der bulgarischen Türken um 1984/1985 und die Repression des Protestes der Zwangsumbenannten 1989 – angeklagt und in Untersuchungshaft genommen. Zu einem Prozess kam es nicht, da das Oberste Gericht die Anklage wegen Unvollständigkeit nicht weniger als vier Mal an die Militärstaatsanwaltschaft zurückverwies, und dies, obwohl über 400 Zeugen benannt worden waren. Im Februar 1991 wurde Živkov dann wegen unberechtigter Vergabe von Wohnungen, Autos und Geld der Prozess gemacht, im Ergebnis dessen das Oberste Gericht ihn im September 1992 zu einer siebenjährigen Haftstrafe sowie zu einer hohen Geldstrafe verurteilte. Im Zuge der Revision wurde das Urteil zwar im Januar 1994 zunächst bestätigt, doch im Februar 1996 aufgehoben. In der Zwischenzeit waren weitere Prozesse gegen Živkov, etwa angesichts des Kollapses der bulgarischen Wirtschaft oder wegen seiner Mitschuld am Tod von Lagerhäftlingen, im Sande verlaufen. Insgesamt endete das juristische Vorgehen gegen Živkov, das maßgeblich seine weiterregierenden ehemaligen Kollegen im Politikbüro der Bulgarischen Kommunistischen Partei – die sich jetzt Bulgarische Sozialistische Partei nannte – orchestrierten, in einem Fiasko. Der Plan, Živkov die Hauptschuld, gar die Alleinschuld an systematischen Menschenrechtsverletzungen sowie an dem ökonomischen Desaster der Parteidiktatur zuzuschieben, scheiterte grandios. Der „Vandale aus Pravec“, wie ihn nicht nur die politische Opposition, sondern auch seine früheren Genossen unter Bezug auf seinen Geburtsort nannten, erwies sich zwar nicht als der gute Landesvater „Onkel Tošo“, zu dem er sich selbst stilisierte, aber doch als bauernschlauer

27 Vgl. zu Belene Ana Luleva: Commemorating the Communist Labour Camps: Is a New Memory Culture Possible? In: Ana Luleva /Ivanka Perova /Slavia Barlieva (Hrsg.): Contested Heritage and Identities in Post-Socialist Bulgaria. Sofia 2015, S. 60–89; Ivajlo Znepolski: Bez sleda? Lager˘at Belene 1949–1959 i sled tova . . . [Spurlos? Das Lager Belene 1949–1959 und danach]. Sofia 2009; Daniela Koleva: Belene – mjasto na pamet? Antropologiˇcna anketa [Belene – ein Erinnerungsort? Eine anthropologische Enquete]. Sofia 2010 (dort S. 28 Hinweise zur Memoirenliteratur); Tzvetan Todorov: Au nom du peuple. Témoignages sur les camps communiste [Im Namen des Volkes. Zeugnisse über die kommunistischen Lager]. La Tour-d’Aignes 1992 sowie Iskra Baeva /Stefan Troebst (Hrsg.): Vademecum Contemporary Bulgaria. A Guide to Archives, Research Institutions, Libraries, Associations, Museums and Sites of Memory. Berlin, Sofia 2007, S. 77. 28 Vgl. zum Folgenden Iskra Baeva /Evgenija Kalinova /Nikolaj Poppetrov: Die kommunistische Ära im kollektiven Gedächtnis der Bulgaren. In: Stefan Troebst (Hrsg.): Postdiktatorische Geschichtskulturen im Süden und Osten Europas. Bestandsaufnahme und Forschungsperspektiven. Göttingen 2010, S. 415–422.

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und dialektisch geschulter Angeklagter, als veritables „Stachelschwein“, so wie ihn der britische Erfolgsautor Julian Barnes in seinem sachkundigen Roman The Porcupine von 1992 porträtiert hat. 29 Denn Veruntreuung, Bereicherung und Bestechung waren Živkov nicht nachzuweisen. Vielmehr stellte sich heraus, dass er persönlich gänzlich mittellos, ja obdachlos war. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er daher in der Wohnung seiner Enkelin, wo er am 5. August 1998 starb – nicht ohne zuvor mehrere apologetische Memoirenbände veröffentlicht zu haben. Mit anderen Worten: Živkovs Image im heutigen Bulgarien ist, wenn nicht makellos, so doch überwiegend positiv. 30 Das Todor-Živkov-Museum neben seinem Geburtshaus in Pravec ist folglich heute nicht nur Weihestätte bulgarischer Altkommunisten, sondern Anziehungspunkt für in- und ausländische Touristen. In der dortigen Fotogalerie, die Živkov als Partner der Großen der Welt zeigt, nimmt Helmut Schmidt einen Ehrenplatz ein. Nicht zufällig erklärte Živkovs ehemaliger Leibwächter Bojko Borisov (2009–2013 und erneut seit 2014 Ministerpräsident Bulgariens) im November 2010 als Ministerpräsident im bulgarischen Fernsehen: Wenn wir nur ein Hundertstel dessen, was Todor Živkov für Bulgarien geschaffen und was er in diesen Jahren zustande gebracht hat, zustande bringen und das ökonomische Potential des damaligen Staates erreichen, wäre das ein gewaltiger Erfolg für jede Regierung. Die Tatsache, dass ihn 20 Jahre nach seinem Fall von der Macht niemand vergessen hat, belegt, dass viele Dinge erreicht worden sind. Seit 20 Jahren privatisieren wir lediglich das, was damals geschaffen wurde. 31

Damit ist das Bild, das viele Bulgaren, auch jüngere, von der 35-jährigen Ära Živkov haben, ziemlich präzise umrissen: Damals wurde, so diese Retrovision, ein rückständiges Agrarland in einen modernen Industrie- und Wohlfahrtsstaat transformiert – durch einen volksnahen und fürsorglichen älteren Herrn. Und analog zur ernüchternden Formel nach der Staatsgründung von 1878 „Ot Tursko po-lošo!“ [Schlimmer als unter den Türken!] war nach 1989, im Zuge der Erosion staatlicher Strukturen, der dramatischen Senkung von Renten, des Zerfall des Gesundheitssystems, der Schließung unwirtschaftlicher Großkombinate und der Aufteilung der halbwegs profitablen 29 Barnes: The Porcupine; ders.: Das Stachelschwein. 30 Vgl. kritisch zur retrospektiven Verklärung der bulgarischen Kommunismusvariante: Michail Gruev / Diana Miškova (Hrsg.): B˘algarskijat komuniz˘am. Debati i interpretacii [Der bulgarische Kommunismus. Debatten und Interpretationen]. Sofia 2013; Ana Luleva (Hrsg.): B˘algarskijat XX vek. Kolektivna pamet i nacionalna identiˇcnost [Das bulgarische 20. Jahrhundert. Kollektives Gedächtnis und nationale Identität]. Sofia 2013. – Zu einer kritischen Gesamtdarstellung der Geschichte der Volksrepublik Bulgarien vgl. Ivajlo Znepolski (Hrsg.): Istorija na Narodna Republika B˘algarija. Režim˘at i obštestvoto [Geschichte der Volksrepublik Bulgarien. Das Regime und die Gesellschaft]. Sofia 2009; ders.: B˘algarskijat komuniz˘am. Sociokulturni cˇ erti i vlastova traektorija [Der bulgarische Kommunismus. Soziokulturelle Züge und Trajekt der Macht]. Sofia 2008. 31 Zit. nach Opitite da se v˘azdigne Živkov edva li ne do vodešt b˘algarski d˘aržavnik sa žalki. Intervju s Mitko Novkov [Die Versuche, Živkov zum führenden bulgarischen Staatsmann zu machen, sind erbärmlich. Interview mit Mitko Novkov]. In: svobodata.com vom 7. Dezember 2012, URL: http:// www.svobodata.com/page.php?pid=7490&rid=8, letzter Zugriff: 04. 10. 2016.

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Wirtschaftszweige unter ehemaligen Parteifunktionären und Staatssicherheitsoffizieren, die Variante „Ot Tošo po-lošo!“ [Schlimmer als unter Živkov!] populär. Die böse Antwort auf die nur vermeintliche Scherzfrage „Was ist der Unterschied zwischen unserer Regierung und der organisierten Kriminalität?“, nämlich: „Die organisierte Kriminalität ist organisiert“, spiegelt die raue Wirklichkeit der Umbruchphase wider, zu der über 200 politökonomisch motivierte Auftragsmorde gehören. Eine gänzliche andere Wirkung auf die bulgarische Öffentlichkeit als Živkovs aalglattes Verhalten vor Gericht hatte indes ein Prozess, der zwar ebenfalls nur zu einem Minimalergebnis führte, aber das Bild von der Herrschaft des als „gütigen Vaters“ (tata = „Papi“) Porträtierten zumindest partiell veränderte: 1992 wurde der ehemalige stellvertretende Innenminister Mirˇco Spasov zusammen mit Kommandanten und Kommandantinnen der beiden genannten Zwangsarbeitslager Loveˇc und Skravena der 14-fachen vorsätzlichen Tötung von Insassen in den Jahren 1959 bis 1962 angeklagt. 32 In dem im Juni 1993 beginnenden Prozess forderte der Generalstaatsanwalt die Todesstrafe für alle Angeklagten. Da jedoch der Hauptangeklagte Spasov kurz nach Prozessbeginn starb, musste der Prozess neu aufgerollt werden. Dies gelang erst nach sechs Jahren. Im Ergebnis wurden 1999 zwei der fünf Angeklagten, ein Aufseher und eine Lagerkommandantin, zu jeweils drei Jahren Haft verurteilt. Im Zuge des Prozesses berichteten zahlreiche Zeugen vom unmenschlichen Lageralltag und den brutalen Übergriffen von Lagerleitung und -personal. Die Kommunismus-Nostalgie im Lande, die durch die verheerende Wirtschaftskrise des Winters 1996/1997 massiven Auftrieb erhalten hatte 33, erfuhr dadurch zumindest temporär eine Abschwächung. Gleichfalls nicht ohne Wirkung auf die bulgarische Öffentlichkeit, wenngleich ebenfalls ohne umfassende strafrechtliche Konsequenzen, blieb die juristische Aufarbeitung des mit dem Euphemismus „Wiedergeburtsprozess“ belegten Staatsverbrechens an den bulgarischen Türken der 1980er-Jahre. 34 Zum einen wurden fast allen von ihnen – circa 800.000 Personen – zwangsweise slawisch-christliche anstelle ihrer arabisch-muslimischen Vor-, Vaters- und Familiennamen oktroyiert. Zum anderen wurden diejenigen, die dagegen Widerstand leisteten, zunächst administrativen, dann juristischen, gar physischen Repressionen ausgesetzt – bis hin zu Zwangsumsiedlung, Ausweisung in die Türkei, Inhaftierung, Internierung in Belene, Prügel, gar Tötung. Hinzu kam das brutale Vorgehen der Sicherheitsorgane gegen die türkische Protestwelle des Frühjahrs 1989, das mehrere Todesopfer kostete. Während die Prozesse gegen die seinerzeit in Politbüro und Regierung dafür Verantwortlichen

32 Vgl. Baeva /Kalinova /Poppetrov: Die kommunistische Ära, S. 421–422. 33 Vgl. dazu Angelika Schrobsdorff: Grandhotel Bulgaria. Heimkehr in die Vergangenheit. München 1997. 34 Vgl. dazu Evgenia Kalinova: Remembering the „Revival Process“ in Post-1989 Bulgaria. In: Remembering Communism. Private and Public Recollections of Lived Experience in Southeast Europe. Budapest /New York 2014, S. 567–593; Stefan Troebst: Bulgarien 1989: Gewaltarmer Regimewandel in gewaltträchtigem Umfeld. In: Martin Sabrow (Hrsg.): 1989 und die Rolle der Gewalt. Göttingen 2012, S. 356–383.

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sämtlich keine Urteile erbrachten, wurden lediglich zwei Angestellte des Innenministeriums und zwei Zivilpersonen wegen eines einzelnen Mordes an einem Türken verurteilt. 35 So ernüchternd die Bilanz der strafrechtlichen Verfolgung und historischen Aufarbeitung der Verbrechen des kommunistischen Regimes in Bulgarien auch ausfällt, so klar muss doch der Umstand berücksichtigt werden, dass im ersten Jahrzehnt nach der „Wende“ in Sofia die politische Couleur der Regierungen dort ständig gewechselt hat. Was an sich ein Beleg für Demokratisierungstendenz ist, hat einen permanenten Zickzackkurs gerade in diesem Punkt bewirkt: Wann immer die Postkommunisten am Ruder waren, haben sie blockiert, wann immer die antikommunistische frühere Opposition an der Macht war, hat sie versucht, hier etwas gesetzlich voranzubringen. Dass der aus der Ära Živkov übernommene Justizapparat seinerseits massiv gebremst hat, versteht sich von selbst. Im Rückblick auf das Vierteljahrhundert seit dem Sturz Živkovs ist allerdings zu konstatieren, dass das Problem der bulgarischen Gesellschaft aber nicht primär die ausgebliebene strafrechtliche Verfolgung kommunistischer Staatsverbrechen, ja nicht einmal die fehlende Aufarbeitung der Parteidiktatur einschließlich der Krake Staatssicherheit als ihr „Schild und Schwert“ ist. Es ist vielmehr die Rehabilitierung eines in der Mehrheit der Gesellschaft verankerten Nationalismus, die eben nicht erst 1989, unter sich jetzt demokratisierenden Bedingungen erfolgte, sondern die bereits unter Živkov in der Mitte der 1960er-Jahre begonnen hatte. Erste Testballons waren ab 1967 die Kontroverse mit dem Nachbarstaat Jugoslawien um die Geschichte Makedoniens und die ethnokulturelle Zugehörigkeit seiner Bevölkerungsmehrheit, genauer: der jugoslawischen Teilrepublik Makedonien, von 1971 an dann die zwangsweise Namensänderung der Pomaken im Rhodopen-Gebirge an der Grenze zu Griechenland. Die Begründung war, dass diese Muslime bulgarischer Zunge zu osmanischer Zeit unter staatlichem Zwang zum Islam hätten konvertieren müssen – ein angeblich schreiendes historisches Unrecht, das jetzt, unter der weisen Führung der Partei, glücklicherweise rückgängig gemacht wird. Es folgte die Massenkampagne zur Umbenennung der bulgarischen Türken 1984/1985, die mit einem gigantischen Propagandafeldzug einherging. Dessen Botschaft war es, dass es sich bei den Umzubenennenden nur vermeintlich um muslimische Türken, in Wirklichkeit aber um vormals christliche Bulgaren handelte, die in der frühen Neuzeit von den Osmanen nicht nur – wie die Pomaken – zwangsislamisiert, sondern zugleich sprachlich zwangstürkisiert worden seien. Die Rückgängigmachung der Zwangsumbenennung in den Jahren 1990 und 1991 hat dann zu einem chronischen Konflikt zwischen Türken und Bulgaren in den östlichen Teilen des Landes geführt. 36 Und es hat bis 2012 gedauert, bis das bulgarische Parlament die Umbenennungskampagne von 1984/1985 als Unrecht bezeichnet und den durch Schüren einer Fluchthysterie 35 Vgl. Baeva /Kalinova /Poppetrov: Die kommunistische Ära, S. 419. 36 Vgl. Stefan Troebst: Nationalismus vs. Demokratie: Der Fall Bulgarien. In: Margareta Mommsen (Hrsg.): Nationalismus in Osteuropa. Gefahrvolle Wege in die Demokratie. München 1992, S. 168– 186, 202 f.

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staatlich beförderten Massenexodus von circa 370.000 Türken im Sommer 1989 als „eine Form der ethnischen Säuberung“ verurteilt hat. 37 Die Funktion des Nationalismus als Palliativ für die Schmerzen der Transformation in Bulgarien zeigt sich in jüngster Vergangenheit in aller Schärfe an der Reaktion von Politik, Öffentlichkeit, Medien und nicht zuletzt der Geschichtswissenschaft auf solche Stimmen im Ausland, zunehmend aber auch im Inland, die den Anteil Bulgariens am Holocaust thematisieren. 38 Dabei ist die Verhaftung, Deportation und Vernichtung in Treblinka der circa 12.000 Juden aus den von Bulgarien zwischen 1941 und 1944 zunächst okkupierten, dann annektierten Gebieten Jugoslawiens und Griechenlands unter der Regie von bulgarischer Polizei, Armee und Staatsbahn mittlerweile durchaus Bestandteil des Geschichtsbildes vieler Bulgaren. Was indes auf strikte Ablehnung, ja aggressive Verweigerung stößt, ist die Revidierung des von Todor Živkov persönlich mitkonstruierten Mythos von der „Rettung“ der etwa 50.000 Juden Altbulgariens durch die kommunistische Partei bzw. das bulgarische Volk. Živkov hatte sich diesbezüglich gegen Ende seiner Amtszeit ernsthaft Chancen auf den Friedensnobelpreis ausgerechnet. 39 Der Verweis darauf, dass das bulgarische Parlament zwischen 1941 und 1943 etliche Gesetze zur Verbannung der Juden aus Städten in Dörfer, zur Konfiszierung ihrer Immobilien und ihres Vermögens sowie zur Einweisung in Zwangsarbeitslager beschlossen hat; dass sich vor allem in Sofia und anderen Städten Bulgaren massenhaft Häuser, Wohnungen, Kunstwerke, Möbel, Hausrat und Autos ihrer verbannten jüdischen Nachbarn aneigneten 40 – das zu thematisieren wird mit Ächtung geahndet. 41 Insofern ist die kollektive Reaktion auf dieses spezifische Unrecht vergleichbar mit derjenigen auf die Forderungen der Opfer des kommunistischen Regimes nach angemessener Entschädigung oder zumindest nach öffentlicher Anerkennung ihrer Leiden. Sie gelten als aus der Zeit gefallene Störer – siehe die Figur des Konstantin Scheitanow in Ilija Trojanows besagtem Roman Macht und Widerstand –, was auch

37 Michael Martens: Sofia verurteilt Vertreibungen. Erklärung zu Unrecht an Türken. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. Januar 2012, S. 7. 38 So ist zwar eine einschlägige Edition bulgarischer Quellen in fast allen Buchläden des Landes zu finden, doch gibt es keine öffentliche Debatte zum Thema. Vgl. Nadja Danova /Rumen Avramov (Hrsg.): Deportiraneto na evreite ot Vardarska Makedonija, Belomorska Trakija i Pirot, mart 1943 g. Dokumenti ot b˘algarskite archivi [Die Deportation der Juden aus Vardar-Makedonien, Ägäisch-Thrakien und Pirot im März 1993. Dokumente aus den bulgarischen Archiven], 2 Bde. Sofia 2013; Nadja Danova: D˘algata sjanka na minaloto [Der lange Schatten der Vergangenheit]. In: Liberalen Pregled vom 27. August 2013, URL: http://www.librev.com/index.php/discussion-bulgaria-publisher/2155 – 2013-08-27-08-32-45, letzter Zugriff: 04. 10. 2016. 39 Vgl. Tzvetan Tzvetanov: Bulgarien – Meilenstein einer kontroversen Selbstfindung. In: Monika Flacke (Hrsg.): Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen, Bd. 1. Berlin 2004, S. 95–116, hier S. 110. 40 Vgl. Rumen Avramov: „Spasenie“ i padenie. Mikroikonomika na d˘aržavnija antisemitiz˘am v B˘algarija 1940–1944 g. [„Rettung“ und Fall. Mikroökonomie des staatlichen Antisemitismus in Bulgarien 1940–1944]. Sofia 2012. 41 Vgl. Stefan Troebst: Rettung, Überleben oder Vernichtung? Geschichtspolitische Kontroversen über Bulgarien und den Holocaust. In: Südosteuropa 59 (2011), H. 1, S. 97–127.

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erklärt, warum die Justiz des Landes jegliches Interesse an einer strafrechtlichen Verfolgung der Täter verloren zu haben scheint. Auf der Website „Transitional Justice and Memory in the EU“ etwa sind unter „Bulgaria“ in der Rubrik „Jurisprudence“ ganze drei Gerichtsurteile aufgeführt. Diese sind dabei nicht von bulgarischen Gerichten, sondern vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gefällt worden. In allen drei Fällen ging es um Rückerstattung um in den 1950er-Jahren konfisziertes Eigentum 42 – nicht hingegen um die strafrechtliche Verfolgung von Tätern des kommunistischen Regimes in Bulgarien. Der bulgarischen Ethnologin Ana Luleva ist daher Recht zugeben, wenn sie unlängst in einer Studie über „Transitional Justice and Memory Culture in Post-Socialist Bulgaria“ geurteilt hat: The conclusion about the justice of the transition, thus far, is that the Bulgarian experience for establishing retributive justice has been unsuccessful, uncertain and inconsistent. As a result, the trust of the citizens in democratic institutions – the court, the parliament, the political elite – has been undermined. 43

Eine bittere Erkenntnis, und wohl auch eine zutreffende. Zwar hat das bulgarische Parlament im September 2015 die Verjährungsfrist für kommunistische Staatsverbrechen aufgehoben 44, doch ob dies eine Neuaufnahme strafrechtlicher Verfolgung nach sich ziehen wird, bleibt abzuwarten.

42 Vgl. Transitional Justice and Memory in the EU. Bulgaria: Jurisprudence, URL: http://www.proyectos.cchs.csic.es/transitionaljustice/content/bulgaria, letzter Zugriff: 04. 10. 2016. 43 Luleva: Transitional Justice, S. 127. 44 Parlament˘at premachna davnostta za prest˘aplenijata pri komunizma [Das Parlament hat die Verjährung von Verbrechen während des Kommunismus aufgehoben]. In: mediapool.bg vom 17. September 2015, URL: http://www.mediapool.bg/parlamentat-premahna-davnostta-za-prestapleniyata-prikomunizma-news239363.html, letzter Zugriff: 04. 10. 2016. – Allerdings hat die den Ministerpräsidenten stellende Partei GERB zwei Wochen später aus einem Gesetzesentwurf zur Schulbildung die Bestimmung gestrichen, dass kommunistische Staatsverbrechen Gegenstand des Geschichtsunterrichts sein sollten. Vgl. GERB ne dopusna prest˘aplenijata na komunizma da se uˇcat v uˇcilište [GERB lässt nicht zu, dass die Verbrechen des Kommunismus in der Schule gelehrt werden]. In: ebd. vom 30. September 2015, URL: http://www.mediapool.bg/gerb-ne-dopusna-prestapleniyatana-komunizma-da-se-uchat-v-uchilishte-news239842.html, letzter Zugriff: 04. 10. 2016.

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Warum wurde Finnland nicht sowjetisiert? [1998] 1991, im Jahr der Implosion der Sowjetunion, hat ein finnischer Diplomat dem Lebensgefühl seiner Landsleute Ausdruck in einem bildhaften Vergleich gegeben: Die Finnen fühlten sich wie die Bewohner eines Einfamilienhauses, das Wand an Wand mit einem einstürzenden Wolkenkratzer steht. 1 Damit sind die Grundtatsachen der Beziehungen Finnlands zu seinem östlichen Nachbarn präzise benannt: unmittelbare geographische Nähe samt langer Grenze sowie ein eklatantes Machtgefälle. Die Überlegenheit der russischen Seite vor allem im militärischen Bereich hatte zu sowjetischen Zeiten klar messbare politische Konsequenzen, aber auch Teile der politischen Klasse der heutigen Russländischen Föderation sehen in den Beziehungen zu Finnland ein ausgesprochen paternalistisches special relationship. Hinzu kommt die historische Dimension, war doch Finnland von 1809 bis 1917 als russisches Großfürstentum Teil des zarischen Vielvölkerreiches. Dies veranlasst großrussische Nationalisten wie Vladimir Žirinovskij oder Aleksandr Ruckoj bis heute dazu, Finnland als „russische Erde“ zu apostrophieren, die baldmöglichst „heimzuholen“ ist. 2 Die Finnen haben darauf zum einen mit einer deutlichen Umorientierung nach Westen reagiert, darunter ein überraschend eindeutiges Ja zum EU-Beitritt, zum anderen aber mit dem Brechen zahlreicher politischer Tabus bezüglich der Beziehungen zum übermächtigen Nachbarn. Eine Vorreiterrolle kommt dabei der finnischen Russlandhistoriographie zu, die schon zu Perestrojka-Zeiten die Parole „Über die Russen darf man sprechen“ ausgab. 3 Das Hauptinteresse von historisch interessierter Öffentlichkeit und Geschichtsschreibung in Finnland gilt dabei der als „Jahre der Gefahr“ bezeichneten dramatischen Dekade von der Zuordnung Finnlands zur sowjetischen Einflusssphäre durch den Hitler-Stalin-Pakt von 1939 bis zum sowjetischfinnischen Beistandsvertrag und der politischen Ausschaltung der finnischen Kommunisten 1948. Und hier ist es wiederum die zentrale Frage nach den Gründen dafür,

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Botschaftsrat Taisto Tolvanen vom finnischen Außenministerium gegenüber einer Gruppe von Studierenden des Osteuropa-Instituts und des Fachs Skandinavistik der Freien Universität Berlin am 9. Juli 1991 in Helsinki. So Ruckoj in einem Interview mit dem Fernsehsender „Euronews“ am 15. September 1994. Siehe auch die stilisierte Karte Russlands „in den Grenzen von 1900“ im Parteiwappen von Žirinovskijs Liberal-Demokratischer Partei. Auch prominente Diplomaten wie Julij Kvizinskij und Jurij Derjabin, letzterer unter dem Pseudonym „Jurij Komissarov“ Sprachrohr Brežnev’scher Finnlandpolitik und seit 1992 russländischer Botschafter in Helsinki(!), haben ähnlich altbekannte Töne angeschlagen. Vgl. dazu Julij Kwizinskij: Wir brauchen Atomwaffen! Warum sich Rußland bedroht fühlt – und dazu viel mehr Grund hat als der Westen, in: Die Woche, 22. 9. 1995, S. 26; und Jörgen Detlefsen: Moskau wieder auf Einschüchterungskurs. Rußland will Souveränität Finnlands nur bedingt respektieren. Botschafter warnt Helsinki, in: Der Tagesspiegel, 8. 3. 1995, S. 6. Edgar Hösch: „Über die Russen darf man sprechen . . . “ Anmerkungen zu Neuerscheinungen der finnischen Rußlandhistoriographie, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 36 (1988), S. 80–90.

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dass dem eigenen Land sowohl das Schicksal der baltischen Staaten, also die Annexion, als auch dasjenige Ostmittel- und Südosteuropas, nämlich Systemtransformation unter informeller sowjetischer Herrschaft, erspart blieb. Denn Finnland konnte nicht nur seine territoriale Integrität und seine Souveränität bewahren – beides mit gewissen Einschränkungen –, sondern im Gegensatz zu den sogenannten Volksdemoˇ kratien Polen, CSSR, Ungarn, Rumänien und Bulgarien auch seine demokratischen Institutionen, seine marktwirtschaftliche Ordnung und sein Gesellschaftssystem erhalten. Während bis Gorbaˇcëvs Amtsantritt die finnischen Historiker die Frage nach dem Grund für das Ausbleiben der Sowjetisierung Finnlands nicht offen stellen wollten und ihre parteigebundenen sowjetischen Kollegen sie nicht stellen durften, hat auch die westliche Geschichtsschreibung nicht eben intensive Nachforschungen angestellt. 4 In den Standarddarstellungen zum Ost-West-Konflikt wird die sowjetische Finnlandpolitik in aller Regel zum „Sonderfall“ deklariert 5 und als solcher ausgeklammert. Dieses noch immer nachwirkende Desinteresse der westlichen Forschung über den Zweiten Weltkrieg und den Kalten Krieg ist also auch einer der Gründe dafür, dass die Geschichtswissenschaft Finnlands erst in den letzten Jahren mit der Klärung der Grundfragen im Verhältnis zur Sowjetunion begonnen hat. „Warum ließ man uns in Ruhe, während alle anderen europäischen Nachbarn der UdSSR sowjetisiert wurden?“, wurde in einem Aufsatz von 1994 zur sowjetischen Finnlandpolitik räsoniert, 6 und „Warum wurde das Land keine Volksdemokratie?“ 7 oder noch deutlicher: „Warum kamen die Sowjetpanzer nicht nach Helsinki?“ 8 lauten die Überschriften ähnlicher Arbeiten neueren Datums aus der Feder finnischer Historiker. Im Folgenden sollen die Ergebnisse dieser sowie gleichfalls neuerer russischer, deutscher und anderer Untersuchungen danach abgeklopft werden, was die Prämissen und Leitlinien sowjetischer Politik gegenüber Finnland im fraglichen Jahrzehnt waren, welche Ziele damit verfolgt wurden und wie diese sich verändert haben. Die historische For-

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Zu Begriff und Inhalt von Sowjetisierung s. Michal Reiman: „Sowjetisierung“ und nationale Eigenart in Ostmittel- und Südosteuropa. Zu Problem und Forschungsstand, in: Hans Lemberg (Hrsg.): Sowjetisches Modell und nationale Prägung. Kontinuität und Wandel in Ostmitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg. Marburg /L. 1991, S. 3–9. So z. B. Geir Lundestad: The American Non-Policy Towards Eastern Europe 1943–1947. Universalism in an Area not of Essential Interest to the United States. Tromsø, Oslo, Bergen 1978, S. 285. Jukka Nevakivi: A Decisive Armistice 1944–1947: Why Was Finland Not Sovietized?, in: Scandinavian Journal of History, 19 (1994), H.2, S. 91–15, hier S. 91. Zu einer finnischen Kurzfassung vgl. ders.: Ratkaiseva välirauha 1944–1947: Miksi Suomea ei neuvostolaistettu?, in: Historiallinen Aikakauskirja 1993, H. 3, S. 195–204. Hier behandelt der Verfasser anhand sowjetischen Primärquellenmaterials ein Thema, dem er sich bereits zehn Jahre zuvor zugewandt hatte. Vgl. ders.: Finland och det kalla kriget, in: Den kolde krig og de nordiske lande. Rapporter til den XIX nordiske historikerkongres Odense 1984. Bind II. Red. Erling Ladewig Petersen. Odense 1984, S. 25–40, hier S. 38– 39. Osmo Jussila: Suomen tie 1944–1948. Miksi siitä ci tullut kansandemokratiaa. Helsinki 1990. Hier zit. nach der Besprechung von Tapani Paavonen in: Historisk Tidskrift för Finland, 77 (1992), S. 336– 339. Nevakivi: A Decisive Armistice, S. 96.

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schung hat dabei mit dem Problem des noch immer stark eingeschränkten Zugangs zu den sowjetischen Primärquellen zu kämpfen. Mit der gewichtigen Ausnahme der Papiere des Politbüromitglieds und führenden sowjetischen Finnlandpolitikers Andrej Ždanov stehen in Moskau die zentralen Aktenbestände des Außenministeriums, des Politbüros und der Außenpolitischen Abteilung des ZK der KPdSU sowie des persönlichen Apparates Stalins zum Thema nur partiell offen. 9 Was ein deutscher Russlandhistoriker vor einigen Jahren auf die sowjetische Deutschlandpolitik gemünzt hat, muss daher weiterhin auch für die sowjetische Finnlandpolitik gelten, dass nämlich „fast alle Aussagen [hierzu] indiziengestützte Plausibilitätsschlüsse, die unter Irrtumsvorbehalt stehen“, sind. 10 Hauptquellenbasis stellen daher noch immer westliche Archivalien, die Memoiren, Aufzeichnungen und Tagebücher finnischer, westlicher und sowjetischer Politiker und Diplomaten sowie jetzt zunehmend die Archivbestände von Behörden und politischen Parteien Finnlands dar, darunter das Parteiarchiv der finnischen Kommunisten. 11

Optionen sowjetischer Finnlandpolitik Wie die sowjetische Außenpolitik insgesamt ist auch diejenige gegenüber Finnland unter den wechselnden internationalen Rahmenbedingungen – Isolation der UdSSR bis 1939, dann Hitler-Stalin-Pakt, Anti-Hitler-Koalition und schließlich Kalter Krieg – von einer Reihe langfristig wirksamer Bestimmungsfaktoren geprägt worden. 12 Die Außenpolitik der UdSSR war im Wesentlichen vom Primat der In-

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Ebd., S. 114. Dieser Aufsatz J. Nevakivis basiert auf den ca. 3000 Blatt umfassenden Ždanov-Papieren im Russländischen Zentrum für die Aufbewahrung und Erforschung von Dokumenten zur neueren Geschichte (RCChIDNI, fond 77, opis’ 3) in Moskau. Vgl. auch: ders.: Ždanov soumessa: Miksi meita ei neuvostoliittolaistettu? Helsinki 1995. Denselben Quellenfundus benutzt hat Alfred J. Rieber: Zhdanov in Finland. Pittsburgh, PA, 1995 (= The Carl Beck Papers in Russian & East European Studies, 1107. 10 Bernd Bonwetsch: Deutschlandpolitische Alternativen der Sowjetunion 1949–1955, in: Deutsche Studien, 24 (1986), S. 320–340, hier S. 326. 11 Zu dieser letztgenannten Quellengattung siehe Hermann Beyer-Thoma: Kommunisten und Sozialdemokraten in Finnland 1944–1948. München 1990, und Kimmo Rentola: Kenen joukossa seisot? – Suomalainen kommunismi ja sota 1937–1945. Porvoo, Helsinki, Juva 1994, hier zitiert nach Kristina Exner-Carls Besprechung in: Osteuropa, 5/1995, S. 484–485, hier S. 485. Zur Rolle der finnischen Kommunisten in den Beziehungen zwischen Moskau und Helsinki vgl. auch ders.: Filialkontoret. Fem fragment om FKP:s förhållande till Sovjetunionen 1937–1968, in: Historisk Tidskrift för Finland, 77 (1992), S. 609–630; und ders.: The Soviet Leadership and Finnish Communism, 1944–48, in: .Jukka Nevakivi (Ed.): Finnish-Soviet Relations, 1944–1948. Helsinki 1994, S. 216 ff., sowie zuvor Tony Upton: Finland, in: Martin McCauley (Ed.): Communist Power in Europe, 1944–1949. London 1977, S. 133–150. 12 Dazu noch immer grundlegend Dietrich Geyer: Von der Kriegskoalition zu Kalten Krieg, in: Ders. (Hrsg.): Osteuropa-Handbuch Sowjetunion. Außenpolitik 1917–1955. Köln, Wien 1972. S. 343– 381. Zur neueren Literatur s. Vladislav Zubok /Constantine Pleshakov: The Soviet Union, in: David Reynolds (Ed.): The Origins of the Cold War in Europe. International Perspectives. New Haven / CT, London 1994, S. 53–76.

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nenpolitik geleitet: vor dem Krieg von den Notwendigkeiten der wirtschaftlichen Modernisierung und des Auf- und Ausbaus der Parteiherrschaft, nach dem Krieg vom Wiederaufbau des Landes und der gesellschaftlichen Redisziplinierung. Vor wie nach dem Krieg bestimmten dabei sicherheitspolitische Überlegungen die Außenpolitik. Sicherheitspolitik im sowjetischen Sinne ließ dabei Überlappungen sowohl mit einer traditionellen moskauischen Macht- und Hegemonialpolitik als auch mit einer gleichfalls aggressiven, ideologisch motivierten und in der Komintern-Tradition stehenden Expansionslinie durchaus zu: Nicht nur Verteidigungsanstrengungen, sondern auch offensive Maßnahmen wie Annexionen, strategische Gebietserweiterungen oder Truppenstationierungen in Nachbarstaaten wurden darunter subsumiert. In den ersten Nachkriegsjahren konzentrierte sich dieses mitunter als übersteigert bezeichnete sowjetische Sicherheitsinteresse auf die Schaffung einer breiten Einfluss- und Schutzzone jenseits der Staatsgrenzen, hier vor allem der europäischen. Aufs engste damit verbunden war das Streben der sowjetischen Führung, von den Verliererstaaten so umfangreiche Reparationsleistungen wie möglich für den eigenen Wiederaufbau zu erhalten. Vor diesem Hintergrund lassen sich für die kritische Dekade 1939–1948 insgesamt vier Optionen sowjetischer Finnlandpolitik ausmachen: Erstens der Anschluss Finnlands an die Sowjetunion in Form einer Finnischen Sowjetrepublik – entsprechend der Einverleibung Estlands, Lettlands und Litauens von 1940, das „baltische Modell“. Zweitens die Errichtung eines nominell unabhängigen „Sowjetfinnlands“ unter der Kontrolle einer gleichgeschalteten finnischen KP und mit der tätigen Mithilfe der Roten Armee, sei es als Besatzungsmacht, sei es als Stationierungstruppe – entsprechend dem „volksdemokratischen Modell“ indirekter Herrschaft, wie es nach dem Krieg in Ostmittel- und Südosteuropa Anwendung gefunden hat. Drittens die Glacéhandschuhvariante zu eben diesem Modell, bei der die einheimischen Kommunisten ihren Klassengegnern die Macht ohne Beteiligung oder Präsenz sowjetischer Truppen zu entwinden haben – das „tschechoslowakische Modell“ einer scheinlegal-parlamentarischen Machtübernahme. Und viertens ein selbständiges, neutrales Finnland mit einem Mehrparteiensystem, jedoch eingeschränkter Souveränität in der Außen- und Verteidigungspolitik und mit weitreichenden Sicherheitsgarantien für die Sowjetunion – das „finnische Modell“, wie es sich 1948 dann durchgesetzt und bis 1991 funktioniert hat. Aus sowjetischer Sicht nicht in Betracht kam eine Teilung Finnlands; dazu fehlte ein geeigneter Teilungspartner. Und ebenfalls außer Frage stand für Moskau eine Bindung Finnlands an eine andere Großmacht oder ein anderes Bündnis, desgleichen eine „Nordisierung“ Finnlands, also eine politische Anbindung an die drei bis 1949 sämtlich neutralen skandinavischen Staaten, hatte doch deren Neutralität aus sowjetischer Sicht einen feindseligen Anstrich. Insofern wäre also die vierte, hier als „finnisches Modell“ bezeichnete der oben genannten Optionen in Richtung auf eine isolierte prosowjetische Teilneutralität zu präzisieren – eben das, was in Finnland die „Paasikivi-Kekkonen-Linie“ genannt wurde und wofür Richard Löwenthal

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1966 den ursprünglich wertneutral gemeinten, von Franz-Josef-Strauß dann pejorativ umgedeuteten Begriff der „Finnlandisierung“ geprägt hat. 13

Option Nr. 1: „Baltisches Modell“ Ein Blick auf die Beziehungen zwischen Moskau und Helsinki von 1939 bis 1948 zeigt, dass die vier Optionen sowjetischer Finnlandpolitik nicht nur hypothetischen Charakter gehabt haben, sondern tatsächlich zur Anwendung gekommen sind. 14 Die erste Option, also das „baltische Modell“ eines Anschlusses an die Sowjetunion, war Leitlinie sowjetischer Finnlandpolitik vom Hitler-Stalin-Pakt bis zur Kriegswende bei Stalingrad. Nachdem im Geheimen Zusatzprotokoll auch Finnland als zur sowjetischen Einflusssphäre zugehörig ausgewiesen worden war, verstärkte Moskau seinen Druck auf Helsinki, um den Tausch eines Grenzstreifens auf der karelischen Landenge und einiger Inseln im Finnischen Meerbusen gegen Teile Nordkareliens zu erzwingen. Begründet wurde dies mit der Notwendigkeit der strategischen Sicherung Leningrads. Hatte die finnische Regierung Verhandlungen über dieses Thema seit 1938 strikt abgelehnt, ging man unter dem Eindruck der deutsch-sowjetischen Teilung Polens und der Einwilligung der Regierungen in Kaunas, Riga und Reval zum Abschluss von Verteidigungsbündnissen mit Moskau darauf ein. Zwar machte die finnische Seite einige territoriale Zugeständnisse, doch waren diese dem sowjetischen Verhandlungsführer Stalin nicht weitreichend genug. Die Folgen sind bekannt: Als die finnischen Unterhändler am 10. November 1939 die Verhandlungen abbrachen, blieb der Sowjetunion zur Gesichtswahrung nur noch die ultima ratio einer militärischen Lösung. Obwohl die vom Säuberungsterror geschwächte Rote Armee nur bedingt einsatzfähig war, ordnete Stalin für den 30. November den Angriff örtlicher Grenztruppen auf Finnland an. Dass das Kriegsziel nun nicht eine bloße Grenzkorrektur, sondern die militärische Niederwerfung des obstinaten Finnland und seine Einverleibung war, wurde bereits am Tag nach dem Angriff deutlich. Der im sowjetischen Exil lebende finnische Kommunist und hohe Kominternfunktionär Otto Ville Kuusinen rief im ersten eroberten Grenzort, dem karelischen Terijoki, eine sogenannte „Volksregierung der demokratischen Republik Finnland“ aus. Er verkündete 13 Siehe zum Begriff Timo Vihavainen: Krälade Finland i stoftet? Finland och Sovjetunionen under efterkrigstiden. in: Historisk Tidskrift för Finland, 77 (1992), S. 629–639, sowie ders.: Kansakunte rähmällään. Suomettumisen lyhyt historia. Helsinki 1991 samt Besprechung von Sune Jungar in: Finsk tidskrift 1991, S. 229–230. S. auch Hans Mouritzen: Finlandization. Towards a General Theory of Adaptive Politics. Aldershot 1988. 14 Tuomo Polvinen: Suomi kansainvälisessä politikasse. 3 Bde. Helsinki /Porvoo /Juva 1979–1981, sowie als englische Teilausgabe hiervon ders.: Between East and West. Finland in International Politics 1944–1947. Ed. and transl. by David G. Kirby and Peter Herring. Minneapolis, MN, 1986, und als deutschen Auszug ders.: Zur „Vorgeschichte“ des finnisch-sowjetischen Vertrages über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand während der Jahre 1944–1945, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. 30 (1982), S. 227–239.

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ein kommunistisches Regierungsprogramm, forderte die finnische Bevölkerung zum Sturz der Regierung in Helsinki auf und bat die Rote Armee im Namen der „Werktätigen“ Finnlands unverzüglich um „brüderliche Hilfe“. 15 Dass es sich bei all dem nicht um ein eigenmächtiges Vorpreschen der politisch bereits bedeutungslosen kommunistischen Weltorganisation handelte, wurde wiederum einen Tag später deutlich: Die Sowjetunion schloss mit der neuen Marionettenregierung einen förmlichen Beistands- und Freundschaftsvertrag ab. Hierin wurden die sowjetischen Forderungen an Finnland vom Herbst 1939 erfüllt, während sich die Sowjetunion zur Abtretung großer Teile Kareliens an das neue Finnland nach Kriegsende verpflichtete. Nach dem Sieg der Roten Armee sollte die Terijoki-Regierung dann eine finnische Sowjetrepublik proklamieren, um sich anschließend der UdSSR anzugliedern. Bekanntlich konnte diese Planung aufgrund des für Moskau überraschenden Kriegsverlaufs nicht verwirklicht werden. Statt innerhalb weniger Tage die finnische Hauptstadt einzunehmen, so das eigentliche Kriegsziel 16, wurde die Rote Armee in einen verlustreichen Schnee- und Eiskrieg verwickelt. Im sowjetisch-finnischen Friedensvertrag von Moskau vom 12. März 1940, der nicht zuletzt ein Fallenlassen der TerijokiRegierung seitens Stalins bedeutete, begnügte sich die UdSSR mit der Verpachtung einer Flottenbasis und der Abtretung zweier finnischer Grenzgebiete. Finnland wurde also nicht im Zuge einer Generalmobilmachung der Roten Armee zerschlagen und besetzt. Und auch nach dem Friedensschluss übte die Sowjetunion zwar weiterhin Druck auf das außenpolitisch in lebensbedrohliche Isolation geratene Land aus, unternahm aber zunächst keinen neuerlichen Versuch einer gewaltsamen Eingliederung in seine mit Berlin abgesteckte Einflusssphäre. Die Gründe können zum einen in den exorbitanten Verlusten der Roten Armee während der 105 Tage andauernden Kampfhandlungen – 127.000 gefallene und 265.000 verwundete Rotarmisten 17 gegenüber 23.000 gefallenen und 44.000 verwundeten finnischen Soldaten 18 –, zum

15 Zur Terijoki-Regierung s. Osmo Jussila: Terijoen hallitus, 1939–40. Porvoo /Helsinki /Juva 1985, sowie Gerd R. Ueberschär: Die „Volksregierung Kuusinen“ der „Demokratischen Republik Finnland“ im Kalkül Stalins und Hitlers 1939/40. Ein Beitrag zur deutschen Haltung im sowjetisch-finnischen Winterkrieg, in: Edgar Hösch (Hrsg.): Finnland-Studien [1]. Wiesbaden 1990, S. 228–247. Vgl. auch die drei Literaturberichte von Hermann Beyer-Thoma in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 35 (19R7), S. 149–151; Kristina Exner: Der Winterkrieg und sein neuer Frühling. Zu den finnisch-sowjetischen Historikergesprächen. in: Osteuropa, 8/1990, S. 718–727;und Staffan Skott: Ryska forskare omvärdera vinterkriget. in: Dagens nyheter, 3. 3. 1996, S. E 4. 16 S. dazu Bianka Pietrow-Ennker: Die Sowjetunion und der Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939– 1941. Ergebnisse einer internationalen Konferenz in Moskau, in: Osteuropa, 9/1995, S. 854–857, hier S. 855. 17 Uroki vojny s Finljandiej. Neopublikovannyj doklad narkoma oborony SSSR K. E. Vorošilova na plenume CK VKIP(b) 28 marta 1940 g. Predislovie Ju. A. Gor’kova, in: Novaja i novejšaja istorija, 4/1993, S. 100–122, hier S. 101. 18 M. I. Semirjaga: „Neznamenitaja vojna“. Razmyšlenija istorika o sovetsko-finljandskoj vojne 1939– 1940 godov, in: Ogonek, H. 22, 1989. Hier wurde die Zahl der auf sowjetischer Seite Gefallenen nur mit 70.000, diejenigen der Verwundeten und Erfrorenen mit 176.000 angegeben.

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anderen in einer bevorstehenden Intervention der Westmächte zugunsten Finnlands gesucht werden. Damit wäre die UdSSR zwangsläufig zum Verbündeten Hitlers geworden und in dessen Krieg im Westen Europas hineingezogen worden.

Option Nr. 2: „Volksdemokratisches Modell“ Die Gründung einer neuen Karelo-Finnischen Sozialistischen Sowjetrepublik auf sowjetischem Territorium (mit dem genannten Kuusinen als Präsident), der auch die von Finnland abgepressten Gebiete eingegliedert wurden, sowie vor allem die Annexion der baltischen Staaten im Sommer 1940 wurden in Helsinki als Vorboten eines zweiten und diesmal finalen sowjetischen Griffs nach Finnland gedeutet. Aufgrund der bereits erfolgten Besetzung Dänemarks und Norwegens durch die Wehrmacht hätte die UdSSR diesmal keine westalliierte Expedition fürchten müssen. Und in der Tat legten Äußerungen sowjetischer Politiker den Verdacht auf neuerliche Angriffspläne nahe. So erklärte der sowjetische Außenminister Vjaˇceslav Molotov seinem litauischen Amtskollegen am 30. Juni 1940: Sie müssen in dem Maße Realisten sein, daß Sie verstehen, daß die kleinen Völker in Zukunft verschwinden werden. Ihr Litauen zusammen mit den anderen Baltischen Völkern, Finnland mitgerechnet, wird in die glorreiche Familie der Sowjetvölker aufgenommen werden. 19

Als Molotov jedoch bei seinen ausführlichen Gesprächen mit Hitler am 12. und 13. November 1940 in Berlin auf grünes Licht für eine neuerliche Militäraktion gegen Finnland drängte, hatte sich das Blatt in Berlin bereits gewendet. Aus deutscher Sicht war Finnland nun nicht länger ein beliebiges Land in der sowjetischen Einflusssphäre, sondern ein potentieller Verbündeter beim bereits beschlossenen Angriff auf die Sowjetunion, ja eine wichtige Aufmarschbasis hierfür. Daher war Hitler nicht bereit, der UdSSR freie Hand gegen Helsinki zu gewähren. 20 Beim „Unternehmen Barbarossa“ konnten dann deutsche Gruppen von finnischem Territorium aus angreifen, wobei sich die finnische Armee dem deutschen Angriff anschloss. Die finnischen Operationen gegen die Sowjetunion wiesen allerdings etliche Unterschiede zum deutschen Vorgehen auf, bedingt durch das Steckenbleiben des deutschen Vorstoßes nach Südostkarelien im Winter 1941/1942. Finnland führte den Krieg nun ausdrücklich als „eigenen“, „separaten“, ja als „stillen Krieg“ und verfolgte nur begrenzte Kriegsziele. Diese waren im Wesentlichen die Herstellung des Status quo ante von 1939, doch wurde die alte finnisch-sowjetische Grenze nicht unerheblich überschritten. Finnische Truppen beteiligten sich aber nicht an den

19 Zit. nach Seppo Myllyniemi: Die baltische Krise 1938–1941. Stuttgart 1979, S. 126. 20 Andreas Hillgruber (Hrsg.): Staatsmänner und Diplomaten bei Hitler. Vertrauliche Aufzeichnungen über die Unterredungen mit Vertretern des Auslandes 1939–1941. München 1969, Dok. Nr. 14 und 15, S. 165–193, sowie grundlegend Gerd R. Ueberschär Hitler und Finnland 1939–1941. Die deutschfinnischen Beziehungen während des Hitler-Stalin-Paktes. Wiesbaden 1978.

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deutschen Operationen gegen Leningrad und gegen die lebenswichtige MurmanskBahn; auch kam es nur vereinzelt zu Besatzungsexzessen. Diese finnische Zurückhaltung war der Grund dafür, dass die USA dem sowjetischen Drängen nach einer Kriegserklärung an Helsinki, anders als nach längerem Zögern Großbritannien, nicht nachkamen. 21 Die latenten westalliierten Sympathien für Finnland bestimmten auch die Nachkriegsplanung der Anti-Hitler-Koalition vor der Stalingrader Kriegswende. Beim Treffen der „Großen Drei“ Ende 1943 in Teheran machte Roosevelt deutlich, dass die USA den Erhalt eines finnischen Staates mit den Sicherheitsinteressen der Sowjetunion durchaus für vereinbar hielten. Stalin schloss sich dem an und zeigte sich gar zu einem Separatfrieden mit Helsinki bereit, bestand also nicht länger auf bedingungsloser Kapitulation, Es deutet einiges darauf hin, dass aus sowjetischer Sicht Option 1 – „Einverleibung“ – nun zugunsten von Option 2 – „volksdemokratisches Modell“ – aufgegeben wurde. Die Friedensfühler zwischen Moskau und Helsinki nahmen allerdings erst konkrete Form an, nachdem die finnische Armee eine sowjetische Großoffensive auf der karelischen Landenge im Juli 1944 nur mit großer Mühe hatte stoppen können. Jetzt war Helsinki zu ernsthaften Verhandlungen über einen Waffenstillstand bereit. Diese Bereitschaft löste einen sofortigen Umschwung sowjetischer Militärplanung aus: Der bereits im Detail ausgearbeitete Plan einer Besetzung Finnlands samt rigoroser flächendeckender Militärverwaltung wurde verworfen. 22 In den Waffenstillstandsverhandlungen, die die Sowjetunion im September 1944 in Moskau auch im Namen ihres britischen Verbündeten führte, steuerte Stalin gleich zwei Ziele an: Zum einen sollte der Sekuritätsbedarf der UdSSR durch neuerliche Gebietsabtretungen sowie den Erwerb der großen Flottenbasis Porkkala in unmittelbarer Nähe Helsinkis gestillt werden, und zum anderen sollte der äußerlich zu erhaltende finnische Staat mit neuem, „volksdemokratischem“ Inhalt gefüllt werden. 23 Dass sich die sowjetische Seite dabei nicht wie andernorts in Europa unter westalliiertem Druck und folglich in Zugzwang wähnte, lag nicht zuletzt an der außerordentlichen Zurückhaltung der Angloamerikaner hinsichtlich der Einzelheiten des Waffenstillstandes. Diese Zurückhaltung war Moskau nicht nur auf oberster Ebene versichert worden, sondern wurde auch von britischen Militärs sowie von amerikanischen Diplomaten in Helsinki deutlich demonstriert. Außenminister Anthony Eden äußerte im August 1944 of the record: Although we shall no doubt hope that Finland will be left some real degree of at least cultural and commercial independence and a parliamentary regime, Russian influence will

21 R. Michael Berry: American Foreign Policy and the Finnish Exception. Ideological Preferences and Wartime Realities, Helsinki, Jyväskylä 1987. 22 Rieber, Zhdanov in Finland, S. 18. Hier heißt es weiter: „For reasons that the archives do not make dear, they [Stalin and Molotov] decided to abandon altogether the idea of occupying any Finnish territoriy that was not to be annexed by the Soviel Union.“ (Ebd.) 23 Thede Pahn: The Finnish-Soviet Armistice Negotiations. Stockholm 1971. – Olli Vehviläinen: The Finnish-Soviet Armistice – Talks of 1944, in: ’Tenho ’Takalo (Ed.): Finns and Hungarians between East and West. Helsinki 1989, S. 179–187.

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in any event be predominant in Finland and we shall not be able, nor would it serve any important British interest to contest that influence. 24

Diese Ansicht überdauerte auch das Kriegsende. Im Sommer 1945 schrieb der britische Gesandte in Helsinki Francis M. Sheperd im selben Tenor an Außenminister Eden: She [= Finland] is definitely in the Russian defensive sphere and it is a matter for consideration whether, after a certain period, British interests in Finland would not invoke counter measures by Soviet Russia which might not only nullify our own efforts but might even have the opposite effect. 25

In Washington war man ganz ähnlicher Ansicht und ließ vom Sommer 1944 an die finnische Seite mehrfach wissen, es liege nun ganz allein an ihr, das Verhältnis zum übermächtigen Nachbarn im Osten auf eine neue Grundlage zu stellen. 26 Sowohl der Text des alliierten Waffenstillstandsabkommens mit Finnland vom 19. September 1944 27 als auch seine Auslegung durch die federführende Sowjetunion unterschieden sich daher wesentlich von den bereits geschlossenen Abkommen mit den anderen ehemaligen Verbündeten Deutschlands, nämlich Italien und Rumänien, sowie von den späteren Verträgen mit Bulgarien und Ungarn. 28 Zwar sahen alle Abkommen die Zahlung von Reparationen, die Demobilisierung und Abrüstung auf Friedensstärke, das Verbot „faschistischer“ Organisationen, die Aufhebung „antikommunistischer“ Gesetze sowie die Einrichtung von alliierten Kontrollkommissionen zur Überwachung dieser Bestimmungen vor, doch gab es im finnischen Fall erhebliche Abweichungen. An erster Stelle ist hier die Tatsache zu nennen, dass Finnland im Unterschied zu den genannten süd- und südosteuropäischen Feindstaaten nicht von alliierten 24 Zit. nach Polvinen, Between East and West, S. 283. 25 Mr. Sheperd (Helsinki) to Mr. Eden (Received 7 August) No. 114 [N 9908/356/56]. Confidential. Helsinki, 24 July 1945, in: M. E. Pelly, H. J. Yasamee (Eds.): Documents on British Policy Overseas. Series I. Vol. I: The Conference at Potsdam, July – August 1945. London 1984, Dok. Nr. 396, S. 865– 867, hier S. 867. 26 Polvinen, Between East and West, S. 285. 27 Appendix 1 bei Polvinen, Between East and West, S. 289–298. 28 Charles R. S. Harris: Allied Military Administration of Italy 1943–1945. London 1957; Bruno Arcidiacono: Le „précédent italien“ et les origines de la guerre froide. Les alliéés et l’occupation de l’ltalie 1943–1945. Bruxelles 1984; O. V. Serova: ltalija i antigitlerovskaja koalicija 1943–1945. Moskva 1973; Salvatore Sechi: Tra neutralismo ed equidistanza: la politica estera italiana verso l’URSS 1944– 1948, in: Storia contemporanea, 18 (1987), S. 655–712; Elisabeth Barker: Truce in the Balkans. London 1948; Bruno Arcidiacono: Gli alleati e l’armistizio della Romania: variazioni su un tema italiano (settembre 1943 settembre 1944), in: Storia delle relazioni internazionali, 4 (1988), S. 317–354; Valeriu Dobrinescu: Der Waffenstillstand zwischen Rumänien und den Vereinten Nationen (Moskau, 12. 9. 1944), in: Südost-Forschungen, 45 (1986), S. 139–166; Stojan Pintev: SSSR, SAŠt i Velikobritanija i Moskovskoto primirie s B˘algarija (septemvri-oktomvri 1944 g.), in: Izvestija na B˘algarskoto Istoriˇcesko Družestvo, 32 (1978), S. 241–259; ders.: Great Britain and the Armistice with Bulgaria (September-October 1944), in: Bulgarian Historical Review, 14 (1986), H. 1, S. 3–14; Stephen D. Kertesz: Between Russia and the West. Hungary and the Illusions of Peacemaking 1945–1947. Notre Dame /IN, London 1984.

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Truppen besetzt wurde. Die Gründe waren primär militärischer Art. Die sowjetische Großoffensive vom Juni 1944 in Karelien hatte zwar Geländegewinne gebracht, die Macht der rund 60.0000 Mann starken finnischen Armee aber mitnichten gebrochen. Einer militärischen Besetzung Finnlands hätte folglich eine zeitraubende und verlustreiche Eroberung vorausgehen müssen. Außerdem war im finnischen Lappland die 220.000 Mann starke und unverbrauchte 20. deutsche Gebirgsarmee stationiert, deren Vertreibung gleichfalls umfangreiche sowjetische Truppenverbände gebunden hätte. 29 Da der interalliierte Wettlauf nach Berlin bereits im Gange war, wurde die Aufgabe der Zurückdrängung bzw. Internierung der deutschen Truppen auf dem Territorium Finnlands im Waffenstillstandsabkommen der finnischen Armee auferlegt. Die Rote Armee brauchte also weder Kampfverbände noch Besatzungstruppen bereitzustellen, sondern konnte im Gegenteil zwischen Juli und Dezember 1944 etwa die Hälfte ihrer in Fennoskandien eingesetzten 55 Divisionen auf den zentraleuropäischen Hauptkriegsschauplatz transferieren. 30 Die militärisch bedingte Entscheidung Stalins zum Verzicht auf eine Besetzung Finnlands hatte weitreichende politische und psychologische Folgen: Rotarmisten waren in Finnland mit Ausnahme der Hauptstadt und Porkkala nicht „sichtbar“, gab es doch keine Dorf-, Stadt-, Hafen- und anderen Militärkommandanturen, wie von 1944 an in Bulgarien und Rumänien, ab 1945 dann auch in Ungarn, Teilen Österreichs und der SBZ. Vor allem auf kommunaler und regionaler Ebene konnte die UdSSR nicht unmittelbar in das politische Leben des Landes eingreifen. Eine Folge war, dass die finnischen Kommunisten weit weniger selbstsicher agierten als diejenigen der anderen damaligen Satellitenstaaten. Die Abwesenheit sowjetischer Truppen auf finnischem Territorium war also ein wesentlicher Unterschied, auch wenn aus finnischer Sicht die Drohung einer nachträglichen Besetzung bis 1947 als akut empfunden und danach mitnichten als endgültig abgewendet betrachtet wurde. Aber auch das alliierte Kontrollorgan für Finnland unterschied sich in einer ganzen Reihe von Punkten von seinen Gegenstücken in Süd- und Südosteuropa. Der Präzedenzfall für Aufbau, Funktionsweise und Machtverteilung innerhalb der alliierten Kontrollkommissionen war 1943 Italien gewesen. 31 Hier dominierten die

29 Vgl. dazu Polvinen, Between East and West, S. 37–54. 30 Nevakivi, A Decisive Armistice, S. 114; Helmut Handzik: Politische Bedingungen sowjetischer Truppenabzüge 1925–1958. Baden-Baden 1993, S. 279. – Zuvor hatte Stalin erwogen, die 1940 gegründete Karelo-Finnische Sowjetrepublik wieder aufzulösen, wohl als vertrauensbildende Geste gegenüber Finnland, doch kam es dazu erst unter seinem Nachfolger Nikita Chrušˇcëv 1956. Siehe dazu T. Verigin: O planach likvidacii Karelo-Finskoj SSR v avguste 1944 g., in: Karely, Finny. Problemy e˙ tniˇceskoj istorii. Moskva 1992, S. 16–30 (= Rossijskaja akademija nauk. Institut e˙ tnologii i antropologii. Materialy k serii narody i kul’tury. Vypusk XVI). 31 Vgl. Arcidiacono, Le „précédent italien“; ders.: La politique soviétique en ltalie. 1943–1945, in: Relations internationales, Nr. 45 (Frühjahr 1986), S. 35–49; Harris. Allied Military Administration of Italy. – Wohl am besten untersucht ist der Fall der Alliierten Kontrollkommission für Bulgarien. S. dazu Michael M. Boll: Reality and Illusion: The Allied Control Commission for Bulgaria as a Cause of the Cold War, in: East European Quarterly, 17 (1984), S. 417–436; ders. (Ed.): The American Military Illusion in the Allied Control Commission for Bulgaria, 1944–1947. History and Transcripts.

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beiden westlichen Hauptalliierten, wohingegen sich die sowjetische Abteilung in der Kommission für Italien mit der Rolle eines – so die interalliierte Sprachregelung: – „passive third observer“, eines bloßen Zuschauers also, bescheiden musste und auch bereitwillig beschied. Dies geschah, wie sich zeigen sollte, in weiser Voraussicht: In den südosteuropäischen Kontrollkommissionen konnte die UdSSR den Angloamerikanern so denselben marginalen Status zuweisen, den sie in der italienischen Kommission innehatte. Dies jedoch führte in Bukarest, Sofia und Budapest zu ständigen interalliierten Querelen, zumal mit den britischen Vertretern, die auf das Prozentabkommen zwischen Stalin und Churchill pochten. Anders in Finnland, wo die USA in der Kommission nicht vertreten waren, da Washington, wie gesagt, eine Kriegserklärung an Helsinki vermieden hatte, und wo die britische Seite sich ihrerseits freiwillig auf bloßes Beobachten beschränkte. Die sowjetischen Kontrolloffiziere im Helsinkier Hotel „Torni“ argwöhnten im finnischen Fall also kein klandestines Einvernehmen zwischen westalliierten Vertretern und einheimischen Konservativen, unternahmen folglich wesentlich weniger häufig präventive Interventionen in die Innenpolitik Finnlands als in diejenige der südosteuropäischen Verliererstaaten. 32 Von großer Bedeutung war weiter der Umstand, dass die Kontrollkommission für Finnland im Unterschied zu den anderen Kommissionen keinerlei Zensurvollmachten besaß, sowie vor allem die Zusammensetzung der Kommissionsleitung. Während die Führungsspitzen sowohl der sowjetischen Teile der übrigen Kontrollkommissionen wie der sowjetischen Militärverwaltungen in Europa fast ausschließlich aus Berufsmilitärs bestanden, war dies im finnischen Fall anders: Chef der Kontrollkommission war hier ein berufsmäßiger Parteifunktionär, der bereits erwähnte Andrej A. Ždanov, Politbüromitglied und mächtiger Gebiets- und Stadtparteichef von Leningrad. Ihm, der als Exekutor der Sowjetisierung des annektierten Estland 1940 bereits einschlägige Erfahrung gesammelt hatte, war für seine neue Funktion in Helsinki kurzerhand der Generalsrang verliehen worden.

Option Nr. 3: „Tschechoslowakisches Modell“ Die seit 1943 vorrangig verfolgte zweite Option sowjetischer Finnlandpolitik, also die Einführung des „volksdemokratischen Modells“ mittels indirekten Drucks einer Besatzungsverwaltung, war durch die Entscheidung zur Nicht-Besetzung des Landes vom Sommer 1944 obsolet geworden. Stattdessen wurde nun die dritte der genannten Optionen, also die Machtübernahme der finnischen Kommunisten ohne Hilfsstellung

New York, NY, 1985; Stojan Pintev: Naˇcalna dejnost na S˘ajuznata kontrolna komisija v B˘algarija (oktomvri 1944 – januari 1945 g.), in: Istoriˇceski pregled, 35 (1979), H. 4–5, S. 196–204; und ders.: The Outer Factor and the Political History of Bulgaria (1944–1947), in: Étudcs historiques, 14 (1990), S. 204–219. 32 Zur Alliierten Kontrollkommission für Finnland vgl. Polvinen, Between East and West, S. 57–82, und Tatyana Androsova: The Allied Control Commission in Finland, 1944–47: Zig-zags in the Tactical Line, in: Jukka Nevakivi (Ed.): Finnish-Soviet Relations, 1944–48. Helsinki 1994, S. 44–67.

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der Roten Armee, präferiert. Dabei erwies sich rasch, dass diese Partei den hochgesteckten sowjetischen Erwartungen in keiner Weise gerecht wurde. Vor allem Ždanov hatte für die politisch unerfahrenen und aus seiner Sicht überängstlichen Kommunisten bald wenig mehr als Herablassung übrig. Denn obwohl sich die Kommunisten in den ersten Nachkriegsparlamentswahlen vom März 1945 fast ein Viertel der Stimmen und damit die Regierungsbeteiligung hatten sichern können, manövrierten sie sich aufgrund innerer Zerrissenheit, taktischer Naivität und glückloser Personalpolitik in den folgenden Jahren innenpolitisch ins Aus. 33 Anders als die übrigen osteuropäischen kommunistischen Parteien und einige westeuropäische erhielt die finnische KP bezeichnenderweise keine Einladung zur Mitarbeit im 1947 gegründeten Kommunistischen Informationsbüro. 34 Ihre Staatsstreichagitation vom Februar 1948, als in Prag die letzte nicht von Kommunisten dominierte Regierung Osteuropas gestürzt wurde, musste die finnische KP bei den Wahlen vom Juli 1948 mit einer vernichtenden Niederlage und anschließenden 18 Oppositionsjahren büßen. Während der Stern der Kommunisten Finnlands aus Moskauer Sicht also sank, begann man die beiden großen Parteien der finnischen Sozialdemokratien und der Agrarier mit anderen Augen zu betrachten. Die reibungsarme Zusammenarbeit der Kontrollkommission mit der finnischen Regierung in den Jahren 1944 bis 1947 etliche 1946 von Stalin verfügte Verbesserungen der Waffenstillstandsklauseln zugunsten Finnlands sowie die wohlwollende sowjetische Haltung auf der Pariser Friedenskonferenz vom selben Jahr deuten darauf hin. Den entscheidenden Testfall stellte dann im Krisen- und Wendejahr 1947 die Frage einer finnischen Teilnahme am Marshall-Plan dar: Nach kurzem Schwanken befolgte Staatspräsident Juha K. Paasikivi die ultimative sowjetische „Empfehlung“ zur Ablehnung der amerikanischen Einladung. Gleichsam die Belohnung aus Moskau war im September die Ratifizierung des mit Finnland am 10. Februar 1947 geschlossenen Friedensvertrages, was den vollständigen Abzug der Kontrollkommission mit sich brachte. 35

33 So Nevakivi, A Decisive Armistice, S. 105. Siehe auch ausführlich Beyer-Thoma, Kommunisten und Sozialdemokraten in Finnland. 34 G. M. Adibekov: Kominform i poslevoennaja Evropa 1947–1956 gg. Moskva 1994, S. 126–138. 35 Vgl. Mikko Majander: The Limits of Sovereignty. Finland and the Question or the Marshall Plan, in: Scandinavian Journal of History, 19 (1994), H. 4, S. 309–326; Michail Narinsky: The Soviet Union, Finland and the Marshall Plan, in: Nevakivi (Ed.): Finnish-Soviet Relations, 1944–1948, S. 80–99; Alexei Filitov: The Peace Treaty of 1947 in the Soviet-Finnish Relations, ebd., S. 129–150; Maxim Korobochkin: Soviet Policy Toward Finland and Norway, 1947–1949, in: Scandinavian Journal or History, 20 (1995), H. 3, S. 186–207; sowie den Überblick bei Othmar Nikola Haberl: Die sowjetische Außenpolitik im Umbruchsjahr 1947, in: Othmar Nikola Haberl /Lutz Niethammer (Hrsg.): Der Marshall-Plan und die europäische Linke. Frankfurt /M. 1986, S. 75–96.

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Option Nr. 4: „Finnisches Modell“ Den eigentlichen Schlusspunkt Moskauer Sowjetisierungsabsichten gegenüber Finnland und damit die Absage an die Übertragung des „tschechoslowakischen Modells“ bildete der sowjetisch-finnische Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand vom 6. April 1948. 36 Anders als die sowjetischen Knebelverträge mit den Volksdemokratien enthielt dieser Vertrag keine allgemeine Beistandsverpflichtung und keine allgemeine außenpolitische Konsultationsklausel. Vielmehr wurde hier erfolgreich Sicherheit gegen System- und Souveränitätserhalt gehandelt. Erheblich verstärkt wurde der unmittelbare Effekt dieses die bilateralen Beziehungen der folgenden Jahrzehnte bestimmenden Dokuments durch zwei flankierende Maßnahmen der sowjetischen Seite: Ende Mai 1948 mussten die finnischen Kommunisten auf Moskauer Weisung hin eine aus Protest gegen die Entlassung des einzigen kommunistischen Ministers initiierte Streikwelle abbrechen; und am 3. Juni halbierte Stalin die restlichen finnischen Kriegsreparationen bei gleichzeitiger Gewährung einer umfangreichen Devisenanleihe. Die „Jahre der Gefahr“ waren vorüber. 37

Gescheiterte Sowjetisierung oder planmäßige Neutralisierung? Eine Zwischenbilanz Zwar lassen sich die Optionen sowjetischer Finnlandpolitik von 1938 bis 1948 einschließlich ihrer zeitlichen Abfolge deutlich ausmachen, doch steckt hierin noch nicht die ganze Antwort auf die im Titel gestellte Frage danach, warum Finnland nicht sowjetisiert wurde. Nur vordergründig scheint eine solche Antwort leichtzufallen: Weil das Land nie von der Roten Armee besetzt wurde. Denn ohne die praktischpolitischen und psychologischen Effekte unmittelbarer sowjetischer Militärpräsenz waren die in der Technik der Macht wenig erfahrenen finnischen Kommunisten nicht in der Lage, Wahlterror auszuüben und ihre Gegner bis zur politischen Reglosigkeit einzuschüchtern. Und ebenfalls nicht schwerzufallen scheint eine Beantwortung der sich zwangsläufig ergebenden Anschlussfrage danach, warum es nie zu einer solchen Besetzung gekommen ist: 1939 weil die säuberungsgeschwächte Rote Armee zu einer raschen Niederwerfung Finnlands nicht in der Lage war; Anfang 1940 weil eine Fortsetzung des Winterkrieges die Gefahr eines Konflikts mit den Westalliierten barg; Ende 1940 weil der außenpolitische Partner Hitler strikt dagegen war; 1944 weil in der Endphase des Krieges gegen Deutschland gewichtige militärische Gründe dagegen sprachen; und nach 1945 weil ein neuerlicher sowjetischer Finnlandfeldzug nicht nur die mittlerweile bekannten militärischen Risiken geborgen, 36 Appendix 2 bei Polvinen, Between East and West, S. 299–309. Zur russischen Fassung siehe Sovetsko-finljandskie otnosenija 1948–1983. Dogovor 1948 g. o družbe, sotrudniˇcestve i vzaimnoj pomošˇci v dejstvii. Dokumenty i materialy. Moskva 1983. 37 Anders indes K. Rentola, der von Entwarnung erst für den Koreakriegssommer 1950 sprechen will. Vgl. Rentola: Filialkontoret, S. 613–614.

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sondern zugleich den Norden Europas zu einem Brennpunkt des Kalten Krieges gemacht hätte. Dadurch wäre die sprichwörtlich antagonistische Kooperation mit den westlichen Siegermächten zusätzlich belastet worden und hätte darüber hinaus unzweifelhaft Rückwirkungen auf die schwedische Neutralität gehabt. Dennoch kann das „Rätsel“ der ausgebliebenen Sowjetisierung Finnlands (Jukka Nevakivi 38) nicht als gelöst gelten. Denn eine der hier angerissenen zentralen Fragen ist noch immer offen und müsste daher vorrangig an das sowjetische Primärquellenmaterial gerichtet werden – warum es im Sommer 1944 ausschließlich die militärischen Sachzwänge gewesen sind, die die sowjetische Finnlandpolitik bestimmten, warum also nicht wie im zeitgleichen bulgarischen Fall und später in Ungarn ungeachtet der Priorität einer Niederwerfung des Hauptkriegsgegners Deutschland das politisch so vielversprechende Zwangsmittel der Besetzung zur Anwendung kam. Denn es war dieser Verzicht vom Sommer 1944, der sich, wie gezeigt, bald als eine nicht intendierte Weichenstellung mit weitreichenden politischen Konsequenzen erwies. Die NichtPräsenz sowjetischer Truppen in Finnland bewirkte in Kombination mit der eklatanten Schwäche der finnischen Kommunisten und der anti-russischen wie sowjetisierungsfeindlichen Einstellung der großen Mehrheit der Finnen (einschließlich großer Teile der Wählerklientel der KP), dass der politische Preis für eine Systemtransformation nach sowjetischem Vorbild außerordentlich hoch war. Dieser Preis hätte zweifelsohne in einem neuerlichen Krieg gegen Finnland bestanden – mit schwer berechenbaren internationalen Weiterungen. Dieses Wagnis einzugehen war die sowjetische Außenpolitik gemäß ihrem traditionell risikoscheuen Kalkül nicht bereit, und deshalb kam Option Nr. 4 – die „Finnlandisierung“ bzw. besser: die Neutralisierung Finnlands 39 – zur Anwendung. Die noch unbekannte Antwort auf die Frage nach der hinter der Entscheidung vom Sommer 1944 stehenden Interessenabwägung könnte zugleich den Schlüssel zu einer weiteren ungelösten Frage bieten, nämlich derjenigen, ob das Ausbleiben einer mit Mitteln direkter Einflussnahme herbeigeführten Systemtransformation möglicherweise nicht das Ergebnis einer Art Betriebsunfall sowjetischer Hegemonialpolitik, sondern viel eher das Resultat eines bewusst differenzierenden Vorgehens gewesen war. Denn wie aus den Papieren des Kontrollkommissionsvorsitzenden Ždanov herauszulesen ist, hat Stalin in dem ihm eigenen Stil sporadischen und nicht selten erratischen Eingreifens in zentrale Felder der Außenpolitik mit Blick auf Finnland offensichtlich stark auf ein Einvernehmen mit dem ihm persönlich seit langem bekannten Paasikivi gesetzt. Paasikivi, der zwischen 1920 und 1948 mehrfach und über lange Zeiträume der Verhandlungspartner Stalins gewesen war, galt in Moskau als glaubwürdiger Exponent einer finnischen Neutralitätspolitik. Die „Paasikivi-Kekkonen-Linie“ einer sowohl die Interessen der Sowjetunion wie diejenigen Schwedens berücksichtigenden Neutralitätspolitik in Stalins Sicht kam dem Sekuritätsbedarf der

38 Nevakivi, A Decisive Armistice, S. 93. 39 Stefan Troebst: Finnland 1944–1948: Planmäßige Neutralisierung, in: Nordeuropa-Forum, 2 (1992), H. 3, S. 50–52.

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neuen Großmacht im Osten möglicherweise mehr entgegen als der unkoordinierte Aktionismus der finnischen Kommunisten. Für eine solche Annahme spricht, dass diese zurückhaltende, ja geradezu minimalistische sowjetische Finnlandpolitik in einem weitgehend störungsfreien internationalen Umfeld im Norden Europas vonstattengehen konnte. Die konkreten Schritte der UdSSR gegenüber Helsinki stimmten mit dem 1943 geformten Bild überein, das man in Washington und London von den Methoden Stalin’scher Finnlandpolitik und von ihren mutmaßlichen Zielen besaß; westliche Interventionen fanden hier also nicht statt, was wiederum eine Erhöhung des sowjetischen Drucks auf Finnland überflüssig machte. Jeder der beiden Hauptakteure – Westalliierte und sowjetische Führung – verhielt sich ganz überwiegend so, wie es der jeweils andere erwartete: Irritationen, andernorts die Regel, blieben die Ausnahme; abrupte Kurswechsel aufgrund fehlgedeuteter Aktionen der Gegenseite fanden überhaupt nicht statt. Seit 1944 also nahm sich die westliche wie die östliche Finnlandpolitik in der Sicht des jeweils anderen als weitgehend transparent und damit als berechenbar aus. Die Spirale wechselseitiger Fehlperzeptionen, die die Eskalation zwischen Ost und West Ende der vierziger Jahre bewirkte, setzte sich im finnischen Fall nicht in Bewegung. Im Rahmen des offensiven Sicherungskonzeptes, wie es die Sowjetunion praktisch zeit ihrer Existenz verfolgt hat, stellte Finnland daher zwar in der Tat einen Sonderfall, aber keineswegs eine Ausnahme von der Regel dar. Und was die historische Forschung zur sowjetischen Deutschlandpolitik unlängst noch einmal eindrücklich belegt hat, dass nämlich wenn nicht alle, so doch alle entscheidenden Weichenstellungen auf persönliche Entscheidungen Stalins zurückgingen – diese Erkenntnis scheint auch für Finnland zu gelten. Dem Bild, das Stalin von Finnland, seiner Bevölkerung, seiner politischen Klasse und ihren Vertretern gehabt hat, dürfte daher bei der Beantwortung dieser noch offenen Frage zentrale Bedeutung zukommen. 40 Der Stalin-Biograph Isaac Deutscher hat es „einen der bösartigen Streiche der Geschichte“ 41 genannt, dass derselbe Stalin, der im November 1917 in seiner Eigenschaft als sowjetrussischer Volkskommissar für Nationalitätenfragen die finnische Unabhängigkeitserklärung sanktionierte, 42 1939 den Befehl zum Angriff der Roten Armee auf Finnland gab. So gesehen wäre es eine Ironie der Geschichte, wenn – worauf die bislang zugänglichen Moskauer Quellen zur sowjetischen Finnlandpolitik deuten – es wiederum Stalin war, der das zunächst verfolgte Ziel einer Sowjetisierung Finnlands aufschob und später ganz durch die Neutralisierungsvariante ersetzte. „What puzzles us Americans is why the Soviet Union has allowed Finland to retain her independence“ 43 äußerte US-Präsident John F. Kennedy im Jahr des Baus

40 Vgl. den Überblick bei Constantine Pleshakov: Joseph Stalin’s World View, in: Thomas G. Paterson, Robert J. McMahon (Eds.): The Origins of the Cold War. Lexington, MA, 1991, S. 60–72. 41 Isaac Deutscher: Stalin. A Political Biography. Harmondsworth 1960, S. 434. 42 „Den Finnen wie allen anderen Völkern Rußlands ist volle Freiheit zur Gestaltung ihres eigenen Lebens gegeben worden! [. . . ] Keine Bevormundung, keine Kontrolle von oben über das finnische Volk!“ Ebd., S. 187. 43 Zit. nach John Lukacs: Finland Vindicated, in: Foreign Affairs, 71 (1992), H. 4, S. 50–63, hier S. 50.

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der Berliner Mauer, und bis heute prägt die mit Misstrauen gegenüber Moskau (und Helsinki) unterfütterte Verwunderung das Finnlandbild beiderseits des Atlantiks, charakterisiert Erstaunen einschlägige Analysen von Politologen und Zeithistorikern zu den so unterschiedlichen Entwicklungsverläufen in Ostmittel- und Südosteuropa. Das hier vorgestellte und maßgeblich vom militärisch-politischen Ereignisverlauf abgeleitete Erklärungsmuster bietet zwar ebenfalls noch keine letzten Wahrheiten zur Frage, warum Finnland nicht sowjetisiert wurde, doch gibt es Aufschluss über die Richtung, in der die Antwort weiter zu suchen ist.

Die Sowjetunion und die bulgarisch-jugoslawische Kontroverse um Makedonien 1967 – 1983 [1983] In der westlichen Kreml-Astrologie, aber auch in Jugoslawien, wird und wurde im Zusammenhang mit der Makedonien-Kontroverse viel über eine mögliche Rolle der sowjetischen Außenpolitik gemutmaßt. Generell wird der Verdacht geäußert, Moskau heize diesen Streit bewusst an, um durch seinen „Balkanvasallen“ Bulgarien beständig einen plausiblen Vorwand zu direktem Eingreifen in Jugoslawien zu haben. Makedonien sei neben Montenegro, Kroatien und dem Kosovo einer der Hebel, mit denen die Sowjetunion Jugoslawien im Konfliktfall „aufknacken“ wolle. Eine diesbezüglich düstere Prognose hat z. B. unlängst ein bundesdeutscher Autor in einer Darstellung der internationalen Krisenherde im 20. Jahrhundert der Sozialistischen Republik Makedonien (SRM) und ihrer Bevölkerung gestellt, nämlich den „Anschluß an ein orthodox-kommunistisches Bulgarien, notfalls auch mit militärischer Rückendeckung des Großen Bruders im Osten“. 1 Die Folgen eines Versuches Bulgariens, „seinen Gebietsforderungen handgreifliche Geltung zu verschafffen“, sieht er in einer „sowjetischen Intervention à la Afghanistan, wiederum ‚nur‘ zur Verteidigung revolutionärer Errungenschaften und außerdem als ‚brüderliche Hilfe‘ für den treuesten und zuverlässigsten Verbündeten der UdSSR auf dem Balkan“. 2 Daß eine bulgarische militärische Aktion gegen die SRM und gegen Jugoslawien „eine erneute und noch ernstere Weltkrise“ 3 als die Afghanistan-Krise hervorrufen würde, ist unbestritten: wahrscheinlich ist ein bulgarischer Alleingang jedoch nicht und noch viel weniger eine sowjetische Anstiftung bzw. Rückendeckung hierfür. Der Grund für diese und andere Fehleinschätzungen liegt in der Zählebigkeit von abgenutzten, seit den späten sechziger Jahren nicht mehr zutreffenden Klischees wie dem von „Bulgarien, der 16. Sowjetrepublik“ u. ä. Dass die sowjetische Außenpolitik eine wichtige Determinante der bulgarischjugoslawischen Beziehungen in der Nachkriegszeit darstellt, ist unzweifelhaft. Ausgehend jedoch von einem politischen Dreieck Belgrad – Moskau – Sofija und dessen hinlänglich bekannten Schenkeln Moskau – Belgrad und Moskau – Sofija die Verbindungslinie Belgrad – Sofija gleichsam geometrisch ableiten zu wollen, würde zu einem falschen Ergebnis führen: Dann müsste die Sowjetunion nämlich in allen

1

2 3

Immanuel Geiss, „Makedonien“, in: Das zwanzigste Jahrhundert. Teil III: Weltprobleme zwischen den Machtblöcken, hrsg. v. Wolfgang Benz u. Hermann Graml. Frankfurt /M. 1981 (= Fischer Weltgeschichte, Bd. 36), S. 99–100, hier S. 100. Ibid. Ibid.

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wesentlichen bilateralen Fragen für ihren „treuesten Satelliten“ und gegen den sozialistischen Paria Stellung beziehen. Dies ist aber keineswegs der Fall. Wenngleich die Sowjetunion mit Bulgarien in fast allen wichtigen außenpolitischen und ideologischen Fragen konform geht, so tut sie das nicht in der für die bulgarische Führung so bedeutsamen Frage nach der ethnisch-nationalen und „historischen“ Zugehörigkeit der Bevölkerung Makedoniens in Vergangenheit und Gegenwart. Die UdSSR erkennt die Existenz einer historisch gewachsenen, eigenständigen makedonischen Nation samt Nationalsprache an, was sich besonders auf dem Wissenschaftssektor manifestiert. Neben den Lenin’schen Prinzipien der Nationalitätenpolitik im Allgemeinen stehen im Hintergrund möglicherweise Überlegungen zur Parallelität der Entwicklung einer makedonischen und einer moldauischen Nation. Einerseits aus einer nationalen Minderheit im eigenen Lande eine neue Nation zu formen, dies aber andererseits einem (mit Einschränkungen) sozialistischen Bruderstaat zu verwehren, passt schlecht zusammen. In den großen Linien stellen also die bulgarisch-jugoslawischen Beziehungen eine Funktion des sowjetisch-jugoslawischen Verhältnisses dar, doch darf nicht übersehen werden, dass gerade in dem hier zu betrachtenden Zeitraum die bulgarische Jugoslawien-Politik keineswegs immer im Gleichlauf mit der Sowjetdiplomatie vonstatten ging, sondern gelegentlich durch eklatante Missachtung der Moskauer Direktiven empfindliche Friktionen herbeiführte. Die Folgen waren zumeist sowjetische Disziplinarmaßnahmen in Form von Staatsbesuchen, wie noch zu sehen sein wird. Überschätzt werden sollte der Stellenwert des makedonischen Problems im Rahmen der sowjetisch-bulgarischen Beziehungen indessen nicht. Hiervor warnt auch Robert R. King, einer der besten Kenner der Materie, dem sich die bulgarische MakedonienPolitik als eine eher für innenpolitische denn außenpolitische Bühne bestimmte Inszenierung darstellt: Although the Macedonian question appears to be a surrogate for Bulgarian nationalism and possibly a safety valve for anti-Sovietism, the limited differences with the Soviet Union that have arisen as a consequence are not major. Nevertheless they do suggest that potential conflicts of interest on this issue between Sofia and Moscow are possible. For the most part, however, Bulgaria has subordinated its foreign policy to Soviet priorities. 4

Allerdings, so R. King an anderer Stelle, ist bei einer eventuellen Schwächung des sowjetischen Einflusses auf Bulgarien mit einer gesteigerten Brisanz des bulgarischjugoslawischen Makedonien-Konflikts zu rechnen: There can be little doubt that without the dominating influence of the Soviet Union on Bulgarian foreign policy, the question of Macedonia would play a more significant and independent role in Bulgarian-Yugoslav relations. There are some indications that Bulgaria

4

Robert R. King, „Bulgarian-Soviet relations. ‚Socialist Internationalism‘ in action“, in: Radio Free Europe Research, Background Report/89 (Bulgaria), 26. 05. 1975.

Die Sowjetunion und die bulgarisch-jugoslawische Makedonien-Kontroverse

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may assume some small measures of greater independence. If Soviet influence over Bulgarian foreign policy is reduced, Macedonia may well become a source of even more bitter controversy. 5

Auf der anderen Seite bestehen etliche gute Gründe für die Annahme, dass man sowjetischerseits die Spannungen zwischen den beiden südslawischen Balkannachbarn nicht ganz ungern sieht. Das Jahr 1948 sowie die ohne sowjetische Billigung unternommene bulgarisch-jugoslawische Föderationsinitiative, deren Ausweitung auf ganz Osteuropa und sogar auf die Türkei und Griechenland geplant war, sind der sowjetischen Führung noch in allzu frischer und unguter Erinnerung. Noch einmal R. King: The classical Balkan situation is in a certain sense being repeated here. Small powers, unable to unite in the protection of their common interest because of highly emotional and conflicting national issues, seek the protection or assistance of an external great power with the result that local independence suffers and external influence grows. The Macedonian question, made more volatile by the persistence of local nationalism, continues to divide the Balkan states while Moscow smiles in the wings. 6

Nicht ganz konform mit dieser Ansicht geht allerdings Pedro Ramet, ein weiterer US-Analytiker sowjetischer Makedonien-Politik. Er betont die mögliche Funktion des Makedonien-Konfliktes als Vorwand für ein sowjetisches Eingreifen im Krisenfalle in Jugoslawien: Yet willy-nilly the Macedonian question performs two functions for the Kremlin: (1) it gives the Soviets a certain leverage over both parties, which might make a crucial difference in a full-blown crisis; and (2) it provides a pretext upon which the Kremlin might intervene, again in the event of a crisis. In Soviet carrot-and-stick diplomacy, the Macedonian question figures more as a stick in Moscow’s Yugoslav policy than as a carrot in its Bulgarian policy. 7

Eine Krise vorausgesetzt, mögen diese Hypothesen stimmen, doch ist es, wie gesagt, kaum vorstellbar, dass Bulgarien eine solche von sich aus vom Zaun brechen würde, geschweige denn Jugoslawien. Im Rahmen einer übergeordneten schweren sowjetisch-jugoslawischen Krise, wie sie etwa im Sommer und Herbst 1968 stattfand, kommt einer regionalen Makedonien-Krise mit Bulgarien lediglich marginale Bedeutung zu. Andere westliche Kommentatoren, wie etwa Zdenko Anti´c, sind sogar so weit gegangen, den bulgarisch-makedonischen Streit als „Reflexion der Rivalität zwischen

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Stephen E. Palmer, Jr., Robert R. King, Yugoslav Communism and the Macedonian Question. Hamden, Conn., 1971, S. 193. Robert R. King, „The Macedonian Question and Bulgaria’s relations with Yugoslavia“, in: Radio Free Europe Research, Background Report/98 (Bulgaria), 06. 06. 1975, S. 21. Pedro Ramet, „The Soviet Factor in the Macedonian Dispute“, in: Survey. A Journal of East & West Studies 24 (1979), no. 3 (108), S. 128–134, hier S. 134.

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China und der Sowjetunion“ zu bezeichnen. 8 Eine ähnliche Ansicht äußerte 1979 der konservative griechische Ministerpräsident Konstantin Karamanlis: A competition has been noted between China and the Soviet Union in the area in which Greece has undertaken a series of initiatives for the creation of conditions of peace, cooperation, and stability. 9

Das extrem vorsichtige Vorgehen der chinesischen Diplomatie, das etwa anlässlich des Besuches des chinesischen Ministerpräsidenten Hua Kuo-Feng in Skopje im August 1978 deutlich zutage trat, 10 spricht jedoch dagegen, dass die VR China nach dem Verlust ihres albanischen Partners, des „Leuchtfeuers des Sozialismus in Europa“, auf der Suche nach anderen Möglichkeiten der politischen Einflussnahme auf dem Balkan ist. Die guten chinesischen Beziehungen zu Jugoslawien und Rumänien widersprechen dem nicht. Während die jugoslawische Führung zu Lebzeiten Josip Broz Titos stets darauf bedacht war, ihrerseits den „sowjetischen Faktor“ in der makedonischen Angelegenheit herunterzuspielen, gab sie diese Haltung erstmals in der Kosovo-Krise vom Frühjahr 1981 auf. Stane Dolanc, Mitglied des Präsidiums des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens, und andere Politiker äußerten öffentlich die Vermutung, Albanien und Bulgarien hätten unter sowjetischer Regie eine Verschwörung gegen Jugoslawien angezettelt, im Rahmen derer die Ereignisse im Kosovo lediglich der Auftakt wären, dem ähnliche Entwicklungen in Makedonien und womöglich auch anderen Gebieten des Landes folgen würden. Als man indes in Belgrad merkte, dass durch derartige Sensationsmeldungen die herrschende, durch die politischen, aber vor allem auch durch versorgungstechnische und wirtschaftliche Probleme hervorgerufene Panikstimmung im Lande nur noch verstärkt wurde, war nicht länger die Rede davon. Aus den hier erfolgten Ausführungen, die belegen sollen, dass sowjetischerseits die Makedonische Frage seit dem Ende der sechziger Jahre weder direkt noch indirekt zum Ausüben von Druck auf Jugoslawien benutzt worden ist, zu folgern, dass die UdSSR sich generell aus den makedonischen Querelen heraushalte, wäre allerdings ein Trugschluss. Die sowjetische Diplomatie hat sich mehrfach und massiv in die bulgarisch-jugoslawische Kontroverse um Makedonien eingemischt doch – wie ein eingehenderer Blick auf die bilateralen Beziehungen der Balkanstaaten in den vergangenen 15 Jahren zeigt – ausschließlich mit dem Ziel, mäßigend auf die Kontrahenten einzuwirken. Moskau setzte das Getriebe seiner Reisediplomatie entweder zur Zügelng der Widersacher (vor allem Bulgariens) in akuten Krisensituationen in Gang oder aber zur Vorbereitung von neuen Verhandlungsinitiativen zwischen Sofija und Belgrad bzw. Skopje.

8

Zdenko Antic, „Karamanlis to visit Belgrade“, in: Radio Free Europe Research, Background Report/62 (Yugoslavia), 15. 03. 1979. 9 Ibid. 10 Slobodan Stankovic, „Chairman Hua Kuo-Feng in Macedonia“, in: Radio Free Europe Research, Background Report/188 (Yugoslavia), 25. 08. 1978.

Die Sowjetunion und die bulgarisch-jugoslawische Makedonien-Kontroverse

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Ganz besonders deutlich wurde dies z. B. im Krisenjahr 1968, als im Februar der sowjetische Außenminister Andrej A. Gromyko in Sofija dem Wunsch Moskaus ˇ nachhaltigen Ausdruck gab, neben der CSSR möge kein weiterer Krisenherd in der Region entstehen. In Sofija fügte man sich widerstrebend, doch nur bis zu dem Tage, ˇ an dem die CSSR-Krise „gelöst“ wurde: Am 21. August 1968, dem Tag der unter bulgarischer militärischer Beteiligung erfolgten Invasion, gab die bulgarische Führung jegliche Zurückhaltung gegen die SRM und Jugoslawien wieder auf. Die von Sofija inszenierte Kampagne, die das Einnehmen von militärischen Drohgebärden gegen den westlichen Nachbarn mit einschloss, ging den sowjetischen Verbündeten aber offensichtlich zu weit. Marschall Ivan I. Jakubovskij, der Oberkommandierende der Warschauer-Pakt-Truppen, sorgte noch im September 1968 mit seinem Erscheinen in Sofija dafür, dass man dort den Ton gegenüber Jugoslawien ganz entschieden mäßigte. In der Folgezeit wurde der bulgarischen Führung klar gemacht, dass die UdSSR auf einer Ausräumung des Problems Makedonien in den Beziehungen zu Jugoslawien bestehe. Offensichtlich im September 1969 war dieses Vorhaben dann so weit gediehen, daß A. A. Gromyko in Belgrad seinen Gastgebern bulgarische Kompromissbereitschaft signalisieren konnte. Unmittelbar darauf wurde eine bulgarischjugoslawische Verhandlungsrunde eröffnet. Ähnliche Folgen hatte der Besuch des jugoslawischen Ministerpräsidenten Mitja Ribiˇciˇc Ende Juni 1970 in Moskau sowie vor allem die Balkantournee des sowjetischen Parteichefs Leonid I. Brežnev vom Ende September 1971, die ihn unter anderem nach Belgrad und anschließend nach Sofija führte. Bei dieser Gelegenheit übte er allem Anschein nach derartig massive Pressionen auf die bulgarische Führung aus, dass jene schon sechs Wochen später eine besonders weitreichende Konzession an die jugoslawische Seite machen musste, nämlich die Anerkennung der makedonischen Schriftsprache. Jetzt setzte eine fast sechs Jahre lang anhaltende Phase der Entspannung im bulgarisch-jugoslawischen Verhältnis ein, die in direktem Zusammenhang mit der graduellen Entschärfung des makedonischen Problems stand. Im Herbst 1973 machten L. I. Brežnev in Sofija und der sowjetische Ministerpräsident Aleksej N. Kosygin in Belgrad noch einmal deutlich, dass die Sowjetunion eine Fortsetzung des 1971 eingeschlagenen Kurses wünsche. Doch nicht nur aus außenpolitischen Erwägungen sah man in Moskau den Makedonien-Streit Bulgariens mit dem in internationaler Hinsicht nicht zu unterschätzenden Jugoslawien mit zwiespältigen Gefühlen. Wie bereits angedeutet, lagen der Renaissance des Patriotismus in Bulgarien mit dem Schibboleth „Makedonien“ innenpolitische Motive zugrunde, genauer: die Befürchtung, die allzu starke Fixierung auf die Sowjetunion könnte Unzufriedenheit in Form von politischem Dissens hervorrufen. Dem sollte durch die Hebung nationalen Sentiments vorgebaut werden. Noch zu Lebzeiten von Ljudmila Živkova, Tochter des bulgarischen Parteichefs Todor Živkov und uneingeschränkte Koordinatorin der bulgarischen Kulturpolitik (darunter auch der gesamten Makedonien-Kampagne), war sowjetisches Unbehagen an ihrer Person und Politik spürbar geworden. Besonders das 1981 mit Getöse inszenierte Jubiläum „1300 Jahre Bulgarien“ empfang man in Moskau als einen allzu forschen

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Schritt. Wollte die bulgarische Führung damit etwa signalisieren, daß ein seit dem Jahre 681 n. Chr., also noch vor der Kiever Rus’, der ersten russischen Staatsgründung, entstandener, eigenständiger bulgarischer Staat das Recht hätte, auch heute noch auf eine besondere Form der Eigenständigkeit, zumindest in nationalen Belangen wie Makedonien, zu pochen? 11 Der durch den Tod L. I. Brežnevs bedingte Wechsel in der sowjetischen Gerontokratie vom Jahresende 1982 löste nicht nur in Jugoslawien, sondern gerade auch in Bulgarien Sorge aus. T. Živkov, mit L. I. Brežnev besonders eng affiliiert gewesen, und der von ihm geführte „zentristische“ Flügel in der bulgarischen Partei, vernahmen mit Unbehagen, dass der neue starke Mann in Moskau, Ex-KGB-Chef Jurij A. Andropov, dem Balkan in seiner Außenpolitik größere Bedeutung beizumessen gedachte, gar vorgehabt haben soll, Atomraketen in Bulgarien zu stationieren, und dies ungeachtet des bulgarisch-griechischen Projekts einer atomwaffenfreien Zone auf dem Balkan. Auch die befürchtete Instrumentalisierung Bulgariens im Sinne der sowjetischen Nahost- und Dritte-Welt-Politik bedeutete ohne Zweifel das Ende der ohnehin zaghaften Eigenständigkeitsbemühungen T. Živkovs auf balkanischem Tableau. Und von bulgarischen Sonderinteressen in Makedonien würde schon gar keine Rede mehr sein. All diese Befürchtungen verdichteten sich in Sofija, als der neue Mann inoffiziell ankündigte, als erstem Land werde er im Oktober 1983 Bulgarien einen offiziellen Staatsbesuch abstatten. 12 Gesundheitliche Gründe haben ihn bislang daran gehindert. Die Furcht der bulgarischen Partei- und Staatsführung vor dem „Revisor“ aus Moskau hält somit noch an, gibt ihr aber andererseits auch die Gelegenheit, allzu auffällige Unebenheiten noch rechtzeitig zu beseitigen. Begonnen hat man damit schon: Aleksand˘ur Lilov, die gesamten siebziger Jahre hindurch Chefideologe der Partei und somit auch Mitinitiator des antimakedonischen Feldzuges, wurde im Oktober 1983 seiner Ämter enthoben. Die bulgarische Führung hat zwar im ersten Jahr der Ära Andropov noch keine ernstzunehmenden Anstalten zur Beendigung der Makedonien-Kampagne gemacht, doch ist unübersehbar, dass man jene mehr im Hinblick auf das nationale Publikum, nicht auf den westlichen Nachbarn, weiterlaufen lässt. Die Hoffnung auf sowjetische Schützenhilfe hat man aufgegeben. Wenn der frühere jugoslawische Außenminister Josip Vrhovec bezüglich der bulgarischen Außenpolitik auch meinte, „Bulgarien ist nicht nur Bulgarien“, 13 so trifft dies für die bulgarische Makedonien-Politik schon seit 1967 nicht mehr zu. Hier ist Bulgarien tatsächlich nur Bulgarien. Und nicht einmal dies zur Gänze, denn nicht nur innerhalb der eigenen Partei regt sich allmählich der Unmut über die Folgen der ständig geschürten Makedonien-Kontroverse – nach außen chronisch schlechte Beziehungen zu Jugoslawien, im Innern Zunahme von 11 Patrick Moore, „The Bulgarian Military, Macedonia, and the ‚Lyudmila Effect‘“, in: Radio Free Europe Research, Bulgarian Situation Report/5, 18. 04. 1983. 12 Viktor Meier, „Andropow im November nach Sofia“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. 10. 1983. 13 Le Monde, 24. 11. 1981, hier zitiert nach Patrick Moore, „The Ilinden Uprising Commemorated“, Radio Free Europe Research, Bulgarian Situation Report/9, 24. 08. 1983.

Die Sowjetunion und die bulgarisch-jugoslawische Makedonien-Kontroverse

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„Phänomenen wie Nationalismus und Chauvinismus“ –, auch die sowjetische Politik hat sich nicht auf Nichteinmischung beschränkt, sondern der bulgarischen Führung ihrer Ausfälle gegen die SRM und Jugoslawien wegen mitunter empfindlich auf die Finger geklopft: „Bulgaria, it is true,“ so der Bulgarien-Historiker Fred Chary, „has Soviet patronage, but that is not always an advantage.“ 14

14 Frederick B. Chary, „Bulgaria: The Solace of History“, in: Current History 80 (1981), no. 465, S. 164–167, hier S. 167.

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The “Transnistrian Moldovan Republic”, 1990 – 2002 From Conflict-Driven State-Building to State-Driven Nation-Building

[2003] I. Introduction On 9 December 2001, the engineer Igor’ N. Smirnov was re-elected for a third time as ‘President’ of the ‘Transnistrian Moldovan Republic’ (Pridnestrovskaja Moldavskaja Respublika, TMR). 1 Smirnov, an ethnic Russian from the Kamˇcatka Peninsula, i. e. from the opposite end of the former Soviet Union, received his education ˇ in Celjabinsk in the Southern Ural. For his career, he then moved to a plant for electric motors near Cherson in South Ukraine, 2 and in November 1987, took up ˙ the position of executive director of the industrial plant “Elektromaš” in Tiraspol’ (Tiraspol 3) – then the second largest city of the Moldovan Socialist Soviet Republic (MSSR) and today the ‘capital’ of the TMR. Most of the members of the TMR leadership have ‘all-union’ biographies similar to Smirnov’s. They made their careers in the CPSU, the KGB, the army, state bureaucracy or the planned economy in the empire between the Pacific Ocean and the Black Sea, and were taken by surprise by the implosion of the USSR while being positioned in Tiraspol’ or one of the other industrial and russophone cities in the Dniester valley such as Bendery (Tighina) or Rybnica (Rîbni¸ta). It is for this reason that observers from the outside perceive the TMR, proclaimed in 1990 on the eastern fringe of the Republic of Moldova, as

1 2

3

Deutsche Presse-Agentur, “Smirnov als Präsident der Dnjestr-Republik bestätigt”, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11 December 2001, 1. Igor’ N. Smirnov, Žit’ na našej zemle (Moskva, 2001) 9–11. See also T. G. Dejnenko et al., Igor’ Nikolaeviˇc Smirnov. Bibliografiˇceskij ukazatel’ (Tiraspol’, 2001) 3–4, as well as the ‘official’ biography of Smirnov by Anna Z. Volkova, Lider (Tiraspol’, 2001). An electronic version of this book can be found on the website of the official Transnistrian news agency “Ol’vija-Press” at http://www. olvia.idknet.com, accessed: 05-10-2016. In this article, the names of places under control of TMR authorities are given in their Russian form, names of places under control of the Moldovan government in their Moldovan /Romanian form. At the first mentioning, the equivalent of the other language is given in brackets.

The “Transnistrian Moldovan Republic”

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a “museum of communism” 4, as “Stalin’s last colony” 5, or as a “Zombie Socialist Soviet Republic”. 6 The main pillars the separatist Transnistrian republic rests upon are the political will of a regional elite aiming at the preservation of its power and privileges, the economic potential of this highly industrialized region, the military force of the secessionist movement acquired with the help of Moscow and the weakness of the central government of Moldova. Within a very short time, from 1989 to 1992, the conflict over the control of Transnistria resulted in the emergence and consolidation of a new political entity, the TMR. And since then, TMR authorities engage in regionalist identity management in order to create a titular nation for the new statelike structure – the ‘Transnistrian people’. In the following what has been called the Transnistrian exception to the Soviet rule is analyzed by looking at the (Soviet) prehistory and the immediate causes of the conflict as well as at the two decisive phases of conflict-driven state-building in the Dniester valley up to 1992 and of state-driven nation-building since then.

II. The TMR in Moldova The TMR is an authoritarian “pseudo-state” turned “quasi-state” or “de facto state” 7 on the territory of the Republic of Moldova. 8 Its 4,163 square kilometres stretch out more than 200 kilometres along the eastern banks of the river Dniester and are inhab-

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5 6

7

8

Oliver Hoischen, “Transnistrien ist zu einer Grauzone zwischen Ost und West geworden”, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28 September 1999, 3; Matthias Rüb, “Das kleine Königreich des kleinen Lenin”, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9 January 2001, 6. Walter Mayr, “Stalins letzte Kolonie”, Der Spiegel, 2 October 2000, 223. ˇ R. S. S. Mancurt˘a in the Moldovan /Romanian original – alluding to Cingiz T. Aitmatov’s Kazakh legend of the Mankurts. See Nicolae Dabija, Moldova de peste Nistru – vechi p˘amînt str˘amo¸sesc (Chi¸sin˘au, 1990), 4. Scott Pegg, International Security and the De Facto State (Aldershot, 1998); Pål Kolstø, Unrecognized States Vs. Quasi-States in International Relations, unpublished MS, January 2003; and Vladimir Kolossov and John O’Loughlin, “Pseudo-States as Harbingers of a New Geopolitics: The Example of the Transdniestr Moldovan Republik (TMR)”, in David Newman (ed.), Boundaries, Territories and Postmodernity (London, 1999), 151–176. On the TMR see Klemens Büscher, “Separatismus in Transnistrien. Die ‘PMR’ zwischen Rußland und Moldova”, 46 Osteuropa (1996), 860–875; Frank-Dieter Grimm, “Transnistrien – ein postsowjetische Relikt mit ungewissen Perspektiven”, 5(2) Europa Regional (1997) 23–34; Pål Kolstø and Andrei Malgin, “The Transnistrian Republic: A Case of Politicized Regionalism”, 26 Nationalities Papers (1998), 103–127; Constantin Chiro¸sca, “Ideologia Transnistrean˘a”, 10 Arena Politicii 1997, 21–22; Stefan Troebst, “Separatistischer Regionalismus als Besitzstandswahrungsstrategie (post-)sowjetischer Eliten: Transnistrien 1989–2002”, in Philipp Ther and Holm Sundhaussen (eds.), Regionale Bewegungen und Regionalismen in europäischen Zwischenräumen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts (Marburg /L., 2003), 185–214; as well as the collection of documents V. F. Gryzlov and M. N. Guboglo (eds.), Nepriznannaja respublika. Oˇcerki. Dokumenty. Chronika 5 vols. (Moskva, 1997–1999).

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ited by some 660,000 people 9 who make up about 15 per cent of the total population of Moldova. Officially, Russian, Ukrainian and Moldovan are the state languages in the TMR, yet in fact Russian dominates completely. In Soviet times, on the territory of today’s TMR – 12 per cent of Moldova’s territory – 90 per cent of the energy, 40 per cent of the gross national product and a third of the total industrial output were produced. The main producers were large-scale enterprises that belonged to the military-industrial complex of the USSR and were for the most part attached to one of the many union ministries in Moscow. As a result, they were privileged compared to enterprises of the Moldovan SSR. In 1990, the TMR split away from what then still was Soviet Moldavia. This move triggered an armed conflict in the Dniester valley which led to this area becoming a frontier between the two parts of the country. The conflict peaked in June 1992 when the Transnistrian side successfully defended the city of Bendery, a bridge-head located on the right bank of the river vis-à-vis the TMR capital Tiraspol’, against the Army of Moldova. Fighting in and around Bendery resulted in up to 1,000 casualties, several thousand injured combatants and civilians, and more than 130,000 displaced people. 10 While the Fourteenth Soviet Guard Army, stationed in the centre of Tiraspol’ as well as in the vicinity, had remained passive though benevolent to the Transnistrian side during the initial phase of the fighting, it soon forced both sides to sign an armistice. 11 Since then, the conflict in the Dniester valley has been frozen but not yet regulated. Until today, the mini-republic of Transnistria is not internationally recognized but nevertheless exists. Moreover, in socio-economic terms, the TMR seems to be better off than right-bank Moldova, “Europe’s poorest country” 12, with Chi¸sin˘au (Kishinev) as capital. In 2001, a Moldovan expert characterized the TMR economy as “not selfsufficient, but viable” and named barter trade with the Russian Federation, steeldumping on the US market, petty street trade and criminal economic activities of the TMR leadership (cigarette smuggling, arms trade, money laundering, production of fake designer clothes, etc.) as the main components of Transnistria’s GNP. 13 “The 9

10

11 12 13

Figure given by TMR ‘foreign minister’ Valerij A. Lickaj during a meeting in Tiraspol’ on 30 October 2001. The TMR census of 1 January 1998 put the number of inhabitants at 670,800, while in 1989 the figures came up to 770,000. Cf. “Dniester Moldavian Republic”, in Dniester Moldavian Republic, Atlas of the Dniester Moldavian Republic (Tiraspol’, 2nd ed. 2000), 3, and Nikolaj V. Babilunga et al., Fenomen Pridnestrov’ja (Tiraspol’, 2000), 122. Of these, about 80,000 fled to neighboring as well as distant countries, mainly to Germany. See Valerij Mošnjaga [Valeriu Mo¸sneaga], “Vooružennyj konflikt v Respublike Moldova i problema peremešˇcennych lic”, Moldoscopie. Problemy politiˇceskogo analiza. Sbornik statej, vol. VII (Chi¸sin˘au, 1995), 82–126. Vladimir Socor, “Russia’s Fourteenth Army and the Insurgency in Eastern Moldova”, 1(36) Radio Free Europe /Radio Liberty Research Report (1992), 41–48. Elfie Siegl, “Der mühselige Weg der kleinen Moldau-Republik aus der Krise”, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3 December 2001, 18. Anatolij Gudym, Evolution of the Transnistrian Economy: Critical Appraisal (Chi¸sin˘au, 2001), at http://www.cisr-md.org/pdf/Transnistria_Report_En_Final.pdf, accessed: 09-10-2016. For an official portrayal of the TMR industry, see A. Palamar’ and N. Elagin, Izgotovleno v Pridnestrov’e. Reklamno-informacionnyj spravoˇcnik (Tiraspol’, 2000).

