Zweite Auflage 
Platon. Erster Band. Leben und Werke [I, Second ed.]

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PLATON VON

ULRICHVONWILAMOWITZ-MOELLENDORF

ERSTER BAND

LEBEN UND WERKE ZWEITE AUFLAGE

BERLIN WEIDMANNSCHEBUCHHANDLUNG 1920

Druck von C. Schulze 4 Co., G. m. b. 1:1.,Gräfenhainichen.

HERMANNDIELS ALS ZEUGNIS

FUNFZIGJAHRIGER FREUNDSCJ IAFT.

I

m selben Jahre sind wir geboren, vor 50 Jahren zusammen in das Bonner Seminar aufgenommen, 1870 im selben Jahre promoviert, haben die in Bonn geschlossene Verbindung gepflegt, bis wir vor 21 Jahren in Berlin gemeinsam die philologische Abteilung des Institutes für Altertumskunde begründeten, das nun in prächtigen Räumen vereinigt alle Zweige unserer Wissenschaft in vorbildlicher Weise umfaßt. Bis zu unserem Tode werden wh· an der Universität und in der Akademie die nächsten Kollegen bleiben. Da ist mir diese Widmung Herzenssache schon aus persönlichen Gründen, v.on denen man weiter nicht redet. Aber die Wissenschaft steht über der Person, und da bedeutet diese Widmung mehr. Sie spricht aus, daß wir ganz unabhängig voneinander und in vielem recht verschieden allezeit denselben Zielen zugestrebt haben, auch auf denselben Wegen der Forschung, was man so Methode nennt, mochten wir uns auch zumeist auf verschiedenen Gebieten bewegen. Gerade deshalb ist es mir Bedürfnis zu bekennen, daß ich dieses Buch ohne die Doxographen, die Vorsokratiker, die unvergänglichen Untersuchungen über Physik, Rhetorik, exoterische Schriften des Aristoteles nicht hätte so schreiben können. Und es liegt noch ein drittes in dieser Widmung, etwas das uns beiden heilig ist; zu dem mich zu bekennen ist mir in dieser Zeit des Weltbrandes ganz besonders Herzenssache: die übernationale Einheit und die Freiheit der Wissenschaft. Diels hat als Sekretär der Berliner Akademie für die Gründung und den Ausbau des Weltbundes der Akademien in hervorragender Weise gewirkt. Ich habe als Sekretär der Göttinger Gesellschaft wenigstens das Kartell der Deutschen Akademien, die Vorbereitung

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Widmung.

der Association internationale, mit begründen können; ich darf wohl auch aussprechen, daß ich ganz persönlich die Beziehungen zu dn1 Fachgenossen des Auslandes mit Eifer und Erfolg wie wenige gepflegt habe. Noch 1913 hat man mich in London ausersehen, im Namen aller Akademien, die der Einladung zu dem internationalen Kongresse der historischen Wissenschaften gefolgt waren, das Wort zu führen. Arbeitsgemeinschaften und Freundschaften waren entstanden, deren Verlust ich nie verschmerzen werde, denn, wenn auch in mir die persönlichen Gefühle nicht erloschen sind, ich werde mit den einstigen Freunden nie mehr an demselben Tische sitzen. Aber die Freiheit für alle, überall zu forschen, alle Hilfsmittel zu benutzen, ja sogar auf Beihilfe rechnen zu dürfen, muß sofort mit dem Frieden hergestellt werden, nicht nur auf dem Papiere, sondern ehrlich von den Regierungen und den Personen anerkannt und durchgeführt. In Deutschland ist der Gedanke dieses Weltbundes geboren, aber er war von den Besten überall ehrlich und freudig aufgenommen: er muß sofort mindestens als Ziel wieder aufgenommen werden. Ich glaube, daß es nur ein Gewinn ist, wenn sich die Erneuerung der alten Formen jetzt verbietet, daß aber Wege gangbar sind, auf denen sich praktisch das Wesentliche erreichen läßt. Die Vertreter der Altertumswissenschaft haben überall in der ersten Reihe gestanden, wo es galt für diesen Weltbund einzutreten. Hatten sie doch schon vorher nach diesen Grundsätzen gelebt, schon als in Rom das Istituto di corrispondenza archeologica bestand, und die kameradschaftliche Tätigkeit der archäologischen Schulen Athens leistete bis zum Kriege dasselbe in höherer Potenz. Wir arbeiten eben alle an der Erforschung· jener Kultur, die für alle unsere nationalen, gleichberechtigten, einander ergänzenden Kulturen der gemeinsame Boden ist. Das führt zusammen. Dies Buch hier handelt von Platon und seiner Akademie. Nach dieser nennen wir uns alle: er ist unser aller Archeget. Halten wir ihm die Treue, überwinden wir alle Bitternis, allen Schmerz und allen Groll, wo immer es das Heil dessen gilt, das uns allen gleich heilig sein soll, stehen wir zusammen ein für die Freiheit des Forschens in allen Landen, für ei Delion bezeichnet, und sie wird wohl in der heiligen Schar stecken, die, wie es scheint, als solche erst in der Schlacht bei Leuktra auftritt. Wenn Xenophon von einem Episthenes aus Olynth oder Amphipolis erzählt, daß er seine ganze Kompagnie aus schönen Knaben zusammenstellte (Anab. 7, 4, 7), so hat das hiermit nichts zu schaffen; er ist der einzige, der ihnen gegenii.ber "seine Ma11nhaftigkeit bewährt", wie sich Xenophon ausdriickt.

11. Symposion;

Rede des Aristophanes.

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seine Rede, über die sich Aristophanes sofort lustig macht. Der Arzt weiß es so zu drehen, daß er den Eros in seiner eigenen Kunst zu deren Verherrlichung aufzeigen kann. Ihm ist er eine Naturmacht, die die Gegensätze, mit welchen die Physiologie zu wirtschaften pflegte, warm und kalt, trocken und feucht, zu und gegen einander drängt. Das kann Gutes und Böses wirken, also gibt es auch hier einen doppelten Eros; die Mütter führen zur Abwechslung zwei l\Iusennamen, Urania urd Polyhymnja. Der rechte Arzt versteht die Erotik, indem er im menschlichen Körper die Naturkräfte richtig leitet. Ähnlich verfährt der Musiker mit Konsonanz und Dissonanz. Es stecken gewiß auch hier anregende Gedanken, sowohl die heraklitische Lehre der komplementären Gegensätze 1) wie die empedokleischen Potenzen Hader und Liebe kling-en durch; so dient die Rede dazu, den überquellenden Gedankenreichtum zu zeigen, der Platon zur Verfügung steht. Der Sprecher dagegen soll unfreiwillig komisch wirken, wo immer er auftritt, und für seine l\Iedizin hatte Platon im Grunde nur Spott, denn sie war keine Wissenschaft. Wie wenig empfinden diejenigen platonisch, die sich abmühen, in den Reden eine Stufenleiter aufwärts bis zur Höhe Diotimas zu finden; so schematisch hätte vielleicht ein Rhetor komponiert, und auch den dürfte man nicht loben. Der Komiker verleugnet seine Kunst auch nicht, weder in dem tollen Spiele übermütiger Erfindungen noch in ihrer drastischen Ausführung; aber er ist der Dichter, in dessen Seele die Charis wohnt. Platon hat den Aristophanes als Dichter gewürdigt. Daß er den Schlucken hat, dient wahrlich nicht dazu, ihn wegen seines gestrigen Rausches zu verhöhnen 2), denn an den 1 )

Der „Einklang im Rückschlag von Bogen und Leier", der hier angeführt wird, besteht darin, daß die eine Hand den Bogen vorwärts, die andere die Sehne rückwärts zieht. Das liegt in der Natur der Sache, aber Platon selbst gibt auch die Erklärung. Staat -t39b, und der wird es doch richtig verstanden haben. Enti,.prechend klingt die Saite erst, wenn sie von dem Schlage des Plektron zuriickspringt. 2 ) Das ist eine schon antike Mißdeutung. Die Modernen finden gar einen Hinweis auf lockeren Lebenswandel darin, daß Sokrates sagt, die Tätigkeit des Aristophanes drehe sich um Dionysos und Aphrodite. Aber er sagt das nicht von der Person, sondern von d!;'m Komiker, um zu uegriinden, daß der Veranlassung hat, auf Eros zu reden. Dionysos, nicht metonymisch der Wein, sondern der Gott des dramatischen Spieles, tritt

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11. Verklärung

des Sokrates.