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The “Transnistrian Moldovan Republic”

Table 1: Ethnic structure of the TMR (1998) and the MSSR (1989)

* **

TMR (in per cent; January 1998)*

MSSR (in per cent; January 1989)**

Moldovans /Romanians

33.8

64.5

Russians

28.8

13.0

Ukrainians

28.7

13.8

Bulgarians

2.1

2.0

Jews

1.9

1.5

Gagauzes

0.7

3.5

other

4.0

1.7

Total

100

100

Nikolaj V. Babilunga et al., Fenomen Pridnestrov’ja (Tiraspol’, 2000), 1. Charles King, The Moldovans (Stanford, 1999), 97.

Trans-Dniester Republic”, thus also the New York Times, “is unique [. . . ] in its ability to turn a fast and often illegal buck.” 14 In the TMR, eastern Romance-speakers, i. e. Moldovans or – depending on one’s ethnopolitical point of view – Romanians 15, make up one third of the population thus constituting the relative majority of the population. They are followed by Ukrainians and Russians, each representing about one quarter of the population (see Table 1). Yet since Ukrainians and Russians, together with the smaller groups of Bulgarians, Jews, Gagauzes, Belarusians, Poles and others, form in linguistic terms, as well as politically, a russophone bloc, here Moldovans /Romanians are a minority. In west-bank Moldova, population numbers are the other way around: Here, Russians and other russophones make up one third of the population, Moldovans /Romanians two thirds. Again, the linguistic reality is somewhat different: Moldovan cities like Chi¸sin˘au or B˘al¸ti (Bel’cy) are also predominantly russophone – surrounded by a Moldovan /

14 Michael Wines, “Trans-Dniester ‘Nation’ Resents Shady Reputation”, New York Times, 5 March 2002, 3 at http://www.nytimes.com/2002/03/05/world/trans-dniester-nation-resents-shady-reputation.html, accessed: 09-10-2016. 15 For the conflicting aspects of Moldovan nation-building, see Charles King, The Moldovans. Romania, Russia, and the Politics of Culture (Stanford, 1999); Id., “Moldovan Identity and the Politics of Pan-Romanism”, 53(2) Slavic Review (1994), 345–368, and Claus Neukirch, Die Republik Moldau. Nations- und Staatsbildung in Osteuropa (Münster, 1996). On language issues, see Klaus Heitmann, “Sprache und Nation in der Republik Moldova”, in Wilfried Potthoff (ed.), Konfliktregion Südosteuropa. Vergangenheit und Perspektiven (München, 1997), 79–105; Klaus Bochmann, “‘Moldauisch’ oder ‘Rumänisch’. Linguistische, kulturelle und politische Aspekte der Amtssprache”, 36(3–4) Der Donauraum (1996), 95–102, and Charles King, “Ambivalence of Authenticity, or How the Moldovan Language was Made”, 58(1) Slavic Review (1999), 117–142.

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Romanian-speaking countryside. 16 Officially, in Moldova only Moldovan /Romanian has the status of a state language with Russian having been downgraded in 1989 to a ‘language of inter-ethnic communication’.

III. The Transnistrian exception to the late Soviet rule According to the political scientist David D. Laitin, the eastern part of the Republic of Moldova represents “the only exception to the absence of ethnic conflict directed at Russians in the union republics”. 17 Across the USSR, this was the only case of a militant movement of Russians or Russian-speakers in the so-called Near Abroad – an exception that even resulted in the foundation of a state-like entity. This course of events differed considerably from the one in other regions such as Estonia, Latvia or the Ukraine. Yet another feature also is unique about Transnistria: Before 1989, nothing pointed to the building up of interethnic tensions in the Dniester valley. Accordingly, during the Perestroika period, the region did not figure in any of the many scenarios of late Soviet ethnopolitical conflict. Up until this point in time, even the regional denomination ‘Transnistria’ existed, if at all, only as a geographical term, not as an administrative, let alone a political one. 18 The main motive for the protagonists of the “Transnistrian revolution” 19 was (and still is) the maintenance of privileged positions in administration, the economy and other segments of society. The regional elites in the Dniester valley differ greatly in their socio-professional, linguistic and demographic structure from those of the more agrarian right-bank parts of the MSSR, the historical Bessarabia. Among the russophones, the Moldovan claim for alterity triggered a process of regional identification with the non-historical region Transnistria – a “reactive nationalism”. 20 As in other parts of the Near Abroad, it was not the ‘beached’ imperial minority of the Russian-

16 According to the last census in the USSR, in 1989 in Tiraspol’ 88 per cent of the 196,000 inhabitants were Russians or Ukrainians. 70 per cent of the 138,000 inhabitants of Bendery and 58 per cent of the 700,000 inhabitants of Chi¸sin˘au were non-Moldovans, i. e. mainly Eastern slavs. Even the city of B˘al¸ti with its purely Moldovan surroundings has an absolute Russian-Ukrainian majority of 64 per cent. See Valerij Mošnjaga et al., Konflikt v Moldove: Opyt e˙ tnopolitiˇceskogo analiza (Kišinëv, 1992), 21. 17 David D. Laitin, Identity in Formation. The Russian-Speaking Populations in the Near Abroad (Ithaca, NY; London, 1998), 330. See also Id., “Secessionist Rebellion in the Former Soviet Union”, 34 Comparative Political Studies (2001), 839–861 and Louk Hagendoorn et al, Intergroup Relations in States of the Former Soviet Union. The Perception of Russians (Philadelphia, PA, 2001), 70–71. 18 Uwe Halbach, “Die Nationalitätenfrage: Kontinuität und Explosivität”, in Dietrich Geyer (ed.), Die Umwertung der sowjetischen Geschichte (Göttingen, 1991), 211. 19 D. F. Kondratoviˇc, “Pridnestrovskaja revoljucija, 1989–1992 gg.”, 3 Ežegodnyj istoriˇceskij al’manach Pridnestrov’ja (1999), 23–25. 20 William Crowther, “The Politics of Ethno-National Mobilization: Nationalism and Reform in Soviet Moldavia”, 50 Russian Review (1991), 183–203, at 189. See also Jeff Chinn and Steven D. Roper, “Ethnic Mobilization and Reactive Nationalism: The Case of Moldova”, 23 Nationalities Papers (1995), 291–324.

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speakers but the new majority, i. e. the titular nation, whose political moves increased interethnic tension. What are the reasons for the swift success of the policy of maintaining positions and privileges even by force pursued by the elites of Transnistria? First, the fact that the political elite here was (and still is) to a large extent congruent with the economic elite must be noted. Second, and probably of equal importance, was the external factor, i. e. the role of Moscow with its military presence, its political support for the separatist leadership and its psychological influence on the russophone majority of the population. Third, the normative power of the actual existence of the TMR since 1990, which initiated a relocation of social processes and a veritable ‘Transnistrization’, has to be taken into account. Taken together, these three driving forces allowed the authorities in Tiraspol’ to embark on the project of forging the ethnically diverse, yet linguistically united inhabitants of the Dniester valley into what they initially called “the multinational people of the TMR” and what currently is termed the “Transnistrian people”. 21 The main components of these TMR ‘politics of history’ (Geschichtspolitik) are a Greater-Russian mental mapping based on geopolitics, language, culture and religion, a new historical master-narrative reaching far back into the past, politics of remembrance focusing on the ‘heroic’ early years of the new state and the Battle of Bendery of 1992, as well as a new personality cult of ‘president’ Smirnov. Opinion polls and election results point to the fact that a relative majority of the inhabitants of the TMR have adopted the view that they form a new Transnistrian demos – with the potential to turn into an ethnos. While the attempt at state-building by the Transnistrian leadership is an exception in all of the Near Abroad, the project of turning the local russophones into a new East Slav and ‘Russic’ nation of ‘Transnistrians’ – next to the ‘Little Russians’ of the Ukraine, the ‘White Russians’ of Belarus’, and the ‘Greater Russians’ of the Russian Federation – is even more remarkable. In justifying their experiment in the TMR testtube, the nation-builders in Tiraspol’ go far back into history, even into mythology: “Since times immemorial, the Transnistrian lands hold an extraordinarily important position in the vast spaces of Eurasia” runs the first sentence of the official History of the Transnistrian Moldovan Republic in Two Volumes, compiled with the help of historians from Moscow and published in Tiraspol’ in 2000 and 2001. 22 The reference to Eurasia, which invokes the anti-Western current in Russian thought, 23 is underlined by a stress on the ‘Skythian’ tradition of Transnistria. 24 “Looked upon 21 Stefan Troebst, “‘We Are Transnistrians!’ Post-Soviet Identity Management in the Dniester Valley”, 4(1) Ab Imperio (2003), 437–466. 22 V. Ja. Grosul et al., Istorija Pridnestrovskoj Moldavskoj Respubliki v dvuch tomach, vol. 1 (Tiraspol’, 2000), 5. 23 Mark Bassin, “Russia and Asia”, in Nicholas Rzhevsky (ed.), Cambridge Companion to Russian Culture (Cambridge, 1998), 57–84. See also Caroline Humphrey, “‘Eurasia’, Ideology and the Political Imagination in Provincial Russia”, in Christopher M. Hann (ed.), Postsocialism. Ideals, Ideologies and Practices in Eurasia (London; New York, NY, 2002), 258–276, and Marlène Laruelle, L’idéologie eurasiste russe ou comment penser l’empire (Paris, Montreal, 1999). 24 Grosul et al., Istorija, 51–54.

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with the eye of the high-flying eagle”, thus states a textbook published in 1997 in Tiraspol’, “Transnistria – this thin strip of land along the grey-haired river Dniester – resembles a Skythian arc.” 25 With reference to Aleksandr A. Blok’s famous poem “The Skythians” (Skify), TMR identity management portrays Transnistria as a Slavic bullwark at the crossroads of Europe and Asia. For example, a map on the TMR’s geopolitical position in the official English-language Atlas of the Dniester Moldavian Republic represents the territory of the TMR as being much more compact than the geodetic facts suggest, as well as being located in a geopolitically crucial central position between East and West. In doing so, this alleged ‘centrality’ of the TMR relates to two constellations: First, the TMR is portrayed as being located right in the middle between the ‘brotherly states’ of Belarus’ and the Russian Federation on the one side and the equally ‘brotherly’ – since Christian-Orthodox – Balkan countries of Bulgaria, Macedonia and Serbia on the other. Second, it is depicted as being encircled by the hostile NATO members Poland, Hungary, Greece and Turkey. 26 Moldova, which according to TMR propaganda is a hotbed of “Chi¸sin˘au-style Nazism” and a stomping ground of “Romanian cannibals”, 27 as well as the Ukraine – in Tiraspol’s perception notoriously unreliable with regard to Christian-Orthodox and eastern Slav solidarity 28 – are perceived as two blocs of the same anti-Russian vice. However, in the perception of the TMR leadership Transnistria is of primary geostrategic importance for Moscow. In this context, the Kaliningrad parallel is frequently invoked by TMR officials, and this not only in military terms but also in terms of international status: The TMR – thus the message – should be turned into a second Kaliningrad Oblast’, i. e. it should become a subject of the Russian Federation. The self-stylization of the TMR as “a tiny bit of the Great Russian state”, as described by Smirnov

25 N. V. Babilunga and B. G. Bomeško, Stranicy rodnoj istorii. Uˇcebnoe posobie po istorii dlj 5 klassa srednej školy (Tiraspol’, 1997), inside cover. For the context, see also Stefan Troebst, “Wie ein skythischer Bogen. Transnistrien als slawisches Bollwerk zwischen dem Orient und Europa”, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7 October 2002, 8, and on mental mapping in Eastern Europe in general, Id., “‘Intermarium’ und ‘Vermählung mit dem Meer’: Kognitive Karten und Geschichtspolitik in Ostmitteleuropa”, 28(3) Geschichte und Gesellschaft (2002), 435–469. 26 See the map “Geopolitical Position” in Dniester Moldavian Republic (ed.), Atlas . . . , 7. 27 For the term kišinevskij nacizm see Volkova, Lider, Introduction, and for the slander rumynskie ljudoedy a photograph dated June 1992 showing Transnistrian volunteers on a truck whose tailboard carries the graffiti “Death to the Romanian cannibals!” (Smert’ rumynskim liudoedam!) in a brochure by Valerij Kruglikov and N. Vorob’eva, Bendery. Leto-92. Vojina (Fotoal’bom) (Bendery, 1995), 40. 28 The TMR’s relationship with the neighboring Ukraine is ambivalent: On the one hand, in 1995 TMR diplomacy succeeded in securing Kiev’s participation as a co-mediator in the conflict between Tiraspol’ and Chi¸sin˘au – along with the Russian Federation and the OSCE – and in having Ukrainian blue helmet troops deployed in order to safeguard, together with Russian, Moldovan and Transnistrian troops, the Security Zone established after the armed clash over Bendery in July 1992 along the Dniester. On the other hand, Smirnov’s personal relationship to the eastern neighbor has been seriously strained by the fact that in September 1991 he was kidnapped in Kiev by the Moldovan secret service and brought to Chi¸sin˘au – with the knowledge and obviously also the consent of the Ukrainian authorities. After several weeks in jail he was released. See Volkova, Lider, chapter V.

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in 1995 in a speech in the Moscow City Duma, 29 corresponds with another metaphor of Transnistria being “Russia’s historical enclave on the doorsteps to the Balkans”. 30 This ‘fact’ is interpreted as a safety guarantee by Moscow for Tiraspol’ and is emphasized by the permanent stationing of the Fourtheenth Soviet Army in and around Tiraspol’, a ‘beached’ military force of some 2,000 men which currently functions as an Operative Group of the Armed Forces of the Russian Federation. At least at first glance, the peculiar position of the Transnistrian movement is striking: Its state-building separatism defines itself as being primarily regional and explicitly non-ethnic, but allegedly multinational and multilingual. An official publication in 2000 entitled The Phenomenon of Transnistria, published in Tiraspol’, states that the TMR was not “founded on national or even nationalist grounds, but on humanistic, multiethnic principles of a civil society.” 31 The fact that it differs greatly from other self-appointed post-Soviet statelets’ such as South Ossetia, Chechnya, Abkhazia, or Nagorno-Karabakh because of its “viability and self-sufficiency” is given as further proof of the “uniqueness” of the TMR. 32 Following this argument, the economic potential of the “Moldovan Ruhr” allows for the autarchy of the highly industrialized region along the Dniester. This economic prowess, in combination with its military strength, is seen to guarantee the continued existence of the “phenomenon of Transnistria”. 33 Along this line of argumentation, the equally decisive ethnic factor is habitually been downplayed. In this aspect the political activities of the russophones in the Dniester valley are comparable to those of the Russians in eastern Ukraine: As the geographer David J. Meyer stated, “the Donbas Russians need not mobilize ethnically when they can mobilize more easily, efficiently, and effectively as a purely political and regional force that operates in cooperation with Russified Ukrainians as well as with other regions.” 34 In examining the driving forces, the motivation and the effect of the separatist regional movement of the russophone elites in the Dniester valley, the context of the Soviet project of building a new Moldovan nation, the influence of perestroika, the implosion of the USSR, the Moldovan-Transnistrian war in 1992, as well as post-war developments, have to be taken into account. Up until 1992, conflict-driven fears of Moldovan aggression were the most important mechanism for the regional movement to be able to mobilize its target group. Since 1992, however, state-driven identity 29 I. Smirnov, “Pridnestrov’e – cˇ astiˇcka velikogo rossijskogo gosudarstva”, Dnestrovskaja pravda, 23 September 1995. 30 Babilunga et al., Fenomen Pridnestrov’ja, 245. See also Nicholas Dima, Moldova and the Transdnestr Republic. Russia’s Geopolitics toward the Balkans (Boulder, CO; New York, NY, 2001). 31 Babilunga et al., Fenomen Pridnestrov’ja, 6. For a ‘forerunner’ of this book see Nikolaj V. Babilunga and Boris G. Bomeško, Pridnestrovskij konflikt: Istoriˇceskie, demografiˇceskie i politiˇceskie aspekty (Tiraspol’, 1998), and for an ‘enlarged version’ Grosul et al., Istorija. 32 Babilunga et al., Fenomen Pridnestrov’ja, 6. 33 Ibid., 7. On the coining of the expression Moldavskij Rur see ibid., 108. 34 David J. Meyer, “Why Have Donbas Russians Not Ethnicly Mobilized Like Crimean Russians Have? An Institutional /Demographic Approach”, in John S. Micgiel (ed.), State and Nation Building in East Central Europe: Contemporary Perspectives (New York, NY, 1996), 317–330, at 328.

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management by focusing ‘politics of history’ is the main reason for the strengthening of the loyalty of the population to the regime and for a broadening of the regime’s legitimacy.

IV. Soviet prehistory to the conflict Like all domestic and international conflicts, the conflict in Transnistria has its prologue, and, as in other violent conflicts which broke out not only due to a territorial dispute, but also due to questions of identity, this prologue is multilayered and difficult to reconstruct. The conflict between Tiraspol’ and Chi¸sin˘au shows special features, however, which keep prehistory short: First, the parties involved did not reach the current stage of conflict by going through a long process of escalation, but because of sudden and significant changes of basic political conditions which occurred almost overnight. Secondly, the causes of the conflict in the Dniester valley arose fairly recently and are only to a small extent endogenous. Mainly they are exogenous, stemming from the merger of Soviet foreign policy doctrine with Stalinist nation-building policy. After Soviet foreign policy had turned to political realism in 1924, Moscow began to be interested in the historical region of Bessarabia. This region had since 1812 been Russian but in 1918 had to be handed over to Romania. Its territory was largely identical to the Republic of Moldova of today. 35 Since a unification of eastern Romania with the Soviet Union was unrealistic on both diplomatic and military terms, the Bolsheviks turned to an expansionist orientation and ethnically based policy of indigenization. A Moldovan Autonomous Socialist Soviet Republic (MASSR) was founded in 1924 on the territory of the Ukrainian SSR, based on a Byzantine tradition to give one’s own province that was geographically the closest to an enemy’s province one planned to conquer the name of this object of aggression. 36 The territory of MASSR was to a large extent the same as the territory of the TMR today, although it also included regions further east, including the administrative centre Balta of the new autonomous republic. In 1929, the function of MASSR capital was then transfered to Tiraspol’. According to Soviet statistics from 1939, the Ukrainians constituted the absolute majority (51 per cent) of the 599,000 inhabitants of the MASSR. Moldovans /Romanians represented 29 per cent, Russians 10 per cent, Jews 6 per cent and others 4 per cent, these others being Germans, Swiss, Bulgarians, Poles, Belarusians, Tatars, Armenians, and Czechs. 37 In the ‘capital’ Balta only sev-

35 King, The Moldovans, 51–57. 36 Wim van Meurs, “Carving a Moldovan Identity Out of History”, 26 Nationalities Papers (1998), 39–56; Charles King, “Ethnicity and Institutional Reform: The Dynamics of ‘Indigenization’ in the Moldovan ASSR”, 26 Nationalities Papers (1998), 57–72; Id., “The Moldovan ASSR on the Eve of the War: Cultural Policy in 1930s Transnistria”, in Kurt W. Treptow (ed.), Romania and World War II (Ia¸si, 1996), 9–36. 37 Oleg Galušˇcenko, Naselenie Moldavskoj ASSR (1924–1940 gg.) (Kišinev, 2001), 45.

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eral dozen Moldovans were living and even in Tiraspol’ they amounted to a mere 1.4 per cent. 38 The purpose of the founding of MASSR was, as the name clearly shows, the building of a new Moldovan nation. On the day Bessarabia and its Romanian majority were to become part of the USSR, the ‘Moldovan’ cadres, created in the MASSR, were to carry out the deromanization of Bessarabia through a ‘Moldovization’. The possibility to accomplish this ambitious plan came earlier than expected. On the basis of the Hitler-Stalin Pact in 1939, the USSR moved its western border to river Pruth, and in the summer of 1940 Bessarabia became part of the Soviet Union. The MASSR, the purpose of its existence being fulfilled, was eliminated and its institutions and leaders were transfered to the other side of the Dniester. When the new MSSR was founded on 2 August 1940, only the five districts of the former MASSR closest to the Dniester were integrated into the new state. The other eight, including the former capital Balta, remained in the Ukrainian SSR, although they were now no longer autonomous. To reduce the protests of the Ukrainian leadership in Kiev about the separation from the river, Stalin decreed that the Ukraine should receive as compensation the southern part of the now Soviet Bessarabia, the district of Izmail, which reached up to the Danube and the Black Sea. The boundary between the westernmost part of Transnistria, which now belonged to the MSSR, and the Ukraine, as well as the boundary between the two republics in the southern part of Bessarabia was decided exclusively according to administrative criteria. Ethnic, lingual, historical or confessional, even economic criteria or questions of infrastructure did not play any role in this decision. In other words, the MASSR, which due to its character of a Soviet administrative unit was in a certain way a predecessor of a Transnistrian ‘statehood’, was in 1940 divided between the Ukrainian and the new Moldovan Soviet republics. The results of this division were confirmed in 1944, when the renewed in 1941 Romanian rule over Bessarabia and Transnistria ended and the process of the establishment of the MSSR, begun in 1940 and interrupted in 1941, continued. Up to 1989, the ‘unnatural’ borderline in the East and the South of the MSSR did not lead to any visible negative effects. This can be explained by the rigid control of Moscow, as well as by various pragmatic solutions which the governments in Chi¸sin˘au, Kiev and the administrations of the districts in the ‘border zone’ found for several urgent problems, such as, for instance, the irrigation of arid Southern Bessarabia, the so called Bugeac area. The striving for independence by Moldova from the late 1980s on did not only provoke a countermovement in Transnistria, but resulted in the Bugeac region, in a fast radicalizing ethno-regionalism of the Gaugauzes as well as in the political mobilization of the Bulgarians there. In contrast to the situation in the Dniester valley, the central government of Moldova satisfied the Gagauz claims for self-determination by granting territorial autonomy, whereas the Bulgarian demands were to a large extent met with a de facto national district, the

38 Babilunga et al., Fenomen Pridnestrov’ja, 48.

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jude¸t Taraclia. 39 However, the Chi¸sin˘au masterplan to use the Gagauz statute of autonomy as a blueprint for the regulation of the conflict with Tiraspol’ caused fierce opposition from the Transnistrian side. The constellation of factors shaping the conflict in Transnistria can be described as a late result of Stalin’s dictatorial politics. It is a conflict, whose most problematic features like borders, economic resources, and demographic structure were imposed from ‘the top’ rather than developing from ‘the bottom’. At first glance this statement might show – besides some historical value – little practical usefulness. Yet, knowledge of the arbitrary practices of the decisions concerning borders followed by Stalin as Commissioner of Nationalities from 1924 on and then as dictator from 1929 to 1953 is essential for understanding the escalation of the conflict, the orientation of the people involved as well as the possibilities for third parties to contribute to deescalation or even provide a ‘solution’.

V. Conflict-driven state-building, 1989–1992 Like in the Baltic republics, Gorbachev’s policies of glasnost’ and perestroika produced an autochthonous popular front movement also in the MSSR. Shortly thereafter, the republic’s titular nation, previously underrepresented in the party, the administration and the economy 40, on 31 August 1989 used its majority of seats in the Supreme Soviet to proclaim Moldovan /Romanian the official language – now to be written in Latin, no longer in Cyrillic script. The non-Moldovan speaking third of the population, i. e. the Russian-speakers, perceived this act as a first step of Moldova toward joining neighboring Romania, as well as a way to marginalize all those whose mother tongue was not the new state language as “migrants”, “newcomers”, even “occupants”. According to the new law, those with ranking positions in state, economy or society had to prove their proficiency in Moldovan /Romanian and therefore had to acquire the required mastery of the language quickly, or give up their position. The Russians and the Russian-speaking population in Moldova, who held two thirds of all leading positions in the industry of the republic in 1989, were not able to demonstrate

39 On the Gagauzes, a Turkic-speaking christian-orthodox group, see Paula Thompson, “The Gagauz in Moldova and Their Road to Autonomy”, in Magda Opalski (ed.), Managing Diversity in Plural Societies. Minorities, Migration and Nation-Building in Post-Communist Europe (Nepean, Ontario, 1998), 128–147; Jeff Chinn, Steven D. Roper, “Territorial Autonomy in Gagauzia”, 26(1) Nationalities Papers (1998), 87–101; Stefan Troebst, “Von ‘Gagauz Halkı’ zu ‘Gagauz Yeri’: Die Autonomiebewegung der Gagausen in Moldova 1988–1998”, 7(1) Ethnos – Nation (1999), 41–54; on the Bulgarians of the Bugeac, Id., “Die bulgarische Minderheit Moldovas zwischen nationalstaatlichem Zentralismus, gagausischem Autonomismus und transnistrischem Separatismus (1991– 1995)”, 44(9–10) Südosteuropa (1995), 560–584. 40 Accordingly, only 32.8 per cent of all leading positions in the industry of the MSSR in 1989 were held by members of the titular nation. See Vladimir Solonari and Vladimir Bruter, “Russians in Moldova”, in Vladimir Shlapentokh et al. (eds.), The New Russian Diaspora. Russian Minorities in the Former Soviet Republics (Armonk, NY; London, 1994), 72–90, at 77.

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these language skills. Only 6 per cent of the 562,000 ethnic Russians in the MSSR were able to speak Moldovan /Romanian. 41 The figures for Ukrainians, Gagauzes, Bulgarians and others are likely to have been as low. The situation became more difficult when Moldova’s Supreme Soviet resolved to adopt the Romanian tricolor as the national flag of the MSSR and to introduce the Romanian national anthem “Wake up, Romanian, from your deadly slumber” as the Moldovan one. In the perception of the non-titulars of the country as well as in the one of many Moldovans, the formal act of unification of the MSSR with its western neighbor seemed very close. Therefore, the slogan of the protesting russophones throughout the republic was “We don’t want to be Romanians!” 42 The supporters of the Popular Front of Moldova answered with the russophobic slogan “Suitcase – station – Russia!” 43 Interestingly these slogans were chanted in the language of the addressees. 44 Protests and strikes in the urban-industrial centres of the Dniester valley, coordinated by the United Council of Work Collectives (Ob’edinennyj Sovet trudovych kollektivov, OSTK), were particularly intensive and covered the entire area. 45 The OSTK was under the control of the informal ‘Board of Executive Directors’ of the large-scale regional enterprises, including among others Smirnov, the executive di˙ rector of the “Elektromaš” plant in Tiraspol’. On the ticket of the OSTK, he was elected as chairman of the City Soviet of Tiraspol’ and as member of the Supreme Soviet of the MSSR. With this step, the engineer reached a key political position in

41 Tat’jana Mleˇcko, “‘Bereg levyj, bereg pravyj . . . ’ Russkie v Moldavii”, 5 Rossijskaja Federacija (1997), 51–52, at 51. 42 Nu vrem s˘a fim români! See Babilunga et al., Fenomen Pridnestrov’ja, 152. ˇ 43 Cemodan – vokzal – Rossija! See I. F. Selivanova, “Pridnestrovskij konflikt i problemy ego ure˙ gulirovanija”, Etnopolitiˇ ceskie konflikty v postkommunistiˇceskom mire, vol. 2 (Moskva, 1996), 3– 25, at 4. 44 Cf. Babilunga et al., Fenomen Pridnestrov’ja, 152. 45 For basic information, see Airat R. Aklaev, “Dynamics of the Moldova-Trans-Dniester Ethnic Conflict (late 1980s to early 1990s)”, in Kumar Rupesinghe and Valery A. Tishkov (eds.), Ethnicity and Power in the Contemporary World (Tokyo, 1996), 83–115 and Pål Kolstø et al., “The Dniester Conflict. Between Irredentism and Separatism”, 45 Europe-Asia Studies (1993), 973–1000. From the Moldovan national point of view, see Conflictul din Transnistria: adev˘arul a¸sa cum a fost el. Materialele conferin¸tei s¸ tiin¸tifico-practice “Interesele de stat s¸ i rolul organelor de interne în asigurare ordinii constitu¸tionale s¸ i libert˘a¸tilor omului în raionele de est ale Republicii Moldova” (Chi¸sin˘au, 1996); Anatol Taranu, ¸ “Pridnestrovskij konflikt v Respublike Moldova: protivostojanie identiˇcnostej?”, in Valeriu Mo¸sneaga (ed.), Moldova între Est s¸ i Vest. Identitatea na¸tional˘a s¸ i orientarea european˘a (Chi¸sin˘au, 2001), 255–273; Gheorghe E. Cojocaru, Separatismul în slujba Imperiului (Chi¸sin˘au, 2000). For the Moldovan russophone point of view, see Petr M. Šornikov, Pokušenie na status. Etnopolitiˇceskie processy v Moldavii v gody krizisa 1988–1996 (Kišinev, 1997). The Transnistrian viewpoint is represented by Andrej Safonov, “Vzaimootnošenija Moldovy i Pridnestrov’ja: Istorija problemy i perspektivy (osnovnye aspekty)”, in Valeriu Mo¸sneaga (ed.), Statul na¸tional s¸ i societatea polietnic˘a: Moldova în anii 90. Materiale I simpozion moldo-german (Chi¸sin˘au, 13– 18 octombrie 1996) (Chi¸sin˘au, 1997), 149–159, and Valerij A. Lickaj, “Status i garantii”, in Valeriu Mo¸sneaga (ed.), Ot etnopolitiˇceskogo konflikta k mežnacional’nomu soglasiju v Moldove. Materialy nauˇcno-praktiˇceskogo seminara (Flensburg, Germanija, i B’erremark, Danija, 12–17 sentjabrja 1997) (Kišinëv, 1998), 18–25.

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Transnistria. On 23 June 1990, the OSTK answered the declaration of sovereignty of the MSSR by the summoning of the Second Extraordinary Congress of the People’s Representatives at All Levels of the Transnistrian Region, which 579 people attended. On 2 September 1990, under Smirnov’s leadership this body declared a new Soviet Republic with Tiraspol’ as the capital – the Transnistrian Moldovan Socialist Soviet Republic (Pridnestrovskaja Moldavskaja Socialistiˇceskaja Sovetskaja Respublika, TMSSR). 46 With this act, Transnistria seceded from the Moldovan SSR but stayed within the Soviet Union. Only after the secession of the MSSR from the USSR as the Republic of Moldova, executed by Chi¸sin˘au with the Declaration of Independence on 27 August 1991, and in the wake of the imminent disintegration of the Soviet Union did Tiraspol’ strive for Transnistrian statehood. On 1 December 1991, the election for the ‘presidency’ of the PMSSR and a referendum on independence were held. The official statistics report an 80 per cent turnout. Allegedly 98 per cent of all votes were pro-independence. Smirnov, the newly elected ‘president’, who was reported to have received 65 per cent of all votes, proclaimed the ‘independence’ of Transnistria the same day, now already using the name Transnistrian Moldovan Republic. This ‘independence’ was possibly to take place, as stated in the text of the referendum, “within a renewed Soviet Union” 47 – a formulation, that was already outdated on New Year’s Eve of 1991/92. At the time of the referendum, the tension between the central government in Chi¸sin˘au and the separatists in Tiraspol’ had already turned violent. The Transnistrian leadership had since 1989 not only built its own administrative structures including a judiciary arm, a customs department, and a national bank, but also its own security system with a militia, secret service, and the nucleus of an army. 48 Until the end of 1990, the political fight for power between the Transnistrian movement and the leaders of the MSSR over the urban-industrial centres in the Dniester valley had been led very emotionally, but mostly without violence. The situation changed when the conflict reached the rural regions on the left bank of the Dniester. The Transnistrian villages close to the river were, unlike the towns, inhabited mostly by Moldovans. Chi¸sin˘au tried, with police force, to prevent the seizure of the communal

ˇ 46 See “Postanovlenie Vtorogo Crezvyˇ cajnogo s-ezda narodnych deputatov vsech urovnej Pridnestrovskogo regiona, 2 sentjabrja 1990 g.”, and “Deklaracija ob obrazovanii Pridnestrovskoj Moldavskoj Sovetskoj Socialistiˇceskoj Respubliki”, in Vasilij N. Jakovlev et al. (eds.), Bessarabskij vopros i obrazovanie Pridnestrovskoj Moldavskoj Respubliki. Sbornik oficial’nych dokumentov (Tiraspol’, 1993), 82–84 and 85–90. See also Aleksandr A. Karaman, “O samoprovozglašenii i priznanii Pridnestrovskoj Moldavskoj Respubliki”, 4 Ežegodnyj istoriˇceskij al’manach Pridnestrov’ja (2000), 4–12, and Vasilij N. Jakovlev, Ternistyj put’ k spravedlivosti (Tiraspol’, 1993), as well as Id., Voleiz-javlenie naroda vsesil’no i neotmenno (Tiraspol’, 1995). 47 Klemens Büscher, “Die ‘Staatlichkeit’ Transnistriens – ein Unfall der Geschichte?”, paper presented at the international conference “Die ‘zweite nationale Wiedergeburt’. Nationalismus, nationale Bewegungen und Nationalstaatsbildungen in der spät- und postkommunistischen Gesellschaft” at the University of Mannheim, Germany, 20–22 Februar 1998, 16. 48 See Z. G. Todoraško, Istorija gosudarstvennych uˇcreždenij Pridnestrovskoj Moldavskoj Respubliki. Vysšie organy vlasti i upravlenija 1990–1995 (Tiraspol’, 1999).

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administration by emissaries from Tiraspol’ – a move which led to armed clashes with TMR power structures as well as with cossack volunteers coming to the defense of Transnistrian independence from all over the Soviet Union. The conflict took on a new quality in the course of the political events in the second half of 1991. The Moldovan Popular Front, at that time the ruling party in Chi¸sin˘au, expected the TMR to weaken in the course of the collapse of the USSR and increased the military pressure on the eastern part of the country and especially on Bendery, which was controlled by Tiraspol’. The president, the parliament, and the central government of Moldova felt supported by the international community, to which the country formally belonged since its admission to the Conference on Security and Cooperation in Europe (CSCE) on 3 January 1992. In insisting on the territorial integrity and the refusal of unilateral change of borders Chi¸sin˘au saw itself in line with the basic principles of the Helsinki process. A first sign of this new self-esteem was a military action undertaken by special forces of the Moldovan Department of the Interior against the Transnistrian forces inside the building of the City Soviet of Bendery on 2 April 1992. This action ended unsuccessfully and involved heavy losses. On 2 March, Transnistrian units had already driven the Moldovan police out of Dubossary, 49 a district capital on the left bank. Now all urban centres along the Dniester, to which the TMR laid claim, were under the control of Tiraspol’. The tense situation was made even more complicated by various political and military personnel in Moscow who publicly favoured the struggle for independence. Things were aggravated even further by contradictory statements and moves made by Major-General Jurij Netkaˇcev, the commander of the Fourteenth Army. On the one hand, he declared himself and his troops neutral in the Moldovan-Transnistrian conflict. Yet on the other quite a number of officers, NCOs and troops of the Fourteenth army took part in military actions of the separatists against Chi¸sin˘au – “on their own initiative”, as was officially announced, and some officers even retired from service to head the creation of a regular Transnistrian army. By May 1992, the security structures of the central government had been forced to retreat to a small number of bridgeheads in Transnistria. This defeat incited the Moldovan president Mircea Snegur to a military action in order to strengthen his ailing reputation. In the afternoon of 19 June 1992, he ordered the Army of Moldova, with the support of armed units of the Department of the Interior, including the regular police, the special police units and the Carabinieri, as well as volunteer formations and units of self-defence of the villages to take the centre of Bendery, which was controlled by the Transnistrian administration. It is still not known what made Snegur to believe that the Moldovan side was militarily superior to its Transnistrian counterpart, and that he could keep the Fourteenth Army out of the fighting or probably even gain support from it. After an initial exchange of shots, the Moldovan units,

49 On the battle of Dubossary, see Nikolaj P. Rudenko, Dubossary – gorod zašˇcitnikov PMR (Dubossary, 1995) and Viktor V. Djukarev, Dubossary 1989–1992 gg. Za kulisami politiki (Tiraspol’, 2000).

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which had at their disposal tanks as well as artillery, gained control over the major part of the city centre of Bendery as well as the only bridge on the Dniester leading to Transnistria. 50 On the evening of 20 June, the Transnistrian forces launched a counterattack and soon regained control over parts of the city centre. In doing so they were supported by members of the Fourteenth Army as well as the militia, the secret service, the volunteer battalion ‘Dnestr’, cossack units and snipers of the Union of the Women Defenders of Transnistria. On 21 and 22 June, both sides confronted each other along a frontline running right through the city centre and several suburbs. The heavy fighting caused about half of Bendery’s 138,000 inhabitants to flee across the Dniester or into bordering Moldovan villages. Already on 20 June, Moldovan units had begun to attack the village Parkany (Parcani), and on 22 June this village was bombed by Moldovan fighter planes. Due to the superior strenght of the Transnistrian forces, in the night of 22 to 23 June, the Moldovan army had to begin its retreat from the city centre. The Army withdrew almost completely into the surroundings by 26 June, with only the suburb Leninskij Mikrorajon and the neighboring village of Varni¸ta (Varnica) remaining under the control of Chi¸sin˘au. Until 3 July, the Moldovan artillery, situated on a strategic height to the west of the city, kept the Transnistrian positions under fire. At the height of the Battle of Bendery, Moscow appointed Lieutenant-General Aleksandr I. Lebed’ as the new commander-in-chief of the Fourteenth Army. Lebed’ immediately separated the two sides and accomplished a provisional settlement of the conflict in form of a trilateral Security Zone along the river Dniester. A blue helmets force was set up and stationed in this zone, including soldiers from Russia, the Ukraine, Moldova and Transnistria, while the command lay with the Army of the Russian Federation. 51 Until today, the city of Bendery is a Zone of Increased Security within the general Security Zone. The Russian military commander of the city is in charge of two police formations – the Transnistrian militia and the

50 For detailed reports on the fighting, see Erika Daley, Human Rights in Moldova. The Turbulent Dniester (New York, NY; Washington, DC, 1993), 27–69, Neil V. Lamont, “Territorial Dimensions of Ethnic Conflict. The Moldovan Case, 1991–March 1993”, 6(4) Journal of Slavic Military Studies (1993), 576–612 and “Doklad pravozašˇcitnogo centra ‘Memorial’: Massovye i naibolee ser’eznye narušenija prav cˇ eloveka i položenie v zone vooružennogo konflikta v g. Bendery za ijun’-ijul’ 1992 g.”, Nezavisimaja gazeta, 22 September 1992, 4–5. The Romanian point of view is represented by Victor Bârsan, Masacrul inocen¸tilor. R˘azboiul din Moldova, 1 martie–29 iulie 1992 (Bucure¸sti, 1993); the Moldovan one in Conflictul din Transnistria . . . ; the Russian one by Edward Ozhiganov, “The Republic of Moldova: Transdniester and the 14th Army”, in Alexei Arbatov et al. (eds.), Managing Conflict in the Former Soviet Union: Russian and American Perspectives, (Cambridge, London, 1997), 145–209; the Transnistrian one by Grigorij V. Volovoj, Krovavoe leto v Benderach. Chronika pridnestrovskoj tragedii (Bendery, 1993); Nikolaj V. Babilunga and Boris G. Bomeško, Bendery: rasstreljannye nepokorennye (Tiraspol’, 1993); and Id., Kniga pamjati zašˇcitnikov Pridnestrov’ja (Tiraspol’, 1995). 51 Jeff Chinn, “The Case of Transdniester (Moldova)”, in Lena Jonson and Clive Archer (eds.), Peacekeeping and the Role of Russia in Eurasia (Boulder, CO; Oxford 1996), 103–120, and Gerald B. H. Solomon, Peacekeeping in the Transdniester Region. The Test Case for the CSCE. Report of the Political Committee of the North Atlantic Assembly (Brussels, 1994).

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Moldovan police. But it is obvious that the Russian high command tolerates serious offences against the demilitarization of the Security Zone by the Transnistrian side, such as the stationing of troops and war material in the historical forts of Bendery. Since the summer of 1992, the conflict between Chi¸sin˘au and Tiraspol’ has come to a stalemate with a permanent solution yet to be found – despite serious negotiations on the part of the CSCE/OSCE and numerous other international non-governmental organizations as well as by the Russian Federation and the Ukraine. 52 A process of bilateral talks between the two parts of the country, which began slowly in 1994 but was seen by the Transnistrian side primarily as a diversion, came to a standstill in 2001 because of a zig-zag course on the part of the new communist government of Moldova. No serious political intention to reach a lasting compromise has been visible on either side of the Dniester – and probably neither in Moscow or in Kiev. The result is a decade of stagnation.

VI. Trying to explain the causes of the conflict Current research on the motives and driving forces behind the Transnistrian conflict and its development has improved since the outbreak of open violence a decade ago. Initial analyses of the conflict tended to interpret it as being ethnic, that is, as a conflict between ‘(Eastern) Slavs’ or ‘Russians’ on the one hand and ‘(eastern) Romance-speakers’ or ‘Moldovans’ (or ‘Romanians’) on the other hand. At the time, some experts on the region criticized this characterization by stressing the ideological aspects of the conflict and the participants of the conflict into ‘Soviet nostalgics’ and ‘democrats’. In 1998, however, not less than ten studies were published, offering a much wider range of explanations: (1) The Norwegian political scientist Pål Kolstø and his Ukrainian colleague Andrej Mal’gin interpreted the Transnistrian movement and the TMR as “a case of politicized regionalism”: Following this argument, the conflict had ethnic and ideological components, but neither ethnicity nor ideology were the driving force. They identified the different regional identities on both sides of the Dniester as the real cause – identities which had developed due to divergent historical experiences. 53 (2) This revisionist viewpoint caused a direct response by two political scientists from the United States, Stuart J. Kaufman and Stephen R. Bowers, who continued to see the conflict as an ethnic one in the classical sense. According to them, this ethnic character was difficult to decipher as the intervention of the 52 Concerning the negotiation process and the mediating role of the CSCE/OSCE see Gottfried Hanne, “The Role and Activities of the OSCE Mission to Moldova in the Process of Transdniestrian Conflict Resolution”, 2 European Yearbook of Minority Issues (2002/3), 31–51. 53 Kolstø, Malgin, “The Transnistrian Republic”, 103–104.

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Russian Federation in support of the TMR and to forestall a unification of the Moldova with Romania gave the conflict a touch of great power politics. 54 The German political scientist Gottfried Hanne also took a position opposed to that of Kolstø and Mal’gin arguing that the conflict was “not so much regional as rather of an ideological, power political, economic and in parts ethnic character.” 55 The focus on territory, i. e. the building of the OSTK on the eastern bank and in Bendery was, according to Hanne, a result rather than a cause of the conflict. Andrew Williams, a British political scientist, gave a verdict on the causes of the conflict that seemed surprising for a non-historian: “The conflict in Moldova has its origins in rival interpretations of history by the various parties concerned.” 56 In a study about how the CSCE/OSCE dealt with this conflict, I myself have classified the positions of the conflicting parties as “group interests of late Soviet elites vs. Moldovan nationalism”, and depicted the ethnicizing aspects of the conflict as a rational strategy, which aimed at the mobilization of political support. 57 The Russian-American team of geographers John O’Loughlin, Vladimir ˇ Kolossov, and Andrej Cepalyga, diagnosed “a new regional identity” 58 of the inhabitants of the TMR, which had triggered the conflict: “In the TMR the visible signs of a new national construction are evident and in less then a decade, a new identity has taken shape.” 59 The Moldovan political scientists Valeriu Mo¸sneaga and Alexei Tulbure declared the different economic developments of the two parts of the country, together with their sociodemographic consequences and mental effects as both reasons for, and characteristics of, the conflict: “The social basis of the popu-

54 Stuart J. Kaufman and Stephen R. Bowers, “Transnational Dimensions of the Transnistrian Conflict”, 26 Nationalities Papers (1998), 129–146. See also Stuart J. Kaufman, “Spiraling to Ethnic War. Elites, Masses, and Moscow in Moldova’s Civil War”, 21 International Security (1996), 108–138. 55 Gottfried Hanne, Der Transnistrien-Konflikt: Ursachen, Entwicklungsbedingungen und Perspektiven einer Regulierung (Köln, 1998), 3. 56 Andrew Williams, “The Conflict in Transnistria: Its Dynamics and Possible Solutions”, MS, Brussels, Ebenhausen 1998 (= Stiftung Wissenschaft und Politik – Conflict Prevention Network Briefing Paper, 9 November 1998), 5. See the same in Leilah Bruton (ed.), The Republic of Moldova: Time for a New EU Strategy (Brussels, Ebenhausen, 1999), 45–56 (= Stiftung Wissenschaft und Politik – Conflict Prevention Network Selected Contributions Nr. 5). 57 Stefan Troebst, “Der Transnistrienkonflikt und seine Bearbeitung durch die OSZE”, in Günter Baechler and Arno Truger (eds.), Friedensbericht 1998: Afrikanische Perspektiven: Theorie und Praxis ziviler Konfliktbearbeitung (Chur, Zürich, 1998), 347–379, at 358. 58 John O’Loughlin et al., “National Construction, Territorial Separatism, and Post-Soviet Geopolitics in the Transdniester Moldovan Republic”, 39 Post-Soviet Geography and Economics (1998), 332–358, at 332, and at http://www.colorado.edu/IBS/PEC/johno/pub/PsgeTMR.doc, accessed: 05-10-2016. 59 Ibid., 352.

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lation [of Transnistria] became (and still is) the workers and managers of numerous large union-level industrial enterprises. These groups were dependent on Moscow rather than Kishinev in psychological and economic terms. For them, the very idea of the disintegration of the USSR was perceived to be an error of history, and the existence of an independent Moldova an absurdity.” 60 (8) Another Moldovan political scientist, Mihai Gribincea, saw the stationing of the Soviet Fourteenth Army in Transnistria as a de-stabilizing factor in the Dniester valley and thus as the core factor for the conflict. In addition to the military weight of the Moscow-commanded troops he stressed the psychological effect of reassurance they had on the Transnistrian separatist movement. 61 (9) On behalf of the offical Transnistrian side, the two Tiraspol’ historian Nikolaj V. Babilunga and Boris G. Bomeško published a treatise characterizing the violent events of 1990 to 1992 as the “resurrection of the [Transnistrian] republic”, putting it thus in a historical line with “the first republic on the Dniester”, i. e. interwar-MASSR. The founding act of 1990 is presented as one of several “major steps in the heroic struggle of the people of the TMR for the building of a free, democratic and civilized state.” 62 In this perspective, the “self-proclamation of the statehood of the TMR as the realization of the identity of the people” was answered by “the aggression of Moldova against the TMR” – hence the conflict. 63 (10) Finally, Klemens Büscher, another German political scientist, in a study provocatively entitled “The ‘statehood’ of Transnistria – an accident of history?”, portrayed the Transnistrian movement as “a complex combination of various cross-cutting and interactive driving forces”. 64 Among them he named “nationalism of the ethnic groups residing in Transnistria, Soviet patriotism, beginnings of a regionalist movement, ideology-driven actors, economic and political motivations of old and new elites.” 65 According to Büscher’s analysis of the carriers of the movement, “[i]n Transnistria, in the surroundings of the strategically important heavy industry and arms industry mighty clan-like structures of the top echelon of the party, town Soviets, state administration and enterprises – all being tangled up with each other – emerged.” 66 Due to frequent rotation in their functions as well

60 Valeriu Mo¸sneaga and Alexei Tulbure, “Some Aspects of the Trans-Dniestrian Problem”, in HansGeorg Ehrhart and Oliver Thränert (eds.), European Conflicts and International Institutions: Cooperating with Ukraine (Baden-Baden, 1998), 135–144, at 136. 61 Mihai Gribincea, Trupele ruse în Republica Moldova: Factor stabilizator sau surs˘a de pericol? (Chi¸sin˘au, 1998). 62 Babilunga, Bomeško, Pridnestrovskij konflikt, 3. 63 Ibid., 28 and 39. 64 Büscher, “Die ‘Staatlichkeit’ Transnistriens”, 2. 65 Ibid. 66 Ibid., 17.

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as a high number of interethnic marriages, this new regional elite was in itself unusually self-contained, and due to its close ties and intense communication with the central authorities in Moscow, it considered itself decidedly ‘Soviet’ and definitely not ‘Moldovan-republican’. Some of these hypotheses and theories have in common an emphasis on social, political and economic structures and argue that in-group actors such as Smirnov polarized, instrumentalized, radicalized and finally mobilized the urban population in the Dniester valley. Others stress ethnic, regional and other identity markers. However, all agree that (a) already before 1989 there were significant differences between the right and left bank parts of the MSSR and (b) that the visible cracks in the Soviet empire at the time were of decisive importance. Since 1998, research on the causes, conduct and cures of the Transnistrian conflict has further intensified 67, even resulted in book-length studies. 68 A carefully balanced state-of-the-art report is Pål Kolstø’s conclusion to a collection of essays edited by himself on national integration and violent conflict in post-1991 Estonia and Moldova. Based on his own findings, on contributions to the volume by Alla Skvortsova, Igor Munteanu and Claus Neukirch 69 as well as on reader’s reports on the book by David D. Laitin, Charles King and Klemens Büscher, in explaining the outbreak of communal violence in Moldova Kolstø arrives at three consolidated findings: First, “divisions among the ethnic Moldovan elites – some were pro-Romanians, some pro-Moldova, and some pro-Soviet – made them vulnerable to an anti-titular rebellion”; secondly, “the low respect that the Russians [of Moldova] had for Moldovans gave Russian radicals the strategic advantage over Russian moderates in that country”; and thirdly, “the presence of the Fourteenth Army in the Russian zone in Moldova gave Russian radicals there the resource necessary to challenge the Moldovan state.” 70 What is still missing, however, is a detailed and multi-layered 67 See, for example, Andrew Williams, “Conflict Resolution After the Cold War: The Case of Moldova”, 25 Review of International Studies (1999), 71–87; Stuart J. Kaufman, Modern Hatreds. The Symbolic Politics of Ethnic War (Ithaca, NY; London, 2001), 129–163 and 241–247; Anatol Caranu, “K voprosu o genezise pridnestrovskogo konflikta v Respublike Moldova”, in Valeriu Mo¸sneaga (ed.), Mež˙etniˇceskie otnošenija v postkommunistiˇceskich gosudarstvach (Chi¸sin˘au, 2002), 102–129; Gheorghe Balan, “Cauzele conflictului transnistrean”, in Valeriu Mo¸sneaga (ed.), Minorit˘a¸tile na¸tionale s¸ i rela¸tiile interetnice – tradi¸tia european˘a s¸ i experien¸ta noilor democra¸tii pentru Moldova (Ia¸si, 2002), vol. 1, 15–28. 68 Claus Neukirch, Konfliktmanagement und Konfliktprävention im Rahmen von OSZE-Langzeitmissionen. Eine Analyse der Missionen in Moldau und Estland (Baden-Baden, 2003), and Klemens Büscher, Transnationale Beziehungen der Russen in Moldova und der Ukraine. Ethnische Diaspora zwischen Residenz- und Referenzstaat (Frankfurt /M., forthcoming). 69 Alla Skvortsova, “The Cultural and Social Makeup of Moldova: A Bipolar or Dispersed Society?”, in Pål Kolstø (ed.), National Integration and Violent Conflict in Post-Soviet Societies. The Cases of Estonia and Moldova (Lanham etc., 2002), 159–196; Igor Munteanu, “Social Multipolarity and Political Violence”, ibid., 197–231; and Claus Neukirch, “Russia and the OSCE: The Influence of Interested Third and Disinterested Fourth Parties on the Conflicts in Estonia and Moldova”, ibid., 233–248. 70 Pål Kolstø, “Conclusion”, ibid., 271.

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study of the policies in the Transnistrian issue of the various political actors in the Russian Federation, i. e. the State Duma, president, ministries of foreign affairs, defense, and the interior, command of the armed forces, various political parties, city of Moscow, patriotic associations, cossack leadership, media etc. Then the complicated mosaic of conflict in Transnistria can finally be completed.

VII. Can the Soviet past be turned into a Transnistrian future? What most authors underlined, namely the striking differences between the Bessarabian and Transnistrian parts of post-Soviet Moldova, coincides with the results of an almost forgotten book on Soviet political elites. In 1977, the British sociologist Ronald J. Hill published a case study on Tiraspol’ which contains in a nutshell the explanation for the conflict. His detailed study on the various elite groups during the years of forced industrialization from 1950 to 1967 in what was then a provincial Moldovan town describes “a common system of recruitment to these positions” – that is, positions in the City Soviet, the Municipal Committee of the CPSU, and in CPSU district committees – “with members apparently moving in a more or less random basis between positions in the party, the state apparatus, industry and perhaps other branches of administration”. 71 This process of rotation lead Hill to conclude that “the chances of their establishing strong informal ties seem to be high, and this would add further to their dominant position. They are linked, moreover, by a common interest in maintaining the success – economic and otherwise – of the town.” 72 Yet in Hill’s view the then district capital Tiraspol’ did not represent a closed system: “There is . . . a high level of recruitment from outside the town to leading positions in all categories of administration.” 73 The case of TMR ‘president’ Smirnov, who came from Sibiria via the Urals and the Ukraine, has therefore been anything but an exception. And as Büscher’s study shows, several hundred thousands of skilled workers, engineers, administration experts, party officials, officers, NCOs, as well as retired military personnel have, since the late 1940s, moved from all over the Soviet Union to the Dniester valley. Two thirds of the Russian speaking population in today’s TMR are immigrants or their descendents. 74 The mostly Moldovan locals, who in 1989 still represented 40 per cent of the population, were already then underrepresented in leading positions in industry, administration, the party and the army. Today their share of the population is a mere 33 per cent. Nevertheless, 15 per cent of all marriages cross the ethnic borders

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Ronald J. Hill, Soviet Political Elites. The Case of Tiraspol (London, 1977), 173. Ibid. Ibid., 174. Solonari, Bruter, “Russians in Moldova”, 76.

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between Moldovans and non-Moldovans – a rate that exceeded the Soviet, and to an even greater extent, the Moldovan average. During the seven decades of Soviet reign, and primarily since the end of the Second World War, an economic structure based on industry was established in the cities of the Dniester valley. The results were visible in the social, demographic, linguistic and ethnocultural structure of the population, which differed from the agrarian Southwest of the Ukraine as well as from the equally rural Bessarabia, which became part of the USSR only in 1940 and 1944 respectively. On the territory of today’s Transnistria, an urban, russophone elite in economics, administration, the military, culture and the party emerged, which, because of a strong rotation of functions, similar interests and a high rate of interethnic marriages, was extremely closed in itself and, due to the numerous and strong contacts to the Soviet capital, imagined itself closer to power in Moscow – an ‘imperial’ population, one could say. Since the employees of the larger state-owned enterprises were bound by conditions of patronage and allegiance, this elite also won quantitative power as expressed in the number of votes. The bonmot of a “conspiracy of the executive directors” 75 coined by the Moldovan side in relation to the Transnistrian movement appropriately describes the situation. The unusual cohesion of the regional elites was the precondition for a successful policy of securing positions and privileges as well as for its uncompromising enforcement – if necessary by force. The Battle of Bendery of 1992 was proof of this attitude, as was the liquidation of democratic dissidents from the ranks of the Transnistrian movement which was followed and the expulsion of groups classified as unwanted or untrustworthy, such as Jews, journalists or supporters of the central government. Accordingly, the political system of the TMR shows clearly authoritarian and even dictatorial traits. 76 Together with the push factor of intimidation, the regional elite also used several pull factors to both legitimize their power and increase the loyalty of the population. 77 This goes in particular for maintaining Soviet maxims in the economic sphere, and also for retaining state-owned enterprises and social security systems 78 – a policy in favour of blue collar and white collar workers as well as retired people, the latter representing one third of the TMR population. A deep crisis of the economy, the currency and the finances of the TMR between 1994 and 1998, however, un-

75 D. F. Kondratoviˇc, “Predystorija Pridnestrovskoj Moldavskoj Respubliki”, 1 Ežegodnyj istoriˇceskij al’manach Pridnestrov’ja (1997), 57–59, at 57. 76 Dan Ionescu, “Media in the ‘Dniester Moldovan Republic’: A Communist Memento”, 1(19) Transition (1995), 16–20. 77 Troebst, “‘We Are Transnistrians!’”, as well as Alla I. Skvor¸tova, “Transnistrian People – an Identity of Its Own?”, 1(1) Moldovan Academic Review (2002) (Special Topic Issue “Dniestria: From Past to Future”), and Vladimir Solonari, “Creating ‘a People’: a Case Study in (Post-) Soviet History Writing”, presentation at the workshop “Post-Communist Politics and Economy”, Davis Center for Russian and European Studies, Harvard University, 8 May 2002, at https://muse.jhu.edu/article/ 43115, accessed: 09-10-2016). 78 Grimm, “Transnistrien”.

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dermined the success of these policies. 79 As a result, less capital intensive policies became important, e. g. the ‘politics of history’ aiming at building a “Transnistrian people”. Since the mid-1990s, TMR identity management has proclaimed five core elements – “self-sufficiency” (samobytnost’), “statehood” (gosudarstvennost’), “multiethnicity” (poli˙etniˇcnost’), “eastern (orthodox) Slavic-Russian orientation” (vostoˇcnyj [pravoslavnyj] slavjansko-rossijskij vektor) and “Moldovanism) (moldovenizm)” 80 – the latter understood not in the ethnic, i. e. east Romance, sense of the word but in a historical and regional sense, taking the early modern Moldovan principality which was allied with Muscovy as well as Soviet Moldavia as points of reference. Whereas up to the mid-1990s ‘Moldovanism’ and ‘Slavic-Russian orientation’ were perceived as a contradiction even by Transnistrians, the significant reduction in TMR rhetorics of ‘Russia-ness’ (rossijskost’) – not, however, of ‘Russian-ness’ (russkost’) – has eased this opposition. 81 Here, the Russocentric core of Transnistrian self-perception becomes obvious, and this notwithstanding the permanent stress on multiethnicity and trilingualism. In line with a ‘new Russian national idea’ proclaimed semi-officially in Moscow in 1997, the “communitarian whole of all Russians” 82 is the Transnistrian framework of reference. Accordingly, the five Transnistrian key terms are perfectly compatible with the Muscovite “six principles of Russianness”, i. e. “patriotism”, “communitarianism”, “emotionality”, “morality”, “realism”, and “sociability”. 83 What entitles TMR ‘politics of history’ to be treated as a success? On the one hand, of course, the mere fact that more then a decade after its self-proclamation this de facto state is still there. On the other hand, however, there are some data on how the inhabitants of the TMR themselves see things. This applies, for example, to an opinion poll on ethnonational processes, language relations, and regional identity carried out in spring 1998 on behalf of the Carnegie Endowment by sociologists from Moldova, the TMR, the Russian Federation and the United States. The main result of this poll, which included 350 inhabitants of the TMR whose ethnic composition reflected the overall ethnic structure of the region, was that “processes of the forma-

79 Dan Ionescu, “Life in the Dniester ‘Black Hole’”, 2(20) Transition (1996), 12–14; Julie Mostov, “Trading Priorities: Transdniestria and the Moldovan Economy”, 9 Analysis of Current Events (1997) 7, 3 and 11; “Sharp Drop in Value of Transdniester Ruble”, 2(54) Radio Free Europe /Radio Liberty Newsline (1998). 80 The Russian terms are samobytnost’, gosudarstvennost’, poli˙etniˇcnost’, vostoˇcnyj (pravoslavnyj) slavjansko-rossijskij vektor and moldovenizm. 81 For example, TMR Minister of Defence col. Štefan F. Kicak during the 1 May celebrations of 2002 in Tiraspol’ harshly criticized “the complaisance of Russia with regard to the advance of NATO to the East”. Russia, he warned, runs the risk that it will “degenerate into a mere Principality of Muscovy”. See Tat’jana Georgiu, “Pridnestrovcy vystupajut za samostojatel’nost’ svoego gosudarstva”, Ol’vijaPress. Informacionnoe agentstvo, 1 May 2002, at http://www.olvia.idknet.com/ol03 – 05-02.htm, accessed: 05-10-2016. 82 Gurij V. Sudakov, “Šest’ principov russkosti, ili Kogda v Rossii pojavitsja praznik Datskogo korolevstva?”, Rossijskaia gazeta, 17 September 1999, 4. 83 Ibid.

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tion of a territorial socio-cultural identity of the Transnistrians” 84 could be proven: 83 per cent of the participants in the poll opted for the preservation of TMR statehood and 44 per cent stated that “a unique unified community . . . of the Transnistrian people” existed. 85 More recent data is provided by another poll of April 2000 on Moldovan and Transnistrian identity undertaken by the Moscow-based political scientist Vladimir Kolossov. 86 This time, 498 inhabitants of the TMR as well as 513 of right-bank Moldova were interviewed. Whereas on both sides of the river the degree of political and territorial identification with the respective regions (and thus states) was almost the same, significant differences existed with regard to the perception of one’s own standard of living and the standard of living of the other side: Transnistrians considered their own socio-economic situation in general as poor, yet still much better than the one on the right bank. 87 In addition, the degree of trust in the TMR leadership was considerably higher than figures in mainland Moldova: 45.2 per cent of those interviewed trusted TMR ‘president’ Smirnov, 38.7 per cent trusted the TMR government, and 37.1 per cent the TMR Supreme Soviet. The highest figures of trust, however, were achieved by two non-political but politicized institutions: The Orthodox Church with 48.6 per cent and, an unrivalled number one, the armed forces of the TMR with 64.7 per cent! 88

VIII. The TMR interim balance sheet: A decade of state-driven nation-building, 1992–2002 “Transnistria and the Transnistrians”, stated TMR ‘president’ Smirnov in 2000, “that is a peculiar region with an astonishing people which has self-sacrificingly fought for its statehood. Our state became reality. And that is the most important event of these last ten years.” 89 What Smirnov calls here “the truth about our little but freedomloving and viable state” 90 cannot be rejected offhand, i. e. the fact that this state-like

84 Nikolaj V. Babilunga, “Territorjal’naja identiˇcnost’ kak faktor politiˇceskoj stabil’nosti Pridne˙ ceskaia mobilizacija i mež˙etniˇceskaja integracija strov’ja”, in Michail N. Guboglo (ed.), Etniˇ (Moskva, 1999), 192. 85 Ibid. See also Michail N. Guboglo, “Mežnacional’naja naprjažennost’ v real’nosti i v predstavleni˙ ceskaia mobilizacija, 172–184; and Nikolaj V. Babilunga, jach graždan”, in Guboglo (ed.), Etniˇ ˙ ceskaja identiˇcnost’ naselenija Pridnestrov’ja”, Etniˇ ˙ ceskaja mobilizacija i mež˙etniˇceskaja in“Etniˇ tegracija: Istorija. Faktory. Gorizonty. Nauˇcno-praktiˇceskaja konferencija. 29 sentjabrja 1998 g. Doklady i soobšˇcenija (Kišinev, 1999), 30–32. 86 Vladimir Kolossov, “A Small State vs. a Self-Proclaimed Republic: Nation-Building, Territorial Identities and Prospects of Conflict Resolution (The Case of Moldova-Transdniestria)”, in Stefano Bianchini (ed.), From the Adriatic to the Caucasus. The Dynamics of (De)Stabilization (Ravenna, 2001), 98–104. 87 Ibid., 100–101. 88 Ibid., 101. 89 I. Smirnov, “Dorogie cˇ itateli!”, in Babilunga et al., Fenomen Pridnestrov’ja, 3. 90 Ibid.

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entity still exists, has mastered a number of internal problems and has survived considerable external pressure and even an armed conflict. Taking into account the shaky economic basis of the TMR during the 1990s as well as its uneasy position in between a hostile Moldova and an indifferent Ukraine, with the Russian Federation as protector state-to-be being far away, the situation in 2002 seems to have become stabilized. This impression of stability is, of course, partly due to the massive repression by the regime of the remnants of political opposition in the TMR. But it is unlikely that this is the only reason. The fact that Smirnov has won the ‘presidential’ elections three times in a row – 1991, 1996 and 2001 (this time against at least one serious competitor, the pro-Putin mayor of Bendery Tom M. Zenoviˇc) 91 – speaks for itself. Also the ‘Moscow factor’ does not fully explain this relative stability: For a number of years already, Moscow has constantly reduced the strenght of the Fourteenth Army as well as of the Russian blue helmets in the quadrilateral peace-keeping force in the Security Zone, and has transferred arms, ammunition and equipment from the garrisons in Transnistria to Western Russia. Thus, the assumption that the stability of the TMR is at least partly ‘homemade’ and that the history-based identity management described above is one of the key factors in this development seems plausible. The political mobilization of the elite and large parts of society in the Dniester valley in the late eighties resulted in a powerful movement for autonomy which turned into separatism. At first this movement did not have any ethnic background, even though it was triggered by the language policy of the Moldovan Popular Front. The struggle to maintain the positions and privileges of the regional elites was successfully transformed into a regional movement in the Dniester valley. Until the outbreak of armed conflict between this new movement and the central government of Moldova, the regional identity of the Transnistrians had been defined in a negative way – as not being like the Moldovan titular nation. In the following decade, the definition became a positive one – due to regionalist identity management. This is one of the reasons why a ‘solution’ of the Transnistrian conflict via granting territorial autonomy to Transnistria inside a unitarian (or even federalized) Moldovan state sought by international mediators as the OSCE could be an illusion. The TMR has de facto reached its goal of statehood and is striving for external consolidation – be it by ‘reintegration’ in the CIS, by joining the anemic Russian-Belarusian Federation or even by concluding a confederation with Ukraine. The Republic of Moldova could cope well with the loss of the east bank, which it had acquired as late as 1944, and partly even recognizes the political and social advantages of getting rid of the artificial and problematic appendix on the other side of the Dniester. At the same time, the west bank, i. e. the Bessarabian part of Moldova, is debating its own reunification with Romania to which it had belonged from 1918 to 1940 and again from 1941 to 1944. 91 That Zenoviˇc was perceived by Smirnov as a serious competitor is demonstrated by the fact that the latter in his capacity as president dismissed Zenoviˇc as mayor of Bendery at the peak of the election campaign. See Aleksandr Isaev, “Ljuboj cenoj uderžat’sja u vlasti. Smešˇcen s dolžnosti glavnyj sopernik Smirnova na prezidentskich vyborach v Pridnestrov’e”, Nezavisimaia Moldova, 1 November 2001, 1.

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In other words: In terms of the constitutional future of the Republic of Moldova and the TMR, quite a number of options are at hand and possess various degrees of likelihood – with the option of a reintegration of the TMR into Moldova being among the less likely of them. However, with regard to all options listed above the explosive question of the future status of the city of Bendery, controlled by Transnistrian authorities yet lying on the west bank, remains unanswered. Bendery, which TMR ‘foreign minister’ Valerij A. Lickaj calls “our West Berlin”, 92 is by now ethnically cleansed and as a result has developed into an almost entirely russophone city. Moreover, even for people like Andrej Safonov, one of few remaining democratic Transnistrian separatists, Bendery represents “something like a sacral symbol”. 93 When in May 2002 the leadership of the TMR proposed to administratively unite the two geographically close cities of Bendery and Tiraspol’ into a “new capital of Transnistria”, the situation was aggravated further. 94 Accordingly, it is no coincidence that Bendery is in the very focus of TMR propaganda. In the Museum of History and Regional Geography of Bendery an inscription in golden letters on red velvet puts Transnistrian identity management in a nutshell: “We are Transnistrians! One cannot deprive us of our history, our name, our native tongue and national culture. The TMR is the guarantor for this.” 95 As demonstrated, there is considerable evidence for the fact that the message of this inscription is shared by a relative majority of the inhabitants of the TMR, i. e. that a “Transnistrian people” in the sense of a demos exists. Whether this ‘people’ has the potential to develop into an ethnos is an open question for the time being. In 1970, the historian of Southeastern Europe Mathias Bernath stated with regard to the similar case of post-1944 Macedonian nation-building inside Tito’s Yugoslavia “that today the existence of an almost full-fledged nationality in Vardar Macedonia is a hypothesis to be taken seriously, and tomorrow it will be an irreversible fact provided within the next two generations no shifts in the territorial shape of Yugoslavia and Bulgaria occur.” 96 The same could also be said for the TMR and it seems as if after the success of conflict-driven state-building of the early 1990s, the regional elite succeeded in laying the foundations for a nation-building process – thereby proving correct Miroslav Hroch’s view that while nations are invented by political entrepreneurs, without a hard core of previously existing allegiances, be they lan92 In an interview on 13 September 1997 in Flensburg. 93 Safonov, “Vzaimootnošeniia Moldovy i Pridnestrov’ja”, 153. 94 “Novaja stolica Pridnestrov’ja (k voprosu ob-edinenija Tiraspolja i Bender)”, Ol’vija-press, 29 May 2002. 95 “My – pridnestrovcy! Nas ne lišit’ istorii, imeni, rodnogo jazyka, nacional’noj kul’tury. PMR tomu garantija”. Benderskij istoriko-kraevedˇceskij muzej. 96 Mathias Bernath, “Das mazedonische Problem in der Sicht der komparativen Nationalismusforschung”, 29 Südost-Forschungen (1970), 244. For the decisive decade of Macedonian nationbuilding, see Stefan Troebst, “Yugoslav Macedonia, 1943–1953: Building the Party, the State and the Nation”, in Melissa K. Bokovoy et al. (eds.), State-Society Relations in Yugoslavia, 1945–1992 (New York, NY, 1997), 243–266.

The “Transnistrian Moldovan Republic”

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guage, region, faith, class, or something else, state-driven national building does not work. 97 In this regard, the fact that the “Ruritanians” on the left bank of the river Dniester had previously belonged to the Soviet “Megalomanians” is not unusual: “Megalomanians can become Ruritanians”, as David Laitin has demonstrated in the examples of other post-Soviet cases. 98 What in fact is unusual in the case of the TMR is that here the former “Megalomanians” did not accept the inversion of their status to “Ruritanians”, i. e. from a dominant to a non-dominant group as did, for example, the Russian-speakers in the Baltic states, in the Donbass or in the Crimea. 99 Whereas in international law and international relations secession in general, and an unpeaceful one in particular, is perceived as being part of the problem and not of the solution, the political scientist Ulrich Schneckener recently came up with the formula of “secession as conflict resolution”. 100 His proposals for defusing the conflict triangle Serbia, Montenegro and Kosovo by granting statehood to all three of them would probably apply also to the TMR and Moldova: The conflict potential inherent in any given de facto state is in most instances higher than the one of an internationally recognized and thus legally bound subject of international law. This does not, of course, answer the question of what the future status of the TMR could be: an infinitive prolongation of the volatile status quo? An independent and diplomatically recognized mini-state squeezed in between Moldova and the Ukraine? ‘Re’-unification with the distant Russian Federation? Or junior partner in a new Russian-Belarusian-Ukrainian confederation called ZUBR? 101 Things become even more complicated when we take into account the Republic of Moldova’s own serious crisis of identity which runs parallel to a severe crisis of the economy and society causing mass poverty and mass migration. As in the early 1990s and again in the early 2000s, the option of Moldova’s reunification with Romania has strong support within the Moldovan-speaking majority of the country. 102 The closer Romania moves

97

See Miroslav Hroch, “Real and Constructed: the Nature of the Nation”, in John A. Hall (ed.), The State of the Nation. Ernest Gellner and the Theory of Nationalism (Cambridge, 1998), 91–106. 98 Laitin, Identity, 260. On the Ruritanians-Megalomanians metaphor, see Ernest Gellner, Nations and Nationalism (Ithaca, NY, 1983), 58–62. 99 Laitin, Identity, 330. 100 Ulrich Schneckener, “Sezession als Konfliktlösung – Unabhängigkeit für Montenegro und Kosovo?”, 29 Leviathan (2001), 314–336. See also Id., Auswege aus dem Bürgerkrieg. Modelle zur Regulierung ethno-nationalistischer Konflikte in Europa (Frankfurt /M., 2002). 101 ZUBR stands for Za Soiuz Ukrainy, Belorussii i Rossii (“For a Union of the Ukraine, Belarus’ and Russia”). Yet the Russian word zubr, meaning literally wisent, i. e. a European bison, stands in a figurative sense also for an arch-reactionary. 102 Taras Kuzio, “History, Memory and Nation Building in the Post-Soviet Colonial Space”, 30 Nationalities Papers (2002), 257. For the zigzag course in the post-Soviet continuation of Sovietstyle Moldovan nation-building by indigenization, see Charles King, “Moldovan Identity and the Politics of Pan-Romanianism”, 53 Slavic Review (1994), 345–368; Vladimir Solonari. “Narrative, Identity, State: History Teaching in Moldova”, 16 East European Politics and Society (2002), 415– 445; Sergei Mustea¸ta˘ , “‘My – rumyny?’ Prepodavanie istorii v Respublike Moldova v poslednie desjat’ let”, 4(1) Ab Imperio (2003), 467–484; and Andrei Cusco, Viktor Taki, “‘Kto my?’ Istoriografiˇceskij vybor: rumynskaja nacija ili moldavskaja gosudarstvennost’”, ibid., 485–495.

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towards NATO and the EU, the more attractive the reunification option becomes for empoverished Moldova. This development has a twofold effect on Tiraspol’: The old guard of separatists around Smirnov takes any rapprochement between Bucharest and Chi¸sin˘au as another justification for their deep mistrust towards the political class of the new Moldova, be they pro-Romanian nationalists or, like the present Moldovan government, Russian-speaking communists. However, more flexible TMR politicians such as Lickaj or Zenoviˇc and, in particular, the majority of Transnistrian entrepreneurs and businessmen, favour a double-track policy combining close relations with Moscow with a Transnistrian ‘road to Europe’. Not incidentially, in December 2002 – shortly after Romania had been officially named as a candidate for NATO and the EU – an NGO called For Europe. Mutual Understanding and Cooperation was founded in Tiraspol’ with the tacit blessings of the regime. 103 And since even policy makers in Tiraspol’ know that Transnistria’s ‘road to Europe’ inevitably leads via Chi¸sin˘au, the ‘common state’ option is also still open – hence renewed Transnistrian-Moldovan talks facilitated by the Russian Federation, the Ukraine, and the OSCE in December 2002 in Moscow. 104 To sum up: Due to the high volatility of political developments in the southwestern corner of the CIS, a large number of scenarios for Transnistria have to be taken into account. According to some of them, the TMR has a fair chance to retain its status of a de facto state, maybe even to become internationally recognized. The longer the present status lasts, the higher the likelihood that TMR identity management achieves its aim, i. e. triggers a Hrochian “Phase B” in the process of building a ‘Transnistrian people’. For the time being, however, what has been constructed by Tiraspol’ still does not seem to be irreversible.

103 Andrej Mospanov, “Pridnestrov’e: Trudnyj put’ k Evropu”, Ol’vija-Press, 25 December 2002. The fact that this report was published by the official TMR press agency indicates that the “Za Evropu. Vzaimoponimanie i sotrudniˇcestvo” NGO led by the journalist Anatolij Panin has considerable support from above. 104 “Moskovskie itogi: Vse-taki na dogovornoj osnove”, Ol’vija-Press, 19 December 2002.

Vom „Vaterländischen Krieg 1812“ zum „Großen Vaterländischen Krieg 1941 – 1945“ Siegesmythen als Fundament staatlicher Geschichtspolitik in der Sowjetunion, der Russländischen Föderation, der Ukraine und Belarus’

[2016] Die mediale, visuelle und repräsentationsmäßige Verwertung des russischen Sieges über Napoleon 1812 und seiner „Architekten“, der Generäle Aleksandr Suvorov und Michail Kutuzov, stellte eine Neuausrichtung in der Geschichtspolitik des Zarenreiches dar. Denn bis dahin waren die imperial propagierten Erinnerungsorte sämtlich religiös konnotiert, was auch und gerade für militärische Ereignisse galt: Die Schlacht auf dem Peipus-See 1242 gegen den Deutschen Orden oder der Sieg auf dem Schnepfenfeld über die Tataren 1380 wurden im Moskauer Staat wie im petrinischen Russland als Triumphe der Orthodoxie über Ketzer und Ungläubige kanonisiert, die Sieger Aleksandr Nevskij und Dmitrij Donskoj als Heilige verehrt. Hinzu kam, dass beide als Vertreter russischer Staatsmacht – des Großfürstentums Vladimir-Suzdal’ der eine, des Großfürstentums Moskau der andere – agierten und damit in eine Traditionslinie zu den späteren Zaren gestellt wurden. Anderen siegreichen Befreiern „russischer Erde“ wurde diese Qualität nicht beigemessen, so dass sie als Heroen höchstens zweiter Klasse eingestuft wurden. Dies galt etwa für das opolˇcenie, also für das Aufgebot eines Volksheeres gegen die polnisch-litauische Besetzung Moskaus der Jahre 1610 bis 1612, in der sogenannten „Zeit der Wirren“, der smuta. Mit dem Sieg der Insurgenten wurde der Weg frei für die Krönung Michail Romanovs 1613 zum Zaren durch seinen Vater Patriarch Filaret. Die Dynastie Romanov, die bis 1917 herrschte, war damit begründet. Zwar war einer der Anführer der Aufständischen, Dmitrij Požarskij, ein Fürst aus dem Haus der Rjurikiden, doch sein Partner, der Kaufmann (oder Metzger?) Kuz’ma Minin aus Nižnij Novgorod war nichtadliger, überdies wohl auch nichtrussischer, mutmaßlich tatarischer Herkunft. Das 1818 auf dem Roten Platz in Moskau aufgestellte Mininund-Požarskij-Denkmal ging folglich nicht auf die Initiative der Monarchie, sondern auf diejenige der Bürger Nižnij Novgorods zurück. Und seine Aufstellung wäre ohne die geschichtspolitische Wende im Zuge des Sieges von 1812, jetzt in Richtung Reichspatriotismus und Russentum statt, wie bisher, Orthodoxie und Dynastie nicht möglich gewesen. Überdies waren am russländischen Sieg über Napoleon nicht zuletzt russische Freischärler beteiligt, die wie exakt 200 Jahre zuvor unter der Bezeichnung opolˇcenie, Landwehr, firmierten und deren Zahl auf nicht weniger als 400.000 (bei einer nur geringfügig höheren Zahl regulärer zarischer Truppen) geschätzt wird.

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Allerdings bestand Zar Aleksandr I. darauf, den in der Folgezeit als „Vaterländischen Krieg“ bezeichneten Waffengang gegen Frankreich und seine Verbündeten religiös einzubinden. In seinem Manifest „über die Erstattung der Dankbarkeit für die Befreiung Russlands vom feindlichen Angriff an Gott den Herrn“ vom 25. Dezember 1812 dekretierte er: Von nun an soll der 25. Dezember, der Tag der Geburt Christi, im kirchlichen Kontext auch der Tag der Dankbarkeitsfeier sein – unter der Bezeichnung: Geburt unseres Erlösers Jesus Christus sowie Erinnerung an die Errettung der Kirche und des Russländischen Staates vor dem Angriff der Gallier mit ihren zwölf Völkern. 1

Der Sieg über Napoleon 1812 ist seitdem ein zentraler staatlicher Erinnerungsort, wie nicht zuletzt die aufwendigen Feiern zum 100. Jubiläum 1912 im Zarenreich, zum 150. 1962 in der Sowjetunion und zum 200. 2012 in der Russländischen Föderation belegen, die jeweils mit Medienkampagnen, Publikationsoffensiven sowie (partei-)politischen und militärischen Inszenierungen unter dem Rubrum „Vaterländischer Krieg“ einhergingen. In mehrfacher Hinsicht ein Geniestreich von Stalins Chefpropagandisten Emel’jan Jaroslavskij war die bereits am Tag nach dem Angriff NS-Deutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 in einer in der Parteizeitung Pravda veröffentlichten Rede getroffene Sprachregelung vom „Großen Vaterländischen Krieg“ (Velikaja Oteˇcestvennaja Vojna). Jaroslavskij, damals Vorsitzender der „Gesellschaft der Gottlosen“, also des sowjetischen Atheistenverbandes, knüpfte damit zum einen an den „Vaterländischen Krieg“ gegen Napoleon an, stellte aber zum anderen durch das Adjektiv velikaja (groß) implizit die Sowjetunion über das Zarenreich und damit Stalin über Aleksandr I. Unterschwellig unterstrich er damit den russischen Charakter der Sowjetunion und gab zugleich den Startschuss zur Propagierung des neuen Konzepts eines „Sowjetpatriotismus“, der bald durch eine „allslavische“ Komponente sowie durch eine propagandistische Instrumentalisierung der zuvor repressierten Russischorthodoxen Kirche ergänzt wurde. In Stalins berühmter Rede zum 24. Jahrestag der Oktoberrevolution vor Soldaten der Roten Armee auf dem Roten Platz in Moskau am 7. November 1941 hörte sich die neue Linie wie folgt an: Möge Euch in diesem Krieg das heldenmütige Vorbild eurer großen Vorfahren beseelen – Aleksandr Nevskijs, Dmitrij Donskojs, Kuz’ma Minins, Dmitrij Požarskijs, Aleksandr Suvorovs, Michail Kutuzovs. Möge Euch das siegreiche Banner des großen Lenin Kraft verleihen! 2

1 2

Polnoe sobranie Zakonov Rossijskoj Imperii [Vollständige Sammlung der Gesetze des Russländischen Reiches]. Bd. 32, Peterburg 1830, S. 486–487. Stalin, I.: Reˇc’ na parade Krasnoj Armii 7 nojabrja 1941 goda na Krasnoj plošˇcadi v Moskve [Rede auf der Parade der Roten Armee am 7. November 1941 auf dem Roten Platz]. In: Ders.: O Velikoj Oteˇcestvennoj Vojne Sovetskogo Sojuza. Moskva 1943, S. 34–37, hier S. 37.

Siegesmythen

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Die Kontinuitätslinie von 1242 und 1380 über 1612 und 1812 zu 1917 und 1941 war damit gezogen. Was Jaroslavskij bei seiner Prägung der Formel vom „Großen Vaterländischen Krieg“ Ende Juni 1941 nicht ahnen konnte, war der Umstand, dass das zweite Adjektiv – oteˇcestvennaja (vaterländisch), und nicht, wie zu erwarten gewesen wäre sovetskaja (sowjetisch) – den russländischen, ukrainischen und belarusischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion die reibungslose Weiternutzung der sowjetischen Formel vom „Großen Vaterländischen Krieg“ auch in post-kommunistischer Zeit ermöglichte. Zwar war mit „Vaterland“ ursprünglich die UdSSR gemeint, aber da diese eben nicht beim Namen genannt wurde, konnte nach 1991 problemlos ein „Vaterlandstransfer“ zum neuen Russland und sogar zur neuen Ukraine und zur neuen Belarus’ hergestellt werden. Und die seit der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches am 8. bzw. (nach Moskauer Uhrzeit) 9. Mai 1945 in Berlin-Karlshorst dem dreiteiligen Standardbegriff angehängten Jahreszahlen „1941–1945“ ermöglichten der Russländischen Föderation, der Ukraine und Belarus’ wie zuvor der Sowjetunion die Ausblendung der Anfangsphase des Zweiten Weltkriegs vom 1. September 1939 bis zum 21. Juni 1941. In das jetzt auch russländische Narrativ vom heldenhaften Kampf der Völker der Sowjetunion gegen den nationalsozialistischen „Drang nach Osten“ mussten folglich der Hitler-Stalin- bzw. Molotov-Ribbentrop-Pakt samt Geheimem Zusatzprotokoll über die Aufteilung Ostmitteleuropas vom 23. August 1939, der Einmarsch der Roten Armee in Polen am 17. September 1939, der deutsch-sowjetische Grenz- und Freundschaftsvertrag vom 28. September 1939, die zwischen Berlin und Moskau koordinierte deutsch-sowjetische Okkupation Polens samt Kooperation von Wehrmacht und Roter Armee sowie von Gestapo und NKVD, die gewaltsame Einverleibung Estlands, Lettlands, Litauens, Ostpolens, der Bukovina und Bessarabiens in die UdSSR, die Lieferung kriegswichtiger Rohstoffe aus der Sowjetunion ins „Dritte Reich“ und andere sperrige Tatbestände nicht eingepasst werden. In der Geschichtspolitik der Ukraine hingegen wurde vor allem unter dem Präsidenten Leonid Kuˇcma der aus Sowjetzeiten stammende Terminus „Goldener September“ für die Annexion Südostpolens durch die UdSSR bei Angliederung an die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik im Herbst 1939 weiterverwendet. Und unter dem belarusischen Präsidenten Lukašenk˙a wurde die Proklamierung des 17. September, an dem 1939 die Rote Armee in Polen einfiel, zum staatlichen Feiertag „der Wiedervereinigung der belarussischen Lande“ ernsthaft erwogen. Gemeint war natürlich der gewaltförmige Anschluss Nordost-Polens an die Weißrussische Sozialistische Sowjetrepublik. Die Geschichtspolitik in Zarenreich, Sowjetunion und Russländischer Föderation gleicht der Echternacher Springprozession: Nach jedem Regimewandel – und dazu sind auch die innersowjetischen Brüche von 1929, 1953 und 1985 zu rechnen – wurden zuvor ausrangierte Erinnerungsorte reaktiviert sowie bisher gültige abgeschaltet. Frithjof Benjamin Schenk hat in seinem fulminanten Buch über Aleksandr Nevskij als „Erinnerungsfigur im russischen kulturellen Gedächtnis“ die „Entthronung“ dieses Nationalhelden durch die Bol’ševiki sowie seine umgehende „Rehabilitie-

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rung“ durch Stalin beschrieben 3, und Jutta Scherrer hat ihre 2005 vorgenommene und mit „Siegesmythos versus Vergangenheitsaufarbeitung“ überschriebene Analyse sowjetischer wie post-sowjetischer Geschichtspolitik mit folgendem skeptischem Fazit beendet: Rußland hat sich in erstaunlich kurzer Zeit von dem Mythos der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ befreit. Wird es sich jemals von dem Mythos des Großen Vaterländischen Krieges, der heroischen Heldentat des Siegs befreien können oder wollen? 4

Aus heutiger Sicht muss die Antwort lauten: weder noch. Der Sieg über HitlerDeutschland im Zweiten Weltkrieg ist der Gründungsmythos des Putin’schen Russland und wird es auf absehbare Zeit hinaus auch bleiben. Dafür sprechen mindestens drei gewichtige Gründe: Erstens, ein Alternativmythos ist nicht in Sicht. Die Entstalinisierungspolitik Chrušˇcëvs, die bezüglich Lebensstandard und Konsum „goldenen“, politisch und kulturell aber verlorenen Jahre unter Brežnev, die halbherzige Perestrojka unter Gorbaˇcëv, die Gründung der Russländischen Föderation durch El’cin oder die abgewehrten Putschversuche gegen die beiden Letztgenannten taugen dafür sowohl aus der Sicht der „Vertikale der Macht“ als auch aus derjenigen der Bevölkerungsmehrheit nicht. Zweitens, die Stalin’sche Formel von der „Befreiung der Völker Europas vom Faschismus“ 1945 durch die Rote Armee festigt den imperialen wie globalen Machtanspruch des Russland Putins. So gering das internationale Prestige der Russländischen Föderation auch ist, so unbestritten ist selbst im Westen der sowjetische Beitrag zum gemeinsamen Sieg über Hitler. Indirekter Beleg dafür ist etwa die Proklamierung des 27. Januar zum internationalen Gedenktag für die Opfer des Holocaust, denn an diesem Tag befreiten 1945 Sowjettruppen das NS-deutsche Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Und drittens, die Traditionslinie vom „Vaterländischen Krieg 1812“ zum „Großen Vaterländischen Krieg 1941–1945“ wirkt als „allrussische“ Kontinuitätsbrücke sowohl zum zarischen Russland als auch zum neuen Russland, denn sowohl El’cin wie Putin haben den „Sieg über den Faschismus“ zum Gründungsmythos der Russländischen Föderation stilisiert. Die Sowjetperiode und mit ihr Stalin als „Führer“ (russ. vožd’) sind damit in die russländische Meistererzählung sowie das amtlicherseits propagierte Geschichtsbild integriert. All dies heißt aber nicht, dass der umgangssprachlich mit „VOV“ abgekürzte lieu de mémoire – das steht für russisch Velikaja Oteˇcestvennaja Vojna (Großer Vaterländischer Krieg) – auf einem gesellschaftlichen Konsens basiert, im Gegenteil: Die innerrussländischen geschichtspolitischen Debatten der letzten Jahre kreisten eben

3 4

Schenk, Frithjof Benjamin: Aleksandr Nevskij. Heiliger – Fürst – Nationalheld. Eine Erinnerungsfigur im russischen kulturellen Gedächtnis (1263–2000). Köln-Weimar-Wien 2004, S. 226–287. Scherrer, Jutta: Sowjetunion /Rußland: Siegesmythos versus Vergangenheitsaufarbeitung. In: Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen. Hrsg. v. Monika Flacke. Bd. 2. Mainz 2004, S. 619– 670, hier S. 655.

Siegesmythen

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um dieses Thema. Die rudimentäre Zivilgesellschaft hat ihren fundamentalen Dissens zur staatlichen Geschichtspolitik in die Formel „pobeda bez Stalina“ gefasst – „Sieg ohne Stalin“. Der Sieg ist zu feiern, so diese Sichtweise, aber nicht der Diktator. Nach der Abwicklung des Medvedev’schen Konzepts einer „zweiten Entstalinisierung“ lautet die aktuelle Sprachregelung des Kremls wie folgt: Ja, Stalin war ein Mensch mit gewissen Schwächen und Defiziten, die indes durch seine politischen wie militärischen Leistungen im Kampf gegen den Faschismus mehr als aufgewogen werden. Jutta Scherrers Skepsis ist daher auch zehn Jahre später vollauf berechtigt. Dennoch ist die Putin’sche Geschichtspolitik weniger starr als es auf den ersten Blick scheinen mag. Auf Initiative des Kremls wurde 2005 der von El’cin in „Tag der Eintracht und Versöhnung“ umbenannte sowjetische Staatsfeiertag am 7. November, damals der „Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“, abgeschafft und durch einen neuen, zeitlich nahegelegenen Feiertag am 4. November ersetzt. Dieser neue „Tag der nationalen Einheit“ rekurriert auf das Jahr 1612, als das besagte Volksaufgebot unter Minin und Požarskij in der „Zeit der Wirren“ von Nižnij Novgorod nach Moskau zog und die polnischen Besatzer aus der Hauptstadt vertrieb. Die Konstanzer Historikerin Isabelle de Keghel hat 2009 in einem Band über „Geschichtspolitik und Erinnerungskultur im neuen Russland“ eine eindringliche Analyse der zahlreichen Konnotationen zivilgesellschaftlicher, EU-feindlicher, multiethnischer, nationalistisch-rechtsextremer, sozialkohäsiver und anderer Art dieses neuen russländischen Staatsfeiertages geliefert. Der machtpolitische Kern ihrer Untersuchung zur beabsichtigten und tatsächlichen Wirkung des neuen „Tags der nationalen Einheit“ lautet: In den Vergangenheitsdiskurs der Transformationszeit schrieb sich dieser Vorschlag insofern gut ein, als die ‚Zeit der Wirren‘ dort ein Schlüsselbegriff gewesen war. Häufig war dieser Terminus, der [. . . ] zur Bezeichnung einer historischen Entwicklungsphase im frühen 17. Jahrhundert diente, auch zur Beschreibung der Umbruchsituation im Russland der Transformationszeit benutzt worden. Diese Periode raschen und verunsichernden Wandels sollte nun offiziell für beendet erklärt werden.

Und weiter: Der neue Feiertag transportierte also zugleich die Aussage, Putin habe das Chaos der Ära El’cin beseitigt und Russland konsolidiert. Implizit wurde dabei eine Analogie zwischen dem ersten Romanov und Präsident Putin hergestellt: So wie das Land [1613] mit der Inthronisierung von Mihail Romanov erstmals nach der ‚Zeit der Wirren‘ wieder einen starken Herrscher bekam, ging Putin nun in seinem Selbstverständnis gegen Anarchie und Regionalismus vor, indem er die ‚Machtvertikale‘ und eine starken Staat forcierte. 5

Der siegreiche Widerstand gegen ausländische Militärinterventionen ist gemeinsamer Nenner zarischer, sowjetischer und russländischer Geschichtspolitik. Gemäß

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Keghel, Isabelle de: Verordneter Abschied von der revolutionären Tradition: Der „Tag der nationalen Einheit“ in der Russländischen Föderation. In: Geschichtspolitik und Erinnerungskultur im neuen Russland. Hrsg. v. Lars Karl und Igor J. Polianski. Göttingen 2009, S. 119–140, hier S. 124–125.

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sowjetischer Tradition ist dabei auch zu post-sowjetischer Zeit der „Tag des Sieges“ am 9. Mai als Apotheose des „Großen Vaterländischen Krieges 1941–1945“ zentraler Fluchtpunkt, der wiederum in direkter historischer wie terminologischer Traditionslinie zum „Vaterländischen Krieg 1812“ steht. Eine Putin’sche Innovation ist die Proklamierung des 4. November zum „Tag der nationalen Einheit“, mit dem der Vertreibung der polnisch-litauischen Interventen 1612 gedacht wird. Eine zu zarischen wie sowjetischen Zeiten aus unterschiedlichen Gründen nur halbherzig gefeierte weitere erfolgreiche militärische Beendigung einer feindlichen Intervention ist damit geschichtspolitisch beträchtlich aufgewertet. Stützpfeiler des auf einem Unbesiegbarkeitsmythos beruhenden neuen russländische Gedenkkanons sind somit neben 1812 und 1945 jetzt auch 1612, nicht länger hingegen das Revolutionsjahr 1917 und noch nicht 2000, das Jahr des Beginns der ersten Präsidentschaft Vladimir Putins.

Post-Communist Holiday Legislation as Part of Governmental Politic s of History The Case of the Russian Federation

[2016] (1) Introduction When on Thursday, 4 May 1978, Leonid I. Brezhnev, Secretary General of the CPSU and Chairman of the Presidium of the Supreme Soviet of the USSR, arrived for his second visit to the West German capital Bonn, he wondered why there were so many people standing alongside the road from the airport waving at a communist leader. “Have you ordered these crowds to come here in honour of the Soviet people?” he asked his host, federal foreign minister Hans-Dietrich Genscher. “No”, Genscher replied. “They all have a day off. Today is the Ascension of Christ.” This answer visibly caused a problem for Brezhnev’s translator: Either did he not know the proper Russian translation of Ascension Day, namely Voznesenie Isusa Christa, or he considered it inappropriate to point out the religious character to the gensek. Finally, he came up with more an interpretation than a translation: “It’s something like our Cosmonautics Day.” 1 This anecdote catches all three dimensions of the holiday systems of most states of the world: They are deeply national, i. e., based on history and tradition; they are political, more often than not also ideological; and frequently they are connected to religion and denomination. In the following I will look at the Yeltsin era in the 1990s, then at the Putin era since 2000, and I will deal with a new holiday introduced in 2006, i. e., 4 November, the “Day of National Unity” (Den’ narodnogo edinstva). Systems of labour-free public holidays are among the backbones of national representation and governmental politics of history – alongside with state symbols like coat of arms, flag and hymn. Like state symbols, also public holiday systems tend to be rather stable. Turning points are, however, revolutions, the dissolution of a federal state into successor states – like in the case of the Soviet Union, Yugoslavia and

1

Vödisch, Stephan: Christi Himmelfahrt? Da war doch was?. In: Website of EvangelischLutherische Superintendentur Meißen-Großenhain, 12 June 2014 (URL: http://www.kirchenbezirkmeissen-grossenhain.de/alle-berichte/487 – christi-himmelfahrt-da-war-doch-was.html, accessed: 05-10-2016). – Cosmonautics Day (Den’ kosmonavtiki), celebrated in the USSR on 12 April as a holiday though not a labour-free one, is in the RF a “commemorative date” (pamjatnaja data). The German terms Himmelfahrt (Ascension) and Raumfahrt (Cosmonautics) resemble each other more than the English and Russian ones.

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Czechoslovakia in the first half of the 1990s –, and sometimes also regime change, as in the case of Belarus’ in 1994. Yet in most such cases, not all ‘old’ elements are abolished: Some of them coexist with the ‘new’ ones, as recent studies on the subject demonstrate. None of them, however, covers the Russian Federation (RF). 2 In the case of this country, there is even a third dimension to the ‘new’ post-Soviet holiday system and the ‘old’ Soviet one: the former Tsarist one with its strong features of orthodox christianity. Thus, the holiday system of the RF is highly syncretistic, i. e., it combines elements which are in fact incompatible. Formally, it consists of seven categories: (1) (2) (3) (4) (5)

Labour-free holidays (neraboˇcie prazdniˇcnye dni) Working holidays (raboˇcie prazdniˇcnye dni) Professional holidays (professional’nye prazdniki) Commemorative days (pamjatnye dni) Days of military glory (victorious days) of Russia (dni voinskoj slavy [pobednye dni] Rossii) (6) Commemorative dates of Russia (pamjatnye daty Rossii) 3

In addition, federal subjects like the republics of Tatarstan, Bashkortostan, Chechnya, Adygeya, Carelia, Sakha et al. all have one or more labour-free regional holidays. 4 With the exception of two, all public holidays of the RF are either innovations or modifications of Soviet ones. These exceptions are New Year’s Day (Novyj god) on 1 January, the only non-religious labour-free holiday of the Tsarist empire, established in 1897. With the exceptions of the Stalinist years from 1930 to 1947 it also survived the Soviet Union. 5 And Christmas (Roždestvo Christovo) on 7 January, a labour-free holiday up to 1917 and again since 1991 which coincides with the holiday system of the Russian Orthodox Church. 6 Easter, the highest orthodox holiday, is

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See Transforming National Holidays. Identity Discourse in the West and South Slavic Countries, 1985–2010. Ed. by Ljiljana Šari´c, Karen Gammelgaard and Kjetil Rå Hauge. Amsterdam, Philadelphia: John Benjamins, 2012; National Days: Constructing and Mobilising National Identity. Ed. by David McCrone and Gayle McPherson. Basingstoke: Palgrave, 2009; and Fuller, Linda K.: National Days /National Ways: Historical, Political and Religious Celebrations around the World. London: Praeger, 2004. Prazdniki Rossii [The holidays of Russia] (URL: https://ru.wikipedia.org/wiki/%D0%9F%D1%80% D0%B0%D0%B7%D0%B4%D0%BD%D0%B8%D0%BA%D0%B8_%D0%A0%D0%BE%D1% 81%D1%81%D0%B8%D0%B8; Dni voinskoj slavy Rossii /(URL: https://ru.wikipedia.org/wiki/% D0%94%D0%BD%D0%B8_%D0%B2%D0%BE%D0%B8%D0%BD%D1%81%D0%BA%D0% BE%D0%B9_%D1%81%D0%BB%D0%B0%D0%B2%D1%8B_%D0%A0%D0%BE%D1%81% D1%81%D0%B8%D0%B8, accessed: 05-10-2016). Prazdniki Rossii. Ibid.; Prazdniki SSSR [The holidays of the USSR] (URL: https://ru.wikipedia.org/wiki/%D0%9F% D1%80%D0%B0%D0%B7%D0%B4%D0%BD%D0%B8%D0%BA%D0%B8_%D0%A1%D0% A1%D0%A1%D0%A0, accessed: 05-10-2016). Prazdniki Rossii; Pravoslavnye prazdniki [Orthodox holidays] (URL: https://ru.wikipedia.org/wiki/ %D0%9F%D1%80%D0%B0%D0%B2%D0%BE%D1%81%D0%BB%D0%B0%D0%B2%D0% BD%D1%8B%D0%B5_%D0%BF%D1%80%D0%B0%D0%B7%D0%B4%D0%BD%D0%B8%

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also a public one in the RF falling, however, like most other movable public holidays on a Sunday.

(2) Tradition vs. innovation: The 1990s 7 When the USSR imploded and the RF emerged as its largest successor state President Boris N. Yeltsin and his young crew met hardly resistance in their strive to adopt the state symbols of Tsarist Russia. Different was the situation with public holidays: In the Russian Empire, up to 1917 all holidays (with the mentioned exception of New Year’s Day) were either religious or dynastic ones and as such unsuited for the new Russia. The problem then was seemingly solved by keeping the public holidays of Soviet times, but by trying to give them a new content. In addition, also new holidays connected to the emergence of the RF as one of the 15 post-Soviet states were proclaimed. The two former Soviet labour-free public holidays which were kept after 1991 without changes of their denomination are the International Women’s Day (Mežunarodnyj ženskij den’) on 8 March and Victory Day (Den’ Pobedy) on 9 May, celebrating the unconditional surrender of Nazi Germany in 1945. 8 Two former Soviet labour-free public holidays were rechristened in the 1990s. They are the Holiday of Spring and Labour (Prazdnik Vesny i Truda) on 1 May, labeled up to 1992 Day of International Solidarity of Workers (Den’ meždunarodnoj solidarnosti trudjašˇcichsja) 9, and the Day of Harmony and Reconciliation (Den’ soglasija i primirenija) on 7 November, up to 1994 known as Anniversary of the Great October Socialist Revolution (Godovšˇcina Velikoj Oktjabr’skoj socialistiˇceskoj revoljucii). 10 In addition to being a labour-free public holiday, 7 November is also a “day of military glory”

D0%BA%D0%B8#.D0.9F.D1.80.D0.B0.D0.B7.D0.B4.D0.BD.D0.B8.D0.BA.D0.B8_.D0.BF.D1. 80.D0.B5.D0.B8.D0.BC.D1.83.D1.89.D0.B5.D1.81.D1.82.D0.B2.D0.B5.D0.BD.D0.BD.D0.BE_ .D0.A0.D1.83.D1.81.D1.81.D0.BA.D0.BE.D0.B9_.D0.BF.D1.80.D0.B0.D0.B2.D0.BE.D1.81. D0.BB.D0.B0.D0.B2.D0.BD.D0.BE.D0.B9_.D1.86.D0.B5.D1.80.D0.BA.D0.B2.D0.B8, accessed: 05-10-2016). 7 Unless otherwise indicated this paragraph and the following one are based on Prazdniki Rossii where also the legislative acts establishing public holidays are cited, and on the concise overview by Makarkin, Aleksej V.: Protivoreˇcivye prazdniki novoj Rossii [The contradictory public holidays of the new Russia]. In: Neprikosnovennyj zapas 2015, no. 3 (101) (URL: http://magazines.russ.ru/nz/ 2015/3/19m.html, accessed: 05-10-2016). 8 Den’ Pobedy [Victory Day] (URL: https://ru.wikipedia.org/wiki/%D0%94%D0%B5%D0%BD% D1%8C_%D0%9F%D0%BE%D0%B1%D0%B5%D0%B4%D1%8B, accessed: 05-10-2016). 9 Pervoe maja (prazdnik) [First of May (Public Holiday)]. (URL: https://ru.wikipedia.org/wiki/%D0% 9F%D0%B5%D1%80%D0%B2%D0%BE%D0%B5_%D0%BC%D0%B0%D1%8F_(%D0%BF% D1%80%D0%B0%D0%B7%D0%B4%D0%BD%D0%B8%D0%BA), accessed: 05-10-2016). 10 Den’ soglasija i primirenija [Day of Harmony and Reconciliation] (URL: https://ru.wikipedia.org/ wiki/%D0%94%D0%B5%D0%BD%D1%8C_%D1%81%D0%BE%D0%B3%D0%BB%D0%B0% D1%81%D0%B8%D1%8F_%D0%B8_%D0%BF%D1%80%D0%B8%D0%BC%D0%B8%D1% 80%D0%B5%D0%BD%D0%B8%D1%8F, accessed: 05-10-2016).

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with the long title Day When in 1941 on Red Square in Moscow on the Occasion of the 24th Anniversary of the Great October Socialist Revolution a Military Parade Was Staged (Den’ provedenija voennogo parada na Krasnoj plošˇcadi v Moskve v oznamenovanie dvadcat’ cˇ etvërtoj godovšˇcinoj Velikoj Oktjabr’skoj socialistiˇceskoj revoljucii [1941 god]). Innovations of the Yeltsin years as labour-free public holidays were in 1992 the Day of the Adoption of the Declaration of Sovereignty of the Russian Federation (Den’ prinjatija Deklaracii o gosudartvennom suverenitete Rossijskoj Federacii), commemorating a decision of the First People’s Congress of the Russian Soviet Federative Socialist Republic in 1990 – popularized in 1998 in a speech of President Yeltsin as Day of Russia (Den’ Rossii) 11 –, and in 1994 the Day of the Constitution of the Russian Federation (Den’ Konstitucii Rossijskoj Federacii) on 12 December. 12 Also, next to New Year’s Day on January, in 1992, 2 January was proclaimed a labour-free public holiday. Working public holidays newly introduced were the Day of the National Flag of the Russian Federation (Den’ Gosudarstvennogo flaga Rossijskoj Federacii) on 22 August proclaimed in 1991 and alluding to the unsuccessful putsch of communist hardliners against Mikhail S. Gorbachev 13; the Day of Remembrance and Grief (Den’ pamjati i skorbi) on 22 June, introduced in 1996 14 and commemorating the attack of Nazi Germany on the Soviet Union in 1941, i. e., the beginning of what in official Russian terminology is called “the Great Patriotic War of 1941–1945” 15; furthermore the Day of the Birth of Russian Statehood in 862 (Den’ zaroždenija

11 Den’ Rossii [Day of Russia] (URL: https://ru.wikipedia.org/wiki/%D0%94%D0%B5%D0%BD% D1%8C_%D0%A0%D0%BE%D1%81%D1%81%D0%B8%D0%B8, accessed: 05-10-2016). 12 Den’ Konstitucii Rossijskoj Federacii [Day of the Constitution of the Russian Federation] (URL: https://ru.wikipedia.org/wiki/%D0%94%D0%B5%D0%BD%D1%8C_%D0%9A%D0%BE%D0% BD%D1%81%D1%82%D0%B8%D1%82%D1%83%D1%86%D0%B8%D0%B8_ %D0%A0% D0%BE%D1%81%D1%81%D0%B8%D0%B9%D1%81%D0%BA%D0%BE%D0%B9_%D0% A4%D0%B5%D0%B4%D0%B5%D1%80%D0%B0%D1%86%D0%B8%D0%B8, accessed: 05-10-2016). 13 Den’ Gosudarstvennogo flaga Rossijskoj Federacii [Day of the National Flag of the Russian Federation] (URL: https://ru.wikipedia.org/wiki/%D0%94%D0%B5%D0%BD%D1%8C_%D0%93% D0%BE%D1%81%D1%83%D0%B4%D0%B0%D1%80%D1%81%D1%82%D0%B2%D0%B5% D0%BD%D0%BD%D0%BE%D0%B3%D0%BE_%D1%84%D0%BB%D0%B0%D0%B3%D0% B0_%D0%A0%D0%BE%D1%81%D1%81%D0%B8%D0%B9%D1%81%D0%BA%D0%BE% D0%B9_%D0%A4%D0%B5%D0%B4%D0%B5%D1%80%D0%B0%D1%86%D0%B8%D0% B8, accessed: 05-10-2016). 14 Den’ pamjati i skorbi [Day of Remembrance and Grief] (URL: https://ru.wikipedia.org/wiki/%D0% 94%D0%B5%D0%BD%D1%8C_%D0%BF%D0%B0%D0%BC%D1%8F%D1%82%D0%B8_% D0%B8_%D1%81%D0%BA%D0%BE%D1%80%D0%B1%D0%B8, accessed: 05-10-2016). 15 The term “Great Patriotic War” (Velikaja Oteˇcestvennaja vojna) was coined by Stalin’s chief ideologist Yemelyan M. Yaroslavskii on 23 June 1941. It alludes to the denomination of the Tsarist campaign against Napoleon of 1812/13 which is “Patriotic War” (Oteˇcestvennaja vojna). See Troebst, Stefan: Vom “Vaterländischen Krieg 1812” zum “Großen Vaterländischen Krieg 1941–1945”. Siegesmythen als Fundament staatlicher Geschichtspolitik im zarischen Russland, in der Sowjetunion, der Russländischen Föderation, der Ukraine und Belarus’. In: Das Jahr 1813, Ostmitteleuropa und

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rossijskoj gosudarstvennosti [862 god]) on 21 September; and the Day of the Defender of the Fatherland (Den’ zašˇcitnika Oteˇcestva) on 23 February which in Soviet times and up to 1993 was called the Day of the Soviet Army and Navy (Den’ Sovetskoj Armii i Voenno-Morskogo flota) and which colloquially figures as Men’s Day (Den’ Mužˇcin). 16

(3) Patriotism first! The Putin Era since 2000 The patriotic dimension as well as the religious one introduced by Yeltsin into the RF’s system of public holidays were considerably enforced by his successor Vladimir V. Putin. The most significant change in quantitive terms was the prolongation of the New Year’s holiday period of 1 and 2 January up to Orthodox Christmas on 7 January and even including 8 January during the years 2005 to 2012. Since 2013, what is called New Year’s Holidays (Novogodnye kanikuly) lasts from 1 to 8 January. 17 Including labour-free Saturdays and Sundays it extended to an eleven days period in 2013. In compensation, in 2005 the up to now labour-free Day of the Constitution of the Russian Federation on 12 December was turned into a working holiday, and in 2006, 2 May and 7 November, the Day of Harmony and Reconciliation introduced by Yeltsin instead of the Soviet anniversary of the Bolshevik putsch of 1917, suffered the same fate. On the other hand, already in 2002 the Day of the Defender of the Fatherland on 23 February was turned into a labour-free holiday. The most recent new development is the proclamation in 2015 of 27 February as Day of the Forces of Special Assignments (Den’ Sil special’nogo naznaˇcenija). It commemorates the day when in 2014 Russian Spetsnaz troops without badges of rank occupied the Ukrainian peninsula of Crimea. 18 Probably the most significant change introduced by Putin was the elevation of Victory Day on 9 May to the most visible and thus most important holiday and its establishment, though unhistorically, as the founding myth of the RF: Not formally, but morally, thus the message, the RF was founded in Berlin-Karlshorst during the night from 8 to 9 May 1945. At the same time, Putin systematically instrumentalized 9 May for creating his personal image as warrior and hero-leader. 19

16

17 18 19

Leipzig. Die Völkerschlacht als (trans)nationaler Erinnerungsort. Ed. by Marina Dmitrieva and Lars Karl. Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2016, 41–46 [and in this volume]. Den’ zašˇcitnika Oteˇcestva [Day of the Defender of the Fatherland] (URL: https://ru.wikipedia.org/ wiki/%D0%94%D0%B5%D0%BD%D1%8C_%D0%B7%D0%B0%D1%89%D0%B8%D1%82% D0%BD%D0%B8%D0%BA%D0%B0_%D0%9E%D1%82%D0%B5%D1%87%D0%B5%D1% 81%D1%82%D0%B2%D0%B0, accessed: 05-10-2016). Novyj god [New Year] (URL: https://ru.wikipedia.org/wiki/%D0%9D%D0%BE%D0%B2%D1% 8B%D0%B9_%D0%B3%D0%BE%D0%B4, accessed: 05-10-2016). Makarkin: Protivoreˇcivye prazdniki. Wood, Elizabeth A.: Performing Memory: Vladimir Putin and the Celebration of WWII in Russia. In: The Soviet and Post-Soviet Review 38 (2011), no. 2, 172–200.

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While in both regards, Putin was quite successful 20, he is also responsible for what is probably the most prominent flop in creating a new patriotic public holiday: the Day of National Unity (Den’ narodnogo edinstva) on 4 November, introduced in 2006 in order to devaluate 7 November and its Soviet-nostalgic character. 21

(4) Non-Starter: the Day of National Unit Referring to the year of 1612 in proclaiming 4 November the Day of National Unity was historically understandable as it was historically imprecise: Yes, in November 1612 Polish-Lithuanian occupations forces withdrew from Moscow, and yes, a levy (opolˇcenie) led by the butcher Kuzma Minin and the nobleman Dmitrii Pozharskii, both of Nizhnii Novgorod, had a considerable impact in this event, but no, this did most probably not happen on 4 November, a date which definitely was not a turning point in what is know as the decade-long Times of Troubles (smuta) in the history of the Muscovite State. 22 In addition, while a majority of citizens of the RF had heard of the French occupation of Moscow in 1812 and the advance of the Wehrmacht up to the city in 1941, the fact that also Poles and Lithuanians once had occupied the capital was not only new to them, but came as somewhat of a bad surprise. Also, the closeness of 4 November to 7 November raised widespread suspicion that the new holiday was the product of political technology à la Kremlin. When asked in 2013 what associations the Russians connect to the Day of National Unity, the head of the Levada-Center, Lev Gudkov, answered: “Nothing special. They consider it as an initiative of the government to extinguish the memory of 7 November.” 23 Gudkov also pointed to another effect of the new holiday not intended by 20 For recent analyses of Russian politics of history under Putin see Schmid, Ulrich: Technologien der Seele. Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur. Berlin: Suhrkamp, 2016; and Wehner, Markus: Putins Kalter Krieg. Wie Russland den Westen vor sich her treibt. München: Knaur, 2016. 21 Den’ narodnogo edinstva [Day of National Unity] (URL: https://ru.wikipedia.org/wiki/%D0%94% D0%B5%D0%BD%D1%8C_%D0%BD%D0%B0%D1%80%D0%BE%D0%B4%D0%BD%D0% BE%D0%B3%D0%BE_%D0%B5%D0%B4%D0%B8%D0%BD%D1%81%D1%82%D0%B2% D0%B0, accessed: 05-10-2016). 22 Smirnov, Il’ja: Politika vs nauka. Vyšla biografija Dnja narodnogo edinstva [Politics vs. scholarship. A biography of the Day of National Unity has been published]. In: Radio Svoboda, 28 November 2008 (URL: http://www.svoboda.org/content/article/474938.html, accessed: 05-10-2016). This text is a review of the collected volume Den’ narodnogo edinstva. Biografija prazdnika [The Day of National Unity. Biography of a Holiday]. Ed. by Vjaˇceslav N. Kozljakov, P. Michajlov and Juˇ budut prazdnovat’ v Rossii ˙ rij M. Eskin. Moskva: Drofa, 2009. See also Nazarov, Vladislav: Cto 4 nojabr’ja 2005 goda? [What Will Be Celebrated in Russia on 4 November 2005?]. In: Oteˇcestvennye zapiski 2004, no. 5 (URL: http://www.strana-oz.ru/2004/5/chto-budut-prazdnovat-v-rossii-4 – noyabrya-2005 – goda, accessed: 05-10-2016). 23 Direktor “Levada-centra”: “Russkij marš” vytesnil Den’ narodnogo edinstva [The Director of the Levada Center: The “Russian March” eclipses the Day of National Unity]. In: Russian program of Deutsche Welle, 3 November 2013 (URL: http://www.levada.ru/old/03 – 11–2013/direktor-levadatsentra-russkii-marsh-vytesnil-den-narodnogo-edinstva, accessed: 05-10-2016).

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the government: On its very first celebration in 2005, right-wing Russian nationalists staged demonstrations against immigrants from Central Asia and the Caucasus which the security forces had problems to control. In Gudkov’s view, these “Russian marches” were to continue – albeit Russian nationalists till then had no charismatic leader. 24 While in 2013, 49 percent of Russians at least knew that 4 November was the Day of National Unity (in contrast to 2005 when only eight percent correctly answered the question “Do you know which holiday will be commemorated on 4 November?”), yet only 16 percent indicated in 2013 that they will celebrate on 4 November – in contrast to 18 percent who planned to celebrate 7 November. 25 In her thorough analysis of the Day of National Unity as “decreed farewell to the revolutionary tradition”, historian Isabelle de Keghel points to the fact, that 4 November in the Russian-Orthodox calendar is the Day of the Kazan’ Icon of the Mother of God, celebrated in Russia since 1648. Despite the fact that many citizens of the RF are not Christians, but Muslims, Jews, Buddhists and non-believers, the religious dimension of the new holiday was deliberately incorporated. 26

(5) Résumé The system of public holidays of the RF reflects the undecidedness of its political leadership concerning the alternatives of empire and nation-state. 27 Obviously, Putin is of the opinion that he can have the cake and eat it – in domestic politics an ethnically homogeneous state of the Russian nation and towards the outside world a post-Soviet empire of what in the constitution of 1993 is called the “multinational

24 Ibid. 25 Levada-Centr: Nojabr’skie prazdniki: znanie i gotovnost’ otmecat’ [Levada Center: November Holidays: Knowledge on and Preparedness to Celebrate]. Entry on the Website of the Levada Center, 31 October 2014 (URL: http://www.levada.ru/2014/10/31/noyabrskie-prazdniki-znanie-i-gotovnostotmechat/#sthash.8o0CuYy8.dpuf, accessed: 05-10-2016). See also Laševskaja, Anželika D.: Analiz obraza prazdnikov Den’ narodnogo edinstva i Den’ oktjabr’skoj revoljucii, konstruiruemogo SMI [Analysis of the image of the public holidays Day of National Unity and Day of the October Revolution, constructed by mass media]. In: Izvestija Ural’skogo Federaln’nogo Universiteta. Serijal. Problemy obrazovanii, nauki i kul’tury 138 (2015), no. 2, 51–60 (URL: http://elar.urfu.ru/bitstream/ 10995/31618/1/iurp-2015 – 138-09.pdf, accessed: 05-10-2016). 26 Keghel, Isabelle de: Verordneter Abschied von der revolutionären Tradition: Der „Tag der nationalen Einheit“ in der Russländischen Föderation. In: Geschichtspolitik und Erinnerungskultur im neuen Russland. Ed. by Lars Karl and Igor J. Polianski. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009, 119– 140.See also eadem: Abschied vom sowjetischen Gründungsmythos – die Oktoberrevolution im Vergangenheitsdiskurs des spät- und postsowjetischen Russland. In: „Transformationen“ der Erinnerungskulturen in Europa nach 1989. Ed. by Bernd Faulenbach and Franz-Josef Jelich. Essen: Klartext, 2006, 227–252. 27 For a critical evaluation of the two options see Nikonov, Vjaˇceslav: Ideja našej nacii [The Idea of Our Nation]. In: Izvestija, no. 246/247 (28261), 30 December 2010 to 10 Januay 2011, 7 (special issue for the New Year’s Holiday period).

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people of the Russian Federation”. In politics of history this leads to a hybridization of Soviet and pre-Soviet, Russian national and decidedly international, religious and secular elements. And with regard to the top red-letter day 9 May there is always an elefant in the room: Stalin. Whereas the prestigious Russian NGO Memorial against massive protest by Stalin nostalgics, post-communists and right-wing nationalists proposed to celebrate “victory without Stalin” (pobeda bez Stalina) 28, since the annexation of Crimea the latest Putin opted for the version of “victory with considerable impact by Stalin”. The military parade on “Victory Day” 2015 for the first time since the mid-1950s carried portraits of the dictator. 29

28 See, e. g., a recent interview with Arsenij Roginskij, chairman of Memorial: Roginskij: Rossija dolžna priznat’ svoi prestuplenija. Intervju Taavi Minnik [Roginskij: Russia has to confess its crimes. Interview with Taavi Minnik]. In: Postimees na russkom jazyke [Tallinn], no. 72(2375), 16 June 2016, 10. For a particularly rabid slander of Memorial see Prochanov, Aleksandr: Pobeda bez Stalina, pravoslavie bez Christa? [Victory without Stalin, Orthodoxy without Christ?] In: e-news, no date (URL: http://www.e-news.su/mnenie-i-analitika/63774 – pobeda-bez-stalina-pravoslaviebez-hrista.html, accessed: 02-07-2010). 29 Williams, Carol J.: Putin, once critical of Stalin, now embraces Soviet dictator’s tactics. In: Los Angeles Times, 11 June 2015 (URL: http://www.latimes.com/world/europe/la-fg-russia-stalin-model20150611-story.html, accessed: 09-10-2016).

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Die „Griechenlandkinder-Aktion“ 1949/1950 Die SED und die Aufnahme minderjähriger Bürgerkriegsflüchtlinge aus Griechenland in der SBZ/DDR

[2004]

Wir griechischen politischen Emigranten begehen das 30jährige historische Jubiläum der DDR als unseren eigenen Feiertag, weil wir mit diesem Staat seit seinen ersten Schritten unmittelbar verbunden sind. Wir empfinden besser als jeder andere Ausländer die große Freude und den Stolz des Volkes der DDR, weil wir seit der Gründung seines sozialistischen Staates an seiner Seite schreiten und weil wir, durch unseren kleinen Beitrag, uns als Miterbauer dieses großartigen Werkes fühlen. Der 30. Jahrestag der DDR fällt mit dem 30. Jahrestag unserer politischen Emigration in diesem gastfreundlichen Land zusammen. Heute erinnern wir uns alle an die ersten Jahre unserer Ankunft und unserer fürsorglichen Aufnahme in der DDR. Festrede auf der zentralen Feier der griechischen politischen Emigranten in der DDR, die dem 30. Jahrestag der DDR und der 30-jährigen politischen Emigration gewidmet ist. Dresden, d. 29. 9. 1979 (Wesentliche Auszüge). In: Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, SED-Bezirksleitung Dresden, Bezirksparteiarchiv, IV D-2/18/791.

Der Bürgerkrieg zwischen Royalisten und Republikanern im Griechenland der Jahre 1946 bis 1949 – die einen unterstützt zunächst von Großbritannien, dann von den USA, die anderen von Jugoslawien, aber auch von Albanien und Bulgarien – markiert zugleich das Ende der Orientalischen Frage wie den „heißen“ Beginn des Kalten Krieges. Überdies hatte dieser hoch ideologisierte Regionalkonflikt gravierende Auswirkungen auf die Binnenstruktur der von Andrej A. Ždanov 1947 proklamierten „zwei Lager“ der Weltpolitik: Im Osten Europas gaben die bezüglich Griechenlands und des übrigen Balkans vorherrschenden Interessengegensätze zwischen Moskau und Belgrad den Ausschlag für den Tito-Stalin-Bruch und im Westen hatte die Überdehnung des britischen Empire durch den Griechenlandeinsatz im Frühjahr 1947 weltpolitische Konsequenzen: Mit der Truman-Doktrin wurde der „imperiale Staffelstab“, so Dan Diner, durch die USA übernommen, „eine translatio imperii der neuesten Zeit.“ 1 Dem modernen, von low intensity warfare gekennzeichneten langgezogenen Partisanenkrieg, der primär im Nordwesten Griechenlands stattfand, fielen ca. 100.000 Menschen zum Opfer, und fast eine Million musste mehrheitlich für

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Diner, Dan: Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung. München 1999, S. 251. Siehe auch Jones, Howard: „A New Kind of War“: America’s Global Strategy and the Truman Doctrine in Greece. New York, NY, Oxford 1989.

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immer ihre Wohnsitze verlassen. 2 Der Krieg endete durch einen Impuls von außen: Das seit dem Konflikt mit der Sowjetunion 1948 international isolierte Jugoslawien stellte die aktive Unterstützung für die republikanische Bürgerkriegspartei ein und schloss im Juli 1949 die Grenze zu Griechenland 3 – die „Demokratische Armee Griechenlands“ (Demokratikos Stratos Elladas – DSE) der Partisanen geriet dadurch militärisch ins Hintertreffen und musste sich im August 1949 durch Flucht nach Albanien, Jugoslawien und Bulgarien retten. Dieser Fluchtbewegung schlossen sich mehrere zehntausend Zivilisten an, die in den Nachbarländern Griechenlands auf Gruppen solcher Flüchtlinge und Vertriebenen stießen, welche bereits von 1946 an Griechenland hatten verlassen müssen. 4

1. Bürgerkrieg und Flüchtlinge in der Politik der SED Die Sowjetische Besatzungszone Deutschlands bzw. die Deutsche Demokratische Republik war innerhalb der sowjetischen Hegemonialsphäre aufgrund der Elemente direkter Moskauer Herrschaft wegen bis zu ihrer nominellen Souveränität 1955 ein Sonderfall, der hierarchisch deutlich unterhalb der Ebene der Volksdemokratien Polen, Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Albanien rangierte. Ein Indikator für diesen minderen Status innerhalb des Sowjetblocks ist die relativ geringe Zahl von Flüchtlingen aus den Bürgerkriegsgebieten im Norden Griechenlands, die 1949 und 1950 der SBZ bzw. der DDR zugeteilt wurden. Von insgesamt 70.000–

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O’Ballance, Edgar: The Greek Civil War 1944–1949. London 1966; Iatrides, John O.: Civil War, 1945–1949. National and International Aspects. In: Ders. (Hrsg.): Greece in the 1940s: A Nation in Crisis. Hanover, NH, London 1981, S. 195–219 + 385–392; Close, David H. (Hrsg.): The Greek Civil War, 1943–1950. Studies of Polarization. London, New York, NY, 1993. Barker, Elisabeth: (I) Yugoslav Policy towards Greece 1947–1949. (II) The Yugoslavs and the Greek Civil War of 1946–1949. In: Bærentzen, Lars, John O. Iatrides, Ole L. Smith (Hrsg.): Studies in the History of the Greek Civil War 1945–1949. Copenhagen 1987, S. 263–308; Pirjevec, Jože: The Tito-Stalin Split and the End of the Civil War in Greece. Ebd., S. 309–316; Ristovi´c, Milan: Jugoslawien und der Bürgerkrieg in Griechenland 1945–1950. In: Thetis 4 (1998), S. 283–291; ders.: „Mali rat“ na jugoslovensko-grˇckoj granici (1945–1950). In: Vojnoistorijski glasnik 1999, H. 1–3, S. 89– 109. Zur ambivalenten Haltung Stalins siehe Stavrakis, Peter J.: Moscow and Greek Communism, 1944–1949. Ithaca, NY, London 1998; Ulunian, Artiom A.: The Soviet Union and „the Greek Question“, 1946–53. Problems and Appraisals. In: Gori, Francesca, Silvio Pons (Hrsg.): The Soviet Union and Europe in the Cold War, 1943–53. London 1996, S. 144–160; ders.: Kommunistiˇceskaja partija Grecii. Aktual’nye voprosy ideologii, politiki i vnutrennej istorii. (KPG v Nacional’nom Soprotivlenii, Graždanskoj i „Cholodnoj“ vojnach). 1941–1956 gg. Moskva 1994; und Esche, Matthias: Die Kommunistische Partei Griechenlands 1941–1949. Ein Beitrag zur Politik der KKE vom Beginn der Résistance bis zum Ende des Bürgerkriegs. München, Wien 1982. Zu den verschiedenen Flucht- und Vertreibungswellen siehe summarisch Troebst, Stefan: Vom Grammos-Gebirge nach Niederschlesien: Bürgerkriegsflüchtlinge aus Griechenland in Osteuropa und Zentralasien (1946–2002). In: Bingen, Dieter, Włodzimierz Borodziej, Stefan Troebst (Hrsg.): Vertreibungen europäisch erinnern? Historische Erfahrungen – Vergangenheitspolitik – Zukunftskonzeptionen. Wiesbaden 2003, S. 158–166.

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100.000 Flüchtlingen, darunter etwa 28.000 unbegleitete Kinder und Jugendliche 5, die nach dem Ende des Bürgerkriegs im sowjetischen Machtbereich sowie in Jugoslawien lebten, wurden nur etwas mehr als eintausend in die SBZ/DDR, hier vor allem in das Land Sachsen, geschickt, fast alle von ihnen im Alter von acht bis 17 Jahren. 6 Die große Mehrheit hingegen, darunter sämtliche Kombattanten und übrigen Erwachsenen, wurde auf die UdSSR, hier vor allem auf die Usbekische SSR 7, auf Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn und Rumänien aufgeteilt. Ein Teil blieb überdies in Griechenlands benachbarten Fluchtländern, also in Albanien und Bulgarien sowie

5

6

7

Zu den wichtigsten Ergebnissen der zersplitterten und vielsprachigen Forschung über Flüchtlingskinder aus dem Griechischen Bürgerkrieg siehe vor allem Bærentzen, Lars: The „Paidomazoma“ and the Queen’s Camps. In: Bærentzen, Iatrides, Smith (Hrsg.): Studies in the History of the Greek Civil War, S. 127–157; Nakovski, Petre: Makedonski deca vo Polska (1948–1968) (Politološka studija). Skopje 1987; Robovski, Nikifor: Makedoncite od Egejskiot del na Makedonija vo ˇ Cehoslovakija. Skopje 1988; Wojecki, Mieczysław: Uchod´zcy polityczni z Grecji w Polsce 1948– 1975. Jelenia Góra 1989; Kirjazovski, Risto: Makedonskata politiˇcka emigracija od Egejskiot del na Makedonija vo Istoˇcnoevropskite zemji po Vtorata svetska vojna. Skopje 1989; Dalianis-Karambatzakis, A. Mando: Children in Turmoil during the Greek Civil War 1946–49: Today’s Adults. A Longitudinal Study on Children Confined with their Mothers in Prison. Stockholm 1994; Lagani, Eirini: To „paidomazoma“ kai oi ellinogioukoslavikes scheseis 1949–1953. Athens 1996; Voutira, Eftihia, Aigli Brouskou: „Borrowed Children“ in the Greek Civil War. In: Panter-Brick, Catharine, Malcolm T. Smith (Hrsg.): Abandoned Children. Cambridge 1998, S. 92–110; Ristovi´c, Milan: Dugi povratak ku´ci. Deca izbeglice iz Grˇcke u Jugoslaviji 1948–1960. Beograd 1998; Boeschoten, Riki van: The Impossible Return: Coping with Separation and the Reconstruction of Memory in the Wake of the Civil War. In: Mazower, Mark (Hrsg.): After the War Was Over: Reconstruction the Family, Nation, and State in Greece, 1943–1960. Princeton, NJ, 2000, S. 122– ˇ ˇ 144; Hradeˇcný, Pavel: Recká komunita v Ceskoslovensku. Její vznik a poˇcáteˇcní vývoj (1948– 1954). Praha 2000; ders.: Die griechische Diaspora in der Tschechischen Republik: Die Entstehung und Anfangsentwicklung 1948–1956. In: Konstantinou, Evangelos (Hrsg.): Griechische Migration in Europa. Geschichte und Gegenwart. Frankfurt /M. etc. 2000, S. 95–117; Minkov, Lazar: Makedonskata emigracija od Egejskiot del na Makedonija vo Ungarija. Skopje 2000; Monova, Miladina: De l’historicité à l’ethnicité: Les Egéens ou ces autres Macédoniens. In: Balkanologie 5 (2001), S. 179–197; dies.: Parcours d’exil, récits de non-retour. Les Egéens en République de Macédoine. Ph. D. Thesis, EHESS, Paris, 2002; Aˇckoska, Violeta: Nekoi aspekti na prašanjeto na begalcite od Egejska Makedonija vo NRM (1944–1955 godina). In: Glasnik na Institutot za nacionalna istorija 46 (2002), H. 2, S. 57–71; Michalidis, Jakovos D.: Slavjanomakedonski politemigranti v Narodna Republika Makedonija (1949–1954). In: Makedonski pregled 26 (2003), H. 1, S. 29–50; Brown, Keith S.: Macedonia’s Child-Grandfathers: The Transnational Politics of Memory, Exile and Return 1948–1998. Washington 2003 (= Donald W. Treadgold Papers series, 37); und Troebst, Stefan: Evacuation to a Cold Country: Child Refugees from the Greek Civil War in the German Democratic Republic, 1949–1989. In: Nationalities Papers 32 (2004), H. 3, S. 675– 691. Zu autobiographischen Veröffentlichungen aus dieser Gruppe siehe Kipouros, Dimitris: Mia zontani martyria. Oi Ellines politikoi prosfiges sti Germaniki Laokratiki Dimokratia. Athen 1997, und Tsimoudis, Konstantinos: Eine neugriechische Odyssee. Autobiographie. Alexandroupolis 1998. Siehe Fig. 5: Die ermittelten Ansiedlungsorte der griechischen Bürgerkriegsflüchtlinge in der Sowjetunion. In: Ruwe, Gerrit: Griechische Bürgerkriegsflüchtlinge. Vertreibung und Rückkehr. Münster 1990, S. 25 (= Berichte aus dem Arbeitsgebiet Entwicklungsforschung am Institut für Geographie Münster, 16).

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vor allem in Jugoslawien 8, und ein weiterer erhielt die Möglichkeit, aus Jugoslawien nach Nordamerika und Australien auszuwandern. Nur ein Bruchteil konnte bis Oktober 1952 nach Griechenland zurückkehren, darunter 538 Flüchtlingskinder, die in Jugoslawien Aufnahme gefunden hatten, nicht hingegen solche, die nach Sachsen geˇ langt waren. 9 Gleichfalls eine Ausnahme blieb die Erlaubnis der Regierung der CSSR vom Dezember 1954 an 737 Griechen zur Rückkehr nach Griechenland – darunter 20 Kinder. 10 1128 Personen, d. h. 2 Prozent aller statistisch erfassten Bürgerkriegsflüchtlinge, wurden in den Jahren 1949 und 1950 in der SBZ/DDR untergebracht. Da es sich bei ihnen nahezu ausschließlich um Kinder und Jugendliche handelte, machten diese 6,3 Prozent der registrierten Flüchtlinge dieser Altersgruppe aus (Tabelle „Bürgerkriegsflüchtlinge aus Griechenland in Ostmitteleuropa, der Sowjetunion und der SBZ/DDR 1949/1950“). Tabelle: „Bürgerkriegsflüchtlinge aus Griechenland in Ostmitteleuropa, der Sowjetunion und der SBZ/DDR 1949/1950“ Aufnahmeland

Flüchtlinge insgesamt

Kinder und Jugendliche

Sowjetunion

11.980

Keine Angabe

Tschechoslowakei

11.941

3500

Polen

11.458

3500

Rumänien

9100

4256

Ungarn

7253

3000

Bulgarien

3071

672

SBZ/DDR

1128

1128

Jugoslawien

Keine Angabe

1857

Albanien

Keine Angabe

Keine Angabe

Insgesamt

55.881

17.913

Quelle: Table 1: Total number of refugees according to ethnic origin and country of residence (1950) und Table 2: Child refugees according to ethnic origin and country of residence (1949–1950). In: Boeschoten, Riki van: „Unity and Brotherhood“? Macedonian Political Refugees in Eastern Europe. In: Jahrbücher für Geschichte und Kultur Südosteuropas 5 (2003), S. 189–202, hier S. 192.

8

Siehe Fig. 6: Die ermittelten Ansiedlungsorte der griechischen Bürgerkriegsflüchtlinge in den Staaten Mittel- und Osteuropas. In: Ruwe: Griechische Bürgerkriegsflüchtlinge, S. 27, sowie Mitsopoulos, Thanasis: Miname Ellines. Ta scholia ton ellinon politikon prosfygon stis sosialistikes chores. Athen 1979. 9 Lagani: To „paidomazoma“, S. 94–95. Vgl. auch Jones, Howard: The Diplomacy of Restraint: The United States’ Efforts to Repatriate Greek Children Evacuated During the Civil War of 1946–49. In: Journal of Modern Greek Studies 3 (1985), S. 65–85, hier S. 82; und ders.: „A New Kind of War“, S. 140–151 + 285–288. 10 Hradeˇcný: Die griechische Diaspora in der Tschechischen Republik, S. 106 und 114.

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In deutlichem Kontrast zu den großen Anstrengungen, die zentrale und regionale Behörden in der SBZ/DDR zur Unterbringung und Ausbildung dieser Kinder und Jugendlichen unternahmen, stand die außerordentliche Zurückhaltung bei der Verwertung samt medialer Umsetzung durch die Partei. Die SED-Propaganda schlachtete diesen nachgerade klassischen Fall von „Internationalismus in Aktion“ und Beleg für die „humanistische Mission“ des „besseren“ Deutschland so gut wie gar nicht aus. Die Gründe für diesen in den Kontext des Beginns des Kalten Krieges und der DDR-Gründung nicht recht passenden Sachverhalt liegen im Dunkeln. Immerhin können zwei auf den ersten Blick naheliegende Vermutungen ausgeschlossen werden: (1) Die vor dem Hintergrund der gesamten Flüchtlings- und Vertriebenenproblematik Sachsens plausible Annahme, dass die Entscheidung zur Aufnahme der griechischen Bürgerkriegsflüchtlinge von der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (Sovetskaja Voennaja Administracija v Germanii, SVAG bzw. SMAD) in Berlin und ihrer sächsischen Filiale in Dresden, der Sowjetischen Militäradministration im Land Sachsen (Sovetskaja Voennaja Administracija v zemle Saksonija, SVAS bzw. SMAS 11), über den Kopf deutscher Stellen hinweg dekretiert worden war – wie etwa beim Umgang mit den deutschen Vertriebenen, die nach Sachsen gelangten, der Fall 12 – und seitens SED und regionalen Behörden entsprechend zurückhaltend aufgenommen wurde, ist mit einem Quellenveto belegt: Dokumente des DDR-Ministeriums für Volksbildung aus dem Mai 1950 machen deutlich, dass der Kenntnisstand der sowjetischen Besatzungsmacht zu der gesamten, hier als „Griechenlandkinder-Aktion“ bezeichneten Angelegenheit außerordentlich niedrig war. 13 (2) Ebenfalls keinen Ausschlag können prinzipielle Überlegungen der SED der Art gegeben haben, dass das deutsch-griechische Verhältnis als durch den Weltkrieg 11 Raschka, Johannes: Sowjetisierung in der Region. Die Sowjetische Militäradministration in Sachsen 1945–1949. In: Osteuropa 51 (2001), S. 1453–1469. 12 Donth, Stefan: Vertriebene und Flüchtlinge in Sachsen 1945–1952. Die Politik der Sowjetischen Militäradministration und der SED. Köln, Weimar, Wien 2000. 13 Anfang Mai 1950 besuchte Konstantin D. Mitropolskij von der für Schulwesen zuständigen Untergliederung der Sowjetischen Kontrollkommission (Sovetskaja Kontrol’naja Kommissija v Germanii – SKK) die Abteilung Jugendhilfe und Heimerziehung des DDR-Ministeriums für Volksbildung und erkundigte sich eingehend nach Zahl, Zusammensetzung, schulischer Betreuung, Ausbildung usw. der in der DDR befindlichen Flüchtlingskinder aus Griechenland sowie nach dem Hilfskomitee für das demokratische Griechenland (dazu unten). Am 31. Mai forderte er von derselben Stelle sowie von der Abteilung Bevölkerungsfragen in der Hauptabteilung Staatliche Verwaltung des DDR-Ministeriums des Innern „sofortige Angaben, 1. Wer die Griechenkinder nach der DDR eingeladen hat; 2. welche Stelle die Genehmigung erteilt hat.“ Vgl. Krantzik, Abt. Jugendhilfe und Heimerziehung: Griechenlandkinder-Aktion. Berlin, 6. Mai 1950. In: Bundesarchiv Berlin, DR 2 (Ministerium für Volksbildung), 6096; Burkhardt, Abt. Jugendhilfe und Heimerziehung: Griechlandkinder-Aktion. Berlin, 31. Mai 1950. Ebd. Im Falle einer sowjetischen Federführung wäre eine solche Anfrage wohl kaum erfolgt, zumal Mitropolskij zuvor den Schulsektor in der Abteilung Volksbildung der SMAD geleitet hatte. Auch liegen keine Hinweise darauf vor, dass die SBZ-Behörden bei der SMAD die Erteilung der erforderlichen Einreisevisa für die Bürgerkriegsflüchtlinge beantragt haben.

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noch zu belastet sei, um bereits fünf Jahre nach dem Rückzug der Wehrmacht aus Griechenland deutscherseits „proletarisch-internationalistische“ Breitseiten gegen den „griechischen Monarchofaschismus“ abzufeuern. Skrupel dieser Art bestanden nicht, wie etwa eine Protestresolution der Delegierten des Dritten FDGB-Kongresses vom Folgejahr an die Regierung in Athen belegte, war doch hier die Rede von einem „nach Himmler’sche[m] Muster aufgebaute[m] faschistische[n] Terrorregime“ einschließlich „Konzentrations- und Vernichtungslager“ im „faschistischen Griechenland, in dem ein erneutes Massenmorden, eine systematische Vernichtung von fortschrittlichen Menschen zum alltäglichen Geschehen gehört“. 14 An wahrscheinlicheren, aber quellenmäßig nicht belegbaren Motiven für die auffällige Propagandaabstinenz der SED in Sachen „Republik der 1000 griechischen Kinder“ – so der damalige FDJ-Sprachgebrauch 15 –, sind zwei ganz unterschiedliche zu nennen: (1) Möglicherweise spielt hier die 1949 erfolgte fluchtartige Übersiedlung fast aller in Sachsen lebender Geschäftsleute griechischer Herkunft in die Westzonen, vor allem nach Frankfurt /M., Bad Nauheim und Wiesbaden, eine Rolle. 16 Dabei handelte es sich in erster Linie um Familien und Firmen griechischsprachiger Leipziger Pelzhändler und Kürschner, die seit dem 18. Jahrhundert in der Messestadt ansässig waren und die einer bitteren Ironie der Geschichte zufolge ganz überwiegend aus dem nordgriechischen Rauchwarenzentrum Kastoria stammten – also aus dem Landesteil, aus dem auch die Mehrzahl der minderjährigen Bürgerkriegsflüchtlinge 1949/1950 kam. Die Kombination von „Griechen“ und „Sachsen“ war damals offensichtlich in SED-Sicht nicht allzu populär. (2) Auch die bereits genannte Makroebene, also die sowjetische Deutschland- und Europapolitik ist zu berücksichtigen: Aus zeitgenössischer Moskauer Sicht war die SBZ eindeutig kein Bestandteil des von Ždanov 1947 identifizierten „antiimperialistischen und demokratischen Lagers“, wie auch die DDR nach ihrer Gründung 1949 zumindest anfänglich im Kalkül Stalins ein Provisorium blieb. Was für die Volksdemokratien galt, galt daher nicht im selben Maße für SBZ/DDR. 17

14 Telegramm der Abt. Internationale Verbindungen des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes an die Regierung Griechenlands mit der Protestresolution vom 1. September 1950, Berlin, 5. September 1950. In: Bundesarchiv Berlin, DY 34 (Präsidiums- und Sekretariatsbeschlüsse des FDGBBundesvorstandes), 20177. 15 Protokoll Nr. 92 der Sitzung des Sekretariates des Zentralrates der FDJ vom 25. August 1950, Protokollpunkt 31, S. 8. In: Bundesarchiv Berlin, DY 24 (Zentralarchiv der FDJ), 2423 (AugustSeptember 1950). Zuständig seitens des Zentralrates waren Margot Feist und Rudi Wagner. 16 Suppé, Frank-Thomas: Hellas Lipsiensis – Griechen in Leipzig. In: Europa-Haus Leipzig (Hrsg.): Griechen in Leipzig – damals und heute. Leipzig 2001, S. 17–23, hier S. 23. 17 Zum Forschungsstand vgl. Naimark, Norman M., Leonid Gibianskii (Hrsg.): The Establishment of Communist Regimes in Eastern Europe, 1944–1949. Boulder, CO, 1997, und Creuzberger, Stefan, Manfred Görtemaker (Hrsg.): Gleichschaltung unter Stalin? Die Entwicklung der Parteien im östlichen Europa 1944–1949. Paderborn 2002.

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Dies könnte ein Grund dafür gewesen sein, dass im konkreten Fall zum einen ausschließlich Kinder und Jugendliche „zugeteilt“ wurden, deren Aufenthaltsdauer auf die Zeit Ihrer Schul- und Berufsausbildung begrenzt war, und zum anderen die propagandistische Verwertung in engem Rahmen zu halten war. In diesem Zusammenhang aufschlussreich ist der Umstand, dass auch Gruppen von Flüchtlingskindern und -jugendlichen aus anderen Kriegesgebieten der Welt, so etwa aus Vietnam und Korea, die in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre gleichfalls in Sachsen, sogar an den selben Orten wie die Griechen, nämlich in Dresden und Radebeul, untergebracht waren, nicht in der Parteipropaganda figurierten 18, und dasselbe noch in den achtziger Jahren für Flüchtlingskinder aus Namibia zutraf. 19 Hier scheint ein DDR-typisches Politikmuster erkennbar zu sein: kleine Gruppen unbegleiteter Kinder und Jugendlicher aufnehmen, zügig ausbilden und umgehend zurückschicken – und das alles möglichst ohne Aufsehen. Die nicht erfolgte propagandistische Instrumentalisierung bedingte, dass die Gruppe griechischer Bürgerkriegsflüchtlinge in der DDR-Öffentlichkeit kaum präsent war – in auffälligem Unterschied etwa zu den zu Objekten gelenkter Solidarität gemachten ca. 2000 (überwiegend erwachsene) politischen Flüchtlingen aus Chile nach 1973. 20 Entsprechend wurde im Zeitraum 1949–1989 über die „DDR-Griechen“ höchstens in der Bezirkspresse Dresdens, Leipzigs und Karl-Marx-Stadts (Chemnitz), berichtet, wobei man sich auf den Aspekt der „Völkerfreundschaft“ beschränkte. 21 Ein Artikel im überregionalen SED-Zentralorgan Neues Deutsch18 1953 und 1954 waren insgesamt 600 Waisenkinder aus Korea in die DDR gekommen, wo sie eine Berufsausbildung erhielten. Bereits 1959 waren 475 von ihnen wieder nach Korea zurückgekehrt. Vgl. Übersicht über die in der DDR ausgebildeten oder noch in der Ausbildung befindlichen ausländischen Kinder und Jugendlichen, o. D. [1959]. In: Bundesarchiv Berlin, DR 2 (Ministerium für Volksbildung), 5357. Ein Hinweis auf Heim für vietnamesische Kinder in Dresden findet sich in: Erziehung und Ausbildung ausländischer Jugendlicher im Rahmen des proletarischen Internationalismus (Bezirk Dresden), o. D. In: Bundesarchiv Berlin, DR 2 (Ministerium für Volksbildung), 4389. 19 Rüchel, Uta: Zwischen Paternalismus und Solidarität: das SWAPO-Kinderheim in Bellin. In: Behrends, Jan C., Thomas Lindenberger, Patrice G. Poutrus (Hrsg.): Fremde und Fremd-Sein in der DDR. Zu historischen Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland. Berlin 2003, S. 251– 269. Siehe auch dies.: „Wir hatten noch nie einen Schwarzen gesehen“. Das Zusammenleben von Deutschen und Namibiern rund um das SWAPO-Kinderheim Bellin 1979–1990. Schwerin 2001. In Bearbeitung befindlich ist ein erziehungswissenschaftliches Dissertationsvorhaben von Susanne Timm zum Thema „Das Kinderheim für namibische Flüchtlingskinder in Bellin /DDR: Ein pädagogisches Projekt der SED-Solidaritätspolitik“ an der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg. 20 S. dazu Maurin, Jost: Die DDR als Asylland: Flüchtlinge aus Chile 1973–1989. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51 (2003), S. 814–831, und Poutrus, Patrice G.: Mit strengem Blick. Die sogenannten Polit. Emigranten in den Berichten des MfS. In: Behrends, Lindenberger, Poutrus (Hrsg.): Fremde und Fremd-Sein in der DDR, S. 231–250, hier S. 242–250. 21 Siehe z. B. Zeitler, Werner: Sie lernen für ein befreites Griechenland. Eine Klasse griechischer Schüler wird in der Roseggerschule Radebeul unterrichtet. In: Sächsische Zeitung, 26. September 1951, S. 4; Suttner, Willy: 34. Jahrestag der Kommunistischen Partei Griechenlands. Feierstunde im „Freien Griechenland“ in Radebeul. In: Sächsische Zeitung, 5. Dezember 1952, S. 4; Nikolaou, Thomas: 40 Jahre Kommunistische Partei Griechenlands. Feierstunde in Radebeul – Ausdruck des proletari-

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land aus dem Jahr 1951 über „das Heim der griechischen Kinder“ in Radebeul war ganz auf das Friedensreferendum vom 3. Juni ausgerichtet 22, und ein Beitrag in derselben Zeitung von 1986 über den der SED angehörenden deutsch-griechischen Schriftsteller Thomas Nikolaou, der 1949 als elfjähriges Flüchtlingskind in die SBZ gekommen war, erwähnt den Umstand, dass es sich mitnichten um einen Einzelfall handelte, nicht. 23 Die wenigen in der DDR auf Neugriechisch erschienenen Veröffentlichungen der Flüchtlinge selbst schließlich waren der Mehrheitsbevölkerung sprachlich nicht zugänglich. 24 Entsprechend haben sich auch die Geistes- und Sozialwissenschaften in der DDR kaum mit dieser „einheimischen“ Flüchtlingsgruppe befasst, was wiederum zu Teilen erklärt, warum auch der bundesdeutschen DDR-Forschung die Griechen in Sachsen nicht ins Visier gerieten. Selbst nach der Wende, als Migranten unterschiedlicher Art in der DDR in den Blick der Forschung genommen wurden – hier vor allem Arbeitsmigranten aus Polen, Algerien, Mosambik, Angola, Kuba und Vietnam 25 –, blieben die Griechen „unentdeckt“ und entsprechend firmieren sie weder in der jüngsten Bilanz

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schen Internationalismus. In: Sächsische Zeitung, 8. Dezember 1958, S. 4. – Allgemein zur „Freundschaftsideologie“ in der frühen DDR und ihrem dem Antifaschismus vergleichbaren Stellenwert siehe Behrends, Jan C.: Sowjetische „Freunde“ und fremde „Russen“. Deutsch-Sowjetische Freundschaft zwischen Ideologie und Alltag (1949–1990). In: Behrends, Lindenberger, Poutrus (Hrsg.): Fremde und Fremd-Sein in der DDR, S. 75–98. Richter, Hildegard: Griechische Kinder sahen die Schrecken des Krieges. „Dein Ja hilft mir, in meine Heimat zurückzukehren“, mahnt Kostos Stubis. In: Neues Deutschland Nr. 123 vom 1. Juni 1951, S. 8. – Kostas Stoupis ist heute Vorsitzender der „Vereinigung griechischer Bürger Sachsens e. V.“ in Dresden. Boeckh, Wolfgang: „Damit unsere Völker einander näherkommen“. Begegnung mit Thomas Nikolaou, einem griechischen Schriftsteller in der DDR. In: Neues Deutschland vom 12. September 1986. Komitee Freies Griechenland (Hrsg.): 10 Jahre DDR. Deka chronia. Sti filoxeni aggalia tou laou tis L. D. Germanias. Sto pleuro tou gia to chtisimo tou sosialismou. Berlin (Ost) 1959; und Pros timi ton 25 – chronon tis GLD. Simposio Ellinon Epistimonon stin GLD (25–27 Oktovri 1974). Berlin (Ost) 1975. Röhr, Rita: Polnische Arbeitskräfte in der DDR 1960–1970. In: Hübner, Peter, Klaus Tenfelde (Hrsg.): Arbeiter in der SBZ-DDR. Essen 1999, S. 185–204; dies.: Hoffnung – Hilfe – Heuchelei. Geschichte des Einsatzes polnischer Arbeitskräfte in Betrieben des DDR-Grenzbezirkes Frankfurt / O. 1966–1991. Berlin 2001; dies.: Die Beschäftigung polnischer Arbeitskräfte in der DDR 1966– 1990. Die vertraglichen Grundlagen und ihre Umsetzung. In: Archiv für Sozialgeschichte 42 (2002), S. 211–236; Schüle, Annegret: „Proletarischer Internationalismus“ oder „ökonomischer Vorteil für die DDR“? Mosambikanische, angolanische und vietnamesische Arbeitskräfte im VEB Leipziger Baumwollspinnerei (1980–1989). In: Archiv für Sozialgeschichte 42 (2002), S. 191–210; dies.: „Die ham se sozusagen aus dem Busch geholt.“ Die Wahrnehmung der Vertragsarbeitskräfte aus Schwarzafrika und Vietnam durch deutsche im VEB Leipziger Baumwollspinnerei. In: Behrends, Lindenberger, Poutrus (Hrsg.): Fremde und Fremd-Sein in der DDR., S. 309–324; Kuck, Dennis: „Für den sozialistischen Aufbau ihrer Heimat“? Ausländische Vertragsarbeitskräfte in der DDR. Ebd., S. 271–281; Müggenburg, Andreas: Die ausländischen Vertragsarbeitnehmer in der ehemaligen DDR. Bonn o. J. (URL http://www.integrationsbeauftragte.de/publikationen/ddr.rtf, letzter Zugriff: 04. 10. 2016); Geyer, Sven: Frischfleisch für den Sozialismus. Ausländer in der DDR. In: Spiegel online vom 23. Mai 2001; und Feige, Michael: Vietnamesische Studenten und Arbeiter in der DDR und ihre Beobachtung durch das MfS. Magdeburg 1999. Siehe auch Elsner, Eva-Maria, Lothar Els-

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zur DDR-Forschung von 2003 26 noch in dem zeitgleich erschienenen einschlägigen Sammelband Fremde und Fremd-Sein in der DDR – sieht man von sieben knappen Zeilen dort ab. 27 Hier macht sich das von Klaus-Dietmar Henke konstatierte „größte Defizit“ der Nach-Wende-Forschung zur DDR bemerkbar, nämlich die „mangelnde Verknüpfung der DDR-Geschichte mit der Osteuropa- und SowjetunionGeschichte“. 28 Zwei von der Forschung zur Vor- und Frühgeschichte der DDR bislang übersehene, aber überaus beachtenswerte Ausnahmen bestätigen diese Regel. Dies ist zum einen die Broschüre des Geographen Gerrit Ruwe Griechische Bürgerkriegsflüchtlinge. Vertreibung und Rückkehr aus dem Jahr 1990, die auf lebensgeschichtlichen Interviews mit solchen Bürgerkriegsflüchtlingen aus Griechenland, die in den siebziger und achtziger Jahren aus der DDR in den Westteil Berlins übergesiedelt waren, basiert. 29 Zum anderen ist es eine aus den Quellen gearbeitete Dissertation über Die Beziehungen zwischen Griechenland und der DDR und das Verhältnis der SED zur KKE aus dem Jahr 2001 von Andreas Stergiou. 30 Und neben einer Reihe unveröffentlichter Diplom- und Magisterarbeiten sowie Dissertationen zum Thema, die gleichfalls primär auf Interviews basieren 31, finden sich auch in der bundesdeutschen

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ner: Zwischen Nationalismus und Internationalismus. Über Ausländer und Ausländerpolitik in der DDR 1949–1990. Darstellung und Dokumente. Rostock 1994; Riedel, Almut: Erfahrungen algerischer Arbeitsmigranten in der DDR: „. . . hatten ooch Chancen, ehrlich!“. Opladen 1994; GrunerDomi´c, Sandra: Kubanische Arbeitsemigration in die DDR 1978–1989. Das Arbeitskräfteabkommen Kuba – DDR und dessen Realisierung. Berlin 1997; Krüger-Potratz, Marianne: Anderssein gab es nicht: Ausländer und Minderheiten in der DDR. Münster, New York, NY, 1991. Eppelmann, Rainer, Bernd Faulenbach, Ulrich Mählert (Hrsg.): Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung. Paderborn u. a. 2003. Poutrus: Mit strengem Blick, S. 233. Henke, Klaus-Dietmar: DDR-Forschung seit 1990. In: Eppelmann, Faulenbach, Mählert (Hrsg.): Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung, S. 371–376, hier S. 375. Ruwe: Griechische Bürgerkriegsflüchtlinge. Stergiou, Andreas: Die Beziehungen zwischen Griechenland und der DDR und das Verhältnis der SED zur KKE. Ms., Inaugural-Dissertation, Universität Mannheim 2001. Dass. auch als ders.: Im Spagat zwischen Solidarität und Realpolitik: Die Beziehungen zwischen der DDR und Griechenland und das Verhältnis der SED zur KKE. Mannheim 2001 (= PELEUS Studien zur Archäologie und Geschichte Griechenlands und Zyperns, 13). Zu den deutsch-griechischen Beziehungen nach 1945 vgl. außerdem Fleischer, Hagen: Vom Kalten Krieg zur neuen Ordnung: Der Faktor Griechenland in der deutschen Außenpolitik. In: Thetis 3 (1996), S. 299–309, und ders.: Post War Relations between Greece and the two German States: A Reevaluation in the Light of German Reunification. In: The Southeastern European Yearbook 1991. Athen 1992, S. 163–178. Siehe Dalianis, Panajotis: Ethnische Koloniebildung am Beispiel der griechischen Nachkriegsemigration von 1949 in die DDR und in die Bundesrepublik Deutschland (Rekonstruiert anhand einer Familienbiographie). Ms., Diplomarbeit, Fachbereich Sozialarbeit, Fachhochschule Frankfurt am Mai 1997; Rosjat, Katrin: Die griechischen Bürgerkriegsflüchtlinge in Dresden und Leipzig. Ms., Magisterarbeit im Fach Geschichte, Universität Leipzig 2003; und Tsiradsidis, Stratis: Über die patriotische Erziehung der griechischen Jugend. Versuch einer Grundlegung. Ms., Phil. Diss. Universität Leipzig 1956.

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Tages- und Wochenpresse vereinzelt einschlägige Artikel 32, von denen einige überdies ein Leserbriefecho ausgelöst haben. 33 Schließlich gibt es eine DeutschlandfunkRadiosendung von Ruth Dießel und Claus Leggewie über „Die Rückkehr der Andartes“ (= Partisanen) aus dem Jahr 1987 und eine Fernsehsendung des Westdeutschen Rundfunks von Bernhard Pfletschinger über den Bürgerkrieg von 1997. 34

2. Politische und administrative Vorbereitungen zur Aufnahme der Flüchtlinge Dass die deutschen Kommunisten 1949 und 1950 überhaupt Flüchtlingen aus Griechenland politisches Asyl gewährten, hatte mutmaßlich mit erhofftem internationalem wie gerade auch nationalem good will für die SED zu tun: Nur wenige Jahre nach dem Ende der deutschen Besetzung Griechenlands ergab sich die Möglichkeit einer moralischen Entschuldung für Weltkriegsverbrechen im allgemeinen und für solche gegen Griechen im Besonderen. Und natürlich lag auch die griechische Parallele zum geteilten Deutschland auf der Hand – in beiden Fällen hier „Imperialisten“, dort „Antifaschisten“. 35Am 14. September 1948 beschloss daher das Zentralsekretariat der SED die Gründung eines Hilfskomitees für das demokratische Griechenland, welches sämtliche politischen Parteien, Gewerkschaften, andere Massenorganisationen sowie führende Persönlichkeiten aus dem Kulturbereich wie etwa den Schriftsteller Ludwig Renn und den Maler Willi Sitte einschließen sollte. Die Führung wurde dem FDGB, der FDJ, der DFD und der Vereinigung der Verfolgten des Naziregi-

32 Dießel, Ruth, Claus Leggewie: Die Heimkehr der Partisanen. Das neue Hellas und die alten Geschichten der „Andarten“. In: Die Zeit vom 20. März 1987, S. 81; Spengler-Axiopoulos, Barbara: Die Kinder von Pädomasoma. Ein dunkles Kapitel der griechischen Geschichte wirkt bis in die Gegenwart fort. In: Frankfurter Rundschau vom 20. Januar 1996; Schlözer, Christiane: Die späte Heimkehr der verlorenen Kinder. Risto Kiprovski auf der Suche nach dem Haus seiner Eltern. In: Süddeutsche Zeitung vom 27. August 2003; Troebst, Stefan: Vogel des Südens, Vogel des Nordens. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. September 2003, S. 7; und ders.: Von Epirus ins Elbtal. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. Juli 2004, S. 7. 33 So Stathoulopoulos, Stavros: Ohne Vertreibungen nach dem griechischen Bürgerkrieg. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. November 1996, S. 11, in Reaktion auf Razumovsky, Dorothea: Kaum erfüllt und schon überholt. Sloweniens und Mazedoniens Traum von der nationalen Eigenstaatlichkeit. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. November 1997, S. B 3, sowie Hulek, Heinz: Griechen in der DDR. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. November 2001, S. 11, und Neumann, Hans B.: In Marschordnung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. Dezember 2001, S. 59, zu Kuck, Dennis: Die fremden sozialistischen Brüder. Völkerfreundschaft als Fall für die Sicherheitsorgane und die Angst vor den Armen: Das Schicksal der Gastarbeiter in der DDR. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. November 2001, S. I. 34 Dießel, Ruth, Claus Leggewie: Die Rückkehr der Andartes. 40 Jahre nach dem griechischen Bürgerkrieg: Politische Flüchtlinge kehren aus den sozialistischen Ländern heim. In: Deutschlandfunk vom 16. Dezember 1987; Bernhard Pfletschinger: Stiefmutter Heimat. Der Bürgerkrieg in Griechenland 1943–1949. In: Westdeutscher Rundfunk vom 25. April 2003. 35 So auch Fleischer: Vom Kalten Krieg zur neuen Ordnung, S. 299.

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mes (VVN) übertragen 36, Vertreter des SED-Zentralsekretariats im Komitee war Paul Merker. 37 Von der Partei am 27. September diesem „deutschen antifaschistischen Hilfskomitee“ gestellte Aufgabe war es, „den Opfern des Faschismus in Griechenland mit Geld- und Sachspenden, insbesondere mit ärztlicher Hilfe, Medikamenten, ärztlichen Hilfsmitteln und Fürsorge für elternlose Kinder humanitäre Hilfe [zu] gewähren“. 38 Binnen weniger Wochen baute die Berliner Zentrale des Komitees Untergliederungen auf Länder- und Kreisebene auf. So wurde am 7. Dezember 1948 in Dresden von der VVN Sachsen ein sächsisches Landeskomitee gegründet, welches umgehend intensive Tätigkeit entwickelte und offenkundig über die dazu notwendigen Ressourcen verfügte. 39 Im selben Monat kam das SED-Zentralsekretariat mit Vertretern der von dem stalinistischen Hardliner Nikos Zachariadis geleiteten Kommunistischen Partei Griechenlands (Kommunistiko Komma Elladas, KKE) überein, „dass wir für eine längere Periode, eventuell ein bis zwei Jahre, 100 griechische Kinder nach der sowjetischen Besatzungszone übernehmen.“ 40 Bereits zu diesem Zeitpunkt war die Entscheidung darüber gefallen, dass nach Deutschland ausschließlich minderjährige, nicht hingegen erwachsene Bürgerkriegsflüchtlinge geschickt werden sollten. 41 Von Januar bis März 1949 hatte das neue Hilfskomitee eine hochrangige Delegation der Ende 1947 proklamierten, von dem Partisanengeneral Markos Vafiadis geleiteten und kommunistisch dominierten „Provisorischen Demokratischen Regierung des Freien Griechenlands“ (Prosorini Dimokratiki Kyvernisi tis Eleftheris Elladas), der sogenannten „Regierung des Gebirges“, zu Gast. An der Spitze der Delegation stand der Minister für Gesundheit, Soziales und Erziehung, der Medizinprofessor Petros Kokkalis, und weitere Mitglieder waren DSE-Mitbegründer Generalleutnant „Kikitsas“ (= Georgios Protopappas), ein als „Lambross“ figurierender Generalmajor derselben Armee, der Arzt und Vorsitzende des in Budapest ansässigen griechischkommunistischen Komitees „Hilfe für das Kind“ (Epitropi „Voithia pros to paidi“ – EVOP), Fotopoulos, sowie der Vertreter der gleichfalls kommunistischen „Volksbefreiungsfront“ (Naroden Osloboditelen Front – NOF) der südslawischen Makedonier 36 Protokoll Nr. 116 (II) der Sitzung des Zentralsekretariats der SED vom 27. September 1948. In: Bundesarchiv Berlin, DY 16 (Hilfskomitee für das demokratische Griechenland), 1044. Zitiert bei Stergiou: Die Beziehungen zwischen Griechenland und der DDR, S. 26. 37 Ebd., S. 38. 38 Protokoll Nr. 116 (II) der Sitzung des Zentralsekretariats der SED vom 27. September 1948. In: Bundesarchiv Berlin, DY 16 (Hilfskomitee für das demokratische Griechenland), 1044. Zitiert bei Stergiou: Die Beziehungen zwischen Griechenland und der DDR, S. 26. 39 Protokoll über die Gründungskonferenz des Griechenland-Hilfskomitees am 7. 12. 48 im Waldpark-Hotel, Dresden A, Prellerstraße. In: Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Bezirksparteiarchiv, SED-Bezirksleitung Dresden, Bestand „SED Landesleitung Sachsen, Abteilung Agitation“, IV/A/2/7, Akte „Hilfskomitee für das demokratische Griechenland, 1948–1952“, A/325, Bll. 2–7. 40 Bundesarchiv Berlin, DY 30 (Büro Erich Honecker), IV 2/2.1/230, S. 3, 31. Dezember 1948. Zitiert bei Rosjat: Die griechischen Bürgerkriegsflüchtlinge, S. 27. – Zu Zachariadis siehe Georgios Veloudis: Zachariadis, Nikos. In: Bernath, Mathias, Karl Nehring (Hrsg.): Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Bd. IV, München 1981, S. 447–479. 41 Stergiou: Die Beziehungen zwischen Griechenland und der DDR, S. 38.

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Griechenlands in der Provisorischen Regierung und EVOP-Funktionär Andon Sikavica. 42 Die Delegation wurde von dem Agitprop-Funktionär Thanasis Georgiou begleitet, der in den Jahren 1949 und 1950 als ständiger Vertreter der KKE in der DDR, als in Berlin ansässiger griechischer Verbindungsmann zur Zentrale des Hilfskomitees sowie als Berlin-Korrespondent des KKE-Zentralorgans Rizospastis fungierte. 43 Selbst die SED-Spitze war vom Interesse der deutschen Öffentlichkeit am Thema Griechenland überrascht, welches sich in reger Beteiligung an öffentlichen Versammlungen mit den griechischen Delegierten, in der Summe der Geldspenden für humanitäre Hilfe und in freiwilligen Solidaritätsschichten in Industriebetrieben niederschlug. Augenfälliger Grund für die Popularität der republikanischen Seite im Griechischen Bürgerkrieg war, wie angedeutet, die implizite Vergebung für Kriegsverbrechen der Wehrmacht in Griechenland, welche die Delegationsmitglieder ihren deutschen Zuhörern gewährten: Immer wieder waren die Teilnehmer der Kundgebungen auf das stärkste beeindruckt von der Versicherung der griechischen Sprecher, dass zwischen dem deutschen und dem griechischen Volke die Kluft, die der Hitlerfaschismus geschlagen hat, geschlossen ist, und sehr stark war der Beifall, wenn die Sprecher der griechischen Delegation ebenfalls erklärten, dass wir einen gemeinsamen Kampf führen, und wenn sie uns Erfolg wünschten in unserem Kampf um die Freiheit Deutschlands. 44

Ein ganz besonderer Erfolg war die Reise der Delegation durch Sachsen, wo Solidaritätstreffen die größten Teilnehmerzahlen erreichten und zugleich die höchsten Geldbeträge gespendet wurden. 45 Die griechische Delegation griff das Angebot der SED von 1948 auf Evakuierung von Flüchtlingskindern aus ihren provisorischen Unterkünften auf dem Balkan in die SBZ auf und die deutsche Seite erklärte sich verbindlich bereit, 150 Kinder dauerhaft in Waisenhäusern unterzubringen, desgleichen Lehrstellen für weitere 75 Jugendliche bereitzustellen sowie jährlich 1000 Kinder zu mehrwöchigen Ferienaufenthalten zu aufzunehmen. 46 Die Details vereinbarte Delegationsleiter Kokkalis mit dem Präsidenten der Deutschen Zentralverwaltung

42 Ebd., S. 26–27. – Zu Sikavica, der im Folgejahr als „Tito-Agent“ in ein Dorf in Rumänien verbannt wurde, siehe Martinova-Buckova, Fana: I nie sme deca na majkata zemja . . . Skopje 1998, S. 179– 180. 43 Stergiou: Die Beziehungen zwischen Griechenland und der DDR, S. 26. 44 Bericht über den Besuch der griechischen Delegation [1949], S. 8. In: Archiv Moderner Sozialgeschichte (ASKI), Athen, Archivbereich „Eidiki Ypiresia Berolinou“ (Parteiabteilung in Berlin), 180, 8/6/1. Zitiert nach Stergiou: Die Beziehungen zwischen Griechenland und der DDR, S. 27–28. 45 Bericht des Hilfskomitees für das demokratische Griechenland, Land Sachsen, an den Leitungsvorstand der SED Dresden über die Kundgebungen anläßlich der Anwesenheit von Vertretern der griechischen Regierung in Sachsen, Dresden, 17. Februar 1949. In: Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Bezirksparteiarchiv, SED-Bezirksleitung Dresden, Bestand „SED Landesleitung Sachsen, Abteilung Agitation“, IV/A/2/7, Akte „Hilfskomitee für das demokratische Griechenland, 1948– 1952“, A/325, Bll. 13–17. 46 Stergiou: Die Beziehungen zwischen Griechenland und der DDR, S. 38.

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für Volksbildung und SED-Vorstandsmitglied Paul Wandel. 47 In den Folgemonaten wurde die Zahl der zum dauerhaften Aufenthalt vorgesehenen Kinder verdoppelt, so dass am 4. August 1949 ein erster, in Budapest zusammengestellt Transport von 342 Kindern und Jugendlichen per Zug am Bahngrenzübergang Bad Schandau in Sachsen eintraf. 48 Hier wurden sie mit Blumen und der Parole „Philia!“ (Freundschaft!) empfangen. 49 Zwar gibt es keine verlässlichen Angaben darüber, aus welchen Fluchtländern die im Zug befindlichen unbegleiteten Minderjährigen kamen 50 und gemäß welcher Auswahlkriterien sie in die SBZ verbracht wurden, doch liegen Hinweise darauf vor, dass dieser erste Transport vor allem aus vorübergehend in Albanien untergebrachten Flüchtlingen bestand. 51 Gemäß Informationen aus SBZ- wie KKE-Quellen waren die im Zug befindlichen Kinder in ethnischer Hinsicht sämtlich Griechen, d. h. unter ihnen soll es keine Makedonier, Bulgaren und andere Südslawen, desgleichen keine Albaner (Arvaniten, Çam u. a.), Vlachen (Aromunen), Türken, Pomaken, Roma, Gagausen, Juden u. a. aus Nordgriechenland gegeben haben. Dasselbe soll für den zweiten Transport vom Sommer 1950 gegolten haben. 52 Dies ist insofern ungewöhnlich, als die Flüchtlingskinder, die in den Volksdemokratien untergebracht waren, in der Regel im Verhältnis 3/5 Griechen und 2/5 Makedonier ethnisch gemischt waren und ähnliche Relationen für die Erwachsenen galten. Allerdings gibt eine makedonische Autorin an, dass sich unter den 1949/1950 nach Sachsen gekommenen Kindern 14 makedonische befanden 53, wie auch mindestens ein Kind zur Gruppe der muslimischen Çam-Albaner aus der Gegend um Konitsa gehörte. 54 Entsprechend scheint es, 47 Witz, Franz: Proletariakos diethnismos. In: Komitee Freies Griechenland (Hrsg.): 10 Jahre DDR. Deka chronia, S. 6–7. Siehe ebd., S. 6, eine Fotografie, die Kokkalis im Gespräch mit Wandel, der ab 1949 auch das Ministerium für Volksbildung der DDR leitete, zeigt. 48 Krantzik, Abt. Jugendhilfe und Heimerziehung: Griechenlandkinder-Aktion, Berlin, 6. Mai 1950. In: Bundesarchiv Berlin, DR 2 (Ministerium für Volksbildung), 6096. In diesem Dokument ist die maschinenschriftliche Angabe „432 Kinder“ handschriftlich zu „(342)“ korrigiert. Stergiou: Die Beziehungen zwischen Griechenland und der DDR, S. 39, nennt „c. 340“. 49 Zur Ankunft des Zuges in Bad Schandau vgl. die Fotografien in Komitee Freies Griechenland (Hrsg.): 10 Jahre DDR. Deka chronia, S. 7. 50 Eine detaillierte Ostmitteleuropa-Karte mit dem Titel „Migrationsströme der Flüchtlingskinder aus dem Ägäischen Teil Makedoniens“ schließt die SBZ/DDR zwar ein, zeigt aber keine Zielorte bzw. Transportrouten dorthin. Vgl. Markoski, Blagoja, Dimitra Karˇcicka: Migracionni tekovi na decata begalci od Egejskiot del na Makedonija. In: Martinova-Buckova: I nie sme deca, S. 34. 51 Ebd., S. 40–50. Vgl. auch Fig. 3: Fluchtwege und Aufnahmeländer der griechischen Bürgerkriegsflüchtlinge/3. Phase des Bürgerkriegs. In: Ruwe: Griechische Bürgerkriegsflüchtlinge, S. 22. 52 Der Sekretär des ZK der KKE, Vasilis Bartziotas, berichtete der 3. ZK-Konferenz im Oktober 1950, unter den 1128 in der DDR untergebrachten Flüchtlingskindern aus Griechenland befände sich kein einziges makedonisches Kind. Vgl. Minkov: Makedonskata emigracija, S. 173. Auch der bezüglich der Bürgerkriegsflüchtlinge führende makedonische Historiker Risto Kirjazovski gibt keine makedonischen Flüchtlingskinder dort an. Siehe Kirjazovski: Makedonskata politiˇcka emigracija. 53 Martinova-Buckova: I nie sme deca, S. 50. 54 Information von Sally Ewig (Franklin, Wisconsin, USA) über ihren Onkel Haxhi Pondikati, geboren um 1938 in Pogoniani (Voshtin) bei Ioannina, gestorben 1951 im Radebeuler Heimkombinat „Freies Griechenland“.

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als ob die deutschen Behörden entweder keinen Unterschied zwischen (griechischer) Staatsangehörigkeit und (makedonischer, albanischer u. a.) ethnisch-sprachlicher Zugehörigkeit gemacht haben oder aber zu dieser Unterscheidung wegen des Bilingualismus der Kinder nicht in der Lage waren. Auf jeden Fall fand in der SBZ/DDR der Schulunterricht für sämtliche Flüchtlingskinder aus Griechenland ausschließlich in griechischer Sprache statt; Makedonischunterricht wie in Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien und der UdSSR gab es hier nicht. 55 Damit vermochte es die Partei- und Staatsführung der DDR, den „Import“ des Problemkomplexes der Makedonischen Frage, hier ihres ethnopolitischen Hauptaspektes, zu verhindern – ein Kunststück, das den „Bruderparteien“ im RGW nicht gelang. Denn der Griechische Bürgerkrieg besaß neben seinen weltpolitischen und ideologischen Aspekten auch eine brisante interethnische Dimension: Während die Royalisten für einen ethnisch „reinen“, griechischsprachigen und christlich-orthodoxen hellenischen Nationalstaat optierten, propagierten die das republikanische Lager anführenden Kommunisten mit Rücksicht auf die ca. 40 Prozent ethnisch nicht-griechischer Kämpfer in ihren Reihen ein multiethnisches, plurikonfessionelles und mehrsprachiges Griechenland, ja erklärten sich im März 1949 sogar zur Abtrennung der mehrheitlich südslawisch besiedelten Teile Nordgriechenlands an ein künftig unabhängiges Makedonien bereit. 56

3. Deutsche Schwierigkeiten bei der Erziehung griechischer „Patrioten und Kämpfer“ Nach kurzer provisorischer Unterbringung in Bischofswerda wurden die im August 1949 in der SBZ eingetroffenen Kinder und Jugendlichen aus Griechenland auf sieben Heime von Volkssolidarität und FDJ in Sachsen verteilt, vom Juli 1950 an dann in Radebeul zusammengeführt. In dieser im Elbtal nahe Dresden gelegenen Kleinstadt wurden eine Schule, ein Sportplatz, eine Erste-Hilfe-Station, eine Gaststätte sowie ein Dutzend Wohnhäuser zum Heimkombinat „Freies Griechen-

ˇ 55 Allerdings zog das DDR-Ministerium für Volksbildung sowohl in der CSSR als auch in Ungarn detaillierte Informationen über die Organisation des Makedonischsprachunterrichts dort ein. Vgl. Die Aufteilung der muttersprachlichen und griechischen Stunden der mazedonischen Klassen [in Ungarn], o. D. In: Bundesarchiv Berlin, DR 2 (Ministerium für Volksbildung), 3677b (1952–1953), und Antworten auf die Fragen über die Erziehung der griechischen und koreanischen Kinder [in der ˇ CSSR], o. D. Ebd., 4389 (1954–1957). 56 Karakasidou, Anastasia: Fellow Travellers, Separate Roads: The KKE and the Macedonian Question. In: East European Quarterly 27 (1993), S. 453–477; Rossos, Andrew: Incompatible Allies: Greek Communism and Macedonian Nationalism in the Civil War in Greece, 1943–1949. In: Journal of Modern History 69 (1997), S. 42–76; Esche: Die Kommunistische Partei Griechenlands, S. 315–323; Kofos, Evangelos: The Impact of the Macedonian Question on Civil Conflict in Greece (1943–1949). Athens 1989 (= Occasional Papers of the Hellenic Foundation for Defense and Foreign Policy, 3).

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land“ zusammengefasst. 57 In den ersten Jahren wurde die neue Institution von der Volkssolidarität geleitet, im weiteren Verlauf der fünfziger Jahre dann von einer dem Ministerium für Volksbildung in Berlin unterstellten und deutsch-griechisch besetzten Neugründung namens Komitee „Freies Griechenland“, die zugleich als Bindeglied zur KKE fungierte. Die Gründe für die Wahl Radebeuls als Standort waren zum einen infrastruktureller Art, wobei neben dem genannten Gebäudekomplex auch die Versorgungssituation im Raum Dresden sowie die räumliche Nähe zur Landeshauptstadt eine Rolle spielten. Denn dadurch war es möglich, Jugendlichen aus dem Heimkombinat Lehrstellen in Dresdner Großbetrieben zuzuweisen. Zum anderen stand die Standortwahl in ursächlichem Zusammenhang mit der Tatsache, dass im Zuge der Gründung der DDR im Oktober 1949 die sowjetische Militärpräsenz insgesamt reduziert und somit auch Teile des von Anfang 1950 an sukzessive freiwerdenden Radebeuler Militärareals, darunter das genannte Schulgebäude, vom Heimkombinat übernommen werden konnten. 58 Im Herbst 1949 vereinbarten der genannte griechische Unterhändler Kokkalis und seine deutschen Verhandlungspartner einen weiteren Transport mit bis zu 700 Flüchtlingskindern – eine Zahl, die am 10. März 1950 vom ZK der SED bestätigt wurde. 59 Entsprechend trafen am 1. Juli 1950 per Zug 720 Minderjährige im Alter von acht bis 17 Jahren im neuen Radebeuler Heimkombinat ein. Die meisten von ihnen waren bereits 1948 aus den Kampfzonen Griechenlands evakuiert und in Heime im benachbarten Bulgarien gebracht worden, wo viele von ihnen schwer an Tuberkulose, Hautkrankheiten und Meningitis erkrankten. 60 Ebenfalls im Juli 1950 wurden 26 griechische und 39 deutsche Erzieher sowie 45 griechische und deutsche Lehrer

57 Hauptabteilungsleiter Riesner (VII 1 A) im Sächsischen Ministerium für Volksbildung an das Ministerium für Volksbildung in Berlin, Dresden, 25. Juli 1950. In: Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Landesregierung Sachsen, Ministerium für Volksbildung, 405; Stand der griechischen Kinderheimat, o. O., o. D. [21. Juli 1950]. Ebd. – Die Eröffnung des Heimkombinats fand am 20. August 1950 statt. Siehe die Fotografie in Komitee Freies Griechenland (Hrsg.): 10 Jahre DDR. Deka chronia, S. 19. 58 Zur sowjetischen Präsenz in Radebeul siehe Welsh, Helga: Sachsen. In: Broszat, Martin, Hermann Weber (Hrsg.): SBZ-Handbuch. Staatliche Verwaltungen, Parteien, gesellschaftliche Organisationen und ihre Führungkräfte in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschland 1945–1949. München 1990, S. 126–146, hier S. 133, und den Abschnitt „Schulgeschichte“ auf der Homepage des LössnitzGymnasiums Radebeul (URL http://www.loessnitzgymnasium.de, letzter Zugriff: 05. 10. 2016). 59 Stergiou: Die Beziehungen zwischen Griechenland und der DDR, S. 39. 60 Ministerium für Volksbildung der DDR, Hauptabteilung Unterricht und Erziehung, Abt. Jugendhilfe und Heimerziehung: Über die Sitzung mit Vertretern der Volkssolidarität und der Hauptabteilung Unterricht und Erziehung des Volksbildungsministeriums Sachsen in Radebeul bei Dresden [zur] Unterbringung der am 1. 7. 1950 in Deutschland ankommenden Griechenlandkinder, Berlin, 16. Juni 1950. In: Bundesarchiv Berlin, DR 2 (Ministerium für Volksbildung), 6046. Anstelle von 720 Kindern führt Stergiou die Zahl 900 an. Vgl. Stergiou: Die Beziehungen zwischen Griechenland und der DDR, S. 40. Gleichfalls „ca. 900 griechische Kinder und Jugendliche“ nennen Alexiou, Konstantinos, Athanassios Karagiannis: Griechen in Leipzig nach 1945. In: Europa-Haus Leipzig (Hrsg.): Griechen in Leipzig, S. 46–47, hier S. 46.

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vom Radebeuler Heimkombinat eingestellt. 61 Griechischen kommunistischen Quellen zufolge hatten im Herbst 1950 insgesamt 1128 Flüchtlinge aus Griechenland, d. h. sowohl Kinder und Jugendliche als auch einige Erzieher und Lehrer sowie KKE-Funktionäre, Aufnahme in der DDR gefunden. 62 Eine ähnliche spätere Quelle nennt für 1950 eine geringfügig höherer Zahl, nämlich 1240 63, während das Ministerium für Volksbildung im Dezember 1954 insgesamt nur 1119 Personen zählte 64, das Heimkombinat „Freies Griechenland“ für 1959 von 1218 Flüchtlingen sprach 65 und die KKE 1960 1317 Personen nannte. 66 Auf jeden Fall stieg die Zahl der in der DDR-Terminologie als „griechisch-politische Emigranten“ Firmierenden in der Folgezeit an, da etliche junge Erwachsene nach Erreichen der Volljährigkeit heirateten 67 und Familien gründeten. Allerdings gibt es zu diesem Zuwachs keine amtlichen Angaben, sondern lediglich griechische Parteiquellen. 68 So gab die für sämtliche Bürgerkriegsflüchtlinge im sowjetischen Machtbereich zuständige KKE-Untergliederung, das Zentralkomitee der politischen Flüchtlinge Griechenlands (Kentriki Epitropi Politikon Prosfygon Elladas – KEPPE 69), die Zahl der politischen Flücht-

61 Hauptabteilungsleiter Riesner (VII 1 A) im Sächsischen Ministerium für Volksbildung an das Ministerium für Volksbildung in Berlin, o. O., 25. Juli 1950. In: Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Landesregierung Sachsen, Ministerium für Volksbildung, 405. 62 Siehe die Tabelle „Bürgerkriegsflüchtlinge aus Griechenland in Ostmitteleuropa, der Sowjetunion und der SBZ/DDR 1949/50“ oben sowie Minkov: Makedonskata emigracija, S. 173. 63 Festrede auf der zentralen Feier der griechischen politischen Emigranten in der DDR, die dem 30. Jahrestag der DDR und der 30-jährigen politischen Emigration gewidmet ist. Dresden, d. 29. 9. 1979 (Wesentliche Auszüge). In: Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, SED-Bezirksleitung Dresden, Bezirksparteiarchiv, IV D-2/18/791. 64 Aufstellung über griechische Emigranten in der Deutschen Demokratischen Republik, Dezember 1954. In: Bundesarchiv Berlin, DR 2 (Ministerium für Volksbildung), 3677. 65 Heimkombinat „Freies Griechenland“: Aufstellung der Gesamtstärke der griechisch-politischen Emigranten in der DDR, Radebeul, 16. Januar 1959. In: Sächsisches Hauptstaatsarchiv, SED-Bezirksleitung Dresden, Bezirksparteiarchiv, Teilbestand Internationale Verbindungen, Aktentitel „Arbeit mit griechischen Patrioten, 1957–1962“, IV /2.18.008. 66 Bericht von Nikos Akritidis an die SED, 28. Februar 1961. In: Bundesarchiv Berlin, DY 30 (Büro Walter Ulbricht), 2/20/252a. Zit. nach Stergiou: Die Beziehungen zwischen Griechenland und der DDR, S. 42–43. 67 Aufschlussreich ist ein Bericht über die Modalitäten der Eheschließung der Flüchtlinge: „[Wir] heirateten [ca. 1955] vor einem griechischen, vom ‚Komitee Freies Griechenland‘ angewiesenen Standesbeamten. Damals heirateten die griechischen Flüchtlinge untereinander. In einem Sammelverfahren wurden später allen griechischen Paaren Trauscheine von den DDR-Behörden ausgestellt.“ Vgl. 3. Interview (Frau Tassia und Herr Nikos A.). In: Ruwe: Griechische Bürgerkriegsflüchtlinge, S. 55. 68 Siehe einen Brief von Nikos Akritidis an das ZK der SED, Radebeul, 18. Oktober 1957 (Sächsisches Hauptstaatsarchiv, SED-Bezirksleitung Dresden, Bezirksparteiarchiv, Teilbestand Internationale Verbindungen, Aktentitel „Arbeit mit griechischen Patrioten, 1957–1962“, IV /2.18.008), in dem die Rede davon ist, dass im Zeitraum 1949–1957 in der DDR 250 Kinder von Flüchtlingen aus Griechenland geboren worden sind. 69 Hauptaufgaben dieser im Frühjahr 1950 gegründeten und von dem genannten Kokkalis geleiteten Untergliederung waren neben der Kontrolle über die Flüchtlinge deren statistische Erfassung sowie vor allem ihre Repatriierung nach Griechenland. Vgl. dazu Kirjazovski: Makedonskata politiˇcka emi-

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linge in der DDR für 1974 mit 1493 an 70, 1980 nannte das Zentralorgan der orthodoxen Mehrheitsfraktion der KKE, Rizospastis, die Zahl 1541 71 und im Folgejahr führte ein weiteres Parteiblatt, Exormisi, 1620 an. 72 Ob die SED bzw. Behörden von SBZ oder DDR Teil des Entscheidungsfindungsprozesses darüber waren, welches Land im sowjetischen Machtbereich wie viele Bürgerkriegsflüchtlinge aus Griechenland aufzunehmen hatte, ist, wie gesagt, unbekannt. Bekannt ist lediglich, dass im Frühjahr 1948, also zum Zeitpunkt der ersten Evakuierungswelle von Kindern aus dem von den Partisanen kontrollierten Teilen des Landes, das Exekutivkomitee der Balkan-Jugendorganisation des Informationsbüros der kommunistischen und Arbeiterparteien (Kominform) in Belgrad diesbezüglich die Federführung inne hatte 73 – die SED war indes kein Mitglied des Kominform. Von 1949 an war dann Budapest als Sitz von KKE und EVOP sowie von 1950 an dann auch von KEPPE Knotenpunkt und Schnittstelle für alle mit den Bürgerkriegsflüchtlingen zusammenhängenden Fragen. 74 Hinweise darauf, dass es 1948/1950 in der ungarischen Hauptstadt zu Liaisonzwecken eine SED- bzw. DDR-Präsenz gegeben hat, liegen nicht vor. Unverkennbar ist indes, dass die DDR in den fünfziger Jahren bezüglich der Bürgerkriegsflüchtlinge aus Griechenland eine mit der Sowjetunion und den Volksdemokratien koordinierte Politik betrieb. So lehnte die DDR gleich der UdSSR und den anderen RGW-Staaten die Einladung des Internationalen Roten Kreuzes ab, am 21. Mai 1953 in Genf die Frage der Repatriierung von Flüchtlingskindern aus Griechenland zu erörtern. 75 Ein weiterer Hinweis darauf, dass die SED-Führung in dieser Frage in enger Abstimmung mit den „Bruderparteien“ handelte, ist die Tatsache, dass DDR-Behörden eine Reihe von Berichten darüber kommissionierten, wie griechische, makedonische, koreanische und vietnamesische Flüchtlingskinder in der Tschechoslowakei, Bulgarien und anderen Staaten Ostmitteleuropas behandelt wurden. Zugleich wurden in einige dieser Staaten DDR-Delegationen zu Vor-Ort-Besuchen einschlägiger Einrichtungen geschickt. So war eine Delegation des Ministeriums für Volksbildung im Dezember 1950 in Ungarn, wo sie

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gracija, S. 61 und 151–157, und Zentralkomitee der Griechischen Politischen Emigranten KEPPE (Hrsg.): Verbotene Heimat. 30 Jahre. Budapest 1979. Siehe das Faksimile einer KEPPE-Mitteilung in der exilgriechischen Zeitschrift Lefteria vom 30. Januar 1978 bei Minkov: Makedonskata emigracija, S. 175. Rizospastis vom 16. April 1980, zitiert bei Kirjazovski: Makedonskata politiˇcka emigracija, S. 155. Exormisi vom 23. August 1981, zitiert ebd., S. 155–156. Stergiou: Die Beziehungen zwischen Griechenland und der DDR, S. 31. Vgl. KEPPE (Hrsg.): Verbotene Heimat. Stergiou: Die Beziehungen zwischen Griechenland und der DDR, S. 37. Zu einer Genfer Konferenz in nämlicher Sache am 9. und 10. März 1950 sowie zu mehreren Beratungen im selben Jahr war die DDR, anders als die Volksdemokratien und Jugoslawien, nicht eingeladen worden – möglicherweise weil das Internationale Rote Kreuz und das gleichfalls mit dem Problem befasste United Nations Special Committee on the Balkans (UNSCOB) von dem ersten Transport nach Sachsen vom August 1949 keine Kenntnis besaßen. Vgl. Martinova-Buckova: I nie sme deca, S. 81. Siehe zu UNSCOB Nachmani, Amikan: International Intervention in the Greek Civil War: The UN Special Committee on the Balkans 1947–1952. New York, NY, 1990.

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Heime und Schulen für Flüchtlingskinder aus Korea und Griechenland besichtigte und detailliert über Curricula, Schulbücher, Lehrerfortbildung u. a. berichtete. 76 Das zentrale Ziel in Erziehung, Unterricht und Ausbildung der Flüchtlingskinder aus Griechenland in der DDR war die Heranbildung von Kämpfern der kommunistischen Partisanenarmee für eine zweite Runde auf dem balkanischen Kriegsschauplatz. Entsprechend definierte die zum Radebeuler Heimkombinat gehörende Grundschule „Freies Griechenland“ ihr pädagogisches Prinzip wie folgt: Die Kinder sind zu bewußten, entschlossenen und disziplinierten Patrioten und Kämpfern für die Befreiung ihres Vaterlandes vom monarcho-faschistischen Joch zu erziehen und für den schnellen planmäßigen Aufbau Griechenlands zu einem fortschrittlichen demokratischen Lande zu befähigen. Dazu gehört, daß sie zu allseitig gebildeten und sittlich entwickelten Menschen im Sinne einer kommunistischen Weltanschauung erzogen werden. Die Grundlagen dazu sind die Wissenschaft, Marxismus-Leninismus und die Sowjetpädagogik. Die Kinder müssen fähig und bereit sein, sich mit allen Kräften an der demokratischen Entwicklung ihres Vaterlandes zu beteiligen und zu den großen Freunden eines demokratischen Griechenlands, der Sowjetunion, der Volksdemokratien und der DDR, unverbrüchliche Freundschaft zu halten. 77

Folglich enthielt die deutsche Erziehung der Kinder und Jugendlichen aus Griechenland auch eine militärische Komponente. Sophoklis V., der 1950 im Alter von zehn Jahren über das bulgarische Karlovo nach Radebeul gekommen war, berichtete: Alle Flüchtlingskinder wurden Thälmann-Pioniere, führten häufig Subbotniks durch (‚freiwillige‘ Arbeitseinsätze nach sowjetischem Muster) und trugen neue für sie angefertigte Kinderuniformen der ELAS [= Ethnikos Laikos Apeleftherotikos Stratos/ Nationale Volksbefreiungsarmee 78]. [. . . ] Die Erziehung [war] darauf ausgerichtet [. . . ], in ihnen das Bewußtsein einer kurz bevorstehenden Befreiung Griechenlands zu erzeugen und sie auf ihre militärische Rolle dabei vorzubereiten. So durchdrangen Befreiungsparolen und patriotische Ansprachen den Internatsalltag, angefangen von den Morgenappellen über das Flaggenhissen im Schulhof bis hin zu den Losungen vor den Mahlzeiten. Paramilitärische Ausbildungen fanden unter Anleitung griechischer Veteranen der ELAS u. a. zusammen mit Einheiten der Kasernierten Volkspolizei, sowjetischen Offizieren, spanischen und ab 1953 auch koreanischen Internatszöglingen statt. 79

76 Siehe z. B. Berichtauszug 8. Heime für koreanische und griechische Kinder, Dezember 1952. In: Bundesarchiv Berlin, DR 2 (Ministerium für Volksbildung), 3677 b. Das in diesem Bericht erwähnte Kinderheim im Schloss Károlyi in Fehérvárcsurgó bei Budapest war der Ort der ersten internationalen wissenschaftlichen Konferenz über die Bürgerkriegsflüchtlinge aus Griechenland in den Volksdemokratien: International Colloquium „The Child Refugees from Greece in Eastern and Central Europe after World War II“, Joseph Károlyi Foundation, Károly Mansion, Fehérvárcsurgó, 3–4 October 2003. 77 Ziele der Bildungs und Erziehungsarbeit der Grundschule Steinbachstraße „Freies Griechenland“, o. D. In: Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Landesregierung Sachsen, Ministerium für Volksbildung, 470. 78 Hier liegt eine Verwechslung der genannten DSE mit ihrer Vorläuferinstitution ELAS vor. 79 1. Interview (Sophoklis V.). In: Ruwe: Griechische Bürgerkriegsflüchtlinge, S. 28 and 47. – Die DDR hatte in den Jahren 1947–1951 an die einhundert aus Frankreich ausgewiesene spanische Bürgerkriegsflüchtlinge aufgenommen, die nicht in das Spanien Francos zurückkehren konnten. Vgl.

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Rekrutierungen von Jugendlichen für die Partisanenarmee, wie sie etwa in Heimen in den Volksdemokratien stattfanden 80, gab es in der SBZ allerdings nicht, da diese Praxis mit dem Kriegsende im Oktober 1949 eingestellt wurde und die ersten Flüchtlingskinder erst kurz zuvor in Sachsen eintrafen. Während sowohl der reguläre Schulunterricht, der überwiegend in deutscher Sprache abgehalten wurde, als auch der muttersprachliche Griechischunterricht zur Zufriedenheit von deutschen und griechischen Lehrkräften verlief, bereitete die „patriotische Erziehung“ der Kinder und Jugendliche Probleme. In einem vertraulichen Dokument des Ministeriums für Volksbildung hieß es dazu 1952/1953: Die Erziehung zu griechischen Patrioten, wie sie unser Erziehungsziel vorsieht, ist nicht leicht, da der Erziehungsprozeß sowohl sprachlich als auch geographisch sich nicht auf den Grundlagen der griechischen Nation vollziehen kann. 81

Eine Maßnahme, von der man sich diesbezüglich Verbesserungen erhoffte, war die im Juli 1953, d. h. unmittelbar nach dem Aufstand vom Vormonat, gefällte Entscheidung des DDR-Ministerium für Volksbildung, Uniformen für die Kinder und Jugendlichen aus Griechenland anfertigen zu lassen. Die Uniformierung, so die Erwartung des Ministeriums, „trägt bei Nationalgefühl zu entwickeln und zu pflegen.“ 82 Unbekannt ist, ob der Anfang 1949 von Belgrad in die Nähe von Bukarest verlegte griechischsprachige Radiosender Svobodnaja Grecija (Freies Griechenland) des Kominform oder die griechischsprachigen Sendungen der Sender Warschau und Prag im Elbtal zu empfangen waren bzw., falls ja, ihre Programme den Kindern und Jugendlichen zugänglich gemacht wurden. 83 In der Folgezeit wurden die Uniformen wieder abgeschafft: Stattdessen setze man auf intensivierten Griechischunterricht, zweisprachige Erziehung sowie ein elaboriertes System griechischer Feiertage, die zusätzlich zu den offiziellen DDR-Feiertagen begangen wurden. 84 Das Regime im Radebeuler Heimkombinat war streng. So durften die Kinder und Jugendlichen das Gelände nicht ohne Genehmigung oder Aufsicht verlassen

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Poutrus: Mit strengem Blick, S. 233; und ders: Zuflucht im Ausreiseland. Zur Geschichte des politischen Asyls in der DDR, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2004, S. 355–378. Zu den 1953/1954 nach Dresden gekommenen koreanischen Waisen siehe oben. Zu diesen Rekrutierungen siehe Martinova-Buckova: I nie sme deca, S. 72–76. Vertrauliche Unterlagen unter Punkt IV, o. D. In: Bundesarchiv Berlin, DR 2 (Ministerium für Volksbildung), 3677b (1951–1953). Aktennotiz der Abt. Jugendhilfe und Heimerziehung im DDR-Ministerium für Volksbildung, Berlin, Juli 1953. In: Bundesarchiv Berlin, DR 2 (Ministerium für Volksbildung), 6220 (1951–1953). Siehe dazu auch die in Dresden erscheinende exilgriechische Zeitschrift To deltio maz vom 4. Juli 1953. Ebd. Zum Ende 1955 eingestellten Sender Svobodnaja Grecija und den Sendern Warschau und Prag vgl. Adibekov, Grant M.: Kominform i poslevoennaja Evropa 1947–1956 gg. Moskva 1994, S. 194–196. Papadopulos, Jannis: Über die Zweisprachigkeit im Kindesalter (vom 1.–14. Lebensjahr) unter den Bedingungen der Emigration. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 17 (1968), H. 2, S. 297–304.

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wie auch Deutsche es ohne Erlaubnis nicht betreten durften. 85 Direkter Umgang zwischen Griechen und Deutschen jeglicher Altersstufen war auf die Sphären von Arbeit, Schule, Berufsausbildung, militärischer Ausbildung und ideologischer Schulung beschränkt. Private Kontakte zwischen griechischen und deutschen Kindern und Jugendlichen waren prinzipiell unerwünscht, entstanden aber dennoch und wurden wohl auch partiell geduldet. Eine Griechin, die als Kind 1950 über Berkovica in Bulgarien in die DDR gekommen war und später als Lehrerin in die Bundesrepublik übersiedelte, berichtete: Während der Berufsausbildung hatte ich schon, neben meinen griechischen Freundinnen, deutsche Freundinnen gehabt. [. . . ] Die nahmen mich Sonntags oder Samstags auch mit in ihre Familien. 86

Auch untereinander hatten die griechischen Jugendlichen strikte Regeln zu befolgen. So wurden etwa Liebesbeziehungen von den deutschen Betreuern derselben Zeitzeugin zufolge nicht toleriert: Richtige Beziehungen hatte man uns während der Berufsausbildung [. . . ] verboten, weil unsere Verantwortlichen Angst davor hatten, daß wir jemanden kennenlernten, intime Beziehungen entwickeln und unsere Berufsausbildung vernachlässigen könnten. [. . . ]. Wer eine Freundin hatte, wurde in Versammlungen gemaßregelt oder aus der Partei ausgeschlossen [. . . ]. 87

Eine andere Form paternalistischer Kontrolle war die Zensur privater Korrespondenz der Kinder und Jugendlichen mit ihren Eltern, Geschwistern und anderen Verwandten in der UdSSR, den Volksdemokratien, Jugoslawien, Übersee sowie Griechenland selbst. Diese Postzensur erfolgte mangels Sprachkompetenz nicht durch DDR-Stellen, sondern durch die griechischen Erzieher und Lehrer in Abstimmung mit der in Budapest ansässigen Leitung der KKE. Gerechtfertigt wurde diese Maßnahme mit dem Verweis auf den Tito-Stalin-Bruch bzw. den Umstand, dass manche der Kinder Verwandte in Jugoslawien hatten und somit Belange der äußeren Sicherheit der DDR berührt würden. 88 Von den DDR-Behörden anfänglich unterschätzt wurde die Antipathie, ja der Hass etlicher Kinder und Jugendlicher aus Griechenland gegen Deutschland und die Deutschen. Die älteren unter ihnen hatten die deutsche Besatzung Griechenlands in 85 Auf dem genannten Kolloquium im ungarischen Fehérvárcsurgó 2003 berichtete der in Paris lehrende griechische Historiker Ilios Yannakakis, der in den frühen fünfziger Jahren Leiter eines Kinderheims in der Tschechoslowakei war, dass im Falle unerlaubten Verlassens des Heimgeländes durch ein Kind umgehend die Polizei zu verständigen war. Und einem schriftlichen Kolloquiumsbeitrag von George Dimer aus Australien, der als Kind unter seinem damaligen Namen Jorgos Dimiropoulos in das Heim in Fehérvárcsurgó gekommen war, ist zu entnehmen, dass Eltern kein Recht darauf hatten, ihre im Heim befindlichen Kinder zu besuchen, geschweige denn, sie von dort zu sich zu nehmen. Vgl. Dimer, George: The Refugee Problem: Was It Tragedy or a Blessing in Disguise? Ms., Melbourne, Juli 2003. Ähnliche Regeln dürften im Radebeuler Heimkombinat gegolten haben. 86 Migrationsbiografie M. (Mutter). In: Dalianis: Ethnische Koloniebildung, S. 42. 87 Ebd., S. 41. 88 Stergiou: Die Beziehungen zwischen Griechenland und der DDR, S. 44.

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den Jahren 1941 bis 1944 erlebt, während der Wehrmacht- und SS-Einheiten griechische Zivilisten nach Gutdünken inhaftierten, folterten und erschossen sowie im Zuge von Strafaktionen ganze Dörfer niederbrannten. 89 Entsprechend war es Andreas Stergiou zufolge für etliche Kinder, die 1949/1950 in albanischen und bulgarischen Waisenhäusern, Heimen und Internaten lebten, „ein Schock, zu erfahren, dass sie nach Deutschland mussten.“ 90 Seitens der DDR-Behörden wurde die Deutschenfeindlichkeit unter den Flüchtlingskindern mit einem Tabu belegt, so dass sich in offiziellen Quellen kein unmittelbarer Niederschlag findet. Eine Ahnung von der Hilflosigkeit der deutschen Betreuer im Umgang mit diesem Problem vermittelt aber der Bericht eines Mitarbeiters der Volkssolidarität, dessen Frau als Erzieherin im Radebeuler Heimkombinat tätig war: Anfangs war es schwer mit den Kindern zurechtzukommen. Sie kamen hier nach Deutschland und trafen uns als Deutsche, die sie in Griechenland im Krieg als Gegner kannten. [. . . ] Meine Frau berichtete mir, dass sie die Erzieher anfangs spielerisch als ihre Gefangenen behandelt haben und sie im Spiel an den Baum banden. Und obwohl dies – wie gesagt – nur ein Spiel war, bekam man manchmal ein wenig Angst. 91

Der Fall der offiziell damals so genannten „Griechenlandkinder“ belegt augenfällig, was Jan C. Behrends, Dennis Kuck und Patrice G. Poutrus in einem 2000 veröffentlichten Thesenpapier über „Historische Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in den neuen Bundesländern“ konstatiert haben, nämlich dass Konflikte zwischen Deutschen und „Fremden“ tabuisiert waren, sich entsprechend „keine Konfliktkultur und keine gesellschaftliche Toleranz entwickeln“ konnten. Stattdessen waren Partei und Staat bemüht, „durch die Kasernierung der ‚Fremden‘ die Kontaktfelder zu minimieren.“ 92 Die Aversion gegen Deutschland und die Deutschen führte in Kombination mit der rigiden Durchsetzung deutscher Erziehungsideale wie Ruhe, Ordnung, Sauberkeit, Tischsitten u. a. bei den durch Verlust der Familie, durch Krieg, Flucht, Vertreibung, Unterernährung und Krankheiten traumatisierten Kindern und Jugendlichen in vielen Fällen zu erheblichen Konflikten mit ihren deutschen Erziehern, Lehrern und Ausbildern. Entsprechend drang der ständige Vertreter der KKE in der DDR, Georgiou, mehrfach darauf, „Mütter“, d. h. ältere Mädchen und junge Frauen, aus den Flüchtlingsunterkünften in den Volksdemokratien nach Radebeul zu schicken, um den hier lebenden Kindern und Jugendlichen emotionalen Halt zu geben. 93

89 Zu Strafaktionen der Wehrmacht in Griechenland siehe exemplarisch die Übersicht für den Zeitraum November 1943 bis Mai 1944 bei Fleischer, Hagen: Im Kreuzschatten der Mächte. Griechenland 1941–1944 (Okkupation – Resistance – Kollaboration). Frankfurt /M. u. a. 1986, Bd I, S. 363. 90 Stergiou: Die Beziehungen zwischen Griechenland und der DDR, S. 38. 91 VI. Interview (Herr Noak – Dresden) ehemaliger Mitarbeiter der Volkssolidarität. In: Rosjat: Die griechischen Bürgerkriegsflüchtlinge, S. 57. 92 Behrends, Jan C., Dennis Kuck, Patrice G. Poutrus: Historische Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in den neuen Bundesländern. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 2000, B 39, S. 15–21, hier S. 15. Dass. in Behrends, Lindenberger, Poutrus (Hrsg.): Fremde und Fremd-Sein in der DDR, S. 327–333. 93 Stergiou: Die Beziehungen zwischen Griechenland und der DDR, S. 39.

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Allerdings ist auch die Wirkung der erheblichen Verbesserung der Lebensbedingungen, welche mit der Verlegung der Flüchtlingskinder aus Albanien und Bulgarien nach Sachsen einherging, nicht zu unterschätzen. Drei Voll- und zwei Zwischenmahlzeiten am Tag, ärztliche Betreuung, Heizung, Bettlaken und Badewannen waren für sämtliche Kinder und Jugendliche – neben der für die meisten erstmaligen Erfahrung des Lernens – etwas gänzlich Neues im positiven Sinne. Und wie in autobiographischen Berichten von Bürgerkriegsflüchtlingen in den Volksdemokratien figuriert der Tag, an dem sie ihre über Monate, gar Jahre getragenen, zerschlissenen, verschmutzten sowie von Läusen wimmelnden Lumpen endgültig ablegen durften und neue Kleidung erhielten, als Wendepunkt im eigenen Leben. 94 „Through this process, which could be understood as a rite of passage,“ so die niederländische Ethnologin Riki van Boeschoten über die Makedonier unter den Bürgerkriegsflüchtlingen in Ostmitteleuropa, „they were reborn as extralocal, deterritorialised subjects.“ 95 Und in einer Reihe von Fällen waren es offensichtlich eben diese besseren Lebensbedingungen, welche Kinder und Jugendliche etwa in bulgarischen Heimen bewogen, sich freiwillig zur Verschickung in die DDR zu melden. 96 Mitunter ging die Initiative dazu auch von Eltern(teilen) aus, so im Falle des Flüchtlings A., der 1948 als Achtjähriger mit Eltern und Geschwistern aus dem nordostgriechischen Komotini nach Bulgarien gekommen war und – ungeachtet seines späteren Verlassens der DDR in Richtung Bundesrepublik – positive Erinnerungen an seine DDR-Jugend hat: In Bulgarien wurden die Familienmitglieder getrennt; alle vier Kinder wurden mit Einwilligung der Eltern in die DDR geschickt, um dort die Schule zu besuchen und eine qualifizierte Ausbildung zu erwerben. [. . . ] Sie wohnten in Heimen mit anderen Flüchtlingen. Herr A. erinnert sich mit einem Behaglichkeitsgefühl an diese Zeit, die er zu seinem besten Lebensabschnitt zählt. [. . . ] Weder während der Schul- bzw. Ausbildungszeit noch später in seinem Berufsleben hatte er das Gefühl, ungleich behandelt worden zu sein, weil er kein Deutscher war. 97

Während es für die Anfangsjahre keine aussagekräftigen statistischen Angaben zu den Flüchtlingen aus Griechenland in der SBZ/DDR gibt, existiert für das Jahr 1958 eine detaillierte Aufstellung über regionale Verteilung und Berufsstruktur der damals 1218 Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Die große Mehrheit von ihnen lebte im historischen Sachsen, nämlich 490 in Radebeul und Dresden, 263 in Leipzig und 182 in Karl-Marx-Stadt. Mittelgroße Gruppen von 20 bis 40 Personen gab es in Zwickau und Bad Dürrenberg sowie weiter entfernt in Magdeburg, in der

94 V. Interview (Frau Miltsakakis – Berlin). In: Rosjat: Die griechischen Bürgerkriegsflüchtlinge, S. 55. 95 Boeschoten: „Unity and Brotherhood“?. 96 Information von Alkis Vlassakakis (Wien) über seinen seit 1949 in einem bulgarischen Kinderheim lebenden Vater, der mit Erfolg große Anstrengungen unternommen hatte, um einen Platz in dem Transport zu erhalten, der im Sommer 1950 nach Deutschland abging. 97 4. Interview (Herr A., 48 Jahre alt, verheiratet, eine Tochter, zum Interview zusammen mit seiner Frau gekommen). In: Ruwe: Griechische Bürgerkriegsflüchtlinge, S. 60.

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Stadt Brandenburg und im sowjetischen Sektor Berlins. In etwa 30 weiteren Städten und einigen Dörfern lebten jeweils ein bis zehn Flüchtlinge. 98 Anderen Quellen zufolge jedoch waren auch in einer Reihe weiterer Städte, vor allem in solchen mit weiterführenden Bildungseinrichtungen, Bürgerkriegsflüchtlinge aus Griechenland ansässig. Der Grund dafür, dass diese Orte nicht in der Übersicht von 1959 auftauchten, war der, dass das Radebeuler Heimkombinat als sogenanntes Stammheim auch für andernorts in Ausbildung befindliche Jugendliche fungierte, diese also polizeilich weiterhin in Radebeul gemeldet waren. 771 der 1959 gezählten 1218 Flüchtlinge befanden sich in einem Arbeitsverhältnis, davon 589 als Arbeiter in der Produktion, 162 in Berufen wie Ingenieur, Lehrer, Krankenschwester, Kindergärtnerin u. a. und 20 wurden der Intelligenz zugerechnet. Die restlichen 447 waren Studenten, Fachhochschüler, Lehrlinge, Schüler, Kinder unter sechs Jahren und Nichtberufstätige, d. h. Kriegsinvaliden, Pensionäre und Hausfrauen. 36 Flüchtlinge wurden als (offensichtlich vorübergehend) in der Bundesrepublik lebend geführt, 130 hielten sich in den Volksdemokratien und ein einzelner in Griechenland auf. 414 Personen, also ein Drittel, waren entweder Mitglieder oder Kandidaten der SED. 99 Die regionale Konzentration der Bürgerkriegsflüchtlinge aus Griechenland auf die drei sächsischen DDR-Bezirke Dresden, Leipzig und Karl-Marx-Stadt, die sich 1949/1950 zunächst aus praktischen Gründen ergeben hatte, wurde gegen Ende der fünfziger Jahre mit administrativen Maßnahmen forciert. Gründe dafür wurden seinerzeit nicht genannt. Lediglich zu vermuten ist, dass auch diese Gruppe gemäß der bereits genannten Maxime im Umgang mit Kinder und Jugendlichen aus dem Ausland in gewisser Weise versteckt und vor allem von der von außen einsehbaren „Hauptstadt der DDR“ ferngehalten werden sollte. Die Akkulturationsprobleme der seitens der DDR als „Griechen ohne Heimat“ 100, d. h. staatenlose Politemigranten eingestuften Flüchtlingskinder und -jugendlichen, die sich in der ersten Zeit nach ihrer Ankunft in der SBZ/DDR abzeichneten, verstärkten sich mit zunehmendem Alter. Dabei spielte auch der Umstand eine Rolle, dass die Rückkehrperspektive durch die fortschreitende Blockkonfrontation immer illusorischer wurde. Die in den sechziger Jahren sämtlich volljährig gewordenen „Griechenlandkinder“ erwiesen sich für die DDR nun großteils als schwierige Gäste. 101 Allerdings ließen die Annäherung der DDR-Diplomatie an das Athener

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Heimkombinat „Freies Griechenland“: Aufstellung der Gesamtstärke der griechisch-politischen Emigranten in der DDR, Radebeul, 16. Januar 1959. In: Sächsisches Hauptstaatsarchiv, SED-Bezirksleitung Dresden, Bezirksparteiarchiv, Teilbestand Internationale Verbindungen, Aktentitel „Arbeit mit griechischen Patrioten, 1957–1962“, IV /2.18.008. 99 Ebd. Vgl. auch einen zusammenfassenden Brief von Kostas Dzikas vom Heimkombinat „Freies Griechenland“ an die Abteilung Internationale Beziehungen des ZK der SED, Radebeul, 16. Januar 1959. Ebd. 100 Stergiou: Die Beziehungen zwischen Griechenland und der DDR, S. 45, und Poutrus: Mit strengem Blick, S. 231. 101 Siehe dazu Troebst: Evacuation to a Cold Country; ders.: Von Epirus ins Elbtal; sowie ders.: Schwierige Gäste: Politische Emigranten aus Griechenland in der DDR 1949–1989. In: DeutschlandArchiv 38 (2005), H. 1, S. 93–101.

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Junta-Regime 1973/1974, vor allem aber die Machtübernahme durch die Panhellenische Sozialistische Bewegung (PASOK) Andreas Papandreous 1981 die Remigrationsoption realistisch werden. Bis zur Mitte der achtziger Jahre hatten fast alle Bürgerkriegsflüchtlinge aus Griechenland und ihre Familien den deutschen Halbstaat in Richtung ihrer nun fremden Heimat wieder verlassen.

Herz, Darm und DDR – Arno Schmidt 1956 – Borodziej zum 60. Geburtstag am 9. September 2016 W lodzimierz

[2016] Arno Otto Schmidt – niemiecki pisarz [. . . ]. Wyraz˙ ał [. . . ] swój krytyczny stosunek do niemieckiej historii i współczesno´sci. W Polsce mało znany. https://pl.wikipedia.org/wiki/Arno_Schmidt 1

I. Anfang 1956, kurz nach meinem zweiten Geburtstag und wenige Wochen vor Nikita Sergeeviˇc Chrušˇcëvs grundstürzender Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU, trat die Weltgeschichte mit Aplomb in mein Leben: Mein Kindermädchen Erika Rothfuß, Tochter einer in unserem nordbadischen Pfarrhaus einquartierten Optanten-Großfamilie aus Bessarabien, packte mich urplötzlich und schleppte mich zum Hoftor, wo eine Kolonne US-amerikanischer M 48-Kampfpanzer die Dorfstraße entlang donnerte. Erikas ekstatisches Rufen in Richtung der aus den Turmluken blickenden Richtschützen „Ami, gib mir Kaugummi!“ erbrachte zwar den erwünschten Erfolg, doch wurde ich selbst zu meiner großen Enttäuschung für zu klein erklärt, um Wrigley’s Chewing Gum bereits sachgemäß zu konsumieren. Dennoch verdanke ich Erika viel, rettete sie mich doch einmal vor einer bedrohlich zischenden Gänseherde auf der benachbarten Obstwiese und bewahrte mich überdies gleich mehrfach vor dem Sturz in die offene Jauchegrube hinter dem Haus. Die dort zur Anwendung kommende Schöpfkelle hatte ein findiger Geist aus einem Besenstiel und einem Wehrmachts-Stahlhelm gebastelt. Obwohl in meinem seinerzeitigen familiären und sozialen Umfeld Termini wie „Zusammenbruch“, „dreigeteilt“, „Besatzung“, „Kollektivschuld“ oder „Kalter Krieg“ nicht gang und gäbe zu sein schienen – ich erinnere mich lediglich vage an „Zone“, „Adenauer“, „Spätheimkehrer“, „Zoffjettz“ (recte: Sowjets, die ich aber schon vor dem Eindringen des jiddischen Wortes „Zoff“ in die [west-]deutsche Umgangssprache mit dem Veranstalten desselben assoziierte) sowie vor allem an das enigmatische „08/15“ –, stieg in mir doch eine diffuse Ahnung davon auf, dass jenseits der Tabakschuppen am Ortsrand etwas Anderes, Unbekanntes und Großes sein müsse. Manchmal kamen sogar seine Ausläufer zu uns, etwa in Gestalt der US-amerikanischen TV-Serie Abenteuer unter Wasser, die ich allsamstagabendlich 1

„Arno Otto Schmidt – deutscher Schriftsteller. Brachte seine kritische Haltung zur deutschen Geschichte und Gegenwart zum Ausdruck. Ist in Polen wenig bekannt.“

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bei meinem Freund Klaus Nuding, Sohn des Besitzers nicht nur einer Getreidemühle, sondern sogar eines Fernsehapparates, schwarz-weiß natürlich, sehen durfte – passenderweise vor dem rituellen wöchentlichen Wannenbad. Während das seinerzeitige Tagesthema der Wiederbewaffnung und der Gründung der neuen Bundeswehr als solches an mir vorbei ging, erinnere ich mich deutlich an den häufig gehörten Begriff der „Musterung“, den ich allerdings irrtümlich mit dem mehrfarbigen Faltenrock meiner Schwester assoziierte. Auch wurde das Abstraktum „Politik“ von den Erwachsenen meines Umfeldes entweder nicht genannt oder aber, was wahrscheinlicher ist, von mir nicht dekodiert. Im Nachhinein erschließt sich mir indes, dass meine Eltern und ihre Freunde und Bekannten, nicht zuletzt auch meine väterlichen Großeltern, häufig über Bundes-, Welt- und Vergangenheitspolitik diskutiert, vor allem auch gestritten haben. Den Hauch einer Ahnung von all dem habe ich wohl im Sommer 1956 bekommen, als Freya von Moltke – eine gleichsam außerirdisch-damenhafte Erscheinung – auf Einladung meines Vaters beim evangelischen Männerkreis in unserem Konfirmandensaal referierte. Vom Inhalt ihres Vortrages partiell überfordert, inspizierte ich ausgiebig den schwarzen Mercedes-Benz 170, mit dem sie aus dem benachbarten Heidelberg angereist war. Besonders beeindruckten mich die gewaltigen geschwungenen Kotflügel samt aufgesetzten Scheinwerfern des imposanten Fahrzeugs. Umso größer war dann die Enttäuschung über den dunkelblauen FIAT 600, mit dem mein Großvater mit dem Stolz des Erstautobesitzers im Spätherbst auf unseren Hof fuhr. Dass dieser italienische Kleinwagen dem sowjetischen Zaporožec ZAZ 965, so benannt nach der Produktionsstätte in Zaporož’e in der Ukrainischen SSR, als Vorbild diente, gar eine bis 1985 anhaltende jugoslawische Lizenzkarriere im serbischen Kragujevac unter der Typenbezeichnung Zastava („Banner“) machen würde, blieb mir seinerzeit nahe liegender Weise verschlossen, hätte wohl aber nichts an meiner Geringschätzung des buckligen Gefährts geändert. Und dann war das Jahr 1956 auch schon vorüber.