Folgen des gestrigen Festes leiden alle Teilnehmer, sondern bietet nur die Handhabe zu den lustigen Häkeleien mit Eryximachos. Unter dem mythischen Spiele ausgelassener Phantasien kommen die bedeutendsten Wahrheiten heraus. Endlich wird dem Naturtriebe sein Recht, der denn doch das Erste und Urspriingliche an Eros, der begehrenden Liebe, ist. Der Mensch, den der Eros ergreift, ergreifen muß, wenn er ein gesunder ganzer Mensch ist, sucht seine Hälfte: es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei. Wenn das Jahve sagt und dem Menschen daher eine Gefährtin gibt, so kommt Zeus auf anderem Wege zu demselben Ergebnis. Aber hier sucht der Mensch seine zugehörige Hälfte, und was der Liebende ersehnt, ist Vereinigung auf ewig. Das brauchte nur ernsthaft verfolgt zu werden, um recht bedeutende Wahrheiten und sittlich und erzieherisch bestimmende Sätze zu gewinnen, die sich neben Diotimas himmelanstrebender Erotik wohl behaupten kqnnten. Von Aristophanes, nicht von Diotima führt der Weg zu der rechten Ehe und mit dieser zu einem gesunder~ also auch sittlich höherstehenden Ziele als die Zuchtanstalt emes guten Nachwuchses in Platons Staat. Muß man nicht bedauern, daß er solche Töne zwar anzuschlagen, aber nicht zu verfolgen weiß, doch wohl vornehmlich, weil er hier nur mit dem Verstande beteiligt war. Dagegen wird es ihm eine Wonne gewesen sein, unter der Maske des Komikers einmal an tollem Fabulieren und drolliger Kleinmalerei seine Lust zu bUßen, auch wohl grellere Farben aufzusetzen, als er sich sonst erlaubte. Den Witz und die prickelnde Lustigkeit der Darstellung in irgendeiner modernen Sprache zu erreichen, ist schlechthin ausgeschlossen: das zu genießen, bleibt dem vorbehalten, der das nötige Griechisch beherrscht und zugleich liber Stilgefühl und freie Hingabe an Poesie veiiiigt. Aber so unzulänglich er auch ausfällt, der Versuch muß gemacht hinzu, damit wir merken, es ist der Komiker, den auch Aphrodite und ihr Sohn besonders angehen. Das ist freilich nicht ohne einigen Spoti gesagt. Auch dem modernen Dramatiker könnte man nachsagen, daß sich sein Handwerk, sein Dichten. um die Liebe drehe, und von Menander sagt Plutarch (Stobaeus II p. 44-1Hense) wirklich, der belebende Geist seiner Komödie wäre Eros. Für die alte Komödie mögen wir statt Aphrodite die „Aphrodisia"', ihre Werke, nennen; sie ist in der Tat mehr aphrodisisch als erotisch. Sie stammt nun einmal aus den Liedern der Phallophoren, und wer diese ihre Natur nicht verträgt, soll die Hand von ihr lassen.

11. Symposion; Rede des Aristophanes.

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werden: dieses Hauptstück, 189 cff., fordert auch an dieser Stelle seinen Platz. ,,Vor allem muß ich euch erzählen, wie der Mensch ursprünglich beschaffen war, und wie es ihm ergangen ist. Unser Leib war nämlich I zuerst gar nicht ebenso gebildet wie jetzt; er war ganz anders. Erstens gab es drei Geschlechter, nicht bloß wie jetzt männlich und weiblich, sondern noch ein drittes, das die beiden vereinigte; das ist jetzt verschwunden. Das war aus beiden zusammengesetzt, das Mann weibliche; so war es und so hieß es; es gibt nur noch den Namen, und der lebt nur noch als Schimpfwort. Dann war der ganze Rumpf des Menschen ein glattes Rund, Rippen und Rücken ringsherum; er hatte vier Arme, ebenso viel Beine und zwei Gesichter über einem runden Halse. Die beiden Gesichter standen einander gegenliber an dem einen Kopfe mit vier Ohren; auch die Geschlechtsteile waren doppelt, und alles andere, wie man sich danach denken kann. Diese Wesen konnten wie jetzt aufrecht gehen, nach vorn und nach hinten, wenn sie aber recht schnell laufen wollten, konnten sie es machen, wie wenn man ein Rad oder einen Purzelbaum schliigt: sie hatten ja acht Glieder dazu, auf die sie sich stutzen konnten, da ging es kopfüber im Schwunge des Radschlagens ganz schnell 1). Ihre Körperkraft war ganz gewaltig; da wollten sie auch hoch hinaus und nahmen den Kampf mit den Göttern auf. Was Homer von Otos und Ephialtes erzählt, daß sie sich einen Aufstieg zum Himmel machen wollten, um die Götter anzugreifeu, ist eigentlich ihre Gesc.:hichte. Zeus und die übrigen Götter überlegten sich, was sie tun sollten, und wußten sich keinen Rat. Totschlagen und mit den Donnerkeilen das Geschlecht vernichten wie die Giganten . mochten sie nicht; dann ging ihnen ja der Ehrensold der Opfer verloren, die sie von den l\Ienschen bekamen; aber ihr tolles Treiben mochten sie auch nicht gewähren lassen. Endlic.:h hatte Zeus einen Einfall und sagte: ,,Ich glaube, ich habe ein l\Iittel, die :Menschen zu erhalten, aber ihrer Unverschämtheit ein Ende zu machen: sie mUssen schwächer werden. Jetzt schneide ich jeden mitten durch; dann werden sie schwächer, und das ist auch vorteilhaft für uns; es gibt dann doppelt so viele. Nicht anders als aufrecht sollen sie gehen können, auf zwei Beillen. 1