II. Ungeachtet dieser bis in unser Kraichgauer Kuhdorf dringenden schwachen Echos der großen weiten Welt blieb mir die literarische Erschütterung des Jahres 1956, welche die junge Bundesrepublik ereilte, seinerzeit verborgen: die mitunter hysterische Aufregung über den im Oktober dieses Jahres im nur wenige Dutzend Kilometer Luftlinie entfernten Karlsruher Stahlberg Verlag erschienenen Roman Das steinerne Herz von Arno Schmidt (1914–1979). 2 Vielmehr dauerte es geschlagene 23 Jahre, bis ich davon erfuhr, um mich dann allerdings umgehend an die nicht ganz einfache Lektüre zu machen. Die genaue Wirkung dieses Leseerlebnisses kann ich heute,

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Schmidt, Arno: Das steinerne Herz. Historischer Roman aus dem Jahre 1954. Karlsruhe 1956.

Herz, Darm und DDR – Arno Schmidt 1956

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im Rückblick von 37 Jahren, nicht mehr präzise rekonstruieren. 3 Bleibend ist jedoch seitdem das lebhafte Interesse am gesamten Œuvre dieses hochgradig unkonventionellen Schriftstellers, das auch sein literaturwissenschaftliches Umfeld einschließt – bis hin zu einem Abonnement des Bargfelder Boten, der nach Schmidts letztem Wohnort, einem Heidedorf bei Celle in Niedersachsen, benannten Hauspostille der Arno-Schmidt-„Gemeinde“. Und ich verhehle nicht meine Befriedigung darüber, dass Schmidt im Unterschied zu damals nicht länger als exzentrischer Kauz, gar als misanthropischer Kotzbrocken, sondern mittlerweile – und verdientermaßen – als einer der Großen der deutschen Nachkriegsliteratur gilt. Um nun das Rätsel des Titels diese Beitrags aufzulösen: Das „Herz“ ist natürlich Arno Schmidt steinernes; „Darm“ meint das südhessische Darmstadt, wohin Schmidt mit seiner Frau Alice geb. Murawski (1916–1983) 1955 unfreiwillig gezogen war und in einem langen Brief vom November 1956 an seiner Künstlerfreund, den Maler Eberhard Schlotter (1921–2014), seinen neuen Wohnort ebenso despektierlich wie assoziativ „Am Darm“ lozierte 4; und mit „DDR“ ist selbstredend die gleichfalls junge und sich zielstrebig-irreführend so bezeichnende Deutsche Demokratische Republik gemeint, die in Schmidts nur vorgeblich „historischem“ Roman eine prominente, zu Teilen sogar attraktive Rolle spielt.

III. Was ist nun an diesem vor 60 Jahren erschienenen relativ schmalen Roman-Bändchen so besonders, als dass man ihm einen Beitrag zum Sexagenarium eines polnischen Historikers widmen müsste? Da wären gleich mehrere Gründe zu nennen: Erstens figurierte der östliche deutsche Halbstaat darin erstmals in der Nachkriegsliteratur des westlichen Pendants, und dies vor den im Herbst 1959 erschienenen aufsehenerregenden Mutmaßungen über Jakob des (zu seinem eigenen Leidwesen so apostrophierten) „Dichters der beiden Deutschlands“ Uwe Johnson (1934–1984) 5, ja, selbst noch vor der Fertigstellung des Manuskripts von Johnsons seinerzeit unveröffentlicht gebliebenem autobiographischem Roman Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953, dessen Thema ebenfalls die Teilung Deutschlands war. 6 Hans Magnus Enzensberger 3 4

5 6

Mein (erstes) Exemplar des Steinernen Herzens, das Fischer Taschenbuch 802, damaliger Ladenpreis DM 3.80, trägt den handschriftlichen Kaufvermerk „Berlin Januar 1979“. Brief Nr. 9: Arno Schmidt an Eberhard und Dorothea Schlotter. Darmstadt, den 25. November 1956. In: Schmidt, Arno: Der Briefwechsel mit Eberhard Schlotter. Mit einigen Briefen von und an Alice Schmidt und Dorothea Schlotter. Hrsg. v. Bernd Rauschenbach. Zürich 1991, S. 16–24. Für seinen Wohnort der Jahre 1955–1958 hegte Schmidt entsprechend wenig Sympathie: „KARL MAY soll, nach dem ödestn Ort auf Erdn gefragt, immer ‚Guaymas in Sonora‘ geantwortet habm – (Dû=würdesD ‚Darmstadt‘ sagn, Ich weiß)“. Siehe Schmidt, Arno: Zettel’s Traum. Karlsruhe 1970, S. 997. Johnson, Uwe: Mutmaßungen über Jakob. Roman. Frankfurt /M. 1959. Johnson, Uwe: Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953. Frankfurt /M. 1985. Dieser erste Roman Uwe Johnsons entstand zwischen 1953 und 1956. – Sowohl für Schmidt- wie für Johnson-Adepten keine Überraschung ist, dass das einzige belegte Treffen der beiden Genannten, im März 1964 im

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stellte daher bereits 1959 zu Recht fest: „Die Tatsache, daß es zwei Deutschland gibt, ist bisher nur in einem einzigen Buch unserer Literatur, dem Steinernen Herzen von Arno Schmidt, [. . . ] in Erscheinung getreten.“ 7 Und Jan Philipp Reemtsma sieht im „Deutsch-Ost-West-Roman“ Das steinerne Herz „den ersten von vier ‚SpaltungsRomanen‘ Schmidts“. 8 Zweitens ist der Adressat der Festschrift ein Zeithistoriker, der sich auch und gerade mit der Geschichte eben dieser beiden Deutschlands nach 1945 sowie mit der polnisch-deutschen Beziehungsgeschichte in der deutschen Teilungszeit, desgleichen davor wie danach, intensiv befasst hat. Erinnert sei hier lediglich an seine Edition des bizarren Gespräches vom Frühjahr 1990 zwischen dem kommunistischen Übergangs-Staatspräsidenten Polens, Armeegeneral Wojciech Jaruzelski, und dem damaligen SPD-Präsidiumsmitglied und saarländischem Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine über die deutsche Frage in einem Klaus Zernack zum 70. Geburtstag gewidmeten Themenheft sowie an eine Dokumentation über die Volksrepublik Polen im Visier des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. 9 Und drittens enthält Schmidts Roman eine der drastischsten Schilderungen des Schicksals der deutschen Bevölkerung Niederschlesiens nach dem Einmarsch der Roten Armee und dem Nachrücken polnischer Miliz samt anschließender Vertreibung – auch das ein durch und durch Borodziej’sches Thema 10, dem sich Schmidt bereits in früheren Romanen gewidmet hatte. Einer neueren Gesamtdarstellung zur Geschichte der deutschen Gegenwartsliteratur zufolge war er damit „[d]er Erste, der das große, schwere Thema der Vertreibungen in einem Buch (Die Umsiedler, [Frankfurt /M.] 1953) bändigte“. 11 Viertens, und das ist jetzt eine rein subjektive Einschätzung, ist der bissig-

Westteil Berlins, unharmonisch verlief. Vgl. Neumann, Uwe: Gipfeltreffen? Uwe Johnson begegnet Arno Schmidt. In: Johnson-Jahrbuch 9 (2002), S. 25–46. 7 Enzensberger, Hans Magnus: Die große Ausnahme. In: Über Uwe Johnson. Hrsg. v. Raimund Fellinger. Frankfurt /M. 1992, S. 55–60, hier S. 56 (Erstveröffentlichung in Frankfurter Hefte vom Dezember 1959). 8 Reemtsma, Jan Philipp: Arno Schmidts Nachkriegsdeutschland. In: Ders.: Über Arno Schmidt. Vermessungen eines poetischen Terrains. Frankfurt /M. 2006, S. 98–117, hier S. 110. Reemtsma nennt aus dem Schmidt’schen Œuvre des Weiteren Die Gelehrtenrepublik (1957), KAFF auch Mare Crisium (1960) und Die Schule der Atheisten (1972), deren Sujet gleichfalls die Teilung Deutschlands und der Welt im Kalten Krieg ist. 9 Borodziej, Włodzimierz: Das Gespräch zwischen Wojciech Jaruzelski und Oskar Lafontaine am 5. April 1990. Eine Dokumentation. In: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 50 (2001), H. 4, S. 557–571; und PRL v oczach Stasi. Hrsg. v. Włodzimierz Borodziej u. Jerzy Kochanowski. 2 Bde., Warszawa 1995–1996. Vgl. außerdem Deutsch-polnische Beziehungen 1939-1945-1949. Eine Einführung. Hrsg. v. Włodzimierz Borodziej u. Klaus Ziemer. Osnabrück 2000. 10 „Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden . . . “. Die Deutschen östlich von Oder und Neiße 1945–1950. Dokumente aus polnischen Archiven. Hrsg. v. Włodzimierz Borodziej u. Hans Lemberg. 4 Bände, Marburg 2000–2004. Polnische Ausgabe: „Nasza ojczyzna stała si˛e dla nas obcym pa´nstwem . . . “ Niemcy w Polsce 1945–1950. Wybór dokumentów. 4 Bde., Warszawa 2000–2001. 11 Weidermann, Volker: Lichtjahre. Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute. Köln 2006, S. 67–68. – Flucht und Vertreibung der Deutschen aus Niederschlesien hatte Schmidt allerdings schon in seinem Kurzroman Leviathan oder Die beste der Welten (Hamburg 1949) sowie in Brand’s Haide (Hamburg 1951) thematisiert. Nach dem Steinernen Herz griff er das Thema auch in KAFF auch Mare Crisium (Karlsruhe 1960) auf. Zum biographischen Hintergrund der weitgehend

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sarkastische Schmidt’sche Humor bis heute unübertroffen. Was fünftens einer von vielen Gründen dafür sein sollte, dass Schmidts Steinernes Herz endlich ins Polnische übersetzt wird, zumal es bereits in englischer (A Heart of Stone), französischer (Le Cœure de pierre), italienischer (Il cuore di pietra), spanischer (El corazón de piedra) und sogar russischer Übersetzung (Kamennoe serdce) vorliegt. Diesbezüglich sei die Prognose gewagt, dass dadurch einige statische Elemente des polnischen Heterostereotyps über „die“ Deutschen, so etwa Militarismus, Phantasiedefizit, sexuelle Verklemmtheit, Humorlosigkeit u. v. a. m., in Bewegung gerieten. Der Gerechtigkeit halber sei jedoch angefügt, dass Jacek St. Buras’ Übersetzung von Schmidts im Folgejahr 1957 erschienenem und diesmal als Science Fiction getarntem neuerlichem Kalten Kriegsbuch Die Gelehrtenrepublik. Kurzroman aus den Roßbreiten das polnische Schmidt-Defizit bereits erheblich reduziert hat. 12 Buras ist zugleich der Autor eines kundigen Überblicks über die Schmidt-Rezeption in ´ aski Polen. 13 Überdies ist auf die Verwaltung der Stadt Luba´n Sl ˛ in der polnischen ´ Wojewodschaft Dolny Slask ˛ (Niederschlesien) zu verweisen, die bereits 1999 an ihrem Rathaus eine Gedenktafel für den gebürtigen Hamburger Schmidt angebracht sowie darin ein Arno-Schmidt-Zimmer eingerichtet hat. 14 Denn dieser war 1928, im Alter von 14 Jahren, aus familiären Gründen aus Hamburg ins damalige deutsche Lauban verpflanzt worden, von wo aus er zunächst als Fahrschüler nach Görlitz, von 1934 bis 1938 dann als Berufspendler zum Textilgroßunternehmen Greiff-Werke AG (heute Greiff Mode GmbH & Co. KG in Bamberg) nach Greiffenberg, dem heutigen ´ aski, Gryfów Sl ˛ fuhr, bevor er in diese Stadt umzog. 15 Offenkundig ist die literarische Provinz Polens dem Zentrum um einiges voraus. Die Arno-Schmidt-Philologie, die bis 1989 eine (Rand-)Domäne der westdeutschen Literaturwissenschaft war, da die entsprechenden Texte ab 1961 für ostdeutsche Fachvertreter sowie natürlich Leser kaum mehr, ab den frühen 1980er-Jahren

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identischen drei vertriebenen Frauengestalten Katrin (Die Umsiedler), Line Hübner (Das steinerne Herz) und Hertha Theunert (KAFF) siehe unten, Abschnitt VIII. Schmidt, Arno: Republika uczonych. Krótka powie´sc´ z obszaru ko´nskich szeroko´sci. Übersetzt von Jacek St. Buras. Warschau 2011. Buras, Jacek St.: Arno Schmidt in Polen. In: Arno Schmidt global. Eine Bestandsaufnahme der internationalen Rezeption 1950–2010. Hrsg. v. Friedhelm Rathjen. München 2010. S. 113–116. – Von literaturwissenschaftlicher Seite am intensivsten mit Schmidt hat sich die Lodscher Germanistin Małgorzata Półrola befasst. Vgl. ihre Dissertation: Die Erzählweise in den Kurzromanen von Arno Schmidt. Ms., Łód´z 1985. – Jacek St. Buras (Warschau), Petra Satow-Rauschenbach (Bargfeld), Marek Zybura (Wrocław), Andreas Lawaty (Lüneburg), Joanna Jabłkowska (Łód´z) und Hubert Orłowski (Pozna´n) sei für Hinweise zur Schmidt-Rezeption in Polen gedankt. Joachimsthaler, Jürgen: Philologie der Nachbarschaft. Erinnerungskultur, Literatur und Wissenschaft zwischen Deutschland und Polen. Würzburg 2007, S. 83; Buras: Arno Schmidt in Polen, S. 114 f. Vgl. auch eine von Jolanta Szpak im Laubaner Verlag „Omega“ initiierte Sammlung Schmidt’scher Kurzgeschichten: Schmidt, Arno: Siedemna´scie krótkich opowiada´n. Übersetzung Maria Bagrij-Szopi´nska. Luba´n 2006. „Wu Hi?“ Arno Schmidt in Görlitz Lauban Greiffenberg. Hrsg. v. Jan Philipp Reemtsma u. Bernd Rauschenbach. Zürich 1986; Schweikert, Rudi: Arno Schmidts Lauban. Die Stadt und der Kreis. Bilder und Daten. München 1990.

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dann immerhin eingeschränkt erreichbar waren 16, ist mittlerweile nahezu unüberschaubar. 17 Dies gilt auch und gerade für Das steinerne Herz, wohl wegen seines gegenwartsbezogenen und im Unterschied zur erwähnten Gelehrtenrepublik nichtfiktionalen Charakters. 1960 hat Schmidt dann in KAFF auch Mare Crisium beides, Weltraum-Science Fiction und niedersächsisch-provinzielle Non-Fiction, kombiniert, bevor 1970 mit dem Mammut-Opus Zettel’s Traum die Zeitenwende im Schmidt’schen Universum anbrach, zu der die gleichfalls großformatig-dreispaltigen Typoskriptbücher Die Schule der Atheisten (1972), Abend mit Goldrand (1975) und das posthume 100-Seiten Fragment Julia, oder die Gemälde (1983) zu rechnen sind. Unter expliziter Außerachtlassung des Prinzipienstreites in der Arno-SchmidtFangemeinde wie germanistischen Literaturwissenschaft darüber, ob der Autor der Vor-Zettel’s Traum-Epoche oder derjenigen des sperrigen Spätwerks der genialere sei, seien im Folgenden einige laienhafte, da lediglich auf Lektüre des besagten Steinernen Herzens sowie auf Heranziehung ausgewählter literatur- wie zeithistorischer Fachpublikationen gestützte Bemerkungen angebracht. Hilfreich dabei war neben Friedhelm Rathjens für Schmidt-„Neueinsteiger“, -„Fortgeschrittene“ und -„Profis“ gleichermaßen konzipierte konzise Orientierungshilfe für Erstleser und Wegweiser

16 In der 1982 (mit dem Erscheinungsjahr 1981) publizierten DDR-Anthologie zu Schmidts Frühwerk ist Das steinerne Herz, was Wunder, nicht enthalten, wie auch das dortige umfangreiche Nachwort darauf nicht eingeht: Witt, Hubert: Arno Schmidt für Leser. In: Schmidt, Arno: Aus dem Leben eines Fauns. Kurzromane. Leipzig 1981, S. 323–350. Vgl. auch eine zweite in der DDR erschienene Schmidt-Anthologie: Schmidt, Arno: Vom Grinsen des Weisen. Ausgewählte Funkessays. Auswahl und Nachwort von Bernd Leistner. Leipzig, Weimar 1982, sowie den Katalog zu einer im Juni 1989 in Wismar veranstalteten Ausstellung zu Schmidt: Abend mit Goldrand. Eine Ausstellung zum 10. Todestag von Arno Schmidt. Katalog und Dokumentation. Hrsg. v. Matthias Friedrich u. Jörg Drews. Berlin (Ost) 1990. Immerhin konnte kurz vor Torschluss eine bereits seit 1982 druckfertig vorliegende 2000 – Seiten-Auswahl aus Schmidts Œuvre vor seine Großtyposkripten endlich bei „Volk und Welt“ erscheinen: Schmidt, Arno: Ausgewählte Werke in 3 Bänden. Hrsg. v. Chris Hirte. Berlin (Ost) 1990. Deren erster Band enthält auch Das Steinerne Herz (S. 505–715). – Zum amtlichnegativen Schmidt-Bild in der DDR vgl. Hirte, Chris: Arno-Schmidt-Rezeption in der DDR. Ein Bericht. In: Bargfelder Bote, Lieferung 168–169, 1992, S. 3–20, und Sinram, Peter: „Er war ihm zu ähnlich“. Einige Bemerkungen über den Umgang der DDR mit Arno Schmidt. In: Zettelkasten 18 (1999), S. 293–312. 17 Bock, Hans-Michael: Bibliographie Arno Schmidt 1949–1978. München, 2. Aufl. 1979; Schardt, Michael Matthias: Bibliographie Arno Schmidt 1979 – (7)1985. Mit Ergänzungen und Verbesserungen zur Arno-Schmidt-Bibliographie 1949–1978. Aachen 1985; Müther, Karl-Heinz: Bibliographie Arno Schmidt 1949–2001. Bielefeld 2003 (http://www.gasl.org/muether/mueges.pdf, letzter Zugriff: 05. 10. 2016) samt etlichen, die Literatur bis einschließlich 2013 erfassenden Nachlieferungen (http:// www.gasl.org, letzter Zugriff: 05. 10. 2016). – „Zentralorgane“ der Arno-Schmidt-Philologen wie -Anhänger sind Bargfelder Bote. Materialien zum Werk Arno Schmidts (1972 ff.) sowie Zettelkasten. Jahrbuch der Gesellschaft der Arno-Schmidt-Leser (1986 ff.). – Zur Biographie vgl. Proß, Wolfgang: Arno Schmidt. München 1980; und Martynkewicz, Wolfgang: Arno Schmidt. Reinbek 1992. Besonders informativ sind auch zwei Ausstellungskataloge: Arno Schmidt (1914–1979). Katalog zu Leben und Werk. Zusammengestellt von Axel Dunker. München 1990; und Fischer, Susanne u. a.: Arno Schmidt? – Allerdings! Eine Ausstellung der Arno Schmidt Stiftung, Bargfeld, im Schiller-Nationalmuseum, Marbach am Neckar. Marbach 2006.

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im Literaturdschungel mit dem appellativen Obertitel Arno Schmidt lesen! 18 vor allem der von dem Münsteraner Germanisten Josef Huerkamp unter dem Titel „Die große Kartei“. Enzyklopädie zu Arno Schmidts Roman „Das steinerne Herz“ auf über 900 Druckseiten angestellte akribische „Versuch, den Zitatismus des ‚Steinernen Herzens‘ freizulegen, in dem er zu einen die Verortung dieser Prosa im Bildungskosmos Arno Schmidts ausweist und zum anderen zeitgenössische wie autobiographische Quellen beibringt, welche die verständige Lektüre [. . . ] ermöglichen können.“ 19 Huerkamp ist überdies der Initiator eines Albums zum Steinernen Herz, welches mittels zahlreicher Fotografien, Karten, Faksimile u. a. der Textoberfläche des Romans eine visuelle Dimension verleiht. 20

IV. Ende Juli 1955 wurde gegen den damals im rheinland-pfälzischen Kastel über der Saar wohnenden Arno Schmidt ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Trier wegen „Gotteslästerung“ und „Verbreitung unzüchtiger Schriften“ gemäß § 184 des Strafgesetzbuches eingeleitet. 21 Der Grund war Schmidts 1955 im ersten Heft der von Alfred Andersch herausgegebenen avantgardistischen Münchner Zeitschrift Texte und Zeichen erschienener Kurzroman Seelandschaft mit Pocahontas. Besonders moniert wurden von den Erstattern der Anzeigen, zwei Kölner Rechtsanwälten, Invektiven gegen den Katholizismus sowie das, was im Roman als „Oberschlesisches Liebesgeflüster“ bezeichnet wurde. 22 Am 22. August 1955 kam es zu einer

18 Rathjen, Friedhelm: Arno Schmidt lesen! Orientierungshilfe für Erstleser und Wegweiser im Literaturdschungel. Südwesthörn 2014. 19 Huerkamp, Josef: „Die große Kartei“. Enzyklopädie zu Arno Schmidt: Das steinerne Herz. München 2011, Buchrückseite. Vgl. auch ders.: Toreutische Arbeit. Der „Zitatismus“ in Arno Schmidts historischem Roman: „Das steinerne Herz“. München 2011; sowie ders.: Nr. 8. Materialien und Kommentar zu Arno Schmidts „Das steinerne Herz“. München 1979. 20 Bilderkacheln. Das Album zu Arno Schmidts Roman „Das steinerne Herz“. Hrsg. v. Josef Huerkamp u. a. München 2004. 21 Schmidts Handakte zum Verfahren ist als Faksimile wiedergegeben in: In Sachen Arno Schmidt ./. Prozesse 1 & 2. Hrsg. v. Jan Philipp Reemtsma u. Georg Eyring. Zürich 1988, S. 97–191. Vgl. auch Felten, Georges: Kunst oder Verbrechen? Vor sechzig Jahren geriet Arno Schmidt ins Visier der deutschen Justiz: Sein Roman „Seelandschaft mit Pocahontas“ stand im Verdacht, Pornographie und Gotteslästerung zu verbreiten. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 170 vom 23. Juli 2016, S. 16. Vgl. dazu auch den Leserbrief des Vorstands der Arno Schmidt Stiftung: Rauschenbach, Bernd: Arno Schmidt und das Erzbistum Köln. Ebd., Nr. 174 vom 28. Juli 2016, S. 35. 22 „Warum nimmstu Fin-gärr?: Nimm doch Ihn!“ Hier zit. nach Schmidt, Arno: Seelandschaft mit Pocahontas. In: Ders.: Enthymesis. Leviathan. Gadir. Alexander. Brand’s Haide. Schwarze Spiegel. Umsiedler. Faun. Pocahontas. Kosmas. Red. Wolfgang Schlüter. Zürich 1987, S. 391–437, hier S. 399 (Bargfelder Ausgabe). Vgl. dazu auch Arno Schmidts „Seelandschaft mit Pocahontas“. Zettel und andere Materialien. Mit Vierfarb-Faksimiles von Zetteln, Materialien und Manuskript. Hrsg. v, Susanne Fischer u. Bernd Rauschenbach. Zürich 2000.

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eingehenden Vernehmung Schmidts durch das Amtsgericht Saarburg 23, in welcher ihm mit einer Gefängnisstrafe von bis zu einem Jahr samt hoher Geldstrafe gedroht wurde. In der Anklageschrift vom 3. März 1956 wurde dann ihm und Andersch vorgeworfen, „daß sie öffentlich in beschimpfenden Äußerungen Gott lästerten, ein Ärgernis gegeben und öffentlich die christlichen Kirchen und ihre Einrichtungen und Gebräuche beschimpft“ sowie „eine unzüchtige Schrift verbreitet“ hätten. 24 Belegt wurde dies mit nicht weniger als 17 zum Teil ausführlichen Zitaten wie beispielsweise Schmidts Beschreibung einer Nonne samt Gefolge: „Gestalten mit wächsernem queren Jesusblick, Kreuze wippten durcheinander, der suwaweiße Gürtelstrick (mit mehreren Knoten: ob das ne Art Dienstgradabzeichen iss?).“ 25 Oder dem Dialog von „2 Kinder[n], scheinbar Flüchtlinge“: „‚Gelobt sei Jees‘ Kristus: ‚wohin gehste denn?‘: ‚Nach Buttermilche in Ewichkeit Ahm‘“. 26 Entsprechend unterlag es in der Sicht der Staatsanwaltschaft „keinem Zweifel [. . . ], daß die Angeschuldigten bewußt die christlichen Religionsgemeinschaften und ihre Institutionen beschimpft und in schmähsüchtiger Weise über Gott etwas Verächtliches ausgesagt haben.“ 27 Das Vorgehen der Justiz hatte für den Autor zwei einschneidende Konsequenzen: Zum einen zog er auf den dringlichen Rat von Freunden hin hektisch aus dem als bigott-rigide geltenden Rheinland-Pfalz in das liberaler beleumundete Hessen um, eben nach Darmstadt – in der Hoffnung, dass dort eine Chance auf Einstellung des Verfahren gegen ihn bestünde. Und zum anderen bekam es der Stahlberg Verlag, in dem das Steinerne Herz erscheinen sollte, jetzt mit der Angst vor strafrechtlichen Weiterungen wegen „sozialwidriger sexualethnischer Anschauungen“ sowie politischen „Beleidigungstatbeständen“ im Schmidt’schen Manuskript zu tun. Vom Sommer 1955 bis zum Sommer 1956 schwebte das Damoklesschwert einer Haftstrafe samt Geldbuße über Schmidt. Überdies rang er die gesamte erste Hälfte des Jahres 1956 hindurch mit dem Stahlberg Verlag um 31 monierte „sexuell anstößige“ Stellen sowie „zeitgeschichtliche Allusionen und Freiheiten aus dem Munde der Erzählerfigur ‚Ich‘“ in der Endfassung des Steinernen Herzens. 28 Erst nachdem kein geringerer als der Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtkunst, der Schriftsteller und Fontane-Preisträger Hermann Kasack (1896–1966), dem Gericht ein acht(!)seitiges Gutachten übermittelt hatte, in welchem er Schmidts Er-

23 Vgl. dazu das Protokoll der „Beschuldigten-Vernehmung in der Untersuchung gegen Arno Schmidt“ durch Oberamtsrichter Dr. Kemper am Amtsgerichts Saarburg am 22. August 1955. In: In Sachen Arno Schmidt ./., S. 129–131. 24 Anklageschrift der Oberstaatsanwaltschaft Trier vom 3. März 1956. Ebd., S. 146–150. 25 Ebd., S. 149; und Schmidt: Seelandschaft mit Pocahontas, S. 393. – „Suwa“ war ein Waschmittel, das die Firma Sunlicht im Frühjahr 1950 auf den bundesrepublikanischen Markt brachte und mit dem Slogan „. . . soo weiss wäscht SUWA“ bewarb. 26 Ebd., S. 401. 27 Anklageschrift, S. 148. 28 Zit. nach Reemtsma, Jan Philipp: Zensur. In: In Sachen Arno Schmidt ./. Ebd., S. 193–224, hier S. 201–205. Vgl. auch Varianten-Apparat. In: Schmidt, Arno: Das steinerne Herz. Tina. Goethe. Die Gelehrtenrepublik. Red. Wolfgang Schlüter. Zürich 1986 (Bargfelder Ausgabe), S. 355–360, hier S. 357–360.

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zählung als „Sprachkunstwerk“ adelte 29, wurde das Verfahren am 26. Juli 1956 von der Staatsanwaltschaft Stuttgart, dem Wohnort Anderschs, eingestellt. 30 Bereits am 3. Juli 1956 hatte Schmidt die aus seiner Sicht auf mehrheitlich „läppischen“ juristischen Bedenken beruhenden Änderungsvorschläge des Stahlberg Verlages akzeptiert, um eine weitere Verzögerung der Veröffentlichung zu vermeiden. Auf dem bei seinem Freund Wilhelm Michels (1904–1988) deponierten Originalmanuskript hatte er vermerkt: „Wichtig, da ohne alle die im Buch von [StahlbergLektor und -Mitinhaber Ernst] Krawehl vorgenommenen Kastrierungen!“ 31 Und auf seinem Handexemplar notierte er: „Das Originalmanuskript hat durch den Verleger eine weitgehende politische Entschärfung erfahren, von der einseitig die Bundesrepublik profitiert hat. – Bei einer späteren Auflage also zu berichtigen; ebenso wie diverse Erotica im Urtext wieder herzustellen.“ 32 Schmidts Anweisung wurde posthum befolgt: In der von der Arno-Schmidt-Stiftung verantworteten sogenannten Bargfelder Ausgabe des Schmidt’schen Gesamtœuvres, die im Zürcher HaffmannsVerlag erschien, wurde dieser Urtext 1986 rekonstruiert – einschließlich des zensierten Zusatzes „nach Christi“ zur Jahreszahl 1954 im Titel. 33 Bemerkenswert, aber wohl auch typisch für Schmidt, war, dass er ungeachtet all dieser multiplen und existenzbedrohenden Probleme zeitgleich zwei seiner originellsten und witzigsten Erzählungen fertigstellte, TINA oder über die Unsterblichkeit 34 und Goethe und einer seiner Bewunderer 35, sowie zudem seine beiden unterhaltsam-hintersinnigen Kurgeschichtenzyklen Geschichten aus der Inselstraße und Stürenburg-Geschichten durch weitere Erzählungen ausweitete. Überdies stürzte er sich 1956 mit Verve auf die Materialsammlung für ein neues Romanprojekt, das er als sein Hauptwerk konzipierte: Lilienthal 1801, oder Die Astronomen. An der Fiktion einer Fertigstellung hielt er zeit seines Lebens fest, und dies ungeachtet des in den sechziger Jahren verfassten und 1970 erschienenen, über zehn Kilo schweren 1330-seitigem Folianten Zettel’s Traum und der weiteren drei genannten Großtypo-

29 Gutachten des Präsidenten der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Hermann Kasack. Stuttgart, 21. Juli 1956. In: In Sachen Arno Schmidt ./., S. 172–180. 30 Verfügung der Staatsanwaltschaft Stuttgart vom 25. Juli 1956 zur Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen Arno Schmidt und Alfred Andersch. Ebd., S. 181–187. 31 Zit. nach Varianten-Apparat, 355. 32 Ebd. 33 Schmidt, Arno: Das steinerne Herz. Historischer Roman aus dem Jahre 1954 nach Christi. In: Ders.: Das steinerne Herz. Tina. Goethe. Die Gelehrtenrepublik, S. 7–163 (Bargfelder Ausgabe). – Im Folgenden werden die wörtlichen Zitate aus Schmidts Steinernem Herzen nach der Bargfelder Ausgabe zitiert und die Belegstellen in runden Klammern eingefügt. Zu den zensierten Passagen sowie weiteren Änderungen vgl. den besagten Varianten-Apparat. 34 Schmidt, Arno: TINA oder über die Unsterblichkeit. In: Augenblick 2 (1956), Nr. 4, S. 13–28. Auch in ders.: Das steinerne Herz. Tina. Goethe. Die Gelehrtenrepublik, S. 165–187 (Bargfelder Ausgabe). 35 Schmidt, Arno: Goethe und Einer seiner Bewunderer. In: Texte und Zeichen 3 (1957), S. 232–264. Auch in ders.: Das steinerne Herz. Tina. Goethe. Die Gelehrtenrepublik, S. 189–220 (Bargfelder Ausgabe).

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skripte. Noch im Juni 1977, zwei Jahre vor seinem Tod, schrieb er an seinen Mäzen Jan Philipp Reemtsma: [W]enn ich mich (noch mehr als sonst) beeilte, könnte ich ’79 mit LILIENTHAL beginnen. Dann werde ich 65 sein, und in 8 bis 10 Jahren – oder nein: ich muß ehrlich=vorsichtig sein, und schreiben ‚in 10 bis 12‘ – würde es, mit seinen 1500 bis 1600 DIN A 3 Seiten, fertig daliegen. 36

Dazu kam es nicht mehr, war doch das Herz des Autors eben kein steinernes, sondern ein krankes.

V. Das mediale Echo auf das Steinerne Herz war in Deutschland West wie Ost ganz überwiegend ablehnend, partiell gar vernichtend. Mit „Auf den Abfallhalden der Sprache“ war die eingehende Besprechung des Feuilleton-Chefs der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Karl Korn (1908–1991), betitelt, während die Ostberliner Weltbühne den Verriss eines unter dem Pseudonym „Korbinian Nemo“ auftretenden Rezensenten mit „Dichtung oder hormonales Irresein?“ überschrieb. Ähnlich war der Tenor weiterer Rezensionen vor allem in Tageszeitungen. Der Titel der Besprechung im Mannheimer Morgen lautete „Gott schütze die deutsche Literatur“ 37, nämlich vor Arno Schmidt, und DIE WELT urteilte: „Lesern gängiger Epik wird dieses Buch einen Schüttelfrost einjagen. [. . . ]. Eine Prosa – wie durch den Starmix gejagt.“ 38 Selbst die sich seriös gebende Kulturpolitische Korrespondenz sprach von „frecher Irrenhauskunst“, „pathologischem Gekritzel“ und „dichterischem Kretinismus“. 39 Für das am Rande des Existenzminimums lebende Schriftstellerehepaar Arno und Alice Schmidt hatten die Androhung einer Gefängnis- samt Geldstrafe, die sich hinziehende Auseinandersetzung mit dem Stahlberg Verlag und der rezensionsbedingt literarische wie finanzielle Flop des Steinernen Herzens zwei ganz unterschiedliche

36 Auszug aus einem Brief von Arno Schmidt an Jan Philipp Reemtsma, Bargfeld, 16. Juni 1977. In: Chronologie einer Nicht-Entstehung. In: Arno Schmidts LILIENTHAL 1801, oder DIE ASTRONOMEN. Fragmente eines nicht geschriebenen Romans. Hrsg. v. Bernd Rauschenbach. Bargfeld 1996, S. 13–31, hier 31. – Zur „Nicht-Entstehungsgeschichte“ dieses Romans über den sich als Hobby-Astronom und Mond-Kartograph betätigenden Oberamtmann Johann Hieronymus Schroeter (1745–1816), dessen private Sternwarte in seinem Wohnort Lilienthal bei Bremen mit den größten Teleskopen seiner Zeit ausgerüstet war, vgl. Rauschenbach, Bernd: Das übernächste Buch. Ebd., S. 7– 12. 37 Über Arno Schmidt. Rezensionen vom „Leviathan“ bis zur „Julia“. Hrsg. v. Hans-Michael Bock. Zürich 1984, S. 48–69, hier S. 52–54, 57–59 und 65–68. Vgl. zu weiteren Rezensionen Bock: Bibliographie Arno Schmidt, S. 139–145; und Müther: Bibliographie Arno Schmidt, S. 122–134. 38 Über Arno Schmidt, S. 57. Siehe dazu die Glosse von Wollschläger, Hans: Wie DIE WELT es treibt. Zum STEINERNEN HERZ von Arno Schmidt. In: Ders.: Die Insel und einige andere Metaphern für Arno Schmidt. Göttingen 2008, S. 217–220 (Erstveröffentlichung als: Die Welt. In: Der Rabe. Magazin für jede Art von Literatur Nr. 500, Zürich 1987, S. 161–162). – „Starmix“ hieß ein von der bundesdeutschen Firma Electrostar produzierter elektrischer Küchenmixer. 39 Über Arno Schmidt, S. 62–64.

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Folgen: Zum einen wurde der bereits 1955, zu Beginn des Ermittlungsverfahrens um Seelandschaft mit Pocahontas, angedachte Plan einer Übersiedlung in die DDR wieder aufgenommen. Am 19. März 1956 notierte Alice Schmidt in ihrem Tagebuch: „A[rno]: ob man nicht doch nach d. Osten macht? Ehe ich mich hier 2 Jahre einsperren lasse?“ 40 Und neuerlich am 21. März: „A[rno]: wieder alles schief. Ob man nicht doch nach d. Osten geht?“ 41 Die Schmidts hatten im Sommer 1954 erstmals die Mutter Alice Schmidts, Else Murawski (1895–1978), in Ostberlin besucht, und zumindest er war mit relativ positiven Eindrücken zurückgekommen – siehe Steinernes Herz. Denn der dort geschilderte Aufenthalt des Ich-Erzählers Walter Eggers in der „Hauptstadt der DDR“ entspricht (wohl mit Ausnahme von Eggers’ semikriminellen Machenschaften in der Staatsbibliothek Unter den Linden) bis in Details der Darstellung der Schmidt’schen Sommerreise in Alice Schmidts Tagebuch. 42 Auf Anregung des Kollegen und Irland-Kenners Heinrich Böll 43 ventilierte Schmidt überdies den Plan einer Auswanderung auf diese Insel, wie eine temporär intensive Korrespondenz mit Böll und Aedan O’Beirne, Sekretär der Gesandtschaft Irlands in Bonn, belegt. 44 Und zum anderen beendete Alice Schmidt, die seit 1948 auf Anregung ihres Schriftstellergatten minutiös Tagebuch führte, am 3. Juli 1956, dem Tag des letzten Briefes ihres Mannes an den Stahlberg Verlag in Sachen Steinernes Herz, in welchem er zähneknirschend dessen Zensuransinnen schluckte 45, abrupt diese Gewohnheit – offenkundig deswegen. 46 Das mag auf den ersten Blick belanglos erscheinen. In Anbetracht von Schmidts seinerzeitiger Arbeitsweise, nämlich von seiner Ehefrau in ihrem Tagebuch penibel protokol-

40 Schmidt, Alice: Tagebuch aus dem Jahr 1956. Hrsg. v. Susanne Fischer. Bargfeld 2011, S. 95. 41 Ebd., S. 96. Die deutlich lebenspraktischere Tagebuchschreiberin fügte allerdings ihren eigenen Kommentar an: „Ist doch m. E. wahnsinn: Arno im Osten! [. . . ]. Der Osten ist nichts für Arno!“ Ebd., 97. 42 Schmidt, Alice: Tagebuch aus dem Jahr 1954. Hrsg. v. Susanne Fischer. Bargfeld 2004, S. 113–152. Der Besuch fand vom 28. Juli bis 3. August 1954 statt. Josef Huerkamp zufolge sind „Fiktion und Wirklichkeit“ bezüglich der Ostberlin-Episode „fast ununterscheidbar ähnlich“. Siehe dazu das Kapitel „Bei der ‚Ozon-Line‘ in Adlershof“. In: Bilderkacheln, S. 55–87, hier S. 68, sowie ausführlich Huerkamp: „Die große Kartei“, S. 325–629 („In Ostberlin-Adlershof: ‚Die Ozon-Line‘“) und S. 857– 858 („Die Sommerreise 1954“). 43 Böll, Heinrich: Irisches Tagebuch. Köln 1957. 44 Schmidt, Arno: Briefwechsel mit Kollegen. Hrsg. v. Gregor Strick. Frankfurt /M., 2007, S. 14– 28. Der Schriftverkehr Schmidts mit Böll und dem Gesandtschaftssekretär fand von Ende November 1956 bis Anfang Februar 1957 statt. – Bereits im September 1953 hatte Schmidt mit dem Gedanken an eine Übersiedlung in die Schweiz gespielt. Vgl. seinen Brief an das Schweizerische Generalkonsulat in Frankfurt /M. vom 19. September 1953 in: Arno Schmidt (1914–1979). Katalog zu Leben und Werk, S. 70. 45 Der Brief ist wiedergegeben in: In Sachen Arno Schmidt ./., S. 219–223. Seine dem „ostzonal-bearbeiteten Geschöpf“ Line Hübner in den Mund gelegte antibundesrepublikanische Attitüde verteidigte Schmidt hier damit, „daß ich mir in meinem Bericht jener kurzen Sommertage des Jahres 1954 eine Sachlichkeit auferlegte, wie sie dem Historiker, der im Jahre 2000 darüber berichten wird, wahrscheinlich nicht eignet!“ Ebd., S. 222. 46 Spreckelsen, Tilman: Wem widme ich mein steinernes Herz? Das Tagebuch von Alice Schmidt aus dem Jahr 1956. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 276 vom 26. November 2011, S. L 11. Vgl. auch Schmidt, Alice: Tagebuch aus dem Jahr 1956, S. 173.

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liertes persönliches Erleben zur Grundlage seiner literarischen Produktion zu machen – siehe Steinernes Herz –, ist hier jedoch ein deutlicher Bruch zu konstatieren.

VI. Der Bielefelder Germanist und engagierte Schmidt-Experte Jörg Drews (1938–2009) hat den Inhalt des Steinernen Herzens konzis wie folgt zusammengefasst: Hauptfigur und Ich-Erzähler des 1956 erschienenen Romans ist der 45-jährige Walter Eggers, Sammler von alten Folianten und hervorragender Kenner historischer und numismatischer Details der hannoverschen Landesgeschichte. Eggers, ein Fanatiker der Statistik und Kartographie, mietet sich in dem niedersächsischen Städtchen Ahlden bei der Familien Thumann ein; aufgrund der Abstammung Frau Thumanns von dem Statistiker Jansen vermutet er im Hause noch alte, von ihm leidenschaftlich gesuchte statistische Handbücher. Nach der Devise, dass der (Sammler-)Zweck die Mittel heilige, beginnt er ein Verhältnis mit Frieda Thumann, in deren Ehe mit dem Fernlastfahrer Karl Thumann es ohnehin schon kriselt. Er findet die gesuchten Bücher, verkauft einige Dubletten, verschafft so den Thumanns einen unerwarteten Nebenverdienst und fühlt sich in dem kleinbürgerlichen Milieu zunächst recht wohl: ‚Schlüssel zu einer Bücherkammer und ein strammes weißes Weib: was will man mehr als Mann?!‘ Um sich ein Exemplar der raren dritten Auflage eines Buches zu verschaffen, fährt er mit Karl nach Berlin, wohnt bei dessen Freundin Line Hübner im Osten der Stadt und vertauscht schließlich gerissen und betrügerisch in der Staatsbibliothek eine Dublette der zweiten Auflage mit dem gesuchten Band der dritten Auflage. Sein Aufenthalt in Berlin gibt ihm Gelegenheit, die Situation in den verschiedenen Sektoren der Stadt zu beobachten und über die Spaltung Deutschlands nachzudenken. Er konstatiert bezüglich der DDR die ‚Bildung eines neuen deutschsprachigen Teilstaates [. . . ] mit eigener handfester Halbkultur‘ und resümiert melancholisch zu ganz Deutschland: ‚Wenn ich nicht schon von Geburt Atheist wäre, würde mich der Anblick Deutschlands dazu machen!‘ 47 Nach Ahlden zurückgekehrt, will Eggers sich von den Thumanns absetzen, da er alles erreicht hat, was sein Sammlerherz begehrte. Er hilft ihnen noch, eine Sterbeurkunde zu fälschen, mit der Karl Line aus Ostberlin herausholt. Beim Einräumen eines Zimmers entdeckt Eggers im Hohlraum einer Zimmerdecke einen Schatz mit alten hannoverschen Gold- und Silbermünzen, von denen einige in Zusammenhang mit der um 1700 im Schloss von Ahlden gefangen gehaltenen Prinzessin Sophie Dorothea stehen. Dank seiner numismatischen Kenntnisse gelingt es Eggers, die Münzen günstig zu verkaufen; er beschließt, weiter im Hause Thumann auszuharren, da er auch von dem Goldfund profitiert und in gelehrtem Müßiggang sein Projekt einer Kartei aller wichtigen Personen des Königreichs Hannover verwirklichen kann. 48 47 In der unzensierten Fassung des Steineren Herzens ist von „Adenauer=Deutschland“ die Rede. Vgl. (21) und Varianten-Apparat, S. 357. – Zu Schmidts obsessiver Phobie gegen den rheinisch-katholischen ersten Bundeskanzler vgl. Huerkampf, Josef: „Andauernd Adenauer“. Vor gut 25 Jahre – am 19. April 1967 – verstarb der erste Kanzler der Bundesrepublik. In: Bargfelder Bote, Lieferung 172– 174, 1993, S. 33–40. 48 Drews, Jörg: Das steinerne Herz. Historischer Roman aus dem Jahre 1954. In: Kindlers Literaturlexikon. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. Bd. 14: Ror-Sez. Stuttgart, Weimar, 3. Aufl. 2009, S. 560– 561.

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Dass der kundige Drews die ausführliche Schilderung Line Hübners über ihre Erlebnisse im sowjetisch-polnischen Kondominium Niederschlesien der Jahre 1945–1947 übergeht, ist zwar mit Blick auf die Rekonstruktion des Handlungsstrangs nachvollziehbar. Dennoch kann dieses Vorgehen als implizite Kritik an einer vermeintlichen politischen Inkorrektheit des Autors gewertet werden. Jan Philipp Reemtsma hat diesbezüglich von „einem betrüblich einfachen Mechanismus“ gesprochen, den er mit der „generationenspezifischen Blindheit“ der 68er samt „‚politisch-korrekte[r]‘ Tabuisierung“ der von der Vätergeneration präferierten „Themen ‚Bombenkrieg‘, ‚Flucht und Vertreibung‘, ‚Russen in Berlin‘“ erklärt. 49

VII. Das mitunter verklärte DDR-Bild des Steinernen Herzens und seines Autors speiste sich nur zum Teil aus der 1954 erfolgten Autopsie, vor allem aber aus seiner Aversion gegen die „Bundesdiktatur“ (105): „[W]eil die Leute drüben so rührend ehrlich arbeiten; weil sie tapfer gottlos sind; und gegen den Rüstungsalp Adenauer“ wollte Schmidt der DDR „gern helfen“ (105). Immerhin war er sich seiner beträchtlichen Ignoranz bezüglich des real existierenden Sozialismus preußischer Prägung bewusst: „[W]as mich neugierig in die DDR führt, ist weniger die anziehende Kraft des Ostens – den ich ja kaum noch kenne! – als vielmehr die abstoßende des Westens!“ (79). Nach einem weiteren Ostberlin-Besuch von Arno und Alice Schmidt anlässlich ihrer Silberhochzeit Ende August 1962 schrieb er an seinen Freund Schlotter, die DDR habe auf ihn „wie ein durchaus konsolidiertes, wenn auch junges Staatswesen“ gewirkt. 50 Der Aufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR figuriert hingegen in Schmidts Werk und Korrespondenz ebenso wenig wie der Posener Aufstand in Polen 1956 oder die sowjetische Militärintervention in Ungarn vom selben Jahr. Ja, selbst zum Mauerbau von 1961 hat er sich nicht geäußert, sondern noch 1963 mit einer Übersiedlung in die DDR kokettiert: 49 Reemtsma, Jan Philipp: Die Fremden. In: Schmidt: Tagebuch aus dem Jahr 1954, S. 303–323, hier S. 316. 50 Brief Nr. 113: Arno Schmidt an Eberhard Schlotter. Bargfeld, den 31. August 1962. In: Schmidt: Briefwechsel mit Eberhard Schlotter, S. 210–212. – Weitere bei diesem zweiten Besuch gewonnene Eindrücke der ostdeutschen Variante des Staatsozialismus hat Schmidt in einem streckenweise peinlichen Text mit dem Titel „Nachschlagewerk im Werden“ im Mai-Heft der damals von der DDR kofinanzierten westdeutschen Studentenzeitschrift Konkret von 1963 wiedergegeben, wo es unter anderem heißt, „der Rumänische Sekt schmekkte, und die Bulgarischen Firsiche mundeten, (dagegen wirkten die mir vergleichbaren US-Konserven fade [. . . ].“ Hier zitiert nach dem Nachdruck: Schmidt, Arno: Nachschlagewerk im Werden. In: Ders: Deutsches Elend. 13 Erklärungen zur Lage der Nation. Hrsg. v Bernd Rauschenbach. Zürich 1984, S. 86–99, hier S. 88. Vgl. zu dieser zweiten innerdeutschen Reise auch „Sechs Fotos von Arno und Alice Schmidt in Ost-Berlin, August 1962“ in: Arno Schmidt (1914–1979). Katalog zu Leben und Werk, S. 99; sowie allgemein Czapla, Ralf Georg: „Die Zone ist nåh“. Die DDR in Arno Schmidts Texten der sechziger Jahre. In: Zettelkasten 12 (1993), S. 257–277, und zu Konkret Röhl, Bettina: So macht Kommunismus Spaß! Ulrike Meinhof, Klaus Rainer Röhl und die Akte Konkret. Hamburg 2006.

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Und da bekenne ich es denn ganz offen: wenn ich mich einst früher oder später (und ich fürchte immer, es werde ‚früher‘ sein) vor die Wahl gestellt sehen werde, zwischen einer dann vollausgebildeten braunen und schwarzen Diktatur (Generäle plus Katholiken) und einer ‚roten‘ –, tcha, dann werde ich, gemäß meinem Prinzip der ‚geringeren Denkhemmung‘, vermutlich den Osten wählen. Nicht jauchzend, wohlgemerkt, sonst wär’ ich ja längst ‚drüben‘; vielmehr wird es eine grausliche Wahl werden zwischen 2 ‚größeren Übeln‘ – : aber in Trans=Albingistan werden mir die Kinder auf der Straße hoffentlich nur ein dümmerliches ‚Formalist‘ hinterherrufen; während bei uns noch zusätzlich religiöser und nationaler Fanatismus über mich herfallen dürfte. 51

Der westdeutsche Halbstaat stellte sich dem Ex-Wehrmachtsoldaten Schmidt als Reinkarnation des preußischen Militarismus, gar des nationalsozialistischen „Dritten Reiches“ dar – eine Deutung, in der er sich durch den 1949 einsetzenden heftigen öffentlichen Streit über eine Wiederbewaffnung, den Eintritt in die NATO und durch die Gründung der Bundeswehr 1955, deren Führungsebenen durchgängig aus ehemaligen Wehrmachtsoffizieren bestanden, bestätigt sah. Doch auch die 1952 in der DDR formierte Kasernierte Volkspolizei wie die 1956 erfolgte Gründung der Nationalen Volksarmee wurden von ihm kritisch thematisiert, allerdings faktisch unzutreffend als bloße Reaktion auf die bundesdeutsche Aufrüstung gewertet (115). Ungeachtet provokativer Äußerungen wie derjenigen „daß ich jeden Morgen aufstehen, und mich freuen muß, daß es die Deutsche Demokratische Republik gibt!“ 52, reagierte er auf den Vorwurf, auf dem linken Auge blind zu sein, empfindlich: „Ich bedarf keiner Belehrung. Ich habe, vielleicht als Erster, in meinem ‚Steinernen Herzen‘ des Betrübten und Breiten beide geschildert, den Osten wie den Westen; ich kenne die Sch[w]ächen wie die Vorzüge von beiden.“ 53 Und in der Tat teilte er im Steinernen Herz gleichermaßen in beide Himmelsrichtungen aus: [D]er Westen mit seinem blödsinnigen Fritzwalter=kult! (Allerdings hier dann wieder: diese ‚Helden der Arbeit‘: anstatt die Leute ehrlich aufzuklären, daß Arbeit leider ein noch notwendiges Übel sei. – Immer noch ne ‚Sonderschicht für den Frieden‘: die haben ja auch n Knall!). (64 54)

Als in allen drei westalliierten Besatzungszonen bewanderter Schlesien-Flüchtling stieß ihm überdies die stiefmütterliche Behandlung der in SBZ und DDR euphemistisch als „Umsiedler“ bezeichneten deutschen Vertriebenen besonders sauer auf: „‚Nö: Flüchtlinge kriegen hier gar nichts‘ erwiderte [Line Hübner] trocken. (Im Westen hat immerhin wohl schon Jeder die ersten 150 Mark Hausratshilfe bekom-

51 Schmidt, Arno: „‚Wahrheit‘ –?“, seggt Pilatus, un grifflacht . . . In: Ders.: Deutsches Elend, S. 70– 84, hier S. 74 f. (Erstveröffentlichung in Die Zeit vom 19. Juli 1963). 52 Schmidt, Arno: Deutsches Elend. In: Ders.: Deutsches Elend, S. 7–14, hier S. 11. Erstveröffentlichung eines auf den 28. November 1957 datierten Textes. 53 Ebd., S. 13. 54 Friedrich „Fritz“ Walter (1920–2002) war Kapitän der deutschen Fußballnationalmannschaft, welche 1954 mittels des „Wunders von Bern“ die Weltmeisterschaft im Endspiel gegen Ungarn gewann.

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men!)“ (83), darunter die Schmidts. Und neben der Propaganda der Staatspartei und der defizitären Versorgungslage in der DDR – „H[andels]O[rganisation] = vom Staat organisierter Schwarzer Mark: bissige Preise und beamtenhaft faule Bedienung“ (81) – stieß er sich ganz besonders an der SED-Kunst- und Kulturpolitik: Denn in künstlerischer Hinsicht ist im Osten tatsächlich noch weniger ‚los‘, als im doch auch schon lächerlich dürftigen Westen. Kunst wäre so billig zu haben; und wird Euch Allen noch einmal teuer zu stehen kommen! Wie würdet Ihr auch im Westen als ‚frei‘ gelten müssen, wenn Ihr Euch eine hübsche Künstlerkolonie von 20 Mann hieltet; und die Echolosen getrost mal ein bißchen Unpopuläres sagen ließet. Aber wenn Ihr verlangt, daß auch jeder Künstler periodisch und gallionsfigurig sein Soll an linientreuem Kitt daher schwätzt: solange geltet Ihr bei allen guten Köpfen nur als brutal=komisch! (Und werdet langsam auf immer verdächtig: daß man mit Euch gar nicht arbeiten kann!) (89)

Die von den DDR-Medien evozierten „glückstrahlenden Gesichter unserer Arbeitersänger, =tänzer, =dichter, und =musiker’, in denen jetzt ‚unaufhaltsam schöpferische Kräfte frei wurden‘“, hielt er für „ausgesprochen ekelhaft, wie nur je zur K[raft]d[urch]F[reude]=Gruppenzeit Hitlers!“ (92). Besonders eingehend lässt sich der unschwer als Alter Ego des Autors zu erkennende Ich-Erzähler Walter Eggers darüber aus, dass Wahlen in der DDR weder frei noch geheim seien, sie dies aber in der Bundesrepublik „ooch nich“ wären (96–98, hier 97). Und selbst bei dem Schmidt abgrundtief verhassten Thema „Militär“ blitzt sein kaustischer Humor hervor: Was giebts Neues im Osten? [. . . ] ‚Der junge Eisendecher [. . . ] hat gestern n Gestellungsbefehl für die kasernierte Volkspolizei gekriegt.‘ [. . . ] ‚Dann erst hat sich rausgestellt, daß der von irgend einer Weststelle gefälscht war: im Großversand, um die Bevölkerung der DDR zu beunruhigen!‘ [. . . ] Aber der Witz war noch nicht zu Ende): ‚Sie haben ihn dann trotzdem gleich da behalten: wo er einmal drauf eingerichtet war – ‘ (125).

Dem Leser bleibt da das Lachen im Hals stecken.

VIII. Noch bedrückender ist das, was Schmidts Figur Line Hübner, die in einer Laube im Ostberliner Stadtteil Adlershorst mehr hausende als wohnende Vertriebene aus Niederschlesien, dem Ich-Erzähler im Steinernen Herz über ihre Erlebnisse beim Rückzug der Wehrmacht aus Greiffenberg 1945, dem Einmarsch der Roten Armee dort 55, dem Nachrücken von polnischer Miliz und Zivilbevölkerung, weiter über ihr mehr als zweijähriges Leben als „Halbsklavin“ (93) bzw. Mädchen für – buchstäb-

55 Obwohl die sowjetischen Truppen bereits Mitte Februar 1945 bis auf 15 Kilometer auf Greiffenberg vorgerückt waren, verzögerte die in vollem Gange befindlichen Schlacht um Berlin die Einnahme der niederschlesischen Kleinstadt bis zum 8. Mai. Vgl. Huerkamp: „Die große Kartei“, S. 496, unter Bezug auf den Zeitzeugen Reinhart Fritsch.

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lich: – Alles in einer Metzgerei in der jetzt unter polnischer Verwaltung stehenden Kleinstadt sowie ultimativ über ihre Deportation in die SBZ berichtet. Schmidt referiert hier im Detail das, was ihm seine Schwiegermutter Else Murawski im Sommer 1954 in Ostberlin über ihre und ihrer Tochter Erna Rose (1918–1985) Erlebnisse der Jahre 1945–1947 in der zunächst in Gryfogóra umbenannten Stadt erzählt hatte, wie aus Alice Schmidts ausführlichem Tagebuch aus dem Jahr 1954 hervorgeht. 56 Die beiden nachstehenden längeren Textstellen aus dem Steinernen Herz 57 zeichnen sich durch Authentizität und Direktheit weit ab jeglicher heutiger politischer Korrektheit aus: Schlesien, Frühjahr 1945: erst sprengten die Deutschen die Brücke über den Ölse=Bach: natürlich mit zwanzigfacher Ladung, daß alle Häuser Risse kriegten: „Opa hatte vielleicht Angst!“ (War 85 gewesen; Schustergreis, und seit 10 Jahren mit einem Katheter im Bauche; preise Niemand glücklich vor seinem Ende: ihr Großvater und Beide allein). „Die deutschen Soldaten haben gehaust!: Manchmal dachte man, der Russe wäre schonn da!“ (alle Schranktüren aufgesprengt; Alles gefressen und eingesteckt; Alle mit Stiefeln im Bett gelegen. 58 [. . . ] Nach der Granatennacht, eines Nebelmorgens: stand der Russe im Garten! Kaute Kohl und kam langsam, maschinenpistolig, heran. Opa zitternd im Bett oben. (Und mein Gesicht versteinerte wie ihres.!) [. . . ] „Die Flötern, nebenan . . . “ (um die Lederhandschuhe ihres Mannes zu retten, hatte sie freundlich=verzweifelt mit dem Russenplünderer gestammelt, und ihm die Hände gestreichelt: der hatte es ‚falsch ausgelegt‘ und sie aufs Bett geworfen: heulend kam sie dann über die Gerberstraße gerannt, und wurde aufs ‚Schislong‘ gelegt, zum Beruhigen. – Auch bei ihnen pausenlos Russen ‚nach Waffen suchen‘. Dann kam endlich die polnische ‚Miliz‘ auf Wagen an.).

56 Schmidt, Alice: Tagebuch aus dem Jahr 1954, S. 138–142. – Bei ihrem Ostberlin-Besuch 1954 wohnten Alice und Arno Schmidt in der Wohnung von Else Murawski in der Handjerystr. 25 im Stadtteil Adlershof sowie in deren nahe gelegener Gartenlaube in einer Kolonie an der Köllnischen Heide. Vgl. dazu auch Bei der ‚Ozon-Line‘ in Adlershof. Zu den Familienverhältnissen, darunter der im nachstehenden Zitat als „Opa“ bezeichnete Großvater Alice Schmidts, Heinrich Schäfer (1861–1945), Besitzer des nachstehend ebenfalls erwähnten Greiffenberger Wohnhauses Gerberstraße 7, vgl. Huerkamp: „Die große Kartei“, S. 858–859 („Familie Murawski“). 57 Zu den Slavismen im Folgenden vgl. das Lemma „Lines Bericht aus Schlesien“ bei Piperek, Klaus: Arno Schmidt und die Welt der Slawen. Kommentierendes Handbuch. München 2010, S. 100–106. Weitere Erläuterungen, vor allem zum zeithistorischen Hintergrund, bei Huerkamp: „Die große Kartei“, S. 493–507 und 545–551. 58 Eine ganz ähnliche Formulierung findet sich in einem Brief Else Murawskis vom 17. März 1945 aus Greiffenberg an ihre Tochter Alice in Quedlinburg: „Es ist das gleiche Lied, was man überall hört, die [deutschen] Soldaten ziehen über alles her und der kann froh sein, dem sie nichts mitnehmen. Aber alles Eßbare wird restlos vertilgt. Man kann nicht alles schreiben wie sie gehaust haben, sonst denkst Du am Ende der Russe war schon hier.“ Zit. bei Fischer, Susanne: Alice Schmidt in Greiffenberg um 1944. In: Bargfelder Bote, Lieferung 309–310, 2008, S. 3–12, hier S. 9 (URL http:// www.arno-schmidt-stiftung.de/Archiv/Fischer-Alice-Schmidt-in-Greiffenberg.html, letzter Zugriff: 05. 10. 2016).

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„Wie oft kam Einer rein: machte alle Schränke auf; zog sich die Schuhe aus. Alles von uns an“ (Ging ab damit: Alles neu macht der Mai. [. . . ] Das ‚Häuser wählen‘ der Polen: was ihnen gefiel, nahmen sie. „Eines Tages kam die Thomasmarie an; bloß in Trainingshosen, n Tuch oben rum, und n Bündelchen in der Hand . . . .“ (Opa starb dann in der Nacht vom 29. zum 30. Juli: „Den Sarg hat der Lange-Tischler noch mit getragen“; durch Gryfogóra, wie’s jetzt schon hieß.) „Die alten Rassmanns ließen ihre 15jährige Traudel – die mit mir in de Schule gegangen war – ständig von n Russen: bloß um was zu essen zu haben.“ [. . . ] ‚Jozef Matonis‘: 50 Jahre, klein & häßlich, leidlich gutmütig, ‚nahm‘ das Haus. Am nächsten Tag lud er sie in die obere Stube: dort hatte er sämtliche Spiegel der Nachbarschaft an den Wänden aufgestellt, „10 oder 12 Stück“, dazwischen Schlingpflanzen, und sang irgendwas auf itsch und witsch: mitten auf dem Ausziehtisch der Torso des Bandagistenhändlers, mit Bruchbändern rund herum: Bewunderung: Kultura!!. „Gottseidank“ (iss bloß sone Redensart: was hatte sie ihm wohl zu ‚danken‘?!) „hatte ich ne abscheuliche Augenentzündung und ganz sehr Ausschlag: da haben mich die Männer manchmal in Ruhe gelassen.“ (Manchmal! 15 Jahre war sie gewesen! [. . . ]) Kein gutes Einvernehmen zwischen Russen und Polen!: „Die (die Polen) kamen zunächst nur zögernd nach Schlesien; es hieß erst, das käm’ nur zeitweilig unter polnische Verwaltung“ [. . . ] ‚Matonis‘: „Faul waren die Polen: zum Erbrechen!“ – Er ‚nahm‘ sich dann Lachmanns Geschäft in der Jelengorskaja (wie jetzt die Hirschbergerstraße hieß) „eines Tages standen sie (Lachmanns) vor unserer Tür: er ne Kaffeetasse in der Hand, sie ein Kopfkissen unterm Arm. Völlig benommen: ‚Ihr‘ Pole hat uns hergeschickt; er hat unser Haus ‚genommen‘“. Dann dort erst ein Wildwest=Kaufhaus aufgemacht (den bandagierten Torso natürlich im Schaufenster, zwischen Seife und Scheuerlappigem); später in eine nahrhafte Fleischerei umgewandelt: „Hunger hab ich da nich gelitten.“ (Alles war sie zugleich gewesen: Verkäuferin; Laufmädchen; Reinemachfrau; Bedienung. Schlachtgehilfe; Matratze; Kinderwärterin). [. . . ] „Ich bin dann auch dahin gezogen“ (hatte verständliche Angst gehabt, so völlig allein im Haus, Gerberstraße 7. „Abends ging ich immer hin, Fenster und Türen verrammeln, morgens wieder aufmachen: damit neue Polen denken sollten, das Haus wäre schon ‚genommen‘!“ (Die ärmlich hilflosen Tricks des Kindes. „Ich wollte’s doch ‚halten‘!“: Nee: „Geld hab ich keins gekriegt für die Arbeit: eben Wohnung und Essen.“) [. . . ] ‚Blume‘ 59: führte die Greiff-Werke weiter: „Mich hat er dann nich mehr angenommen, weil ich damals nich zum Aufräumen gekommen war: wo doch Opa starb!“ [. . . ] ‚Die Polin‘: „ging immer vorm Haus auf und ab: bis ich Angst kriegte, und Matonis rief.“ (‚O: Bä-suuch‘ hatte der fröhlich geschrieen: eine alte Liebe aus Lodz, der er mal die Ehe versprochen gehabt hatte. – Sie schlief neben dem für sie angerichteten Bett auf dem Fußboden. Zog Line die Strümpfe aus, rollte sie slawischflink, und stecke sie in einen Quersack. Andere mögen aus bloßem Mute sterben; Line fürchtete sich nicht, zu leben. (84–86) 59 Wilhelm Blume (1898–?) war bis 1945 Einkaufsleiter der Greiff Werke und wurde sodann von der sowjetischen Militärverwaltung zum Betriebsleiter ernannt. Vgl. Schmidt, Johannes: „. . . jene dunklen Greiffenberger Jahre“. Ein Gesprächsprotokoll, aufgezeichnet von Jan Philipp Reemtsma. In: „Wu Hi?“, S. 131–159, hier S. 155 f.

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Nach einer Unterbrechung berichtet Line Hübner weiter: „Nee: Hunger gelitten hab ich da nich“ knüpfte sie an; mit der erhabenen Ruhe der gewesenen und im Leben auf Alles gefaßten Halbsklavin: „Ich hatte sogar n Antrag auf polnische Staatsangehörigkeit gestellt: meine Großmutter war ne geborene Ronkowski 60 gewesen, und da war ja vielleicht die Möglichkeit – “. [. . . ] Und laufend die Ausweisungen der Deutschen: „Ich hatte meinen Reisekorb auch immer fertig gepackt: 500 Reichsmark durfte man mitnehmen; dann noch 1 Bettstück; Kleider, Wäsche, Gebrauchsgegenstände; 40 Kilo im Ganzen. – : Einmal hatt’ ich schon mit gesollt: da bin ich ‚ohnmächtig‘ geworden.“ Diesmal (am 26. Juli 1947) wieder. – „Wir dachten, der Zug wäre schon weg, und Matonis schenkte mir schon zur Feier“ (der neuerlichen Rettung seiner unbezahlbaren ‚Stütze‘) „n Likör ein: da kam die Miliz, mich holen: ‚Deutsches Schwein!‘: ‚Hast Dich von Tranns-porrt gedrückt!‘“ (und immer mit dem Stock drauf; auf den flehenden Handbogen oben!). „Dann haben sie mich an Ort und Stelle durchsucht: soo gemein!“ (mit dem Finger; überall; [. . . ] sie berichtete auch schon entschuldigend, daß eine früher mal ne Taschenuhr drin gehabt hätte, und seitdem wären sie eben so gewesen. Das bissel Büstenhalter abgerissen; „hinten reingefahren“; im Hemdsaum fanden sie das einzige goldene Zwanzigmarkstück). [. . . ] Matonis hätte ihr erst noch den Weidenkorb zum Lastauto tragen helfen wollen: da wären aber grade andere Polen vom Sportplatz gekommen: „Was!? Du hilfst einer Nimka!!“ – da hätte er sich wie begossen ganz sachte seitwärts gedrückt: „Aber auch die Deutschen, die schon oben standen, haben nicht einmal mit angefaßt; nicht Einer: ‚Uns hat auch niemand geholfen‘.“ (‚Nimka‘ = ‚Njemski‘ ‚Stumme Hunde‘: die ‚Slawa‘ das ‚Wort‘ nicht haben!) 61 (Dann nach Moys, ‚ins Lager‘; dann ins nächste, nach Weißenfels; Trümmerräumen und Ziegelabklopfen. (93–94)

Kommentar überflüssig.

IX. In der Retrospektive von 60 Jahren stellt sich Arno Schmidt 1956 erschienener Roman Das steinerne Herz als eine Sensation in der bundesdeutschen Literatur dar, die sich indes in der zeitgenössischen Perzeption als Skandal ausnahm. Die vom Literaturbetrieb, aber auch von Medien, Kirchen und Politik der alten Bundesrepublik dem Buch entgegenbrachte Ablehnung hat seine Rezeption seinerzeit nahezu verhindert – mit Spätwirkungen bis heute. Das ist mit Blick auf das von Schmidt beherzt angefasste, damals hochgradig aktuelle heiße Eisen der partiellen Konsolidierung der DDR, mehr noch auf das im Vergleich dazu „kalte Eisen“ des bundesrepubli-

60 Statt „geborene Ronkowski“ hatte es im Typoskript ursprünglich „geborene Murawski“ geheißen – der Nachname von Schmidts Schwiegermutter und der Mädchenname seiner Frau. Vgl. VariantenApparat, S. 359. 61 Hier irrt Schmidt aufgrund fehlender slavistischer Kenntnisse gleich mehrfach. Vgl. dazu ausführlich Piperek: Arno Schmidt und die Welt der Slaven, S. 101–103.

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kanischen Mainstream-Themas der Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen Ostgebieten, vor allem aber aufgrund des Wortwitzes, der Ironie und des Sarkasmus seiner Prosa in der Rückschau nur teilweise verständlich. Sicher waren das Druckbild, die partiell phonetische Schreibung sowie der Wechsel zwischen Hoch- und Umgangssprache, gar die Verwendung deutscher Dialekte wie Hannöversch, Schlesisch und Berlin(er)isch ungewöhnlich und daher dem Lesepublikum ungewohnt. Aber zumal angesichts des kometenhaften Aufstiegs Uwe Johnsons, der auf seinem schwerfüßigem, stellenweise manieriertem sowie gänzlich humorfreiem Roman Mutmaßungen über Jakob von 1959 beruhte, nimmt sich der literarische wie kommerzielle Nicht-Erfolg des Schmidt’schen Steinernen Herzens als schwer erklärlich aus. Denn beiden, Johnson wie Schmidt, war ein eigener Stil, gar eine eigene Sprache eigen; beide haben die deutsche Teilung realitätsnah zu einer Zeit thematisiert, als dies gänzlich unüblich war; und beide haben die DDR literarisch „anerkannt“ und sie somit als Gegenstand in der bundesdeutschen Literatur gleichsam salonfähig gemacht. Sicher, der eine hatten den Suhrkamp Verlag mit dem energischen Verleger Siegfried Unseld im Rücken, aber der Stahlberg Verlag war damals auch eine Marke, wenngleich eine ohne starke Verlegerpersönlichkeit. Bleibt als Erklärung wohl nur eine politische: Schmidts aggressiver Antimilitarismus, Antiklerikalismus und Atheismus. Das war im „Granatenwestdeutschland“ (162) des von Schmidt regelrecht perhorreszierten und als „Minderer des Reichs. Dafür Fidei Defensor!“ (63) betitelten „Dr. Adenauer“, der, wie es in der Originalfassung des Steinernen Herzens (aber nicht in der verlagsseitig zensierten Druckfassung von 1956) hieß, „seine Direktiven noch stärker vom Vatikanrom als von Washington empfängt“ (82), und von „,Bundespräsident Professor Heuss’: die Hindenburgstimme, wie sie nur durch lebenslangen Genuß schwerster Zigarren erzielt wird“ (103), dann wohl doch zu viel. Da passte der dezidiert DDR-kritische Johnson deutlich besser in die politische Landschaft als der diesbezüglich ambivalente Schmidt. Und dass der rechtskonservative Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten in der Bundesrepublik, schon gar die erzkatholische Landsmannschaft Schlesien, mit dem aus Niederschlesien vertriebenen militanten Atheisten Schmidt nicht nur wenig, sondern gar nichts anfangen konnte, versteht sich von selbst. 62 „Arno Schmidts Bücher“, so Jan Philipp Reemtsma, „hätten auf keinem Vertriebenentreffen herumgereicht werden können“, da „sie sich zur politischen Instrumentalisierung nicht eigneten.“ 63 Nicht zuletzt von diesem Versäumnis her rührt die vom 1957 gegründeten Bund der Vertriebenen bis heute propagierte Sichtweise,

62 Ahonen, Pertti: Landsmannschaft Schlesien. In: Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts. Hrsg. v. Detlef Brandes, Holm Sundhaussen u. Stefan Troebst in Verbindung mit Kristina Kaiserová u. Krzysztof Ruchniewicz. Wien, Köln, Weimar 2010, S. 377–378. Vgl. auch Strothmann, Dietrich: „Schlesien bleibt unser“: Vertriebenenpolitiker und das Rad der Geschichte. In: Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Ursachen, Ereignisse, Folgen. Hrsg. v. Wolfgang Benz. Frankfur /M. 1985, S. 209–218. 63 Reemtsma: Die Fremden, S. 317.

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die bundesdeutsche Aufnahmegesellschaft habe die Vertriebenen zwar integriert, ihr Schicksal indes ignoriert – bis zu Günther Grass’ 2002 erschienener Novelle Im Krebsgang, die als literarische Wiedergutmachung dieser vorgeblich zielstrebigen Verdrängung gewertet wird. 64 Das frühe Œuvre des prononcierten, aber politisch unliebsamen Vertriebenen Schmidt widerlegt diese Deutung indes augenfällig. Immerhin löste das Erscheinen des Steinernen Herzens kein neuerliches juristisches Vorgehen gegen seinen Autor aus. Dies könnte eigentlich als Beleg dafür gelten, dass die Bonner Republik 1956 in der – relativen – Normalität des Europas des Ost-West-Konflikts anzukommen begann. Wahrscheinlicher ist indes, dass es der massive Zensureingriff des Stahlberg Verlages war, der ein weiteres Ermittlungsverfahren gegen Schmidt wegen Gotteslästerung und Pornographie verhindert hat. Denn im März 1963 wurde erneut eine einschlägige Anzeige erstattet, diesmal wegen des Nachdrucks der Seelandschaft mit Pocahontas in Schmidts StahlbergBand Rosen & Porree von 1959. Zwar sah die Karlsruher Kriminalpolizei mit Blick auf die Stuttgarter Einstellungsverfügung von 1956 von einem neuerlichen Ermittlungsverfahren ab, doch der erneut beschuldigte Schmidt teilte seinem Verleger mit, dass „es mich doch wüst ärgert“: 1 Leben für die Deutsche Literatur; und immer finden sich Mistviecher, die mir Schwierigkeiten machen! Ich protestiere hiermit feierlich dagegen, jemals als ‚Deutscher Schriftsteller‘ von dieser Nation von Stumpfböcken vereinnahmt zu werden! Deutschland hat mich immer nur von Ort zu Ort gehetzt, und miserabel für meine cyclopische Schufterei entlohnt!: ‚Écrasez l’infâme‘! 65

So nachvollziehbar sich dieses typisch Schmidt’sche Urteil auch ausnimmt, so ungerecht ist es doch mit Blick auf die damalige Anerkennung, die er von Schriftstellerkollegen und Lesern sowie in Gestalt des Großen Literaturpreises der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz 1951 erfuhr. Die während der Arbeit am Steinernen Herz erlittenen multiplen Verletzungen scheint Schmidt dennoch nie verwunden zu haben, wie nicht zuletzt seine anschließende selbst gewählte totale (aber höchst produktive) Isolation im Heidekaff Bargfeld bis zu seinem Lebensende 1979 belegt. Der weitgehende Bruch mit seiner sozialen wie literarischen Umwelt, den er durch seinen Wegzug aus Darmstadt 1958 real vollzogen und dann in seiner (von Alice Schmidt verlesenen) Rede bei der Annahme des prestigeträchtigen und

64 Grass, Günther: Im Krebsgang. Eine Novelle. Göttingen 2002. – Jan Philipp Reemtsma hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es in dem Grass’schen Text gar nicht um Vertreibung, sondern „um das Schicksal eines [1945] von sowjetischer Marine versenkten, mit Flüchtlingen besetzten Truppentransportschiffs geht – und um die Frage, ob es sich dabei eigentlich um ein Kriegsverbrechen gehandelt habe, sowie darum, wie sich ein solches Geschehen im Bewußtsein späterer Generationen darstelle.“ So Reemtsma: Die Fremden, S. 316. 65 Brief Nr. 99: Arno Schmidt an Ernst Krawehl, Bargfeld, den 18. März 1963. In: „Und nun auf zum Postauto!“ Briefe von Arno Schmidt. Hrsg. v. Susanne Fischer u. Bernd Rauschenbach. Berlin 2013, S. 191–193, hier S. 192.

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hoch dotierten Goethepreises der Stadt Frankfurt am Main in der Paulskirche 1973 mittels pauschaler Invektiven gegen „die Jugend“ und andere „frohwüchsige Spasmodiker“, darunter „Studenten wie Professoren“, weiter gegen „‚Pop‘ oder ‚Dada‘“ bzw. „absichtlich schockierende, puerile Ferkeleien“, aber auch gegen den in der DDR „anmaßend geführte[n] Arbeiter= und Bauernkrieg gegen die Phantasie“ 66, öffentlich zu Protokoll gegeben hat, fiel in das Jahr 1956.

66 Dieser Rundumschlag kulminierte in dem Ausruf: „[I]ch kann das Geschwafel von der ‚40 – Stunden-Woche‘ nicht mehr hören: meine Woche hat immer 100 Stunden gehabt“. Hier zit. nach Schmidt, Arno: Dankadresse zum Goethepreis 1973. In: Arno Schmidt. Das große Lesebuch. Hrsg. v. Bernd Rauschenbach. Frankfurt /M. 2013, S. 144–149. Zum unmittelbaren Echo vgl. Schütte, Wolfram: „Zu Spät!“ – mehrfach. Ein paar gewagte Überlegungen zur Frankfurter „Dankadresse“. In: Der Solipsist in der Heide. Materialien zum Werk Arno Schmidts. Hrsg. v. Jörg Drews und Hans-Michael Bock. München 1974, S. 189–194; und Rauschenbach, Bernd: „I wouldn’t have it as a gift“. In: Clausen, Bettina u. a.: „Vielleicht sind noch andere Wege – “. Vier Vorträge. Bargfeld 1992, S. 9–18. Zur Langzeitwirkung vgl. etwa die emotionale Abrechnung eines orthodox-marxistischen Schmidt-Philologen mit seinem einstigen Idol: Kuhn, Dieter: Das Mißverständnis. Polemische Überlegungen zum politischen Standort Arno Schmidts. München 1982, samt polemischer Antwort von Wollschläger, Hans: Bruder Kuhn. Erledigung eines nicht erledigten Falles. In: Der Rabe. Magazin für jede Art von Literatur, Nr. 4, Zürich 1983, S. 182–215.

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Die DDR im balkanischen Spiegel [2016]

Wer sich, wie der Autor dieser Zeilen, mit der Geschichte Südosteuropas im Kalten Krieg befasst, stößt neben den zahlreichen Bezügen zur östlichen Führungsmacht UdSSR gleichsam automatisch auch auf solche zu deren „Musterknaben“ DDR. Dies schon deshalb, weil die staatssozialistischen Länder bilaterale Historikerkommissionen unterhielten, welche die jeweiligen Beziehungsgeschichten in umfangreichen Jahrbüchern bzw. Buchreihen teils ideologisiert-unkritisch, teils aber klandestin-kritisch behandelten. So bot etwa die vierbändige Reihe B˘algaro-germanski otnošenija i vr˘azki (Bulgarisch-deutsche Beziehungen und Verbindungen) der „Kommission der Historiker der Volksrepublik Bulgarien und der Deutschen Demokratischen Republik“, erschienen in den Jahren 1972 bis 1989 im Verlag der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften, bulgarischen Zeithistorikern die Möglichkeit, zu brisanten Themen der Jahre 1941–1944 zu publizieren, in denen Sofija und Berlin Verbündete waren. Das wäre im Zentralorgan der bulgarischen Geschichtswissenschaft Istoriˇceski pregled (Historische Umschau) damals schwierig, wenn nicht gar unmöglich gewesen. Auf der ostdeutschen Seite war die Zensur deutlich schärfer. Dies spiegelt sich auch im zähen Parteisprech wider, in dem die DDR-Beiträge abgefasst sind. Zu vermuten ist, dass es in anderen bilateralen Historikerkommissionen zwischen ˇ der DDR und ihren „Bruderländern“, mit Ungarn und der CSSR etwa, ähnlich zuging. Demgegenüber dürfte der Spannungsgrad in den Äquivalenten mit Rumänien und Polen deutlich höher gewesen sein. Eine vergleichend-historiographische Untersuchung verspricht Ergebnisse, die interessante Rückschlüsse auch auf das bilaterale politische Klima zulassen dürften. Überhaupt erweist sich die auswärtige Kultur- und Wissenschaftspolitik der DDR als zu großen Teilen noch unexploriertes Gelände. Dazu sei ein weiteres balkanisches Beispiel angeführt: Nach dem Tito-Stalin-Bruch 1949 rivalisierten die bulgarische und jugoslawische Diplomatie in den anderen Volksdemokratien heftig bezüglich der Makedonischen Frage. Im Zentrum stand dabei anfänglich die zwischen beiden Ländern umstrittene ethnokulturelle Zugehörigkeit der Südslaw(ischsprachig)en unter den Politemigranten aus dem Griechischen Bürgerkrieg, die in den Jahren 1948 ˇ bis 1950 zu Zehntausenden nach Polen, in die CSSR, nach Ungarn und Rumänien gekommen waren. (In die UdSSR und die SBZ/DDR gelangten fast nur ethnische Griechen.) Sofija bezeichnete diese slavophonen Kriegsflüchtlinge als „Bulgaren“, Belgrad hingegen als „Makedonier“. Beide Staaten bestanden auf „Rückführung“ dieser Gruppen in ihr jeweiliges Land – das die „Rückzuführenden“ in aller Regel zuvor nie gesehen hatten. Für die Regierungen in Warschau, Prag, Budapest und Bukarest stellte dies insofern ein Problem dar, als die ideologischen Präferenzen für die moskautreue bulgarische „Bruderpartei“ partiell über Kreuz mit der Selbstzuschreibung der „zur gräko-makedonischen Minderheit“ gehörenden Genossen, wie sie in

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Polen genannt wurde, gerieten. Dieses Dilemma nahm ab Mitte der 1960er-Jahre größere Dimensionen an, als bulgarische Parteiveteranen und -historiker eine ostblockund europaweite, gar überseeische Kampagne gegen die in Belgrad und Skopje propagierte Sicht auf die Geschichte der zentralbalkanischen Region Makedonien und ihrer Bewohner starteten und bis 1989 aufrechterhielten. Während Partei und Geschichtswissenschaft in Ungarn den bulgarischen Standpunkt unterstützten, schlugen sich Funktionäre, Medien und Historiker Polens auf die Seite Jugoslawiens und seiner Teilrepublik Makedonien. Der DDR gelang es bemerkenswerterweise nicht nur, eine Positionierung in dieser heiklen Frage zu vermeiden, sondern überdies gute Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen zu beiden Streithähnen aufrechtzuerhalten. Zwar war Sofija die Existenz eines Lektorats für makedonische Sprache und Kultur an der Universität Halle ebenso ein Dorn im Auge wie die engen Kooperationsbeziehungen zwischen der Sektion Geschichte der Karl Marx-Universität Leipzig und dem Institut für Nationalgeschichte in Skopje, doch gefährdete dies nicht das bilaterale Verhältnis zu Ost-Berlin bezüglich Kulturaustausch, Universitätspartnerschaften oder gemeinsamen Konferenzen von Philologen, Historikern, Archäologen u. a. Zu vermuten steht, dass sich die DDR erfolgreich auf das sowjetische Beispiel berief. Denn ungeachtet des Vasallenverhältnisses Sofijas zu Moskau gab es an der LomonosovUniversität einen Lehrstuhl für makedonische Sprache und Literatur, wie überdies an der Akademie der Wissenschaften der UdSSR im Rahmen der „Geschichte der Völker Jugoslawiens“ auch die „Geschichte der makedonischen Nation“ Forschungsgegenstand war. Auch der Umgang der DDR-Historiographie mit den nationalen Mythen der „Brudervölker“ würde ein lohnendes Dissertationsthema darstellen. In diesem Zusammenhang sind überdies die bislang unerforschten Wirkungen der DDR-Praxis zu nennen, zum Studium Zugelassene nicht nur an inländischen Universitäten zu immatrikulieren, sondern in großer Zahl zum Vollstudium in eben diese „Bruderländer“ zu delegieren. In besonderem Umfang scheint dies neben der „SU“ ˇ für die CSSR, Ungarn und Bulgarien gegolten zu haben. Polen und Rumänien hingegen galten als ideologisch unzuverlässig. Studienfächer waren dabei mitnichten lediglich Natur- und Ingenieurwissenschaften, sondern auch und gerade Geisteswissenschaften wie etwa das Fach Geschichte, in welchem marxistisch-leninistische Vorgaben nicht selten mit (zeit-)historischen Realitäten kollidierten. Nach fünf Jahren an der Leningrader Staatlichen Universität oder der Sofijoter Kliment OchridskiUniversität an eine DDR-Universität oder an ein Institut der DDR-Akademie der Wissenschaften zurückgekehrt, hatten die im Ausland Diplomierten mitunter erhebliche Schwierigkeiten, sich in den nicht selten überideologisierten heimischen Forschungs- und Lehralltag einzugliedern. In etlichen Fällen gelang dies nicht, was in der Regel auf das deutlich liberalere Klima an den ausländischen Ausbildungsstätten zurückzuführen war. Auch hier tut sich ein vielversprechendes, transnationalvergleichendes Forschungsfeld auf. Die bilateralen Beziehungen der DDR zu den anderen Staaten des „sozialistischen Lagers“ wiesen durchgängig eine trilaterale Komponente auf – den sowjetischen Faktor. Dies galt etwa für Ost-Berlins Verhältnis zum Rumänien Nicolae Ceau¸sescus und seiner „mitregierenden“ Ehefrau Elena. Im Auftrag des 1967 gegründeten Interkit-

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Netzwerks der sowjetischen, bulgarischen, polnischen, ungarischen, tschechoslowakischen und ostdeutschen Regierungsparteien, später auch derjenigen der Mongolei und Kubas, das der Beobachtung der Kommunistischen Partei Chinas diente (und aus dem die rumänische KP ihrer engen Beziehungen zu Beijing wegen ausgeschlossen war), war in der DDR-Botschaft in Bukarest ein ostdeutscher China-Experte installiert. Dessen Augenmerk war ausschließlich auf die chinesisch-rumänischen Beziehungen gerichtet und die dergestalt gewonnenen Erkenntnisse wurden den Interkit-Partnern zugänglich regelmäßig gemacht. Dabei stellt sich die Frage, ob die DDR-Diplomatie ähnliche Fuhr- und Spanndienste auch andernorts für den „großen Bruder“ erbracht hat. Überdies harren auch bezüglich der bilateralen Beziehungen der DDR zur Volksrepublik China etliche Forschungsfragen ihrer Antwort. Dies gilt etwa für die ostdeutschen Berater und Spezialisten, die neben ihren unvergleichlich zahlreicheren sowjetischen Kollegen in den 1950er-Jahren in Maos Reich entsandt wurden. Neuesten Untersuchungen zu den aus anderen RGW-Staaten in die VR China entsandten Beratern ist zu entnehmen, dass chinesische Parteifunktionäre und Kombinatsdirektoren wesentlich stärker an der Entsendung von Experten aus Prag und Bratislava, ˇ Dresden und Magdeburg als aus Celjabinsk oder Charkiv interessiert waren. Der Grund: Für sie galt Mitteleuropa als High-Tech-Region, während die Sowjetunion in Peking als Low-Tech-Land galt, dessen Berater überdies als nicht frei von an Zarenzeiten erinnernden imperialen Attitüden, gar von Rassismus waren. Aber zurück zum Balkan, wo neben dem aus DDR-Sicht unsicheren Kantonisten Jugoslawien, dem Sultanat Rumänien und den „zweitbesten Freunden“ in Bulgarien auch der zunächst China-treue, dann nur noch sich selbst treue exzentrische Diktator Enver Hoxha das „Leuchtfeuer des Sozialismus in Europa“ am Flackern hielt. Auch hier waren die bilateralen Wissenschaftsbeziehungen Ost-Berlins zu Tirana nie gänzlich abgebrochen worden, sondern gediehen im Rahmen der UNESCO-Unterorganisation Association Internationale d’Etudes du Sud-Est Européennes (AIESEE) sogar relativ lebhaft. Bereits 1964 war ein „Nationalkomitee der DDR für Balkanistik“ als Verbindungsinstanz zur AIESEE gegründet worden. Überdies wurden weiterhin beiderseits vorteilhafte Wirtschaftsbeziehungen fortgesetzt und offenbar auch Kooperationen im Gesundheitswesen: 1988 hat der Autor im Norden Albaniens zwei Obst-Großeinkäufer vom VEB „Havelobst“ aus Werder bei Potsdam sowie eine DDR-Bürgerin aus dem Bezirk Neubrandenburg getroffen, die einer seltenen Hautkrankheit wegen in ein albanisches Sanatorium überwiesen worden war. Die bilaterale Alltagsgeschichte bietet offenkundig Erkenntnisse, die der politischen Beziehungsgeschichte mitunter gegenläufig sind. Schließich sei noch einmal auf die Flüchtlinge aus dem Griechischen Bürgerkrieg der Jahre 1946–1949 zurückgekommen, von denen ca. 100.000 in der UdSSR, den „Volksdemokratien“ und der SBZ/DDR aufgenommen wurden und die als veritables Kontrastmittel des sich formierenden RGW gelten können. Darüber, wie deren Verteilung auf die gleichfalls unter Kriegsfolgen leidenden Aufnahmestaaten erfolgte, ist weiterhin wenig bekannt. Eine maßgebliche Rolle spielte zweifelsohne die griechische Exil-KP. Diese unterhielt in Budapest eine Art Verschiebebahnhof

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für die zunächst nach Bulgarien und Albanien Geflohenen und dann vornehmlich ˇ nach Polen und in die CSSR Weitergeleiteten. Welche Instanz aus welchem Grund die Entscheidung traf, dass die 1100 in die SBZ/DDR überstellten Kriegsflüchtlinge nahezu ausschließlich unbegleitete Kinder und Jugendliche waren, ist unbekannt. Die Direktive hingegen, dass aktive Kombattanten der kommunistischen Partisanenformation „Demokratische Armee Griechenlands“ ganz überwiegend in die UdSSR kamen und dort in der entlegenen Usbekischen Sowjetrepublik angesiedelt wurden (wo sie 1956 in Taschkent gewaltsam gegen die Entstalinisierung aufbegehrten und sich eine Woche lang Straßenschlachten mit Miliz und KGB-Truppen lieferten), ist zweifelsohne vom Kreml erteilt worden. Auf ein RGW-weit koordiniertes Flüchtlingsmanagement deutet auch der Umstand hin, dass sich das DDR-Ministerium für Volksbildung in Ungarn hinsichtlich einer Beschulung der vor allem in sächsischen Heimen lebenden griechisch(sprachig)en Kinder sachkundig machte. Neben der weiteren Erforschung der bilateralen Beziehungen der DDR zu ihren RGW-Partnern bedürfen auch die multilateralen Verbindungen künftiger Forschungsanstrengungen. So kann die in der Historiographie immer noch vorherrschende Fixierung auf die deutsch-deutsche Verflechtungsgeschichte im Kalten Krieg aufgebrochen und, wo nötig, korrigiert werden. Zugegeben: Bulgarisch, Ungarisch, Griechisch oder Albanisch sind keine Schlüsselsprachen für Zeithistoriker, die über die Geschichte der DDR forschen. Aber was ist mit Polnisch und Russisch? Wäre eine Untersuchung zur Geschichte der alten Bundesrepublik vorstellbar, deren Autor weder Französisch – die Sprache des größten Nachbarstaats – noch Englisch – diejenige der Führungsmacht – liest? Wie fatal sich die offensichtlich weiterhin geltende Maxime „Slavica non leguntur“ auswirkt, belegt soeben das hierzulande weder zur Kenntnis genommene, geschweige denn rezipierte voluminöse Standardwerk zur Politik Moskaus, Belgrads, Warschaus und Prags in der Sorbischen Frage der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre: Pa´nstwa słowia´nskie wobec Łu˙zyc w latach 1945–1948, verfasst von dem Oppelner Nachwuchs´ aski historiker Piotr Pałys und 2014 im Verlag des Instytut Sl ˛ /Schlesischen Instituts erschienen – kostet nur 50 Złoty, also 12 Euro, ist aber auf Polnisch . . .

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From paper to practice The Council of Europe’s Framework Convention for the protection of national minorities

[1999] The Council of Europe was recently portrayed by André Liebich as ‘Janus at Strasbourg’: while demanding high standards in the field of human and minority rights from the new members and applicants in Eastern Europe and the CIS, the same standards are required from longstanding member States in Western Europe. 1 This situation leads to political conflict within the Council, particularly concerning sensitive issues such as centralism vs. regionalism respectively nationalism vs. ethnicity. The most important Council of Europe document so far in this regard is the Framework Convention for the Protection of National Minorities. Opened for signature on 1 February 1995 and ratified by 12 of the 40 member states of the Council of Europe, this convention entered into force on 1 February 1998. By December 1998, the number of signatories was 37, that of ratifications 23 plus one by the non-member State Armenia. This convention is a result of the changes triggered off by the events of 1989 in Eastern Europe and peaking in 1990 when the CSCE adopted its Copenhagen Document. Here, the participating States of the CSCE agreed that “to belong to a national minority is a matter of a person’s individual choice and no disadvantage may arise from the exercise of such choice.” 2 What in June 1990 seemed possible had changed considerably by 10 November 1994 when the Framework Convention was adopted by the Committee of Ministers of the Council of Europe. Now, governments in Western and Eastern Europe were again much more careful not to give away too many rights to their national minorities. At its meeting on 8 and 9 October 1993 in Vienna, the Summit of Heads of States and Government proclaimed the Vienna Declaration which provided, inter alia, that the Council of Europe should apply itself to transforming, to the greatest possible extent, the CSCE political commitments on national minorities into legal obligations. The Vienna Summit tasked the Committee of Ministers to draft with minimum delay

1

2

Liebich, André, ‘Janus at Strasbourg: The Council of Europe between East and West’, in: Helsinki Monitor, vol. 10, 1999, no. 1, pp. 9–18. Cf. also Hofmann, Rainer, ‘Die Rolle des Europarats beim Minderheitenschutz’, in: Friedenssichernde Aspekte des Minderheitenschutzes in der Ara des Völkerbundes und der Vereinten Nationen in Europa, ed. Manfred Mohr. Berlin etc.: Springer, 1996, pp. III– 147 ; idem., Minderheitenschutz in Europa. Völker- und staatsrechtliche Lage. Berlin: Gebr. Mann Verlag, 1995, pp. 33–65 and 199–217; Rönquist, Anders, ‘The Council of Europe Framework Convention for the Protection of National Minorities’, in: Helsinki Monitor, vol. 6, 1995, no. 1, pp. 38– 44. Document of the Copenhagen Meeting of the Conference on the Human Dimension of the CSCE. Copenhagen, 29 June 1990, pt. IV, art. 32.

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a framework convention specifying the principles which contracting states commit themselves to respect, in order to assure the protection of national minorities. This instrument would also be open for signature by non-member States. 3 For this purpose the Committee of Ministers, in November 1993, established an ‘Ad hoc Committee for the Protection of National Minorities’ (CAHMIN) consisting of experts designated by each of the member States of the Council of Europe. CAHMIN, which started work in January 1994, was tasked to come up as soon as possible with the draft of a framework convention. Unlike a ‘Proposal for an additional protocol to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms, concerning persons belonging to national minorities’ promoted in parallel by the Parliamentary Assembly of the Council of Europe in its by now famous Recommendation 1201 (1993) 4, CAHMIN was not in a position to advocate minority protection in the form of a legally strong additional protocol to the European Convention on Human Rights (ECHR). The form of an additional protocol would have automatically implemented the strict monitoring mechanisms of the ECHR including the right of individuals to appeal to the European Court of Human Rights in Strasbourg. 5 The Framework Convention does not have this legal quality. By its nature, a framework convention is different from a ‘normal’ convention. Whilst a framework convention is a convention in the sense that it is a legally binding instrument under international law, the addition of the word ‘framework’ indicates that the principles contained in the instrument are not directly applicable in the domestic legal orders of the member States but will have to be implemented through national legislation and appropriate government policies. In doing so, member States can fill the framework with much more content than the convention provides for. What now is the content of the Framework Convention? 6 Section I contains some general principles including the principle that the protection of national minorities and of persons belonging to national minorities is part of the international protection of human rights. It also establishes that every person belonging to a national minority is free to choose to be treated or not to be treated as such, with no disadvantage arising from the choice.

3 4

5

6

Quoted according to the Council of Europe, The Framework Convention for the Protection of National Minorities. Introduction. Strasbourg: Council of Europe, April 1997 (brieffin.fas). Recommendation 1201 (1993) on an additional protocol on the rights of national minorities to the European Convention on Human Rights, at: http://www.forost.ungarisches-institut.de/pdf/19930201-1. pdf, accessed: 09-10-2016. Frankenberger, Klaus-Dieter, ‘Die Regierungen zögern. Es fehlen in Europa wirksame Rechtsinstrumente zum Schutz von Minderheiten’, Frankfurter Allgemeine Zeitung, no. 229, 2 October 1993, p. 10. On the ‘pre-history’ of the Framework Convention cf. also Estébanez, María Amor Martín, International Organizations and Minority Protection in Europe. Turku: Institute For Human Rights. Åbo akademi, 1996, pp. 131–148, and H. H., ‘Zähes Ringen um Erfolg: Konvention zum Minderheitenschutz in Kraft’, Das Parlament [Bonn], nos. 9–10, 20127 February 1998, p. 11. The following summary is based on The Framework Convention for the Protection of National Minorities. Introduction. Strasbourg: Council of Europe, April 1997 (brieffin.fas).

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Section II is the main operative part of the convention as it contains the provisions laying down more specific principles. These principles cover a wide range of issues, inter alia: non-discrimination; promotion of effective equality; promotion of the conditions regarding the preservation and development of the culture and preservation of religion, language and traditions; freedom of assembly, association, expression, thought, conscience and religion; access to and use of media; linguistic freedoms: use of the minority language in private and in public as well as its use before administrative authorities; use of one’s own name; display of information of a private nature; topographical names in the minority language; education: learning of, and instruction in, the minority language; freedom to set up educational institutions; transfrontier contacts; international and transfrontier cooperation; participation in economic, cultural and social life; participation in public life; prohibition of forced assimilation. Section III contains provisions on the interpretation of the convention such as that it may not be construed as containing a right to engage in activities contrary to the territorial integrity and political independence of a given state and that nothing in the convention may be construed as limiting higher standards of protection of human rights ensured in other international instruments or under national legislation. Section IV sets out the provisions of the implementation mechanism. The evaluation of the adequacy of the implementation of the convention by the parties shall be carried out by the Committee of Ministers which shall be assisted by an Advisory Committee. The members of this committee shall have recognised experience in the field of protection of national minorities. Its composition and procedure will be determined by the Committee of Ministers. The parties shall be required to file a report containing full information on legislative and other measures taken to give effect to the principles of the convention, within one year of entry into force. Further reports will have to be made on a periodical basis and whenever the Committee of Ministers so requests. The final provisions are in Section V of the convention. As mentioned above, the Framework Convention is an open one; non-member States of the Council of Europe may join at the invitation of the Committee of Ministers, which is particularly relevant for the participating States of the CSCE. The convention will enter into force on the first day of the month following the expiration of a period of three months after the date of the twelfth ratification by a member State of the Council of Europe. Almost always when mention is made of the Framework Convention, this document is labelled as being the first ‘legally binding’ international instrument devoted to the rights of national minorities in general. Nevertheless, it has three major weaknesses: First, most of the convention’s provisions are of a purely programmatic nature. Secondly, the whole procedure of signing, ratifying and implementing the convention was, and still is, flawed by a large number of considerable weaknesses. And thirdly, the mechanism for monitoring the implementation of the convention is a weak one. First, the weak wording of the convention should be highlighted. Two major deficiencies concern basic legal terminology: a) The convention does not contain a

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definition of the term ‘national minority’ as in, e. g., Recommendation 1201 (1993). This gives governments the possibility to impose their own definitions by way of interpretative declarations; b) The convention also does not mention collective rights of national minorities, but sticks to the UN principle of individual rights of ‘persons belonging to national minorities.’ 7 Moreover, the entire text is packed with escape clauses in favour of the member States and to the disadvantage of their national minorities. An already classical case by now which is used in university lectures by many specialists in international law all over Europe is article 11, paragraph 3, which in a single sentence dealing with street signs contains as many as seven escape clauses: “In areas traditionally inhabited by substantial numbers of persons belonging to a national minority, the Parties shall endeavour, in the framework of their legal system, including, where appropriate, agreements with other States, and taking into account their specific conditions, to display traditional local names, street names and other topographical indications intended for the public also in the minority language when there is a sufficient demand for such indications.” 8 Even more cautious are formulations concerning topics that can really cost money, e. g., article 10, paragraph 2, on the use of minority languages on the administrative level: “In areas inhabited by persons belonging to national minorities traditionally or in substantial numbers, if those persons so request and where such a request corresponds to a real need, the Parties shall endeavour to ensure, as far as possible to use the minority language in relations between those persons and the administrative authorities.” Not surprisingly, the Parliamentary Assembly of the Council of Europe came up with harsh criticism of the wording of the convention: “It formulates a number of vaguely defined objectives and principles, the observation of which will be an obligation of the Contracting States but not a right which individuals may invoke.” 9 Secondly, the deficiencies of signing, ratifying and implementing the convention have to be mentioned: a) Apart from Andorra and the non-member State Belarus, three other Council of Europe (and NATO) members, namely Belgium, Turkey and France, have not signed the convention at all – and obviously have no intention of doing so. Paris has stated that the recognition of national minorities among the citizens of France would contribute to the fragmentation of the grande nation and thus be anti-constitutional. The specifically French concept of ‘nation’, it was said, leaves no room for ‘national minorities’. André Liebich has aptly characterised the negative impact this stand has had on the new East European members of the Council of 7

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Cf. Capotorti, Francesco and Rainer Hofmann, ‘Minorities’, Encyclopedia of Public International Law, vol. 3, Amsterdam etc.: Elsevier, 1997, pp. 410–424, as well as Packer, John, ‘On the Definition of Minorities’, in: The Protection of Ethnic and Linguistic Minorities in Europe, Eds. Packer, John and Kristian Myntti. Turku: Institute for Human Rights. Abo akademi, 1997, pp. 23–65. Framework Convention for the Protection of National Minorities and explanatory report. Convention opened for signature on 1 February 1995, European Treaty Series No. 175. Strasbourg: Council of Europe Publishing, 1995, p. 10. Recommendation 1255 (1995), quoted by Alexanderson, Martin, ‘Why the Framework Convention Should Be Ratified’, in: Mare Balticum [Copenhagen], no. 3, August 1997, p. 22.

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Europe; 10 b) Countries with considerable percentages of minorities such as Greece or Bulgaria have signed, but not yet ratified, the convention. To them, any notion of ‘national minority’ still smells of separatism and secession. Although there have recently been some positive signs from both Sofia and Athens, it is currently unclear whether they will ever ratify; c) Countries such as Austria, Denmark, Estonia, Germany, Macedonia and Slovenia have added to their ratifications interpretative declarations listing those ethnic groups that in the eyes of the governments in question are to be labelled as ‘national minorities’ – thereby explicitly patronising some communities and implicitly excluding others from benefitting from the convention. A striking example is the declaration by the German government of 11 May 1995 which was renewed on 10 September 1997: “The Framework Convention contains no definition of the notion of national minorities. It is therefore up to the individual Contracting Parties to determine the groups to which it shall apply after ratification. National Minorities in the Federal Republic of Germany are the Danes of German citizenship and the members of the Sorbian people with German citizenship. The Framework Convention will also apply to the members of the ethnic groups traditionally resident in Germany, the Frisians of German citizenship and the Sinti and Roma of German citizenship.” 11 Croats, Portuguese, Greeks, Spaniards, Turks, Italians et al. residing with or without German citizenship in Germany are thereby excluded. Another special case in this regard is Luxembourg which, already in signing the convention, added the following declaration: “The Grand Duchy of Luxembourg understands by ‘national minority’ in the meaning of the Framework Convention, a group of people settled for numerous generations on its territory, having the Luxembourg nationality and having kept distinctive characteristics in an ethnic and linguistic way. On the basis of this definition, the Grand Duchy of Luxembourg is induced to establish that there is no ‘national minority’ on its territory.” 12 Malta and Liechtenstein have made similar declarations, respectively reservations, adding that they “consider the ratification of the Framework Convention as an act of solidarity in the view of the objectives of the Convention.” 13 Other countries which have ratified the Convention have resisted the temptation to make declarations. This holds true even for countries with severe minority problems such as Croatia, Cyprus, Great Britain, Moldova, Romania, Slovakia, Spain and Ukraine. And the Russian Federation combined its ratification on 21 August 1998 with an ‘anti-declaration’: “The Russian Federation considers that no one is entitled to include unilaterally in reservations or declarations, made while signing or ratifying the Framework Convention for the Protection of National Minorities, a definition of the term ‘national minority’, which is not contained in the Framework Convention. In 10 Liebich, ‘Janus at Strasbourg’, p. 5, with reference to UN Doc. t;ICrr.411991, 754, 27 February 1991. 11 Framework Convention for the Protection of National Minorities, Strasbourg, 1.II.1995. Reservations and Declarations. Council of Europe, European Treaties, European Treaty Series No. 157. 12 Ibid. 13 Ibid.

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the opinion of the Russian Federation, attempts to exclude from the scope of the Framework Convention the persons who permanently reside in the territory of States Parties to the Framework Convention and previously had a citizenship but have been arbitrarily deprived of it, contradict the purpose of the Framework Convention for the Protection of National Minorities.” 14 While this is targeted, of course, towards Russians and Russian-speakers in the ‘Near Abroad’, i. e., in other successor states of the Soviet Union, it can apply also to the successor states of Tito’s Yugoslavia. Still, which national minorities exist in Europe and who exactly is a member of them is decided by the governments. Although in the Framework Convention citizenship is not mentioned as a precondition almost all member States of the Council of Europe agree that in fact it is. This is, of course, a highly problematic way to deal with minority issues since it means that, for example, the large Russian minorities in the Baltic States or the non-citizens parts of the equally sizeable Albanian minority in Macedonia do not fall under the convention. And most governments are of the opinion that it is up to them to ‘recognise’ ‘real’ national minorities thereby leaving out those ethnic groups that in their view do not deserve to be called national minorities. The government of Denmark, for example, ‘recognises’ only the German minority in the South of Jutland, not, however, the Inuit communities in and around Copenhagen; Slovenia ‘recognises’ Italians and Hungarians, not Germans (or Austrians); Macedonia explicitly leaves out Bulgarians; and so on and so forth. What the Permanent Court of International Justice in 1935 in a decision on Minority Schools in Albania had ruled, namely that ‘the existence of minorities is a question of fact, not of law’, is not reflected in the Framework Convention. 15 Thirdly, the problem of monitoring the implementation of the Framework Convention by those countries which have ratified it has to be tackled. It is a positive fact that the Framework Convention, in contrast to a number of other conventions, has a monitoring mechanism, yet it is a weak one. In 1995, the Parliamentary Assembly of the Council of Europe warned: “Its implementation machinery is feeble, and there is danger that, W fact, the monitoring procedures may be 1_Pft entirely to the government.” 16 The convention indeed provides that it is the Committee of Ministers which shall monitor the implementation, and not an independent body, as is the case for the ECHR. In monitoring the Framework Convention, the Committee of Ministers will be assisted by an Advisory Committee. This Advisory Committee could play an important role in the further development of the monitoring mechanism, as well as in the implementation of the convention provided that it is able to emancipate itself from the tutelage of the Committee of Ministers. However, when going through the rules on the monitoring arrangements in general, and the composition, election and appointment of the Advisory Committee in particular, as fixed in resolution (97) 10

14 Ibid. 15 Minority Schools in Albania (1935), Permanent Court of International Justice, Ser. A/B, No. 64, 17. 16 Recommendation 1255 (1995), quoted by Alexanderson,‘Why the Framework Convention Should Be Ratified’, p. 22.

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of the Council of Europe of 17 September 1997 17, serious doubts arise. These critical points of the monitoring mechanism are analysed in detail in two recent sets of recommendations on the implementation of the convention. The first one was launched by the London-based NGO Minority Rights Group International 18, the second one by the Danish-German European Centre for Minority Issues (ECMI) in Flensburg. 19 These recommendations are critical of the fact that the Advisory Committee members are nominated by the individual governments and elected by the Council of Ministers, that it cannot go public on its own initiative and that it is even restricted as to its possibilities actively to seek relevant information. This criticism is no doubt justified, yet there are also some positive developments concerning the Advisory Committee. While it indeed has to base its work primarily on information supplied in state reports 20, it is entitled to receive and make use of information provided by individuals, minority organizations, other NGOs and international organizations. Mention should also be made of the fact that the Committee of Ministers elected as President of the Advisory Committee a specialist in international minority legislation, the German Professor of international law Rainer Hofmann, and as Vice-President the British human rights activist Alan Phillips who is the executive director of Minority Rights Group International. 21 To cut a long legal story politically short: the Framework Convention for the Protection of National Minorities of the Council of Europe resembles a net which is not only very wide-meshed but contains a great number of large holes. 22 Each government which intends to slip through this net will no doubt succeed. By naming the document a ‘framework convention’ its legal weight has been diminished. Its wording is vague and the monitoring mechanism weak. For these reasons, critics have

17 [Council of Europe. Committee of Ministers], Resolution (97) 10: Rules adopted by the Committee of Ministers on the monitoring arrangements under Articles 24 to 26 of the Framework Convention for the Protection of National Minorities (Adopted by the Committee of Ministers on 17 September 1997 at the 601st meeting of the Ministers’ Deputies). Cf. also Weckerling, Matthias, ‘Der Durchführungsmechanismus des Rahmenübereinkommens des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten’, in: Europäische Grundrechte-Zeitschrift, vol. 24, nos. 23–24, 31 December 1997, pp. 605–608. 18 [Minority Rights Group International], The Council of Europe’s Framework Convention for the Protection of National Minorities. Analysis and Observations on the Monitoring Mechanism. London: MRG 1998. 19 ECMI Recommendations on the Implementation of the Council of Europe Framework Convention for the Protection of National Minorities, Flensburg, Germany, 14 June 1998, at: http://www.ecmi. de/activities/ifc-recommendations.htm, accessed: 05-10-2016. 20 On 30 September 1998, the Committee of Ministers adopted an ‘Outline for Reports to Be Submitted Pursuant to Article 25 Paragraph 1 of the Framework Convention for the Protection of National Minorities’ (ACFC/INF(98)1). 21 For a list of the other members cf. Council of Europe, Introduction to the Framework Convention for the Protection of National Minorities. Strasbourg, August 1998. H (98)5 rev. 1, p. 5. 22 Troebst, Stefan, ‘Grobmaschiges Netz mit vielen Löchern. Die Minderheiten-Konvention des Europarats nützt vielen Gruppen in der Praxis wenig’, Der Tagesspiegel [Berlin], no. 16.235, 30 January 1998, p. 8.

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labelled the convention ‘the worst of all worlds’. 23 On the other hand, it is exactly the high degree of vagueness which leaves room for interpretations in a more positive direction. The fact that the convention does not tie the ‘status’ of a national minority to citizenship has already been mentioned. That means that non-citizens are not a priori excluded from the protection granted by the convention. Also the non-definition of the term ‘national minority’ offers certain advantages when it comes to the problematic distinction between ‘traditional national minorities’ and so-called ‘new minorities’ of labour migrants, political émigrés, et al. While in some articles reference is made to ‘areas traditionally inhabited’ by minorities, the convention as such does not explicitly require a longstanding link with the territory of the State in question for a community to be considered a national minority. 24 Poles in Germany or Finns in Sweden are, or could one day be, such cases. This is a stepping stone for considerably improving the impact of the convention in the future by broadening its meaning. There is also a political aspect which makes the Framework Convention a significant step in the right direction. The political scientist Martin Alexanderson stressed that, in contrast to other international organisations which have placed minority issues high on their political agenda, such as the OSCE and the EU, the Council of Europe is the only one which has successfully avoided double standards: ‘If ratified by all member states, it [i. e., the Framework Convention] will hopefully re-establish a certain equilibrium with regard to the protection of minorities in Eastern and Western Europe.’ 25 What applies to the newly independent states in Eastern Europe must also apply to longstanding EU and NATO member states. In addition to the promotion of the integration of Eastern Europe into EU and NATO, the swift and complete implementation of the Framework Convention for the Protection of National Minorities will contribute to the further Europeanization of Western Europe.

23 Gilbert, Geoff, ‘The Council of Europe and Minority Rights’, Human Rights Quarterly, vol. 18, 1996, no. 1 (February), pp. 160–189 (quotation p. 189). 24 [MRG] The Council of Europe’s Framework Convention, p. 13. 25 Alexanderson, ‘Why the Framework Convention Should be Ratified’, p. 22. Cf. for a similar appeal also Pan, Christoph, ‘Die “Rahmenkonvention”: Unterzeichnen, ratifizieren, umsetzen. Bausteine des Europarates für die Erhaltung nationaler Vielfalt’, in: Pogrom [Göttingen], December 1997, p. 198.

Gemeinschaftsbildung durch Geschichtspolitik? Anläufe der Europäischen Union zur Stiftung einer erinnerungsbasierten Bürgeridentität

[2014] Im September 2013 hat die Fachabteilung Struktur- und Kohäsionspolitik der Generaldirektion Interne Politikbereiche des Europäischen Parlaments ein umfangreiches Themenpapier mit dem Titel „Europäisches historisches Gedächtnis: Politik, Herausforderungen und Perspektiven“ veröffentlicht, das zu dem Ergebnis kommt, die EU habe seit dem Scheitern des Verfassungsvertrages und der Osterweiterung von 2004 verstärkt „Anstrengungen unternommen, ‚europäisches historisches Gedächtnis‘ zu fördern, um dem europäischen Projekt zusätzliche Legitimität zu verleihen und die Entwicklung einer europäischen Identität voranzubringen“. 1 Mittels „europäischer Gedächtnispolitik“ und „europäischer Erinnerungspolitik“ werde seitdem zielstrebig die „Schaffung eines gesamteuropäischen historischen Gedächtnisses“ zum „Zweck der Gemeinschaftsbildung, insbesondere im Kontext rascher Veränderungen in Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Kultur“ betrieben, wobei „auf den Totalitarismus des 20. Jahrhunderts und den Holocaust als Hauptelemente europäischer historischer Erinnerung fokussiert wird“. 2 Dabei gelte es „die Erinnerung insbesondere an den Nationalsozialismus und den Stalinismus wach zu halten, die als negative Gründungsmythen [der EU – S. T.] fungieren“. 3 Im Verlaufe des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts ist die Akzeptanz der Europäischen Union bei den 500 Millionen EU-Bürgern deutlich gesunken. Die enlargement fatigue, ausgelöst durch Angst vor den Folgen der ersten Osterweiterung 2004 und Hiobsbotschaften aus den 2007 aufgenommenen Mitgliedsländern Rumänien und Bulgarien, hat das, was Immanuel Kant „interesseloses Wohlgefallen“ genannt hat und heute als permissive consensus firmiert, schwinden lassen. Diese Ermüdung stellte sich ein durch das Zusammenwirken mit der Staatsschuldenkrise im Euroraum, dem Fehlen einer medialen europäischen Öffentlichkeit sowie den üblichen Vorwürfen von Demokratie- und Legitimationsdefizit, Bürokratismus und Regelungswut „Brüssels“. Die EU – und hier vor allem ihr Parlament – hat darauf, wie schon öfter in der Vergangenheit, mit verstärkten Versuchen eines Identifikationsmanagements reagiert. Der politisch unhandliche Terminus „Seele“ in der frü1

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Europäisches Parlament. Generaldirektion Interne Politikbereiche. Fachabteilung B: Struktur- und Kohäsionspolitik. Kultur und Bildung: Europäisches historisches Gedächtnis: Politik, Herausforderungen und Perspektiven. Themenpapier. Brüssel, September 2013, S. 6, URL: http://www.europarl. europa.eu/RegData/etudes/note/join/2013/513977/IPOL-CULT_NT(2013)513977_DE.pdf; accessed: 09-10-2016. Ebd., S. 3, 5, 38. Ebd., S. 38.

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heren Pathosformel „Europa eine Seele geben“ wurde dabei durch die nicht minder sperrigen Begriffe „Gewissen“ und „Gedächtnis“ ersetzt. Gemeint ist damit eine geschichtspolitische Konzeption, die im Zuge häufig kontroverser Parlamentsdebatten der Jahre 2005–2009 über die Deutung des dramatischen 20. Jahrhunderts entwickelt und im Zuge derer 2009 Anti-Totalitarismus als kleinster gemeinsamer Nenner aller EU-Bürger identifiziert wurde. Die Erinnerung an die Gesellschaftsverbrechen der Totalitarismen und an deren Opfer, so diese Vorstellung, soll den Angehörigen der mittlerweile 28 EU-Nationalgesellschaften zum einen ein gleichsam „viktimes“ Gefühl der Zusammengehörigkeit vermitteln und zum anderen mit Blick auf Gegenwart und Zukunft die EU-weit gemeinschaftliche aktive Ablehnung totalitarismusaffiner Ideologien und Haltungen wie Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Nazitum, Kommunismus, Faschismus, Stalinismus, Autoritarismus, Demokratiefeindlichkeit befördern. Zu diesem Zweck wurde ein geschichtspolitisches Instrumentarium entwickelt, das aus den Komponenten Gedenktage, Parlamentsentschließungen und Museen besteht.

Geschichtslose Vorgeschichte Walter Hallstein, der erste Präsident der Europäischen Kommission, hat sich bei diesem Fahrplan zu europäischer Identitätsstiftung qua Geschichtspolitik mutmaßlich im Grabe herumgedreht, hat er doch fünfzig Jahre zuvor eine gegenläufige Parole ausgegeben: Die Europäische Gemeinschaft hat keine Symbole, sie hat keine Flagge, keine Hymne, keine Parade und keinen Souverän. Sie hat keine Integrationsmittel, die die Sinne ansprechen, das Auge, das Ohr. Das entspricht dem Stil unserer Gemeinschaft, dem Stil der Sachlichkeit, der unpathetischen harten Arbeit. Unser Boden ist die Vernunft mehr als die Emotion, unsere Stärke die begründete Erkenntnis mehr als der Mythos, unsere Kampfform die Diskussion mehr als die Erregung von Leidenschaften. 4

Und in der Tat unternahm Brüssel zu Zeiten der Europäischen Gemeinschaft der Sechs keinerlei Anstrengungen mit dem Ziel von Selbstvergewisserung, Identitätsfestigung und Kohärenzsteigerung. Dem Wiener Europa-Historiker Wolfgang Schmale zufolge war die Identitätspolitik der Kern-EG im Zeitraum 1951–1986 eine „vor-reflexive“, bis zur ersten Erweiterung von 1972 gar eine episodische, wobei von einem expliziten Identitätsmanagement mittels Symbolen nicht die Rede sein

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Zit. nach Hans Gresmann: Ein Europa der offenen Tür. Nicht Reißbrettplanung, sondern Fahrplan der Vernunft, in: Die Zeit, 13. 4. 1962, URL http://www.zeit.de/1962/15/ein-europa-der-offenen-tuer, letzter Zugriff: 05. 10. 2016. Noch ein halbes Jahrhundert später konstatierte der Berliner Europa-Historiker Hartmut Kaelble als Hallstein’sche Langzeitwirkung, „[d]ie europäische Identität wirkt daher oft trocken, gefühlsarm, unsinnlich und weit mehr als nationale Identitäten wie eine Kopfgeburt“. Vgl. Hartmut Kaelble: Europäische Identitäten, in: Jahrbuch für Europäische Geschichte 13 (2012), S. 141–146, hier S. 144.

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konnte, geschweige denn von einer zielgerichteten Geschichtspolitik. 5 Erst der Beitritt Großbritanniens, Irlands und Dänemarks veranlasste die Gemeinschaft der nun Neun auf ihrem Kopenhagener Gipfeltreffen vom Dezember 1973 zur Formulierung einer „Erklärung über die Europäische Identität“. Doch ungeachtet der Verwendung von Begriffen wie „gemeinsames Erbe“, „Geschichte“ und „Vergangenheit“ handelte es sich bei dieser Kopenhagener Erklärung um ein ausgesprochen gegenwarts- und zukunftsbezogenes Dokument, das in erster Linie den „Zusammenhalt gegenüber der übrigen Welt und die daraus erwachsenden Verantwortlichkeiten“ betonte. 6 Die EG positionierte sich hier mittels Selbstverständigung vor allem nach außen – gegenüber den USA und dem sowjetischen Machtbereich, auch gegenüber China und Japan –, wobei der „innere Zusammenhalt“ und die „Wesenselemente“ europäischer „Einheit“ nachrangig waren. Mittelfristig aber kam dem Schweizer Politikwissenschaftler Tobias Theiler zufolge der Erklärung von 1973 entscheidende Bedeutung für die weitere Identitätsfindung samt -stiftung der EWG/EG zu: „[B]y the 1980s this had led to the appearance in Commission and EP discourse not only of shared European heritage, a European identity and European values, but also, in places, of a European culture and a European people.“ 7 Ein deutlicher Beleg dafür ist der 1985 veröffentlichte Bericht des Ad hoc-Komitees „On a People’s Europe“, der nach dem Komiteevorsitzenden, dem Italiener Pietro Adonnino, benannt war. Er beinhaltete eine Reihe konkreter Vorschläge an den Europäischen Rat zur Identitätsstiftung, darunter die Einführung eines bereits 1980 vorgeschlagenen EG-weit einheitlich gestalteten Führerscheins, eines europäischen TV-Kanals, einer „European Academy of Science, Technology and Art“, einer „Euro-Lottery“, einer EG-Flagge, eines EG-Emblems, einer EG-Hymne, nationa5

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Wolfgang Schmale: Geschichte und Zukunft der Europäischen Identität, Stuttgart 2008, S. 121–126. Das bedeutet allerdings nicht, wie Chiara Bottici und Benoît Challand unter Verweis auf die Präambel zum Gründungsvertrag der Montanunion von 1951 hervorgehoben haben, dass es den Gründervätern um Robert Schuman an Geschichtsbewusstsein gemangelt habe. Denn in der Präambel heißt es, die Signatare seien „entschlossen, an die Stelle der jahrhundertealten Rivalitäten einen Zusammenschluß ihrer wesentlichen Interessen zu setzen [sowie] durch die Errichtung einer wirtschaftlichen Gemeinschaft den ersten Grundstein für eine weitere und vertiefte Gemeinschaft unter Völkern zu legen, die lange Zeit durch blutige Auseinandersetzungen entzweit waren“ [Hervorh. S. T.]. Vgl. Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vom 18. April 1951 (Auszüge), URL: http://hdg.de/lemo/html/dokumente/JahreDesAufbausInOstUndWest_vertragEgks/index.html, letzter Zugriff: 05. 10. 2014; Chiara Bottici, Benoît Challand: Imagining Europe. Myth, Memory, and Identity, Cambridge 2013, S. 52 f. Die Formel von „der historischen Bedeutung der Überwindung der Teilung des europäischen Kontinents“ in der Präambel des Maastricht-Vertrags von 1992 wurde wörtlich in diejenige des Lissabon-Vertrags von 2007 übernommen. Dokument über die europäische Identität (1973), in: Hagen Schulze, Ina Ulrike Paul (Hrsg.): Europäische Geschichte. Quellen und Materialien, München 1994, S. 280–283, hier S. 280. Tobias Theiler: Political Symbolism and European Integration, Manchester u. a. 2005, S. 56. Vgl. auch Oriane Calligaro: EU Action in the Field of Heritage. A Contribution to the Discussion on the Role of Culture in the European Integration Process, in: Marloes Beers, Jenny Raflik (Hrsg.): National Cultures and Common Identity. A Challenge for Europe?, Brussels 2010, S. 87–98; Gudrun Quenzel: Konstruktion von Europa. Die europäische Identität und die Kulturpolitik der Europäischen Union, Bielefeld 2005.

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ler Briefmarken mit EG-Bezug sowie das Aufstellen von EG-Hinweisschildern an den Außen- wie Binnengrenzen. 8 Während die symbol(polit)ischen Komponenten des Adonnino-Berichts konsensfähig waren, waren es seine Institutionalisierungsvorschläge nicht. Das Jahr 1986 sieht Schmale dann als Beginn einer „reflexiven Phase Europäischer Identitätspolitik“, die ihm zufolge auf sechs „Säulen“ ruht. Diese sind: 1. „Sichtbare Symbole europäischer Zusammengehörigkeit“ wie Flagge, Hymne und Europatag am 9. Mai; 2. die EU-Staatsbürgerschaft samt Wahlrecht zum Europäischen Parlament, kommunalem Wahlrecht am Erstwohnsitz und anderes; 3. der Euro als (fast) gemeinsame Währung; 4. gemeinsame Werte wie Grund- und Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Frieden; 5. „Gemeinsamkeitsstrategien“ wie gemeinsamer Markt und gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. „Schließlich (Säule 6) betreibt die EU im Rahmen ihrer sehr weit gefassten Kulturpolitik Geschichtspolitik, um die identitätsstiftende Rolle von Geschichte zu nutzen. Diese Politik äußert sich in einer Fülle von Maßnahmen: die Europaausstellungen, die Schaffung eines europäischen Museums, die Förderung von Publikationen, die Einrichtung einer Verbindungsgruppe von europäischen Zeithistorikern, die Förderung von geisteswissenschaftlichen und kulturellen Projekten (Europa 2000; Rahmenprogramme), die gemeinsame Aufarbeitung des Holocaust.“ 9

Zu nennen wären des Weiteren Innovationen wie der 1985 eingeführte einheitliche weinrote Reisepass mit der Aufschrift „Europäische Gemeinschaft“ (ab 1993 „Europäische Union“) in der jeweiligen Landessprache sowie der im Alltag der 28 wohl auffälligste Bezug zur EU: Das europaweit einheitliche Design von Kfz-Kennzeichen mit dem blau-gelben EU-Emblem, in welches das jeweilige Nationalitätszeichen integriert ist. Überdies gibt es seit 1985 die Ausschreibung für eine „Kulturstadt

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Ad hoc Committee „On a People’s Europe“: Report to the European Council, Milan, 28 and 29 June 1985, S. 33 (A 10.04 COM 85, SN/2536/3/85), URL: http://www.ombudsman.europa.eu/de/resources/historicaldocument.faces/de/4659/html.bookmark, letzter Zugriff: 05. 10. 2016. Vgl. dazu auch Cris Shore: Building Europe. The Cultural Politics of European Integration, London 2000, S. 44–50. Schmale: Geschichte und Zukunft der Europäischen Identität, 2008, S. 127–130, hier S. 128. Vgl. auch Kiran Klaus Patel: Europas Symbole. Integrationsgeschichte und Identitätssuche seit 1945, in: Internationale Politik 59 (2004) 4, S. 11–18, der die Einführung von Fahne und Hymne der EG als Reaktion auf die niedrige Wahlbeteiligung bei der Europawahl 1984 deutet (S. 16), sowie Shore: Building Europe, 2000, S. 40–66; Albrecht Riethmüller: Die Hymne der Europäischen Union, in: Pim den Boer et al. (Hrsg.): Europäische Erinnerungsorte. Bd. 2: Das Haus Europa, München 2012, S. 89– 96; Hartmut Kaelble: European Symbols, 1945–2000: Concept, Meaning and Historical Change, in: Luisa Passerini (Hrsg.): Figures d’Europe. Images and Myths of Europe, Brussels u. a. 2003, S. 47– 61; Markus Göldner: Politische Symbole der europäischen Integration. Fahne, Hymne, Hauptstadt, Pass, Briefmarke, Auszeichnungen, Frankfurt am Main u. a. 1988.

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Europas“ (seit 1999 „Kulturhauptstadt Europas“) sowie seit 1987 den „Women of Europe Award“. 10 Die einschlägigen Empfehlungen eines „Komitees der Weisen“, das Kommissionspräsident Jacques Delors infolge des verheerenden französischen Referendums von 1992 unter der Leitung des ehemaligen belgischen EG-Kommissars Willy de Clercq einsetzte, wurden hingegen nicht umgesetzt. Aufgabe des Komitees war es, Vorschläge zur Optimierung der EG-Kommunikationspolitik zu machen, um so das Image der Gemeinschaft und ihr Zusammengehörigkeitsgefühl zu verbessern. De Clercq und seine Mitstreiter schlugen in ihrem 1993 vorgelegten Bericht unter anderem die Ausstellung einer EU-Geburtsurkunde für alle Neugeborenen, eine „Europäische Bibliothek und Museum“, eine „europäische Dimension“ in allen Schulbüchern und Curricula, einen hierarchisch über nationalen Auszeichnungen stehenden EU-Verdienstorden, ein neues EU-Logo mit dem lateinischen Motto „In Uno Plures“ sowie regelmäßige, europaweit übertragene TV-Ansprachen des Kommissionspräsidenten an „die Frauen und die Jugend Europas“ vor. 11 ‚Geschichte‘ als identifikatorischer Referenzrahmen indes blieb bis zur ersten EU-Osterweiterung von 2004 bestenfalls schmückendes Beiwerk Brüsseler Politik, eine Unterkategorie von ‚Kultur‘, wie auch der Primat des Europarats auf diesem Politikfeld seitens Brüssels weitgehend unangetastet blieb. Ein Grund dafür war, dass die Kommission in Brüssel auf das Stichwort ‚Geschichte‘ teilweise allergisch reagierte. Dies ging auf das vernichtende Echo zurück, das eine EG-offiziöse Gesamtdarstellung zur Geschichte Europas aufgrund ihres dezidiert „christlich-abendländischen“ Tenors und heroisierend-triumphalen Tons ausgelöst hatte. 12 Das Buchprojekt war von der Kommission unterstützt und 1990 veröffentlicht worden. Mit anderen Worten: An dem von Konflikten, Missverständnissen und Verweigerungshaltungen geprägten und primär bilateralen „Abgleich der nationalen Gedächtnisse“ (Dan Diner) im Mittel- und Osteuropa der 1990er-Jahre, wie ihn das Ende des Kalten Krieges und die verhandelten Transitionen von 1989/1991 an ermöglicht hatten, war die EG/EU nur peripher beteiligt. Die italienische Zeithistorikerin Oriane Calligaro hat angemerkt, es sei bezeichnend gewesen, dass das Europäische Parlament 1993 zwar eine „Resolution on European and International Preservation of the Sites of Nazi Concentration Camps as Historical Memorials“ verabschiedete, indes den Antrag eines deutschen Abgeordneten auf Einschluss von Gedenkstätten an den Stalinismus abgelehnt habe. 13 Der Münchner Politikwissenschaftler Michael Weigl

10 Shore: Building Europe, 2000, S. 60–62, 87–122. 11 Ebd., S. 54–56. 12 Jean Baptiste Duroselle: Europe. A History of its Peoples, London 1990. Zur Geschichte dieses Flops vgl. Theiler: Political Symbolism, 2005, S. 122–125; Shore: Building Europe, 2000, S. 59 f.; Norman Davies: Europe. A History, Oxford 1996, S. 43 f. 13 Calligaro: EU Action in the Field of Heritage, 2010, S. 94 f. Vgl. auch European Parliament Resolution on European and International Preservation of the Sites of Nazi Concentration Camps as Historical Memorials, 11 February 1993, in: Official Journal of the European Communities, C 72, 15. 3. 1993.

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vertritt daher die These, „dass sich die europäische Identitätspolitik zwar seit 1990 historisch umorientiert hat, dieser Wandel aber nicht dazu führte, Diktaturerfahrungen identitär breiten Raum einzuräumen, sondern im Gegenteil diese Erinnerungen weiter an den Rand gedrängt worden seien.“ 14 In der Fixierung der EU auf die im Jahr 2000 kanonisierte „United in diversity“-Parole sieht er den Grund für das Ausbleiben eines „europäischen Identitätsangebots“, „welches als Dach über den regionalen und nationalen Identitäten fungieren könnte“. Entsprechend konstatiert er, „den europäischen Identitätsangeboten mangelt es seit dem Ende der Blockkonfrontation an einer stringent aus der Historie abgeleiteten Zukunftsvision für Europa, welche alle Bürger gleichermaßen emotionalisieren und für Europa begeistern könnte.“ 15 Als Ursache für dieses Defizit an Identifikationsfolien führt der Berliner Europahistoriker Hartmut Kaelble an, dass die EU – anders als die in ihr vereinten Mitgliedstaaten – keine einer Nationalgeschichte vergleichbare gemeinsame Geschichte aufweist: Lacking are the typical ingredients of national history – a common war of independence, a common period of defeat and suffering, a common period of subsequent reaffirmation of the body politic, a history of common frontiers, and a common historical memory. (. . . ) Europe lacks a symbolic capital such as Paris or London. Brussels is an administrative center, but no capital with which to identify, for lack of what one would expect from a capital: a purposeful architectural ensemble of buildings for the European Parliament, the European Commission, and the European Council; a European museum, a European opera and theater, a European academy of sciences, a major European university, a European library, European monuments, and European street names. 16

Daraus ist mit einiger Berechtigung zu schließen, dass die 1973 einsetzenden und seit 1985 verstärkten Brüsseler Versuche, gleichsam auf dem Verordnungswege mit administrativen Maßnahmen europäische Identität zu stiften, wenig wirksam waren. Die von den genannten Autoren angeführte „Geschichtslosigkeit“ und Symbolarmut beziehungsweise das „Mythendefizit“ 17 des europäischen Mehrebenensystems waren dann sicher mit ein Grund dafür, dass der clash of cultures of remembrance, der die EU trotz der bereits 1989 erfolgten ‚Ansage‘ 2004 im Zuge ihrer Osterweiterung gleichsam unvorbereitet traf, hart ausfiel. Ein anderer Grund war ihr tiefsitzender Okzidentalismus samt Transatlantismus. Die alte EG hatte kein Szenario für ein mögliches Ende des Ost-West-Konflikts entwickelt, geschweige denn 14 Michael Weigl: Europa neu denken? Zur historischen Umorientierung europäischer Identitätspolitik, in: Katrin Hammerstein et al. (Hrsg.): Aufarbeitung der Diktatur – Diktat der Aufarbeitung? Normierungsprozesse beim Umgang mit diktatorischer Vergangenheit, Göttingen 2009, S. 177–188, hier S. 178. 15 Michael Weigl: Europas Ringen mit sich selbst. Grundlagen einer europäischen Identitätspolitik, Gütersloh 2006, URL: http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-924884BD-914FFCD2/ bst/Europas_Ringen_mit_sich_selbst.pdf, letzter Zugriff: 05. 10. 2016. 16 Hartmut Kaelble: Identification with Europe and politicization of the EU since the 1980s, in: Jeffrey T. Checkel, Peter J. Katzenstein (Hrsg.): European Identity. Cambridge 2009, S. 193–212, hier S. 207. Vgl. auch Ders.: Europäische Identitäten, 2012, S. 143 f. 17 Wolfgang Schmale: Scheitert Europa an seinem Mythendefizit?, Bochum 1997.

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für die von ihr rhetorisch mitunter invozierte „Wiedervereinigung des Kontinents“. Und so wenig wie die postkommunistischen Gesellschaften über den europäischen Integrationsprozess wussten, so wenig wussten die ‚alten‘ EU-Mitglieder über die Aufnahmekandidaten „im Osten“. Für das Geschichtsbild der Brüsseler Akteure, für die Geschichtspolitik des Parlaments und für das Identitätsmanagement der EU insgesamt hatte der Umstand, dass die gänzlich andere Sicht der Ostmitteleuropäer auf die Diktaturen des 20. Jahrhunderts von 2004 an von diesen selbst im Europäischen Parlament vorgetragen sowie im Streit mit Abgeordneten aus Westeuropa verteidigt wurde, weitreichende Folgen.

Nach der Osterweiterung 18 Die zwischen Januar 2005 und Januar 2009 angenommenen Entschließungen des Parlaments („zum Gedenken an den Holocaust sowie zu Antisemitismus und Rassismus“, 19 „zum 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa am 8. Mai 1945“, 20 „zum Gedenken an den Holodomor, die wissentlich herbeigeführte Hungersnot von 1932/1933 in der Ukraine“ 21 sowie „zum serbischen Massaker an 8000 bosnischen Muslimen von 1995 in Srebrenica“ 22) bildeten den einen Teil der neuen EU-Geschichtspolitik. Den anderen stellten zwei Parlamentsdebatten dar: 2005 wurde „Die Zukunft Europas 60 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg“ 23 behandelt und anlässlich des „70. Jahrestags des Staatsstreichs durch Franco in Spanien“

18 Im Folgenden stütze ich mich auf zwei eigene Vorstudien: Stefan Troebst: Der 23. August als euroatlantischer Gedenktag? Eine analytische Dokumentation, in: Anna Kaminsky, Dietmar Müller, Stefan Troebst (Hrsg.): Der Hitler-Stalin-Pakt 1939 in den Erinnerungskulturen der Europäer, Göttingen 2011, S. 85–121; Ders.: Die Europäische Union als „Gedächtnis und Gewissen Europas“? Zur EU-Geschichtspolitik seit der Osterweiterung, in: Etienne François et al. (Hrsg.): Geschichtspolitik in Europa seit 1989. Deutschland, Frankreich und Polen im internationalen Vergleich, Göttingen 2013, S. 92–155. 19 Entschließung des Europäischen Parlaments zum Gedenken an den Holocaust sowie zu Antisemitismus und Rassismus, 27. 1. 2005, URL: http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-// EP//TEXT+TA+P6-TA-2005-0018+0+DOC+XML+V0//DE, letzter Zugriff: 09. 10. 2016. 20 Entschließung des Europäischen Parlaments zum 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa am 8. Mai 1945, 12. 5. 2005, URL: http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?type= TA&reference=P6-TA-2005-0180&language=DE&ring=B6-2005-0290, letzter Zugriff: 09. 10. 2016. 21 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 23. Oktober 2008 zu dem Gedenken an den Holodomor, die wissentlich herbeigeführte Hungersnot von 1932/1933 in der Ukraine, 23. 10. 2008, URL: http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+TA+P6-TA-2008-0523+0+ DOC+XML+V0//DE, letzter Zugriff: 09. 10. 2016. 22 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 15. Januar 2009 zu Srebrenica, 15. 1. 2009, URL: http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?type=TA&reference=P6-TA-2009-0028& language=DE, letzter Zugriff: 09. 10. 2016. 23 Europäisches Parlament, Plenardebatten, 11. 5. 2005: Die Zukunft Europas 60 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, URL: http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+CRE+ 20050511+ITEM-016+DOC+XML+V0//DE, letzter Zugriff: 09. 10. 2016.

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fand 2006 die zweite Debatte statt. 24 Dabei kam es zu erheblichen Meinungsverschiedenheiten mit heftigen Wortgefechten zwischen ‚alten‘ westeuropäischen und ‚neuen‘ ostmitteleuropäischen Abgeordneten. Streitpunkt war die auf westeuropäischer Seite befürchtete Enthierarchisierung des Gedenkens der industriellen Vernichtung der Juden Europas durch den Nationalsozialismus zugunsten der von den Osteuropäern geforderten Erinnerung an die stalinistischen Gesellschaftsverbrechen. Der US-britische Europahistoriker Tony Judt hat die Wirkungen der osteuropäischen Stalinismus-Erinnerung auf die sich erweiternde EU in seiner eindrücklichen Gesamtdarstellung Postwar. A History of Europe since 1945 wie folgt beschrieben: With this post-Communist re-ordering of memory in eastern Europe, the taboo on comparing Communism with Nazism began to crumble. Indeed politicians and scholars started to insist upon such comparisons. In the West this juxtaposition remained controversial. Direct comparisons between Hitler and Stalin were not the issue; few now disputed the monstrous quality of both dictators. But the suggestion that Communism itself – before and after Stalin – should be placed in the same category as Fascism and Nazism carried uncomfortable implications for the West’s own past, and not only in Germany. To many western European intellectuals, Communism was a failed variant of a common progressive heritage. But to their central and east European counterparts it was an all too successful local application of the criminal pathologies of twentieth-century authoritarianism and should be remembered thus. Europe might be united, but European memory remained deeply asymmetrical. 25

In der Debatte vom 11. Mai 2005 aus Anlass des 60. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkriegs versuchte der amtierende EU-Ratspräsident, der Luxemburger JeanClaude Juncker, in seinem Eröffnungsstatement die geschichtspolitische Balance zu wahren. Einerseits hob er den Beitrag der „Soldaten der Roten Armee“ zur „Befreiung Europas“ vom Nationalsozialismus hervor und sagte: Welch ungeheure Verluste! Wie viele Leben wurden abrupt abgebrochen in Russland, das für die Befreiung Europas 27 Millionen Tote gab! Niemand muss – wie ich es tue – große Liebe für das eigentliche Russland, das ewige Russland empfinden, um anzuerkennen, dass Russland große Verdienste für Europa erworben hat. 26

Andererseits sprach er die ganz andere historische Erfahrung Ostmitteleuropas an:

24 Europäisches Parlament, Plenardebatten, 4. 7. 2006: Jahrestag des Staatsstreichs durch Franco in Spanien, URL: http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef= -//EP//TEXT+CRE+ 20060704+ITEM-004+DOC+XML+V0//DE, letzter Zugriff: 09. 10. 2016. 25 Tony Judt: Postwar. A History of Europe since 1945, New York 2005, S. 826. Ebd., S. 165–225, beschreibt Judt die seitens der Sowjetunion oktroyierte Stalinisierung des östlichen Mitteleuropa wie die partielle Selbststalinisierung westeuropäischer Gesellschaften wie Italien und Frankreich. Zum neueren Forschungsstand vgl. Michael Geyer, Sheila Fitzpatrick (Hrsg.): Beyond Totalitarianism. Stalinism and Nazism Compared, Cambridge 2009. 26 Europäisches Parlament, Plenardebatten, 11. Mai 2005. Junker entging dabei, dass die Rote Armee keine „russische“, sondern eine sowjetische, das heißt ihrer ethnischen Zusammensetzung nach vor allem eine ukrainische, kasachische, belarussische war.

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Doch die Anfang Mai 1945 wieder erlangte Freiheit wurde nicht überall in Europa in gleichem Maße spürbar. Wir in unserem westlichen Teil Europas, die wir fest in unseren alten Demokratien etabliert waren, konnten nach dem Zweiten Weltkrieg in Freiheit leben, in einer wieder erlangten Freiheit, deren Preis wir kannten. Doch diejenigen, die in Mitteleuropa und in Osteuropa lebten, kamen nicht in den Genuss der Freiheit, die wir fünfzig Jahre lang erlebten. Sie waren einem fremden Gesetz unterworfen. Die baltischen Länder, deren Ankunft in Europa ich begrüßen möchte und denen ich sagen möchte, wie stolz wir darauf sind, dass sie nun zu uns gehören, wurden gewaltsam in ein fremdes Staatsgebilde eingegliedert. Sie erlebten nicht die pax libertatis, sondern die pax sovietika, die ihnen fremd war. Diese Völker, diese Nationen, die von einem Unglück in das andere stürzten, haben mehr gelitten als alle anderen Europäer. Den anderen mittel- und osteuropäischen Ländern war nicht das außergewöhnliche Maß an Selbstbestimmung vergönnt, in dessen Genuss wir in unserer Region Europas kamen. Sie waren nicht frei. Sie mussten sich einem System unterordnen, das ihnen aufgezwungen wurde. 27

In der anschließenden Aussprache, welche der konservative polnische Abgeordnete Wojciech Roszkowski, von Beruf Zeithistoriker und Ökonom, 28 als „vielleicht die wichtigste Debatte über die europäische Identität, die wir seit Jahren geführt haben“, bezeichnete, wandte sich der französische Kommunist und Parlamentsveteran Francis Wurtz vehement gegen eine „Entschuldigung von Naziverbrechen durch einen Verweis auf die stalinistischen Verbrechen“, da „der Nazismus keine Diktatur oder Tyrannei unter anderen war, sondern vielmehr ein vollständiger Bruch mit der gesamten Zivilisation“. Dem hielt das ungarische FIDESZ-Mitglied József Szájer entgegen: „Wer einen unschuldigen Gefangenen aus dem einen Gefängnis befreit und ihn in ein anderes sperrt, ist ein Gefängniswärter und kein Befreier.“ Nahezu sämtliche Abgeordnete aus Ostmitteleuropa betonten, dass der 8. Mai 1945 ohne Kenntnis dessen, was am 23. August 1939 geschah, nicht zu verstehen sei. Roszkowski wandte sich explizit gegen die russländische Geschichtspolitik mit ihrer Relativierung des Hitler-Stalin-Pakts und der Verbrechen des Diktators selbst. 29 Die am 12. Mai 2005 angenommene „Entschließung des Europäischen Parlaments zum 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa am 8. Mai 1945“ invozierte entsprechend die „Erinnerung daran, dass das Ende des Zweiten Weltkriegs für einige Nationen eine erneute Diktatur, diesmal durch die stalinistische Sowjetunion, bedeutete“. 30 27 Ebd. 28 Roszkowski, Autor zahlreicher Untersuchungen, Gesamtdarstellungen und Schulbücher zur polnischen Zeitgeschichte, hat bereits vor 1989 unter dem Pseudonym „Andrzej Albert“ eine seinerzeit viel beachtete mehrbändige Geschichte Polens im 20. Jahrhundert in Solidarno´sc´ -nahen Untergrundverlagen veröffentlicht (Najnowsza historia Polski, 1918–1980, Warszawa 1983). 29 Europäisches Parlament, Plenardebatten, 11. Mai 2005. 30 Entschließung des Europäischen Parlaments zum 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa am 8. Mai 1945, 12. 5. 2005. Bezeichnenderweise hatten sich Debatten des Europäischen Parlaments vor der ersten Osterweiterung, etwa über die Gültigkeit der Beneš-Dekrete des Beitrittskandidaten Tschechische Republik, nicht in Resolutionsform niedergeschlagen. Vgl. Christian Domnitz: Die Beneš-Dekrete in parlamentarischer Debatte. Kontroversen im Europäischen Parlament und im tschechischen Abgeordnetenhaus vor dem EU-Beitritt der Tschechischen Republik, Münster 2007.

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Dass lediglich 49 Abgeordnete gegen die Entschließung stimmten – bei 33 Enthaltungen und 463 Ja-Stimmen –, lag nicht zuletzt an einer kurz zuvor getätigten Äußerung des Staatspräsidenten der Russländischen Föderation, Vladimir V. Putin. Auf einer Pressekonferenz in Moskau hatte er den Hitler-Stalin-Pakt als „eine persönliche Angelegenheit zwischen Stalin und Hitler“ abgetan und die im Geheimen Zusatzprotokoll vereinbarte territoriale Aufteilung Ostmitteleuropas zwischen dem ‚Dritten Reich‘ und der Sowjetunion als bloße „Rückgabe“ von Gebieten, die Sowjetrussland im Vertrag von Brest-Litovsk 1918 an Deutschland hatte abtreten müssen, bezeichnet. 31 Die Kluft zwischen Europaparlamentariern aus Ost und West wurde in der Plenardebatte vom 4. Juli 2006 zum 70. Jahrestag des Staatsstreichs durch General Francisco Franco in Spanien 1936 besonders deutlich. Der rechtsnationale polnische Abgeordnete Maciej Marian Giertych bezeichnete dabei den Caudillo als Retter Mittel- und Westeuropas vor der „kommunistischen Pest“: Die Existenz von Persönlichkeiten wie Franco (. . . ) in der europäischen Politik hat für den Erhalt traditioneller europäischer Werte gesorgt. Solche Staatsmänner gibt es heute nicht mehr. Bedauerlicherweise sind wir Zeugen eines historischen Revisionismus, der alle Dinge, die traditionell und katholisch sind, in einem ungünstigen Licht darstellt, und alles, was weltlich und sozialistisch ist, in einem günstigen Licht. Wir sollten nicht vergessen, dass der Nazismus in Deutschland und der Faschismus in Italien auch sozialistische und atheistische Wurzeln haben. 32

Es war nicht zufällig ein deutscher Abgeordneter – der seit 2012 als EU-Parlamentspräsident amtierende Sozialdemokrat Martin Schulz –, der seinen polnischen Kollegen scharf attackierte: „Das, was wir gerade gehört haben, ist der Geist von Herrn Franco. Es war eine faschistische Rede, die im Europaparlament nichts zu suchen hat.“ 33

31 V. Putin o pakte Molotova-Ribbentropa: „Chorošo e˙ to bylo ili plocho – e˙ to istorija“ [V. Putin über den Molotow-Ribbentrop-Pakt: „Ob das gut war oder schlecht – es ist Geschichte“], in: Regnum. Informacionnoe agentstvo, 10. 5. 2005, URL: http://www.regnum.ru/news/451397.html, letzter Zugriff: 05. 10. 2016. Unter Bezug auf die Verurteilung des Paktes samt Zusatzprotokoll durch den Zweiten Kongress der Volksdeputierten der erodierenden UdSSR am 24. 12. 1989 hatte Putin überdies verärgert angefügt: „Was will man denn noch? Sollen wir das jedes Jahr wieder verurteilen? Wir halten dieses Thema für abgeschlossen und werden nicht mehr darauf zurückkommen. Wir haben uns einmal dazu geäußert und das genügt.“ (Ebd.) Vgl. auch Tat’jana Timofeeva: „Ob gut, ob schlecht, das ist Geschichte“. Russlands Umgang mit dem Hitler-Stalin-Pakt, in: Osteuropa 59 (2009) 7–8, S. 257– 271; sowie Jutta Scherrer: Der Molotow-Ribbentrop-Pakt – (k)ein Thema der russischen Öffentlichkeit und Schule, in: Kaminsky, Müller, Troebst (Hrsg.): Der Hitler-Stalin-Pakt 1939, 2011, S. 155– 173; Wolfram von Scheliha: Der Pakt und seine Fälscher. Der geschichtspolitische Machtkampf in Russland zum 70. Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts, in: Ebd., S. 175–197. 32 Europäisches Parlament, Plenardebatten, 4. 7. 2006. 33 Ebd.

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Eine weitere Zuspitzung erfuhr der Ost-West-Streit 2007 während der Verhandlungen des Rates über einen Rahmenbeschluss zu Rassismus und Xenophobie. 34 Polen und die baltischen Staaten verlangten, Massenmord, Deportation, Großen Terror und GULag in der Sowjetunion unter Stalin explizit mit in den Entwurf aufzunehmen, und forderten ein europaweites Verbot der Billigung, Leugnung oder Verharmlosung dieser Verbrechen. Immerhin konnten sie beim Rat einen Teilerfolg erzielen, denn im April 2007 vereinbarten die Justiz- und Innenminister der 27 dazu Folgendes: Der Rat ersucht die Kommission, innerhalb von zwei Jahren nach Inkrafttreten des Rahmenbeschlusses zu prüfen, und dem Rat Bericht zu erstatten, ob ein zusätzliches Instrument benötigt wird, um das öffentliche Billigen, Leugnen oder gröbliche Verharmlosen von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen mit unter Strafe zu stellen, wenn sich die genannten Straftaten gegen eine Gruppe von Personen richten, die sich durch andere Kriterien definieren als durch Rasse, Hautfarbe, Religion, Abstammung oder nationale oder ethnische Herkunft, wie etwa sozialer Status oder politische Verbindungen. 35

Nur Eingeweihte konnten darin den Bezug auf kommunistische Gesellschaftsverbrechen erkennen. Darüber hinaus wurde angekündigt, die Kommission werde „eine öffentliche europäische Anhörung zu von totalitären Regimen begangenen Völkermordverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen“ durchführen und „gegebenenfalls einen Vorschlag für einen Rahmenbeschluss zu diesen Verbrechen unterbreiten“. 36 Diese Anhörung fand unter der slowenischen EU-Ratspräsidentschaft am 8. April 2008 in Brüssel statt. Geladen waren primär ostmitteleuropäische Experten, und im Zentrum standen kommunistische Staatsverbrechen. 37 Die anwesenden EU-Parlamentarier aus Ostmitteleuropa übermittelten anschließend dem Rat einen aus acht Punkten bestehenden Aktionsplan, in dem unter anderem die „Gründung einer europäischen Stiftung, die (. . . ) Forschungsinstitutionen einzelner Länder, die sich auf Fragestellungen zur totalitären Gewaltherrschaft spezialisiert haben, bei der Vernetzung unterstützt“ sowie „die Erstellung von Konzepten für ein europäisches Museum über totalitäre Regime und für ein Denkmal, das die Opfer dieser Regime rehabilitiert und ihnen ein angemessenes Gedenken zuteilwerden lässt“, angeregt wurden. Besonderer Symbolgehalt kam dabei den Forderungen nach „Einrichtung eines europäischen Gedenktags für die Opfer totalitärer Gewaltherrschaft (zum Beispiel am 23. August, dem Datum, an dem der Molotow-

34 Rahmenbeschluss 2008/913/JI des Rates vom 28. November 2008 zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, URL: http:// eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/ALL/?uri=CELEX:32008F0913, letzter Zugriff: 05. 10. 2016. 35 Rat der Europäischen Union: Mitteilung an die Presse. 2749. Tagung des Rates. Justiz und Inneres, Luxemburg, 19./20. 4. 2007 (8364/07, Presse 77), S. 25, URL: http://www.consilium.europa.eu/ uedocs/cms_data/docs/pressdata/de/jha/93799.pdf, letzter Zugriff: 13. 7. 2014. 36 Ebd. 37 Vgl. dazu den Anhörungsbericht: Peter Jambrek (Hrsg.): Crimes Committed by Totalitarian Regimes, Ljubljana 2008, URL: http://www.crce.org.uk/lessons/Articles/eu_hearing.pdf, letzter Zugriff: 05. 10. 2016.

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Ribbentrop-Pakt geschlossen wurde)“ und nach „Durchsetzung des Grundsatzes der Gleichbehandlung und der Nicht-Diskriminierung für die Opfer sämtlicher totalitärer Regime“ zu. 38 Die gesteigerte geschichtspolitische Aktivität des Parlaments in den Jahren 2005 und 2006 hatte unmittelbare Wirkung auf die weiterhin ‚westeuropäisch‘ dominierte und geschichtspolitisch auf das Holocaustgedenken fokussierte EU-Kommission. Diese Wirkung manifestierte sich in neuen zeithistorisch orientierten Förderprogrammen. So veröffentlichte die Kommission 2005 die Ausschreibung „Special Events within the framework of a European Union democracy campaign following the 60th anniversary of the liberation from fascism“. Im Rahmen der Förderlinie „Remembrance“ wurden fünf Pilotprojekte in Italien und Deutschland gefördert. 39 2006 wurde das Programm „Bürgerinnen und Bürger für Europa“ aufgelegt, welches im Zeitraum 2007–2013 „die aktive Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern am europäischen Integrationsprozess fördern“ sowie „das Verständnis der europäischen Bürger /innen füreinander stärken“, vor allem aber „Bürgerinnen und Bürgern die Entwicklung eines europäischen Identitätsgefühls ermöglichen“ sollte. 40 Eine von vier Programmkomponenten trägt den Titel „Aktive europäische Erinnerung“. Sie weist einerseits Bezüge zu den geschichtspolitischen Eckpfeilern der Programmatik des EU-Parlaments auf, betont aber andererseits das Weltkriegsgedächtnis gegenüber der Kommunismuserinnerung: 1. Aktion 4: Aktive europäische Erinnerung 2. Jahrzehnte des Friedens, der Stabilität und des Wohlstands trennen Europa von den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs. Um jedoch sicherzustellen, dass sich die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen, dass die Gegenwart gewürdigt und für die Zukunft vorgesorgt wird, ist es wichtig, die Erinnerung an diese Zeit wach zu halten. 3. Die größten Kriege des letzten Jahrhunderts hat Europa weit hinter sich gelassen, und sie werden sicherlich in noch weitere Ferne rücken, wenn die letzten Überlebenden gestorben sind. Die traumatisierenden Ereignisse liegen schon so lange zurück, dass die Grundwerte der EU, wie Freiheit, Demokratie und Achtung der Menschenrechte, leicht als selbstverständlich hingenommen werden. 4. Die geschichtliche Erfahrung des Nationalsozialismus und des Stalinismus unterstreicht jedoch, wie wichtig und kostbar unsere heutigen demokratischen Werte sind. Durch das Gedenken der Opfer sowie die Erhaltung der Stätten und Archive in Bezug auf Deportationen

38 Ebd., S. 313 f. (Contribution of the 1st European hearing on „Crimes Committed by totalitarian regimes“, Brussels, 8 April 2008). Die deutsche Übersetzung ist zitiert nach Sandra Kalniete: Europa muss sich über die Bewertung der Totalitarismen in seiner Geschichte des 20. Jahrhunderts verständigen, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2009, S. 359–369, hier S. 368 f. 39 European Commission: About the Citizens for Europe Programme: Pilot Projects, 12/09/2011, URL: http://ec.europa.eu/citizenship/about-the-europe-for-citizens-programme/overview/action-4-activeeuropean-remembrance/remembrance_projects_en.htm, letzter Zugriff: 09. 10. 2016. 40 Europäische Kommission: Das Programm Europa für Bürgerinnen und Bürger: Programmziele und -prioritäten, URL: http://ec.europa.eu/citizenship/about-the-europe-for-citizens-programme/programme-objectives-and-priorities/index_de.htm, letzter Zugriff: 05. 10. 2016.

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sowie durch zahlreiche andere Aktionen können die Europäer, insbesondere die jüngeren Generationen, aus diesen dunklen Kapiteln der Geschichte Lehren für die Gegenwart und Zukunft ziehen. 5. Durch die Erinnerung an die Gräueltaten und Verbrechen der Vergangenheit können die Bürger über die Ursprünge der EU und die Geschichte der Europäischen Integration nachdenken, die den Frieden ihrer Mitglieder gewahrt und zur Sicherung ihres heutigen Wohlstands beigetragen hat. Darauf aufbauend, können die Menschen einen Weg zu der Art von Europa skizzieren, in dem sie in Zukunft leben möchten. Dies ist der Grundgedanke der Aktion 4: ‚Aktive europäische Erinnerung‘. (. . . ) 6. Die Ziele von Aktion 4 setzen sich aus folgenden Bestandteilen zusammen: ‚Aktionen, Diskussionen und Überlegungen zur europäischen Bürgerschaft und zur Demokratie, zur Wertegemeinschaft und zur gemeinsamen Geschichte und gemeinsamen Kultur fördern‘ und ‚Europa den Bürgern näher bringen, indem europäische Werte und Errungenschaften gefördert werden und gleichzeitig die Erinnerung an die Vergangenheit Europas bewahrt wird‘. 7. Es werden Projekte zur Erhaltung von Stätten von historischem und sozialem Interesse in Verbindung mit dem Nationalsozialismus und Stalinismus, wie etwa der Konzentrationslager des Zweiten Weltkriegs, gefördert. Die Erinnerung an die Erfahrungen jener, die den Krieg erlebten – und an die Millionen von Toten –, soll den jetzigen Generationen, insbesondere der Jugend, helfen, das Opfer ihrer Vorfahren zu verstehen. 41

Die Genfer Politikwissenschaftlerin Annabelle Littoz-Monnet sieht in einer mit „The EU Politics of Remembrance“ betitelten Analyse von 2011 in diesem Programm einen Ansatz der Kommission zur zielgerichteten „Konstruktion eines europaweiten Narrativs, das als Identifikationsmarker für europäische Bürger fungieren kann“. Dabei verweist sie darauf, dass das Programm auf Englisch „Active European Remembrance“ heißt, wobei der Terminus „remembrance“ im Gegensatz zum gängigeren Begriff „memory“ an sich bereits Aktion enthalte. 42 Unter Verwendung eines als „memory frame“ bezeichneten Interpretationsmusters – „defined here as shared interpretative lenses through which the past is made sense of by certain actors“ 43 – sieht sie als Folge der Osterweiterung in der EU einen heftigen Widerstreit zweier solcher „Erinnerungsrahmen“, deren einen sie „Holocaust as Unique“ und den anderen „Hitler and Stalin as equally Evil“ nennt. Ihr zufolge waren die „Erinnerungsrahmen“ der 1970er- und 1980er-Jahre, nämlich „the ‚Common Heritage‘ Frame“, „the ‚Founding

41 Europäische Kommission: Das Programm Europa für Bürgerinnen und Bürger. Aktion 4: Aktive europäische Erinnerung, URL: http://eacea.ec.europa.eu/citizenship/programme/action4_de.php, letzter Zugriff: 09. 10. 2016. Zur modifizierten Fortsetzung des Programms 2014–2020 – mit einem Schwerpunkt auf „Geschichtsbewusstsein und europäische Bürgerschaft“ – vgl. Europäisches Parlament. Generaldirektion Interne Politikbereiche, Europäisches historisches Gedächtnis, 2013, S. 17. 42 Annabelle Littoz-Monnet: The EU Politics of Remembrance, Genf 2011, S. 4 f., URL: http://graduateinstitute.ch/webdav/site/international_history_politics/shared/working_papers/WPIH_9_LittozMonnet.pdf, letzter Zugriff: 05. 10. 2016. Vgl. auch Dies.: The EU Politics of Commemoration PostEastern Enlargement, in: Bruno Arcidiacono et al. (Hrsg.): Europe Twenty Years after the End of the Cold War. The New Europe, New Europes?, Bruxelles u. a. 2012, S. 63–78. 43 Littoz-Monnet: The EU Politics of Remembrance, 2011, S. 4.

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Event‘ Frame“ und „the ‚Grand Moments of European Integration‘ Frame“, im Vergleich dazu deutlich weniger erfolgreich oder sogar erfolglos. 44 In den 1990er-Jahren gewann der geschichtspolitische Holocaust-Bezug europaweit an Prominenz und führte im Januar 2000 zur Erklärung des Stockholmer Internationalen Forums über den Holocaust. 45 Diese wurde von acht EU-Staaten, den USA, Israel, Argentinien, Norwegen sowie Ungarn, Litauen, Polen und der Tschechischen Republik unterzeichnet. Dass die Erklärung starke Auswirkungen auf die Geschichtspolitik der EU hatte, belegt Littoz-Monnet mit einer Äußerung von Beate Winkler, vormals Direktorin des European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia in Wien, vom Sommer 2005: „The Shoah is the traumatic experience of Europe’s recent history. It has driven the EU’s founders to build an united and peaceful Europe and thus been at the very root of European integration.“ 46 Noch bevor der Rückbezug auf den Holocaust als gleichsam neuer Gründungsmythos der EU einem Praxistest unterworfen wurde, setzte laut Littoz-Monnet die Rivalität mit dem ‚osteuropäischen‘ Interpretationsmuster ein, welches Nationalsozialismus und Kommunismus als Bezugsrahmen nahm. Die Politikwissenschaftlerin misst dem Kommissionsprogramm deutlich größere Bedeutung bei als den beschriebenen Parlamentsinitiativen, ebenso schreibt sie der Kommission, hier vor allem der Generaldirektion Bildung und Kultur, als Akteur einen höheren Stellenwert zu als Abgeordnetengruppierungen und Fraktionen. 47 So plausibel diese Interpretation auch ist, so groß ist zugleich der Unterschied in der Transparenz der Geschichtspolitiken von Parlament und Kommission. Während die Meinungsbildungs- und Konsensfindungsprozesse der EU-Parlamentarier quellenmäßig fassbar sind, sind die kommissionsinternen Diskussions- und Entscheidungsprozesse von außen kaum einsehbar. Entsprechend beschränkt sind die Analysemöglichkeiten, und entsprechend häufig greifen Forscher zur nicht immer unproblematischen Methode des Akteursinterviews. 48

44 Ebd., S. 10–14. 45 Vgl. dazu den Wortlaut unter URL: https://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2000/maerz/stockholmer-erklaerung-des-internationalen-forums-ueber-den-holocaust-v, letzter Zugriff: 05. 10. 2016; Michael Jeismann: Schuld – der neue Gründungsmythos Europas? Die Internationale Holocaust-Konferenz von Stockholm (26.–28. Januar 2000) und eine Moral, die nach hinten losgeht, in: Historische Anthropologie 8 (2000) 3, S. 454–458; Daniel Levy, Natan Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt am Main 2001, S. 210–216; Jens Kroh: Transnationale Erinnerung. Der Holocaust im Fokus geschichtspolitischer Initiativen, Frankfurt am Main 2008. 46 Beate Winkler: Introduction to Session 2, „Education on the Holocaust and on anti-Semitism“, in: OSCE Conference on Anti-Semitism and on Other Forms of Intolerance. Consolidated Summaries. Cordoba, 8 to 9 June 2005, S. 99–103, hier S. 99, URL: http://www.osce.org/cio/16526, letzter Zugriff: 05. 10. 2016. 47 Littoz-Monnet: The EU Politics of Remembrance, 2011, S. 17–24. 48 Zur Spezifik von Interviews mit EU-Kommissionsbeamten vgl. Shore: Building Europe, 2000, S. 7– 11.

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Die Resolution des Europäischen Parlaments „zum Gewissen Europas und zum Totalitarismus“ von 2009 Im europäischen Jubiläums- und Gedenkjahr 2009 – unter anderem 20 Jahre ‚friedliche Revolution‘ in Mittel- und Osteuropa, 60 Jahre Europarat, 70 Jahre HitlerStalin-Pakt und Beginn des Zweiten Weltkriegs, 90 Jahre Pariser Friedenskonferenz – setzte die Europäische Union in Gestalt ihres Parlaments ein ambitioniertes geschichtspolitisches Zeichen. In der „Entschließung des Europäischen Parlaments vom 2. April 2009 zum Gewissen Europas und zum Totalitarismus“ 49 lehnten die Abgeordneten jegliche Art von totalitären Ideologien und Diktaturen sowie autoritären Regimen, Rassismus, Antisemitismus, Faschismus, Nationalsozialismus, Kommunismus und Stalinismus ab und machten diese zum gemeinsamen Nenner der nationalen Erinnerungskulturen der 27 EU-Mitglieder sowie zum Grundpfeiler einer Kommission und Rat zugleich aufgetragenen systematischen EU-Geschichtspolitik. Die ungewöhnlich lange und streckenweise regelrecht geschichtsphilosophische Entschließung wurde mit 553 Ja-Stimmen bei nur 44 Nein-Stimmen und 33 Enthaltungen angenommen. Obwohl sie das geschichtspolitische Grundsatzdokument der osterweiterten Union darstellt, blieb sie von den Öffentlichkeiten der Mitgliedstaaten weitgehend unbemerkt. Der symbolische Kern der Entschließung ist die Erklärung universaler Zuständigkeit für „Geschichte“, „Erinnerung“, „Gedächtnis“ und „Gedenken“ seitens des EU-Parlaments, wobei die opake Formel vom „Gewissen Europas“ im Titel durchaus als Selbstproklamation gedeutet werden kann: Das Europäische Parlament sieht sich selbst als das „Gewissen Europas“, als moralische Instanz der EU, in dessen Zuständigkeitsbereich nicht nur die damals 27 Mitgliedstaaten fallen, sondern das „größere“ Europa. Der großen rhetorischen Geste steht eine einzige konkrete – und unvergleichlich bescheidenere – Forderung gegenüber: eine „Plattform für das Gedächtnis und das Gewissen Europas“ bei „Verstärkung der bestehenden einschlägigen Finanzierungsinstrumente“ (Punkte 13 und 14) aufzubauen. 50 Dieses Ungleichgewicht von Rhetorik und Konkretion wird durch einen merkwürdigen Einerseits-andererseits-Duktus noch unterstrichen: Einerseits seien „völlig

49 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 2. April 2009 zum Gewissen Europas und zum Totalitarismus. Brüssel, 2. April 2009, URL: http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef= -//EP//TEXT+TA+P6-TA-2009-0213+0+DOC+XML+V0//DE, letzter Zugriff: 13. 7. 2014. 50 Die gleichfalls konkrete Forderung der Erklärung des 23. August – dem Tag der Unterzeichnung des als Hitler-Stalin- beziehungsweise Molotow-Ribbentrop-Pakt bekannten deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts samt Geheimen Zusatzprotokoll von 1939 – zum „europaweiten Gedenktag an die Opfer aller totalitären und autoritären Regime“ (Punkt 15) war dabei lediglich die Wiederholung einer Erklärung des Parlaments aus dem Vorjahr. Vgl. Erklärung des Europäischen Parlaments zur Ausrufung des 23. August zum Europäischen Gedenktag an die Opfer von Stalinismus und Nazismus. Brüssel, 23. September 2008, URL: http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef= -//EP//TEXT+TA+P6-TA-2008-0439+0+DOC+XML+V0//DE, letzter Zugriff: 09. 10. 2016. Siehe dazu Troebst, Der 23. August als euroatlantischer Gedenktag?, 2011; Ders.: Der 23. August 1939. Ein europäischer Lieu de mémoire?, in: Osteuropa 59 (2009) 7–8, S. 249–256.

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objektive Auslegungen historischer Tatsachen nicht möglich“ (Punkt A), andererseits existierten aber durchaus „falsche Auslegungen der Geschichte“ (Punkt E). Und zum einen seien „während des 20. Jahrhunderts in Europa Millionen von Opfern von totalitären und autoritären Regimen deportiert, inhaftiert, gefoltert und ermordet“ worden, wohingegen andererseits „der einzigartige Charakter des Holocaust nichtsdestoweniger anerkannt werden muss“ (Punkt G). Ganz offensichtlich werden hier in einer Art Kompromisslösung entgegengesetzte Ansichten zusammengeführt. Zum Teil leidet darunter die Verständlichkeit: Der beispielsweise in Punkt 10 postulierte Sachverhalt, dass völlig unterschiedliche und terminologisch diffuse Dinge wie „eine angemessene Bewahrung der historischen Erinnerung, eine umfassende Neubewertung der europäischen Geschichte und eine europaweite Anerkennung aller historischen Aspekte des modernen Europa die europäische Integration stärken werden“, kann nur mit gutem Willen als bloß kryptisch bezeichnet werden. Dass Kompromissfindung zu sinnentleerten Forderungen führen kann, belegt augenfällig Punkt 6, dessen Postulat nach Zugang zu den „Archive[n] der ehemaligen internen Sicherheitsdienste, der Geheimpolizei und der Nachrichtendienste“ durch die Bedingung minimiert wird, es müsse sichergestellt sein, „dass dieser Prozess nicht zu politischen Zwecken missbraucht wird“. Wer soll darüber eine Entscheidung treffen und welche „politischen Zwecke“ sind hier gemeint? Regelrecht unvermutet nimmt sich auch die konkrete Aufforderung an Rat und Kommission in Punkt 11 aus, „die Tätigkeiten nichtstaatlicher Organisationen wie etwa Memorial in der Russischen Föderation, die aktiv darum bemüht sind, Dokumente im Zusammenhang mit den während der stalinistischen Zeit verübten Verbrechen ausfindig zu machen und zusammenzutragen, zu unterstützen und zu verteidigen“. So begründet in moralischer wie politischer Hinsicht das Eintreten für die russländische Nichtregierungsorganisation Memorial auch ist, so naheliegend wäre doch die Nennung vergleichbarer NGOs in anderen autoritären oder mit Demokratiedefiziten behafteten EU-Nachbarstaaten wie Belarus, Marokko oder der Türkei samt der Forderung nach Unterstützung und Verteidigung auch dieser zivilgesellschaftlichen Akteure gewesen. Desgleichen hätte man Kritik am Umgang mit den archivalischen Hinterlassenschaften diktatorischer Regime in EU-Mitgliedstaaten wie zum Beispiel Spanien oder Griechenland erwartet, wo der Quellenzugang selbst den in Punkt A genannten „Berufshistorikern“ massiv erschwert, gar verwehrt wird. Auch tritt gerade durch die Fokussierung auf die Diktaturen des 20. Jahrhunderts und ihre Massenverbrechen das gänzliche Ausblenden der Kolonialverbrechen Großbritanniens, Frankreichs, Deutschlands, der Niederlande, Belgiens, Italiens, Portugals und Spaniens umso deutlicher hervor, wären hier doch vor allem Westeuropäer angesprochen. Zugleich machen der Verweis auf die Russländische Föderation und die impliziten Bezüge auf die Ukraine, Serbien sowie Bosnien und Herzegowina in der Präambel deutlich, dass der geschichtspolitische Zuständigkeitsbereich der EU-Parlamentarier ihrem Selbstverständnis zufolge mitnichten an den EU-Außengrenzen endet. Ungeachtet der genannten Disparität, Exzentrik und Simplifizierung handelt es sich bei der Entschließung vom 2. April 2009 dennoch zumindest streckenweise

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um ein ebenso differenziertes wie eindrückliches Dokument. Einer ‚Einkaufsliste‘ gleich bietet es Anknüpfungspunkte für ganz unterschiedliche geschichtspolitische Postulate und Strategien. Es benennt nicht zuletzt die hochgradig divergierenden historischen Erfahrungen der Bürger der ‚alten‘ und ‚neuen‘ EU-Mitgliedstaaten im 20. Jahrhundert, vor allem diejenigen widerständigen Verhaltens im ehemaligen sowjetischen Hegemonialbereich. Der institutionalisierten Geschichtswissenschaft im EU-Raum kann dies als willkommene Argumentationshilfe im nationalen Rahmen sowie als vielversprechender Anknüpfungspunkt für finanziell unterfütterte institutionelle Verdichtung auf europäischer Ebene dienen. Der Entschließung des EU-Parlaments vom 2. April 2009 war am 18. März eine auf Initiative der tschechischen Ratspräsidentschaft im Europäischen Parlament durchgeführte öffentliche Anhörung zum Thema „European Conscience and Crimes of Totalitarian Communism: 20 Years After“ unmittelbar vorausgegangen. 51 Der Titel der Anhörung knüpfte dabei an die „Prague Declaration on European Conscience and Communism“ vom 3. Juni 2008 an. Diese war von den Teilnehmern einer internationalen Konferenz unter Organisation der Regierung der Tschechischen Republik erlassen worden. Zu ihnen zählten Václav Havel, Vytautas Landsbergis und Joachim Gauck, des Weiteren vor allem tschechische Politiker und Intellektuelle. Die Deklaration enthielt zahlreiche Elemente der Entschließung von 2009, wie „die Anerkennung des Kommunismus als integraler und schreckenerregender Teil der gemeinsamen Geschichte Europas“, die Forderung nach Institutionalisierung, Musealisierung und Kommemoralisierung der Erinnerung an den Kommunismus durch ein „Institut des Europäischen Gedächtnisses und Gewissens“, ein „paneuropäisches Museum /Memorial für die Opfer aller totalitären Regime“ sowie den 23. August „als Tag des Gedenkens an die Opfer sowohl des nationalsozialistischen wie der kommunistischen Regime in derselben Art, wie Europa der Opfer des Holocaust am 27. Januar gedenkt“. 52 Der hier wie in der Entschließung von 2009 stark unterstrichene Symbolgehalt des 23. August als Tag der Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrags (Hitler-Stalin-Pakt oder Molotow-Ribbentrop-Pakt) samt Geheimem Zusatzprotokoll zur Aufteilung Ostmitteleuropas von 1939 schlug sich bereits vor der Entschließung von 2009 in einer eigenen „Erklärung des Europäischen

51 Zum Programm der Anhörung vgl. URL: http://www.ustrcr.cz/en/hearing-in-the-european-parliament-on-the-crimes-of-communism, letzter Zugriff: 05. 10. 2016. 52 Prague Declaration on European Conscience and Communism. Prag, 3. Juni 2008, URL: http://www. praguedeclaration.eu, letzter Zugriff: 09. 10. 2016. Zum 27. Januar – Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee 1945 – als globalem Gedenktag vgl. Harald Schmid: Europäisierung des Auschwitz-Gedenkens? Zum Aufstieg des 27. Januar 1945 als „Holocaustgedenktag“ in Europa, in: Jan Eckel, Claudia Moisel (Hrsg.): Universalisierung des Holocaust? Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in internationaler Perspektive, Göttingen 2008, S. 174– 202; Aleida Assmann: 27. Januar 1945: Genese und Geltung eines neuen Gedenktags, in: Etienne François, Uwe Puschner (Hrsg.): Erinnerungstage. Wendepunkte der Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 2010, S. 319–334.

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Parlaments zur Ausrufung des 23. August zum Europäischen Gedenktag an die Opfer von Stalinismus und Nazismus“ vom 23. September 2008 nieder. 53 Die Parlamentsentschließung „zum Gewissen Europas und zum Totalitarismus“ wurde bereits am 15. Juni 2009 vom Rat billigend zur Kenntnis genommen, jedoch die Kommission lediglich „ersucht“, zur Umsetzung „alle bestehenden einschlägigen Finanzinstrumente (unter anderem das Programm ‚Europa für Bürgerinnen und Bürger‘) in vollem Umfang zu nutzen“. 54

Akteure der neuen EU-Geschichtspolitik ‚Architekten‘ der neuen EU-Geschichtspolitik waren (und sind mehrheitlich weiterhin) der konservative deutsche Europaparlamentspräsident der Jahre 2007 bis 2009, Hans-Gert Pöttering, und sein bis Januar 2012 amtierender Nachfolger, der aus der Solidarno´sc´ -Bewegung kommende polnische Liberale Jerzy Buzek. Dieser war es auch, der 2009 in einer Veranstaltung des Parlaments zum 70. Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts die ostmitteleuropäische Interpretation der Geschichte Europas im 20. Jahrhundert in deutlichen Worten ins Gedächtnis rief: Polen wurde zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion geteilt; Finnland verlor 10 % seines Territoriums und 12 % seiner Bevölkerung; Ost- und Nordrumänien sowie die drei baltischen Staaten wurden direkt von der Sowjetunion annektiert. Von insgesamt ca. 6 Millionen Esten, Litauern und Letten wurden schätzungsweise bis zu 700.000 Personen deportiert. In Polen wurden 1,5 Millionen Menschen deportiert; davon kamen 760.000, darunter viele Kinder, ums Leben. Wenn wir uns diese Zahlen vergegenwärtigen, können wir uns das ganze Ausmaß der tragischen Vergangenheit vorstellen. Jeder zehnte männliche Erwachsene wurde verhaftet; viele von ihnen wurden im Zuge einer politischen Strategie umgebracht, die auf die Vernichtung der einheimischen Eliten abzielte. (. . . ) Wir können diese Opfer niemals vergessen, da sie uns eindringlich daran erinnern, wo wir herkommen, und uns verdeutlichen, wie viel wir mittlerweile erreicht haben. 55

Und von 1939 ausgehend schlug er den Bogen über 2004 bis 2009: 53 Erklärung des Europäischen Parlaments zur Ausrufung des 23. August zum Europäischen Gedenktag an die Opfer von Stalinismus und Nazismus. Zum Stellenwert des Pakts in den nationalen Erinnerungskulturen im Europa der Gegenwart vgl. Stefan Troebst, Dietmar Müller: Der Hitler-StalinPakt 1939 in der europäischen Geschichte und Erinnerung. Eine Einführung, in: Kaminsky, Müller, Troebst (Hrsg.): Der Hitler-Stalin-Pakt 1939, 2011, S. 11–35; Dan Diner: Gegenläufige Gemeinsamkeiten. Der Pakt als Ereignis und Erinnerung, in: Ebd., S. 37–46; Ines Keske, Thomas Klemm, Dietmar Müller: 1939 – Pakt über Europa. Der Hitler-Stalin-Pakt in der Geschichte und Erinnerungskultur Ostmitteleuropas, in: Ebd., S. 257–286. 54 Rat der Europäischen Union: Mitteilung an die Presse. 2950. Tagung des Rates. Allgemeine Angelegenheiten und Außenbeziehungen. Außenbeziehungen. Luxemburg, den 15. Juni 2009. 10938/09 (Presse 173), 17, URL: http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/de/gena/ 108878.pdf, letzter Zugriff: 05. 10. 2016. 55 Der Präsident des Europäischen Parlaments: 70. Jahrestag des Molotow-Ribbentrop-Paktes. Brüssel, 14. Oktober 2009, URL: http://www.sitepres.europarl.europa.eu/president/en-de/press/speeches/sp2009/sp-2009 – October /speeches-2009 – October–5.html, letzter Zugriff: 05. 10. 2016.

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[A]ls die neuen Mitgliedstaaten vor fünf Jahren beitraten, brachten wir unsere eigene Geschichte und unsere eigenen Geschichten mit; eine dieser tragischen Geschichten war der ‚Molotow-Ribbentrop-Pakt‘. (. . . ) Heute sind wir ein wiedervereinigter und zusammengehöriger Kontinent, weil wir unsere Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg und aus dem Pakt, der ihn möglich gemacht hat, gezogen haben. 56

Genauso wichtig wie die ‚Architekten‘ (und die zahlreichen ‚Bauarbeiter‘) waren aber auch die ‚Poliere‘ aus den jetzt zehn ostmittel- und südosteuropäischen Mitgliedstaaten stammenden Parlamentarier, hier vor allem die Abgeordneten Tunne Kelam (Estland), Vytautas Landsbergis (Litauen), József Szájer (Ungarn) und Sandra Kalniete (Lettland). Die fünfjährige Arbeit dieser ostmitteleuropäischen Lobbyisten für eine neue Geschichtspolitik und ihrer west-, süd- und nordeuropäischen Verbündeten in Gestalt der Entschließung von 2009 hatte vor allem zwei konkrete Folgen. Die eine war im Mai 2010 der Zusammenschluss von 35 Abgeordneten des EU-Parlaments zu einer informellen interfraktionellen Gruppe („Intergroup“) mit der Bezeichnung „Reconciliation of European Histories. For a better understanding of Europe’s shared history“. Zu dieser zählen sachkundige und bedeutende Mitglieder wie der niederländische Osteuropahistoriker Bastiaan Belder, die ungarische Minderheitenrechtsexpertin Kinga Gál oder der bereits genannte Pöttering sowie überwiegend Parlamentarier, die sich seit 2004 auf dem Feld der Geschichtspolitik profilieren und maßgeblich am Zustandekommen der programmatischen Dokumente zum Holodomor, zum 23. August, zu Srebrenica sowie zum „Gewissen Europas und zum Totalitarismus“ beteiligt gewesen sind. 57 Vorsitzende der Gruppe ist die lettische Abgeordnete Sandra Kalniete, die in Deutschland bekannt wurde durch ihre Rede zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse 2004, in der sie Nationalsozialismus und Stalinismus als „gleichermaßen verbrecherisch“ bezeichnet hat, 58 und durch ihr Buch über die eigene Familiengeschichte in der sowjetischen Verbannung. 59 Die frühere Außenministerin und kurzzeitige EU-Kommissarin nannte als Impulse für die Gründung der Parlamentariergruppe „das mangelnde genuine öffentliche Interesse an einer Beschäftigung mit dem sowjetischen Totalitarismus“ in der „westlichen Linken“

56 Ebd. 57 Siehe dazu die Website der Gruppe Reconciliation of European Histories. For a better understanding of Europe’s shared history, URL: http://eureconciliation.wordpress.com, letzter Zugriff: 05. 10. 2016. 58 Sandra Kalniete: Altes Europa, neues Europa. Rede zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse am 24. März 2004. URL: http://www.die-union.de/reden/altes_neues_europa.htm, letzter Zugriff: 05. 10. 2016. Zur Kontroverse zwischen Kalniete und dem Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Salomon Korn, vgl. Stefan Troebst: Von Nikita Chrušˇcëv zu Sandra Kalniete. Der lieu de mémoire „1956“ und Europas aktuelle Erinnerungskonflikte, in: Comparativ 16 (2006) 1, S. 150–170. 59 Sandra Kalniete: Ar balles kurp¯em Sib¯ırijas sniegos. Riga 2001 (Dt.: Mit Ballschuhen im sibirischen Schnee. Die Geschichte meiner Familie, München 2005). Vgl. dazu: „Ich werde nie ein ganz freier Mensch sein“. Sandra Kalniete über den GULag, das Elend ihrer Familie und die Gleichgültigkeit des Westens, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 13. 11. 2005; Boris Barth: Staatlicher Terror, kollektive Erinnerungs- und Geschichtspolitik – Sandra Kalnietes „Mit Ballschuhen im sibirischen Schnee“, in: Neue Politische Literatur 52 (2007), S. 25–36.

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im Allgemeinen sowie die „Verweigerungshaltung“ der Sozialisten im EU-Parlament im Besonderen. 60 Die andere konkrete Folge der Lobbyarbeit war eine deutlich stärkere Koordination aller geschichtspolitischen Aktivitäten der Union samt deren Bündelung, wobei die Machtverhältnisse zwischen Parlament, Kommission und Rat sowie die Beschränkungen des EU-Haushalts berücksichtigt werden mussten. Nachdem die Kommission auf Drängen des Rates sowie unter dem Druck des Parlaments bereits im November 2007 ein Seminar zur Frage „How to deal with the totalitarian memory of Europe: Victims and reconciliation“ durchgeführt hatte, gab sie 2009 eine umfangreiche Untersuchung mit dem Titel „Study on how the memory of crimes committed by totalitarian regimes in Europe is dealt with in the Member States“ in Auftrag, die Anfang 2010 vorlag. 61 Sie bildete die Grundlage für den Kommissionsbericht „The memory of the crimes committed by totalitarian regimes in Europe“, der im Dezember 2010 Parlament und Rat zugeleitet wurde. Darin listete die Kommission die Förderprogramme auf, über die Geld für Maßnahmen geschichtspolitischer Art beantragt werden konnte, und verwies dabei vor allem auf das 2007 eingerichtete Förderfeld „Aktive europäische Erinnerung“. Innerhalb dessen Rahmen, so die Kommission, könne auch die vom Parlament geforderte „Plattform für das Gedächtnis und das Gewissen Europas“ finanziert werden. Konkrete Finanzzusagen enthielt der Bericht indes nicht. Immerhin stellte er für den Zeitraum 2014–2020 eine Fortführung bei vergrößertem Finanzvolumen in Aussicht. 62 Davor umfasste diese Förderlinie „lediglich vier bis fünf Prozent des Programmbudgets, im Jahr 2009 etwa 1,9 Millionen Euro“, also eine im EU-Rahmen erdnussartig kleine Summe. 63 Unter Bezug auf den genannten Kommissionsbericht von 2010 und die Parlamentsentschließung von 2009 zog der Rat 2011 eigene „Schlussfolgerungen zum Gedenken an die Verbrechen totalitärer Regime in Europa“, 64 in denen er zwar

60 Kalniete: Europa muss sich über die Bewertung der Totalitarismen in seiner Geschichte des 20. Jahrhunderts verständigen, 2009, S. 363–366. 61 Carlos Closa Montero: Study on how the memory of crimes committed by totalitarian regimes in Europe is dealt with in the Member States, Madrid, January 2010, URL: http://ec.europa.eu/justice/ doc_centre/rights/studies/docs/memory_of_crimes_en.pdf, letzter Zugriff: 05. 10. 2016. 62 European Commission: Report from the Commission to the European Parliament and to the Council: The memory of the crimes committed by totalitarian regimes in Europe (COM 2010, 783 final), Brussels, 22. 12. 2010, URL: http://ec.europa.eu/commission_2010 – 2014/reding /pdf / com%282010%29_873_1_en_act_part1_v61.pdf, letzter Zugriff: 13. 7. 2014. 63 Christine Wingert-Beckmann: Die EU-Förderung „Aktive europäische Erinnerung“, in: Jahrbuch für Kulturpolitik 9 (2009), S. 188 f. In der Tat wurde auf Intervention des für Kultur und Bildung zuständigen Parlamentsausschusses diese Haushaltslinie beträchtlich erhöht – auf 57 Mio. Euro –, und dies mit der expliziten Begründung eines kausalen Zusammenhangs „zwischen Geschichtsbewusstsein und europäischer Identität“. Hier zit. nach Europäisches Parlament. Generaldirektion Interne Politikbereiche, Europäisches historisches Gedächtnis, 2013, S. 17–19. 64 Council of the European Union: Council conclusions on the memory of the crimes committed by totalitarian regimes in Europe. 3096th Justice and Home Affairs Council meeting, Luxembourg, 9 and 10 June 2011, URL: http://augusztus23.kormany.hu/council-conclusions-on-the-memory-ofthe-crimes-committed-by-totalitarian-regimes-in-europe, letzter Zugriff: 05. 10. 2016.

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die geschichtspolitischen Forderungen des Parlaments im symbolischen Bereich – 23. August – akzeptierte, aber auf die institutionellen (und die damit verbundenen finanziellen) Konsequenzen mit dem Verweis auf bestehende EU-Fördermöglichkeiten unverbindlich antwortete. Damit gaben sich Sandra Kalniete und ihre parlamentarischen Mitstreiter aber nicht zufrieden. Hartnäckig traten sie für eine neue EU-Geschichtspolitik ein, und dies mit Erfolg, wie die weiteren Entwicklungen des Jahres 2011 – das erstmalige Begehen des neuen EU-Gedenktags 23. August unter polnischer Ratspräsidentschaft in Warschau sowie die Gründung der „Plattform für das Gedächtnis und das Gewissen Europas“ in Anwesenheit der Regierungschefs Polens, der Tschechischen Republik und Ungarns am 14. Oktober in Prag – zeigten. An den Feierlichkeiten am 23. August 2011 in Warschau nahmen neben dem amtierenden EU-Ratspräsidenten und polnischen Premierminister Donald Tusk EU-Parlamentspräsident Buzek und Justizkommissarin Vivian Reding als Vertreterin der EU-Kommission sowie etliche Justizminister der Mitgliedstaaten und aus Kroatien teil. Ein politisch bedeutsames Signal setzte die „Warschauer Erklärung aus Anlass des Europäischen Gedenktags für die Opfer totalitärer Regime“, in welcher die Signatare, nämlich Buzek für das Parlament und die Vertreter der Justizministerien von 15 EU-Staaten (neben ostmitteleuropäischen Vertretern waren auch solche aus Frankreich, Griechenland, Italien, Portugal, Spanien und Schweden anwesend), eine enge Verbindung zwischen der Erinnerung an die Opfer von Verbrechen in totalitären Vergangenheiten und der Notwendigkeit der justiziellen Aufarbeitung dieser Gewaltakte postulierten. 65 Bei aller starken Rhetorik enthielt diese Erklärung keine einzige Forderung oder Konkretisierung. Hatten 2011 Staaten wie Polen, Ungarn und Kroatien den 23. August erstmals als offiziellen Feiertag begangen, ließ die Aufmerksamkeit bereits 2012 deutlich nach. Immerhin führte Slowenien damals den Gedenktag neu ein. Die genannte Verbindung zwischen Totalitarismuserinnerung und gerichtlicher Aufarbeitung kennzeichnet auch die Programmatik und das Agieren der „Plattform für das Gedächtnis und das Gewissen Europas“. Deren Gründung erfolgte nach mehrjähriger Lobbyarbeit nicht zuletzt deshalb in Prag, weil das Plattform-Sekretariat dem staatlichen tschechischen Institut zum Studium totalitärer Regime (Ústav pro studium totalitních režim˚u) angegliedert ist. Die Plattform, deren Finanzierung anschubweise aus Mitteln der Visegrád-Kooperation (V 4) der vier mitteleuropäischen EU-Mitglieder Tschechische Republik, Slowakei, Ungarn und Polen erfolgt, hat derzeit 43 Mitgliedsorganisationen aus Ostmittel- und Südosteuropa sowie aus Deutschland. Ihr Präsident Göran Lindblad ist ein ehemaliger konservativer Abgeordneter im schwedischen Reichstag. 66 Hauptziele der Plattform sind dem Übereinkommen der Gründer zufolge: 65 Warsaw Declaration on the Occasion of the European Day of Remembrance for Victims of Totalitarian Regimes, 23rd of August 2011, URL: http://www.memoryandconscience.eu/wp-content/uploads/ 2011/08/warsaw_declaration.pdf, letzter Zugriff: 05. 10. 2016. 66 Vgl. die Website der Plattform: URL: http://www.memoryandconscience.eu, letzter Zugriff: 05. 10. 2016, deren Geschäftsführerin die tschechische Biologin Neela Winkelmann-Heyrovská ist.

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1) to increase public awareness about European history and the crimes committed by totalitarian regimes and to encourage a broad, European-wide discussion about the causes and consequences of totalitarian rule, as well as about common European values, with the aim of promoting dignity and human rights, 2) to help prevent intolerance, extremism, anti-democratic movements and the recurrence of any totalitarian rule in the future, 3) to work toward creating a pan-European documentation centre /memorial for victims of all totalitarian regimes, with the aim of commemorating the victims and raising awareness of the crimes committed by those regimes. 67

Am 5. Juni 2012 organisierte die Plattform in Brüssel eine erste öffentliche Veranstaltung zum Thema „Legal Settlement of Communist Crimes“ mit Referenten aus Ostmitteleuropa, Großbritannien, Dänemark, den Niederlanden, Österreich, der Schweiz und Deutschland, an der Pöttering, Buzek, Kalniete, Lindblad und andere teilnahmen. Anknüpfend an eine im Januar 2012 in Prag von 17 mittel- und osteuropäischen Opferverbänden veröffentlichte „Declaration 2012“, in welcher „a just punishment of communist criminals and abolition of all benefits they still enjoy“ gefordert wurde, 68 formulierte Lindblad das Ziel der Konferenz wie folgt: We have a large unresolved issue in the free and democratic Europe of today. There are innumerable victims of Communist crimes and persecution living among us, brave people who fought, resisted and dissented the dictatorship, most of whom have not seen appropriate moral restitution and rehabilitation in society, let alone economic compensation for the suffering they had to endure. At the same time, the perpetrators are enjoying unbroken careers and economic benefits based on their service and active support for the totalitarian regime. We hope that the legal experts present will help us to understand whether it is possible to achieve justice and what kind of tribunal would be required. Can an existing court be used, given additional jurisdiction, or is there a need for a new international court? 69

Mit anderen Worten: Die in der Plattform-Bezeichnung verwendete Formel „Gedächtnis und Gewissen Europas“ ist weniger in einem breiteren, erinnerungskulturellen Kontext zu sehen als vielmehr in einem engen strafrechtlichen. Wie die bisherigen Plattform-Aktivitäten gezeigt haben, ist deren Hauptanliegen eine gerechte Strafe für kommunistische Staatsverbrechen. Ob sich die Initiative mit dieser thematischen Engführung einen Gefallen tut, muss dabei ebenso offen bleiben wie die Erfolgschance der Forderung nach einem internationalen Strafgerichtshof für „kom67 Agreement establishing The Platform of European Memory and Conscience, Prague, 14 October 2011, S. 3, URL: https://www.bstu.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Statut_Platform_of_ European_Memory_and_Conscience.pdf?__blob=publicationFile, letzter Zugriff: 05. 10. 2016. 68 Declaration 2012, URL: http://www.ustrcr.cz/en/declaration-2012, letzter Zugriff: 05. 10. 2016. Vgl. dazu auch den Band einer 2010 in Prag organisierten Tagung: Crimes of the Communist Regimes. International Conference. An Assessment by Historians and Legal Experts. Proceedings, Prague 2011. 69 Göran Lindblad: Greetings to the participants, in: International Conference „Legal Settlement of Communist Crimes“. European Parliament, Brussels, 5 June 2012, Programme, S. 2, URL: http:// www.memoryandconscience.eu/wp-content/uploads/2012/05/PROGRAMME-BOOKLET1.pdf, letzter Zugriff: 05. 10. 2016.

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munistische Verbrechen“. Kalniete und ihre ostmitteleuropäischen Mitstreiter sind damit im Begriff, in einen geschichtspolitischen Seitenpfad einzubiegen, der sich als Sackgasse erwiesen könnte. So groß bei den Abgeordneten der Alt-EU-Staaten das Verständnis für das Anliegen einer Kommunismusfolgen einschließenden EU-Erinnerungskultur ‚auf Augenhöhe‘ auch ist, so gering ist die Bereitschaft, sich für einen neuen europäischen Gerichtshof zu verkämpfen. In ihrer zitierten Analyse „The EU Politics of Remembrance“ hat Annabelle Littoz-Monnet die These aufgestellt, EU-Kommission und Europaparlament agierten als Antagonisten in einem EU-internen geschichtspolitischen Wettbewerb, den sie „‚The Holocaust as Unique‘ vs. ‚Hitler and Stalin as equally Evil‘“ nennt und in dem sie das erstgenannte Lager (noch) im Vorteil sieht. Dafür kann sie mit gewichtigen Argumenten aufwarten: So gingen im Jahr 2009 75 Prozent aller Zuwendungen aus dem Fonds „Aktive europäische Erinnerung“ der Kommission an Projekte, die sich auf den Zweiten Weltkrieg bezogen und damit den Holocaust direkt oder indirekt thematisierten, desgleichen acht Prozent an Projekte, die sowohl Nationalsozialismus als auch Kommunismus behandelten, und nur 17 Prozent an Vorhaben zu den Verbrechen des Stalinismus. Des Weiteren führt sie an, dass der genannte Rahmenbeschluss des Rates vom 28. November 2008 zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit gegen Rassismus und Xenophobie kommunistische Massenverbrechen nicht – wie von Polen und anderen gefordert – in die Definition von Verbrechen gegen die Menschlichkeit einschließt. Darüber hinaus verweist sie auf die von der Kommission 2010 beschlossene Errichtung einer „European Holocaust Research Infrastructure (EHRI)“, welche 19 Institutionen in 13 EU-Staaten sowie in Israel umfasst. 70 Auch im zivilgesellschaftlichen Bereich sieht sie die Totalitarismus-Fraktion EU-weit im Hintertreffen: Old EU states, the Left, and civil society organisations dealing with the memory of the Holocaust have, so far, dominated the remembrance struggle. They could do so not only because they were active and well-organised, but also because they benefited from the presence of a powerful meta-narrative in Europe, which laid the emphasis on the role of the Holocaust in the very definition of European identities, both at the domestic and at the European level. 71

Ob diese Einschätzung vom Oktober 2011 auch weiterhin gültig ist, erscheint fraglich: Die besagte Plattform ist formell gegründet, sie hat ihre Tätigkeit aufgenommen, verfolgt ein konkretes Ziel – die Einrichtung eines neuen Strafgerichtshofs – und wird mit Unterstützung von EU-Parlamentariern und ihren Verbündeten in der Brüsseler Bürokratie versuchen, auf die einschlägigen EU-Förderprogramme, vor allem auf dasjenige der „Aktiven europäischen Erinnerung“, zuzugreifen. Diesem Drängen wird sich die Kommission schon aus Paritätsgründen auf Dauer nicht verweigern können. Andererseits besitzt die Kommission fraglos den größeren Einfluss, 70 Littoz-Monnet: The EU Politics of Remembrance, 2011, S. 24–26. Vgl. auch die EHRI-Website www.ehri-project.eu/, letzter Zugriff: 05. 10. 2016. 71 Ebd., S. 27.

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um geschichtspolitische Initiativen umzusetzen. Dies geschieht bislang hinter den Kulissen – durch Entscheidungen über Mittelvergabe und entsprechende Bewilligungen vor allem an Antragsteller, welche die Holocaust-Erinnerung pflegen und /oder schwerpunktmäßig den Zweiten Weltkrieg thematisieren. Insofern handelt es sich hier um einen ungleichen Kampf einer zwar sichtbaren, aber politisch wie institutionell schwachen Parlamentarierriege gegen weitgehend anonyme Interessengruppierungen von Bürokraten in den Generaldirektionen für Bildung und Kultur sowie für Kommunikation der EU-Kommission. Allerdings hat das Parlament als Institution seit 2007 ein Eisen im Feuer, mit dem es bei geschickter Handhabung der Kommission die Schau stehlen könnte. Gemeint ist natürlich das sowohl noch in Bau wie in Konzipierung befindliche Haus der Europäischen Geschichte (House of European History) in Brüssel. 72 Das als Testlauf hierzu geltende Parlamentarium im Untergeschoss des Parlamentsgebäudes in der Rue Wiertz gibt einen Vorgeschmack auf Multimedialität und Interaktivität der geplanten Dauerausstellung, die wohl auch im in Sichtweite gelegenen Museumsgebäude im Léopold-Park vorherrschen werden. 73

Schluss Zwei Dinge gilt es festzuhalten: Zum einen sind landläufige, auch in Tageszeitungen reproduzierte Ansichten wie diejenige, „europäische Erinnerungskultur und Erinnerungspolitik“ seien „kein Thema, für das sich die Fraktionen im Europäischen Parlament oder in irgendeiner Abteilung der Europäischen Kommission wirklich zu interessieren scheinen“, überholt. 74 Parlament, Kommission und Rat der EU haben im Gegenteil Geschichtspolitik als Werkzeug für Identitätsmanagement nicht nur erkannt, sondern bereits eingesetzt, und dies teils koordiniert, teils aber auch in Konkurrenz zueinander. Dass sie es zugleich für interne Statuskämpfe nutzen, liegt dabei in der Natur der Sache. Zum anderen aber sind das weitgehend folgenlose Proklamieren eines EU-weiten Gedenktags 23. August, die Gründung eines vollmundig mit „Plattform für das Gedächtnis und das Gewissen Europas“ bezeichneten losen und unterfinanzierten Zusammenschlusses etlicher nationaler Institutionen, die mit dem Archivgut der

72 Vgl. dazu Claus Leggewie: Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt, München 2011, S. 46–48, 72, 182–188, 216–219; Wolfram Kaiser, Stefan Krankenhagen, Kerstin Poehls: Europa ausstellen. Das Museum als Praxisfeld der Europäisierung, Köln u. a. 2012, S. 35–38, 58 f., 80–84, 147–151, 174; Stefan Troebst: Eckstein einer EU-Geschichtspolitik? Das Museumsprojekt „Haus der Europäischen Geschichte“ in Brüssel, in: Deutschland Archiv 45 (2012), S. 746–752. 73 S. dazu die Website Parlamentarium. Das Besucherzentrum des Europäischen Parlaments, URL: http://www.europarl.europa.eu/visiting/de/parlamentarium.html, letzter Zugriff: 05. 10. 2016; Matthias Krupa: Parlamentarium: Europa gucken. 3000 Quadratmeter und 21 Millionen Euro für die schöne Seite der EU. Ein Besuch im Brüsseler Parlamentarium, in: Die Zeit, 18. 10. 2011. 74 Vera Lengsfeld: Last oder Chance? Die Aufarbeitung von Diktaturen und die Probleme des gemeinsamen Erinnerns, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. 5. 2012.

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Repressionsapparate staatssozialistischer Regime befasst sind, ja selbst die holocaustgedenkaffine „Aktion 4: Aktive europäische Erinnerung“ des Kommissionsprogramms „Bürgerinnen und Bürger für Europa“ vergleichsweise bescheidene, da öffentlich kaum wahrgenommene, überdies ‚preiswerte‘ Unternehmungen. Das Erstellen einer überzeugenden Konzeption eines europäischen Geschichtsmuseums samt didaktisch-professioneller Umsetzung hingegen, das als Portal im Wortsinne Besucher aus ganz Europa und dem Rest der Welt anziehen und beeindrucken sowie überdies gesamteuropäische, auf die EU zielende Identifikationswirkung erzielen soll, ist unvergleichlich schwieriger. Insofern dürfte das Haus der Europäischen Geschichte, dessen Eröffnung für Ende 2015 angekündigt ist, der Prüfstein für die ‚neue‘ EU-Geschichtspolitik werden. Seine Vor- und Entstehungsgeschichte bestätigt allerdings gängige Vorwürfe an „Brüssel“ wie Demokratiedefizit und Intransparenz von Entscheidungen: Das der Dauerausstellung zugrunde liegende Konzeptionspapier „Aufbau eines Hauses der Europäischen Geschichte. Ein Projekt des Europäischen Parlaments“ war bis zu seiner Veröffentlichung im Sommer 2013 streng vertraulich 75 und entsprechend gab es weder im Parlament noch in der europäischen Öffentlichkeit eine Diskussion darüber, was wie in dem neuen Museum gezeigt werden soll und was seine Botschaft sein wird. All dies wird in der besagten Konzeptbroschüre unter dem Rubrum „Das Zentrale Narrativ der Dauerausstellung“ als beschlossen und nicht verhandelbar vorgestellt, und zwar in Gestalt einer an Vico erinnernden Zyklenabfolge von „Europa im Aufstieg“ über „Finsternis über Europa“ und „Das geteilte Haus“ zur „Überwindung der Grenzen“ und einem lichten „Ausblick“. Die Reaktionen auf die für 2015 geplante Eröffnung des Brüsseler Hauses der Europäischen Geschichte sind zwar nicht zu prognostizieren, doch allein die geheimniskrämerische Entstehungsgeschichte garantiert besonders kritische Begutachtung durch Bürger, Medien und Politik. Die geschichtspolitischen Debatten im Europäischen Parlament samt Entschließungen hingegen dürften auch weiterhin kaum mediales wie öffentliches Interesse finden, was überdies für die von der Kommission mit bescheidenen Summen geförderten erinnerungskulturelle Projekte gilt. Und eine geschichtspolitische Großtat wie die Proklamierung des 23. August zum Europäischen Gedenktag an die Opfer von Stalinismus und Nazismus kann mit einiger Berechtigung als Misserfolg, bezeichnet werden, waren doch nicht breite Zustimmung, sondern demonstratives Desinteresse einerseits wie heftiger Streit andererseits die Folge. Gemeinschaftsbildung durch Geschichtspolitik sieht anders aus. Bleibt die grundsätzliche Frage, ob Geschichtspolitik transnationaler Akteure überhaupt Kollektividentitäten stiften kann, ob nicht ‚Geschichte‘ an das Kollektiv

75 Europäisches Parlament. Generaldirektion Kommunikation: Aufbau eines Hauses der Europäischen Geschichte. Ein Projekt des Europäischen Parlaments, Brüssel 2013. Eine 2008 erarbeitete Vorläuferkonzeption war anfänglich gleichfalls vertraulich und wurde erst zwei Jahre später ins Netz gestellt. Vgl. Sachverständigenausschuss des Hauses der Europäischen Geschichte: Konzeptionelle Grundlagen für ein Haus der Europäischen Geschichte, URL: http://www.europarl.europa.eu/meetdocs/ 2004_2009/documents/dv/745/745721/745721_de.pdf, letzter Zugriff: 05. 10. 2016.

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‚Nation‘ gebunden ist. Ja und nein: EWG, EG und EU haben ja im 20. Jahrhundert periodisch durchaus versucht, ihre ‚eigene‘ Geschichte, also diejenige des (west-)europäischen Integrationsprozesses, den Gesellschaften der jeweiligen Mitgliedsstaaten offensiv als success story zu offerieren. Der Erfolg war aufgrund fehlender Transmissionsriemen, aber auch wegen der an PR-Aktionen erinnernden Jubelrhetorik, gar Weiheton, des anämischen Inhalts und der technokratischen Verpackung gering. Im 21. Jahrhundert wurde dann ein anderer Ansatz gewählt: Die historischen Unterschiede der 28 ‚Vaterländer‘ werden jetzt eingehend berücksichtigt, Diskursivität ist an die Stelle von Normativität getreten und Multiperspektivität an diejenige von Stromlinie. Das wird mutmaßlich nicht ohne Wirkung bleiben, vor allem wenn ein nicht unbeträchtlicher Teil der EU-Bürger demnächst vom neuen Haus der Europäischen Geschichte in Brüssel mittels Wanderausstellungen Europageschichte(n) ‚zum Anfassen‘ präsentiert bekommt. Die Frage danach, ob es einen qualitativen Unterschied zwischen nationaler Loyalität und der Identifikation mit supranationalen Bezugsrahmen gibt, stellt sich jedoch weiterhin. Der frühere Bundespräsident Gustav Heinemann ist manchen Deutschen vor allem durch seine Antwort auf die Frage, ob er die Bundesrepublik „liebe“, im Gedächtnis geblieben: „Ach was, ich liebe keine Staaten, ich liebe meine Frau; fertig!“ 76 Die meisten EU-Bürger würden wohl auf die Frage, ob sie die EU „lieben“, in ihrer Antwort andere Kollektive emotionaler Verbundenheit wie ‚Nation‘, ‚Volk‘ oder eine andere Wir-Gruppe benennen. Der vormalige tschechische Staatspräsident Václav Klaus hat diesbezüglich eine ungeachtet seiner eigenen Euroskepsis wohl repräsentative Antwort gegeben: „[E]r fühle sich zuerst als Tscheche, dann als Slawe.“ 77 Die Selbstzuschreibung „Europäer“ nannte er explizit nicht.

76 Hermann Schreiber: Nichts anstelle vom lieben Gott. „Spiegel“-Reporter Hermann Schreiber über Gustav Heinemann, in: Der Spiegel, 13. 1. 1969, URL: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d45845435.html, letzter Zugriff: 05. 10. 2016. 77 Karl-Peter Schwarz: EU-Ratspräsidentschaft: Die Legende von den Euroskeptikern, in: Frank-furter Allgemeine Zeitung, 27. 12. 2008, URL: http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/eu-ratspraesidentschaft-die-legende-von-den-euroskeptikern-1745066.html, letzter Zugriff: 05. 10. 2016.

Jalta als europäischer Erinnerungsort? [2016] Im heißen Sommer 1973 nahm ich als Schüler eines westdeutschen Gymnasiums an einem Russisch-Sprachkurs an der Pädagogischen Hochschule Volgograd in der Sowjetunion teil. Bei einer Führung durch das Museum der Geschichte der „Heldenstadt“ an der unteren Volga wunderte ich mich über eine imposante Installation im Vestibül: Hinter einem gewaltigen Schwert aus Edelstahl, welches laut Gravur die kalifornische Stadt San Francisco 1946 ihrer damals noch Stalingrad heißenden Partnerstadt geschenkt hatte, hingen die Staatsflaggen der USA, der Sowjetunion und Großbritanniens einträchtig nebeneinander. Dies war insofern höchst ungewöhnlich, als sowjetische Printmedien wie Krokodil, Pravda, Izvestija und andere damals voll von Karikaturen des Zeichnerkollektivs Kukryniksy waren, das mit Vorliebe Uncle Sam und John Bull in ihren jeweiligen Nationalfarben als Kriegstreiber und Imperialisten brandmarkte. Befragt, was es denn mit der besagten Installation auf sich habe, antwortete der Museumsführer gleichsam entschuldigend, das habe nichts weiter zu bedeuten, sondern es handele sich lediglich um „ein Überbleibsel aus den Zeiten von Jalta“ (ostatok iz Jaltinskich vremën). Als Kind des Kalten Kriegs konnte ich mit dieser Auskunft zunächst wenig anfangen, fand indes selbst in der Volgograder Stadtbibliothek unschwer heraus, dass der globalen Bipolarität von Warschauer Pakt und NATO das bis zum Ende der vierziger Jahre nachwirkende Bündnis der Großen Drei gegen Hitler vorausgegangen war. Der alliierte Erinnerungsort Jalta war also bereits in den „goldenen Zeiten der Stagnation“, wie die Brežnev-Ära heute ironisierend genannt wird, verblasst, auch wenn man in Volgograd das kalifornische Schwert und die westalliierten Flaggen hängen ließ. Angefügt sei eine weitere Anekdote, diesmal jedoch keine selbst erlebte, sondern eine aus Timothy Garton Ashs 1984 veröffentlichtem Buch The Polish Revolution. Solidarity 1980–1982, auf Polnisch 1987 als Polska rewolucja: Solidarno´sc´ erschienen: Als ich das erste Mal nach Polen kam, hörte ich immer wieder ein ausgesprochen seltsames Wort. ‚Jauta‘ seufzten meine neuen Bekannten. ‚Jauta!‘, und eine melancholische Stille senkte sich über das Gespräch. Bedeutete ‚Jauta‘ Schicksal, fragte ich mich oder war es ein Ausdruck wie: ‚So ist das Leben‘? 1

Dem britischen Polen-Besucher dämmerte natürlich rasch, dass mit „Jauta“ natürlich Jalta gemeint war:

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Zitiert nach Borodziej, Włodzimierz: Versailles und Jalta und Potsdam. Wie Deutsch-Polnisches zu Weltgeschichte wurde. In: Deutsch-polnische Erinnerungsorte. Bd. 3: Parallelen. Hrsg. v. Hans Henning Hahn und Robert Traba. Paderborn u. a.: Schöningh, 2012, S. 361–380, hier S. 369.

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‚Jalta‘ (auf Polnisch ‚Jauta‘ ausgesprochen) ist im gegenwärtigen Polen die grundlegende Tatsache schlechthin. In ‚Jalta‘ beginnt die Geschichte der Solidarno´sc´ . 2

Und in der Tat stand und steht „Jalta“ in Polen gesellschaftsübergreifend als hochgradige Verdichtung für das, was die die Mächte der Anti-Hitler-Koalition auf einer Serie von Konferenzen, unter denen diejenige von Jalta im Februar 1945 lediglich ein Glied in der Kette war, bezüglich Polens beschlossen haben. 3 Dessen Hauptpunkte sind bekanntlich die drei folgenden: Erstens, die Sowjetunion behält den 1939 im Zuge des Hitler-Stalin-Pakts besetzten Osten der Zweiten polnischen Republik der Zwischenkriegszeit, und im Gegenzug erhält der wiederzugründende polnische Staat den Südteil des zuvor deutschen Ostpreußen sowie die östlich von Oder und Neisse gelegenen Gebiete des Deutschen Reiches. Zweitens, nicht die 1939 aus Polen nach London emigrierte bürgerliche Exilregierung, sondern eine neue, von moskautreuen polnischen Kommunisten geleitete Provisorische Regierung der Nationalen Einheit in Lublin sollte von nun an Ansprechpartner der Alliierten sein. Die sowjetische Zusage auf Durchführung freier Wahlen in Polen wurde dabei durch die Verhaftung der Führung der nicht-kommunistischen Heimatarmee unmittelbar nach der Konferenz in dem Krim-Ort desavouiert. Drittens schließlich wurde die Zwangsaussiedlung der Deutschen aus dem neu zugeschnittenen Polen wie dem übrigen Ostmitteleuropa beschlossen – von der sowjetischen Entscheidung, zusätzlich auch die Polen östlich des Bugs nach Westen zwangsumzusiedeln, war offiziell nicht die Rede. Die nicht-kommunistische polnische Sicht auf Jalta ist somit diejenige auf einen Ort des Verrats: In der Stunde der Befreiung vom nationalsozialistischen Joch, so diese Perspektive, lieferten die Westalliierten ihren Verbündeten der ersten Stunde, Polen, aus Naivität und /oder egoistischen Motiven dem verbrecherischen Regime Stalins aus. 1945 ist dem Warschauer Zeithistoriker Włodzimierz Borodziej zufolge das Schicksalsdatum des Ausschlusses aus Europa, der Versklavung durch den östlichen Nachbarn, des Verlustes der Ostgebiete, das Jahr des Verrats durch die USA und Großbritannien, eine Zäsur, mit der ein barbarisches Regime seinen Anfang nahm. 4

Und Jerzy Holzer, der Chronist von Solidarno´sc´ , konstatierte: Das Wesen des Systems von Jalta bestand seitdem fast ein halbes Jahrhundert lang in der Teilung Europas. In seinem westlichen Teil wurden die Menschen- und Bürgerrechte, die

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Ebd. Im Folgenden knüpfe ich an einen eigenen Text an: Troebst, Stefan: Jalta als polnischer Erinnerungsort. In: Dialog. Deutsch-polnisches Magazin H. 62–63 (2003), S. 58–60. Siehe auch die polnische Übersetzung Jałta jako polskie miesjsce pami˛eci ebd., S. 61–62, sowie ders.: Jalta versus Stalingrad, GULag versus Holocaust. Konfligierende Erinnerungskulturen im größeren Europa. In: Berliner Journal für Soziologie 15 (2005), H. 3, S. 381–400. Borodziej, Włodzimierz: Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg – 50 Jahre später. In: Erinnern, vergessen, verdrängen. Polnische und deutsche Erfahrungen. Hrsg. v. Ewa Kobyli´nska und Andreas Lawaty. Wiesbaden: Harrassowitz, 1998, S. 66–77, hier S. 73–74.

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politische Demokratie und die freie wirtschaftliche Betätigung wiedereingeführt. Im östlichen Teil setzte die Sowjetunion auf Dauer Regime nach eigenem Muster ein. Im Osten wie im Westen wurde die Existenz des Systems von Jalta mit der Notwendigkeit begründet, in Europa und weltweit das globale Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. 5

Noch deutlicher hat diese Interpretation der tschechische Schriftsteller Milan Kundera mit seinem auf Ostmitteleuropa gemünzten Begriff des occident kidnappé, also des „gekidnappten Westen“, gemacht: In Jalta hat Stalin den Ostteil des Westens, eben Ostmitteleuropa, entführt – ohne dass Roosevelt und Churchill ihm in den Arm gefallen wären. 1989, so müsste man die Kundera’sche Metapher weiterführen, hat Michail Gorbaˇcëv dann die Geisel wenn nicht freigelassen, so doch die Gefängniszelle unbewacht gelassen. Auch hier anders die polnische Sicht, der zufolge sich die Geisel mit Hilfe von Solidarno´sc´ aus eigener Kraft befreit hat. Damit sind die beiden zentralen Komponenten Jaltas als polnischem Erinnerungsort ausgeleuchtet: „Jalta“ steht primär für die Periode sowjetischer Hegemonie samt Sowjetisierungspolitik. Es steht aber auch für die angloamerikanische Abwendung vom polnischen Verbündeten, ein Imstichlassen, das in die Stunde des gemeinsamen Triumphes über den Feind Hitler fiel. Dieser doppelte Schock – die Unterjochung durch die UdSSR und die ihr vorausgegangene Auslieferung durch Amerikaner und Briten – macht die Spezifik Jaltas aus polnischer Sicht aus. 6 Es ist sicher kein Zufall, dass das einzige Lied zum Thema das Werk eines polnischen Liedermachers ist: Gemeint ist natürlich Jacek Kaczmarskis bittere Balade „Jałta“ von 1984, die in zahlreichen Versionen auf YouTube zu finden ist. 7 Jalta ist also zwar ein polnischer, aber, so merkwürdig das auch klingen mag, kein ostmitteleuropäischer Erinnerungsort, auch wenn in Jalta das Schicksal Ostmitteleuropas für die Dauer des Kalten Krieges besiegelt wurde. Die Gründe dafür sind, nach Ländern geordnet, die folgenden: Die Tschechoslowakei konnte ihr politisches System der Vorkriegszeit zunächst zu Teilen rekonstruieren – hier fiel die entscheidende Wende also nicht in den Februar 1945, sondern den Februar 1948; Ungarn war anders ˇ als Polen und die CSR kein Verbündeter der Alliierten, sondern einer des „Dritten Reiches“ gewesen und damit Verlierer, nicht Sieger des Weltkriegs – entsprechend niedrig gespannt waren die Erwartungen der Ungarn bezüglich der Nachkriegsregelung; die baltischen Staaten waren seitens der Alliierten entgegen anderslautenden Bekundungen nie als vollwertige Verbündete behandelt worden – sie wurden zum

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Holzer, Jerzy: Jalta. In: Deutsche und Polen. 100 Schlüsselbegriffe. Hrsg. v. Ewa Kobyli´nska, Andreas Lawaty und Rüdiger Stephan. München, Zürich: Piper, 1992, S. 401–406, hier S. 405–406. Kersten, Krystyna: Jałta w polskiej perspektywie. London, Warschau 1989; Ruchniewicz, Krzysztof: Jalta – ein Mythos von langer Dauer. In: Zwischen (Sowjet-)Russland und Deutschland. Geschichte und Politik im Schaffen von Józef Mackiewicz (1902–1985). Hrsg. v. dems. und Marek Zybura. Osnabrück: fibre, 2012, S. 89–101. Z. B. URL https://www.youtube.com/watch?v=HrnQy-89eUg, letzter Zugriff: 05. 10. 2016. Siehe auch den Liedtext auf der Website tekstowo.pl (URL http://www.tekstowo.pl/piosenka,jacek_kaczmarski,jalta.html, letzter Zugriff: 05. 10. 2016) sowie eine Coverversion der Gruppe „T.love“ (URL https://www.youtube.com/watch?v=y8gwvStC_5s, letzter Zugriff: 05. 10. 2016).