)

Etwas ausgelassen.

WiJamowitz,

Platon.

Band I.

2. Aufl.

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11. Verklärung

des Sokrates.

Wenn ich aber dann noch finde, daß sie widerspenstig sind und keine Ruhe halten, dann (so drohte er), dann schneide ich sie noch einmal durch, daß ihr Gang ein Hopsen auf einem Beine wird." Und so schnitt er die Menschen mitten durch, wie man die Quitten zum Einmachen durchschneidet 1). Nach der Operation ließ er von Apollon das Gesicht und den halben Hals auf die Schnittfläche zu umdrehen; der Mensch sollte sehen, daß er eine Hälfte ist, und bescheiden werden. Das Übrige mußte Apollon wieder heil machen. Er drehte das Gesicht um, zog von allen Seiten die Haut dahin, wo jetzt der Bauch ist, zusammen, wie man an einer Lederbörse tut, die man auf ihre eine Öffnung hin zusammenzi(>ht und abschnürt: genau so machte er es, und so entstand, was wir jetzt Nabel nennen. Dann spannte er die Brust auf und strich alle Falten glatt; dazu hatte er ein Werkzeug wie die Schuster, wenn sie das Leder auf dem Leisten g1ätten. Ein paar Falten ließ er um den Nabel stehen, die sollten an das erinner-0..i___ was uns einstmals passiert ist. Weil nun das ganzeWesen entzwei geschnitten war, triebdie Sehnsucht die beiden Hälften zusammen; sie umschlangen sich mit den Hiins gesagt hat .zur Armut gehört die Klugheit" !Fr. 641).

11. Symposion;

Rede des Sokrates.

lang, zu ,bezaubern versteht er mit Sprüchen und Tränken und witzigen Worten. Nicht wie ein Uusterblicher ist er und nicht wie ein Sterblicher, sondern lebt und blüht und stirbt an einem und demselben Tage und lebt wieder auf, wenn er sich Rat geschafft hat nach seiner väterlichen Natur, aber was er sich auch schafft, zerfließt ihn wieder, So ist Eros niemals ganz arm noch ganz reich. Und auch zwischen Weisheit und Unwissenheit hält er die l\Iitte, denn sein Vater ist weise, aberseine l\lutter nicht 1)." Das Märchen hat keinen tiefen Sinn und steht höchstens in ganz loser Verbindung mit dem, was Diotima später als eine dem Sokrates kaum zugängliche Offenbarung Yorträgt. In der Tat nimmt er sie zunächst mit zweifelnder Verwunderung, uann schweigend hin, und wenn er auch am Schlusse seinen Glauben bekennt, so ist das doch nur die Form, in der ihn Platon l\Iythen annehmen läßt, die mit dem Denken des wirklichen Sokrates nichts gemein haben, und die auch Platon scharf von dem scheiden will, was er als bewiesen und beweisbar ansieht. Auch er wird nicht einmal wünschen, daß ihm jemand nachspricht, was er nur in dieser Hülle den l\Ienschen darbieten kann, wenn er nicht ähnliches erlebt hat. Denn allerdings eröffnet er uns einen Blick in das Allerheiligste seines Herzens. In Analogie zu der körperlichen Geschlechtsreife kommt auch die Seele des jungen Menschen in einen Zustand,