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innersten Bestand der UdSSR gezählt; und das sich als Mit-Sieger über Hitler fühlende Jugoslawien Titos setzte 1948 im Konflikt mit Moskau eine Fortsetzung seiner Sonderrolle durch, stieg also aus dem „System von Jalta“ aus. Man geht wohl nicht zu weit, wenn man ausgehend von der beschriebenen Spezifik polnischer Jalta-Sicht die Frage stellt, ob nicht eben hierin einer Gründe dafür liegt, dass die erste wirkliche Massenbewegung gegen das „System von Jalta“ 1980 in Polen entstand – eine Bewegung, die 1989/1990 dann durchschlagenden Erfolg hatte. In dieser Sicht stellt das Wendejahr 1989 in der Tat das „Ende von Jalta“ dar, ja verstärkt die Bedeutung des von den beiden ursprünglichen, negativen Komponenten „Unterjochung“ und „Verrat“ charakterisierten Erinnerungsortes um eine dritte, nun positiv konnotierte Komponente – diejenige der „Befreiung“. In Polen hat der Erinnerungsort Jalta, der im Zeitraum 1945 bis 1989 zugleich als Abbreviatur eines politischen Systems fungierte, seitdem eine fundamentale, gleichsam heilsgeschichtliche Umdeutung erfahren – von der Niederlage zum Sieg. Hierin liegt die anhaltende Geschichtsmächtigkeit dieses polnischen Erinnerungsortes. Aber wie steht es um die lieu de mémoire-Funktion von „Jalta“ in anderen Teilen Europas und der Welt? Die beiden eingangs angeführten Anekdoten lassen bereits einige Schlüsse zu. Wie aus der Schilderung meines Volgograder Erlebnisses von 1973 hervorgeht, gehört die Konferenz im Seebad auf der Krim-Halbinsel 1945 – anders als die Konferenzen von München 1938, Wannsee 1942 oder Potsdam 1945 – nicht zum gusseisernen Bestand historischen Schulwissens in Deutschland. Im Gegensatz etwa zu „Tauroggen“, „Verdun“, „Rapallo“ oder „Stalingrad“ ist „Jalta“ definitiv kein deutscher Erinnerungsort. In den drei voluminösen Bänden Deutsche Erinnerungsorte, die Etienne François und Hagen Schulze vor fünfzehn Jahren ediert haben, taucht Jalta folglich weder als Ortsname noch als Chiffre auf. 8 Und auch in der neuen fünfbändigen Sammlung Deutsch-Polnischer Erinnerungsorte ist „Jalta“ entsprechend kein eigener Eintrag gewidmet, sondern in den Kontext zweier anderer Erinnerungsorte gestellt. „Versailles und Jalta und Potsdam“ lautet daher der Obertitel von Włodzimierz Borodziejs Kapitel dort. Der Autor konstatiert hier wohl zu Recht, dass „Jalta in Deutschland nahezu sofort zu einem innenpolitisch irrelevanten Schlagwort“ verblasste. 9 Insofern ist den beiden polnischen Historikern Mikołaj Morzycki-Markowski und Tadeusz Rutkowski ausdrücklich nicht zuzustimmen, wenn sie unlängst konstatiert haben: Im Bewusstsein der Deutschen steht Jalta für den Beginn eines politischen Prozesses, der zur Teilung des Landes in zwei Staaten sowie für den unwiederbringlichen Verlust der ostdeutschen Gebiete. 10

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Deutsche Erinnerungsorte. Hrsg. v. Etienne François und Hagen Schulze. 3 Bde. München: C. H. Beck, 2000–2001. 9 Borodziej: Versailles und Jalta und Potsdam, S. 367. 10 Morzycki-Markowski, Mikołaj, Tadeusz Rutkowski: Jalta. In: Deutschland, Polen und der Zweite Weltkrieg. Geschichte und Erinnerung. Hrsg. v. Jerzy Kochanowski und Beate Kosmala. Potsdam, Warschau: Deutsch-polnisches Jugendwerk, 2013, S. 311–313, hier S. 313.

Jalta als europäischer Erinnerungsort?

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Wenn überhaupt, figuriert im deutschen Geschichtsbild die Konferenz von Potsdam vom Sommer 1945, die allerdings durch den Erinnerungsort „8. Mai 1945“ deutlich überlagert wird bzw. in demjenigen „1945“ aufgeht. 11 Folglich taucht „Yalta“ im aktuellen Bestseller Germany. Memories of a Nation von Neil MacGregor ebenso wenig 12 auf wie „Jalta“ in Ulrich Herberts gleichfalls neuer sowie dickleibiger Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. 13 Ganz ähnlich die Situation in Frankreich, dem seinerzeitigen Nicht-Teilnehmer an der Konferenz auf der Krim, wo allerdings „1944“ die entscheidende Zeitmarke ist. Es verwundert daher nicht, dass auch in Pierre Noras siebenbändiger Sammlung französischer Erinnerungsorte bezüglich „Jaltas“ Fehlanzeige erstattet werden muss 14, und dies obwohl französische Schulbücher für den Geschichtsunterricht offenkundig sowohl die Konferenz als auch den „Mythos von Jalta’“ relativ ausführlich behandeln. 15 Die Unkenntnis des Doktoranden der Geschichte Timothy Garton Ash im Polen der frühen 1980er-Jahre bezüglich „Jaltas“ legt überdies nahe, dass auch im Geschichtsbild der Briten hier eine Lücke klaffte – und mutmaßlich weiter klafft –, und das obwohl das Vereinigte Königreich mit seinem bis heute populären Premierminister Winston Churchill in Jalta 1945 unübersehbar vertreten war. Allerdings hat der memory boom die britische Geschichtswissenschaft nicht in demselben Maße erfasst wie die französische, deutsche oder polnische, so dass keine Sammlung mit dem Titel British Realms of Memory vorliegt, in dem ein Lemma „Yalta“ nachgeschlagen werden könnte – oder eben, was wahrscheinlicher ist, fehlen würde. Allerdings liegt seit 2012 das dreibändige Werk Europäische Erinnerungsorte vor, herausgegeben von Historikern aus den Niederlanden, der Schweiz, Österreich und Deutschland, welches solche lieux de mémoire porträtiert – so der Klappentext –, „die für Europäer aller Länder eine Bedeutung haben, die ihre Identität mit formen und die wir mitdenken, wenn wir ‚Europa‘ sagen“ 16, bzw. das „Plätze“ und „Ereig-

11 Troebst, Stefan: „1945“ – (ogólno)europejskie miejsce pami˛eci? In: Odra 49 (2009), H. 9 (September), S. 4–8; ders.: Možet li „1945“ stat’ obšˇceevropejskim mestom pamjati? In: Oteˇcestvennye zapiski 2008, H. 44 (5), S. 23–31. 12 MacGregor, Neil: Germany. Memories of a Nation. London: Penguin, 2014. Deutsch als Deutschland. Erinnerungen einer Nation. München: C. H. Beck, 2015. 13 Herbert, Ulrich: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. München: C. H. Beck, 2014. 14 Les lieux de mémoire. Sous la direction de Pierre Nora. Paris: Gallimard, 1984–1992. Vgl. auch Erinnerungsorte Frankreichs. Hrsg. v. Pierre Nora. Mit einem Vorwort von Etienne François. München: C. H. Beck, 2005. 15 O. A.: Entre mémoire et histoire: L’image de Yalta dans les manuels scolaires. O. D.(URL http://defense.ac-montpellier.fr/pdf/cercle/yalta_manuels.pdf, letzter Zugriff: 05. 10. 2016). Vgl. auch Laloy, Jean: Yalta, hier, aujourd’hui, demain. Paris: R. Lafont, 1988. 16 Europäische Erinnerungsorte. Hrsg. v. Pim den Boer, Heinz Duchhardt, Georg Kreis und Wolfgang Schmale. 3 Bde. München: Oldenbourg, 2012. Der Klappentext aller drei Bände ist diesbezüglich identisch.

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nisse“ darstellt, „die gesamteuropäisch von Bedeutung sind.“ 17 Zwar finden wir hier neben fulminanten Beiträgen zu „Che Guevara“, „Südsee“ oder „Pizza und Pizzeria“ auch solche zu den Pariser Vorortverträgen von 1919/1920, zu den Römischen Verträgen von 1957 oder zur KSZE, der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, heute OSZE, aber keinen zu „Jalta“. Das mag angesichts des bisher Gesagten wenig erstaunen, tut es dann aber doch, da im Band 2 dieses opus magnum ein detaillierter Beitrag über „Katy´n“ aus der Feder des Breslauer Kunsthistorikers Cezary Was ˛ enthalten ist. 18 Zwar listet der Autor hier akribisch die Katy´n-Denkmale in Großbritannien, Kanada, den USA und Polen sowie die Friedhöfe der vom NKVD erschossenen Polen in Katyn, Mednoe und Charkiv auf, doch geht daraus die Europäizität des Erinnerungsortes „Katy´n“ nicht einleuchtend hervor. Umso auffälliger, wenn nicht gar schwer erklärlich, nimmt sich daher die Lücke bezüglich „Jaltas“ in diesem Standardwerk aus. Ohne die einschlägigen italienischen, dänischen, niederländischen und anderen Publikationen zu nationalen Erinnerungsorten in Europa sämtlich konsultiert zu haben, sei die Aussage gewagt, dass dort „Jalta“ ebenfalls entweder gar nicht oder lediglich als Konferenzort figuriert. Und da das Forschungsfeld der memory studies erst seit Kurzem im Vordringen in die Osthälfte Europas befindlich ist – wiederum mit Polen als einer signifikanten Ausnahme 19 –, liegen noch keine einschlägigen Veröffentlichungen zu nationalen lieux de mémoire von Bulgaren, Ukrainern, Letten oder Moldauern vor. 20 Bleibt aber dennoch die Antwort auf die Titelfrage, ob „Jalta“ ein europäischer Erinnerungsort ist. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat aus Anlass des 70. Jahrestages der Konferenz geschrieben, „Jalta“ sei im Gefolge des Treffens der „großen Drei“ 1945 zu „einer hochpolitischen Chiffre aufgestiegen“. 21 Begründet wurde das mit der 1985 gestellten Prognose des ungarischen Dissidenten György Konrád, dass „die Zwangsjacke von Jalta“ zwar den Status quo im Europa des Kalten Krieges gesichert habe, dies jedoch nur temporär. Konrád schrieb in seinem hellsichtigem Essay Antipolitik. Mitteleuropäische Meditationen:

17 Klappentext zu Europäische Erinnerungsorte. Bd. 2: Das Haus Europa. 18 Was, ˛ Cezary: Katy´n. Ebd., S. 479–489. 19 Ko´nczal, Kornelia, Joanna Wawrzyniak: Polskie badania pami˛ecioznawcze: tradycje, koncepcje, (nie)ciagło´ ˛ sci. In: Kultura i Społecze´nstwo 45 (2011), H. 4, S. 11–63; dies.: Traditionen, Konzepte, (Dis-)Kontinuitäten. Erinnerungsforschung in Polen. In: Osteuropa 62 (2012), H. 5, S. 19–46. 20 Siehe aber das noch nicht abgeschlossene ungarische Projekt „Magyar emlékezethelyek“ (Ungarische Erinnerungsorte) an der Universität Debrecen. Dazu Laczó, Ferenc, Máté Zombory: Between Transnational Embeddedness and Relative Isolation: The Moderate Rise of Memory Studies in Hungary. In: Acta Poloniae Historica 106 (2012), S. 99–125. 21 Blasius, Rainer, Reinhard Vesper: 70 Jahre Jalta-Konferenz: Befreites Europa vor Eisernem Vorhang. Im Februar 1945 trafen sich Churchill, Roosevelt und Stalin in Jalta. Wie die Konferenz der „großen Drei“ zu einer hochpolitischen Chiffre aufstieg. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. Februar 2015 (URL http://www.faz.net/aktuell/politik/70-jahre-konferenz-von-jalta-mit-stalinchurchill-und-roosevelt-13414038.html, letzter Zugriff: 09. 10. 2016).

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Das Festhalten an Jalta bietet keine strategische Perspektive, sondern bedeutet lediglich die Konservierung des Bestehenden, die auf längere Sicht unmöglich ist. Für die Unmöglichkeit einer solchen Konservierung sorgen die Völker Mitteleuropas. 22

Doch kann „Jalta“, wie gezeigt, heute weder in Deutschland noch in Westeuropa und auch nicht in Ostmitteleuropa – Polen ausgenommen – als „hochpolitische Chiffre“ und damit als lieu de mémoire erster Ordnung gelten. Dies deshalb, weil die Zugeständnisse Churchills und Roosevelts an Stalin in jenem Winter auf der Krim gemäß Serhii Plokhys treffendem Buchtitel von 2010 The Price of Peace, der Preis des Friedens, cena pokoju, waren. 23 Und dieser Preis war hoch, also kein Grund, sich daran zu erinnern – schon gar nicht am 70. Jahrestag im Jahr 2015. Für dieses explizite Nicht-Erinnern außerhalb Polens im vergangenen Februar gab und gibt es aber noch einen weiteren aktuellen Grund. Gemeint ist nicht die Einweihung der ästhetisch fragwürdigen Bronzeplastik von Zurab Cereteli, die nach der völkerrechtswidrigen Annexion der ukrainischen Halbinsel im Februar 2015 in Jalta aufgestellt wurde und die dem berühmten historischen Foto der sitzenden „großen Drei“ nachempfunden ist. 24 Vielmehr ist der Auftritt des russländischen Präsidenten Vladimir Putin am 28. September 2015 vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen gemeint. Die ersten drei Absätze seiner Rede lauten: Das 70. Jubiläum der Vereinten Nationen ist ein guter Anlass, um sowohl über die Geschichte, als auch über unsere gemeinsame Zukunft zu sprechen. Im Jahr 1945 haben die Staaten, die den Nazismus besiegt haben, ihre Anstrengungen vereinigt, um feste Grundlagen für die Nachkriegsordnung zu schaffen. Ich erinnere daran, dass die wichtigsten Entscheidungen über die Prinzipien der Zusammenarbeit von Staaten und über die Gründung der UNO in unserem Land getroffen wurden, bei der Jalta-Konferenz der Anführer der Anti-Hitler-Koalition. Das System von Jalta war wirklich mit viel Leid und den Leben von Dutzenden Millionen Menschen bezahlt, mit zwei Weltkriegen, die den Planeten im 20. Jahrhundert heimgesucht haben und, wenn wir objektiv sind, half es der Menschheit, das turbulente und oft dramatische Geschehen der letzten 70 Jahre zu überstehen und bewahrte die Welt vor weitreichenden Erschütterungen. 25

22 Konrád, György: Antipolitik. Mitteleuropäische Meditationen. Frankfurt /M.: Suhrkamp, 1985, S. 43. 23 Plokhy, Serhii M.: Yalta. The Price of Peace. New York 2010. Vgl. auch die polnische Übersetzung Jalta. Cena pokoju. Pozna´n 2011. 24 Vgl. dazu Medvedev, Sergej: Mednye giganty: Poˇcemu v Rossii toskujut po stalinskomu sapogu. In: Forbes.ru vom 10. Februar 2015 sowie die Fotoserie „monument memory yalta crimea conference“ (URL http://www.stockphotos.ro/monument-memory-yalta-crimea-conferenceimage50321907.html, letzter Zugriff: 05. 10. 2016). 25 Polnyj tekst i video vystuplenija Vladimira Putina na General’noj Assamblee OON. In: RT na russkom vom 28. September 2015 (URL https://russian.rt.com/article/119712, letzter Zugriff: 05. 10. 2016). Hier zitiert nach „Im Wortlaut: Wladimir Putins Rede bei der UN-Generalversammlung“. In: Der Unbequeme. Russland-Fakten jenseits der Mainstream-Propaganda vom 29. September 2015 (URL http://derunbequeme.blogspot.de/2015/09/wladimir-putins-rede-vor-der-un.html, letzter Zugriff: 05. 10. 2016).

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Man weiß gar nicht, wo man anfangen soll, diese groteske Verzerrung der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu korrigieren. Ist die Russländische Föderation des Jahres 2015 wirklich identisch mit Stalins Sowjetunion von 1945, wie die Formel „unser Land“ suggeriert – zumal Jalta und die Krim ungeachtet der russländischen Militärintervention, Okkupation und Annexion ja völkerrechtlich mitnichten zu dem Staat gehören, dem Putin vorsteht? Auch legte „Jalta“ mitnichten den Grundstein für ein friedliche Weltordnung, sondern denjenigen für die ob ihrer nuklearen Dimension periodisch menschheitsbedrohende Ost-West-Konfrontation im langen Kalten Krieg. Ich glaube allerdings nicht, dass sich die Putin’sche Jalta-Interpretation mit dem Geschichtsbild der Bürger der Russländischen Föderation deckt. „Jalta“ ist, wie schon zu Brežnevs Zeiten, kein Erinnerungsort der Russen – im Gegensatz zum „Tag des Sieges“ drei Monate später, am 9. Mai. Ungeachtet dessen zeigt Putins Rede in New York, dass die Geschichtspolitik des Kremls auf eine Aufwertung von „Jalta“ zielt: In Jalta, so deren Inhalt, haben „wir“ auf Augenhöhe mit der übrigen Welt eine neue, stabile Weltordnung geschaffen, nämlich, so Putin, das „System von Jalta“. Und die unverkennbare Botschaft lautet: Jetzt, heute, ist die Zeit gekommen, zu der Russland auf der einen und die Staatengemeinschaft auf der anderen Seite gleichsam paritätisch die Welt neu ordnen sollten – „Jalta 2.0“ also. Da sei wer auch immer vor!

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Debating the Mercantile Background to Early Modern Swedish Empire-Building Michael Roberts versus Artur Attman

[1994] The breathtaking but short-lived career of peripheral, poor, backward and sparsely populated Sweden as a great power in the early modern period is a topic which has for 300 years fascinated Scandinavian and non-Scandinavian historians alike. 1 Until the end of the nineteenth century, in analysing the motives and driving forces behind this political and military success story most historians adopted contemporary patterns of explanation such as the ‘salvation of protestantism’ or the ‘aggrandizement of power and glory’. In the early twentieth century, however, two more sophisticated explanations emerged. One focused on the necessities of security policy as the triggering factors of expansion; according to representatives of this historiographic current (which later was called the Old School) the ultimate goals of Sweden’s wars in the sixteenth to eighteenth centuries were determined by defensive thinking. This explanation was soon challenged by a New School, which stressed economic and financial factors pushing Sweden-Finland steadily towards expansion; the struggle for control of the main arteries of East-West trade in order to siphon it off was said to be of primary importance. From the mid-twentieth century on, the chief protagonists of the respective schools were the British historian of early modern Europe, Michael Roberts, and the Swedish specialist of international and Swedish economic history, Artur Attman. Contrary to what one might expect, however, the two prominent ‘school leaders’ did not engage in open discussion. Instead they carried on for decades a very peculiar type of debate. The debate of the 1940s through to the 1980s is described here.

1. Historiographical Context In order to obtain a better grasp of the two opponents’ arguments, a look at the historiographical context out of which the debate emerged is useful. In the beginning, this context was a Scandinavian one. From the 1920s onwards, the ideas of the Old School, represented by prominent Swedish historians such as Harald Hjärne and Nils Ahnlund, were challenged by Curt Weibull of Lund and some of his fol1

This article is based on a paper delivered at the annual meeting of the British Nordic History Group, University of Newcastle upon Tyne, 22–25 April 1992. I am obliged to Michael Roberts and Thomas Munch-Petersen for valuable suggestions and criticism, and to Jeanne Adanır for assistance with the translation.

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lowers. Among these were Ingvar Andersson, Per Nyström, Sven Svensson, KarlGustaf Hildebrand and, last but not least, Artur Attman. In his early writings Attman exemplified what the Russian historian Boris G. Kurts had aptly termed the ‘White Sea /Baltic Sea Question’ (arkhangel’sko-baltiiskii vopros 2) and what in seventeenthcentury Sweden was called the redressirung or derivation, i. e. the re-routing of Muscovy’s foreign trade from the White Sea port of Arkhangel’sk ‘back’ into the Swedish harbours in the Gulf of Finland. From medieval times until the fall of Muscovite Narva to Sweden in 1581, this had been the natural outlet for Russian foreign and transit trade to Western Europe. From the New School’s point of view, the ultimate aim behind Swedish expansionist policy was the attempt to control or possess all territories, traffic routes and harbours used for the East-West trade. By the 1950s the change of paradigm in Swedish historiography had been completed. In Sweden the ‘Attman thesis’ (Erling Ladewig Petersen 3) acquired universal validity, as reflected in particular in Swedish university textbooks. At the same time, however, another change of paradigm took place. Swedish historians shifted their interest away from the external aspects of Swedish empirebuilding towards its internal ones. The focus of Swedish historical research ceased to be on diplomatic history, the history of warfare and foreign trade policy. Now it was the administrative and social history of the empire that caught the historians’ attention. But this did not mean a weakening of the ‘Attman thesis’. On the contrary, it became an integral part of the dominating research paradigm of Sven A. Nilsson and his Uppsala school of the history of imperial Sweden and its internal functioning. Thus, in 1988 S. A. Nilsson wrote: “The expansionist foreign policy that is a mark of the Swedish Age of Greatness began as early as the midsixteenth century. Then and for a long time afterwards it looked east, having as its goal the control of the trade routes to Russia.” 4 The Uppsala historian combined his support for the New School with serious doubts concerning the ideas of the Old: In the discussion that took place at the time, much was made of the need to ensure the kingdom’s security, and in historical literature the security objectives have often been given a prominence equal to the trading ones. It is true that security considerations played their part, although taken in isolation they are a rather inadequate explanation for a policy of conquest. They acquire more substance if the concept of security is extended to mean the

2 3 4

Boris G. Kurts, ‘Doneseniia Rodesa i arkhangel’sko-baltiiskii vopros v polovine XVII veka’, Zhurnal ministerstva narodnago prosveshcheniia. New Series, Pt. 38 (St Petersburg 1912), 72–105. Erling Ladewig Petersen, ‘Sverige og Østersøen i stormagtstiden’, Historisk Tidsskrift (Denmark), Vol. 88 (1988), 61–70. Sven A. Nilsson, ‘Imperial Sweden: Nation-Building, War and Social Change’, in Agneta Lundström, ed., The Age of New Sweden (Stockholm 1988), 9–39 (9). Here Nilsson refers to his detailed review of Attman’s thesis in which he stated: ‘The proud Swedish plans towards the Russian trade were without doubt the driving force of Swedish action in the Baltic in the sixteenth century.’ Cf. Sven A. Nilsson, ‘Den ryska marknaden i 1500 – talets politik’, Scandia, Vol. 16 (1944), 175–90 (190). Also in a more recent publication he stresses ‘the mercantile aims which lie behind the expansion’. See Sven A. Nilsson, ‘Stormakten Sverige. Statsbygge och samhälsförändring’, in Leif Jonsson, ed., Stormaktstid. Erik Dahlbergh och bilden av Sverige (Skövde 1992), 11–37 (12).

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concern of the established great power to preserve what has been won. It then becomes convenient to proclaim a general goal of peace and balance between states or, in the language of seventeenth-century diplomacy, securitas pacis. 5

Nilsson adopted here the research results of the former Swedish keeper of the records, Sven Lundkvist, who recently pointed out that in the seventeenth century the positive term securitas pacis was used in a propagandistic manner. According to Lundkvist, motives other than those of a security nature could be camouflaged with this label, and contemporaries and scholars thereby be frequently led in the wrong direction. 6 What he calls the difference between ‘motive and justification’ (motiv och motivering 7) has also been observed by other scholars. In discussing expansionist motives and their religious justification in Gustav Adolf’s (1611–32) decision to intervene in the Thirty Years War, Miroslav Hroch, for example, stated: Die propagandistisch hochgezogene Absicht, den bedrängten Glaubensbrüdern im Reich zu helfen, hat erst nachträglich, nach dem erfolgreichen Feldzug im Reich, eine andere als lediglich propagandistische Bedeutung bekommen. Während der Vorbereitungen fehlte jedoch das religiöse Moment unter den politischen Motiven für die Kriegsentscheidung bei Gustav Adolf und seinem Reichsrat fast völlig. Selten finden wir in jener Zeit eine solche Kluft zwischen dem realpolitischen Denken im Innern und der idealpolitischen Begründung nach außen wie in der Politik Gustav Adolfs vor dem Einmarsch ins Reich. 8

An interesting point concerning Charles X Gustav’s (1654–60) strategy of pursuing mercantile aims while not mentioning them in public has been made by the Swedish archivist Lennart Thanner. In 1658 Charles X Gustav ordered his diplomats negotiating with Denmark ‘not to dwell so intensively and ouvertement on the topic of commerce’ 9 in order to make the hidden aims of Swedish policy known to the Danes and also to the Dutch. Eva Österberg and Lars-Olof Larsson, co-authors of the most recent Swedish university textbook for the country’s early modern history, also stress that the crown habitually put forward security policy considerations as its reasons for undertaking 5 6

7

8

9

Nilsson, ‘Stormakten Sverige’, 15. Sven Lundkvist, ‘Die schwedischen Kriegs- und Friedensziele 1632–1648’, in Konrad Repgen, ed., Krieg und Politik 1618–1648. Europäische Probleme und Perspektiven (Munich 1985), 219–40 (240) (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien, 8). Cf. also Sven Lundkvist, ‘Säkerhet och fred. Kring den westfaliska fredens problematik’, in Utrikespolitik och historia. Studier tillägnade Wilhelm M. Carlgren den 6 maj 1987 (Stockholm 1987), 163–73. Lundkvist, ‘Kriegs- und Friedensziele’, 240. See also Sven Lundkvist, ‘Den svenska stormakten i ett europeiskt forskningsperspektid’, in Nils Erik Villstrand, ed., Kustbygd och centralmakt 1560–1721. Studier i centrum-periferi under svensk stormaktstid (Helsinki 1987), 27–36 (33). Miroslav Hroch, ‘Gustav Adolfs Argumente für den Krieg. Zur Motivierung des schwedischen Eingreifens in den Krieg auf Reichsboden’, Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt Universität Greifswald. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, Vol. 32, Nos. 1–2 (1983), 62–5 (64). Svenska riksrådets protokoll, Vol. 18 (Stockholm 1959), 20 April 1658, 51, and Lennart Thanner, ‘Rådsprotokollen år 1658. Nagra källkritiska bidrag’, Karolinska förbundets årsbok (1959), 27– 32 (28).

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new campaigns. According to Österberg and Larsson, this seemed to be the best way of countering objections. ‘Maybe’, they supposed, ‘this is one of the reasons why aspirations of trade policy were not articulated in an equally persistent manner in the council of the realm or the diet.’ 10 Finally, it was Michael Roberts himself who pointed out the considerable propagandistic elasticity of the term securitas, at least for the initial phase of Swedish expansionism in the reign of Erik XIV (1560–8): Erik’s objectives in going to Reval [1561] may have been limited, his aims may well have been essentially defensive, his motive security rather than ambition; but conquests, even for defensive purposes, titillated an appetite for territorial acquisitions, and led him and his successors into political projects or military campaigns which were unambiguously expansionist. The seductive argument of security would henceforth exert its compulsory fascination upon generations of Swedish statesmen; the seed had been planted of a political tradition which only a great national catastrophe would be able to uproot. 11

In the context of the Attman-Roberts debate, identifying the difference between motive and justification has a high heuristic value – not least because there is also a material aspect to the problem. E. Ladewig Petersen, in his version of the AttmanRoberts debate, reversed one of the latter’s arguments against the ‘Attman thesis’, namely the relatively small number of unequivocal primary sources. He argued: ‘Methodologically it is of course doubtful to draw the conclusion that because of the secrecy and sparseness of the source material fiscal or commercial considerations did not play any role in the shaping of Swedish imperial policy.’ 12 To sum up: in early modern Sweden as elsewhere and at other times, public justification of political actions is not necessarily identical with the actual motives behind them; and naturally there are more sources available concerning public justification than there are on motives deliberately hidden. Motive and justification should therefore be carefully identified in each case. 13 The same applies to another pair of antagonistic terms, also provided by Sven Lundkvist, namely ‘verklighetsuppfattning och verklighet’, that is, reality and the perception thereof. 14 In contrast to the discrepancy between motive and justification, that between reality and perception was not the deliberate achievement of seventeenth century Swedish rulers. Nevertheless it too had far-reaching consequences. 10 Lars-Olof Larsson and Eva Österberg, ‘Vasatiden och stormaktstiden’, in Göran Behre, Lars-Olof Larsson, Eva Österberg, Sveriges historia 1521–1809. Stormaktsdröm och småstatsrealiteter (Stockholm 1985), 3–188 (67). 11 Michael Roberts, The Early Vasas. A History of Sweden, 1523–1611, (Cambridge 1968), 203–4. 12 Ladewig Petersen, ‘Sverige og Østersøen’, 64. See also the remarks on the ‘Attman thesis’ in Sverker Oredsson, Gustav Adolf, Sverige och Trettioårs kriget. Historieskrivning och kult (Lund 1992), 231– 2 and 277 (Bibliotheca Historica Lundensis, 70). 13 A general treatment of the problem is given by Rudolf Vierhaus, ‘Handlungsspielräume. Zur Rekonstruktion historischer Prozesse’, Historische Zeitschrift, Vol. 237 (1983), 289–309. See in particular 291–2. 14 Sven Lundkvist, ‘Verklighetsuppfattning och verklighet. En studie i Gustav II Adolfs handlingsramar’, Studier i äldre historia. Tillägnade Herman Schück 5/4 1985 (Stockholm 1985), 227–41.

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When it comes to the mercantile background of Swedish empire-building in general and the control of the East-West trade in particular, this is quite obvious. From a Swedish perspective the Muscovite state and its market figured as a sort of Eldorado close at hand. Generations of political and economic advisers to the Crown argued that by effectively controlling the gateways to this Eldorado, all Sweden’s financial – and thus all political and military – problems could be solved easily, immediately and permanently. Behind these high expectations stood, of course, the experience of the years 1629–35, when Sweden was given the possibility of collecting the maritime tolls of the Prussian harbours, including Danzig. It was precisely this period that Walther Mediger had in mind when he coined his famous phrase “Die Schatzung fremden Handelskapitals wurde zum Eckstein der schwedischen Finanzen” 15 – to draw on foreign trading capital became one of the cornerstones of Swedish state finances. Another episode which further whetted Swedish appetites was the short-lived increase of Russian exports via the Baltic during the first Anglo-Dutch naval war of 1652–4. The above-mentioned experts who predicted an enormous influx of cash through the control of the Russia trade also produced a significant number of commercial, political and military projects aimed at bringing this control about. While recent research has shown that these expectations were more often than not exaggerated and scarcely fulfillable, they were of considerable importance nevertheless. They shaped Sweden’s Baltic and eastern policy to a high degree, and in certain periods were the dominating feature of this policy. As an historian with a considerable knowledge of seventeenth-century Swedish planning stated: [Those] dreamers and schemers who, throughout the century, developed plans for bringing the Archangel trade and much, much more to the Baltic harbors controlled by Sweden . . . were wrong both in their calculations and in their propaganda about the possibilities of trade, but the shortfall between the expectations they aroused and the reality of what developed was as important as the absolute figures achieved. 16

The question remains, however, whether these mercantile considerations were the main driving force behind the building of empire or simply one of several elements added on to a doctrine of excessive security, according to which attack was the only promising means of defence.

15 Walther Mediger, Mecklenburg, Russland und England-Hannover 1706–1721. Ein Beitrag zur Geschichte des Nordischen Krieges (Hildesheim 1967), 131 (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens, 70). 16 Heinz Ellersieck, ‘The Swedish-Russian Frontier in the Seventeenth Century: A Commentary’, Journal of Baltic Studies, Vol. 5 (1975), 188–97 (190). This judgement is based on a detailed investigation of primary sources. Cf. Heinz Eberhard Ellersieck, Russia under Aleksei Mikhailovich and Feodor Alekseevich, 1645–1682: The Scandinavian Sources, Ph. D. thesis, University of California at Los Angeles, 1955.

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2. The Debate Turning to our two protagonists’ arguments over the role of the Russian market for Swedish empire-building, four rough stages can be identified. The first is the second half of the 1940s when Artur Attman published his now well-known doctoral thesis and a couple of articles. In 1948 he moved on to a completely different field of research, and only after twenty-five years returned to the topic of early-modern Swedish empire-building. The second stage is thus dominated by Michael Roberts, beginning with his two volumes on the reign of Gustav Adolf and encompassing the whole of the 1950s and 1960s. The third phase comprises the 1970s, when Roberts embarked upon a detailed discussion of the ‘Attman thesis’ itself. The fourth and last phase is represented by the 1980s, when Attman extended his interpretative framework far into the seventeenth century and even up to the beginning of the eighteenth, while Roberts went a considerable way towards incorporating some of Attman’s ideas into his own outlook. Owing to the long duration and the at times high intensity which characterized the debate, a detailed reconstruction would require more space than an article provides. Thus, only the actual core of the controversy, the ‘Attman thesis’, is touched upon here. This fell into two parts. First, Artur Attman asserted that what, in his dissertation, he had demonstrated for the sixteenth century concerning the role of the Russian market as the main ‘pull’-factor in Swedish empire-building was also true for the seventeenth. Secondly, he stated that the litmus test for this assumption was the Swedish attempt to rechannel into the Baltic the White Sea trade route connecting the Russian market and Western Europe.

(i) Setting the Stage: Artur Attman Develops his Thesis, 1944–8 In 1944, four years after writing a M. A. thesis under the noted Lund medievalist Sture Bolin on the Narva trade between 1450 and 1585, 17 Artur Attman published his doctoral thesis The Russian Market in Sixteenth-Century’s Baltic Politics, 1558– 1595. 18 In his laconic preface Attman stated: “The idea is partly to carry out an inquiry into the character of the Russian market and partly to describe the struggle for this market.” 19 Here he identified the Swedish King John III (1568–92) as being the author of a far-reaching programme of expansion towards the northwest and north of the Muscovite state, i. e. towards Ingermanland, Karelia, Pskov and Novgorod on

17 Artur Attman, Den ryska marknaden och Narvahandelen 1450–1585, Licentiatavhandling, Lunds universitet 1940 (not preserved). On the biography of Linus Artur Attman né Jönsson (31 October 1910–25 February 1988) cf. Karl Gustaf Hildebrand, ‘Artur Attman’, Kungl. Vitterhets Historie och Antikvitets Akademiens Årsbok (1988), 41–5. 18 Artur Attman, Den ryska marknaden i 1500 – talets baltiska politik 1558–1595 (Lund 1944). 19 Ibid., [V].

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the one hand, and the Kola Peninsula and the White Sea region on the other: “In this optimistic project John’s plans to control the most important communication routes to Russia became manifest. Later on this became a programme for Sweden’s political leadership.” 20 The construction of the White Sea port of Arkhangel’sk in 1583, which economically neutralized the Swedish conquest of Russian Narva two years before, posed great problems for the realization of this programme. In Attman’s view the main reason for this was the ability of the Tsar to channel Russian foreign trade from the Baltic to the White Sea. Even at this stage he remarked that this obstacle to Swedish plans remained in effect in the following century: The investigation of market relations in the seventeenth century shows that the same preconditions for using different shipping ports existed as in the sixteenth century, but in the seventeenth century the trade route to Arkhangel’sk had been stabilized to such a degree that Swedish attempts to re-route the Arkhangel’sk trade into the Baltic sea by means of trade policy failed. 21

“Nevertheless, Swedish policy”, he contended, “stuck to the plan to re-route Arkhangel’sk’s exports into the Gulf of Finland.” 22 In two subsequent small-scale publications, Attman elaborated his interpretative framework and extended it into the first two decades of the seventeenth century. 23 The opening sentences of his 1945 article on The Baltic policy of the Vasas, 24 typical of his economical, even curt style of writing, read: “The Baltic policy of Sweden has a long ancestry. The leading motive from ancient times is interest in the trade routes to the Russian markets.” 25 Here Attman presented for the first time his revisionist interpretation of the results of Gustav Adolf’s policy towards Muscovy. In his view, the young king adopted John III’s programme for control of the East-West trade, but failed where its northern component was concerned; while the Tsar was successfully cut off from the Baltic Sea by having been forced to cede Ingermanland to Sweden, Gustav Adolf did not succeed in acquiring the Russian coasts of the Arctic and the White Seas. Thus, Sweden was unable to close the ‘back door’ to the Russian market at Arkhangel’sk. Attman’s categoric and negative judgement on the MuscoviteSwedish peace treaty of 1617 contrasted sharply with that of previous Swedish historiography: “The peace of Stolbovo was thus a disappointment for Sweden, a fact

20 21 22 23

Ibid., 281. See also 415–16. Ibid., 25. Ibid., 58. ‘A not yet published work on [Sweden’s] Baltic policy, 1595–1617’, completed by Attman in the mid-1940s, remained unpublished until 1979. Cf. Artur Attman, ‘Freden i Stolbovo. En aspekt’, Scandia, Vol. 19 (1948–9), 36–47 (36n), and Chapters XIV–XV in Artur Attman, The Struggle for Baltic Markets. Powers in Conflict, 1558–1618 (Göteborg 1979), 168–207 (Acta Regiae Societatis Scientiarum et Litterarum Gothoburgensis. Humaniora, 14). 24 Artur Attman, ‘Vasarnas Östersjöpolitik. Några synpunkter’, Historielärarnas f’örenings årsskrift (1945), 32–45. 25 Ibid., 32.

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which Gustavus Adolphus in his speech [of 26 August 1617] to the Estates skilfully concealed.” 26 Another article, published in 1948 and entitled The Peace of Stolbovo. An Aspect, was devoted to the same subject. 27 Here Attman made it clear that Stolbovo was a turning-point in Sweden’s development as a great power, though not – as the traditional interpretation read – a positive one. In his view, King John’s programme of eastward and northward expansion had now to be given up in favour of southward expansion towards Poland and Germany. Still, at the end of the 1940s the range of the Muscovite aspect of the ‘Attman thesis’ extended to the pre-Stolbovo period only.

(ii) Enter Michael Roberts: The 1950s and 1960s Michael Roberts’s scholarly debut in the field of Swedish history was the English translation of Nils Ahnlund’s book Gustav Adolf the Great, published in the United States in 1940. 28 It would, however, be rash to assume that it was this early contact with the writings of the then most eminent representative of the Old School within Swedish historiography that made Roberts a follower of this school. On the contrary, in the first volume of his own account of the ‘Lion of the North’s’ reign, published in 1953, Roberts to a considerable extent followed Attman. Just one of many instances of this is his explanation of the expansionist and aggressive Arctic policy of Charles IX (1595–1611). Like Attman, Roberts interpreted Swedish efforts at gaining an Arctic coast foothold in the region of the North Cape as being governed by the desire “to control the Russian trade [and] to prepare the way for a conquest of Kola and later of Archangel”. 29 However, the British historian was much more critical than the Swedish one when it came to the chances of these plans being realized. Qualifying them as “largely chimerical from the beginning”, 30 he dismissed them as the “pursuit of a shadow”. 31 He concluded, anticipating later writings, “It was to be another half century before Swedes were cured of the Arctic delusion.” 32 With respect to Swedish strategic planning, Roberts and Attman emphasized some common points and some quite different ones, but held views that were not essentially antagonistic. When it came to interpreting the Stolbovo peace treaty, however,

26 Ibid., 44. 27 Attman, ‘Freden’. 28 Nils Ahnlund, Gustav Adolf the Great, trans. Michael Roberts (Princeton, NJ 1940) (Reprint Westport, CT 1983; this being the translation of Nils Ahnlund, Gustav Adolf den Store [Stockholm 1932]). On the initial and later stages of Michael Roberts’s involvement in Swedish history, see his autobiographic outline ‘Retrospect’, in Bengt Ankarloo et al., eds., Maktpolitik och husfrid. Studier i internationell och svensk historia tillägnade Göran Rystad (Lund 1991), 1–26. 29 Michael Roberts, Gustavus Adolphus. A History of Sweden 1611–1632, Vol. 1: 1611–1626; Vol. 2: 1626–1632 (London 1953–1958); here, see Vol. 1, 45. 30 Ibid., 89. 31 Ibid., 45–6. 32 Ibid., 46.

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they sharply disagreed. According to Roberts, Stolbovo was far from being the disappointment that Attman had stated it to be; on the contrary, “Sweden had obtained everything she could really hope for.” 33 The new borders, in Roberts’s view, were strategically more advantageous than the former ones and the military threat from the Tsar thus relieved. His final judgement ran as follows: “In comparison with these advantages it was of minor importance that Sweden should now have abandoned the attempt to monopolize the trade of Russia.” 34 And, “it is a one-sided view of history which calls Stolbova a ‘defeat’ for Sweden.” 35 Another interesting divergence appears in the two historians’ ways of periodizing Swedish political history. While Attman, in his work during the 1940s, considered Stolbovo to mark the end of the Swedish programme of re-routing the Arkhangel’sk trade, Roberts declared: “The historic ambition to control the trade between Russia and the West still survived as an active principle of policy.” 36 In one of the many articles on Swedish history which he published in the 1950s and 1960s, Roberts even agreed with Birgitta Odén, who had interpreted the final goals of Charles X Gustav in the 1650s in the same manner in which Attman had interpreted those of John III and Charles IX. According to Odén, Sweden’s conquest of Trondhjem in Norway and its demand for Vardöhus in the North Cape region were made to block the traffic to the White Sea and to Arkhangel’sk, while its grip on the Sound would ensure control of the Baltic trade. Following this line of argument Roberts wrote in 1965: “Charles X [. . . ] had made what proved to be the last serious attempt to achieve total control of the great trade between Muscovy and the West; and he had barely missed success.” 37 In his monograph The Early Vasas. A History of Sweden, 1523–1611 (1968), Roberts not only to a considerable extent incorporated Attman’s findings for the sixteenth century, but stressed their validity even for the seventeenth: “[The] delusive hope of a total control of the Russia trade had received such encouragement that future generations of Swedish statesmen would always be prone to entertain it.” 38 Since this book ended with the death of Charles IX in 1611, Roberts did not touch here on the Stolbovo question. He did so, however, in his highly concentrated monograph Gustavus Adolphus and the Rise of Sweden (1973). Though not explicitly mentioning Attman’s interpretation of the peace treaty, he characterized in the following way the strategy of the king and his chancellor Axel Oxenstierna concerning the negotiations with the Muscovites: “The prospect of controlling the Russia trade, tempting as

33 34 35 36 37

Ibid., 89. Ibid. Ibid., 90. Ibid., Vol. 2, 121. Michael Roberts, ‘Charles XI’, in Michael Roberts, Essays in Swedish History (London 1967), 226– 68 (227). This essay was first published as an article in History, Vol. 50 (1965). 38 Roberts, The Early Vasas, 272. In the bibliography of this book, however, Roberts was rather critical towards Attman’s views: ‘The economic explanation of Swedish policy [. . . ] was reinforced by Artur Attman’s celebrated book. [. . . ] Reservations about the economic interpretation [. . . ] seem to me to have weight’ (ibid., 483–4).

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it was, was not an objective for which they were prepared to fight indefinitely; hence they were ready to drop their claims to Archangel and the White Sea ports.” 39 At this stage of the debate Attman’s monocausal explanation was partly accepted by Roberts and partly challenged.

(iii) Attacks and Fortifications: The 1970s Throughout the 1940–70 period, the Attman-Roberts debate was seriously obstructed by the fact that its protagonists never worked on their common topic at the same time. In the 1940s, while Attman was publishing the results of his research, Roberts was busy promoting Swedish-British cultural relations; 40 in the 1950s and 1960s, when Roberts published his monographs on the early modern period, Attman had already turned his attention to later centuries. This state of affairs changed at the beginning of the 1970s. Quite unintentionally, Attman inaugurated the debate’s third phase by redirecting his attention to the field of Swedish imperial history. He did this by publishing an updated English translation of the first half of his 1944 doctoral thesis under the title The Russian and Polish Markets in International Trade, 1500–1650. 41 In the same year, 1973, Roberts edited a collection of articles by Scandinavian historians and by himself entitled Sweden’s Age of Greatness. 42 In the introduction to this volume the Belfast historian now decisively pointed to “considerations of strategy and national security” as the driving forces behind Swedish empire-building and directly criticized “Artur Attman [. . . ] for whom the economic interpretation of Swedish policy was the only admissible one.” 43 While conceding that “such an approach presents an important aspect of the truth”, Roberts nevertheless warned that “the antithesis between political and economic motivations must not be pressed too hard.” 44 Whether considerations of security or of trade control determined specific military or political decisions was in his view “perhaps mainly a question of emphasis”. 45 According to Roberts some decisions were driven by security considerations, others by economic ones, whereas Attman saw the emphasis as lying exclusively and permanently on one side. With the benefit of hindsight, however, it has to be recognized as an element of inconsistency in one of Roberts’s main arguments against Attman: without paying attention to the intricate relationship, already mentioned, of “motive and justification” the British historian took the scantiness of primary sources relating to such economic considerations as

39 Michael Roberts, Gustavus Adolphus and the Rise of Sweden (London 1973), 46. 40 Roberts, ‘Retrospect’, 10–17. 41 Artur Attman, The Russian and Polish markets in International Trade, 1500–1650 (Göteborg 1973) (Meddelanden från Ekonomisk-historiska institutionen vid Göteborgs universitet, 26). 42 Michael Roberts, ed., Sweden’s Age of Greatness, 1632–1718 (New York 1973). 43 Michael Roberts, ‘Introduction’, ibid., 1–19 (4). 44 Ibid., 3. 45 Ibid.

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an indication of their insignificance: “There is remarkably little in the correspondence of Gustavus and Oxenstierna, for instance, to suggest that economic motives played a major part in the king’s policy.” 46 With respect to the 1650s, however, Michael Roberts saw the emphasis shifting again towards just these economic motives: “[The] economic and political aspects of expansion fused into a single policy.” 47 Parts of Oxenstierna’s founding instruction for the College of Commerce (1651) and still more the Norwegian policy of Charles X Gustav in 1658 were again interpreted by Roberts as aiming at complete control of the trade routes to the Russian market. 48 Attman did not reply openly to these direct critiques and commentaries. Nevertheless he prepared an indirect, though stinging, reply by compiling a collection of Swedish documents on foreign trade policy and trade relations with Muscovy in the seventeenth century. The focus of this edition, which was published in 1978, was almost entirely on the programme of re-routing the Arkhangel’sk trade in the period 1630–98. The significance of this programme was made evident by some twenty documents of varied origins: the College of Commerce, the Council of the Realm, the king, embassies, economic intelligence and the like. Attman put forward his central thesis in the following form: “The overriding interest of Swedish policy throughout the whole seventeenth century was the possibility of gaining control over the important trade between the Russian market and Western Europe.” 49 At the same time, Roberts was busy elaborating and enlarging the synthesis of the Swedish empirebuilding process put forward in his introduction to the 1973 essay volume. In 1976, he was invited by his former colleagues at the Department of Modern History of the Queen’s University of Belfast to give the 1977 Wiles Lectures. His text, completed at the end of 1976, was published in 1979 as The Swedish Imperial Experience, 1560– 1718. 50 This book contained more detailed criticism than the preliminary sketch of 1973 of Attman and the economic interpretation of early modern Sweden’s rise as a great power. Having posed the question: “What [. . . ] was the dynamic behind the Swedish expansion?”, 51 Roberts provided a decisive answer: “[The] real dynamic behind the creation of empire was simply fear; and its initial objective, security.” 52

46 47 48 49

Ibid., 4. Ibid. Ibid., 4–5. [Artur Attman], ‘Kommenterade översikt till den svenska dokumentdelen’, in Artur Attman et al., eds., Ekonomiska f’örbindelser mellan Sverige och Ryssland under 1600 – talet. Dokument ur svenska arkiv (Stockholm 1978), IX–XI (X). 50 Michael Roberts, The Swedish Imperial Experience (Cambridge 1979). Cf. also a Swedish translation, Sverige som stormakt 1560–1718. Uppkomst och sönderfall (Stockholm 1980), and the detailed reviews by Sven-Erik Åström, ‘Swedish Imperialism under the Miscroscope’, Scandinavian Economic History Review, Vol. 30 (1982), 227–33, and Aleksandr S. Kan in Skandinavskii sbornik [Tartu], Vol. 28 (1983), 184–8. 51 Cf. Michael Roberts, The Swedish Imperial Experience, 1560–1718, 3. 52 Ibid.

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After an outline of the Old School Roberts turned to a detailed discussion of the New School which, in his words, “owes its origin to that great scholar Ingvar Andersson [. . . ]; it has been developed and systematized by Artur Attman; and it has now become an orthodoxy.” 53 Roberts distinguished between two levels of argumentation. On the first and more concrete level, he again accepted Attman’s findings on the Swedish programme of control of the Russian market, this time not only for the sixteenth century but also for the seventeenth: It [. . . ] became an aim of Swedish policy, first clearly formulated by John III, and never forgotten thereafter, to force the trade back to Estonian and Ingrian ports by blocking the White Sea route and capturing Archangel. John III, Charles IX, Gustav Adolf, Charles XII, all made abortive expeditions against Archangel. 54

On the second and more abstract level, Roberts disputed through a variety of counterarguments the idea that this programme dominated and thus decisively shaped Swedish expansionist policy. For example, to those military or political plans or actions which the New School identified as providing proof of a mercantile background, he ascribed security considerations; in any case, he stressed, these plans, such as that of “monopolizing the Russia trade”, remained just schemes, not to say dreams. 55 Finally, he argued, if economic aims had been pursued at all, it was only temporarily, or as one thread among several. It is a ‘Yes, but’ type of argumentation with many more ‘buts’ than ‘yesses’. This time Roberts clearly differentiated between the sixteenth and seventeenth centuries, between the period before Stolbovo and the period after. On the subject of the treaty itself, he now engaged in open polemic against Attman. With regard to the fact that in the treaty far-reaching Swedish territorial demands were not met by the Tsar, he acidly remarked: This led Professor Attman to the paradoxical conclusion that that peace was in fact a disappointment, almost a reverse, because it did nothing to further the economic domination of the trade with the West. In fact it did not fit the Attman model, and therefore was a setback. But it could equally well be argued that this is evidence that the Attman thesis is not of general validity. 56

Again Roberts criticized Attman for being unable to back up his views with adequate documentary evidence; this was particularly the case with the rule of Gustav Adolf and Oxenstierna: [The] evidence for the ‘economic’ theory strikes me as sparse at many of the points where one might expect to find it most abundant. In the correspondence of Gustav Adolf and Axel Oxenstierna, in the Proposition to the Diet, in the debates of the Council and the Estate of Nobility, a man will look a long time before he amasses any sizeable dossier to support it. 57 53 54 55 56 57

Ibid., 26–7. Ibid., 28. Ibid., 40. Ibid., 32. Ibid., 42.

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By 1979, the year in which this book was published, however, this argument was no longer convincing, since in 1978 Attman had published the above-mentioned collection of seventeenth-century documents from Swedish archives which contained just the type of information Roberts claimed to be lacking. Notwithstanding his sympathy for the Old School and his criticism of the New, Roberts ultimately attempted a synthesis of the two. He stated: [If] we look at the matter dispassionately, the controversy between the Old School and the New resolves itself into a single question: did Sweden seek for increased customs revenues in order to finance campaigns which had a political motivation; or were the campaigns launched essentially in the hope of acquiring the vastly increased revenues which could be expected from a monopoly of the trade of the Baltic, and especially the trade to Russia? 58

Rather unexpectedly, Roberts here came up with a solomonic solution to the dilemma: No single answer fits all the facts; and perhaps it is not of ultimate importance what the answer is. For whichever theory we prefer, each presupposes, as the motive behind Swedish expansion, a feeling in her statesmen of insecurity and weakness, political weakness in the one case; and in the other an economic inadequacy which must be remedied if the state were ever to be safe. 59

Despite his assertion that there was no real need for a definite answer, at the end of his book Roberts nevertheless offered one. “All in all”, he summed up, “the conclusion emerges that economic interests did to a considerable extent help to keep the empire together, even if those interests had not been the motive force behind its acquisition.” 60 While in his elegant Imperial Experience of 1979 Michael Roberts did not pay attention to Attman’s document collection of 1978, Attman, in a thoroughly revised English translation of the second part of his 1944 thesis, published also in 1979, 61 ignored most of Roberts’s publications. Attman accordingly repeated here, in unchanged form, his interpretation of the Stolbovo treaty, developed in the 1940s. 62

(iv) Wisdom of Old Age: The 1980s As we have seen, in the 1970s both Attman and Roberts had considerably intensified their publishing activity in their common field of interest. This was particularly 58 59 60 61

Ibid., 41–2. Ibid., 42. Ibid., 107–8. Attman, Struggle. Cf. Michael Roberts’s review in The English Historical Review, Vol. 96 (1981), 437–8. Here he states: “The author’s demonstration of the high importance of economic considerations in shaping the policy of rival powers (and especially Sweden) is certainly convincing for the period 1560–1600; less convincing is the implication that merely political factors were of little or no significance.” 62 Attman, Struggle, 206–7.

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true of Attman, who now also began to work intensively on the seventeenth century. Some of the results of his research appear not to be available owing to his death in 1988. What he did manage to publish were two slim but important studies. In his 1985 booklet Swedish Aspirations and the Russian Market during the Seventeenth Century 63 he took up a suggestion made by Klaus Zernack in 1962: “[Es] würde sich nun lohnen, z. B. einmal die Fragestellung A. Attmans auf das 17. Jahrhundert zu übertragen.” 64 In this booklet, which well may be regarded as a brusque and rather stubborn reply to Roberts’s erudite and eloquent 1979 essay, Attman sought to extend the chronological applicability of his findings concerning the second half of the sixteenth century well into the eighteenth century: “Throughout the period from 1561– 1721 the Russian market was the subject of great interest in Swedish policy [. . . ] Sweden’s policy of expansion and her trade policy were concentrated on the Russian market to a high degree.” 65 Again, the “fundamental objective of Swedish policy was the acquisition of control over the Russian market.” 66 In marked contrast to the position in the sixteenth century, however, Attman saw seventeenth-century Sweden as not counting solely on military measures to reach this objective: In order to achieve control over the Russian trade routes, Swedish foreign policy had to grapple with two alternatives: resort to various trade /political measures or the annexation of areas which could act as springboards for military intervention. The choice between these alternatives was dictated by political circumstances. 67

Attman also distinguished several periods during which either the one or the other option was applied. In his view, in the period from Stolbovo to the 1640s Sweden did not pursue the programme in question. Then, however, Oxenstierna turned to lowering the transit duties in Sweden’s transbaltic ports in order to attract some of the Arkhangel’sk trade into the Gulf of Finland. Under Charles X Gustav it was again the military option that came to occupy the foreground, while the Swedish-Muscovite treaty of Kardis in 1661 implied a return to a more peaceful trade policy. Attman was of the opinion that up to the beginning of the Great Northern War, it was mainly Swedish diplomatic persuasion and the attraction of low customs tariffs that were supposed to re-route Muscovy’s White Sea trade. In the 1690s, he continued, two facts became clear to the Swedish leadership under Charles XI (1672–97). In the first place, the policy of re-routing the Arkhangel’sk trade, as the College of Commerce stated in 1692, was all-in-all a failure; Swedish measures to monopolize access to the Russian market were notoriously counteracted by strong Muscovite,

63 Artur Attman, Swedish Aspirations nnd the Russian Market during the 17th Century (Göteborg 1985) (Acta Regiae Societatis Scientiarum et Litterarum Gothoburgensis. Humaniora, 24). 64 Klaus Zernack, ‘Russland und Schweden im 17. Jahrhundert. Neue Forschungen 1957–1960’, Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Vol. 10 (1962), 103–16 (105). 65 Attman, Aspirations, 5. 66 Ibid., 9. 67 Ibid., 17.

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English and Dutch economic and political interests in the White Sea trade route. But secondly, Russian exports to the Swedish ports on the Baltic increased at the same time. Russian merchants from Pskov and Novgorod now regularly visited Nyen and Narva, while English, Dutch and other ships also frequented these Swedish ports. In the light of these facts, it is not surprising that Attman interpreted Charles XII’s (1697–1718) unfortunate naval expedition of 1701 to Arkhangel’sk as being the logical outcome not only of this immediate stalemate but also of almost 150 years of Swedish policy. And at the end of his booklet he stressed what other historians, particularly Russian and Soviet ones, had also observed – that Peter the Great achieved what Sweden in the sixteenth and seventeenth centuries had been striving for: namely, the re-routing of the Arkhangel’sk trade to the Gulf of Finland, to the port of his new capital, St Petersburg, founded at the mouth of the Neva on the ruins of Swedish Nyen. 68 Whereas Attman’s 1985 booklet was devoted to a period of seven decades, he published in the following year an even shorter study, of some ten pages, which covered the entirety of Sweden’s period as a great power: that is, from 1560 to 1721. This article was laconically – not to say enigmatically – entitled The Architect of Sweden’s Baltic Policy. 69 It was necessary either to be familiar with Attman’s previous writings or to take a closer look at the text in order to discover whom he had in mind when speaking of “the architect”: John III, as the architect of Swedish Baltic policy, had drawn up the following progamme: domination of both sides of the Gulf of Finland; attempt to establish Swedish positions on the Arctic coast; re-routing of the Arkhangel’sk trade to the Swedish towns of Narva, Viborg and Reval; planning of expeditions to Pskov and Novgorod; and overcoming the rivalry between Sweden and Poland in the Baltic lands. Thereby he set the guidelines which Swedish Baltic policy followed until [the battle of] Poltava [in 1709]. 70

The economic historian from Göteborg ended by stating nostalgically: “When Sweden finally signed the peace of Nystad in 1721, the curtain went down on Sweden’s Baltic policy, which had John III as its first architect.” 71 In an extremely condensed form Attman presented here a synopsis of fifty years of research on Swedish great power policy from Gustav Vasa (1523–60) to Charles XII. It is a coherent and homogeneous interpretation of Swedish empirebuilding set against its mercantile background, a late work of high abstraction. The reaction of Michael Roberts to Artur Attman’s last, apodictic writings was surprisingly positive. To a certain degree, evidently, the British sceptic was convinced by the compressed and streamlined interpretation of the Swedish imperial period offered by his Swedish opponent. Although in his document collection of

68 Ibid., 36–7. 69 Artur Attman, ‘Den svenska Östersjöpolitikens arkitekt,’ in Vetenskap och omvärdering. Till Curt Weibull på hundraårsdagen 19 augusti 1986 (Göteborg 1986), 19–31. 70 Ibid., 24. 71 Ibid., 30.

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1988, Swedish Diplomats at Cromwell’s Court, 1655–1656, 72 Roberts still referred to the “grand prospect [. . . ] to divert the Archangel trade to [. . . ] Narva, Nyen or Reval” 73 as simply “a favourite pipe-dream of Swedish statesmen” 74 rather than, as Attman saw it, the raison d’être of empire-building, he soon changed his opinion. In his 1989 article Karl X Gustav and the Great Parenthesis: A Reconsideration Roberts came quite close to Attman’s views: “It was the constant hope of Swedish statesmen to induce the Tsar to agree to the channelling of Russian trade to the West through Swedish-controlled ports in the Baltic.” 75 But he then went a significant step further and almost changed sides by embracing large parts of Attman’s mercantile background argumentation. On the war efforts of Charles X Gustav Roberts wrote: The aim to recover and consolidate sjökanten i. e. the Baltic coastline between Riga and Stettin – author], The later interest in north Norway, stem from Johan III’s hope of controlling the Russia trade, and from those numerous feasibility studies of the possibility of diverting the Archangel trade to Swedish-controlled Baltic ports which occupied Swedish statesmen at frequent intervals from the 1620s onwards. In short, from 1560 to 1660 the game was the same, the players were the same, the basic tactics unchanged. 76

If Artur Attman postulated that the period from Gustav Vasa to Charles XII was characterized by the pursuit of the programme he had reconstructed, Michael Roberts now supported this view not only for the pre-Stolbovo period, as he had done before, but – with certain reservations – also for the reigns of Gustav Adolf and Kristina (1644–54), and definitely for that of Charles X Gustav. As regards the years 1660– 1700, however, the “Great Parenthesis” of Swedish expansionism in his view, here he remained unable to detect continuity in such a programme.

3. Results As demonstrated, the 1980s brought a significant turn in the decade-long AttmanRoberts debate. Michael Roberts extended the later limit of his approval of the ‘Attman thesis’ from 1617 to 1660, while Artur Attman, between the lines of his last booklet, conceded that, with the frustrating result of the Swedish embassy to Moscow of 1673–4, the programme of re-channelling the White Sea trade was de facto suspended until 1701, when Charles XII sent his naval expedition, albeit unsuccessfully, against Arkhangel’sk. By tacitly admitting the existence of some major

72 Michael Roberts, trans. and ed., Swedish Diplomats at Cromwell’s Court, 1655–1656. The Missions of Peter Julius Coyet and Christer Bonde (London 1988) (Camden Fourth Series, 36). 73 Ibid., 19. 74 Ibid. 75 Michael Roberts, ‘Karl X Gustav and the Great Parenthesis: A Reconsideration,’ in Karolinska förbundets årsbok (1989), 62–108 (65); reprinted in Michael Roberts, From Oxenstierna to Charles XIL Four Studies (Cambridge 1991), 100–43. 76 Roberts, ‘Karl X Gustav,’ 107.

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gaps in his own streamlined model, Attman considerably softened the contrast between his ideas and those of the Old School. Roberts, on the other hand, not only has incorporated into the debate the factual evidence uncovered by the New School, but for his own part has significantly mitigated and reduced his criticism. At the conclusion of the debate we thus have not only lasting results, but also a considerable degree of consensus and even a kind of synthesis. The credit for this goes in the first place to Michael Roberts, and only in the second to his Swedish counterpart. If Marx characterized his own treatment of Hegel by the German verb aufheben – its triple meaning being to elevate, to preserve and to repeal – then Roberts achieved practically the same thing with Attman’s thesis concerning the crucial significance of the mercantile background to Swedish empire-building. This state of affairs – a peculiar synthesis of Old and New Schools – corresponds with the findings and interpretations of other historians. K. Zernack, for example, wrote in 1981 in an article on Sweden as a Great Power: “Sicherheitspolitik [. . . ] und ökonomischer Zugewinn [. . . ] gingen von Anfang an Hand in Hand”, 77 while W. Mediger had already back in the 1960s identified “[einen] vorherrschenden strategischen Aspekt [und] eine eifrig verfolgte handelspolitische Linie” in Swedish expansionist policy. 78 The end of the Attman-Roberts debate is, of course, not the end of the general debate on the reasons, motives and driving forces behind Swedish empire-building – on the contrary. As recent publications have shown, this wider debate has gained new momentum by moving in new directions or returning to previously abandoned ones. Mention could be made of Günter Barudio’s occasionally overstated emphasis on the principles of law, liberty and justice, which in his view made Sweden superior to all other European powers until its fall to absolutism in 1680; 79 of Jan Lindegren’s view of the categorical imperative of the Swedish ‘military state’, encompassing by the end of the seventeenth century all spheres of state and society; 80 or, finally and most recently, of Johannes Burkhardt’s astonishing resort to gothicism as a traditional Swedish political doctrine leading in his view more or less inevitably to expansionism. 81 When it comes to the core of the debate, i. e. the White Sea-Baltic question, research on the post-1617 period not covered extensively by Attman is still in its infancy. Here the first results appear neither to confirm the accuracy of the overall picture outlined by Attman nor to vindicate Roberts’s objection concerning the lack of sources supporting Attman’s views. Between Stolbovo and Poltava all Swedish

77 Klaus Zernack, ‘Schweden als europäische Großmacht der frühen Neuzeit’, Historische Zeitschrift, Vol. 232 (1981), 327–57 (335). 78 Mediger, Mecklenburg, 125. 79 Günter Barudio, Gustav Adolf – der Große. Eine politische Biographie (Frankfurt /M. 1982). 80 Jan Lindegren, ‘The Swedish “Military State”, 1560–1720’, Scandinavian Journal of History, Vol. 10 (1985), 305–36. 81 Johannes Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg (Frankfurt /M. 1992), 57–9 (Neue Historische Bibliothek. Edition suhrkamp. Neue Folge, 1542).

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governments, not only Charles X Gustav and Charles XII, were attempting, by various means, to re-route the Archangel’sk trade into the Gulf of Finland. Gustav Adolf did so by the instrument of monopolies and privileges, Oxenstierna by reforming the customs system, and the 1660–72 regency under Magnus Gabriel de la Gardie by negotiations with Moscow. But Charles XI in particular did so, thereby successfully concentrating on the Persian transit trade through the Muscovite Empire. In 1687 he reached an agreement with the Tsar, and from 1690 raw silk and other Persian products exported via Moscow reached western Europe no longer via Archangel’sk but via Narva. The Persian transit trade very soon also paved the way for larger proportions of Russian exports, and in the 1690s Narva, Nyen and Reval all experienced sharp increases in the quantity of products from Muscovy passing through in a westerly direction. 82 This partial fulfilment of the Swedish programme of rerouting Russian foreign trade escaped the attention of both Attman and Roberts. In the Swedish Riksarkivet in Stockholm and in the manuscript section of the Carolina Library of Uppsala University an extraordinarily large number of different kinds of documentary source, emanating from all levels of government and mercantile activity, demonstrate the continuity of this programme. What the sources do not prove, however, is that the striving to control the East-West trade was the decisive aim or the final goal of Swedish expansionist policy. Among the various possibilities for expanding the empire’s resources, the project of re-routing the Arkhangel’sk trade was surely one of the more deliberately pursued ones, but far from being the only one. Developing the domestic potentials for trade, shipping, banking, manufactures, mines and agriculture was at least an equally important aspect of the economic and financial politics of all seventeenth-century Swedish governments. *** The different types of scholarly debates are among the many topics with which the American sociologist of science Robert K. Merton deals in his brilliant book On the

82 See here the results of this author’s own research: Stefan Troebst, ‘Stockholm und Riga als “Handelscurrentinnen” Archangel’sks? Zum merkantilen Hintergrund schwedischer Grossmachtpolitik 1650–1700’, Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, Vol. 48 (1993), 259–94; ‘Narva und der Außenhandel Persiens im 17. Jahrhundert’, in Aleksander Loit and Helmut Piirimäe, eds, Die schwedischen Ostseeprovinzen Estland und Livland im 16–18. Jahrhundert (Uppsala 1993), 161–78 (Acta Universitatis Stockholmiensis. Studia Baltica Stockholmiensia, 11) [and in this volume]; and ‘Isfahan – Moskau – Amsterdam. Zur Entstehungsgeschichte des moskauischen Transitprivilegs für die Armenische Handelskompanie in Persien (1666–1676)’, Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Vol. 41 (1993), 180–209 [and in this volume]. The first half of the seventeenth century is covered in the author’s habilitation thesis on ‘Handelskontrolle – “Derivation” – Eindämmung. Schwedische Moskaupolitik 1617–1661’ (Free University of Berlin, Department of History 1994 [Wiesbaden 1997]). See also the numerous studies of Arnold Soom, to whose 1940 monograph Roberts has evidently not paid sufficient attention, since in it a large number of archival documents pertaining to the re-routing policy of Gustavus II Adolphus and Oxenstierna are quoted: Arnold Soom, Die Politik Schwedens bezüglich des russischen Transithandels über die estnischen Städte in den Jahren 1636– 1656 (Tartu 1940) (Öpetatud Eesti selsti toimetused. Commentationes litterarum societatis esthonicae, 32).

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Shoulders of Giants. In particular, Merton stresses the difference between debates carried on in public and those conducted in private, referring to a letter by Isaac Newton to Robert Hooke, in which the famous scientist wrote: “What’s done before many witnesses is seldom without some further concern than that for truth: but what passes between friends in private usually deserves ye name of consultation rather than contest, & so I hope it will prove between you & me.” 83 On the basis of these observations, Merton formulated his “Hooke-Newton-Merton sociological theory of the perverse effects of public debate upon intellectual clarity (not to say, integrity)”. 84 He states that a scholarly exchange of that type more often than not “becomes a battle for status more nearly than a search for truth”. 85 The debate dealt with here was neither a purely private one, 86 nor an exclusively public one. In fact, its public aspect was not even a debate in the real sense of the word, since it lacked a debate’s most important ingredient: dialogue. One of the participants – the late Artur Attman – presented his views in a monological, almost autistic fashion, paying little attention to what others commented on in his writings. In particular, he very rarely quoted Michael Roberts and did not reply at all to his counter-arguments. Thus, the attempts of his British opponent, who constantly referred (and still refers) to Attman’s views, presents them and takes a stand on them, to enter into a direct and polemical exchange of opinion and criticism remained by and large unsuccessful. It might well be said, therefore, that the rather one-sided debate in question is not only a dispute between two directions of historical thought – ‘materialist’ and ‘historicist’ – and between two individual historians – a taciturn Swede and an eloquent Anglo-Saxon – but even more so between two different academic worlds. This one-sidedness is regrettable, since the pursuit of Attman’s argument would have profited significantly from his answering at least some of Roberts’s pressing questions, while the latter could have gained much from the former’s intimate knowledge of Swedish archival sources. On the other hand, it probably prevented the debate from becoming what Merton calls “a battle for status”. Maybe this is one of the reasons why in marked contrast to other scholarly controversies the yield of the AttmanRoberts debate is truly impressive.

83 Robert K. Merton, On the Shoulders of Giants. A Shandean Postscript. The Post-Italianate Edition. With a Foreword by Umberto Eco, an Afterword by Denis Donoghue, and a Preface and Postface by the Author (Chicago, IL and London 1993), 23; originally published with a foreword by Catherine Drinker Bowen (New York and London 1965). 84 lbid., 142. 85 Ibid., 25. 86 In fact, there was hardly any private discussion between the two historians. While Attman habitually avoided any talk about ongoing research, Roberts referred only once to a ‘conversation, June 1976, . . . [with] Professor Attman’. Cf. Martin Fritz, ‘Artur Attman 1910–1988. Minnesteckning’, Kungl. Vetenskapsoch Vitterhets-Samhällets i Göteborg årsbok (1989), 9–13 (12–13), and Roberts, Imperial Experience, 31 and 31n. Responding to an enquiry, Roberts, in a letter of 30 May 1992 to the author, described his personal relations with Attman as follows: ‘The conversation with him to which you refer was certainly the only one to deal with historical subjects. I met him three or four times . . . , and we seemed to get on well together. We never corresponded at all’ [emphasis added].

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Klaus Zernack als Nordosteuropahistoriker [2001] In der deutschen Osteuropahistoriographie wird über den Polen-, Preußen-, Ostmitteleuropa- und Russlandhistoriker Klaus Zernack mitunter der gleichnamige Fachmann für die Geschichte des Ostseeraums, zumal Schwedens, und emeritierte Inhaber des 1984 eigens für ihn eingerichteten Berliner Lehrstuhls für „Geschichte Ostmitteleuropas und Nordosteuropas“ vergessen. Dies ist angesichts zahlreicher Untersuchungen Zernacks über die polnisch-preußische Beziehungsgeschichte 1, des von ihm mit herausgegebenen Jahrhundertunternehmens Handbuch der Geschichte Rußlands 2, schon gar der epochalen Gesamtdarstellung Polen und Rußland 3 partiell sogar verständlich. Dennoch zeugt es von Ignoranz, war es doch Klaus Zernack, der die traditionelle Sicht auf die Geschichtsregion Osteuropa und ihre drei Subregionen „Ostmitteleuropa“, „Südosteuropa“ und den ostslavischen Raum bzw. „Russland“ revidiert und die Ostseeregion in Gestalt „Nordosteuropas“ als vierte Teilregion sowie als Analyserahmen für inner- wie interregionalen Vergleiche introduziert hat. Eduard Mühle hat daher zu Recht moniert, dass Zernacks Schüler in ihrer mit „Traditionen und Perspektiven vergleichender Forschung über die historischen Regionen Osteuropas“ überschriebenen Einleitung zur Festschrift zu dessen 65. Geburtstag 4 diese Innovation schlicht übersehen haben. 5 Dabei hat die Beschäftigung des Historikers und Philologen Zernack mit Osteuropa ihren Ausgangspunkt in der Geschichte des Ostseeraums genommen. Sein 1949 an der Freien Universität Berlin aufgenommenes Studium der Geschichte, Philosophie, Slavistik und Germanistik – mit dem Schwerpunkt auf der Nordistik – schloss er 1955 mit einer bei Werner Conze angefertigten Münsteraner Staatsexamensarbeit ab, deren Titel die geschichtsregionale Neuprägung bereits vorweg nahm: Die Anfänge des ständigen Gesandtschaftwesens 1 2 3 4

5

Klaus Zernack: Preußen – Deutschland – Polen. Aufsätze zur Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen, hrsg. von Wolfram Fischer und Michael G. Müller. Berlin 1991. Handbuch der Geschichte Rußlands, 3 Bde., hrsg. von Manfred Hellmann, Gottfried Schramm, Klaus Zernack, Stuttgart 1976–2001. Klaus Zernack: Polen und Rußland. Zwei Wege in der europäischen Geschichte, Berlin 1994. Siehe jetzt auch die poln. Übers.: Polska i Rosja. Dwie drogi w dziejach Europy, Warszawa 2001. Fikret Adanır u. a: Traditionen und Perspektiven vergleichender Forschung über die historischen Regionen Osteuropas, in: Osteuropäische Geschichte in vergleichender Sicht. Festschrift für Klaus Zernack zum 65. Geburtstag, hrsg. von Michael G. Müller, Fikret Adanır, Christian Lübke und Martin Schulze Wessel (Berliner Jahrbuch für osteuropäische Geschichte, 1996, 1), Berlin 1996, S. 11– 43. Eduard Mühle: Kaufmannswesen und Konflikt: Nachbarn wurden zu Nationen. Die UdSSR ist zerfallen – die komparative Erforschung der osteuropäischen Geschichte kommt auf die Sprünge, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 22 vom 27. Januar 1997, S. 40. – Auch unter den 22 Festschriftbeiträgen findet sich lediglich einer zur Geschichte Nordosteuropas, nämlich Hösch, Edgar: Altfinnland (Gamla Finland /Vanha Suomi) als nordosteuropäische Kulturlandschaft, in: Müller u. a. (Hrsg.): Osteuropäische Geschichte, S. 319–332.

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in Nordosteuropa. 6 Hier hat er erstmals das historische Berührungsfeld skandinavischer, finnisch-baltischer, ostmitteleuropäischer, brandenburg-preußisch-deutscher, novgorodisch-moskauisch-russländischer sowie nordwesteuropäischer, d. h. britischniederländischer Geschichte, zum Untersuchungsgegenstand gemacht, das er später als „Kontakt- und Durchdringungszone“ mit „Züge[n] geschichtsregionaler Eigenständigkeit“ charakterisiert hat. 7 Dabei knüpfte er an Überlegungen des Revaler Historikers Paul Johansen an, der seine eigenen Forschungen zu den spätmittelalterlichen Verbindungen der Hanse zum altrussischen Novgorod in denselben historisch-großregionalen Kontext des Ostseeraumes gestellt hatte – ohne indes dafür den Regionalbegriff „Nordosteuropa“ zu verwenden. 8 In der Rückschau begründete Zernack seine Begriffswahl wie folgt: „Wenn ich für ‚Nordosteuropa‘ anstelle des älteren ‚Ostseeraum‘ plädierte, so ging es mir um einen möglichst hohen Grad von historischer Artifizialität – also nicht um einen Quellenbegriff, sondern um die rezente Begriffsprägung in der Absicht ihrer historischen Anwendbarkeit.“ 9 Natürlich war der Zernack’sche Wissenschaftsneologismus „Nordosteuropa“ als politischer wie geographischer Begriff – auch in den Formen „Nord-Ost-Europa“, „Nord-Osteuropa“, „Nordost-Europa“, „Nordosten Europas“, „nordöstliches Europa“ oder „europäischer Nordosten“ – im Deutschen schon zuvor geläufig. So verstand etwa der preußische Generalstabschef Johann Jacob Rühle von Lilienstern 1811 unter dem „nordöstlichen Europa“ in politischer Hinsicht Dänemark-Norwegen, Schweden und Russland. 10 In einem Buchtitel tauchte der Begriff allerdings erst 1918 auf – in einer mediävistisch-kirchengeschichtlichen Untersuchung 11 –, bevor er bald darauf in die Wirtschaftssprache überging: 1923 gab das Messeamt Kiel eine Ex6

Zit. nach dem Index Doctorum des Friedrich-Meinecke-Instituts der Freien Universität Berlin. URL http://www.fu-berlin.de/fmi/dozenten/NS_Information_Zernack_Klaus.html, letzter Zugriff: 05. 10. 2016. – Zu einer veröffentlichten Kurzfassung dieser ersten Qualifikationsschrift vgl. Klaus Zernack: Handelsbeziehungen und Gesandtschaftsverkehr im Ostseeraum. Voraussetzungen und Grundzüge der Anfänge des ständigen Gesandtschaftswesens in Nord- und Osteuropa, in: Aus Natur und Geschichte Mittel- und Osteuropas. Festgabe zum 350jährigen Jubiläum der Justus LiebigUniversität Gießen, Gießen 1957, S. 116–138 (Nachdruck in Klaus Zernack: Nordosteuropa. Skizzen und Beiträge zu einer Geschichte der Ostseeländer, Lüneburg 1993, S. 81–104). 7 Klaus Zernack: Grundfragen der Geschichte Nordosteuropas, in: Ders.: Nordosteuropa, Lüneburg 1993, S. 9–21, hier S. 9. 8 Paul Johansen: Novgorod und die Hanse, in: Städtewesen und Bürgertum als geschichtliche Kräfte, Gedächtnisschrift für Fritz Rörig, hrsg. von Ahasver von Brandt und Wilhelm Koppe, Lübeck 1953, S. 121–148. 9 Klaus Zernack: Vorwort, in: Ders., Nordosteuropa, S. 7–8, hier S. 8. 10 Johann Jacob Rühle von Lilienstern: Der Wechsel der politischen Gränzen und Verhältnisse von Europa während der zwei letzten Jahrzehende, Dresden, Leipzig 1811, Bd. 2, S. 107. Zit. nach HansDietrich Schultz: Räume sind nicht, Räume werden gemacht. Zur Genese „Mitteleuropas“ in der deutschen Geographie, in: Europa Regional 5 (1997), H. 1, S. 2–14, hier S. 12 und 14. Zum zeitgenössischen mental mapping vgl. Hans Lemberg: Zur Entstehung des Osteuropabegriffes im 19. Jahrhundert: Vom „Norden“ zum „Osten“ Europas, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 33 (1985), S. 48–91. 11 Bernhard Schmeidler: Hamburg-Bremen und Nordost-Europa vom 9. bis 11. Jahrhundert. Kritische Untersuchungen zur Hamburgischen Kirchengeschichte des Adam von Bremen, Leipzig 1918.

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portzeitung für Nord- und Nordost-Europa mit dem Obertitel Die nordische Messe heraus. 1933 inkorporierten die Nationalsozialisten den Regionalterminus dann in den politischen Sprachgebrauch 12 – mit ein Grund dafür, dass er nach 1945 zunächst außer Gebrauch kam. Versuche einer wissenschaftlichen Wiederbelebung unter politischem Vorzeichen in der frühen Bundesrepublik schlugen wohl dieser nationalsozialistischen Konnotation wegen fehl. 13 Vom Beginn des Kalten Krieges bis zum Epochenjahr 1989 dominierte daher in beiden deutschen Staaten in der Wortprägung „Ostseeraum“ der regionale Bezug auf die Ostsee – sei es als „rotes Binnenmeer“, sei es als „Meer des Friedens“. Zernacks Staatsexamensarbeit von 1955 folgte 1957 die gleichfalls in Münster eingereichte, von Herbert Ludat betreute Dissertation Die diplomatischen Beziehungen zwischen Schweden und Moskau von 1675–1689: Zur Geschichte des schwedischen Dominium maris baltici zwischen den nordischen Kriegen, die 1958 als erster Band einer vom Autor auf mehrere Bände angelegten Reihe von Studien zu den schwedisch-russischen Beziehungen in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts erschien 14 – eine Untersuchung, die in Skandinavien und der UdSSR breit rezipiert wurde und bis heute den Forschungsstand markiert. Zwar sind die im Vorwort der Dissertation angekündigten Folgeteile, die „Studien zu den handels- und wirtschaftspolitischen Beziehungen beider Reiche“ enthalten sollten 15, nicht erschienen, sondern, wie Zernack 1989 formuliert hat, „Planungs-“ bzw. „Bauruinen“ geblieben 16, doch hat ihn das Thema auch in der Folgezeit nicht gänzlich losgelassen, wie eine Fülle einschlägiger Forschungsberichte, Aufsätze und Handbuchbeiträge belegen. 17 Ein Grund für

12 Werner Essen: Nordosteuropa. Völker und Staaten einer Großlandschaft, Leipzig, Berlin 1938. Vgl. auch F. W. Borgman: Die Dynamik des Nordostraums, in: Zeitschrift für Geopolitik 12 (1935), S. 727–740. Zum politischen Kontext siehe Jörg Hackmann: Contemporary Baltic History and German Ostforschung, 1918–1945. Concepts, Images and Notions, in: Journal of Baltic Studies 30 (1999), S. 322–337. 13 Dazu Jörg Hackmann: „An einem neuen Anfang der Ostforschung“. Bruch und Kontinuität in der ostdeutschen Landeshistorie nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Westfälische Forschungen 46 (1996), S. 232–258; und Hugo Weczerka: Johann Gottfried Herder-Forschungsrat, in: Geschichte Osteuropas. Zur Entwicklung einer historischen Disziplin in Deutschland, Österreich und der Schweiz 1945– 1990, hrsg. von Erwin Oberländer, Stuttgart 1992, S. 256–275, hier S. 257–258. Zu einer der wenigen Verwendungen des Begriffes „Nordosteuropa“ in einem historischen, hier allerdings ausschließlich auf das mittelalterliche Altlivland beschränkten Sinne in dieser Zeit vgl. Friedrich von Klocke: Westfalen und Nordosteuropa, Wiesbaden 1964. Siehe außerdem die deutsche Übersetzung der Arbeit eines polnischen Anthropologen zu „Nord-Ost-Europa“ Jan Czekanowski: Zur Anthropologie von Nord-Ost-Europa, Wrocław 1962; poln. Fass.: Przyczynek do antropologii połnocnej-wschodniej Europy, Wrocław 1962. 14 Klaus Zernack: Studien zu den schwedisch-russischen Beziehungen in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts. Teil I: Die diplomatischen Beziehungen zwischen Schweden und Moskau von 1675 bis 1689, Gießen 1958. 15 Ebenda, S. 9. Vgl. auch ebenda, S. 10, 12 und 141. 16 Klaus Zernack: Ruinen am Wege. Betrachtungen zur Geschichte der Osteuropaforschung, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 37 (1989), S. 157–160. 17 Klaus Zernack: Rußland und Schweden im 17. Jahrhundert. Neue Forschungen 1957–1960, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 10 (1962), S. 103–116; ders.: Die skandinavischen Reiche von

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diese temporäre Schwerpunktverschiebung dürfte die Konzentration auf die 1964 vorgelegte Gießener Habilitationsschrift über die mittelalterlichen burgstädtischen Volksversammlungen mit dem Schwerpunkt auf dem Novgoroder Veˇce gewesen sein – eine im Kern ebenfalls „nordosteuropäische“ Untersuchung 18 –, ein anderer das sich verstärkende Interesse des 1966 an die Johann-Wolfgang-von-Goethe Universität in Frankfurt am Main Berufenen an der Geschichte Polens. In den 1970er-Jahren jedoch kam Zernack auf „Nordosteuropa“ als Geschichtsregion zurück. In einem programmatischen Aufsatz über die Nordischen Kriege, der im ersten Heft der neuen Zeitschrift für historische Forschung erschien, behandelte er den „komplexen Wandlungsprozeß, der die strukturelle Eingliederung des europäischen Nordostens, des Ostseeraums, in das neuzeitliche Mächteeuropa umfaßt.“ 19 Und in seiner mittlerweile vergriffenen, aber bis heute nicht ersetzten Einführung in die Geschichte Osteuropas von 1977 findet sich ein Abschnitt über „Nordosteuropa“ als eine der „vier großen Regionen der osteuropäischen Geschichte“ – neben „Südosteuropa“, „Ostmitteleuropa“ und „Rußland“. 20 Die „geschichtsregionale Komplexion Nordosteuropa-Ostseeraum“ grenzte Zernack damals auf „den Zeitraum von den Wikingerzügen bis zu der Entscheidung von 1809, die die endgültige Auflösung des schwedischen Ostseeimperiums durch die Abtrennung zugunsten Rußlands be-

1654–1772, in: Europa im Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung, hrsg. von Fritz Wagner, Stuttgart 1968, S. 511–548 (Handbuch der europäischen Geschichte, hrsg. von v. Theodor Schieder, 4); ders.: Von Stolbovo nach Nystad. Rußland und die Ostsee in der Politik des 17. und 18. Jahrhunderts. Zu einigen Neuerscheinungen der sechziger Jahre, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 20 (1972), S. 77–100 (Nachdruck in Zernack, Nordosteuropa [wie Anm. 6], S. 105–131); ders.: Imperiale Politik und merkantiler Hintergrund. Ein Dokument der schwedischen Rußlandpolitik im 17. Jahrhundert, in: Rußland – Deutschland – Amerika. Russia – Germany – America. Festschrift für Fritz T. Epstein zum 80. Geburtstag, hrsg. von Alexander Fischer, Günter Moltmann, Klaus Schwabe, Wiesbaden 1978, S. 24–36 (Nachdruck in Zernack, Nordosteuropa [wie Anm. 6], S. 133– 155); ders.: Schweden als europäische Großmacht der frühen Neuzeit, in: Historische Zeitschrift 232 (1981), S. 327–357 (Nachdruck in Zernack: Nordosteuropa [wie Anm. 6], S. 203–227); ders.: Der Ostseehandel der Frühen Neuzeit und seine sozialen und politischen Wirkungen, in: Schichtung und Entwicklung der Gesellschaft in Polen und Deutschland im 16. und 17. Jahrhundert. Parallele, Verknüpfungen, Vergleiche, hrsg. von Marian Biskup und Klaus Zernack, Wiesbaden 1983, S. 1–20; ders.: Handelsterminologie, frühes Städtewesen und Kulturbeziehungen in Altrußland und Skandinavien, in: Geschichte Altrußlands in der Begriffswelt ihrer Quellen. Festschrift zum 70. Geburtstag von Günther Stökl, hrsg. von Uwe Halbach, Hans Hecker und Andreas Kappeler, Stuttgart 1986, S. 164–170 (Nachdruck in Zernack: Nordosteuropa [wie Anm. 6], S. 51–57); ders.: Dominium Mercaturae Ruthenicae. Neues über Schwedens Ostseevormacht im 17. Jahrhundert, in: Mare Nostrum – Mare Balticum. Commentationes in honorem Professori Matti Klinge, Red. Paul Raudsepp, Helsinki 2000, S. 129–137. 18 Klaus Zernack: Die burgstädtischen Volksversammlungen bei den Ost- und Westslaven: Studien zur verfassungsgeschichtlichen Bedeutung des Veˇce, Wiesbaden 1967. 19 Klaus Zernack: Das Zeitalter der Nordischen Kriege von 1558 bis 1809 als frühneuzeitliche Geschichtsepoche, in: Zeitschrift für Historische Forschung 1 (1974), S. 55–79, hier S. 58. 20 Klaus Zernack: Osteuropa. Eine Einführung in seine Geschichte, München 1977, S. 51–59. Zu einer „nordosteuropäischen“ Kritik vgl. Martti Männikkö: Itämeren piiri historiallisena käsitteenä. Ongelmia ja näkökohtia [Der Ostseeraum als historischer Begriff. Probleme und Aspekte], in: Faravid 3 (1979), S. 5–31.

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wirkte“, ein. 21 Ihm ging es also ausdrücklich um „ein Phänomen des vormodernen Europa“, das sich mit dem Ende des Ancien régime gleichsam auflöste. 22 1983 verlängerte er seinen „Nordosteuropa“-Begriff in die Zwischenkriegszeit hinein, in der ihm zufolge „noch einmal für kurze Zeit der große nordosteuropäische Geschichtsund Kulturzusammenhang auflebt[e]“. 23 Und das Epochenjahr 1989 schuf in seiner Sicht die Bedingungen für die „Wiederkehr der europäischen Region Nordosteuropa in [die] politische Realität.“ 24 Der „Nordosten im geteilten Europa“ wurde jetzt zum „Nordosten [. . . ] in einem wieder zusammenwachsenden Europa“. 25 1993 schließlich erschien Zernacks Aufsatzsammlung Nordosteuropa. Skizzen und Beiträge zu einer Geschichte der Ostseeländer, die seine wichtigsten bis dahin veröffentlichten Studien zum Thema, desgleichen einen Originalbeitrag sowie einen erstmals 1984 auf Finnisch veröffentlichten Vortragstext zu „Grundfragen der Geschichte Nordosteuropas“ 26 enthielt. In seinem Vorwort fasste der Autor Prämissen, Peripetien und Ergebnisse seiner Beschäftigung mit dem geschichtsregionalen Konzept „Nordosteuropa“ konzis zusammen: Im Europa des Kalten Krieges war „die Vorstellung vom ‚Ostseeraum‘ als einer Region Nordosteuropa [. . . ] eine rein historische. Durch die Epochenwende von 1989 hat sich das schlagartig geändert. Wie die Ostseeländer schon einmal, nämlich 1918 beim Zusammenbruch der monarchischen Großreiche des Ostens, als eine Region freier und befreiter Nationalstaaten in Erscheinung getreten waren, so kehrte 1989 mit dem Ende der Tradition der Großen Mächte die alte nationale Vielfalt um die Ostsee wieder.“ 27 Zernacks Definition der historischen Großregion „Nordosteuropa“ beruht maßgeblich auf dem Anlegen einer staatensystemgeschichtlichen und mächtepolitischen Perspektive, welche Aspekte der Wirtschaftsgeschichte einbezieht. Als wichtigste regional integrierend wirkende Epochensignaturen vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart lassen sich in dieser Sicht die folgenden ausmachen: (1) In den drei Jahrhunderten von 700 nach Christus bis 1000 errichteten die wikingischen Waräger in Dänemark, Mittelschweden und an der Volchov-DneprFlußstraße großräumige Herrschaftsverbände. Zugleich fand über diesen „Weg 21 22 23 24 25

Zernack, Osteuropa, S. 53. Ebenda. Klaus Zernack: Grundfragen der Geschichte Nordosteuropas, S. 20. Zernack, Vorwort, S. 8. Vgl. Klaus Zernack: Stand und Aufgaben beziehungsgeschichtlicher Forschung in Nordosteuropa, in: Geschichtsbild in den Ostseeländern 1990, hrsg. vom Schwedischen Zentralamt für Universitäts- und Hochschulwesen und Finnischen Unterrichtsministerium, Stockholm 1991, S. 99–106, hier S. 105. Vgl. auch Klaus Zernack: Der europäische Nordosten als Geschichtsraum, in: Bibliotheca Baltica. Symposium vom 15. bis 17. Juni 1992 in der Bibliothek der Hansestadt Lübeck im Rahmen der Initiative ARS BALTICA, hrsg. von Jörg Fligge und Robert Schweitzer, bearb. von Frauke Büter, München u. a. 1994, S. 26–34. 26 Klaus Zernack: Grundfragen der Geschichte Nordosteuropas. Erstveröffentlichung als: Koillis-Euroopan historian peruskysymyksiä, Oulu 1984. Zu einer polnischen Übersetzung siehe ders.: Główne problemy historii Północno-Wschodniej Europy, in: Zapiski Historyczne 50 (1985), H. 4, S. 25–38. 27 Zernack, Vorwort, S. 7.

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von den Warägern zu den Griechen“ eine verkehrswirtschaftliche Verknüpfung „Nordosteuropas“ mit dem östlichen Mittelmeer, damals das ökonomische und kulturelle Zentrum Europas, statt. (2) Den Zeitraum vom 10. bis zum 13. Jahrhundert prägten die Europäisierungsschübe von Christianisierung, Handelsaktivitäten der Hanse und ersten „nationalen“ Staatsbildungen in Dänemark, Schweden und Kiev-Novgorod samt Kolonisation und Landesausbau in der „Germania Slavica“. (3) Das Spätmittelalter (13. bis 15. Jahrhundert) war charakterisiert durch die Bildung der beiden großen Unionen von Krewo zwischen Polen und Litauen (1385) sowie von Kalmar zwischen Dänemark-Norwegen und Schweden-Finnland (1397). Parallel zu diesen Integrationsprozessen fand in der Osthälfte aber ein Desintegrationsprozess statt: Die Rus’ zerfiel mit dem Ergebnis der Selbständigkeit Novgorods und der Unterwerfung Kievs unter die Goldene Horde. Zugleich war in der gesamten Region eine deutliche Zunahme des deutschen Einflusses zu verzeichnen – sei es in Form kolonialer Gründungen wie dem livländischen Ordensstaat, sei es in Gestalt der Übernahme deutscher Rechtsmuster oder durch deutsche Einwanderung im Zuge der Hanse-Aktivitäten. Diese juristischen, demographischen und kulturellen Entwicklungen betrafen vor allem die Städte, hier Lübeck und Stockholm, Visby und Wyborg, Stralsund und Riga, Rostock und Reval. Die bis heute gleichsam mit bloßem Auge erkennbare „Städtelandschaft“ 28 erfuhr ihre volle Ausprägung. (4) Die zu Beginn der frühen Neuzeit einsetzende Reformation sparte in „Nordosteuropa“ nur das römisch-katholische Polen-Litauen, das orthodoxe Nordwestrussland sowie partiell Ingermanland und Karelien aus. Die Dominanz des Luthertums war so stark, daß selbst die Hauptstadtneugründung St. Petersburg aufgrund des Zuzuges aus anderen Ostseestädten auf lange Zeit hinaus einen harten protestantischen Kern enthielt. 29 Parallel zur Reformation siegte der frühneuzeitliche, ständisch-libertäre bzw. adelsdemokratische Staat endgültig über die mittelalterliche Korporation. Die Livland-Frage, also der Zerfall des deutschen Ordensstaates im Baltikum, resultiert in einer sämtliche Ostseeanrainer involvierenden „Baltic Question“ bzw. in jenem „Zeitalter der nordischen Kriege“ 30, in dem Schweden zur Regionalvormacht aufstieg. Mit dem dritten – „großen“ – Nordischen Krieg erfolgte die Ablösung durch das petrinische Russland 31, dessen 28 Klaus Zernack: Der europäische Norden als Städtelandschaft der Frühzeit, in: Beiträge zur Stadtund Regionalgeschichte Ost- und Nordeuropas. Herbert Ludat zum 60. Geburtstag, hrsg. von Klaus Zernack, Wiesbaden 1971, S. 13–48 (Nachdruck in Zernack, Nordosteuropa [wie Anm. 6], S. 23–51). 29 Klaus Zernack: Im Sog der Ostseemetropole. Petersburg und seine Ausländer, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 35 (1987), S. 232–240 (Nachdruck in Zernack, Nordosteuropa [wie Anm. 6], S. 277–287). 30 Zernack, Das Zeitalter. 31 Klaus Zernack: Der große Nordische Krieg, in: Handbuch der Geschichte Rußlands, hrsg. von Manfred Hellmann, Gottfried Schramm und Klaus Zernack, Bd. 2: 1613–1856. Vom Randstaat zur Hegemonialmacht, hrsg. von Klaus Zernack, Stuttgart 1986, S. 246–296 (Nachdruck in Zernack, Nordosteuropa [wie Anm. 6], S. 157–202).

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„Nordosteuropa“-Zentrierung in der translatio imperii von Moskau weg in die Stadt Peters im Neva-Delta sowie in der Übernahme des schwedischen Verwaltungssystems besonders deutlich wurde. 32 Parallel dazu wurden die vormodernen libertär-rechtsstaatlichen Strukturen Schweden-Finnlands, Polen-Litauens und des Heiligen Römischen Reiches im Zeichen des Absolutismus zerstört. In Schweden und Brandenburg-Preußen entstanden in der Folge die ersten modernen Militärstaaten der Region. 33 (5) Dem 18. Jahrhundert mit seiner Balance of Power und den Teilungen Polens folgte im 19. die Aufsprengung Schweden-Finnlands samt der „Ruhe des Nordens“. Diese russisch-imperiale Überformung großer Teile „Nordosteuropas“ führte zu einer absoluten Dominanz, gar zur befristeten politischen Auflösung der Geschichtsregion. Unter dem zaristischen Deckel begann es indes bald zu gären – nationale Bewegungen von Nichtrussen im Westen des Zarenreiches formierten sich. (6) Dass in „Nordosteuropa“ ebenso wie in anderen Teilen Europas auch „die Länder [. . . ] die Nationen zerreißen“, wie der Austromarxist Karl Renner formuliert hat, und es daher „kein Wunder“ sei, „daß die Nationen die Länder zerreißen wollen“ 34, belegen die Staatsbildungen von Norwegern, Finnen, Esten, Letten, Litauern und Polen im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. In der Konsequenz nationalsozialistischer Expansionspolitik und übersteigerten Sicherheitsbedürfnisses der neuen Sowjetunion ist die Kleinstaatenwelt der Zwischenkriegszeit von Danzig bis Tallinn wieder verschwunden – zunächst durch die Aufteilung der Interessensphären zwischen Hitler und Stalin 1939 und den deutschen Angriffsund Vernichtungskrieg im Osten, dann durch die Nachkriegsabgrenzung der neuen Blöcke von NATO und Warschauer Pakt. Dennoch schimmerte „Nordosteuropa“ auch durch den Ost-West-Konflikt gleichsam hindurch. Der im Vergleich zu Mitteleuropa deutlich geringere Spannungsgrad an der arktischen Blockgrenze sowie die spezifischen Abstufungen von Neutralität im Falle Schwedens und Finnlands belegen dies. (7) Das Ende globaler wie europäischer Bipolarität im Epochenjahr 1989 führte zur Auflösung der UdSSR, zur Wiedervereinigung Deutschlands und nicht zuletzt zur Wiederherstellung der „nordosteuropäischen“ Nationalstaaten Estland, Lettland und Litauen. Der Ostseezugang Russlands bzw. jetzt der Russländischen Föderation schrumpfte wieder auf den Stand des Beginns des großen Nordischen Krieges – mit der gewichtigen Ausnahme des nördlichen Ostpreußens, das 32 Klaus Zernack: Zu den orts- und regionalgeschichtlichen Voraussetzungen der Anfänge Petersburgs, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 25 (1978), S. 389–402 (Nachdruck in Zernack, Nordosteuropa [wie Anm. 6], S. 257–272). 33 Klaus Zernack: Virtus politica im Militärstaat – Strukturprobleme der schwedischen Großmachtzeit, in: Idee, Gestalt, Geschichte. Studien zur europäischen Kulturtradition. Festschrift Klaus von See, hrsg. von G. W. Weber, Odense 1988, S. 325–337 (Nachdruck in: Zernack, Nordosteuropa [wie Anm. 6], S. 229–243). 34 Rudolf Springer [= Karl Renner]: Der Kampf der österreichischen Nationen um den Staat, Leipzig, Wien 1902, S. 33.

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als Kaliningrader Gebiet Vorposten Moskaus bleibt. Aber auch in der Kernregion des neuen Russlands lassen sich die Konturen „Nordosteuropas“ deutlich erkennen, ist doch der „novgorodische“ Nordwesten mit dem in St. Petersburg zurückbenannten Leningrad eine wichtige Wählerbasis der Reformkräfte. Öffentlichkeit und Regierungen Finnlands, Schwedens und Dänemarks schließlich „entdeckten“ ihre sicherheitspolitische Mitverantwortung für die baltischen Staaten „wieder“. Neben diesen politikgeschichtlichen Prozessen hat Klaus Zernack die für „Nordosteuropa“ strukturbildenden Phänomene auch mit dem Instrumentarium sozialgeschichtlicher Forschung untersucht, so in Studien zu „Ständeausgleich und Adelskonservatismus“ 35 oder zum frühneuzeitlichen Militärstaat. 36 Zugleich hat er darauf hingewiesen, dass die weitgehend monodisziplinär-historische Forschung über „Nordosteuropa“ der interdisziplinären Ausweitung sowie der „fremddisziplinären“ Ergänzung durch Fächer wie etwa der Kunstgeschichte bedarf. 37 In der deutschsprachigen historischen Osteuropaforschung ist Zernacks geschichtsregionale Konzeption eines „Nordosteuropa“ zunächst nicht auf fruchtbaren Boden gefallen. So urteilte noch 2001 Andreas Kappeler in einem Abriss der historischen Teildisziplin Osteuropäische Geschichte apodiktisch, „als Fachbezeichnung hat sich Nordosteuropa nicht durchgesetzt; eine Zuweisung Skandinaviens zu Osteuropa widerspräche den herrschenden Traditionen zu sehr“. 38 Bei diesem Urteil handelte es sich allerdings selbst um einen Traditionalismus, und dies aus mindestens vier Gründen: (1) Seit der Mitte der neunziger Jahre gibt es im deutschsprachigen Raum eine ganze Reihe Osteuropa- und Ostseehistoriker, die das Zernack’sche „Nordosteuropa“ zum Analyserahmen genommen haben – ohne indes durchgängig diese Regionalbezeichnung zu verwenden. 39

35 Klaus Zernack: Ständeausgleich und Adelskonservatismus in Nordosteuropa, in: ders., Nordosteuropa, S. 245–256. 36 Zernack, Virtus politica. 37 Vgl. Basil Kerski: DIALOG-Gespäch mit Klaus Zernack über die Geschichte der Ostsee, in: Dialog. Deutsch-polnisches Magazin 1999, H. 2 (Herbst /Winter), S. 41–43, hier S. 43. 38 Andreas Kappeler: Osteuropäische Geschichte, in: Aufriß der Historischen Wissenschaften in sieben Bänden, hrsg. von Michael Maurer, Bd. 2: Das Interesse an der Geschichte: Räume, Stuttgart 2001, S. 198–265, hier S. 213. 39 Aus der Fülle der Beispiele siehe Hösch, Altfinnland; Christoph Schmidt: Leibeigenschaft im Ostseeraum. Versuch einer Typologie, Köln u. a. 1997; ders.: Auf Felsen gesät. Die Reformation in Polen und Livland, Göttingen 2000; Der Finnische Meerbusen als Brennpunkt. Wandern und Wirken deutschsprachiger Menschen im europäischen Nordosten, hrsg. von Robert Schweitzer und Waltraud Bastmann-Bühner, Helsinki 1998; Norbert Angermann: Das Hamburgische Recht in Nordosteuropa, in: Die Stadt im europäischen Nordosten. Kulturbeziehungen von der Ausbreitung des Lübischen Rechts bis zur Aufklärung, hrsg. von Robert Schweitzer und Waltraud Bastmann-Bühner, Helsinki 2001, S. 65–73; ders.: Deutsche Kaufleute im mittelalterlichen Novgorod und Pleskau, in: Deutsche im Nordosten Europas, hrsg. von Hans Rothe, Köln u. a. 1999, S. 59–86; Hain Rebas: Zur Wiederbelebung der Ostseeidentität. Neue übergreifende Möglichkeiten der Ostseehistoriker, in:

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(2) In der zuweilen heftigen Diskussion über Konzeption und Realisierung des 1999 von Harald Roth herausgegebenen ersten Bandes zur Geschichte Ostmittel- und Südosteuropas des Studienhandbuchs Östliches Europa, an der sich neben jüngeren Historikern auch ältere, darunter Klaus Zernack selbst, beteiligt haben, hat keiner der Kontrahenten die (in dem Handbuch mit einem eigenen Eintrag bedachte 40) geschichtsregionale Konzeption „Nordosteuropa“ samt ihrer stark an Zernack angelehnten Begründung in Frage gestellt. 41 Auch in der vorausgegangenen und streckenweise nicht minder streitbaren Diskussion über ein mutmaßliches „Ende der Osteuropäischen Geschichte“ in der Zeitschrift Osteuropa, die Jörg Baberowski angestoßen hat 42, wurde der Sinn geschichtsregionaler Konzeptionen im Allgemeinen, gar des Untersuchungsrahmens „Nordosteuropa“ im besonderen, unterstrichen. 43 (3) „Nordosteuropa“ als europäische Geschichtsregion ist in der historischen Europaforschung neben „Nordwesteuropa“, „Ostmitteleuropa“ und anderen geschichtsregionalen Termini mittlerweile kanonisiert. 44 Auch deren heuristischer Nutzen ist weithin anerkannt. So sieht etwa Jürgen Kocka in der Beschäftigung mit der letztgenannten Geschichtsregion eine „Herausforderung für eine

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Am Rande der Ostsee. Aufsätze vom IV. Symposium deutscher und finnischer Historiker in Turku 4.–7. September 1996, hrsg. von Eero Kuparinen, Turku 1998, S. 29–55; Gert von Pistohlkors: Nationalstaatswerdung im nordöstlichen Europa im Kontext des europäischen Nationalismus, in: Nationalbewegung und Staatsbildung. Die baltische Region im Schulbuch, hrsg. von Robert Maier, Frankfurt /M. 1995, S. 209–220. Einen guten Überblick geben auch die beiden Festschriften für Norbert Angermann: Zwischen Lübeck und Novgorod: Wirtschaft, Politik und Kultur im Ostseeraum vom frühen Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Norbert Angermann zum 60. Geburtstag, hrsg. von Ortwin Pelc und Getrud Pickhan, Lüneburg 1996, und: Kollektivität und Individualität. Der Mensch im östlichen Europa. Festschrift für Prof. Dr. Norbert Angermann zum 65. Geburtstag, hrsg. von Karsten Brüggemann, Thomas M. Bohn und Konrad Maier, Hamburg 2001. Ralph Tuchtenhagen: Nordosteuropa, in: Studienhandbuch Östliches Europa, Bd. I: Geschichte Ostmittel- und Südosteuropas, hrsg. von Harald Roth, Köln u. a. 1999, S. 73–80. Vgl. Diskussion: Studienhandbuch Östliches Europa, in: ZfO 49 (2000), S. 242–262. Jörg Baberowski: Das Ende der Osteuropäischen Geschichte. Bemerkungen zur Lage einer geschichtswissenschaftlichen Disziplin, in: Osteuropa 48 (1998), S. 784–799 (auch in: Wohin steuert die Osteuropaforschung? Eine Diskussion, hrsg. von Stefan Creuzberger u. a., Köln 2000, S. 27–42). Siehe zu dieser Debatte außerdem Martin Schulze Wessel: Geographie ist geduldig. Debatte über die Zukunft des Fachs Osteuropäische Geschichte, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 46 vom 24. Februar 1999, S. N 6, und Jörg Baberowski: Das Ende Osteuropas und das Fach Osteuropäische Geschichte, in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 265 vom 13./14. November 1999, S. 57. Wohin steuert die Osteuropaforschung?, siehe darin vor allem die Beiträge von Andreas Kappeler: Bemerkenswerte Diagnose – problematisches Rezept. Zum Plädoyer Jörg Baberowskis „Das Ende der Osteuropäischen Geschichte“, S. 52–55), Stefan Troebst: Ende oder Wende? Historische Osteuropaforschung in Deutschland. Vier Anmerkungen zu Jörg Baberowski, S. 56–63, Mathias Niendorf: Mehr als eine Addition von Nationalhistoriographien: Chancen der Osteuropäischen Geschichte als Regionalwissenschaft, S. 101–106, und Ralph Tuchtenhagen: Osteuropäische Geschichte en panne, S. 92–100. Arno Strohmeyer: Historische Komparatistik und die Konstruktion von Geschichtsregionen: der Vergleich als Methode der historischen Europaforschung, in: Jahrbücher für Geschichte und Kultur Südosteuropas 1 (1999), S. 39–55, hier S. 47.

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vergleichende Geschichte Europas“ und erblickt in ihr ein „Labor für theoretisch interessante Studien zum historischen Konstruktivismus und seinen realgeschichtlichen Grundlagen“. 45 (4) Seit der Mitte der neunziger Jahre haben vor allem jüngere Fachvertreter die Zernack’sche Konzeption aufgegriffen und ausgebaut. Ralph Tuchtenhagen nannte 1999 in seinem Beitrag zu dem genannten Studienhandbuch „gute Gründe, den Begriff ‚Nordosteuropa‘ für eine spezifische Geschichtsregion zu verwenden“ 46, wobei er dafür plädierte, zwischen „Nordosteuropa im engeren und im weiteren Sinne zu unterscheiden“ 47: Das „weitere“ Nordosteuropa bestünde demnach aus der gesamten Ostseeregion samt den arktischen Teilen Fennoskandiens und Nordwestrusslands, das „engere“ Nordosteuropa „deckt alle Gebiete ab, die vom Norden und Osten Europas (im engeren Sinne: Rußland) während unterschiedlicher historischer Epochen direkt oder indirekt beeinflußt wurden“ 48 – ein Vorschlag, der von Klaus Zernack gebilligt wurde. 49 Zugleich bot Tuchtenhagen ein Periodisierungsschema an, das sich mit dem oben skizzierten partiell deckt, teilweise davon aber abweicht. 50 Bereits 1996 hat Jörg Hackmann seine Suche nach einer historisch begründeten „Ostseeidentität“ auf das Zernack’sche „Nordosteuropa“ gegründet 51 und unlängst diese Konzeption zum Untersuchungsrahmen einer Studie über Vergangenheitspolitik im 20. Jahrhundert genommen. 52 Schließlich hat auch der Verfasser dieser Zeilen 1997 den Versuch einer inhaltlichen wie räumlichen Erweiterung der „Nordosteuropa“-Konzeption unternommen 53 sowie diese in der Folgezeit auf ihre Gegenwartstauglichkeit abgeklopft. 54 Überdies liegen mittlerweile erste Spezialuntersuchungen zu einzelnen Epochen der Geschichte „Nordosteuropas“ sowie zu regionalkonstitutiven Prozessen vor, erschienen mehrheitlich in der von Edgar Hösch herausgegebenen neuen Veröffentlichungsreihe des Osteuropa-Instituts München Forschungen zum Ostseeraum. Dies gilt etwa für die Habilitationsschrift des Verfassers über die Mos45 Jürgen Kocka: Das östliche Mitteleuropa als Herausforderung für eine vergleichende Geschichte Europas, in: ZfO 49 (2000), S. 159–174, hier S. 166. 46 Tuchtenhagen, Nordosteuropa, S. 73. 47 Ebenda, S. 73. 48 Ebenda, S. 72. 49 Klaus Zernack in: Diskussion: Studienhandbuch, S. 258. 50 Tuchtenhagen, Nordosteuropa, S. 74–77. 51 Jörg Hackmann: The Baltic World and the Power of History, in: Anthropological Journal on European Cultures 5 (1996), H. 2, S. 9–33. 52 Jörg Hackmann: Past Politics in North Eastern Europe: The Role of History in Post-Cold War Identity Politics, in: Reinventing Europe. Northern and Baltic Experiences of Cold War Identity Politics, hrsg. von Marko Lehti und David J. Smith, London 2003, S. 78–100. 53 Stefan Troebst: Nordosteuropa: Begriff – Traditionen – Strukturen, in: Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 15 (1997), H. 5 (Mai), S. 36–42. Siehe auch die dänische Fassung: Rusland og Østersøregionen, in: Vindue mod øst, H. 44, November 1998, S. 9–13. 54 Stefan Troebst: Nordosteuropa: Geschichtsregion mit Zukunft, in: Scandia 66 (1999), S. 153–168. Vgl. auch ders.: Närvaro i öster: Ryssland och Nordosteuropa, in: Gränsländer. Östersjön i ny gestalt, hrsg. v. J¯anis Kr¯eslin¸š, Steven A. Mansbach, Robert Schweitzer. Stockholm 2003, S. 65–84 + 305.

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kaupolitik der Großmacht Schweden im 17. Jahrhundert 55, für Birgit Scholz’ historiographiegeschichtliche Untersuchung zur Kontroverse über die Waräger in der russischen, deutschen und schwedischen Geschichtswissenschaft 56 oder für Ralph Tuchtenhagens im Erscheinen befindliche Monographie über Zentralstaat und Provinz im frühneuzeitlichen „Nordosteuropa“. 57 Aber nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Teilen Europas haben Historiker im Anschluss an die geschichtsregionale Konzeption Zernacks ganz ähnliche Perspektiven angelegt, auch wenn hier in terminologischer Hinsicht der „Ostseeraum“ die Regel, „Nordosteuropa“ lange die Ausnahme war. 58 Der estnische Historiker Heino Arumäe hat allerdings 1978 einen Sammelband über die Stadt in der Ostseeregion ediert, in dessen Titel er den Begriff severo-vostoˇcnaja Evropa (nordöstliches Europa bzw. Nordosteuropa) verwendete. 59 1994 unternahm der führende finnische Neuzeithistoriker Matti Klinge einen ersten Syntheseversuch unter dem Titel Die Ostseewelt, wobei er eingangs ganz im Sinne Zernacks betonte, „wenn wir von Rußland sprechen, müssen wir uns daran erinnern, daß Rußland in seinem nordwestlichen Teil immer ein Ostseevolk und eine Ostseevormacht gewesen ist“. 60 1995 legte der britische Finnlandfachmann David Kirby den zweiten Teil einer Überblicksdarstellung vor, dessen Titel gleichfalls die Ostseewelt, The Baltic World, invozierte, die dem Autor zufolge im 19. und 20. Jahrhundert „von den russischen und sowjetischen Imperien dominiert“ ist. 61 Explizit von Northeastern Europe sprach der Londoner Osteuropahistoriker Robert Frost in seiner 2000 erschienenen

55 Stefan Troebst: Handelskontrolle – „Derivation“ – Eindämmung. Schwedische Moskaupolitik 1617– 1661, Wiesbaden 1997. Siehe dazu die Besprechung von Zernack, Dominium, sowie das internationale Echo in Journal of Baltic Studies 29 (1998), S. 185–189; Scandinavian Economic History Review 46 (1998), S. 104–106; Historisk tidskrift (svensk) 117 (1998), S. 680–682; Akadeemia. Eesti Kirjanike Liidu kuukiri tartus 11 (1999), S. 2187–2220; Russian Review 58 (1999), S. 320–321; Historisk Tidsskrift (dansk) 99 (1999), S. 99–100; Slavic Review 58 (1999), S. 685–686; Historische Zeitschrift 269 (1999), S. 197–198; Scandia 66 (1999), H. 2, S. 295–297; Hansische Geschichtsblätter 119 (2001), S. 312–313; und Canadian-American Slavic Studies 35 (2001), H. 1, S. 90–91. 56 Birgit Scholz: Von der Chronistik zur modernen Geschichtswissenschaft: Die Warägerfrage in der russischen, deutschen und schwedischen Historiographie, Wiesbaden 2000. 57 Ralph Tuchtenhagen: Zentralstaaat und Provinz im frühneuzeitlichen Nordosteuropa. Wiesbaden 2009. S. außerdem den von diesem Autor herausgegebenen Themenband „Die nordeuropäische historische Osteuropaforschung“ der Zeitschrift Nordost-Archiv 9 (2000), H. 2. 58 Ein früher Beleg für die Verwendung des historischen Regionalterminus „North-Eastern Europe“ findet sich im Titel einer englischsprachigen Publikation des niederländischen Instituut voor Noord- en Oosteuropese Studies: Baltic Affairs. Relations between the Netherlands and North-Eastern Europe 1500–1800. Essays, hrsg. von J. Ph. S. Lemmink und J. S. A. M. van Koningsbrugge, Nijmegen 1990. 59 Gorod v severo-vostoˇcnoj Evrope v novoe i novejšee vremja [Die Stadt im nordöstlichen Europa in der Neuzeit und der Neuesten Zeit], hrsg. von Chejno Arumja˙e, Tallinn 1978. 60 Matti Klinge: Die Ostseewelt, Keuruu 1995, S. 12 (finn. Originalausg.: Itämeren maailma, Keuruu 1994). 61 David Kirby: The Baltic World 1772–1993. Europe’s Northern Periphery in an Age of Change, London 1995, S. 9. S. siehe auch ders.: Northern Europe in the Early Modern Period. The Baltic World 1492–1772, London u. a. 1990.

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Epochendarstellung der nordischen Kriege von der Mitte des 16. bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts. 62 Und ein transatlantisches Herausgeberteam bereitet derzeit unter dem Titel The Baltic Reconfigured ein kulturgeschichtliches Kompendium vor, in dessen Einleitung es heißt: „By looking eastward, towards Russia, we introduce the notion of Northeastern Europa as a term which may help us deal with questions of identity in the [Baltic Sea] region.“ 63 Allen genannten Historikern ist gemeinsam, dass sie die Ostsee als die historische Klammer „Nordosteuropas“ begreifen und folglich nicht nur das fennoskandische Nordeuropa und Norddeutschland, sondern gerade auch die nördlichen Teile Ostmitteleuropas sowie Nordwestrussland miteinbeziehen. Dabei summieren sie nicht lediglich die Nationalgeschichten der diversen Anrainernationen, sondern legen – mit unterschiedlicher Akzentsetzung – ein strukturbezogenes Regionenverständnis an den Tag. „Nordosteuropa“ als europäische Geschichtsregion sehen sie in einer spezifischen Gemeinsamkeit von Strukturen, die in verschiedenen Epochenzusammenhängen ausgeprägt worden sind und sich zu einer geschichtsräumlichen Identität verdichtet haben. Eine eindrückliche Zwischenbilanz der Forschung über „Nordosteuropa“ innerhalb wie außerhalb Deutschlands zog im September 2001 ein internationales Symposium in Tallinn zum Thema „Nordosteuropa als Geschichtsregion“, das unter der Leitung von Jörg Hackmann (Greifswald) und Robert Schweitzer (Lübeck) Historiker aus sämtlichen Ostseeanrainerstaaten, darunter Matti Klinge (Helsinki), Jüri Kivimäe (Tallinn /Toronto), Tiit Rosenberg (Tartu), Aleksandr S. Myl’nikov (Sankt Petersburg), Norbert Angermann (Hamburg), Kristian Gerner (Uppsala) und natürlich Klaus Zernack selbst, zusammenführte und die Zernack’sche Konzeption kritisch auf den Prüfstand hob. 64 Unter Bezug auf Zernacks Auftaktvortrag „Nordosteuropa als Geschichtsregion“ benannte Klinge in der Schlussdiskussion vier zentrale Defizite, die aufzufüllen er als vordringlich ansah: Erstens gelte es, „Nordosteuropa“ nicht nur von innen, sondern zugleich von außen zu definieren; zweitens konstatierte er eine „Unterbelichtung“ der Rolle der Megapolis der Region, also St. Petersburgs; drittens rief er zur Berücksichtigung der Mentalitätsgeschichte auf und schlug diesbezüglich die Untersuchung deutschsprachiger, lateinischsprachiger, französischsprachiger und volkssprachlicher Milieus vor; und viertens wies er auf die ungenügende Berücksichtigung des Zusammenhangs zwischen deutscher Großmachtpolitik und dem Entstehen von Nationalstaaten in „Nordosteuropa“ hin: Bis heute, so seine Ansicht, bestimmt das Verhältnis der Staaten der Region zu Deutschland zugleich ihre Haltung zur Europäischen Union, und zwar in synchroner Weise – 62 Robert I. Frost: The Northern Wars: War, State, and Society in Northeastern Europe, 1558–1721, London 2000. 63 J¯anis Kr¯eslin¸š, Steven A. Mansbach, Robert Schweitzer: Introduction, in: Kr¯eslin¸š u. a. (Hrsg.): Gränsländer, S. 3. 64 III. Internationales Symposium zu Geschichte und Kultur im europäischen Nordosten anläßlich des 100. Geburtstages von Paul Johansen (1901–1965) „Nordosteuropa als Geschichtsregion“, Tallinn, Estland, 20.–22. September 2001, veranstaltet von der Aue-Stiftung Helsinki in Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv Tallinn, dem Deutschen Kulturinstitut Tallinn und dem Historischen Institut der Universität Greifswald.

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im finnischen Fall „doppelt“ positiv, im dänischen „doppelt“ negativ. Klinges jungem Kollegen Marko Lehti aus Turku blieb es in einem weiteren Tagungsresümee vorbehalten, die Erkenntnisse der Regionalisierungs- und mental-mapping-Forschung auf „Nordosteuropa“ zu übertragen. Entsprechend sah er in der Verräumlichung sozialer Prozesse den Schlüssel zur Definition von historischen Regionen und gelangte hiervon ausgehend zu dem Ergebnis, dass „Nordosteuropa“ in der Vergangenheit eine realitätsbildende Raumvorstellung gewesen war und auch in der Gegenwart eine solche ist. Der Neologismus „Nordosteuropa“ ist also wissenschaftlich international akzeptiert; zugleich ist dieser ursprünglich artifiziell-wissenschaftssprachliche Begriff als Warenzeichen in die internationale politische Sprache eingegangen – „Nordosteuropa“ ist, so könnte man mit Blick auf den Sprachgebrauch des beginnenden 21. Jahrhunderts sagen, zu Nordosteuropa geworden. So konstatierte etwa 2001 der osteuropaerfahrene deutsche Diplomat Hans-Jürgen Heimsöth, im Auswärtigen Amt für die Ostseekooperation zuständig, unter explizitem Bezug auf Zernacks Aufsatzsammlung von 1993, „gerade in Nordosteuropa kann man nachverfolgen, wie eng Rußland mit den Geschicken Europas insgesamt verklammert ist“ 65; im gleichen Jahr visualisierte die Norddeutsche Landesbank in einer Zeitungsanzeige ihre „Kompetenz [für] Nord-Osteuropa“ mittels eines kreisförmigen Ausschnitts aus einer stilisierten Europakarte, welcher von Archangel’sk bis Oslo, von Vilnius bis Spitzbergen reichte 66; und bereits im April 1999 legte eine vom Council on Foreign Relations, dem einflussreichsten US-amerikanischen außen- und sicherheitspolitischem think tank, eingesetzte Expertengruppe zur US-amerikanischen Nordosteuropapolitik unter Leitung von Zbigniew Brzezinski fest: „Northeastern Europe is defined as including the Baltic littoral states, especially the Baltic states and the Nordics, but also Poland and Germany as well as northwestern Russia i. e., St. Petersburg, Murmansk, Novgorod and Kaliningrad.“ 67 *** In seiner gegen das Modewort vom „Ende der Osteuropäischen Geschichte“ gerichteten Berliner Abschiedsvorlesung vom 20. Juli 1999 nannte Klaus Zernack neben zahlreichen wissenschaftlichen Gründen, die für den Erhalt einer historischen Teildisziplin Osteuropäische Geschichte sprechen, auch einen außerwissenschaftlichen: „Vertrauensbildung durch Wissenschaft“. Ihm zufolge ist die Beeinflussung des Ver-

65 Hans-Jürgen Heimsöth: Deutsche Politik im Ostseeraum, in: NORDEUROPAforum 2001, H. 1, S. 103–115, hier S. 112. 66 Anzeige der NORD /LB: „In Chancen denken“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 259 vom 7. November 2001, S. 5. 67 Council on Foreign Relations: Independent Task Force Report U. S. Policy Toward Northeastern Europe, April 1999, S. 51 (URL http://www.cfr.org/europe/us-policy-toward-northeastern-europe/ p3127, letzter Zugriff: 09. 10. 2016). Zu einer analogen rußländischen Sicht vgl. Alexander Sergounin: Regional Cooperation as a Security Factor in Northeastern Europe. A Russian Perspective, October 1999.

Klaus Zernack als Nordosteuropahistoriker

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hältnisses Deutschlands zu seinen Nachbarn in einem positiven Sinne nobile officium jeglicher osteuropabezogenen Geschichtsschreibung. 68 Was er als langjähriger Ko-Vorsitzender der deutsch-polnischen Schulbuchkommission in Richtung Polen bewirkt hat 69, setzt er als Mitglied der Königlichen Gesellschaft für die Edition von Quellen zur skandinavischen Geschichte in Stockholm, des Wissenschaftlichen Beirats des Zentrums für die Erforschung der Geschichte Kleinlitauens und Preußens in Klaipeda sowie anderer Forschungseinrichtungen in Nordosteuropa, vor allem aber durch unermüdliche Tagungsteilnahme, ausgedehnte Vortragsreisen und intensive wissenschaftliche Kontakte in Richtung Norwegen, Dänemark, Schweden, Finnland, Estland, Lettland, Litauen und Russland fort. Insofern ist – um noch einmal auf den Ausgangspunkt zurückzukommen – die von Klaus Zernack geprägte geschichtsregionale Konzeption „Nordosteuropa“ in Nordosteuropa deutlich präsenter als hierzulande.

68 Adelheid Müller-Lissner: Berlin als Logenplatz für den Blick nach Osteuropa. Der Historiker Klaus Zernack gibt seine Abschiedsvorlesung, in: Der Tagesspiegel, Nr. 16760 vom 23. Juli 1999, S. 28. 69 Michael G. Müller: Zum 70. Geburtstag von Prof. Dr. Dr.h. c. mult. Klaus Zernack, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 49 (2001), S. 314 ff.

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Friedrich Braun und die Leipziger Russlandgeschichtsschreibung in der Zwischenkriegszeit [2004] Friedrich Braun beziehungsweise Fëdor Aleksandroviˇc Braun war ein in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlicher deutscher Osteuropahistoriker: Geboren 1862 in einer deutschen Arztfamilie in Sankt Petersburg, war er Untertan des Zaren, dann Sowjetbürger (erst 1925 erhielt er die deutsche Staatsbürgerschaft); von seiner Ausbildung und seinem Berufsweg her war er Philologe – mit dem Schwerpunkt auf der älteren germanischen Sprachwissenschaft –, nicht etwa Historiker; und zum Zeitpunkt seiner Berufung auf das seit Karl Stählins Weggang 1920 verwaiste Extraordinariat für osteuropäische Geschichte an der Universität Leipzig 1926 war er bereits 64 Jahre alt. 1930, als er zum ordentlichen Professor ernannt wurde, war er folglich 68 – und wurde gebeten, zwei weitere Jahre im Amt zu bleiben. Und 1932, nunmehr 70, erfolgte eine neuerliche Bitte um ein Jahr Verlängerung. Im Mai 1933, mit 71 Jahren, beantragte er angesichts der nationalsozialistischen Hochschulpolitik, genauer der politisch begründeten Entlassung seines wohl begabtesten, aber auch schwierigsten Schülers Georg Sacke, seine endgültige Emeritierung – um wissenschaftlich weiterhin aktiv zu bleiben, was ihm indes die nationalsozialistische Gesetzgebung zunehmend erschwerte. Im Juni 1942, kurz vor seinem 80. Geburtstag, starb Friedrich Braun in Leipzig. Brauns späte Leipziger Emeritierung war bereits die zweite in seinem Leben, denn im Kriegsjahr 1915 war er seiner deutschen Herkunft wegen als Professor für germanische Philologie an der Petersburger Universität schon einmal, und zwar zwangsweise, emeritiert worden. Nach der Oktoberrevolution wurde seine Emeritierung rückgängig gemacht und Braun übernahm eine Reihe von Führungsfunktionen an Petrograder Hochschulen und Forschungseinrichtungen sowie Beratungsfunktionen im Narkompros, dem Volkskommissariat für Bildungswesen. Dieses beauftragte ihn im März 1920, im Zuge einer dreisemestrigen(!) Dienstreise nach Schweden, Dänemark und Deutschland den Forschungsstand der internationalen germanistischen Altertumsforschung zu ermitteln sowie vor allem die bibliographische Lücke, die der Weltkrieg für die russische Wissenschaft gerissen hatte, zu schließen. Zu diesem Zwecke ließ sich Braun zunächst vorübergehend in Leipzig nieder, wo er sich der Universität als Germanistik-Dozent und Russisch-Lektor anbot und 1921 den Ehrendoktorhut, 1922 dann den Titel eines Honorarprofessors für germanische Philologie erhielt. Brauns Verbindungen nach Leipzig rühren von einer peregrinatio academica 1885–1888 nach Deutschland, in die Schweiz, nach Frankreich und Großbritannien her, bei der er in Freiburg im Breisgau bei dem künftigen Leipziger Sprachwissenschaftler Karl Brugmann studierte. Auch lernte er 1910 in Sankt Petersburg Karl Stählin kennen, der 1919/1920 russische Geschichte in Leipzig lehren sollte. Seinen

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1920 vom Narkompros erteilten Auftrag führte Braun gewissenhaft aus: 1922 und 1923 erschien in Berlin seine Systematische Bibliographie der wissenschaftlichen Literatur Deutschlands der Jahre 1914–1921 in vier Bänden, denen er 1924 eine zweibändige Ergänzung für die Jahre 1922 und 1923 folgen ließ. Brauns germanistisches Œuvre will ich an dieser Stelle nicht vorstellen, sondern lediglich darauf hinweisen, dass im Zentrum seines einschlägigen wissenschaftlichen Interesses germanisch-osteuropäische Bezüge standen und er sich entsprechend mit den Goten auf der Krim, den Varägern in der Rus’ und anderen skandinavischostslavischen beziehungsgeschichtlichen Themen befasste. Aus der Perspektive des germanistisch ungeschulten Laien füge ich hinzu, dass ein Teil von Brauns einschlägigen Publikationen einen exzentrischen, um nicht zu sagen unwissenschaftlichen Eindruck macht. Dies gilt vor allem für die von ihm gemeinsam mit dem Scharlatan Nikolaj Marr betriebene linguistische Forschungsrichtung des Japhetismus, zu der er 1922 im Kohlhammer-Verlag die Publikationsreihe Japhetitische Studien zur Sprache und Kultur Eurasiens initiierte. In Leipzig wurde dann die Kulturgeschichte Russlands zu Brauns zweitem wissenschaftlichem Standbein, auch wenn die Zahl seiner einschlägigen Publikationen hierzu gering ist. 1927 trug er zur Festschrift für Walter Goetz von 1927 eine Studie Über die russische ‚Intelligenz‘ bei und 1930 veröffentlichte er seine Untersuchungen Die Latinisierung der russischen Schrift sowie Das Hochschulwesen in der Sovetunion. So bescheiden nach Umfang und Gewicht Brauns wissenschaftliche Produktion auch war, so groß war in Leipzig seine Anziehungskraft als akademischer Lehrer. 1933 hatte er 23 Studierende – damals eine sehr hohe Zahl –, sieben promovierten bei ihm und einer, nämlich Georg Sacke, wurde von ihm habilitiert. In etlichen Erinnerungen wird die Atmosphäre in der für Braun neu geschaffenen Osteuropäischen Abteilung des damals von Walter Goetz geleiteten Instituts für Kultur- und Universalgeschichte als offen und liberal beschrieben, Obwohl sich zu Fragen deutscher Politik bewusst nicht äußernd, schlug bei Braun seine frühere Nähe zu den russischen Kadetten, den konstitutionellen Demokraten, durch. Und auch in fachlicher Hinsicht brachte Braun die Russlandgeschichtsschreibung auf kulturgeschichtlichen, sozusagen Lamprecht’schen Kurs. Gemeinsam mit Goetz stand er einer informellen Leipziger Forschungsgruppe zur Ideengeschichte vor, der auch die Braun-Schüler und Russlandhistoriker Walter Hinz, Wilhelm Graf, Robert Adolf Klostermann und Max Aschkewitz – von Braun geschichtsbewusst kollektiv als staršaja družina bezeichnet – angehörten. In Gerd Voigts umfassender Darstellung der deutschen Russlandgeschichtsschreibung von 1843 bis 1945 findet sich neben zwei Porträts von Friedrich Braun auch eine Fotografie, die ihn im Kreise seiner Schüler vor dem Gebäude des Instituts für Kultur- und Universalgeschichte zeigt und die einiges von der damaligen Atmosphäre transportiert. Ein besonderes Verhältnis verband Braun mit seinem aus dem russischen Bessarabien stammenden Schüler Georg Sacke, dem er, so Sacke, „ein zweiter Vater gewesen“ sei. Umso bitterer war dann für Braun, dass er Sacke auf Weisung des Hochschulreferenten im Sächsischen Volksbildungsministerium und ehemaligen Leipziger Baltistik-Professor Georg Gerullis am 1. April 1933 mitteilen musste, dass seine

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Stelle als wissenschaftliche Hilfskraft an der Osteuropäischen Abteilung fristlos gekündigt sei, „da Prof. Dr. Gerullis als Vertreter des Ausschusses für Erneuerung der Hochschule mir bekannt gab, daß ihre marxistische Auffassung historischer Probleme und Ihre positive Einstellung zur Sowjetunion Ihre weitere Mitarbeit am Institut unzulässig erscheinen läßt.“ In zahlreichen in russischer Sprache gehaltenen Briefen sprach Braun in der Folgezeit Sacke Mut zu. Dieser revanchierte sich, indem er Braun 1937 einen Aufsatz in der Zeitschrift für osteuropäische Geschichte widmete. Neben der Lehre war Brauns wichtigstes Leipziger Betätigungsfeld der Aufbau einer Bibliothek zur Geschichte Osteuropas im Institut für Kultur- und Universalgeschichte. Vor allem mittels Austauschbeziehungen in die Sowjetunion wuchs diese Spezialbibliothek rasch auf mehrere tausend Bände an. Des Weiteren ist auf Brauns umfangreiche Übersetzungstätigkeit hinzuweisen. So hat er selbst große Teile der von ihm herausgegebenen, 1925–1926 in Berlin erschienen vierbändigen deutschen Fassung von Vasilij Kljuˇcevskijs Kurs russkoj istorii unter dem Titel Geschichte Rußlands selbst übersetzt. Das gleiche gilt für Sergej Platonovs Geschichte Rußlands vom Beginn bis zur Jetztzeit, erschienen in Leipzig 1927, sowie – ohne Nennung von Brauns Namen – für Pavel’ Miljukovs zweibändige Darstellung der russischen Revolution, die 1925 als Rußlands Zusammenbruch erschienen. Friedrich Braun fungierte überdies neben Andrej Belyj, Maksim Gor’kij und anderen „nicht-weißen“ russischen Emigranten als Mitherausgeber der von 1923 bis 1925 in Berlin erscheinenden russischsprachigen literarisch-wissenschaftlichen Zeitschrift Beseda. Schließlich ist das zu erwähnen, was Braun in einem Brief an den Dekan der Philologischen Fakultät der Universität Leipzig vom Juli 1932 als seine „Vermittlerrolle, die mir zur Lebensaufgabe geworden war, zugunsten der vielverkannten Heimat meiner Jugend“, beschrieb, also seine Mittlerfunktion in den deutsch-sowjetischen Beziehungen in der Zwischenkriegszeit. Zwar bis 1924 im Dienst des Narkompros stehend und seit 1926 korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, distanzierte sich Braun von seiner Übersiedlung nach Leipzig an zunehmend von der Herrschaft Stalins. Dabei gelang ihm der Drahtseilakt, seine zahlreichen wissenschaftlichen und politischen Kontakte in die UdSSR zu einem Großteil aufrecht zu erhalten und zum Nutzen der Universität Leipzig einzusetzen. Noch 1937 – im Alter von 75 Jahren – wehrte er sich in einem Brief an den Sächsischen Minister für Volksbildung entschieden gegen einen Runderlass der Reichsausstauschstelle bezüglich eines Verbotes von „Tauschbeziehungen nach Sovjetrußland“ und beharrte mit Erfolg darauf, auch weiterhin das Monatsbulletin der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Izvestija AN SSSR, beziehen zu können. 1932 widmete Brauns Leipziger Kollege Walter Goetz in seiner Eigenschaft als Mitherausgeber des Archivs für Kulturgeschichte das Heft 2 von 1932 dieser Zeitschrift dem Ex-Petersburger als Festschrift zu seinem 70. Geburtstag. Auch und gerade aus heutiger Sicht war dies eine bemerkenswerte Unternehmung: Zum einen würde heutzutage diese – weiterhin erscheinende – Zeitschrift wohl kaum ein Schwerpunktheft zu einem so exotisierten Themenbereich wie der Geschichte Osteuropas veröffentlichen, und zum anderen war das Heft ganz kulturgeschichtlichen

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Fragestellungen gewidmet, und das in einer Zeit, in der die historische Osteuropaforschung in Deutschland nahezu ausschließlich diplomatie- und politikgeschichtlich ausgerichtet war. Georg Sacke porträtierte in dem Heft Katharina II. im Kampf um Thron und Selbstherrschaft, Werner Markert, der sich als NSdAP-Mitglied Hoffnungen auf die Braun-Nachfolge machte, beschrieb „Die politische Soziologie in Rußland“, Wilhelm Graf setzte „Grimmelshausen und Rußland“ zueinander in Beziehung, Walter Hinz beleuchtete „Peter den Großen und die Baukunst des Barock“ und Brauns Adoptivsohn Maximilian Braun, später in Göttingen als Slavist lehrend, behandelte „Die islamischen Slawen in Bosnien-Herzegowina und den westeuropäischen Kultureinbruch“. Entsprechend konstatierte Goetz in seinem Vorwort: Ein stattlicher Kreis von Schülern zeigt sich in der bescheidenen Festgabe, die dem 70. Geburtstag Friedrich Brauns gelten soll: er möge mit Genugtuung mustern, was er in wenigen Jahren in Leipzig geschaffen hat. Der Aufschwung dieser osteuropäischen Abteilung ist so überraschend groß, daß nicht nur aufrichtigst gedankt werden muß, sondern daß sich die osteuropäische Abteilung und das Gesamtinstitut für Kultur- und Universalgeschichte nichts Besseres wünschen können als lange Fortsetzung einer so fruchtbaren Tätigkeit!

Ungeachtet seiner erfolgreichen Doktorandenausbildung, seiner bibliothekarischen Aktivitäten, vielfältigen wissenschaftspolitischen Funktionen und der Zeitzeugenschaft kritischer Perioden in der Geschichte Russlands wie Deutschlands galt Brauns eigentliches Interesse der – ferneren – Vergangenheit, und insofern ist der historisch arbeitende Philologe Braun dann doch zu einem Gutteil auch ein professioneller Historiker. Ich will dies mit einem abschließenden Zitat belegen, das einem Brief Brauns an seinen Kollegen und Leipziger Vorgänger Karl Stählin in Berlin aus dem Dezember 1930 entnommen ist: Ich persönlich fühle mich in diesem Semester schon deswegen wohler, weil ich fast ausschließlich in Altrußland stecke: dort ist’s mir am wohlsten, – schon immer gewesen, und jetzt erst recht. Das, was man persönlich gesehen und miterlebt hat (und ich lebe ja seit 1862 mit!) wirkt sich auch in der Macht der Lieblingsthemata nicht immer anziehend aus. Ich fühle darin einen gewissen Gegensatz zu den meisten meiner Kollegen und mache mir oft einen Vorwurf daraus. Ist es nicht lächerlich, daß einem die Warägerfrage oder die Entstehung der russischen Autokratie als Forschungsobjekt lieber sein kann als – die Heilige Allianz? Das verhindert aber nicht, daß ich mich auf Ihre Darstellung derselben von Herzen freue [. . . ].

Friedrich Braun war für die Leipziger historische Osteuropaforschung von zentraler Bedeutung. Von Stählins kurzem Intermezzo 1919/1920 abgesehen war Braun es, der das Fach in Leipzig schulebildend begründete. Zwar fand er im Dritten Reich keinen Nachfolger, da die sächsische Hochschulpolitik von der Chimäre einer „Südosteuropa-Universität Leipzig“ geblendet war, doch hielt die Wirkung seines späten Leipziger Lebenswerks bis zum Neubeginn des Faches in der Sowjetischen Besatzungszone unter Walter Markov an. Erst mit dessen Parteiausschluss 1951 und seiner dadurch erzwungener Umorientierung auf Afrika und Frankreich, schon gar mit der Berufung des parteitreuen Außenseiters Basil Spirus 1954, endete die Braun’sche Traditionslinie. Die von seinen Schülern angestoßene russlandbezogene Kulturge-

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schichtsschreibung brach im Krieg ebenfalls ab, um allerdings ein halbes Jahrhundert später zum Paradigma der historischen Teildisziplin Osteuropäische Geschichte zu werden.

Auswahlliteratur O. A.: Veröffentlichungen Friedrich Brauns. In: Archiv für Kulturgeschichte 23 (1932), H. 2, S. 139–140. Behrendt, Lutz-Dieter: Friedrich Braun und die osteuropäische Geschichte am Institut für Kulturund Universalgeschichte der Universität Leipzig. In: Comparativ 2 (1991), H. 4, S. 30–43. Camphausen, Gabriele: Die osteuropäische Abteilung an der Universität Leipzig. In: Dies.: Die wissenschaftliche historische Rußlandforschung im Dritten Reich 1933–1945. Frankfurt /M. u. a. 1990, S. 151–176 (= Europäische Hochschulschriften. Reihe III: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften, 418). Camphausen, Gabriele: Die wissenschaftliche historische Rußlandforschung in Deutschland 1892– 1933. In: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 42 (1989), S. 7–108 („Die Abteilung für osteuropäische Geschichte an der Universität Leipzig“, S. 63–66). Goetz, Walter, Georg Steinhausen, Herbert Schönebaum: Friedrich Braun zum siebzigsten Geburtstage. In: Archiv für Kulturgeschichte 23 (1932), H. 2, S. 137–138. Hölzer, Volker: Friedrich Alexander Braun – ein russischer Historiker in Leipzig. In: Europa-Haus Leipzig e. V. (Hrsg.): Russen in Leipzig. Damals – heute. Leipzig 2003, S. 105–109 (= Europäer in Leipzig – damals und heute, 7) Middell, Matthias: Das Leipziger Institut für Kultur- und Universalgeschichte – Institutionalisierungsprozesse und methodologische Problemlagen in der deutschen Geschichtswissenschaft 1890–1990. MS., Habilitationsschrift, Universität Leipzig, Fakultät für Sozialwissenschaften und Philosophie 2002, Bd. 1 („Friedrich Braun“, S. 629–633). Platonov, S., I. Kraˇckovskij, S. Ol’denburg: Zapiska ob uˇcenych trudach prof. F. A. Brauna. In: Izvestija Akademii Nauk SSSR 1927, Serie 6, Nr. 18, S. 1517–1520. Sverdlov, M. B.: F. A. Braun – issledovatel’ skandinavskich istoˇcnikov po istorii drevnej Rusi. In: Skandinavskij sbornik 21 (1976), S. 221–225. Voigt, Gerd: Rußland in der deutschen Geschichtsschreibung 1843–1945. Berlin 1994 (= Quellen und Studien zur Geschichte Osteuropas, 30).

„Die Interdependenz von Historiographie und Politik in Osteuropa“ Ein vergessenes Forschungsprojekt der westdeutschen Osteuropageschichtsschreibung (1976–1983)

[2011] Der Regimewandel in Ostmittel- und Südosteuropa 1989 und die Implosion der Sowjetunion samt Hegemonialsphäre 1991 haben im Bereich der Geschichtswissenschaft gleich zwei gravierende Folgen gezeitigt: Zum einen haben Historikerinnen und Historiker im östlichen Europa an prä-kommunistische Historiographietraditionen angeknüpft sowie den Anschluss an internationale Standards und Trends gesucht. Und zum anderen hat die internationale Geschichtsforschung ein neues Interesse an der Geschichte des östlichen Europa im Allgemeinen und an seiner geschichtswissenschaftlichen Produktion im Besonderen entwickelt. „We thought that it would be helpful to specialists on West European, American, and world history to know more about the historiographic traditions of East European countries and their fate in the period of Communist rule as means of assisting the reintegration of East European history into research and teaching elsewhere“, hieß es etwa 1992 im Editorial zum Oktober-Heft von American Historical Review mit dem Schwerpunktthema „Historiography of the Countries of Eastern Europe“. 1 Und ein Jahrzehnt später nahm dieses Interesse handfeste Form in Gestalt einschlägiger Spezialuntersuchungen an. Klio ohne Fesseln? Historiographie im östlichen Europa nach dem Zusammenbruch des Kommunismus lautete der Titel eines 2002 erschienenen Tagungsbandes, (Re)Writing History. Historiography in Southeast Europe after Socialism heißt ein weiteres Sammelwerk aus dem Jahr 2004, mit Narratives Unbound. Historical Studies in PostCommunist Eastern Europe ist eine handbuchähnliche Aufsatzsammlung aus dem Jahr 2007 betitelt und mit Past in the Making. Historical Revisionism in Central Europe after 1989 überschrieben ist ein weiterer Sammelband von 2008. 2 Herausgeber und Autoren all dieser Nach-„Wende“-Publikationen verwenden einige Mühe darauf, neben dem 1989/1991 freigesetzten Innovationspotential der Historikerschaften in der Osthälfte Europas auch deren schweres Gepäck aus den staatssozialistischen Jahrzehnten zu analysieren. Die hypertrophierten Geschichts-

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[O. A.]: In This Issue. In: American Historical Review 97 (1992), H. 4 (October), S. x. Alojz Ivaniševi´c [u. a.] (Hrsg.): Klio ohne Fesseln? Historiographie im östlichen Europa nach dem Zusammenbruch des Kommunismus. Wien 2002 (Österreichische Osthefte 44); Ulf Brunnbauer (ed.): (Re)Writing History. Historiography in Southeast Europe after Socialism. Münster 2004 (Studies on South East Europe 4); Sorin Antohi, Balázs Trencsényi, Péter Apor (eds.): Narratives Unbound. Historical Studies in Post-Communist Eastern Europe. Budapest 2007; Michal Kopeˇcek (ed.): Past in the Making. Historical Revisionism in Central Europe after 1989. Budapest 2008.

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forschungsapparate des Kommunismus, so das Ergebnis, bestehen zwar überwiegend fort, sind aber unterfinanziert, überaltert und in der Regel methodisch wie theoretisch zurückgeblieben. Zugleich sind Internationalisierung- und Verwissenschaftlichungstendenzen ebenso unübersehbar wie ein dramatischer brain drain jüngerer Geistesund Sozialwissenschaftler. Vor allem aber ist eine anhaltende nationalhistorische Blickverengung sowie eine enge Verflechtung der „beamteten“ Historikerschaft mit den neuen politischen Eliten festzustellen. Diesbezüglich ein regelrechtes Aha-Erlebnis löste in einer breiteren europäischen Öffentlichkeit im Frühsommer 2007 der von Ultranationalisten bis Postkommunisten reichende militante Protest im neuen EU-Mitgliedsstaat Bulgarien gegen ein von zwei deutschen Stiftung gefördertes kunsthistorisches Ausstellungsprojekt aus, in welchem ein petrifizierter Erinnerungsort bulgarischer Nationalgeschichte kritisch hinterfragt werden sollte. 3 Die Überraschung sowohl über die Dominanz nationalfixierten Denkens in Geschichtswissenschaft, Politik und Öffentlichkeit Bulgariens als auch über das enge Zusammenwirken von Politikern und Historikern dort deutet auf profunde Unkenntnis nicht nur der Nach-1989-Entwicklung, sondern gerade auch auf eine solche der Vor-„Wende“-Zeit hin. Denn beides, Nationalismus und Politik-Historiographie-Nexus, waren nicht nur im bulgarischen Fall Charakteristika des Spätkommunismus. 4 Die Entstalinisierung der fünfziger Jahre hatte im Verlauf der sechziger in Politik wie Geschichtsschreibung eine Liberalisierung in Form einer Rehabilitierung des zuvor als „großbulgarischer Chauvinismus“ kritisierten „sozialistischen Patriotismus“ bewirkt, die einem veritablen Paradigmenwechsel gleich kam. Zugleich wurde nun für höhere Parteikader und Staatsfunktionäre ein Hochschulstudium zum Muss – und hierbei entwickelte sich ein Geschichtsdiplom zur universal einsetzbaren Schlüsselqualifikation, da mit der marxistisch-leninistischen Ideologie bestens kompatibel. Diplomierte und promovierte Historiker wechselten so im Dutzend aus Lehre und Forschung ins Zentralkomitee und in die zahlreichen Fachministerien, gar ins Politbüro und in den Ministerrat, und bestimmten von ihren neuen Positionen aus die Schwerpunktsetzung der in Forschungsinstituten, Universitäten, Parteihochschulen und im Schulwesen tätigen Historiker entscheidend mit. Extremfälle sind die von 1971 bis zu ihrem Tod 1981 als Kulturministerin tätige Historikerin Ljudmila Živkova, eine Tochter des Partei- und Staatschefs der Jahre 1956–1989 Todor Živkov, 5

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Stefan Troebst: „Budapest“ oder „Batak“? Varietäten südosteuropäischer Erinnerungskulturen. Eine Einführung. In: Ulf Brunnbauer, Stefan Troebst (Hrsg.): Zwischen Nostalgie und Amnesie: Die Erinnerung an den Kommunismus in Südosteuropa. Köln, Weimar, Wien 2007 (Visuelle Geschichtskultur 2), S. 15–26. Zum Projekt selbst vgl. Martina Baleva, Ulf Brunnbauer (Hrsg.): Batak – ein bulgarischer Erinnerungsort. Ausstellung /Batak kato mjasto na pametta. Izložba. Sofia 2007. Vgl. zum polnischen, tschechoslowakischen und ungarischen Fall Frank Hadler: Drachen und Drachentöter. Das Problem der nationalgeschichtlichen Fixierung in den Historiographien Ostmitteleuropas nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Christoph Conrad, Sebastian Conrad (Hrsg.): Die Nation schreiben. Geschichtswissenschaft im internationalen Vergleich. Göttingen 2002, S. 137–164. Rumjana Mitewa-Michalkowa: Ästhetische Erziehung auf dem Weg Bulgariens nach Europa. Die Kulturpolitik Ljudmila Živkovas in den 1970er Jahren. In: Themenportal Europäische Geschichte (2009), URL: http://www.europa.clio-online.de/2009/Article=342, letzter Zugriff: 05. 10. 2016.

„Die Interdependenz von Historiographie und Politik in Osteuropa“

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oder der seit 2001 amtierende Staatspräsident Georgi P˘arvanov, der 1988 im Fach Geschichte an der Kliment-Ochridski-Universität in Sofija promoviert hat und anschließend im Institut für Geschichte der Bulgarischen Kommunistischen Partei tätig gewesen ist. 6 Mit anderen Worten: Die weitgehende Fokussierung auf die eigene Nationalgeschichte (samt eifersüchtiger Bewahrung der im 19. Jahrhundert kodifizierten nationalen Meistererzählung) sowie die überaus enge institutionelle wie vor allem personelle Verflechtung mit Staatsapparat und Parteienwesen sind keine Entwicklungen der bulgarischen Nach-„Wende“-Zeit, sondern indirekte Folgen des ideologischen „Tauwetters“ der 1950er-Jahre. Und zugleich sind beide Phänomene mitnichten Besonderheiten des kommunistischen wie postkommunistischen Bulgarien, treten sie doch in ähnlicher Form in den Nachbarstaaten Rumänien, Serbien und Makedonien, auch in Griechenland und der Türkei sowie in Albanien, den übrigen postjugoslawischen Staaten, in Ostmitteleuropa einschließlich den postsowjetischen baltischen Staaten sowie im GUS-Bereich auf. Eben die Wechselseitigkeit von Ideologie und Historiographie, von Politik und Geschichtswissenschaft im sowjetisch dominierten Teil Europas zu Zeiten des Kalten Krieges war in den Jahren 1976 bis 1982 Gegenstand eines groß angelegten, von der Stiftung Volkswagenwerk (heute VolkswagenStiftung) geförderten Forschungsprojekts am Seminar für Osteuropäische Geschichte der Universität zu Köln gewesen. Dass das Wissen um die zahlreichen und überaus spezifischen Ergebnisse dieser Gemeinschaftsunternehmung, an der mehr als 30 westdeutsche, schweizerische und österreichische Osteuropahistoriker beteiligt waren, nicht über das Epochenjahr 1989 hinaus reichte, lag an zwei Besonderheiten dieses Projekts: Zum einen ist die einzige synthetisierende projektnahe Publikation, der Protokollband einer Fachtagung aus dem Jahr 1977, nicht veröffentlicht, sondern lediglich in hektographierter Form in einigen wenigen Dutzend Exemplaren distribuiert worden. 7 Und zum anderen sind weder die auf etliche Periodika verstreuten und in Aufsatzform veröffentlichten Forschungs- und Literaturberichte des Projekts noch die nicht veröffentlichten Projektergebnisse in einer zusammenfassenden Publikation präsentiert worden. Immerhin ermöglicht der in Manuskriptform erhaltene Abschlussbericht des Projektleiters eine weitgehende Rekonstruktion der Projektprodukte und ihre bibliographische Erfassung. 8 Initiator, Antragsteller und Leiter des Projekts „Die Interdependenz von Historiographie und Politik in Osteuropa“ war der in Köln wirkende Osteuropahistoriker Günther Stökl (1916–1998). Nach dem Studium der Slavistik und Geschichte in Kö-

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Stefan Troebst: Geschichtswissenschaft im postkommunistischen Ost(mittel)europa. Zwischen Vergangenheitspolitik und Erinnerungskultur. In: DeutschlandArchiv 42 (2009), H. 1, S. 87–95, hier S. 92–95. Günther Stökl (Hrsg.): Die Interdependenz von Geschichte und Politik in Osteuropa seit 1945. Historiker-Fachtagung der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde e. V., Berlin, vom 9.–11. 6. 1976 in Bad Wiessee. Protokoll. Hektographiertes Ms. Stuttgart 1977. IV, 251 S. Vgl. im Anhang den „Schlussbericht über das Forschungsprojekt ‚Die Interdependenz von Historiographie und Politik in Osteuropa‘ von Günther Stökl, Köln, 6. Januar 1983“.

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nigsberg reichte der protestantische Österreicher 1938 in Breslau eine Dissertation zu einem frühneuzeitlichen Thema ein, wurde jedoch erst 1940 promoviert, nachdem er den Dissertationstitel dem zeitgenössischen Sprachgebrauch angepasst hatte. 9 Nach Wiener Dozentenjahren und der Habilitation 1953 mit einer Arbeit zum Kosakentum 10 übernahm er 1956 den neu geschaffenen Kölner Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte, auf dem er 1981 emeritiert wurde. 11 1962 erschien seine (mittlerweile in sechster Auflage lieferbare) Russische Geschichte, die ihn über die engeren Fachgrenzen hinaus bekannt machte. 12 Zugleich entfaltete Stökl eine intensive Tätigkeit als Wissenschaftsmanager und Politikberater: Von 1966 bis 1991 war er verantwortlicher Herausgeber des Fachorgans Jahrbücher für osteuropäische Geschichte, saß in den Leitungsgremien des Bundesinstituts zur Erforschung des Marxismus-Leninismus /Institut für Sowjetologie (später: Bundesinstituts für internationale und Ostwissenschaftliche Studien – BIOst) in Köln sowie der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde in Berlin und gründete 1980 den Verband der Osteuropahistoriker e. V. (VOH). Obwohl primär mit der Geschichte Altrusslands und des Moskauer Staates befasst, 13 galt Stökls besonderes Interesse der schwierigen Geschichte seines Faches im deutschen Sprachraum – und damit zwangsläufig den Interferenzen zwischen historischer Osteuropaforschung und der jeweiligen deutschen Osteuropapolitik. Zahlreiche Aufsätze, 14 vor allem aber sein zweites Erfolgsbuch Osteuropa

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Günther Stökl: Die deutsch-slawische Südostgrenze des Reiches im 16. Jahrhundert. Ein Beitrag zu ihrer Geschichte, dargestellt anhand des südslawischen Reformationsschrifttums. Breslau 1940 (Schriften des Osteuropa-Institutes zu Breslau N. R., H. 12). Günther Stökl: Die Entstehung des Kosakentums. München 1953 (Veröffentlichungen des OsteuropaInstitutes München 3). Zu seiner Biographie vgl. Dietrich Geyer: Osteuropa im Blick. Historiker Günther Stökl gestorben. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 73 v. 27. 3. 1998, S. 44; Hans Lemberg: Elegant kritisch. Zum Tod des Osteuropaforschers Günther Stökl. In: Süddeutsche Zeitung v. 28./29. 3. 1998, S. 17; Die Herausgeber: Günther Stökl 16. 1. 1916–20. 3. 1998. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 46 (1998), S. 469; Walter Leitsch: Einige Erinnerungen an Günther Stökls Dozentenjahre in Wien (1949–1956). In: Ebd., S. 470 f.; Peter Nitsche: Günther Stökls Kölner Jahre. In: Ebd., S. 471–473. Günther Stökl: Russische Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 1962 (6., erw. Aufl. 2009). Günther Stökl: Das Bild des Abendlandes in den altrussischen Chroniken. Köln, Opladen 1965 (Veröffentlichungen der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen 124); Ders.: Der russische Staat in Mittelalter und Früher Neuzeit. Ausgewählte Aufsätze aus Anlaß seines 65. Geburtstages. Hrsg. v. Manfred Alexander. Wiesbaden 1981 (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa 13). Günther Stökl: Die kleinen Völker und die Geschichte. In: Historische Zeitschrift 212 (1971), H. 1, S. 19–40; Ders.: Osteuropa – Geschichte und Politik. In: 29. Jahresfeier am 23. Mai 1979. Opladen 1979, S. 13–29 (Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften. Geisteswissenschaften. Vorträge G 238); Ders.: Zum Selbstverständnis des Faches Osteuropäische Geschichte. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 32 (1984), S. 481–487; Ders.: Das Studium der Geschichte Osteuropas von den Anfängen bis 1933. In: Erwin Oberländer (Hrsg.): Geschichte Osteuropas. Zur Entwicklung einer historischen Disziplin in Deutschland, Österreich und der Schweiz 1945–1990. Stuttgart 1992 (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa 35), S. 3–11.

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und die Deutschen 15 belegen dies, wobei seine kritischen Anmerkungen zur mitunter bedenklichen Nähe von historischer Osteuropaforschung und politisierter Ostforschung nicht zuletzt seiner österreichische Perspektive wegen in (West-)Deutschland auf Gehör stießen. 16 Dergestalt mit dem Politik-Historiographie-Nexus befasst, lag es für Stökl gleichsam nahe, auch die wechselseitige Abhängigkeit von Geschichtswissenschaft und Herrschaftssystem in kommunistischen Gesellschaften in den Blick zu nehmen. Der eigentliche Impuls hierzu dürfte ein doppelter gewesen sein: Erstens, Stökl stand seit längerem in engem Kontakt mit dem gleichfalls in Köln tätigen und ebenfalls aus Österreich stammenden Politikwissenschaftler Kurt Marko, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter des genannten BIOst unter anderem mit der Analyse sowjetischer Wissenschaftspolitik einschließlich der Steuerung der Geschichtswissenschaft durch die KPdSU befasst war. 17 Entsprechend lud Stökl den in Historikerfachkreisen weitgehend unbekannten Marko ein, auf der besagten Wiesseer Tagung von 1976 einen resümierenden Schlussvortrag zu halten. 18 Und zweitens, das 1971 erschienene Buch Politics and History in the Soviet Union der US-amerikanischen Russlandhistorikerin Nancy W. Heer hatte die sowjetische (Partei-)Geschichtsschreibung als „an extremely sensitive subsystem that displays the larger political system in high relief“ beschrieben. 19 „Post-Stalin historiography of the CPSU“, so Heer kategorisch, „should be viewed not as a mere reflection of politics but as a microcosm of the macrocosm that is the Soviet sociopolitical system.“ 20 Entsprechend wurden Heers Thesen auf der genannten Tagung häufig zitiert. Keine Querverbindung gab es indes zwischen dem Stökl’schen Projekt und parallelen westdeutschen Ansätzen qualitativer wie vor allem quantifizierender Untersuchungen zu den Geschichtswissenschaf-

15 Günther Stökl: Osteuropa und die Deutschen. Geschichte und Gegenwart einer spannungsreichen Nachbarschaft. 3. Aufl. Stuttgart 1982 (2. Aufl. München 1970; 1. Aufl. Oldenburg, Hamburg 1967). 16 So Dietrich Geyer: Osteuropäische Geschichte und das Ende der kommunistischen Zeit. Heidelberg 1996, S. 27. – Zur Geschichte der historischen Osteuropaforschung sowie der Ostforschung in Deutschland vgl. zuletzt Matthias Beer, Gerhard Seewann (Hrsg.): Südostforschung im Schatten des Dritten Reiches. Institutionen – Inhalte – Personen. München 2004 (Südosteuropäische Arbeiten 119); Dittmar Dahlmann (Hrsg.): Hundert Jahre Osteuropäische Geschichte. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Stuttgart 2005 (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa 68), und Corinna Unger: Ostforschung in Westdeutschland: Die Erforschung des europäischen Ostens und die Deutsche Forschungsgemeinschaft, 1945–1975. Wiesbaden 2007 (Studien zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1). 17 Kurt Marko: Sowjethistoriker zwischen Ideologie und Wissenschaft. Aspekte der sowjetrussischen Wissenschaftspolitik seit Stalins Tod, 1953–1963. Köln 1964 (Abhandlungen des Bundesinstituts zur Erforschung des Marxismus-Leninismus 7); Ders.: Streit in der sowjetischen Geschichtswissenschaft. Notiz zur ideologischen Gegenwartssituatin in der Sowjetunion. Köln 1972 (Berichte des Bundesinstituts für Ostwissenschaftliche und Internationale Studien, 23–1972). 18 Kurt Marko: Zusammenfassung. In: Stökl (Hrsg.): Die Interdependenz, S. 214–228. 19 Nancy W. Heer: Politics and History in the Soviet Union. Cambridge, Mass. 1971, S. 58. 20 Ebd., S. 270. Ähnlich auch Bernd Bonwetsch: Oktoberrevolution. Legitimationsprobleme der sowjetischen Geschichtswissenschaft. In: Politische Vierteljahresschrift 17 (1976), H. 2, S. 199–186.

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ten im sowjetischen Hegemonialbereich 21 oder zur Parteilichkeitsproblematik in der DDR-Historiographie, 22 schon gar nicht zu blockinternen dissidenten Analyseansätzen zu Intelligentsia und Macht. 23 Im Zuge seiner Realisierung in den Jahren 1976 bis 1982 erfuhr das ursprünglich flächendeckend und systematisch angelegte Stökl’sche Projekt regionale und thematische Schwerpunktsetzungen: Von den drei Teilregionen Südosteuropa, Ostmitteleuropa und UdSSR/Russland wurde lediglich die erste vollständig in Form von in der Regel zwei Forschungsberichten pro nationalem Fall (Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Jugoslawien, Albanien) abgedeckt. Bezüglich Ostmitteleuropas erschienen zwei Forschungsberichte zur Tschechoslowakei, aber keiner zu Polen. Und die beiden Berichte zur UdSSR behandelten ausschließlich die Historiographie zu den nicht-russischen Nationen und Ethnien. Diese Lücken wurden nur partiell durch den Wiesseer Tagungsband geschlossen, dessen Existenz allerdings, wie gesagt, nur Insidern bekannt war. Immerhin waren hierin sechs Beiträge zur Geschichte der Geschichtsschreibung über die russischen Reichsbildungen und die Sowjetunion enthalten, zwei zur polnischen Historiographie und drei zur tschechoslowakischen Geschichtswissenschaft. Einige von ihnen beruhten auf bereits publizierten Forschungsergebnissen. 24 Drei Beiträge des Stökl’schen Projekts wuchsen sich zu Monographien aus, 25 wohingegen zwei weitere zwar erstellt, aber nicht veröffentlicht wurden. Die meisten Forschungsberichte erschienen in Stökls „Hauszeitschrift“ Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, zwei im Jahrbuch des Münchner Südost-Instituts, den SüdostForschungen. Sämtliche Projektergebnisse wurden in deutscher Sprache erstellt und veröffentlicht – ein Umstand, welcher der Verbreitung der Projektergebnisse im 21 Robert Deutsch, Wilhelm Heinz Schröder: Quantitative Analyse der rumänischen Historiographie. Eine quantitative Analyse zur Wissenschaftsforschung. Köln 1976 (Interdisziplinäre Studien zur Historiographie 1). Siehe auch Miklós Molnár, Robert Deutsch: Histoire et sciences historiques dans les pays socialistes d’Europe. Esquisse d’une typologie historiographique. In: Le Mouvement sociale 111 (1980), S. 234–264. 22 Helmut Rumpler: Parteilichkeit und Objektivität als Theorie-Problem der DDR-Historie. In: Reinhart Koselleck, Wolfgang J. Mommsen, Jörn Rüsen (Hrsg.): Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft. München 1977 (Beiträge zur Historik 1), S. 228–262; Jürgen Kocka: Parteilichkeit in der DDR-marxistischen Geschichtwissenschaft. Einige Thesen. In: Ebd., S. 263–269. 23 György Konrád, Iván Szelényi: Die Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht. Frankfurt /M. 1978; Rudolf Bahro: Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus. Frankfurt /M. 1977. 24 So etwa Klaus Zernack: Schwerpunkt und Entwicklungslinien der polnischen Geschichtswissenschaften nach 1945. In: Walter Kienast (Hrsg.): Literaturberichte über Neuerscheinungen zur außerdeutschen Geschichte. München 1973, S. 202–323 (Historische Zeitschrift, Sonderheft 5), oder Bonwetsch: Oktoberrevolution. 25 Holger Fischer: Politik und Geschichtswissenschaft in Ungarn. Die ungarische Geschichte von 1918 bis zur Gegenwart in der Historiographie seit 1956. München 1982; Michael Ludwig: Tendenzen und Erträge der modernen polnischen Spätmittelalterforschung unter besonderer Berücksichtigung der Stadtgeschichte. Berlin 1983 (Osteuropastudien der Hochschulen des Landes Hessen. Reihe I: Gießener Abhandlungen zur Agrar- und Wirtschaftsforschung des europäischen Ostens 128); Stefan Troebst: Die bulgarisch-jugoslawische Kontroverse um Makedonien 1967–1982. München 1983 (Untersuchungen zur Gegenwartskunde Südosteuropas 23).

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englischsprachigen Raum zwar nicht förderlich war, aber dennoch das gänzlich ausbleibende britische wie nordamerikanische Echo nicht erklären kann. Denn Stökl kooperierte eng mit dem Russlandhistoriker Samuel H. Baron von der University of North Carolina in Chapel Hill, dem führenden US-amerikanischen Experten für die sowjetische Historiographiegeschichte. 26 Baron war überdies Doktorvater der genannten Nancy Heer gewesen, mit der zusammen er 1977 einen Sammelband zur Sowjethistoriographie herausgab. 27 Die Nicht-Rezeption der Ergebnisse des Stökl-Projekts in den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren seitens der angloamerikanischen Osteuropaforschung erklärt wiederum die eingangs genannte Unkenntnis der internationalen Forschung zur Historiographiegeschichte des östlichen Europa, wie sie in deren Veröffentlichungen seit 1989 und vor allem seit 2002 – mit nur wenigen Ausnahmen 28 – zutage tritt. Dass ethnozentrische Sichtweisen die Geschichtswissenschaften von Tallinn bis Tirana nicht erst seit 1989/1991, sondern bereits seit den 1960er-Jahren prägen, und dass Rekrutierungsmuster von Eliten durch einen Regimewandel nur partiell verändert werden – diesen Paradigmenwechsel haben Günther Stökl und seine Mitstreiter bereits um 1980 im Detail belegt.

26 Samuel H. Baron: Rezension zu Stökl (Hrsg.): Die Interdependenz. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 27 (1979), S. 387 f. 27 Samuel H. Baron, Nancy W. Heer (Eds): Windows on the Russian Past. Essays on Soviet Historiography since Stalin. Columbus, OH, 1977. Siehe dazu auch die Rezension von Günther Stökl in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 26 (1978), S. 577–580. 28 So wird etwa in einer einschlägigen polnischen Untersuchung direkter Bezug auf das Stökl-Projekt genommen. Vgl. Maciej Górny: Przede wszystkim ma by´c naród. Marksistowskie historiografie w ´ Europie Srodkowo-Wschodniej [An erster Stelle muss die Nation stehen. Marxistische Geschichtswissenschaften in Ostmitteleuropa]. Warszawa 2007, S. 20. Siehe jetzt auch die deutsche Übersetzung: Ders.: „Die Wahrheit ist auf unserer Seite“. Nation, Marxismus und Geschichte im Ostblock. Köln, Weimar, Wien 2011 (Schriften der Stiftung Ettersberg 16), in welcher das Stökl-Projekt indes nicht erwähnt wird.

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Anhang Prof. Dr. GÜNTHER STÖKL

Arnulfstr. 6 – Tel. 416202 5000 Köln 41

6. 1. 1983

Schlußbericht über das Forschungsprojekt „Die Interdependenz von Historiographie und Politik in Osteuropa“. 29 Das Ziel des im Jahr 1975 der Stiftung Volkswagenwerk mit der Bitte um Förderung vorgelegten Forschungsprojekts (hinfort FP) war es, über Leistung, Entwicklungstendenzen und politische Funktion der Geschichtswissenschaft in allen Staaten und bei allen Völkern des östlichen, kommunistisch regierten Europa (mit Ausnahme der DDR) ein zuverlässiges aktuelles Bild zu gewinnen. Es sollte durch konzentrierte, jeweils nach Fertigstellung zu publizierende Forschungsberichte (hinfort FB) über einzelne, räumlich und zeitlich festgelegte Teilgebiete erreicht werden. Dementsprechend umfassend war der ursprüngliche Plan: Er sah bei einer Beschränkung auf die Entwicklung etwa seit Mitte der sechziger Jahre 31 solcher Forschungsberichte vor.

1. Der Projektverlauf Es war von vorneherein klar, daß ein so breit ausgelegtes Forschungsvorhaben nur durch Anspannung aller verfügbaren Kräfte des kleinen Faches Osteuropäische Geschichte würde erfüllt werden können. Die Dislozierung der Osteuropahistoriker über die ganze Bundesrepublik Deutschland ließ die Anwerbung, sachliche Förderung und Kontrolle in der Regel nur auf dem Wege der Korrespondenz zu; dies nahm weit mehr Zeit in Anspruch als ursprünglich angenommen. Als hilfreich und zu Optimismus Anlaß gebend erwies sich in diesem Zusammenhang eine dem Thema des FP gewidmete, von der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde finanzierte, Fachta-

29 Günther Stökls eigenhändig signierter Projektabschlussbericht vom 6. Januar 1983, der sieben paginierte maschinenschriftliche Seiten sowie eine unpaginierte zweiseitige Übersicht „Abgeschlossene Forschungsberichte des Forschungsprojekts ‚Die Interdependenz von Historiographie und Politik in Osteuropa‘“ umfasst, befindet sich im Archiv der VolkswagenStiftung Hannover, Archivgruppe „Stiftung Volkswagenwerk“. Er wurde dankenswerterweise in Kopie am 18. Oktober 2001 von Dr. Wolfgang Levermann, Fachreferent in der Abteilung Geistes- und Gesellschaftswissenschaften der Stiftung, einschließlich „Titelblatt-Kopien uns vorliegender Veröffentlichungen (ohne Tagungsbericht)“ sowie der Information „Leider gibt es keine Gesamtliste aller [im Projektrahmen] angeschriebenen Wissenschaftler“ übermittelt. – Sämtliche Annotierungen in den nachfolgenden Fußnoten stammen von mir – S. T.

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gung der Osteuropahistoriker, die im Juni 1976 in Bad Wiessee stattfand. 30 An der Aktualität des Themas und am Interesse der Fachkollegen war nicht zu zweifeln. Das Protokoll der Tagung – in selbstlosem Einsatz freiwilliger Helfer geschrieben und vervielfältigt, im Eigenverlag der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde erschienen (Die Interdependenz von Geschichte und Politik in Osteuropa seit 1945, Stuttgart 1977, 251 S. 31) – ist den Bearbeitern von FB, soweit sie nicht selbst an der Tagung teilgenommen hatten, zugänglich gemacht worden. Schon die Gespräche in Bad Wiessee hatten deutlich gemacht, daß es nicht leicht sein würde, für alle geplanten FB Autoren im eigenen Bereich zu gewinnen. Diese Erwartung wurde in der Folge mehr als bestätigt. Immerhin ist es gelungen, bis etwa zur Mitte der [S. 2:] ursprünglichen Laufzeit des FP den größten Teil der FB an qualifizierte Bearbeiter zu vergeben – 1978 konnten bereits die ersten beiden FB veröffentlicht werden. 32 Voraussetzung war allerdings eine gewisse Modifizierung des FP. Zunächst wurde sehr bald klar, daß es nicht möglich sein würde, die wichtigsten Nationalitätengruppen der Sowjetunion mit ihrer eigensprachlichen Historiographie durch je einen FB zu berücksichtigen; das hätte Experten mit so differenzierten speziellen Sprachkenntnissen erfordert, daß selbst in internationalem Rahmen eine befriedigende Lösung dieses Problems mit vertretbarem Organisationsaufwand und Zeitkalkül nicht zu erhoffen war. Durch die solchermaßen nahegelegte Beschränkung auf nur zwei allgemein gehalten und nur auf russischsprachige Literatur gestützte FB über den historiographischen Aspekt des sowjetischen Nationalitätenproblems wurden fünf FB des ursprünglichen Plans eingespart. Andererseits ergab sich in der (überwiegend schriftlichen) Diskussion mit bereits gewonnenen Bearbeitern, daß auch die zeitnahe Historiographie der kleineren osteuropäischen Völker in der gewünschten konzentrierten Form nicht von der vorgesehenen relativ geringen Zahl von Bearbeitern bewältigt werden konnte. Hier konnten die freigewordenen FB Entlastung bringen, allerdings führte diese Modifizierung des Planes zu einer gewissen Schwerpunktverlagerung des FP auf die Historiographie in den ostmitteleuropäischen und vor allem südosteuropäischen Staaten. Es stellte sich ferner in der beginnenden Praxis heraus, daß die Bearbeiter mit der von ihnen erwarteten konzentrierten Kürze der FB mehr oder minder stark überfordert waren. Zumal wenn auch das informative Ziel des FP über die Historiographien Osteuropas erreicht werden sollte, war das ursprünglich gesetzte Maß offenbar zu niedrig angesetzt, und zwar schon angesichts der Quantität der jeweils zu erfassenden wichtigen historiographischen Produktion, ganz zu schweigen von sehr spezifischen Problemen historiographischpolitischer Interdependenz in einigen Fällen. Es ist z. B. ein fundamentaler Unter-

30 Vgl. dazu Maria Lammich: Historiker-Fachtagung in Bad Wiessee. In: Osteuropa 26 (1976), H. 11 (November), S. 1041 f. 31 Stökl (Hrsg.): Die Interdependenz. 32 Gemäß Stökls nachstehender Aufstellung „Abgeschlossene Forschungsberichte des Forschungsprojekts ‚Die Interdependenz von Historiographie und Politik in Osteuropa‘“ erschien 1978 jedoch nur ein einziger Bericht, nämlich derjenige von Peter Heumos (s. unten, Übersicht „Abgeschlossene Forschungsberichte“).

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schied festzustellen zwischen einer allgemein zu beobachtenden Aufwertung alter nationaler historiographischer Traditionen und der Notwendigkeit, solche Traditionen nachträglich zu konstruieren wie in Albanien und Makedonien. Im letztgenannten Fall erwies sich die Ausgliederung aus der jugoslawischen Historiographie zu einem eigenen FB als unumgänglich (darüber s. unten, unter Ergebnisse). Allein die lange Dauer der Anlaufzeit und die Komplexität der gestellten Aufgaben lassen es verständlich erscheinen, daß die fünfjährige [S. 3:] Laufzeit des FP nicht ausreichte, nennenswert greifbare Ergebnisse zu erzielen. Die dankenswerterweise gewährte zweimalige Verlängerung der Laufzeit um insgesamt eineinhalb Jahre hat denn auch zu solchen Ergebnissen geführt. Es ist aber nicht zu verkennen und war in Zwischenberichten immer wieder hervorzuheben, daß sich die Zeitsituation, konkret die Existenzsorgen des wissenschaftlichen Nachwuchses, zunehmend als Hemmung für das FP erwies. Begonnen in einer Zeit, in der noch mit einem genügend zahlreichen qualifizierten Nachwuchs als Hauptträger des FP gerechnet werden konnte, ging dieses in einer Zeit zu Ende, in der dieser Nachwuchs zum Teil schon in andere Berufe abgewandert oder völlig vom Interesse der unmittelbaren Existenzsicherung im universitären Bereich absorbiert ist.

2. Die Ergebnisse Von insgesamt 30 nach der Modifizierung des ursprünglichen Plans vorgesehenen FB lagen bei Auslaufen des FP am 30. Juni 1982 13 FB abgeschlossen vor; 6 davon sind bereits veröffentlicht, 2 befinden sich im Druck, 5 sind den zuständigen Redaktionen zur Veröffentlichung zugeleitet (über Einzelheiten s. die beiliegende Aufstellung der abgeschlossenen FB). Unter dem gewiß nicht in erste Linie maßgebenden Gesichtspunkt der Quantität bedeutet dies ein Volumen von 600 Druckseiten. Zwei weitere FB liegen teilweise im Manuskript vor, bedürfen aber noch der Ergänzung bzw. Umarbeitung. 33 Für 11 weitere FB liegen die Zusagen der Bearbeiter vor, auch ohne Aussicht auf ein Honorar die Arbeit fortsetzen und mit der Vorlage eines druckfertigen Manuskripts beenden zu wollen. 34 Wieviel Vertrauen in diese Zusage zu setzen ist, stehe dahin. Die Realisierung wird auch weiterhin jeweils von der persönlichen Situation des Bearbeiters abhängen. Am sachlichen Interesse ist nicht zu zweifeln, mit längeren Zeiträumen wird man jedoch rechnen müssen; in diesem Fall stünde der Publikation in den „Jahrbüchern für Geschichte Osteuropas“ kein Hindernis entgegen. 35 Vier FB müssen als Totalausfälle gewertet werden, 36 und zwar in einer so späten 33 Autoren und Themen sind nicht bekannt. 34 Autoren und Themen sind bis auf eine Ausnahme nicht bekannt. Dabei handelt es sich um Ludwig: Tendenzen und Erträge der modernen polnischen Spätmittelalterforschung. Dies geht aus der Vorbemerkung des Autors hervor (S. 9). 35 Günther Stökl selbst war von 1966 bis 1991 hauptverantwortlicher Herausgeber dieser Zeitschrift. 36 Autoren und Themen sind nicht bekannt.

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Phase des FP, daß an einen Ersatz nicht mehr gedacht werden konnte (in zwei Fällen waren berufliche Veränderungen, in einem Krankheit der Grund). Ein unerwartetes und der Erklärung bedürfendes Bild ergibt sich bei der räumlichen Verteilung der abgeschlossenen FB: Nicht weniger als 9 erschließen die Historiographie Südosteuropas, nur je zwei solche [S. 4:] Ostmitteleuropas und des russischen Bereichs. Umgekehrt ausgedrückt: die Planung für Südosteuropa ist bis auf drei noch ausstehende Teil- FB realisiert worden, während z. B. für Polen kein einziger FB fertig wurde, und von der sowjetischen Historiographie nur der Nationalitätenaspekt Bearbeitung fand. Allein durch Wechselfälle persönlicher Art – so gewiß auch diese eine Rolle gespielt haben – ist solche Ungleichmäßigkeit nicht zu erklären. Es ist wohl vielmehr so, daß die Realisierung des FP beiden größten Historiographien Osteuropas (der Russen und der Polen) eine Aufteilung auf weit mehr FB und dementsprechend größeren Aufwand erfordert hätte. Dem stand und steht aber entgegen, daß Polen und Russland ganz im Vordergrund des Interesses liegen und die wissenschaftliche Aktivität der auch nicht übermäßig zahlreichen Polenund Rußlandhistoriker vielfältig in Anspruch nehmen. Man denke nur an gleichzeitige „Konkurrenz“-Unternehmen wie das „Handbuch der russischen Geschichte“ 37 sowie die Durchführung des „Zweiten Weltkongresses für Sowjet- und Osteuropastudien“ in Garmisch 1980. 38 Hinzuzufügen bleibt, daß die spezielle Fragestellung des FP, d. h. der Zusammenhang von Politik und Geschichte, im eher überschaubaren Rahmen kleiner Länder offenbar leichter zu handfesten Ergebnissen geführt werden kann. Das liegt gewiß auch am quantitativen Unterschied der zu bewältigenden Stoffmassen, vielleicht aber noch mehr an den speziellen Situationen und Traditionen eben dieser kleinen Länder. Hier scheint mir der wesentliche Erkenntnisgewinn des FP auch hinsichtlich seiner fragmentarischen Form zu liegen. Die legitimatorische Funktion von Geschichtswissenschaft im kommunistischen Herrschaftssystem steht außer Zweifel und ebenso die Tatsache, daß sie allenthalben durch Verwissenschaftlichungstendenzen sehr vorsichtig in Frage gestellt zu werden scheint. Nicht minder allgemein ist zu beobachten, daß die Legitimierung durch Geschichte sich real, nicht unbedingt auch verbal von der sozial-ideologischen auf die national-ideologische Ebene verschoben hat. Nur bei kleinen Nationen in einer traditionell-historisch feindlichen Umwelt wird die jedoch zu einer aktuellen Existenzfrage schlechthin. Nichts zeigt dies deutlicher als der Extremfall des jugoslawischen Makedonien, wo eine aus Motiven serbischer Machtpolitik kreierte völlig neue Nation allein in einer ebenso neu konstruierten Nationalgeschichte ihre Identität findet, finden muß, weil Realität und Geschichte einer makedonischen Nation von den Bulgaren rundweg bestritten werden. Die weitgehende Personalunion von Politik und Historiographie ist nur ein Symbol für 37 Die erste Lieferung des von Manfred Hellmann, Gottfried Schramm und Klaus Zernack sowie später auch von Stefan Plaggenborg herausgegebenen sechsbändigen Handbuchs der Geschichte Russlands erschien im Oktober 1976, die letzte 2004. 38 Vgl. dazu Oskar Anweiler: GARMISCH 80 – Bilanz und Ausblick. In: Osteuropa 31 (1981), S. 91– 98, und Marianna Butenschön: GARMISCH 80 – am Rande notiert. In: Ebd., S. 109–127.

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diesen Zwang. [S. 5:] Es wäre sehr wünschenswert, wenn der Makedonien betreffende, sehr umfangreiche FB bald und ohne einschneidende Kürzungen veröffentlicht werden könnte. 39 Das Gegenstück im russischen Bereich, die Historiographie der moldauische Sowjetrepublik mußte leider infolge der Planmodifizierung unbearbeitet bleiben. Diesen Punkt abschließend sei noch auf den hohen bibliographischen Informationswert aller vorliegenden FB verwiesen.

3. Einzelbemerkungen a) Organisatorische Erfahrungen. Auf die Kommunikationsschwierigkeiten und den mit ihnen verbundenen Zeitaufwand wurde schon hingewiesen. Er ist gewiß für ein kleines Fach mit beschränkten, aber weit verstreuten personellen Ressourcen charakteristisch. Wünschenswert wäre ein fester institutioneller Kern, aber das ist in der gegebenen Situation utopisch. Die außeruniversitären Osteuropa-Institute sind interdisziplinär angelegt, ihre historischen Abteilungen sind personell und materiell zwar etwas besser ausgestattet als ein durchschnittlicher Universitäts-Lehrstuhl, aber in der Regel durch Daueraufgaben wie die Redaktion von Publikationen gebunden. Es ist hier nicht der Ort, die Problematik von Projektforschung im Bereich der Geisteswissenschaften zu erörtern. Für das Forschungsgebiet Osteuropa ist für den einzelnen bei lokal sehr unterschiedlichen, nirgends ausreichenden Bibliotheksbeständen die Materialbeschaffung schwierig. Hilfsleistungen der größeren Instituts- und Seminarbibliotheken konnten diese Schwierigkeiten reduzieren, aber den vorliegenden Forschungsberichten ist deutlich anzumerken, daß sie nur deshalb erfolgreich abgeschlossen werden konnten, weil längere Studienaufenthalte der Bearbeiter in dem Land, dessen Historiographie sie nun zu analysieren hatten, vorangegangen waren. Bei einer zeitgeschichtlichen Fragestellung fällt nicht nur die Kenntnis von Büchern und Zeitschriften sondern vor allem auch die Vertrautheit mit Land und Leuten fördernd ins Gewicht. Soweit Förderung innerhalb der Bundesrepublik im Bereich des Faches Osteuropäische Geschichte für den einzelnen Bearbeiter eines FB möglich war, ist sie stets in dankenswerter Solidarität erfolgt. b) Internationale Kooperation und internationales Echo. Daß und warum im FP auf Beteiligung von Ausländern in größerem Ausmaß verzichtet wurde, ist schon in anderem Zusammenhang kurz angedeutet worden (s. S. 2). Die beiden mit abgeschlossenen FB beteiligten Ausländer [S. 6:] (ein Schweizer 40 und ein Österreicher 41) ergaben sich aus der im Fach seit jeher üblichen Kooperation 39 Diese Hoffnung ging 1983 aufgrund eines zusätzlichen Druckkostenzuschusses der Stiftung Volkswagenwerk in Erfüllung. 40 Gemeint ist der Zürcher (und heute Wiener) Russlandhistoriker Andreas Kappeler. 41 Gemeint ist der Wiener Rumänienhistoriker Manfred Stoy.

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mit den deutschsprachigen Alpenländern. Von weit größerem Interesse dürfte etwas anderes sein: Schon im Vorstadium der konkreten Planung des FP hatte das Buch der amerikanischen Historikerin Nancy W. Heer „Politics and History in the Soviet Union“ (Cambridge, Mass. 1971) eine anregende Rolle gespielt. Es hat allerdings, was der Titel nicht erkennen läßt, nur die sowjetische Parteigeschichtsschreibung zum Gegenstand. Als die deutschen Osteuropahistoriker im Juni 1976 zu ihrer schon erwähnten Fachtagung zusammentraten, 42 war ihnen noch nicht bekannt, daß im April 1975 eine „invitational conference“ ihrer amerikanischen Kollegen über dasselbe Thema, allerdings beschränkt auf die sowjetische Historiographie, stattgefunden hatte. Die Referate dieser Konferenz erschienen erst 1977 (Windows of the Russian Past. Essays on Soviet Historiography since Stalin 43), also in demselben Jahr wie das Protokoll der Tagung in Bad Wiessee. Die Überraschung über das gleichzeitig aktivierte Interesse an einer offenbar hier wie dort als aktuell empfundenen Fragestellung war beiderseits eine freudige und kam in ausführlichen gegenseitigen Rezensionen der Konferenzpublikationen zum Ausdruck. Beide Rezensionen sind im Abstand von nur drei Heften in den „Jahrbüchern für Geschichte Osteuropas“, die ja eine amerikanische Teilredaktion haben und in beiden Sprachen publizieren, erschienen (Bd. 26/1978, S. 577–580, G. Stökl 44; Bd. 27/1979, S. 387–388 S. H. Baron 45). Eine weitere Frucht dieser deutsch-amerikanischen Interessengemeinschaft war eine thematisch einschlägige Sitzung (Leitung S. H. Baron) in der Sektion Geschichte (Vorbereitung G. Stökl) des 2. Weltkongresses für Sowjet- und Osteuropastudien in Garmisch 1980. 46 Rückblickend lässt sich geradezu – als wäre sie geplant gewesen – eine sinnvolle Ergänzung in den beiderseitigen Bemühungen um die Fragestelung des FP erkennen: War die amerikanische Konferenz von 1975 ausschließlich auf Rußland und die Sowjetunion bezogen, so erfolgte in der deutschen Fachtagung die Erweiterung auf Polen und die Tschechoslowakei, und mit dem Südosteuropa-Schwerpunkt der bisher realisierten Teile des FP ist die größte noch bestehende Lücke geschlossen. Daß die aus verschiedenen Anlässen in sehr verschiedener Form und Ausführlichkeit geleisteten Beiträge zur Beantwortung der großen Frage nach dem Verhältnis von Politik und Geschichte in Osteuropa insgesamt nur eine sehr vorläufiges Gesamtbild

42 Stökl (Hrsg.): Die Interdependenz. 43 Baron, Heer (Eds): Windows on the Russian Past. 44 Günther Stökl: Rezension zu Baron, Heer (Hrsg.): Windows on the Russian Past. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 26 (1978), S. 577–580. 45 Samuel H. Baron: Rezension zu Stökl (Hrsg.): Die Interdependenz. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 27 (1979), S. 387 f. 46 Günther Stökl vertrat im fünfköpfigen Planungsausschuss des vom International Committee for Soviet and East European Studies und der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde gemeinsam ausgerichteten Zweiten Weltkongress für Sowjet- und Osteuropastudien das „Fachgebiet Geschichte“ und Samuel H. Baron leitete eine „Fachsitzung“ zum Thema „Periodisierungsprobleme in der Historiographie Osteuropas“. Vgl. Oskar Anweiler: Kongreß für Sowjet- und Osteuropastudien in Garmisch 1980. In: Osteuropa 28 (1978), S. 381–384, hier S. 383, und o. A.]: Zweiter Weltkongreß für Sowjet- und Osteuropastudien, Garmisch-Partenkirchen, 30. September bis 4. Oktober 1980. In: Osteuropa 30 (1980), S. 179–186, hier S. 180.

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ergeben, versteht sich von selbst. Ein Grund ist jedoch gelegt und es ist zu hoffen, daß die Diskussion weitergeht. [S. 7:] c) Projektforschung und akademische Laufbahn. Aus der Teilnahme am FP und angeregt durch dessen Thematik haben sich unmittelbar weder Dissertationen noch Habilitationsschriften ergeben. Das Verhältnis war vielmehr umgekehrt: Dort, wo bei der Erarbeitung von Dissertationen und Habilitationsschriften bereits die erforderlichen Kenntnisse erworben worden waren, mußten die Mitarbeiter gesucht und konnten sie auch gewonnen werden. Der Verlauf des FP hat gezeigt, daß für die Übernahme von Projektforschung das Stadium der eben abgeschlossenen oder vor dem Abschluß stehenden Promotion relativ günstig ist, die bevorstehende Habilitation dagegen hemmend wirkt. Wie weit diese Erfahrung zu verallgemeinern ist, sei dahingestellt. Daß sich etablierte Kollegen nur bei den noch ausstehenden FB finden, hat seinen Grund ausschließlich in nicht vorhersehbaren Zufällen. /G. Stökl/ [S. 8:]

Abgeschlossene Forschungsberichte des Forschungsprojekts „Die Interdependenz von Historiographie und Politik in Osteuropa“

Bearbeiter

Abgabe

Thema

Umfang

Publikationsort

Dr. Peter Heumos 17. 8. 1977

Geschichtswissenschaft und Politik in der Tschechoslowakei. Entwicklungstrends der zeitgeschichtlichen Forschung nach 1945

36 S.

Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 26 (1978) 541–576

Dr. Albrecht Martiny

8. 8. 1978

Das Verhältnis von Politik 35 S. und Geschichtsschreibung in der Historiographie der sowjetischen Nationalitäten seit den sechziger Jahren

Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 27 (1979) 238–272

Dr. HansJoachim Hoppe

4. 3. 1980

Politik und Geschichtswissenschaft in Bulgarien 1968–1978

44 S.

Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 28 (1980) 243–286

Die Historiographie der nichtrussischen Völker der RFSFR in den siebziger Jahren

27 S.

Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 29 (1981) 53–79

Doz. Dr. Andreas 20. 11. 1980 Kappeler (Zürich)

„Die Interdependenz von Historiographie und Politik in Osteuropa“

405

Dr. Holger Fischer

7. 5. 1981

Politik und Geschichtswissenschaft in Ungarn. Die ungarische Geschichte von 1918 bis zur Gegenwart in der Historiographie seit 1956

179 S.

= Untersuchungen zur Gegenwartskunde Südosteuropas, Bd. 19, München 1982. Kurzfassung in: SüdostEuropa. Zeitschrift für Gegenwartsforschung 31 (1982) 316–330

Wolfgang Uwe Friedrich

13. 7. 1981

Die bulgarische Geschichtswissenschaft im Spannungsverhältnis zwischen ideologischem Anspruch und historischer Realität. Die Geschichtsschreibung der Befreiungsbewegung und der Anfänge des Nationalstaates

23 S.

Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 29 (1981) 412–435

Dr. Peter Danylow

29. 7. 1981

Die Entwicklung der albanischen Historiographie – Interdependenz von Politik und Geschichtswissenschaft*

80 S. (Ms)

Dr. Manfred Stoy 8. 9. 1981

Politik und Geschichtswissenschaft in Rumänien 1965–1980. Die Historiographie über den Zeitraum von der Gründung der Fürstentümer Moldau und Walachei bis 1859**

61 S. (Ms)

[S. 9:] Dr. Klaus P. Beer

19. 10. 1981

Die Interdependenz von Geschichtswissenschaft und Politik in Rumänien von 1945 bis 1980. Die Historiographie über den Zeitraum von 1918 bis 1945***

49 S. (Ms)

Stefan Troebst

3. 3. 1982

Die bulgarischjugoslawische Kontroverse um Makedonien 1967–1981. Ein Forschungsbericht zur Interdependenz von Politik und Historiographie in Osteuropa****

497 S. (Ms)

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406

Historiographica

Dr. Peter Heumos 23. 4. 1982

Historiographie und politischer Wandel im Sozialismus. Tschechoslowakische Forschungen zum 19. und frühen 20. Jahrhundert 1950–1975*****

74 S. (Ms)

Dr. Wolfgang Kessler

28. 6. 1982

Die Geschichte der Völker Jugoslawiens im 19. Jahrhundert im Umfeld von Politik und Geschichtsschreibung 1960–1980******

39 S. (Ms)

Dr. Gerhard Seewann

29. 6. 1982

Geschichtswissenschaft und Politik in Ungarn 1950–1980. Die Historiographie zu Mittelalter und Neuzeit*******

111 S. (Ms)

Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 30 (1982), H. 4, im Druck

Südost-Forschungen 1982 (im Druck)

*

„Der Beitrag ist nicht gedruckt worden, weil mein Interesse sich verlagert hatte“ (Auskunft von Dr. Peter Danylow, Geschäftsführer des Ost- und Mitteleuropavereins Hamburg, vom 8. Dezember 2008).

**

Manfred Stoy: Politik und Geschichtswissenschaft in Rumänien 1965–1980. Die Historiographie über den Zeitraum von der Gründung der Fürstentümer Moldau und Walachei bis 1859. In: Südost-Forschungen 41 (1982), S. 219–259.

***

Klaus P. Beer: Die Interdependenz von Geschichtswissenschaft und Politik in Rumänien von 1945 bis 1980. Die Historiographie über den Zeitraum von 1918 bis 1945. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 32 (1984), S. 241–274.

****

Troebst: Die bulgarisch-jugoslawische Kontroverse um Makedonien. Eine Mitte der 1980er-Jahre von Slobodanka Popovska im Auftrag des Staatssicherheitsdienstes der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien „für den Dienstgebrauch“ angefertigte Übersetzung ins Makedonische ist 1997 in der Redaktion der beiden makedonischen Historiker Ivan Katardžiev und Novica Veljanovski als Buch erschienen: Stefan Trebst [Troebst]: Bugarsko-jugoslovenskata kontroverza za Makedonija 1967–1982. Skopje 1997.

*****

Peter Heumos: Geschichtswissenschaft und Politik in der Tschechoslowakei. Forschungen zum 19. und frühen 20. Jahrhundert in den Jahren 1950–1975. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 30 (1982), S. 575–601.

******

Das Manuskript „ist seinerzeit nicht veröffentlicht worden, weil mich einige kroatische Kollegen im Hinblick auf den ihnen attestierten ‚Nationalismus‘ gebeten hatten, davon abzusehen und eine allzu starke Abstrahierung zu wenig aussagekräftig gewesen wäre“ (Auskunft von Dr. Wolfgang Kessler, Direktor der Martin-Opitz-Bibliothek Herne, vom 10. Dezember 2008).

*******

Gerhard Seewann: Geschichtswissenschaft und Politik in Ungarn 1950–1980. Die Historiographie zu Mittelalter und Neuzeit. In: Südost-Forschungen 41 (1982), S. 261–323.

Macedonian Historiography on the Holocaust in Macedonia under Bulgarian Occupation [2014] At the end of the interwar period, 7,762 Jews were living on the territory of today’s Republic of Macedonia. In late March 1943, 7,136 of them were rounded up and interned by Bulgarian police and deported by train from Skopje to the German extermination camp of Treblinka in occupied Poland where most of them were killed instantly. After the war, in what since 1944 was the People’s Republic of Macedonia within the Democratic Federative Republic of Yugoslavia only 200 Jews were left. 1 In this presentation I will look at how the industrial annihilation of the Jews of Macedonia is reflected in Macedonian historiography. I add that by “Macedonia” I mean Vardar Macedonia, here in particular the part occupied in 1941 and in 1942 annexed by Bulgaria until 1944. And by “Macedonian historiography” I have in mind research results published in Skopje. In the following, I concentrate on the historiography of the Communist period, that is, the years up to 1991, when the Socialist Republic of Macedonia was a constituent part of the Socialist Federative Republic of Yugoslavia. In general, it can be said that up to the mid-1980s, historians in Skopje – with very few exceptions – neglected the Holocaust completely. To cite a prominent example: The authoritative three-volume Istorija na makedonskiot narod (“History of the Macedonian People”) of 1969, the first overall history published in Skopje, leaves it at a single sentence: [. . . ] the Jews in Macedonia, in contrast to the Jews who lived in Bulgaria, were handed over to the Germans and have been deported from Macedonia on 11 March 1943, so that they would suffer the fate of their co-nationals [sonarodnici] of the territories occupied by Fascist Germany. 2

And that was it. (It is telling that here not the Macedonians, but Jews in other parts of Europe are labeled as ‘co-nationals’ of the Jews from Macedonia.) Yet, even biographic publications on the small number – less than one hundred – of Macedonian Jews who fought in the ranks of the communist Tito partisans against Bulgarian occupation forces and the Wehrmacht avoided any reference to the Holocaust. This goes, for example, for the biography of Estrea Ovadia, a Jewess from Bitola proclaimed in 1953 “National Heroine of Yugoslavia”. She had joined the partisans under the nom

1

2

Quoted after Case, Holly: The Combined Legacies of the ‘Jewish Question’ and the ‘Macedonian Question’. In: Bringing the Dark Past to Light: The Reception of the Holocaust in Postcommunist Europe. Edited and with an Introduction by John-Paul Himka and Joanna Beata Michlic (Lincoln, NE: University of Nebraska Press, 2013), 352–376. Institut za nacionalna istorija (ed.): Istorija na makedonskiot narod. Vol. 3: Periodot me´gu dvete svetski vojni i Narodnata Republika (1918–1945) (Skopje: NIP “Nova Makedonija”, 1969), 287.

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Historiographica

de guerre of “Mara” and was killed in August 1945 at the age of 22 in a skirmish with Bulgarian troops on Mount Kajmakˇcalan on the border to Greece. 3 In the late 1940s and in the 1950s, at a time when bratstvo i edinstvo – Brotherhood and Unity – of the ‘peoples of Yugoslavia’ was on the agenda, ethnic differentiation below the level of the titular nations of the six republics seemed to be not appropriate. To the contrary, on the federal level supra-ethnic jugoslavenstvo – Yugoslavism – was the slogan of the day, and on the republican level the top-priority project was building a new and unified Macedonian nation. In historiography things did not change even when in 1961 the leading Skopje daily Nova Makedonija published a series of articles on “The Tragedy of the Jews from Macedonia” which gave a rather detailed picture on the events of 1943. 4 Already in March 1958, a monument to the deported and exterminated Jews of Bitola – “our fellow citizens, victims of fascist terror” as the inscription read – had been erected. Despite the fact that in official politics of history and culture or remembrance the Holocaust from now on figured in Yugoslav Macedonia, in publications by Macedonian historians it did not. Jews still were mentioned exclusively as communist resistant fighters against the ‘fascist’ Bulgarian and German occupiers and as ardent supporters of what was called ‘the national liberation of Macedonia’ from foreign oppressors, that is Bulgarians, Germans, Albanians and Italians as well as Serbs although for understandable reasons the latter were not explicitly mentioned. The one and for a long time only exception to this rule was a lengthy article entitled “The Tragedy of the Jews from Macedonia” by the historian Aleksandar Matkovski, the leading expert on the Ottoman period at the Institute of National History in Skopje (and most probably also the author of the series in Nova Makedonija mentioned above). Matkovski’s article was published in 1958 in the institute’s official periodical Glasnik (“Review”) 5, and in 1959 an English translation followed under the title The Destruction of Macedonian Jewry in 1943 in the internationally influential yearbook of Yad VaShem in Israel. 6 In 1962 then, Matkovski enlarged his article and turned it into a brochure, entitled again The Tragedy of the Jews from Macedonia. 7 However, that was it for another twenty years. With Matkovski’s publications, the chapter Holocaust was opened and at the same time closed again in Macedonian historiography. Among the possible reasons for this two are quite obvious: First, in 1967 Yugoslavia cut off diplomatic relations with Israel due to the Six-Day War, and

3 4 5 6 7

Ristevski, Stojan: Estrea Ovadia-Mara. Životni put i revolucionarno delo (Gornji Milanovac: Deˇcje novine, 1978). Tragedijata na Evreite od Makedonija. In: Nova Makedonija, March 1961. Matkovski, Aleksandar: Tragedijata na Evreite od Makedonija. In: Glasnik na Institutot za nacionalna istorija 2 (1958), no. 2, 5–55. Matkovski, Aleksandar: The destruction of Macedonian Jewry in 1943. In: Yad VaShem Studies 3 (1959), 203–258. Matkovski, Aleksandar: Tragedijata na Evreite od Makedonija (Skopje: Kultura, 1962 = Istorijskopopularna biblioteka. Edicija Od istorijata na NOB).

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second, at the same time neighboring Bulgaria stepped up its campaign for the inclusion of the history of Macedonia into Bulgarian national history. Party officials, media and historians in Sofia argued that up to 1945 no such thing like a Macedonian nation had existed. In this perspective, the inhabitants of Macedonia had been predominantly Bulgarians and the history of the region from late antiquity to the end of World War II was considered to be a constituent part of the history of Bulgaria and the Bulgarian nation. 8 As a result, all historians in Skopje were ordered to counter Bulgarian claims on which ever epoch and period of Macedonian history. 9 It is, of course, true that the deportation of Macedonian Jewry by Bulgarian occupation authorities in World War II would have been a welcome leverage for attacking Sofia, but due to Tito’s pro-Arab stand the Jewish card could not be played by Skopje. Although a dozen or so of detailed studies on various aspects of the Bulgarian occupation of Vardar Macedonia in World War II were published by the Institute of National History there particularly in the 1970s, the Holocaust and Bulgarian anti-Jewish measures in annexed Vardar Macedonia were generally not covered. It was once more Matkovski, the historian of the Ottoman centuries, who in 1983 broke the ban by publishing the first Macedonian-language “History of the Jews in Macedonia” (Istorija na evreite vo Makedonija) which contained an update of his 1962 brochure in the form of a 100-pages chapter on “The Deportation and Liquidation of the Jews of Macedonia”. 10 Here, Matkovski made ample use of Yugoslav as well as Bulgarian archival material available in Yugoslavia. He described in detail the diplomatic, political and legal preparation of the deportation of the Jews of Bitola, Skopje, Štip and other towns by Bulgarian authorities and their German allies, the personnel and the organization of the concentration camp for Jews in the Tobacco Factory in Skopje and the three transports by Bulgarian State Railway to Treblinka. Matkovski put a special focus on the liquidation of Jewish property – a topic until rather recently neglected not only by Bulgarian but also by German historiography on the Holocaust. The first systematic account on “the microeconomy of governmental anti-Semitism in Bulgaria” was published by Rumen Avramov in 2012 11 whereas Götz Aly’s book on how ‘ordinary’ Germans profited from the property of deported

8

Troebst, Stefan: Die bulgarisch-jugoslawische Kontroverse um Makedonien 1967–1982 (München: R. Oldenbourg Verlag, 1983); Macedonian translation: Bugarsko-jugoslovenskata kontroverza za Makedonija 1967–1982 (Skopje: Institut za nacionalna istorija, 1997). 9 Ibid. 10 Matkovski, Aleksandar: Istorija na evreite vo Makedonija (Skopje: Makedonska revija, 1983). See also idem: A History of the Jews of Macedonia (Skopje: Macedonian Review Editions, 1982). Already in 1980, another Skopje historian had published a short overview on “the deportation of the Jews in 1943 and some other events” based on Matkovski’s previous publications. See Budimovski, Dragoljub K.: Deportacija na Evreite 1943 godina i nekoi drugi nastani. In: Apostolski, Mihailo et al., eds: Skopje vo NOV 1943–1945. Materijali od nauˇcniot sober (Skopje : Gradski odbor na SZB od NOV, 1980), 722. 11 Avramov, Rumen: “Spasenie” i padenie. Mikroikonomika na dîržavnija antisemitizîm v Bîlgarija 1940–1944 g. (Sofiia: Universitetsko izdatelstvo “Sv. Kliment Okhridski”, 2012).

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Jews appeared in 2005. 12 According to Matkovski, in the case of occupied Vardar Macedonia it were almost exclusively Bulgarian military and civilian authorities as well as the German School of Skopje which took over Jewish property, not, however, the Macedonian neighbors of the deported. If that indeed was so, it would come as a surprise having in mind the behavior of Germans, Bulgarians and others towards Jewish property. Please allow me a personal reminiscence on Aleksandar Matkovski with whom I had quite a number of cups of coffee in the cafeteria of the Institute of National History in Skopje while being a graduate exchange student there in 1979 and 1980. The cafeteria, called bife, was the ideal place for muabet – a casual conversation – in an otherwise rather stiff and official surrounding. Matkovski, a white-haired gentleman born in 1922 in the wealthy mountain town of Kruševo, struck me as being decidedly urban, at least in the company of his predominantly rural colleagues. ‘Matko’, as everyone called him, was well-mannered and polyglot, and thus was the only historian of the institute who regularly published in West German, Soviet, Turkish, US and other periodicals. Being an Ottomanist and Orientalist trained in Zagreb, Belgrade, Kairo, Bagdad and Istanbul, the range of his scholarly interest was much wider than the 500 years of what was called ‘the Turkish yoke’, encompassing not only the Holocaust, but also topics like the Skopje earthquake of 1963, early modern Macedonian mercenaries in Ukraine, the history of tobacco in the Balkans, Macedonian heraldry, and, in particular, foreign travelogues on Macedonia. I do not know whether his interest in Jewish history and the Shoah stems from a personal experience and at the time I missed the opportunity to ask him. I know that as a young man during the Bulgarian occupation he was a political prisoner and later on joined the Tito partisans. Maybe that explains something. He died in 1992. There is an interesting portray of Aleksandar Matkovski’s life and œuvre on Youtube. 13 Matkovski’s update of 1983 with its focus on the economic deprivation of the Macedonian Jews and the looting of their property then served as a blueprint for a document edition of 1,500 pages published in 1986 by the Macedonian Academy of Sciences and Arts entitled The Jews in Macedonia during the Second World War Two (1941–1945) (Evreite vo Makedonija vo Vtorata svetska vojna, 1941–1945). Co-edi´ tors were the historian Vera Veskovik-Vangeli of Cyrill and Methodius University Skopje and the ethnographer and former Jewish partisan Žamila Kolonomos, whose nom de guerre was “Andžela”. 14

12 Aly, Götz: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus (Frankfurt /M.: S. Fischer 2005). 13 Ristoska, Roza: Aleksandar Matkovski 1922–1992. Tetovo 2001 (URL http://www.youtube. com/watch?v=XHoACA4fTZc, accessed: 06-10-2016). For biographic data on Matkovski see Georgievski, Taško (ed.): Spomenica posvetena na poˇcinatiot Aleksandar Matkovski, redoven cˇ len na Makedonskata Akademija na Naukite i Umetnostite (Skopje: MANU, 1992). 14 See an oral history interview with Žamila Kolonomos taken by Jaša Almuli in Skopje on 24 November 1994 on the website of the US Holocaust Memorial Museum (URL http://collections.ushmm.org/ search/catalog/irn512718, accessed: 06-10-2016).

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The archival basis of this voluminous collection are documents from Macedonian and other Yugoslav archives as well as document copies from Bulgarian, German and other European archives in the possession of Yugoslav archives. The editors did not have direct access to archives in neighboring Bulgaria. 15 While the 732 documents of this collection all are in Macedonian, there is a detailed English-language introduction 16 as well as equally detailed document summaries in English. 17 The publication of the collection was funded by the Fund “11 March 1943” donated by Alfred Melamed, a former citizen of Skopje then residing in Vienna 18, and Simon Wiesenthal contributed an epilogue in Macedonian, English and German. 19 Of particular importance is a 250-pages annex with Lists of persons of Jewish origin in the concentration camp Skopje (Listen Personen jüdischer Herkunft aus dem Konzentrationslager Skopje) containing the personal data of 7,148 Jews from Bitola, Gegvelija, Kumanovo, Skopje, Štip, Strumica, Veles and Udovo in Vardar Macedonia as well as from Preševo, Momˇcilgrad and Vranje in Bulgarian-occupied former Serbia who were deported via Skopje to Treblinka. The lists contain first names, patronyms and surnames, exact addresses and birthdates as well as information on sex, kinship relations, profession and citizenship. 20 The lists have been compiled by Bulgarian and German authorities in the temporary concentration camp in Skopje in March 1943 and were handed over to the administration of the Treblinka extermination camp once the transports from Macedonia had arrived there. Whereas Matkovski, while mentioning Jewish participation in the resistance movement against the occupiers, had spoken (in Macedonian) of “the tragedy of the Jews from Macedonia” and in English even of “the destruction of Macedonia Jewry”, the title of the 1986 collection, “The Jews in Macedonia during the Second World War”, was much less explicit, even neutral – and this despite the fact that the overwhelming number of the documents published here related to anti-Semitic legislation, to pressure on Jews by provincial and municipal authorities, to the looting ´ 15 Redakcija: Voved. In: Kolonomos, Žamila, Vera Veskovik-Vangeli, eds: Evreite vo Makedonija vo Vtorata svetska vojna (1941–1945). Zbornik na dokumenti /The Jews in Macedonia during the Second World War (1941–1945). Collection of Documents (Skopje: Makedonska akademija na naukite i umetnostite, 1986), vol. 1, 5–6, here 5. In 2013, two Bulgarian scholars have published a voluminous collection of documents from Bulgarian archives on the deportation of the Jews from Vardar Macedonia, Western Thrace and Pirot by Bulgarian authorities: Danova, Nadja, Rumen Avramovs, eds.: Deportiraneto na evreite ot Vardarska Makedonija, Belomorska Trakija i Pirot. Mart 1943 g. Dokumenti ot bîlgarskite archivi. 2 vols., Sofija: Obedineni izdateli, 2013. ´ 16 Introduction. In: Kolonomos /Veskovik-Vangeli, eds.: Evreite vo Makedonija, vol. 1, 73–132. Whereas for the English-language introduction no author’s name is given, for the Macedonian version of the introduction Žamila Kolonomos’ name is given (Kolonomos, Žamila: Predgovor, ibid., vol. 1, 7–70, here 70). 17 Brief summaries of the documents arranged in chronological order, ibid., vol. 1, 235–333. 18 Ibid., vol. 1, 4. 19 Ibid., vol. 2, 1423–1426. 20 Spisok na evreite, deportirani od Makedonija vo koncentracioniot logor Treblinka vo Polska /Register of the Jews deported from Macedonia to the Treblinka concentration camp in Poland. Ibid., vol. 2, 1161–1422.

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of Jewish property and to the deportations to the Treblinka death camp in particular. How is that to be explained? The answer is given in two chapters of the introduction entitled The Macedonian Jews in the National Liberation Movement and the Revolution and The first Partisan Detachments and the Jewish Participation in the National Liberation War. 21 The ‘dark history’ of the extermination of the Macedonian Jews is here in a way counterbalanced by the ‘bright history’ of anti-Fascist resistance of Jewish partisans, men and, in particular, women, like Estreja Ovadia mentioned above, Stela Kamhi, Adela Faradži and, last but not least co-editor Žamila Kolonomos herself. The collection of 1986 was a milestone for Macedonian historiography and could have been one for international Holocaust studies, had the document section not been exclusively in Macedonian, a language hardly accessible even to those non-Balkan scholars who read Polish or Russian. While studying in Skopje in Tito’s time and later on working there for the Conference on Security and Co-operation in Europe (nowadays OSCE) in the early 1990s, I did not have the possibility to meet Žamila Kolonomos personally, but I have watched the video of her long and impressive life history interview available on the website of ´ the US Holocaust Memorial Center. I was, however, acquainted with Vera VeskovikVangeli, a liberal Marxist, ardent feminist and erudite Germanophile of Montenegrin origin and married to a Vlach who owned the largest collection of Meissen porcelain in Macedonia, if not in all of Yugoslavia. Vera’s role model was Rosa Luxemburg, the Polish-Jewish-German women’s lib activist and socialist theoretician to whom she dedicated a number of articles. After 1991, the year the Republic of Macedonia rather involuntarily became an independent state, public interest in the Jewish history of the region and in the Holocaust rose considerably, and this both inside and outside Macedonia. Accordingly, a number of foreign publications on the topic were published in Macedonian and other languages, among them Aaron Assas book Macedonia and the Jewish People in 1994, which was first published in Jerusalem in 1972 in Hebrew 22 and then in 1994 in Skopje in English, Jennie Lebel’s Tide and Wreck. History of the Jews of Vardar Macedonia, first published in Israel in 1986 in Hebrew and in 2013 in Macedonian translation 23, and several others. 24 Of particular importance was the creation of the Holocaust Fund of the Jews from Macedonia and the founding of the Memorial Centre of the Holocaust of the Jews from Macedonia, both of which developed an in-

21 Ibid., vol. 1, 96–118. 22 Assa, Aaron: Macedonia and the Jewish People (Skopje: Macedonian Review, 1994). 23 Lebl, Ženi: Plima i slom. Iz istorije Jevreja Vardarske Makedonije (Gornji Milanovac: Deˇcje novine, 1990); English translation: Lebel, Jennie: Tide and Wreck. History of the Jews of Vardar Macedonia (Bergenfield, NJ: Avotaynu, 2008); Macedonian translation: Lebl, Ženi: Plima i slom. Od istorijata na evreite vo Vardarska Makedonija (Skopje: Fond na holokaustot na evreite od Makedonija, 2013). 24 Birri-Tomovska, Kristina: Jews of Yugoslavia 1918–1941. A History of Macedonian Sephards (Bruxelles etc.: Peter Lang 2012).

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tense publication activity. 25 As a consequence, in today’s Republic of Macedonia the Holocaust is not only an important field of research for historians, but also a prominent feature in governmental politics of history and public culture of remembrance. Scholars of the communist era like Aleksandar Matkovski, Žamila Kolonomos and ´ Vera Veskovik-Vangeli have contributed considerably to this favourable situation.

25 See, pars pro toto, Alboher, Šlomo: Evreite of Monastir. Makedonija. Životot i vremeto vo koe živeeše nekogašnata evrejska zaednica vo Monastir (Skopje: Fond na Holokaustot na evreite od Makedonija, 2010); and Berenbaum, Michael: The Jews in Macedonia during WW II (Skopje: Holocaust Fund of the Jews from Macedonia, n. d.).

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„Südosteuropäische Geschichte als gesonderte Disziplin“ Mathias Bernath in Berlin und München

[2012] Mit Südosteuropäische Geschichte als gesonderte Disziplin betitelt war Mathias Bernaths Habilitationsvortrag an der Freien Universität Berlin im Jahr 1969, der vier Jahre später im Druck erschien. 1 Er begründete damit die historische Teildisziplin Südosteuropäische Geschichte – neben und gleichwertig mit dem bereits seit der Jahrhundertwende etablierten Teilfach Osteuropäische Geschichte. Und in seiner Privatdozenten-Antrittsvorlesung von 1970 über die Makedonische Frage in der europäischen Politik 2 sowie in seiner 1972 veröffentlichten Habilitationsschrift über Habsburg und die Anfänge der rumänischen Nationsbildung 3 machte er deutlich, dass er den Schwerpunkt der jungen Subdisziplin in der komparativen Nationalismusforschung sah. Gleichsam folgerichtig wurde er auf die neue FU-Professur für Südosteuropäische Geschichte berufen – damals die einzige im deutschen Sprachraum. Heute ist das Fach Südosteuropäische Geschichte an etlichen bundesdeutschen und österreichischen Universitäten vertreten, in Regensburg ebenso wie in Graz und Bochum, aber auch in Leipzig, Wien, München und neuerdings auch an der Humboldt-Universität zu Berlin. Bernath, ein aus Sagul ¸ /Segenthau im Temeschwarer Banat gebürtiger Abkömmling lothringischer Kolonisten, der 1939 am Arader Lyzeum „Moise Nicoar˘a“ Abitur gemacht hatte, war erstmals 1942, im Alter von 22 Jahren, zum Studium der Geschichte und Romanistik nach Berlin gekommen. 4 An der Auslandswissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin studierte er unter anderem bei dem Südosteuropahistoriker, ungarndeutschen Volkstumsaktivisten und SS-Untersturmführer Fritz Valjavec. Nach Kriegsende in einem Lager für französische DPs 1945 in Südwürttemberg gestrandet, blieb Bernath in der französischen Besatzungszone und nahm ein Studium der Geschichte an der Universität Mainz auf. Nach einer Promotion dort 1951 über Hessen-Nassau unter Napoleon und einer Berufstätigkeit für Agence France Press in der jungen Bundeshauptstadt Bonn holte der

1 2 3 4

Bernath, Mathias: Südosteuropäische Geschichte als gesonderte Disziplin. In: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 20 (1973), S. 135–144. Bernath, Mathias: Das mazedonische Problem in der Sicht der komparativen Nationalismusforschung. In: Südost-Forschungen 29 (1970), S. 237–248. Leiden 1972. S. auch die rumänische Übersetzung von Marionela Wolf: Ders.: Habsburgii s¸i începuturile form˘arii nat¸iunii române. Cluj 1994. Kopf, Nicolaus, Markwart Schäfer: Segenthau. Heimatchronik einer ehemals deutschen Gemeinde im rumänischen Banat. Augsburg, 2. Aufl. 2012, S. 210.

„Südosteuropäische Geschichte als gesonderte Disziplin“

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Berliner Altrusslandhistoriker Werner Philipp Bernath 1953 an die neue FU, wo er sich zunächst als Forschungsstipendiat, dann als Assistent der Geschichte des DonauBalkan-Raums zuwandte. Der frühe Tod des mittlerweile Münchner Universalhistorikers und Direktors des Südost-Instituts Valjavec war dann der Grund dafür, dass der Berliner Assistent, obwohl nicht habilitiert, 1960 zu Valjavec’ Nachfolger auf dem Direktorensessel ernannt wurde. Der damalige bayerische Kultusminister Theodor Maunz gab Bernath bei seinem Dienstantritt die nicht eben aufmunternde Einschätzung mit, er befände sich nunmehr auf einem „Schleudersitz“. Während Bernath jedoch sein Direktorenamt in Sichtweite der Bavariastatue auf der Theresienwiese lange 30 Jahre hindurch unangefochten innehatte, erwies sich vielmehr der Münchner Ministersessel für das CSU-Mitglied Maunz als Schleudersitz. Denn 1964 wurden Veröffentlichungen aus seiner Feder publik, die er als Juraprofessor sowie NSdAP- und SA-Mitglied verfasst hatte und in denen er vehement für „völkische Ordnung“ und „Führerprinzip“ eingetreten war. Die Berufung auf die Berliner Professur bedeutete für Bernath den Beginn eines anstrengenden preußisch-bayerischen Spagats, versah er doch beide Funktionen – Institutsdirektor in der Isarvorstadt und Professor in Dahlem – von 1971 bis 1986 parallel. Seine Leidenschaft galt dabei ganz offenkundig der Berliner Lehre, welcher er einen Südosteuropa-Begriff zugrunde legte, der Habsburg und Venedig, Russland und das Osmanische Reich sowie die gesamte mittelmeerische Welt einschloss. Neben seinen vier Muttersprachen Deutsch, Rumänisch, Ungarisch und Serbisch kamen ihm dabei seine perfekten Französisch- und ausgezeichneten Russisch-Kentnisse zugute – zusätzlich zur Beherrschung des Italienischen und Englischen. In München hingegen lag sein Arbeitsschwerpunkt in der Erstellung von Grundlagen- und Nachschlagewerken. Zu nennen sind exemplarisch das Biographische Lexikon zur Geschichte Südosteuropas 5 und die Historische Bücherkunde Südosteuropas 6 – zwei Kompendien, deren wissenschaftlicher Wert noch auf Jahrzehnte hinaus messbar sein wird. 1977 gelang es Bernath, das Auswärtige Amt zusätzlich zum Freistaat Bayern und zum Bundesministerium des Inneren als institutionellen Förderer zu gewinnen, was die Gründung der gegenwartsbezogenen Fachzeitschrift Südosteuropa ermöglichte, die bis heute ein Flaggschiff des Instituts ist. Und ihm ist die Öffnung der hauseigenen Buchreihe Südosteuropäische Arbeiten für neuen Themen und Autoren zu verdanken – Namen wie Barbara Jelavich, Ekrem Bey Vlora und Armin Heinen stechen hier heraus. Zwar lautet der Untertitel dieses Beitrags „Mathias Bernath in Berlin und München“, aber dennoch sei erwähnt, dass er auch in Leipzig zumindest im Geiste lebhaft präsent ist. Dies trifft nicht nur auf die Gegenwart zu, sondern auch auf die Vergangenheit, hier auf diejenige der versunkenen DDR und der mittlerweile rückbenannten Karl-Marx-Universität Leipzig, meiner eigenen Alma Mater. So verband

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4 Bde. München 1974–1981. 2 Bde. in 4 Halbbden. München 1978–2002.

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Bernath ein kollegiales Verhältnis, wenn nicht gar eine post-kakanische Geistesverwandtschaft mit dem aus Slowenien stammenden Leipziger Balkan-, Revolutionsund Globalhistoriker Walter Markov. Bernath hatte den wegen „Titoismus“ aus der SED ausgeschlossenen Markov 1960 beim XI. Internationalen Historikerkongress in Stockholm kennen gelernt, mit ihm öffentlich die Klingen gekreuzt und seiner eigenen Auskunft nach „Geschmack an ihm gefunden.“ 7 Bernath referierte bei dieser Gelegenheit über die Politik Josephs II. gegenüber den Siebenbürger Rumänen, während Markov in Stockholm eine Parallele zwischen Josephinismus und Jakobinertum zog. Auf Markov ging auch eine Passage im ausführlichen Kongressbericht im Ostberliner Jahrbuch für die Geschichte der UdSSR und der volksdemokratischen Länder Europas zurück, in dem Bernath als Urheber einer „auf Grund von bisher nicht ausgewerteten Materialien des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs sachlich gut fundierte[n] Spezialuntersuchung“ ein „distinguiertes und sprachkundiges Auftreten“ attestiert wurde. 8 Das ist insofern bemerkenswert, als das Südost-Institut, dessen frisch gebackener Direktor Bernath ja mittlerweile war, in DDR-Perspektive als eine der „Kommandozentralen der imperialistischen westdeutschen Ostforschung“ galt. Zugleich korreliert dies mit dem undogmatischen und weltoffenen Wissenschaftsverständnis des exkommunizierten Altkommunisten Markov, der gleich Bernath die Gabe der Ironie besaß. 9 Als etwa Walter Ulbricht Markov 1959 bedeutete, ein Gesuch seinerseits auf Wiederaufnahme in die SED würde positiv beschieden werden, ließ der ehemalige KPD-Aktivist, der im Dritten Reich zehn Jahre im Zuchthaus abgesessen hatte, sarkastisch wissen: „Dazu fühle ich mich nicht reif genug.“ Im unsicheren Umgang der DDR mit dem Polyhistor und Wissenschaftsadministrator Bernath steckt zugleich ein Verweis darauf, dass dieser sich ideologischen Kategorien entzog und weiterhin entzieht, und dies, gleich Markov, sowohl durch Ironie als auch – in den Worten von Bernaths Lehrer Werner Philipp – durch einen „Schutzschleier josephinischer Konventionalität“. 10. So kann es nur auf den ersten Blick erstaunen, wenn sich in einem von einer Studentengruppe moskautreuer Observanz an der damals hoch ideologisierten Westberliner FU im Wintersemester 1978/1979 zusammengestellten Professoren-Pandämonium mit dem Titel Rotes Heft.

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Troebst, Stefan: Walter Markov und die Erforschung der „Balkandiplomatie“. In: Middell, Matthias (Hrsg.): „Lust am Krimi“. Beiträge zu Werk und Wirkung Walter Markovs. Leipzig 2011, S. 49–63, hier S. 51. 8 Anderle, Alfred, Erich Donnert, Eberhard Wolfgramm: Die Geschichte Osteuropas auf dem XI. Internationalen Historikerkongreß in Stockholm. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 5 (1961), S. 249–273, hier S. 257. 9 Vgl. dazu bereits Markovs Leipziger Habilitationsschrift aus dem Jahr 1947: Markov, Walter: Grundzüge der Balkandiplomatie. Ein Beitrag zur Geschichte der Abhängigkeitsverhältnisse. Mit einer Einführung von Günther Schödl und einem Dokumentenanhang herausgegeben von Fritz Klein und Irene Markov. Leipzig 1999; sowie Ders.: Kognak und Königsmörder. Historisch-literarische Miniaturen. Herausgegeben und eingeleitet von Manfred Kossok. Berlin (Ost) 1979; und Ders.: Wie viele Leben lebt der Mensch. Eine Autobiographie aus dem Nachlaß. Leipzig 2009. 10 Philipp, Werner: Mathias Bernath zum siebzigsten Geburtstag. In: Nehring, Karl (Hrsg.): SüdostInstitut München 1930–1990. München 1990, S. 9–11, hier S. 10.

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Kommentare zu den Lehrveranstaltungen und Dozentenporträts die folgende Charakterisierung befindet: „Herr Bernath ist ein vielwissender, dabei charmanter älterer Herr, mitten aus dem Balkan stammend, welcher innerhalb der Seminare strengstens auf Qualität der Beiträge und Referate achtet. Allsemesterlich sammelt sich ein buntes Trüppchen um ihn, die[sic] er freundlich empfängt, unterrichtet, manchmal auch begeistert und bestens in seinen Sprechstunden berät.“ 11 Diese Bewertung kontrastiert hart mit den gestrengen studentischen Urteilen des Roten Heftes zu den meisten anderen Hochschullehren, die als „Charaktermasken“, „Reaktionäre“ und „Lakaien des Monopolkapitals“ abqualifiziert wurden. Ich selbst hatte übrigens das Privileg, damals ebenfalls bei Bernath zu studieren und kann gleichsam jedes Wort unterstreichen – auch wenn ich es, wohl gemerkt, nicht selbst geschrieben habe. Dazu hatte die Bernath’sche Ideologieresistenz bereits zu stark abgefärbt. Der post-habsburgische Grandseigneur Mathias Bernath, der 2013 in Dießen am Ammersee verstorben ist, war eine Verkörperung des multikulturellen Südosteuropa in München und Berlin und zugleich eine beindruckende Wissenschaftlerpersönlichkeit. Er hat Südosteuropa als historisches Forschungsfeld abgesteckt und etabliert und er hat die bundesdeutsche Südosteuropaforschung nach Südosteuropa hin geöffnet. Das ist, um ein Bernath’sches Understatement zu gebrauchen, nicht wenig.

11 Hier zitiert nach Troebst, Stefan: Mathias Bernath zum 70. Geburtstag. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 38 (1990), S. 630–632, hier S. 630.

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Ethnien und Nationalismen in Osteuropa Drei Vorüberlegungen zur vergleichenden historischen Forschung

[1994] Die Themen Ethnizität, nationale Identität und Nationalismus haben seit der politischen „Wende“ in Osteuropa und besonders seit Ausbruch des Krieges im ehemaligen Jugoslawien publizistisch wie wissenschaftlich Hochkonjunktur. Im Zuge dessen hat nicht nur die historische Osteuropaforschung an ihre in die siebziger Jahre reichenden Anfänge vergleichender Untersuchung nationaler Bewegungen angeknüpft; vielmehr haben sich auch solche Wissenschaftsdisziplinen, die bislang keine osteuropabezogene Regionalforschung ausgebildet haben, diese europäische Teilregion zum Forschungsgegenstand genommen. Dies gilt für Ethnologie und Anthropologie in eben solchem Umfang wie für Soziologie und Politikwissenschaft. Die relative Jugendlichkeit des sozialwissenschaftlichen Interesses an Osteuropa ist einer der Gründe dafür, dass Forschungsaktivitäten häufig unkoordiniert mit denjenigen der Nachbardisziplinen stattfinden, was die gelegentliche Neuerfindung des Rades – vor allem im Bereich der Begriffsbildung – mit sich bringt. Die folgenden Überlegungen, welche einschlägigen Forschungslücken existieren und welche Strategien zu ihrer Auffüllung am zweckdienlichsten sind, werden daher um Bemerkungen dazu ergänzt, wie zu einer Bündelung und Fokussierung des Forschungspotentials auf vordringlich zu leistende Aufgaben zu gelangen ist. Die hier gemachten Vorschläge gehen zurück auf eine für die Universität für Bildungswissenschaften Klagenfurt erstellte Forschungsprogrammskizze, welche – so die holprig formulierte Vorgabe – als „Konzept über Nationalitätenforschung in Ostmitteleuropa“ dienen soll.

Terminologische Vorbemerkung Wie der hier gewählte Titel zeigt, wird im Folgenden von der genannten vorgegebenen Begrifflichkeit Nationalitätenforschung in Ostmitteleuropa abgewichen, erscheint doch eine Beschränkung auf Nationalitäten als Untersuchungsobjekte und auf Ostmitteleuropa als Untersuchungsregion weder inhaltlich adäquat noch terminologisch treffend: (1) Die beiden landläufigsten unter den zahlreichen Konnotationen des Begriffes Nationalität – nämlich „Staatsangehörigkeit“ sowie „ein von der Titularnation ethnisch gesonderter (und dieser in der Regel zahlenmäßig unterlegener) Teil des Staatsvolkes“ – sind juristischer Art und schon aus diesem Grund für die Beschreibung historischer, ethnischer, politischer und sozialer Sachverhalte nur bedingt geeignet. Hier soll deshalb die terminologisch schillernde Nationalität entsprechend ihren drei

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Bedeutungsebenen Eigenschaft, Identität und Status in die präziser zu fassenden und von dem Ethnologen und Soziologen Georg Elwert handlich definierten Begriffe Ethnie, Nationalismus und Nation aufgefächert werden: Ethnien sind ‚familienübergreifende und familienerfassende Gruppen, die sich selbst eine (u. U. auch exklusive) kollektive Identität zusprechen. Dabei sind die Zuschreibungskriterien, die die Außengrenze setzen, wandelbar.‘ Nationalismen sind demnach ‚soziale Bewegungen mit komrnunikativen und ideologischen Bezügen oder auch mit ökonomisch relevanten Gemeinsamkeiten, welche sich auf die Herstellung, Festigung oder Verteidigung einer eigenen Nation nach gemeinsamer Definition beziehen.‘ Nationen schließlich sind ‚lockere oder festgefügte soziale Organisation[en], welche überzeitlichen Charakter beanspruch[en], von der Mehrheit ihrer Glieder als (imaginierte) Gemeinschaft behandelt [werden] und sich auf einen gemeinsamen Staatsapparat bezieh[en].‘ 1

Mit Blick auf Osteuropa ist zusätzlich zur Ethnie zweckmäßigerweise die von dieser häufig ununterscheidbare Kategorie der sozioprofessionellen Gruppe transhumanter, nomadischer oder sonstig ambulanter Prägung („Walachen“, Karakatschanen, Yürüken u. a.) einzuführen. 2 Dabei ist zu betonen, dass entgegen einer zentralen Aussage fast aller Nationalismen (und einiger Nationalismusforscher 3) keine zwangsläufig „historische“ Entwicklungslinie von der Ethnie zur Nation führt. Die kollektive Identität von Ethnien schlägt im Verlauf von Prozessen, die in der Regel unter dem Begriff Modernisierung subsumiert werden, keineswegs „gesetzmäßig“ in Nationalismus um, welcher dann vor oder nach Errichtung eines Nationalstaats auf der Grundlage der eigenen Ethnie die Nation „baut“. Dies belegt die augenfällige Tatsache, dass es auch in Europa wesentlich mehr Ethnien als Nationalismen bzw. Nationen gibt. Diejenigen der im 20. Jahrhundert zusätzlich aufgetretenen Nationalismen, die sich aus der Palette möglicher Bezugsrahmen von Wir-Gruppen wie Sprache, Religion, Rasse, Abstammung, Geschlecht, Region, Geschichte, Kultur, Territorium, Staat u. a. den der Ethnie gewählt haben – etwa Mährer, Makedonier oder Gagausen –, haben diese Relation dabei nur geringfügig verschoben. Insofern sind Ethnien zwar – um

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Vgl. Georg Elwert, Nationalismus und Ethnizität. Über die Bildung von Wir-Gruppen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 11 (1989), S. 410–464, hier S. 447, 446 und 449. – Aus der umfangreichen terminologischen Literatur vgl. stellvertretend Walker Connor, A Nation Is a Nation, Is a State, Is an Ethnic Group, Is a . . . , in: Ethnic and Racial Studies 1 (1978), S. 377–400; J. Lador-Lederer, Der Irrgarten der Ethnoterminologie, in: Europa Ethnica 43 (1986), H. 2, S. 64–67; Joachim Stark, Völker, Ethnien, Minderheiten. Bemerkungen zu Erkenntnistheorie und Terminologie der Minderheitenforschung, in: Jahrbuch für ostdeutsche Volkskunde 31 (1988), S. 1–53; und Burkhard Ganzer, Zur Bestimmung des Begriffs der ethnischen Gruppe, in: Sociologus 40 (1990), S. 3– 18. Vgl. Holm Sundhaussen, Nationsbildung und Nationalismus im Donau-Balkan-Raum, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 48 (1993), S. 233–258, hier S. 236–238. So etwa Anthony D. Smith, The Ethnic Origins of Nations, Oxford u. Cambridge /Mass. 1986, oder John A. Armstrong, Nations before Nationalism, Chapel Hill 1982.

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mit E. Gellner zu sprechen – Resonanzböden für „potentielle Nationalismen“, können also durchaus als „Dornröschen-Nationen“ gelten 4, aber bei weitem nicht alle von ihnen werden von national argumentierenden und agitierenden Eliten wie Intelligenz, Bürgertum oder Klerus wachgeküsst. (2) Die Abweichungen der verschiedenen wissenschaftlichen, politischen, literarischen und sonstigen Ostmitteleuropa-Konzeptionen 5 hinsichtlich der geographischen Umrisse der solcherart bezeichneten Region erscheinen zu groß, um hier zu einem tragfähigen Kompromiss zu gelangen. Während die politikwissenschaftlich wie geistesgeschichtlich orientierte Forschung den katholisch-protestantisch geprägten baltisch-westslawisch-magyarischen Raum mit Blick auf Herrschaftsformen und Kulturmorphologie zwar mehrheitlich von den ostkirchlich und /oder islamisch bestimmten Nachbarregionen mit ihren cäsaropapistischen Traditionen separiert wissen will 6, zieht die moderne Staatensystemgeschichtsschreibung deutlich andere Regionalgrenzen, indem sie ein zwischen den verschiedenen deutschen und russischen Reichsbildungen befindliches „Zwischen-“ bzw. „Ostmittel- und Südosteuropa“ ausmacht. Von einer binären Struktur Europas – Alt-Europa/„Neu-Europa“ (= Osteuropa) – schließlich gehen sowohl Mediävisten und Siedlungshistoriker 7 als auch die Wirtschaftshistoriker aus, wobei letztere die Einheitlichkeit der von ihr identifizierten Strukturmerkmale im gesamten Raum zwischen Elbe und Ural hervorhe-

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Ernest Gellner, Nationalismus und Moderne, Berlin 1991, S. 69 und 76 (engl. Nations and Nationalism, Oxford 1983). Vgl. aus der umfangreichen neueren sozialwissenschaftlichen Literatur zum Problemkreis Ethnie – Nationalismus – Nation vor allem Benedikt Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1983 (dt. Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt am Main u. New York 1988), und Shmuel Noah Eisenstadt, Die Konstruktion nationaler Identitäten in vergleichender Perspektive, in: Bernhard Giesen, Hrsg., Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, Frankfurt am Main 1991, S. 21–38. Aus historischer Sicht vgl. den Überblick bei Miroslav Hroch, How Much Does Nation Formation Depend on Nationalism?, in: East European Politics and Society 4 (1990), S. 101–115, sowie die Untersuchung von Eric J. Hobsbawm, Nations and Nationalism since 1780. Programme, Myth, Reality, Cambridge 1990 (dt. Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt am Main u. New York 1991). Vgl. Michael G. Müller, Ostmitteleuropa: Begriff – Traditionen – Strukturen. Ms. eines am 25. April 1990 im Rahmen der Ringvorlesung „Nationalstaat und Demokratie in Ostmitteleuropa zwischen den Weltkriegen“ an der Freien Universität Berlin gehaltenen Vortrages sowie zuletzt Rudolf Jaworski, Ostmitteleuropa. Zur Tauglichkeit und Akzeptanz eines historischen Hilfsbegriffs, in: Winfried Eberhard u. a., Hrsg., Westmitteleuropa und Ostmitteleuropa. Regionen und Strukturen im Vergleich. Festschrift für Ferdinand Seibt zum 65. Geburtstag, München 1992, S. 37–45. Vgl. zuletzt Iver B. Neumann, Russia as Central Europe’s Constitution Other, in; East European Politics and Society 7 (1993), H. 2, S. 349–369; Klaus von Beyme, Demokratisierung in der Sowjetunion, in; Herfried Münkler, Hrsg., Die Chancen der Freiheit. Grundprobleme der Demokratie, München 1992, S. 169–188, hier S. 186; sowie die deutsche Ausgabe von Jen˝o Sz˝ucs, Die drei historischen Regionen Europas, Frankfurt am Main 1990 (ungar. Vázlat Európa három történeti régiójáról, Budapest 1983). So zuletzt unter Berufung auf Oskar Halecki Lothar Dralle, Die Deutschen in Ostmittel und Osteuropa. Ein Jahrtausend europäischer Geschichte, Darmstadt 1991, S. 3 ff.

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ben. 8 Wenn nun auch in unserem Zusammenhang ein solch integraler OsteuropaBegriff verwendet wird, der die drei bzw. – nach K. Zernack – vier 9 historischen Teilregionen Nordosteuropa, (Groß-, Klein- und Weiß-)Russland, Ostmitteleuropa – bzw. eigentlich: westliches Osteuropa – sowie Südosteuropa umspannt, dann zum einen, weil sich die Merkmale und die neuere Entwicklung der ethnischen Strukturlandschaft Osteuropa deutlich von derjenigen Westeuropas unterscheiden, und zum anderen, weil der hohe Grad an ethnostruktureller Homogenität ganz Osteuropas, seine charakteristische „Einheit in der Vielfalt“ (Mathias Bernath), kaum Ansatzpunkte zu weiteren Unterteilungen bietet. Denn hinsichtlich seiner ethnischen Struktur war und ist Osteuropa in seiner Gesamtheit von den übrigen Teilen Europas ebenso klar unterscheidbar wie in sich einheitlich. Einige Indikatoren dafür seien summarisch genannt: starker bis hoher Anteil fremdethnischer Bevölkerung in sämtlichen Nationalstaaten der Region; etliche große, ethnisch stark fragmentierte Gebiete ohne absolute ethnische Mehrheit; zahlreiche Gebiete mit starker Verzahnung von ethnischer und geoprofessioneller Struktur (ethnische Gebirgsnischen, ethnische Stadt-Land-Grenze u. a.); nur wenige ethnisch weitgehend homogene Gebiete; chronisch hohe ethnopolitische Spannung und, dadurch bedingt, allgemein niedriger Assimilationsgrad. Aber selbst relativ spezifische ethnische Strukturmerkmale, wie etwa die Ubiquität von nicht-europäischen, etwa finno-ugrisch-, türkisch- oder armenischsprachigen Ethnien, lassen sich in annähernd gleicher Intensität für die gesamte Region ausmachen, wie natürlich der ebenfalls auffallend gleichmäßige Anteil der historisch allochthonen Ethnien (Juden, Roma und aus

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So Holm Sundhaussen, Der Wandel in der osteuropäischen Agrarverfassung während der frühen Neuzeit. Ein Beitrag zur Divergenz der Entwicklungswege von Ost- und Westeuropa, in: SüdostForschungen 49 (1990), S. 15-5.6, hier S. 16. – Auch in semantisch-systematischer Hinsicht ist der Begriff Ostmitteleuropa aus der Sicht einer historischen Osteuropaforschung problematisch, ergibt doch seine Auflösung ein „östliches Mitteleuropa“, das demnach kein Teil Osteuropas, wie etwa das benachbarte Südosteuropa, wäre. „Westliches Osteuropa“ wäre also bei aller Ungewohnheit adäquater. – Die neuerdings vor allem von Politikwissenschaftlern und Soziologen mit Blick auf die derzeitigen Nationalstaaten Polen, Böhmen-Mähren, Slowakei und Ungarn verwendete Bezeichnung Mittelosteuropa schließlich ist gänzlich irreführend, befindet sich das geographische Zentrum eines solchen „mittleren Osteuropas“ ungefähr im Raum Moskau. So auch Klaus Zernack, Der historische Begriff „Ostdeutschland“ und die deutsche Landesgeschichte, in: Nordost.-Archiv, N. F. 1 (1992), S. 157–173, hier S. 157. Mangelnde komplementäre Folgerichtigkeit in der Begriffsbildung bemängelt mit Hinweis auf die definitorische Unausgefülltheit „Westmitteleuropas“ auch Jaworski, Ostmitteleuropa, S. 39. Vgl. Klaus Zernack, Osteuropa. Eine Einführung in seine Geschichte. München 1977, hier Kap. III: Die vier großen Regionen der osteuropäischen Geschichte, S. 31–66. Im Unterschied zur traditionellen Dreiteilung in Südosteuropa, Ostmitteleuropa und Russland macht K. Zernack in Anlehnung an Paul Johansen auch das mittelalterlich-frühneuzeitliche Nordosteuropa als historische Teilregion Osteuropas aus – eine Modifizierung, deren Periodisierung angesichts der jüngsten Verschiebungen der Staatsgrenzen des Ostseeraumes möglicherweise selbst bald zu modifizieren sein wird. Von einer „Wiederkehr der europäischen Region Nordosteuropa in die politische Realität“ hat K. Zernack daher unlängst selbst gesprochen, vgl. ders., Nordosteuropa. Skizzen und Beiträge zu einer Geschichte der Ostseeländer, Lüneburg 1993, S. 8.

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dem deutschen Sprachraum Stammende) als gleichsam typisch osteuropäisch gelten kann. Schließlich sind auch die beiden, durch den Holocaust an den osteuropäischen Juden und die damit in indirektem Zusammenhang stehende Vertreibung der Deutschsprachigen aufgerissenen Lücken in der ethnischen Struktur ganz Osteuropas ein Charakteristikum – ein im Wortsinne „negatives“ Strukturmerkmal. Wie bereits angedeutet, gibt, es zwar eine enge Verbindung, aber keine kausalhierarchische Entwicklungslinie von der Ethnie mittels Nationalismus zur Nation. Daher muss osteuropabezogene historische Nationalismusforschung nicht nur die Geschichte der prä-nationalen, sondern auch der nicht-nationalen Komponenten der ethnischen Struktur ihrer Untersuchungsregion einbeziehen. Nur so entgeht sie der von den Nationalgeschichtsschreibungen aufgestellten Kausalitätsfalle, und nur so wird zu erklären sein, warum bestimmte Ethnien als Bezugsrahmen von Nationalismen fungieren, andere hingegen nicht. Ein sinnvolles Forschungsprogramm muss daher beide Ebenen – ethnische Struktur und Nationalismenvielfalt – erfassen und zueinander in Beziehung setzen.

Forschung zur ethnischen Struktur Osteuropas Ethnien, die über keine ausgeprägte Elite verfügen oder deren Eliten keine nationale Programmatik entwickelt oder aber damit kein Echo gefunden haben, werden von der historischen Osteuropaforschung noch immer bereitwillig Disziplinen wie Ethnologie, Anthropologie, Islamwissenschaft und den Philologien „überlassen“. Ausnahmen wie etliche politisch und vor allem militärisch instrumentalisierte Ethnien – z. B. Székler, Tataren oder Tscherkessen im Habsburger bzw. im Osmanischen Reich –, bestätigen dabei die Regel. Das gerade von der Geschichtswissenschaft als ebenso unhistorisch wie diskriminierend abgelehnte Engels’sche Diktum von den „geschichtslosen Völkern“ hat die Forschungsstrategien der Osteuropa-Historiographie unterschwellig stark bestimmt. Die Geschichte Osteuropas wird noch immer auf weiten Strecken als Summe der osteuropäischen Nationalgeschichten aufgefasst – ein Zustand, den zu konservieren die überaus produktiven osteuropäischen Nationalhistoriographien naheliegenderweise nach Kräften trachten. Die angesichts der gerade Osteuropa entscheidend prägenden Rolle der Nationalismen durchaus berechtigte, in ihrer Ausschließlichkeit aber problematische Fixierung historischer Osteuropaforschung auf nationale Bewegungen und Nationalstaaten hat überdies dazu geführt, dass die schiefe nationale Optik gängigen Begriffen wie „Minderheitenfrage“ oder „Nationalitätenproblem“ gleichsam implementiert ist: In dieser Perspektive sind es nicht die von außen an einzelne Ethnien gerichteten Ansprüche, die diese zu konfliktträchtigen Reaktionen veranlassen, sondern es ist umgekehrt die bloße Existenz von devianten „Minderheiten“, die „Fragen“ aufwirft, allein das Vorhandensein von „Nationalitäten“ bereitet aus solch nationalstaatlicher Sicht nichts als „Probleme“. Das Ideal des auch und gerade ethnisch homogenen Nationalstaats ist zwar im politischen Bereich dominierend und normsetzend, doch hat Geschichtsschreibung in

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nicht-nationaler Funktion hier zwischen Ursache und Wirkung deutlich zu unterscheiden. Damit sei indes nicht einer reinen ethnohistoire das Wort geredet, wie sie mit beträchtlichem Erfolg etwa von der außereuropäischen Ethnologie betrieben wird. Hauptziel muss auch bei der Beschäftigung mit der Geschichte von Ethnien die Klärung der Frage nach den Voraussetzungen für das Entstehen von Nationalismus sein. Die Defizite liegen also in der historischen Erforschung zum einen derjenigen Ethnien in Osteuropa, deren Verhältnis zu den jeweiligen Zentralgewalten wenig Reibung aufweist bzw. die keinen Nationalismus hervorgebracht haben (darunter so große wie die tutejszie im Polesien der Zwischenkriegszeit oder gegenwärtig die Pomaken im griechisch-bulgarischen Grenzgebiet), zum anderen von solchen, die zwar politische Parrtizipationsforderungen stellen, aber von keiner der existierenden Nationalgeschichtsschreibungen für sich reklamiert werden (Roma Osteuropas als klassisches Beispiel, Torbeschen in Makedonien, Pomaken in den Rhodopen, sich als „Ägypter“ deklarierende albanisierte Roma in Serbien, Kosovo und Makedonien u. a.). Gleichfalls stark vernachlässigt ist das Feld der „steckengebliebenen“ Nationalismen, d. h. nationaler Mobilisierungsversuche von Eliten, die unter ihrer ethnischen Zielgruppe kaum oder gar keine Resonanz gefunden haben (etwa im Fall der „makedonistischen“ Richtung innerhalb der bulgarischen Nationalbewegung im osmanischen Makedonien). Ein weiterer „weißer Fleck“ sind schließlich Prozesse ethnischer und nationaler Assimilation und Dissimilation, also das (Ver-)Schwinden und das Wiederentstehen bzw. die Neubildung von Ethnien und Nationen. Dabei sind Assimilationsprozesse in der Regel leichter zu erklären als ihr Gegenteil, doch auch hier gibt es signifikante Unterschiede. Dass sich etwa ethnische und sozioprofessionelle Gruppen, denen Transhumanz oder andere Formen ökonomisch bedingter Ambulanz nicht nur als Erwerbsquelle, sondern auch als wichtigstes Merkmal ihrer Identität dienten, um so rascher assimilieren, je eher ihr Beruf samt der darauf basierenden Lebensweise obsolet wird, liegt auf der Hand; schwieriger zu beantworten sind aber Fragen wie die nach den Gründen für Erfolg und Misserfolg staatlich-innovativer nation-buildings. Wie die politische „Wende“ in Osteuropa als diesbezügliche Probe aufs Exempel gezeigt hat, weisen etwa die beiden südslawischen „Verwaltungsnationen“ der Makedonier und der Bosnier einen beträchtlichen Kohärenzgrad auf, wohingegen die Schaffung einer von der serbischen separierten montenegrinischen Nation abgebrochen wurde und auch die Kohärenz der unter ganz ähnlichen Rahmenbedingungen in Angriff genommenen sowjetischen Kreation der „Moldawier“ heute bereits wieder in Frage steht. Aus den genannten Forschungsungleichgewichten ergibt sich als erster von drei forschungsstrategischen Schritten Forschungsziel 1: Grundlagenforschung zur ethnischen Struktur Osteuropas. Die Notwendigkeit einer sowohl synchron wie diachron angelegten und zumindest übersichtartigen Bestandsaufnahme der ethnischen Struktur Osteuropas und ihrer Wandlungsprozesse in der Neuzeit, etwa in Form eines in Zusammenarbeit mit den osteuropabezogenen Teilen einschlägiger Nachbardisziplinen wie Religionswissenschaft, Geographie, Anthropologie, Ethnologie, verschiedenen philologischen Fachrichtungen, Soziologie und Politikwissenschaft u. a. zu erstellenden en-

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zyklopädisch-bibliographischen Handbuchs, ist augenfällig. 10 Dabei sind zum einen innerethnisch-chronologische Vertikalen anzulegen, zum anderen interethnisch-horizontale Momentaufnahmen anzufertigen. Besonderes Gewicht ist auf die Ausfüllung eines Rasters potentiell nationalismusrelevanter Daten zu einzelnen Ethnien – so zur demographischen, sozialen, professionellen, linguistischen, konfessionellen sowie Siedlungs- und Bildungsstruktur einschließlich der jeweiligen rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen – zu legen, um eine Ausgangs- und Vergleichsbasis für schwerpunktorientierte komparative osteuropabezogene Nationalismusforschung herzustellen. Ist hinsichtlich der ethnischen Struktur des neuzeitlichen Osteuropa bislang Versäumtes durch historische Grundlagenforschung in Form des Ermittelns, Zusammentragens und Aufarbeitens elementarer Daten und Fakten erst noch nachzuholen, so fällt die Bilanz osteuropabezogener Nationalismusforschung günstiger aus. Der Tatsache, dass das nationale Prinzip, jene zur Deckung zu bringende Trias von „Volk“, „Land“ und „Geschichte“, die Entwicklung „Europas und der Welt in den letzten beiden Jahrhunderten stärker bestimmt hat als die Ideen der Freiheit und parlamentarischen Demokratie oder die des Kommunismus“ (Peter Alter 11), hat die historische Osteuropaforschung in größerem Umfang und über einen längeren Zeitraum hinweg als andere historische Regionaldisziplinen Rechnung getragen. Dies belegen die große Zahl an Fallstudien zu einzelnen Minderheitsnationalismen der Region sowie eine ganze Reihe von Untersuchungen, in denen unter Zugrundelegung von Miroslav Hrochs Forschungsparadigma der „kleinen Nationen“ mehrere – in der Regel zwei – Nationalismen der Region miteinander verglichen werden. 12 In diesem Forschungsfeld ist anders als bei der Untersuchung der ethnischen Struktur Osteuropas eine Beschränkung auf ausgewählte Fälle unabdingbar, da die Zahl der für systematisch-synthetisierende Darstellungen erforderlichen kompatiblen Fallstudienergebnisse noch niedrig ist, provisorische Synopsen also nur geringen Erkenntniswert besäßen. Wie sich gezeigt hat, bietet dabei die lokale bzw. Mikroebene häufig interessantere Aufschlüsse als Makrostudien. 13 Allerdings ist die bisherige osteuropabezogene komparative Nationalismusforschung insofern einseitig, als sie

10 Einen ersten (und nach Möglichkeit zu übertreffenden) Orientierungsmaßstab können dabei neuere teils deskriptiv, teils statistisch ausgerichtete handbuchartige Veröffentlichungen zur ethnischen Struktur Schwedens, der Sowjetunion sowie der Welt bieten: Ingvar Svanberg u. Harald RunbIom, Hrsg., Det mångkulturella Sverige. En handbok om etniska grupper och minoriteter [Das mehrkulturelle Schweden. Ein Handbuch der ethnischen Gruppen und Minoritäten]. Stockholm 1988; Rudolf A. Mark, Die Völker der ehemaligen Sowjetunion. Ein Lexikon (1989), Opladen 1993; und Frauke Kraas-Schneider, Bevölkerungsgruppen und Minoritäten. Handbuch der ethnischen, sprachlichen und religiösen Bevölkerungsgruppen der Welt, Stuttgart 1989. 11 Peter Alter, Nationalismus, Frankfurt am Main 1985, S. 10. 12 Vgl. zur neuesten Variante dieses Paradigmas Miroslav Hroch, Social Preconditions of National Revival in Europe: A Comparative Analysis of the Social Composition of Patriotic Groups among the Smaller European Nations, Cambridge 1985. 13 So etwa Andreas Moritsch, Hrsg., Vom Ethnos zur Nationalität. Der nationale Differenzierungsprozeß am Beispiel ausgewählter Orte in Kärnten und im Burgenland, Wien u. München 1991.

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sich lediglich voll ausgebildete Nationalismen zu Vergleichsobjekten nimmt, also auf die Einbeziehung national nicht oder nur partiell affizierter Kontrollgruppen wie Ethnien verzichtet. Um einer Beantwortung der genannten zentralen erkenntnisleitenden Fragen nach den Gründen von Versuch, Erfolg und Misserfolg nationaler Mobilisierung und Funktionalisierung ethnischer Zielgruppen durch ihre Eliten näherzukommen, lautet daher Forschungsziel 2: Vergleichende empirisch-historische Erforschung nationaler Eliten samt ethnischen Zielgruppen auf der einen und präbzw, nicht-nationaler Ethnien auf der anderen Seite. Trotz der oben aufgeführten Beispiele lohnender Vergleichsobjekte wird deren Auswahl einschließlich der Festlegung spezifischer Fragestellungen sinnvollerweise erst nach Erreichen erster Etappen des Forschungsziels 1 zu treffen sein. Nicht zuletzt die krisenhafte Entwicklung im postkommunistischen Osteuropa, deren konfliktträchtigste Ausprägungen bezeichnenderweise nicht unmittelbar aus den Prozessen simultaner Transformation des wirtschaftlichen und des politischen Systems resultieren, sondern vielmehr in ursächlichem Zusammenhang mit der ethnischen Struktur und der Nationalismenvielfalt der Region stehen, lässt es geboten erscheinen, auch und gerade aus der Sicht der historischen Osteuropaforschung Überlegungen zum Politikbezug vergleichender osteuropabezogener Nationalismusforschung: Der Faktor Gewalt als Forschungslücke anzustellen. Mit dem Ende der bipolaren Weltordnung ist auch die – historisch betrachtet – kurze Phase zu Ende gegangen, in der die zahlreichen violenten osteuropäischen Nationalismen expansionistischer, ethnopuristischer, irredentistischer und separatistischer Orientierung im Zeichen von Ost-West-Gegensatz und pax tito(-sino)-sovietica zwangsweise ruhiggestellt waren. Die Epochenwende von 1989 hat dabei mitnichten nur – so ein gängiges Bild aktueller Osteuropapublizistik – den imaginären „Gefrierschrank der Weltgeschichte“ abgetaut, aus dem die vorrevolutionären bzw. Vorkriegsnationalismen nun gut konserviert hervorquellen; sie hat vielmehr offenkundig gemacht, dass sich die gegenwärtigen osteuropäischen Nationalismen fundamental von ihren Vorläufern unterscheiden, haben doch die Gesellschaften der Nationalstaaten und Teilrepubliken der Region eine sie grundlegend verändernde sozioökonomische Tour de force ohnegleichen hinter sich – vom Dorf in die Stadt, von der Agrarzur Industriegesellschaft. G. Elwert zufolge ist daher „der Nationalismus [. . . ] keine Barbarei der Vergangenheit, die sich in unsere Zeit hinübergerettet hat“, sondern „ein Kind der Modernisierung“, als dessen „Geburtshelfer“ eine „Warenökonomie ohne soziale Einbettung und die Massenkommunikation der Alltagsmythen“ fungieren. 14 Während national argumentierende Eliten in den Agrargesellschaften Osteuropas mit ihren rural-religiösen Wertesystemen immer nur Teile ihrer Zielgruppen mobilisieren konnten, ist der nationale Mobilisierungsgrad in den mittlerweile urbanisierten, industrialisierten und säkularisierten Gesellschaften unvergleichlich höher. Dies auch deshalb, weil diesen durch die „Wende“ auch ihr aufoktroyiertes, aber nichtsde-

14 Georg Elwert, Fassaden, Gerüchte, Gewalt. Über Nationalismus, in.: Merkur 45 (1991), S. 318–332, hier S. 330.

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stotrotz stabilisierend wirkendes vormaliges Wertesystem abhanden gekommen ist. Unter den drei großen Bezugsrahmen Religion, Klassenideologie und Nationalismus ist somit der letztere als einziger Orientierungs- und Mobilisierungsfaktor übrig geblieben – mit allen Folgen, die dies auf inneren Zustand und Außenbeziehungen von Gesellschaften und Nationalstaaten Osteuropas hat. Die politisch gefährlichste dieser Konsequenzen ist der Faktor Gewalt, der nationale Interessensdivergenzen im zwischenstaatlichen Bereich ebenso wie staateninterne ethnisch-nationale Spannungen rasch eskalieren lässt. Obwohl also nicht nur der enge Zusammenhang von Nationalismus und Gewalt, sondern gerade auch die besondere Brisanz dieser Kombination offenkundig ist, ja die Charakterisierung des Nationalismus als eine hochgradig „unfriedliche Ideologie“ (Friedrich Heckmann 15) ein Allgemeinplatz ist, hat zumal die historische Osteuropaforschung in ihrer Konzentration auf emanzipatorische Nationalbewegungen Gewalt wenn überhaupt, dann als Epiphänomen bzw. bloße Taktik und Mittel zum Zweck 16, nicht hingegen als „eigenständigen Modus der Konfliktaustragung“ (Peter Waldmann 17) und somit als fait social (Émile Durkheim 18) spezifischer, nämlich identitätsstiftender Art berücksichtigt. 19 Ein bezeichnendes Beispiel aus jüngster Zeit sind etwa die osteuropabezogenen Beiträge zu dem großangelegten internationalen Forschungsunternehmen Comparative Studies on Governments and Non-dominant Ethnic Groups in Europe, 1850–1940: Dessen acht Bände (von denen sechs vorliegen) behandeln den Zusammenhang zwischen europäischen Nationalismen auf der einen Seite und Faktoren, Aktionsfeldern bzw. Prozessen wie Bildungswesen, internationale Beziehungen, Urbanisierung, Elitenbildung, Religion, Sprachenstatus, parlamentarische Vertretungen und Agrarbeziehungen auf der anderen. 20 Der Faktor

15 Friedrich Heckmann, Volk, Nation, ethnische Gruppe und ethnische Minderheiten. Zu einigen Grundkategorien von Ethnizität, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 13 (1989), S. 16–31, hier S. 19. Vgl. jetzt auch ders., Ethnische Minderheiten, Volk und Nation. Soziologie inter-ethnischer Beziehungen, Stuttgart 1992, S. 44. 16 Dies trifft auch auf Untersuchungen zu, deren Titel eher das Gegenteil vermuten lässt. Vgl etwa Duncan M. Perry, The Politics of Terror. The Macedonian Liberation Movements 1893–1903, Durham / North Carolina u. London 1988. 17 Peter Waldmann, Ethnischer Radikalismus. Ursachen und Folgen gewaltsamer Minderheitenkonflikte am Beispiel des Baskenlandes, Nordirlands und Quebecs, Opladen 1989, S. 267. 18 Émile Durkheim, Les Règles de la méthode sociologique, 13. Aufl., Paris 1956, S. 3, zit. n. Waldmann, Ethnischer Radikalismus, S. 15 19 Eine interessante Ausnahme indes stellt der Aufsatz von Fikret Adanır, Heiduckentum und osmanische Herrschaft. Sozialgeschichtliche Aspekte der Diskussion um das frühneuzeitliche Räuberwesen in Südosteuropa, in; Südost-Forschungen 41 (1982), S. 43–116, dar, wo ein nationalgeschichtlich postulierter Zusammenhang von Sozialrebellenturn und nationaler Bewegung in der frühen Neuzeit überzeugend zurückgewiesen wird. – Der Faktor Gewalt als integraler Bestandteil von nationalem Heroenkult und nationaler Propaganda wird mit Blick auf Südosteuropa untersucht bei Stefan Troebst, „Macedonia heroica“. Zum Makedonier-Bild der Weimarer Republik, in: Südost-Forschungen 49 (1990), S. 293–364. 20 Bd. 1; Janusz Tomiak, Hrsg., Schooling, Educational Policy and Ethnic Identjty, Aldershot 1991; Bd. 2: Donald A. Kerr, Hrsg., Religion, State and Ethnic Groups, Aldershot 1992; Bd. 5: Paul Smith,

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Gewalt in seinen zahlreichen Erscheinungsformen wird weder für die Regierungsnoch für die Minderheitenseite thematisiert. Ganz anders geht hier etwa die mit dem Nahen Osten befasste, aber auch die auf Westeuropa ausgerichtete konfliktorientierte politikwissenschaftliche und soziologische Regionalforschung vor, die der Untersuchung des Zusammenhangs von Nationalismus und Gewalt höchste Priorität beimisst. 21 Gründe, Formen und Folgen national motivierter Violenz sind mit Blick auf die osteuropäischen Nationalismen bislang nicht systematisch untersucht worden 22, was um so auffälliger ist, als es doch gerade Nationalstaaten und nationale Bewegungen dieser Region sind, die prototypische Formen politischer Gewalt entwickelt haben – behördlich dekretierte Zwangsassimilation etwa, bilateral geregelter zwangsweiser Bevölkerungsaustausch, terroristisch agierende Befreiungsorganisationen, Ethnopurifikation durch Exterminierung etc. Arbeitshypothesen bei der Ursachenforschung könnten dabei anhand zweier augenfälliger Sachverhalte gewonnen werden: Zum einen aus dem sich zwischen der Endlichkeit des Territoriums und der, wenn nicht unendlichen, so doch aufgrund der ethnischen Diversität sehr hohen Zahl konkurrierender Nationalismen in Osteuropa immer weiter auftuenden Scherenkonflikt, zum anderen aus dem Zusammenhang zwischen der generellen Ressourcenarmut der Region und der Funktion von „Gewalt als eine[r] Notressource ressourcenschwacher gesellschaftlicher Gruppen“. 23 Bei der Behandlung der verschiedenen Gattungen von Gewalt einschließlich ihrer vielfältigen Formen wäre das Schwergewicht sinnvollerweise auf den häufigsten Typus gewaltsamer nationaler Konflikte zu legen, nämlich auf denjenigen zwischen Mehrheit und Minderheit innerhalb eines Nationalstaats. Ebenfalls zu berücksichtigen wären gewaltsame Konflikte zwischen Minderheiten Hrsg., Ethnic Croups in International Relations, Aldershot 1991; Bd. 6; Andreas Kappeler, Hrsg., The Formalion of National Elites, Aldershot 1992; Bd. 7: David Howell, Hrsg., Roots of Rural Ethnic Mobilisation, Aldershot 1993; Bd. 8: Max Engman, Hrsg., Ethnic Identity in Urban Europe, Aldershot 1992. Noch nicht erschienen sind die Bände 3 und 4: Sergij, Vilfan, Hrsg., Ethnic Groups and Language Rights, und Ceoffrey Alderman, Hrsg., Governments, Ethnic Groups and Political Representations. 21 Vgl. zu Westeuropa z. B. Waldmann, Ethnischer Radikalismus; zum Nahen Osten Thomas Scheffler, Hrsg., Ethnizität und Gewalt, Hamburg 1991; sowie übergreifend Anthony D. Smith, War and Ethnicity: The Role of Warfare in tbe Formation, Self-Images and Cohesion of Ethnic Communities, in: Ethnic and Racial Studies 4 (1981), S. 375–397. Erwähnt sei allerdings auch, dass die politikwissenschaftliche Forschung unlängst das Kunststück fertiggebracht hat, in einem Sammelband, den Herfried Münkler unter dem Titel Der Partisan. Theorie, Strategie, Gestalt 1990 in Opladen herausgegeben hat, Osteuropa im Zweiten Weltkrieg – einschließlich Jugoslawiens(!) – völlig auszublenden. Münkler hat jedoch in anderen Publikationen zu dieser Thematik Osteuropa durchaus berücksichtigt, vgl. Herfried Münkler, Guerillakrieg und Terrorismus, in: Neue politische Literatur 25 (1980), S. 299–326, sowie das Vorwort zu ders., Gewalt und Ordnung. Das Bild des Krieges im politischen Denken, Frankfurt am Main 1992, S. 7–10. 22 Vgl. aber erste Anstöße durch aktuelle Konflikte z. B. bei Dietrich Geyer, Gewalt in der postkommunistischen Welt, in: Osteuropa 43 (1993), S. 1003–1014; Hans Magnus Enzensberger, Aussichten auf den Bürgerkrieg, Frankfurt am Main 1993; Wolfgang Höpken, Geschichte und Gewalt. Geschichtsbewußtsein im jugoslawischen Konflikt, in: Internationale Schulbuchforschung 15 (1993), S. 55–73. 23 Waldmann, Ethnischer Radikalismus, S. 34.

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innerhalb eines Staates sowie die Wirkung von Staatenkriegen auf Mehrheitsnationalismen. Der Typus staatlicher Unterdrückungsgewalt wird dabei zum einen durch Formen „struktureller Gewalt“ (Johan Galtung) bzw. „institutionalisierter Gewalt“ (Peter Waldmann) verkörpert, zum anderen durch akute Maßnahmen. Die beiden Haupttypen der „Bestrebungsgewalt“ und der „Verteidigungsgewalt“ (Peter Waldmann) aufseiten der minoritären Konfliktparteien weisen eine noch breitere Palette von Formen auf, die von Sabotage und Terrorismus über den Guerillakampf bis zum bewaffneten Aufstand reichen und in Bürger- bzw. Sezessionskrieg ausmünden können. Was schließlich die Folgen betrifft, die die Anwesenheit des Faktors Gewalt für nationale Konflikte hat, so muss hier mit einer Vielzahl von ins Blickfeld geratenden und somit zu untersuchenden Ebenen und Feldern gerechnet werden. Allgemein kann davon ausgegangen werden, dass sich verstetigende und ausweitende Gewalt nationalen Konflikten dadurch eine neue Qualität verleiht, dass Polarisierungs-, Solidarisierungs-Mobilisierungs- und Radikalisierungsgrad drastisch steigen. Nicht nur der Netto-Blutzoll, sondern vor allem Gewaltakte mit hohem nationalem Symbolgehalt sorgen dabei dafür, dass sich rasch eine irreversible Kluft zwischen den Konfliktparteien und ihren Sympathisanten auftut. Nicht zuletzt um die historische Dimension bei der Suche nach Lösungsmöglichkeiten ethnischer und nationaler Konflikte in Osteutopa stärker hervortreten zu lassen, lautet Forschungsziel 3: Synchroner und diachroner Vergleich von Entstehungsbedingungen, Typen und Wirkungen violenter Nationalismen in Osteuropa (einschließlich Kontrollgruppen). Wenn hier trotz historisch bedingter Bedenken gegen die Kombination Osteuropaforschung /Politik für einen Praxisbezug der Nationalismusforschung plädiert wird, dann aus zwei Gründen: (1) Westeuropäische Osteuropapolitik spielt sich immer weniger im nationalstaatlichen Rahmen und immer mehr auf der Ebene supranationaler Organisationen ab, was den Verdacht auf ein Zusammenspiel zwischen nationalstaatlichen Egoismen und national-orientierter Forschung weitgehend hinfällig werden lässt. (2) Wie eingangs erwähnt, haben – anders als die Geisteswissenschaften und vor allem die Geschichtswissenschaft – sozialwissenschaftliche Hauptdisziplinen wie Politische Wissenschaft oder Soziologie keine osteuropabezogenen Teildisziplinen entwickelt, wie selbst ihr generelles Osteuropainteresse gering ist bzw. erst durch die jüngste Entwicklung der Region geweckt wurde. Während nun aber die osteuropabezogenen late comers ihrer größeren Praxisnähe wegen bereits etliche Konzepte zur Konfliktminderung auch und gerade in Osteuropa vorgelegt haben 24, hat

24 Vgl. mit Blick auf Osteuropa Dieter Senghaas, Europa 2000. Ein Friedensplan, Frankfurt am Main 1990; ders., Die Neugestaltung Europas. Perspektiven und Handlungsgebote, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 18/91 vom 26. April 1991, S. 11–20; Bernard von Plate, Subregionalismus. Eine Zwischenebene in einer gesamteuropäischen Ordnung, in: Europa-Archiv 46 (1991), S. 558–566; Rudolf Hilf, Regionalismus als Gegengift: Nationalitätenkonflikte und Staatenzerfall, in: Die neue Gesellschaft /Frankfurter Hefte 38 (1991), S. 890–904; Claus Offe, Capitalism by Democratic Design? Democratic Theory Facing the Triple Transition in East Central Europe, in: Social Research 58 (1991), S. 865–892, hier S. 887–888; Peter H. Nelde u. Normand Labrie, Territorialitätskonzepte

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die historische und zeitgeschichtlich orientierte Osteuropaforschung diesbezüglich kaum Vorschläge gemacht, ja selbst Analysen nur in bescheidenem Umfang vorgelegt. 25 Während die Geschichtswissenschaft sich der gusseisernen Logik des Nationalismus entliehen kann (und muss), kann dies internationale Politik nicht: Praktische Pazifizierungs- und Minderheitenschutzpolitik als Alternative zu Vertreibung und Vernichtung im Zuge von Staaten- und Bürgerkriegen in Osteuropa bedingt Eingriffe in die staatliche wie ethnische Struktur der Region. Dies wird in einer Reihe von Fällen das Verschieben von Grenzen sowie das Umsiedeln von Teilen der Wohnbevölkerung etlicher Gebiete und das Neuansiedeln von Vertriebenen und Flüchtlingen bedeuten, wie am jugoslawischen Beispiel unschwer ablesbar ist. Alternativen in Form von tragfähigen und dauerhaften Kompromisslösungen dazu wird es dabei solange nicht geben, wie das nationale Prinzip dominiert. Denn national motivierte Konflikte sind nicht nur Nullsummenkonflikte, sondern lassen sich – anders als etwa Tarifauseinandersetzungen – auch nicht ökonomisch oder politisch „übersetzen“, geschweige denn konkordanzdemokratisch lösen. Das Mittel der Sezession im weiteren Sinne, also ethnische Assimilierung, räumliche Abtrennung oder Bevölkerungstransfer, dürfte daher von einer Ultima Ratio zu einer eher alltäglichen Maßnahme werden. Wenn Samuel P. Huntington 1977 treffend bemerkt hat, „[t]he twentieth century bias against political divorce, that is, secession, is just about as strong as the nineteenth century bias against marital divorce“ 26, dann hat ihn zwar die internationale Reaktion auf den Zerfall der osteuropäischen Vielvölkerstaaten Sowjetunion, Jugoslawien und Tschechoslowakei noch bestätigt, der Vance-Owen-Teilungsplan für Bosnien 1993 aber schon nicht mehr. Ein Brechen des Tabus der Neuziehung etlicher politischer Grenzen innerhalb Osteuropas wird aber die Probleme dort mitnichten schlagartig lösen, sondern zunächst neue Fragen wie die nach dem Verlauf der neuen Gren-

als Konfliktvermeidungsstrategie, in: Gerhard Seewann, Hrsg., Minderheitenfragen in Südosteuropa, München 1992, S. 89–98; sowie allgemein das „Postskript zur Gewalteindämmung“ in der grundlegenden komparativen Studie zum Verhältnis von Nationalismus und Gewalt des Soziologen Waldmann, Ethnischer Radikalismus, S. 362–376. 25 Vgl. hierzu beispielsweise Holm Sundhaussen, Von den Schwierigkeiten des Zusammenlebens und den Problemen der Trennung. Jugoslawiens Nationalismen in historischer Perspektive, in: Journal für Geschichte (1990), H. 6, S. 32–43; Hans-Michael Miedlig, Gründe und Hintergründe der aktuellen Nationalitätenkonflikte in den jugoslawischen Ländern, in: Südosteuropa 41 (1992), S. 116–130; lmanuel Geiss, Hegemonie und Genozid. Das Serbien-Syndrom 1991/92, in: EuropaArchiv 47 (1992), S. 421–432; und Stefan Troebst, Makedonische Antworten auf die „Makedonische Frage“ 1944–1992. Nationalismus, Republiksgründung, nation-building, in: Südosteuropa 41 (1992), S. 423–442. Hier habe ich die vom konfliktmindernden Phänomen eines ab 1944 herbeiadministrierten und seitdem die sich überschneidenden territorialen Aspirationen der drei anrainenden, (noch) nicht „saturierten“ Nationalstaaten Serbien, Bulgarien und Griechenland neutralisierenden makedonischen Nationalismus abgeleitete Frage aufgeworfen, ob nicht auch andere nationale Konflikte mittels ebensolcher künstlich induzierter zusätzlicher Nationalismen entschärft werden könnten. 26 Hier zit. nach Waldmann, Ethnischer Radikalismus, S. 364.

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zen aufwerfen. Erfolg und Misserfolg bei der Suche nach diesbezüglich politisch tragfähigen Lösungen werden – dies zeigen die Erfahrungen der Pariser Friedenskonferenz von 1919/1920 sehr deutlich – nicht zuletzt von der Zugriffsmöglichkeit auf Forschungsergebnisse zur ethnischen Struktur und zur Charakteristik der nationalen Konflikte der Region bestimmt. Noch mehr als andere Disziplinen steht hier die historische und zeitgeschichtliche Osteuropaforschung in der Pflicht.

Nachbemerkung Dass der Forschungsstand zu etlichen der in diesem Band versammelten Studien seit der jeweiligen Erstveröffentlichung heute höher als damals ist, versteht sich von selbst, auch dass bestimmte Fragen weiterhin ungelöst sind bzw. kontrovers beantwortet werden. So macht die Mehrzahl der Historikerinnen und Historiker Bulgariens als Urheber des aufsehenerregenden Mordes an dem prominenten makedonischen Nationalrevolutionär und De-facto-Chef des Zentralkomitees der Inneren Makedonischen Revolutionären Organisation (IMRO), Todor Aleksandrov, vom August 1924 nicht, wie der Verfasser dieser Zeilen, Ivan Michajlov und seinen Protektor Kriegsminister Ivan V˘alkov, sondern unterschiedliche andere aus. Für die damalige, durch einen Putsch 1923 an die Macht gelangte rechtskonservative bulgarische Regierung war Aleksandrov aufgrund eines von ihm im Mai 1924 geschlossenen Bündnisses mit der Kommunistischen Internationale und der UdSSR untragbar geworden. 1 Dieser gouvernementale Auftragsmord mag sich aus der Entfernung von fast einem Jahrhundert als wenig bedeutendes historisches Detail der jüngeren Geschichte Bulgariens ausnehmen, ist es aber aufgrund seines akuten Gegenwartsbezuges mitnichten. Denn in der staatlichen wie in Teilen der zivilgesellschaftlichen Geschichtspolitik dieses Mitgliedsstaates der Europäischen Union gelten beide, Aleksandrov und Michajlov, als Nationalhelden, nach denen in Sofija und andernorts Boulevards, Straßen, Plätze, Parkhäuser, Einkaufszentren, Möbelgeschäfte, Sporthallen u. a. benannt sind und deren Büsten und Monumente die urbane wie rurale Erinnerungskultur prägen. Dass der eine der beiden weisungsgemäß einen erfolgreichen Mordanschlag auf den anderen organisierte, kann daher nicht sein, da es nicht sein darf. Wer in Bulgarien an diesem Dogma rüttelt, wird von der bulgarischen Historikerzunft wie von den Geschichtspolitikern dieses Landes in Acht und Bann getan. Im Vergleich dazu nimmt sich der Dauerstreit schwedischer Historiker im 19. und 20. Jahrhundert darüber, ob Gustav II. Adolf ein expansionshungriger Machtpolitiker war oder lediglich gemäß Christenpflicht den bedrängten protestantischen Brüdern in Mitteleuropa zu Hilfe eilte oder aber als kluger Hausvater die Staatsfinanzen durch ein küstenumspan-

1

Siehe dazu zuletzt quellengesättigt Žila, Lenina: Vienska „stapica“. Istorija na pregovorite me´gu SSSR i VMRO na Todor Aleksandrov [Falle „Wien“. Geschichte der Verhandlungen zwischen der UdSSR und der IMRO Todor Aleksandrovs]. Skopje 2014; und Schmitt, Oliver Jens: „BalkanWien“ – Versuch einer Verflechtungsgeschichte der politischen Emigration aus den Balkanländern im Wien der Zwischenkriegszeit (1918–1934). In: Südost-Forschungen 73 (2014), S. 268–305; sowie eine „Jugendsünde“ aus eigener Feder: Troebst, Stefan: Die „Innere Makedonische Revolutionäre Organisation“ als Objekt der Einheitsfrontstrategie von Komintern und sowjetrussischer Diplomatie in den Jahren 1923/24. Magisterhausarbeit, Fachbereich 13: Geschichtswissenschaften, Freie Universität Berlin 1979 (online zugänglich auf der Website „OstDok“: https://www.vifaost.de/ostdok, letzter Zugriff: 06. 10. 2016).

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nendes Zollimperium im Ostseeraum nachhaltig konsolidieren wollte, nachgerade gesittet aus. 2 Dass historische Forschung zum einen von Debatten und Kontroversen, zum anderen aber von der Erschließung bislang unerschlossener Quellen lebt, belegt ein nur auf den ersten Blick kleinteiliger Erkenntnisfortschritt. In den drei Beiträgen der Rubrik „Armeno-Sueco-Muscovitica“ des vorliegenden Bandes wird als Gegenüber des Zaren in den Verhandlungen über ein Transitprivileg auf der Kaspi-VolgaWeißmeerroute nach Amsterdam der Jahre 1666–1673 die Armenische Handelskompagnie der Isfahaner Beistadt Neu-Julpha genannt. Das ist eine zeitgenössische russisch-schwedisch-niederländische Fehlperzeption, welche sich in der historischen Forschung niedergeschlagen hat und die lange Zeit sogar für die (sowjet-)armenische Geschichtsschreibung galt. Die Jerewaner Historikerin Šušanik Xaˇc’ikyan hat jedoch bereits 1980 in einem archivaliengestützten Aufsatz in armenischer Sprache klargestellt, dass die nach Moskau entsandten armenischen Unterhändler nicht im Auftrag einer einheitlichen Handelskompagnie agierten, sondern dass sie die Bevollmächtigten mehrerer, ja offenkundig zahlreicher solcher Handelshäuser waren. 3 Dass hier der Übergang von der Einzahl zur Mehrzahl nicht, wie lange vermutet, ein Phänomen der letzten beiden Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts war, sondern dass in der Tat etliche armenische Familienclans im Safaviden-Reich konkurrierende Handelsfirmen transkontinentalen Zuschnitts betrieben, und dies vom Beginn des 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, hat Sebouh David Aslanian in einer grundlegenden Monographie aus dem Jahr 2011 belegt. 4 In diesem Zusammenhang sei überdies erwähnt, dass René Bekius die Amsterdamer Kolonie der in den Niederlanden Jolfalijnen genannten Armenier aus Neu-Julfa eingehend untersucht 5 und George A. Bournatian 2

3

4

5

Vgl. dazu neuerdings die Einträge zu den Protagonisten dieser divergierenden Thesen in der Enzyklopädie Svenska historiker. Från medeltid till våra dagar [Schwedische Historiker. Vom Mittelalter bis in unsere Tage]. Red. Ragnar Björk & Alf W. Johansson. Stockholm 2009, sowie die neueste Gesamtdarstellung schwedischer „Großmachtzeit“ von Villstrand, Nils Erik: Sveriges Historia 1600– 1721 [Geschichte Schwedens 1600–1721]. Stockholm 2011 (= Norstedts Sveriges Historia). Xaˇc’ikyan, Šušanik Levoni: 1667 T’vakani Hay-R.usakan Ar.evtrakan Paymanagird ev Nor-Ëułayi Ink’navar Marminnerd. In: Haykazean Hayagitakan Hand¯es, Hator d (8), Xmbagir Erowand H. K’asowni, P¯eyrowt’, 1980, S. 259–288. Eine deutsche Übersetzung erscheint unter dem Titel „Der armenisch-russische Handelsvertrag vom Jahr 1667 und die autonomen Körperschaften von NeuDschulfa“ in: Armenier im östlichen Europa. Eine Anthologie. Hrsg. v. Tamara Ganjalyan, Bálint Kovács u. Stefan Troebst. Köln, Wien, Weimar 2017 (= Armenier im östlichen Europa /Armenians in Eastern Europe, 1). Vgl. auch Baghdiantz McCabe, Ina: The Shah’s Silk for Europe’s Silver. The Eurasian Trade of the Julfa Armenians in Safavid Iran and India (1530–1750). Atlanta 1999, S. 271– 293 (Chapter VIII: The „Armenian Trading Company“ of New Julfa). Aslanian, Sebouh David: From the Indian Ocean to the Mediterranean. The Global Trade Networks of Armenian Merchants from New Julfa. Berkeley, New York, London 2011. Vgl. auch Les Arméniens dans le commerce asiatique au début de l’ère moderne /Armenians in Asian Trade in the Early Modern Era. Ed. by Sushil Chaudhury & Kéram Kévonian. Paris 2007. Bekius, René Arthur: The Armenian Colony in Amsterdam in the Seventeenth and Eighteenth Centuries: Armenian Merchants from Julfa before and after the Fall of the Safavid Empire. In: Iran and the World in the Safavid Age. Ed. by Willem Floor & Edmund Herzig. London, New York 2012, S. 259– 283.

Nachbemerkung

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Regesten von Dokumenten über die Armenier in Russland, die sich in russländischen Archiven befinden, darunter solche aus dem 17. Jahrhundert, vorgelegt hat. In diesem Kontext ist auch auf die 2003 erschienene und von Michael Schippan mustergültig besorgte kritische Edition des Rußlandtagebuchs 1683 des Lemgoer Forschungsreisenden Engelbert Kaempfer zu verweisen, der den schwedischen Persien-Gesandten Ludvig Fabritius bei seiner zweiten Reise über Moskau nach Isfahan begleitet hat. 6 Auftrag war, die armenischen Fernkaufleute Isfahans zu bewegen, auf ihrem Weg nach Amsterdam statt Archangel’sk am Weißen Meer den schwedischen Ostseehafen Narva zu nutzen. 7 Ebenfalls außerordentlich verdienstvoll ist die 2012 publizierte Edition eines mit zeitgenössischen Karten und Abbildungen versehenen Berichts, welchen der schwedische Artilleriehauptmann Erik Palmquist 1674 im Ergebnis seiner Teilnahme an der königlich-schwedischen Gesandtschaft zum Zaren vom selben Jahr angefertigt hat. 8 Bahnbrechend zum Außen- und Transithandel des frühneuzeitlichen Moskauer Staates über Weißes Meer und Ostsee sind Jarmo T. Kotilaines Monographie aus dem Jahr 2005 9 samt etlichen seiner Aufsätze, Igor’ P. Šaskol’skijs 1995 posthum veröffentlichter Band zu den moskauisch-schwedischen Handelsbeziehungen im 17. Jahrhundert 10 sowie Enn Küngs Habilitationsschrift zur Stellung Narvas als Emporium Schwedens in der zweiten Hälfte desselben Jahrhunderts. 11 Im Vergleich dazu hat die balkanbezogene Kautsky-Forschung in den vergangenen Jahren kaum Fortschritte gemacht. Die Verbindungen zu den Sozialisten Südosteuropas spielen in Karl Kautskys Briefwechsel mit Eduard Bernstein der Jahre 1912–1932, der mittlerweile ediert vorliegt, keine Rolle, ja, nicht einmal die bulgarischen Gewährsleute Kautskys wie Janko Sak˘azov und Pet˘ar Džidrov figurieren darin.

6

Kaempfer, Engelbert: Rußlandtagebuch 1683. Hrsg. v. Michael Schippan. München 2003 (= Engelbert Kaempfer Werke. Kritische Ausgabe in Einzelbänden). 7 Troebst, Stefan: Die Kaspi-Volga-Ostsee-Route in der Handelskontrollpolitik Karls XI. Die schwedischen Persien-Missionen von Ludvig Fabritius 1679–1700. In: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 54 (1998), S. 127–204. 8 Några observationer angående Ryssland, sammanfattade av Erik Palmquist år 1674. Zametki o Rossii, ˙ sdelannye Erikom Pal’mkvistom v 1674 godu. Some observations concerning Russia, Summarised by Erik Palmquist in 1674. Hrsg. v. Elisabeth Löfstrand, Ulla Birgegård & Laila Nordquist. Moskva 2012. Siehe dazu Troebst, Stefan: Eine wichtige Quellenedition der russischen Geschichte des 17. Jahrhunderts. In: Quaestio Rossica 4 (2016), H. 1, S. 281–286. 9 Kotilaine, J. T.: Russia’s Foreign Trade and Economic Expansion in the Seventeenth Century. Windows on the World. Leiden, Boston 2005 (= The Northern World, 13). Vgl. auch ders.: A Muscovite Economic Model. Washington, DC, 2006. ˙ 10 Šaskol’skij, I. P.: Ekonomiˇ ceskie otnošenija Rossii i švedskogo gosudarstva v XII veke [Die wirtschaftlichen Beziehungen Russlands zum schwedischen Staat im 17. Jahrhundert]. Red. Jurij N. Bespjatych. Sankt-Peterburg 1998. Vgl. überdies ders.: Russkaja morskaja torgovlja na Baltike v XVII v. (Torgovlja so Šveciej) [Der russische Seehandel über die Ostsee. (Der Handel mit Schweden)]. Sankt-Peterburg 1994. 11 Küng, Enn: Rootsi majanduspoliitika Narva kaubanduse küsimuses 17. sajandi teisel poolel [Die Wirtschaftspolitik Schwedens bezüglich des Handels Narvas in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts]. Tartu 2001.

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Nachbemerkung

Lediglich im Zusammenhang mit dem dem Ersten Balkankrieg 1912/1913 wird die Region hier überhaupt genannt. 12 Die in formalisierte Außenbeziehungen und ideologisierte „Paralleldiplomatie“ gespaltene Südosteuropapolitik des faschistischen Italien wird in einer Reihe neuerer Studien beleuchtet, die indes sämtlich bilaterale Ansätze, keine großregionalen verfolgen. 13 Bereits älter, aber grundlegend ist Traute Rafalskis auch Südosteuropa einbeziehende Studie zur Außenwirtschaftspolitik des Faschismus. 14 Die Geschichte der 1893 gegründeten, 1934 politisch temporär ausgeschalteten und 1946 endgültig zerschlagenen IMRO ist ein Thema, welches nicht nur das Interesse von Historikern in Bulgarien und Makedonien hervorruft, sondern das auch breitere Leserschichten dort anspricht. Entsprechend groß ist die Zahl an Neuerscheinungen von und über maßgebliche Akteure der Bewegung sowohl in Sofija wie in Skopje. 15 Der Sofijoter Historiker und langjährige Mitarbeiter des Zentralen Historischen Staatsarchivs der (Volks-)Republik Bulgarien, Coˇco Biljarski, sowie sein Skopjoter Archivarkollege Zoran Todorovski haben daraus – häufig in Kooperation – einen sich wirtschaftlich selbsttragenden Publikationszweig gemacht. 16 Das besondere Interesse gilt dabei der umstrittensten Figur in der makedonischen Bewegung, nämlich dem besagten Michajlov. Neben eher hagiographischen Produkten, heraus-

12 Karl Kautsky an Eduard Bernstein. Berlin-Friedenau, 2. Dezember 1912. In: Eduard Bernsteins Briefwechsel mit Karl Kautsky (1912–1932). Hrsg. v. Eva Bettina Görtz. Frankfurt /M., New York 2011, S. 4–5, hier S. 4. Vgl. auch ebd., Fn. 3, sowie Schelz-Brandenburg, Till: Im Banne des Marxismus. Der Briefwechsel zwischen Eduard Bernstein und Karl Kautsky 1879 bis 1932. Köln 1992. 13 Bucarelli, Massimo: Mussolini e la Jugoslavia (1922–1939). Gorgonzola 2006; Sadkovich, James J.: Italian Support for Croat Separatism, 1927–1937. New York 1987; Iuso, Pasquale: Il fascismo e gli ustascia 1929–1941. Il separatism croato in Italia. Roma 1998. 14 Rafalski, Traute: Italienischer Faschismus in der Weltwirtschaftskrise (1925–1936). Wirtschaft, Gesellschaft und Politik auf der Schwelle zur Moderne. Opladen 1984. 15 P˘arliˇcev, Kiril: 36 godini v˘av VMRO. Spomeni [36 Jahre in der IMRO. Erinnerungen]. Sofija 1999; Šandanov, Pet˘ar: Bogatstvo mi e svobodata. Spomeni [Mein Reichtum ist die Freiheit. Erinnerungen]. Hrsg. v. Cvetana Miˇceva. Sofija 2010; ders.: Spomeni [Erinnerungen] Hrsg. v. Zoran Todorovski. Skopje 2002; Aleksand˘ar Protogerov – general˘at-vojvoda [Aleksand˘ar Protogerov – der FreischärlerGeneral]. Hrsg. v. Coˇco Biljarski. Sofija 2012; Popchristov, Georgi: Spomeni ot minaloto. Prosvetna i revoljucionna dejnost v Makedonija [Erinnerungen an die Vergangenheit. Bildungsarbeit und revolutionäre Tätigkeit in Makedonien]. Hrsg. v. Coˇco Biljarski. Sofija 2012; Šatev, Pavel: Spomeni [Erinnerungen]. Skopje 2013. Vgl. außerdem die 2013 in Skopje aufgelegte Buchreihe „Makedonski dejci“ (Makedonische Akteure), in der mittlerweile mehrere Bände erschienen sind: Georgi Kulišev. Spomeni, dnevnik, dokumenti [Georgi Kulišev. Erinnerungen, Tagebuch, Dokumente]. Hrsg. v. Nikola Žekov und Mirjana Ninˇcovska. Skopje 2013; Todorovski, Zoran: Todor Aleksandrov. Skopje ˇ 2014; Džingo, Teon: Naum Tomalevski-Loengrin. Cuvar na svetiot gral – Makedonija [Naum Tomalevski-Lohengrin. Hüter des Heiligen Grals „Makedonien“]. Skopje 2014. 16 Vgl. pars pro toto Biljarski, Coˇco: Tajnite na VMRO. Legendi i senzacionni razkritija ot nejnite vodaˇci [Die Geheimnisse der IMRO. Legenden und sensationelle Entdeckungen ihrer Führer]. Sofija 2010 (= Biblioteka „Site b˘algari zaedno“, 24); Todorovski, Zoran: Avtonomistiˇckata VMRO na Todor Aleksandrov 1919–1924 [Die autonomistische IMRO von Todor Aleksandra 1919–1924]. Skopje 2013; und Todor Aleksandrov. Sè za Makedonija. Dokumenti 1919–1924 [Todor Aleksandrov. Alles für Makedonien. Dokumente 1919–1924]. Hrsg. v. Zoran Todorovski. Skopje 2005.

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gegeben zumeist von dem gleichfalls genannten Biljarski 17, sind drei unterschiedliche Publikationsgattungen zu nennen. Diese sind erstens Editionen des Staatsarchivs Sofija in dessen Dokumentenreihe Die Archive sprechen über die Zeit des Zweiten Weltkriegs – eine Periode in Michajlovs Biographie, über die nur Bruchstücke bekannt sind. Sowohl in einem Band zur bulgarischen Besatzungspolitik im vormals jugoslawischen Vardar-Makedonien 1941–1944 sowie in einem weiteren zu den Beziehungen Bulgariens zum kroatischen Ustaša-Staat im selben Zeitraum figuriert Michajlovs Name häufig. 18 Zweitens handelt es sich um Veröffentlichungen über und von Mitarbeitern Michajlovs über die langen Jahre seines italienischen Exils von 1948 (oder 1945?) bis zu seinem Tod 1990, die gleichfalls einen weißen Fleck in seiner Biographie darstellen. 19 Und drittens ist es ein über 2000 Druckseiten umfassender Frontalangriff auf Michajlov als Handlanger des faschistischen Italien und des nationalsozialistischen Deutschland, verfasst von dem US-(Makedo-)Bulgaren Ivan Gadžev und unterlegt mit zahlreichen Quellen stark unterschiedlichen Aussagewerts sowie in Sofija in bulgarischer Sprache unter dem Titel Ivan Michajlov jenseits der Legenden veröffentlicht. 20 Deutlich höherer Quellenwert kommt einer Publikation zum „friedlichen“ Revisionismus Bulgariens in der Zwischenkriegszeit zu, aus der zum einen hervorgeht, dass die bulgarische Diplomatie und die IMRO partiell kooperierten, dass aber über die einzusetzenden Mittel gravierende Differenzen bestanden. 21 Beträchtlichen Aufschwung hat die Forschung über die Flüchtlinge aus dem Griechischen Bürgerkrieg, die Ende der 1940er-Jahre in die Osthälfte Europas ge-

17 Vgl. z. B. Biljarski, Coˇco V.: Ivan Michajlov v obekta na policija, diplomacija, razuznavane i presa [Ivan Michajlov im Visier von Polizei, Diplomatie, Spionage und Presse]. Sofija 2006; und Ivan Michajlov. Legendata v˘azkr˘asva [Ivan Michajlov. Die Wiederauferstehung einer Legende]. Hrsg. v. Coˇco V. Biljarski. Sofija 2004 (= Biblioteka „Site b˘algari zaedno“, 13). 18 B˘algarskoto upravlenie v˘av Vardarska Makedonija (1941–1944). Dokumentalen sbornik [Die bulgarische Verwaltung in Vardar-Makedonien (1941–1944). Dokumentenband]. Hrsg. v. Aleksand˘ar Grebenarov und Nadja Nikolova. Sofija 2011 (= Archivite govorjat, 63); B˘algarija i Nezavisimata Ch˘arvatska D˘aržava (1941–1944). Diplomatiˇceski dokumenti [Bulgarien und der Unabhängige Kroatische Staat (1941–1944). Diplomatische Dokumente]. Hrsg. v. Milena Todorakova. Sofija 2004 (= Archivite govorjat, 32). 19 Kirjakov, Bojko: Christo Ognjanov. Biografija [Christo Ognjanov. Biographie]. Sofija 1999; Ivanov, Borislav Atanasov: Svobodata ima svojata cena. Razmišlenija i beležki za izminalite godini [Die Freiheit hat ihren Preis. Überlegungen und Bemerkungen zu den vergangenen Jahren]. Sofija 2012. 20 Gadžev, Ivan: Ivan Michajlov (Otv˘ad legendite). T. I: Ivan Michajlov i VMRO [Ivan Michajlov (Jenseits der Legenden). Bd. I: Ivan Michajlov und die IMRO]. Sofija 2007; ders.: Ivan Michajlov – otv˘ad ˇ 1: Dokumenti 1918–1970 [Ivan Michajlov – jenseits der legendite. T. II: Ivan Michajlov i MPO. C. Legenden. Bd. II: Ivan Michajlov und die Macedonian Political Organization. Teil 1: Dokumente ˇ 2: Dokumenti 1971–2006 [Teil 2: Dokumente 1971–2006]. So1918–1970]. Sofija 2009; dass. C. fija 2009 (1952 benannte sich die 1922 im US-amerikanischen Fort Wayne, Indiana, als Ableger der IMRO für Nordamerika und Ozeanien gegründete Macedonian Political Organization in Macedonian Patriotic Organization um). 21 Ot Skopje do Ženeva. Dimit˘ar Šalev – zaštitnik na malcinstvata v Obštestvoto na narodite [Von Skopje nach Genf. Dimit˘ar Šalev – ein Verteidiger der Minderheiten im Völkerbund]. Hrsg. v. Dimit˘ar Mitev. Sofija 2012.

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langten, genommen. Neben einer von den Staatsarchiven in Warschau und Skopje besorgten zweisprachig polnisch-makedonischen Quellenedition zur Volksrepublik Polen 1948–1975 sowie einer thematisch einschlägigen veröffentlichten Dissertation und zwei polnischen und griechischen Konferenzbänden ist eine auf zahlreichen lebensgeschichtlichen Interviews basierende Monographie zweier Ethnologen hervorzuheben, wobei in all diesen Publikationen ein Schwerpunkt auf den Kindern und Jugendlichen unter den Flüchtlingen liegt. 22 Die seit dem Beginn der zweiten Kriegsrunde im Kosovo im März 1999 erschienene Fachliteratur zu diesem Waffengang und zur Frage nach der völkerrechtlichen Berechtigung der Intervention der NATO samt staatsrechtlichen Konsequenzen wie der Gründung der Republik Kosovo 2008 ist nachgerade unüberschaubar. Für die Versuche der Staatengemeinschaft und von NGOs zur Prävention des absehbaren gewaltförmigen Konflikts gilt dies indes nur eingeschränkt. Hier sind vor allem eine politikwissenschaftliche Analyse sowie die autobiographische Publikation eines wichtigen Akteurs zu nennen. 23 Aufschlussreich ist überdies eine monographische Untersuchung, welche die Inkubationszeit des Konflikts ab 1981 in der Binnenperspektive zum Gegenstand nimmt 24 sowie eine umfangreiche Dokumentation zu seiner Genese und Verlauf 1974–1999. 25 Während das Interesse der internationalen Zeitgeschichtsforschung an den sowjetisch-finnischen Beziehungen in den „Jahren der Gefahr“ von 1939 bis 1948 nach dem durch den Zugang zu den Archiven der Russländischen Föderation bewirkten Boom der 1990er-Jahre partiell abgeflaut ist – allerdings mit der Ausnahme von mili-

22 Macedo´nscy uchod´zcy w Polsce. Zagadnienia wychowania i kształcenia dzieci i młodziez˙ y. Dokumenty 1948–1975 / Makedonskite begalci vo Polska. Problemi na vospitanieto i obrazovanieto na decata i na mladinata. Dokumenti 1948–1975 [Die makedonischen Flüchtlinge in Polen. Probleme der Erziehung und Bildung der Kinder und Jugendlichen. Dokumente 1948–1975]. Hrsg. v. Petre Nakovski. 2 Bde. Skopje 2008; Kurpiel, Anna: Cztery nazwiska, dwa imiona. Macedo´nscy ´ asku uchod´zcy wojenni na Dolnym Sl ˛ [Vier Namen, zwei Bezeichnungen. Makedonische Kriegsflüchtlinge in Niederschlesien]. Pozna´n 2015; PRL a wojna domowa w Grecji /The Polish People’s Republic and the Greek Civil War. Hrsg. v. Magdalena Semczyszyn. Szczecin 2016; „Paidomazoma“ i „paidososimo“? Paidia tou emfyliou stin anatoliki kai kentriki Evropi [„Kinderverschleppung“ oder „Kinderrettung“? Kinder des Bürgerkriegs in Ost- und Mitteleuropa]. Hrsg. v. Eirini Lagani und Maria Bontila. Thessaloniki 2012; Danforth, Loring M., Riki van Boeschoten: Children of the Greek Civil War. Refugees and the Politics of Memory. Chicago, London 2012. 23 Biermann, Rafael: Lehrjahre im Kosovo. Das Scheitern der internationalen Krisenprävention vor Kriegsausbruch. Paderborn u. a. 2006; Ahrens, Geert-Hinrich: Diplomacy on the Edge. Containment of Ethnic Conflict and the Minority Working Group of the Conferences on Yugoslavia. Washington, Baltimore, 2007. Vgl. auch Troebst, Stefan: The Kosovo Conflict. In: SIPRI Yearbook 1999. Armaments, Disarmament and International Security. Ed. Stockholm International Peace Research Institute. Oxford: Oxford University Press 1999, S. 47–62. 24 Mertus, Julie A.: Kosovo. How Myths and Truths Started a War. Berkeley, Los Angeles, London 1999. 25 The Kosovo Conflict and International Law: An Analytical Documentation 1974–1999. Ed. by Heike Krüger. Cambridge 2001 (= Cambridge International Document Series, vol. 11).

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tärgeschichtlichen Publikationen zum „Winterkrieg“ 1939–1940 26 und zum „Fortsetzungskrieg“ 1941–1944 27 –, hat eine archivgestützte Forschung zum Stellenwert der bulgarisch-jugoslawischen Kontroverse in der Balkanpolitik der UdSSR noch nicht recht begonnen. Die bulgarische Geschichtswissenschaft hat immerhin aufschlussreiche Quelleneditionen zur makedonischen Dimension in den bilateralen Beziehungen zu Jugoslawien vorgelegt 28, wie auch Monographien existieren, welche dieses Thema streifen. 29 In Moskau und Skopje wird dem Schließen dieser Forschungslücke jedoch wenig Energie gewidmet, und dies ungeachtet enger Wissenschaftbeziehungen zwischen russländischen und makedonischen Akademiehistorikern. 30 Auch der Versuch der Volksrepublik China, die Makedonische Frage im Zuge ihrer Rivalität mit der Sowjetunion zu instrumentalisieren, stellt in der internationalen zeithistorischen Forschung weiterhin einen weißen Fleck dar. Ministerpräsident und MaoNachfolger Hua Guofeng provozierte bei seinem Staatsbesuch 1978 in Jugoslawien die bulgarische Seite mit einer Rede in der makedonischen Hauptstadt, in der er „dem makedonischen Volk zu seiner uralten Geschichte und seinen ruhmreichen revolutionären Traditionen“, desgleichen zu seinem Kampf „gegen fremde Okkupatoren“ gratulierte, wie der bulgarische Zeithistoriker Jordan Baev schreibt. 31 Gemeint war damit die bulgarisch-italienische Besetzung des jugoslawischen Makedonien unter

26 Stalin and the Soviet-Finnish War, 1939–1940. Hrsg. v. Evgenij N. Kul’kov u. a. London 2002 (http:// samples.sainsburysebooks.co.uk/9781135282943_sample_599108.pdf, letzter Zugriff: 14. 10. 2016); Nenye, Vesa, Peter Munter, Toni Wirtanen: Finland at War: The Winter War 1939–1940. Oxford 2015; Sander, Gordon F.: The Hundred Day Winter War: Finland’s Gallant Stand against the Soviet Army. Lawrence, KS, 2013; Tuunainen, Pasi: Finnish Military Effectiveness in the Winter War 1939– 1941. London 2016. 27 Neye,Vesa et al: Finland at War: The Continuation and Lapland Wars 1941–45. Oxford 2016; Vehviläinen, Olli: Finland in the Second World War: Between Germany and Russia. New York 2002; Manninen, Ohto: Miten Suomi valloitetaan: Puna-armeijan operaatiosuunnitelmat 1939–1944 [Wie Finnland erobert werden sollte. Operationspläne der Roten Armee 1939–1944]. Helsinki 2008. 28 Makedonskijat v˘apros v b˘algaro-jugoslavskite otnošenija 1950–1967 g. Dokumentalen sbornik [Die Makedonische Frage in den bulgarisch-jugoslawischen Beziehungen 1950–1967. Dokumentenband]. Hrsg. v. Panto Kolev. Sofija 2009 (= Archivite govorjat, 60); Makedonskijat v˘apros v b˘algaro-jugoslavskite otnošenija 1968–1989 g. Dokumentalen sbornik [Die Makedonische Frage in den bulgarisch-jugoslawischen Beziehungen 1968–1989. Dokumentenband]. Hrsg. v. Iva Burilkova und Coˇco Biljarski. 2 Teilbde. Sofija 2012 (= Archivite govorjat, S. 65–66). 29 Troebst, Stefan: Die bulgarisch-makedonische Kontroverse um Makedonien 1967–1982. München 1983; Marinov, Tchavdar: La Question Macédonienne de 1944 à nos jours. Communisme et nationalism dans les Balkans. Paris 2010; Sfetas, Spyridon: O akyrichtos polemos gia to Makedoniko. Voulgaria – Giougkoslavia 1968–1989 [Der unerklärte Krieg um die Makedonische Frage. Bulgarien – Jugoslawien 1968–1989]. Thessaloniki 2010. 30 Russländischerseits sind lediglich die Probleme der wissenschaftlichen Beschäftigung mit makedonischen Themen in der Nachkriegs-UdSSR beim Namen genannt worden. Vgl. Valeva, Elena, Ol’ga Isaeva: Makedonistika pod zapretom: K istorii stanovlenija nauki v SSSR [Makedonistik unter Verbot: Zur Entstehungsgeschichte einer Wissenschaftsdisziplin in der UdSSR]. In: B˘algarija, Balkanite i Rusija XVIII – XXI vek. B˘algaro-ruski nauˇcni diskusii. Red. Ilijana Marˇceva. Sofija 2011, S. 31– 50. 31 Baev, Jordan: Drugata studena vojna. S˘avetsko-kitajskijat konflikt i Iztoˇcna Evropa [Der andere Kalte Krieg. Der sowjetisch-chinesische Konflikt und Osteuropa]. Sofija 2012, S. 223.

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NS-deutscher Ägide im Zweiten Weltkrieg. Aber noch beunruhigender war aus Sofijoter Perspektive der Umstand, dass der chinesische Politiker von Jugoslawien nach Rumänien weiterreiste. Denn seit der Weigerung des rumänischen Partei- und Staatschefs Nicolae Ceau¸sescu, an der Strafaktion des Warschauer Paktes von 1968 gegen ˇ die CSSR teilzunehmen, ja gar bulgarischen Truppen den Transit und bulgarischen Kampfflugzeugen Überflugrechte einzuräumen, war das Verhältnis Sofijas zu Bukarest äußerst gespannt. Die rumänische Annäherung an China sowie an die USA, deren Präsidenten Richard Nixon und Gerald Ford 1969 bzw. 1975 Staatsbesuche in Rumänien absolvierten, taten ein Übriges. Und regelrecht alarmiert war die bulgarische Seite durch die chinesisch-jugoslawische Aussöhnung im Zuge von Titos China-Reise im August 1977, wo er mit großem Pomp nicht nur als Staatschef, sondern auch als Oberhaupt einer jetzt wieder befreundeten kommunistischen Partei empfangen wurde. 32 Das Komitee für Staatssicherheit im bulgarischen Innenministerium kam daher in der Auswertung der chinesischen Südosteuropadiplomatie 1978 zu dem Schluss, „dass die jugoslawische und die rumänische Seite objektiv gesehen die Durchdringung des Balkans durch China befördern und dessen hegemonistische und spalterische Politik in der Region verteidigen, die im Endeffekt auf den Aufbau eines antisowjetischen und antisozialistischen Blocks zielt.“ 33 Stark angewachsen ist die Literatur zum 1989 beginnenden und seit 1992 „eingefrorenen“ Konflikt zwischen der Republik Moldova und den von Moskau militärisch, ökonomisch und politisch unterstützten separatistischen Autoritäten im Dnjestr-Tal. Diesbezüglich sei auf eine profunde Untersuchung zum Zeitraum 1989–1995 verwiesen, in der ein Vergleich zur Krim angestellt wird, wo die Russophonen trotz russländischer Truppenpräsenz nicht zur Waffe griffen, sondern sich mit Territorialautonomie begnügten. 34 Auch hier sind einem Akteur wichtige Einblicke zu verdanken. 35 Zur politischen wie beruflichen Biographie des in dem Beitrag über Mathias Bernath erwähnten Leipziger Historikers Walter Markov finden sich interessante Hinweise in der aus Anlaß ihres 600-jährigen Bestehens im Jahr 2009 veröffentlichten Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009. 36 Ebendort ist auch Gustav Weigands akademische Karriere (unter Einbeziehung seines Engangements für den Hochschulsport) nachgezeichnet, wenngleich unter Ausblendung seiner politischen

ˇ 32 Cavoški, Jovan: Between Ideology and Geopolitics: Sino-Yugoslav Relations and the Wider Cold War, 1950–1970s. In: New Sources, New Findings: The Relationship between China, the Soviet Union and Eastern Europe. Hrsg. v. Péter Vámos. Shanghai 2013, S. 387–406, hier S. 402–404. 33 Baev: Drugata studena vojna, S. 224. 34 Zofka, Jan: Postsowjetischer Separatismus. Die pro-russländischen Bewegungen im moldauischen Dnjestr.Tal und auf der Krim 1989–1995. Göttingen 2015 (= Moderne europäische Geschichte, 10). 35 Hill, William H.: Russia, the Near Abroad and the West. Lessons from the Moldova-Transdniestria Conflict. Washington, Baltimore 2012. 36 Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009. Hrsg. v. d. Senatskommission zur Erforschung der Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte. 5 Bde., Leipzig 2009–2010, hier Bd. 3, S. 425, 652, 672 und 736–737, sowie Bd. 4, 1. Halbbd., S. 186–193, 306–317 und 816.

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Aktivitäten und ideologischen Ausrichtung 37, wohingegen Friedrich A. Braun in diesem Werk gänzlich stiefmütterlich behandelt wird. Schließlich: Klaus Zernack wurde zu seinem 80. Geburtstag 2011 von seinen Schülern ein als Privatdruck erschienenes originelles Album amicorum gewidmet 38 und eine Kurzbiographie des schwedischen Russland- und Wirtschaftshistorikers Artur Attman stammt aus eigener Feder. 39

37 Ebd., 4/1, S. 484, 598, 636–641, 660–661 und 909–913. Vgl. auch Weisbrich, Bernd: Weigand, Gustav Ludwig, in: Sächsische Biografie. Hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde. Online-Ausgabe: http://www.isgv.de/saebi/, letzter Zugriff: 13. 10. 2016. 38 Album amicorum. Klaus Zernack zum 80. Geburtstag am 14. Juni 2011. Hrsg. v. Michael G. Müller und Martin Schulze Wessel. Halle, Leipzig 2011. Siehe darin meinen eigenen Beitrag, der an denjenigen im vorliegenden Band anküpft: Troebst, Stefan: The Nordic Connection. Klaus Zernack, Uppsala und die schwedische Geschichtswissenschaft. Ebd., S. 149–158. 39 Troebst, Stefan: Artur Attman 1910–1988. Internationell ekonomihistoriker [Artur Attman 1910– 1988. Internationaler Wirtschaftshistoriker]. In: Svenska historiker, S. 554–562 (dt. Übers.: Artur Attman [1910–1988]. In: Theoretiker der Globalisierung. Hrsg. v. Matthias Middell und Ulf Engel. Leipzig 2010, S. 71–82).

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Nachweise Armeno-Sueco-Muscovitica Narva und der Außenhandel Persiens im 17. Jahrhundert. Zum merkantilen Hintergrund schwedischer Großmachtpolitik. In: Die schwedischen Ostseeprovinzen Estland und Livland im 16.–18. Jahrhundert. Hrsg. v. Aleksander Loit u. Helmut Piirimäe. Uppsala: Almqvist & Wiksell International 1993, S. 161–178 (= Acta Universitatis Stockholmiensis. Studia Baltica Stockholmiensia, 11). Isfahan – Moskau – Amsterdam: Zur Entstehungsgeschichte des moskauischen Transitprivilegs für die Armenische Handelskompanie in Persien (1666–1676). In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 41 (1993), H. 2, S. 180–209. Rußland als „Magazin der Handlung zwischen Asien und Europa“? Die Frage des Orienthandels bei der schwedischen Moskaugesandtschaft 1673/74. In: Russische und Ukrainische Geschichte vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Gedenkschrift für Hans-Joachim Torke. Hrsg. v. Richard Crummey, Holm Sundhaussen u. Ricarda Vulpius: Wiesbaden, Berlin: Harrassowitz 2001 [2002], S. 287–300 (= Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, 58).

Balcanica „Hochverehrter Meister und Genosse!“ Karl Kautsky und die sozialistische Bewegung in Bulgarien (1887–1934). In: Bulgaristik-Symposium (Mai 1987, Marburg, Lahn; Ebsdorfergrund). Hrsg. v. Wolfgang Gesemann, Kyrill Haralampieff u. Helmut Schaller. München: Hieronymus Verlag 1990, S. 231–246 (= Bulgarische Sammlung, 7; Südosteuropa-Studien, 43). Makedonien als Lebensthema: Henry Noël Brailsford (1873–1958). In: Der „Carnegie Report on the Causes and Conduct of the Balkan Wars 1912/13“. Wirkungsund Rezeptionsgeschichte im Völkerrecht und in der Historiographie. Hrsg. v. Dietmar Müller u. Stefan Troebst. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2015, S. 68–78 (= Themenheft von Comparativ. Zeitschrift für Globalgeschichte und vergleichende Gesellschaftsforschung 24 [2014], H. 6). Zwischen offizieller Außenpolitik und geheimer „Paralleldiplomatie“: Italienische Versuche zur Errichtung von Bündnissystemen in Südosteuropa unter Benito Mussolini und Dino Grandi (1922–1932). Erstveröffentlichung des Textes eines Vortrags auf der Internationalen Konferenz „Friedenssicherung in Südosteuropa: Föderationspläne und Allianzen seit dem Beginn der nationalen Eigenständigkeit“ (24. Hochschulwoche der Südosteuropa-Gesellschaft) in Tutzing am 13. Oktober 1983. The Internal Macedonian Revolutionary Organization and Bulgarian Revisionism, 1923–1944. In: Territorial Revisionism and the Allies of Germany in the Second

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Nachweise

World War. Goals, Expectations, Practices. Ed. by Marina Cattaruzza, Stefan Dyroff & Dieter Langewiesche. New York, NY, Oxford: Berghahn 2013, S. 161–172 (= Habsburg and Austrian Studies, 15). Gustav Weigand, Deutschland und Makedonien. Erstveröffentlichung des Textes eines Vortrags auf der Tagung „Ein Leipziger Blick auf den Balkan. Zum 75. Todestag Gustav Weigands“ des Zentrums für Höhere Studien der Universität Leipzig, des Kompetenzzentrums Mittel und Osteuropa Leipzig (KOMOEL) und des Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig (GWZO) in Leipzig am 7. Oktober 2005. Der (bulgaro-)makedonische Terrorbürokrat Ivan Michajlov (1896–1990). Eine biographische Skizze. Erstveröffentlichung des deutschen Originals. Bulgarische Übersetzung: Vanˇce Michajlov – terorist˘at-bjurokrat. In: Kultura [Sofija], Nr. 4 (2576) vom 5. Februar 2010, S. 10–11 (URL http://www.kultura.bg/bg/article/view/16572, letzter Zugriff: 08. 10. 2016); makedonische Übersetzung: Vanˇco Mihajlov ne ja ispolni zadaˇcata od Hitler. I vo Bugarija i vo Makedonija se prenebregnuva so opredelena cel faktot deka Ivan Mihajlov poraˇcal stotici politiˇcki ubistva. In: Globus [Skopje] vom 23. März 2010, S. 28–33 (URL http://www.globusmagazin.com.mk/default.asp?ItemID=41031F09AA6D6945B5D6F57300D5C74D, letzter Zugriff: 08. 10. 2016). Silesia balcanica. Die Ankunft von Griechen, Makedoniern und Bosnien-Polen in Niederschlesien 1946 bis 1950. In: Heimat und Fremde. Migration und Stadtentwicklung in Görlitz und Zgorzelec seit 1933. Beiträge der Tagung „Lebenswege ins Ungewisse“, 26.–27. Februar 2009 im Schlesischen Museum zu Görlitz. Hrsg. v. Martina Pietsch. Görlitz: Schlesisches Museum 2010, S. 88–99. Chronologie einer gescheiterten Prävention: Vom Konflikt zum Krieg im Kosovo, 1989–1999. In: Osteuropa 49 (1999), H. 8, S. 777–795. Vergangenheitsbewältigung auf Bulgarisch: Zum Umgang mit den Akten der ehemaligen Staatssicherheit und zur strafrechtlichen Verfolgung kommunistischer Staatsverbrechen In: Recht und Gerechtigkeit – Die strafrechtliche Aufarbeitung von Diktaturen in Europa. Hrsg. v. Jörg Ganzenmüller. Weimar, Köln, Wien: Böhlau, 2017 (im Erscheinen).

Sovieto-Rossica Warum wurde Finnland nicht sowjetisiert? In: Osteuropa 48 (1998), H. 2, S. 178– 191. Die Sowjetunion und die bulgarisch-jugoslawische Kontroverse um Makedonien 1967–1983. In: Südosteuropa. Zeitschrift für Gegenwartsforschung 32 (1983), H. 11/12, S. 638–644. The „Transdniestrian Moldovan Republic“, 1990–2002: From Conflict-Driven StateBuilding to State-Driven Nation-Building. In: European Yearbook of Minority Issues 2 (2002/03), S. 5–30.

Nachweise

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Vom „Vaterländischen Krieg 1812“ zum „Großen Vaterländischen Krieg 1941– 1945“. Siegesmythen als Fundament staatlicher Geschichtspolitik in der Sowjetunion, der Russländischen Föderation, der Ukraine und Belarus’. In: Das Jahr 1813, Ostmitteleuropa und Leipzig. Die Völkerschlacht als (trans)nationaler Erinnerungsort. Hrsg. v. Marina Dmitrieva u. Lars Karl. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2016, S. 41–46 (= Visuelle Geschichtskultur, 15). Post-Communist Holiday Legislation as Part of Governmental Politics of History: The Case of the Russian Federation. Erstveröffentlichung des Textes eines Vortrags auf dem Panel „The International-Domestic Nexus on Transitional Justice: Insights from Russia and CEE“ der Tartu Conference on Russian and East European Studies in Tartu /Estland am 13. Juni 2016.

Teutonica orientalia Die „Griechenlandkinder-Aktion“ 1949/50. Die SED und die Aufnahme minderjähriger Bürgerkriegsflüchtlinge aus Griechenland in der SBZ/DDR. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 52 (2004), H. 8, S. 717–736. Herz, Darm und DDR. Arno Schmidt 1956. In: Rok 1956. (Nieco) inne spojrzenie – 1956. Eine (etwas) andere Perspektive. Hrsg. v. Jerzy Kochanowski u. Joachim von Puttkamer. Warszawa: Wydawnictwo Neriton 2016, S. 393–417. Die DDR im balkanischen Spiegel. In: Die DDR als Chance. Neue Perspektiven auf ein altes Thema. Hrsg. v. Ulrich Mählert. Berlin: Metropol 2016, S. 199–204.

Europaeica From paper to practice: The Council of Europe’s Framework Convention for the protection of national minorities. In: Helsinki Monitor. Quarterly on Security and Cooperation in Europe 10 (1999), H. 1, S. 19–27. Gemeinschaftsbildung durch Geschichtspolitik? Anläufe der Europäischen Union zur Stiftung einer erinnerungsbasierten Bürgeridentität. In: Jahrbuch für Politik und Geschichte 5 (2014), S. 15–42. Jalta als europäischer Erinnerungsort? In: Religion & Gesellschaft in Ost und West 44 (2016), H. 5, S. 12–16.

Historiographica Debating the Mercantile Background to Early Modern Swedish Empire-Building: Michael Roberts versus Artur Attman. In: European History Quarterly 24 (1994), H. 4, S. 485–509. Klaus Zernack als Nordosteuropahistoriker. In: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 50 (2001), H. 4, S. 572–586.

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444

Nachweise

Friedrich Braun und die Leipziger Rußlandgeschichtsschreibung in der Zwischenkriegszeit. Erstveröffentlichung des Textes eines Vortrags auf dem Workshop „Figuren Leipziger historischer Osteuropaforschung“ des Institut für Slavistik und des Zentrums für Höhere Studien der Universität Leipzig in Leipzig am 15. Oktober 2004. „Die Interdependenz von Politik und Historiographie in Osteuropa“. Ein vergessenes Forschungsprojekt der westdeutschen Osteuropageschichtsschreibung (1976–1983). In: Jahrbuch des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 19 (2011), S. 9–24. Macedonian Historiography on the Holocaust in Macedonia under Bulgarian Occupation. In: La Shoah en Europe du Sud-Est. Les Juifs en Bulgarie et dans les terres sous administration bulgare (1941–1944). Actes de colloque, 9–10 juin 2013. Red. Nadège Ragaru. Paris: Mémorial de la Shoa, 2014, S. 131–136. „Südosteuropäische Geschichte als gesonderte Disziplin“: Mathias Bernath in Berlin und München. In: Südosteuropäische Hefte 1 (2012), H. 2, S. 19–23. Ethnien und Nationalismen in Osteuropa. Drei Vorüberlegungen zur vergleichenden historischen Forschung. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 5 (1994), H. 1, S. 7–22 (Themenheft: „Das Fremde vernichten“).

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VISUELLE GESCHICHTSKULTUR HERAUSGEGEBEN VON STEFAN TROEBST IN VERBINDUNG MIT ARNOLD BARTETZKY, STEVEN A. MANSBACH UND MAŁGORZATA OMILANOWSK A

EINE AUSWAHL



BD. 14  |  STEFAN ROHDEWALD GÖTTER DER NATIONEN

BD. 11  |  ARNOLD BARTETZKY,

RELIGIÖSE ERINNERUNGSFIGUREN ‌

RUDOLF JAWORSKI (HG.)

IN SERBIEN, BULGARIEN UND ‌

‌G ESCHICHTE IM RUNDUMBLICK

MAKEDONIEN BIS 1944

‌PANORAMABILDER IM ÖSTLICHEN

2014. 905 S. 18 S/W- UND 10 FARB. ABB.

EUROPA

GB.  |  ISBN 978-3-412-22244-4

2014. 213 S. 24 S/W- UND 70 FARB. ABB. GB.  |  ISBN 978-3-412-22147-8

BD. 15  |  MARINA DMITRIEVA, LARS KARL (HG.)

BD. 12  |  ARNOLD BARTETZKY,

DAS JAHR 1813, OSTMITTELEUROPA

CHRISTIAN DIETZ, JÖRG HASPEL (HG.)

UND LEIPZIG

‌VON DER ABLEHNUNG ZUR ‌

DIE VÖLKERSCHLACHT ALS ‌

‌ ANEIGNUNG? DAS ARCHITEKTONISCHE

(TRANS)NATIONALER ERINNERUNGSORT

ERBE DES SOZIALISMUS IN MITTEL- UND

2016. 299 S. 50 S/W- UND 40 FARB. ABB.

OSTEUROPA

GB.  |  ISBN 978-3-412-50399-4

FROM REJECTION TO APPROPRIATION? THE ARCHITECTURAL HERITAGE OF

BD. 16  |  ROBERT BORN,

SOCIALISM IN CENTRAL AND EASTERN

BEATE STÖRTKUHL

EUROPE

APOLOGETEN DER VERNICHTUNG

2014. 297 S. 43 S/W- UND 175 FARB. ABB.

ODER »KUNSTSCHÜTZER«?

GB.  |  ISBN 978-3-412-22148-5

KUNSTHISTORIKER DER MITTELMÄCHTE IM ERSTEN WELTKRIEG

BD. 13  |  AGNIESZKA GASIOR, AGNIESZKA

2017. CA. 352 S. CA. 59 S/W- UND 4 FARB.

HALEMBA, STEFAN TROEBST (HG.)

ABB. GB.  |  ISBN 978-3-412-50716-9

‌G EBROCHENE KONTINUITÄTEN ‌T RANSNATIONALITÄT IN DEN ERINNE-

BD. 17  |  ARNOLD BARTETZKY

RUNGSKULTUREN OSTMITTELEUROPAS

GESCHICHTE BAUEN

IM 20. JAHRHUNDERT

ARCHITEKTONISCHE REKONSTRUKTION

2014. 352 S. 51 S/W- UND 12 FARB. ABB.

UND NATIONENBILDUNG VOM ‌

GB.  |  ISBN 978-3-412-22256-7

19. JAHRHUNDERT BIS HEUTE 2017. CA. 432 S. CA. 200 S/WUND CA. 100 FARB. ABB. GB.

TT166

ISBN 978-3-412-50725-1

böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

ARMENIER IM ÖSTLICHEN EUROPA – ARMENIANS IN EASTERN EUROPE HERAUSGEGEBEN VON STEFAN TROEBST UND BÁLINT KOVÁCS

BD. 1 | TAMARA GANJALYAN, BÁLINT KOVÁCS, STEFAN TROEBST (HG.) ARMENIER IM ÖSTLICHEN EUROPA EINE ANTHOLOGIE 2017. CA. 528 S. CA. 15 S/W-ABB. GB. ISBN 978-3-412-21104-2

BD. 4 | TAMARA GANJALYAN DIASPORA UND IMPERIUM ARMENIER IM VORREVOLUTIONÄREN RUSSLAND (17. BIS 19. JAHRHUNDERT) 2016. 248 S. 2 KT. GB. ISBN 978-3-412-50572-1 BD. 2 | MARINA DMITRIEVA, BÁLINT KOVÁCS, STEFAN TROEBST (HG.) DIE KUNST DER ARMENIER IM ÖSTLICHEN EUROPA 2014. 256 S. 28 S/W. U. 27 FARB. ABB. GB. ISBN 978-3-412-21107-3 BD. 3 | KONRAD SIEKIERSKI, STEFAN TROEBST (HG.) ARMENIANS IN POST-SOCIALIST EUROPE 2016. 237 S. GB. ISBN 978-3-412-50155-6

BD. 5 | MINAS BŽŠKYANC DER REISEBERICHT DES MINAS BŽŠKEANĆ ÜBER DIE ARMENIER IM ÖSTLICHEN EUROPA (1830) ÜBERSETZT UND KOMMENTIERT VON BÁLINT KOVÁCS UND GRIGOR GRIGORJAN 2017. CA. 368 S. CA. 7 S/W-ABB. GB. ISBN 978-3-412-50724-4 BD. 6 | BÁLINT KOVÁCS FRÜHNEUZEITLICHE NETZWERKE SIEBENBÜRGISCHER ARMENIER KULTURTRANSFER NACH VENEDIG, POLEN-LITAUEN UND IN DAS OSMANISCHE REICH 2017. CA. 248 S. CA. 10 S/W-ABB. GB.

UK873

ISBN 978-3-412-50722-0

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HOLM SUNDHAUSSEN, KONRAD CLEWING (HG.)

LEXIKON ZUR GESCHICHTE SÜDOSTEUROPAS

Von den Karpaten bis zum Mittelmeer, von der Slowakei bis Zypern: Dieses Lexikon zur Geschichte Südosteuropas gibt Auskunft über Raumbegriffe, Völker, Religionen, Staaten, Gesellschaften, Recht, Wirtschaft, Kultur und über zentrale Ereignisse in der Region vom Ende der Antike bis zur Gegenwart. Die 2. Auflage wurde um viele neue Begriffe erweitert und die Texte unter Berücksichtigung des jüngsten Forschungsstands aktualisiert. Die Querverweise und ein Sachregister erleichtern die Benützung. Die mitwirkenden Autorinnen und Autoren sind renommierte Fachleute, die ein breites Spektrum geografischer, methodischer und thematischer Schwerpunkte garantieren. 2016. 2., ERWEITERTE UND AKTUALISIERE AUFL. 1102 S. 10 KT. GB. 170 X 240 MM | ISBN 978-3-205-78667-2

„[G]ehört in die Handbibliothek eines jeden, der an den Vorgängen in dieser Region interessiert ist.“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung zur ersten Aufl age)

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

FORSCHUNGEN ZUR GESCHICHTE UND KULTUR DES ÖSTLICHEN MITTELEUROPA | BAND 53

Im Zuge von Weltgeschichtsschreibung, Transnationalisierungsforschung und „neuen“ Area Studies ist die im deutschsprachigen Raum vertretene historische Teildisziplin Osteuropäische Geschichte unter Legitimationszwang geraten. Gleichzeitig wurde sie aber von eben diesen global orientierten Forschungsrichtungen als paradigmatischer Prototyp entdeckt. Das Erkenntnispotential der historischen Osteuropaforschung in ihrer Fokussierung auf Ostmitteleuropa, Südosteuropa, Nordosteuropa und den ostslavischen Raum, aber auch auf den Kaukasus und Zentralasien sowie bezüglich der Verflechtung mit anderen Weltregionen wird dabei zunehmend erkannt und genutzt. Dies gilt nicht zuletzt für die in diesem Teilfach entwickelte Konzeption der Geschichtsregion, welche mittlerweile nicht nur von anderen Europahistorikern, sondern auch von Vertretern weiterer geistesund sozialwissenschaftlicher Disziplinen kreativ adaptiert wird. Der Band belegt sowohl die Sinnhaftigkeit der geschichtsregionalen Konzeption „östliches Europa“ (samt ihren Untergliederungen) im intraregionalen Kontext als auch deren Konstituierung durch die Interaktion mit angrenzenden historischen Meso-Regionen. Stefan Troebst ist Professor für Kulturgeschichte des östlichen Europa an der Universität Leipzig und Stellvertretender Direktor des GWZO in Leipzig.

ISBN3-412-50757-1 IS BN 978 -3 - 412- 50757-2 | W W W. BOE H L AU -V E R L AG .COM

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