Zwei Gesichter der Aufklärung: Spannungslagen in Montesquieus »Esprit des lois« [1 ed.] 9783428453184, 9783428053186

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Zwei Gesichter der Aufklärung: Spannungslagen in Montesquieus »Esprit des lois« [1 ed.]
 9783428453184, 9783428053186

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Historische Forschungen Band 22

Zwei Gesichter der Aufklärung Spannungslagen in Montesquieus ,Esprit des lois‘

Von

Claus Peter Clostermeyer

Duncker & Humblot · Berlin

CLAUS-PETER

CLOSTERMEYER

Zwei Gesichter der Aufklärung

Historische Forschungen Band 22

Zwei Gesichter der Aufklärung Spannungslagen in Montesquieus,Esprit des lois*

Von

Dr. Claus-Peter Clostermeyer

DUNCKER

&

H U M B L O T

/

B E R L I N

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Clostermeyer, Claus-Peter: Z w e i Gesichter der A u f k l ä r u n g : Spannungsvorlagen i n Montesquieus „Esprit des lois" / von ClausPeter Clostermeyer. — B e r l i n : Duncker u n d Humblot, 1983. (Historische Forschungen ; Bd. 22) I S B N 3-428-05318-4 NE: GT

Alle Hechte vorbehalten © 1983 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1983 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3 428 05318 4

Vorwort Wenn man sich über zwei Jahre fast ausschließlich mit einem Autor beschäftigt hat, so erscheint einem mit der Zeit manches selbstverständlich, was dem Außenstehenden ungewöhnlich, manches ungewöhnlich, was jenem selbstverständlich ist. Ein Beispiel für letzteres ist die Beurteilung des politischen Standortes Montesquieus. Den meisten w i r d dieser Autor aus der Schulzeit als Vater der Französichen Revolution, aus der Vorlesung über die „Allgemeine Staatslehre" als Protagonist bürgerlich-rechtsstaatlichen Denkens vertraut sein. Für die neuere Forschung ist dies keineswegs mehr selbstverständlich: Montesquieu w i r d von ihr eher als eine konservative Gestalt der ständischen Reaktion der Régence gesehen. Wenn ich i n meiner Arbeit dagegen unter anderem wieder die i n die Zukunft weisende Seite des Denkens des Barons von La Brède i n den Vordergrund stelle, so scheint damit nur schon längst Bekanntes wiederholt. Dennoch hoffe ich, m i t meiner Darstellung zu einer differenzierteren Einordnung der Bedeutung Montesquieus i n der politischen Ideengeschichte zu kommen. Zum einen möchte ich meinen Autor i n bezug zum bürgerlich-liberalen Rechtsstaatsgedanken interpretieren. Der Ansatzpunkt hierfür liegt aber paradoxerweise eher i n der rückwärts gewandten Seite des Denkers von La Brède: Volksgeist, Fundamentalgesetze, Verfassung — alles das sind Schlagworte aus dem ständischen Denken der „réaction nobiliaire" des späten Ancien régime; ihre Bedeutung erlangten diese Begriffe aber i m „bürgerlichen" 19. Jahrhundert. A u f der anderen Seite steht bei Montesquieu das antike Modell, das für die verschiedensten Spielarten des „utopischen Sozialismus" desselben 19. Jahrhunderts Pate stand. Insoweit erscheint mein Autor i n zweierlei Hinsicht vorwärts gewandt: Zwei sich überholende geistige Bewegungen erscheinen i m Denken eines Autors vorgezeichnet. Etwas weiteres hat sich aus der intensiven Beschäftigung m i t meinem Autor ergeben: Der Gebrauch der französischen Sprache w i r d fast selbstverständlich. Hieraus erklärt sich auch die häufige Verwendung von längeren Originalzitaten. Trotz der schwereren Lesbarkeit des Textes wollte ich sie nicht übersetzen oder zusammenfassend referieren.

6

Vorwort

Zu viel geht gerade bei diesem „poète de la pensée" (Marcel Raymond) von Klarheit, Eleganz und Geist des Französischen des 18. Jahrhunderts i n einer Übersetzung verloren. A u f einen dritten Punkt möchte ich noch hinweisen: I n dieser Arbeit habe ich versucht, mich angesichts der Vielfalt der von Montesquieu ausgehenden Impulse nicht allein auf den i m engeren Sinne „staatsphilosophischen" Aspekt seines Werkes zu beschränken. Ich habe mich bemüht, i n meine Arbeit eine ganze Reihe von Ansätzen anderer Wissenschaftsdisziplinen zu integrieren. Bei einem solchen Versuch sind gewisse Mängel unvermeidlich, ich hoffe aber dennoch i n der Zusammenfassung manche Erkenntnisse gewonnen zu haben, die bei „einspurigem" Vorgehen nicht zu erreichen gewesen wären. Meine Arbeitsweise führt aber auch dazu, daß der „rote Faden" meiner Untersuchung schwerer zu verfolgen ist. Einerseits mußte eine Vielzahl von aussagekräftigen Ansätzen verfolgt werden, andererseits aber der Übersichtlichkeit halber vieles i n wenigen Sätzen verkürzt dargestellt werden. Vieles, was längerer Darstellung wert gewesen wäre, wurde i n eine kurze Fußnote verwiesen. So mußte es auch dem größten Teil der ausgewerteten Literatur ergehen. Angesichts ihrer ungeheuren Vielfalt konnte sie, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht eingehender diskutiert werden, ohne den Rahmen dieser Arbeit zu sprengen. Insgesamt aber hoffe ich, daß das Hauptanliegen der Arbeit, die Untersuchung des Prinzips des Widerspruchs i m Werk Montesquieus, deutlich werden wird.

Inhaltsverzeichnis

Α. Fragestellung

11

1. Ansatzpunkt: K r i t i k der A u f k l ä r u n g Koselleck Horkheimer / Adorno

11 11 12

2. Thema: Untersuchung eines „großen" Werkes eines „großen" Autors zur Uberprüfung dieser K r i t i k Rückbezug dieses Werkes auf den gesellschaftlichen H i n t e r g r u n d

15 18

3. Literaturübersicht Anliegen dieser A r b e i t

21 29

B. Montesquieu und die Kritik

32

1. Der Begriff der K r i t i k

32

2. Montesquieus ausdrückliche Absicht

36

3. Montesquieu u n d die Soziologie

40

C. Strukturen des Esprit des lois

45

I. Zeit und Raum

45

1. Hintergrund: Vernunftrecht u n d Gesellschaf tsvertrag

45

2. Montesquieus Konzept der „rapports" als funktionale Theorie . .

50

Begriffliche Trennung v o n Staat u n d Gesellschaft Gesellschaftstypen oder Staatsformen Quellen Montesquieus 3. Geistige Väter der Methode Montesquieus Newton Bacon Descartes Stellungnahme „Wissenschaftliche Revolution" Verwandte Tendenzen

52 54 59 62 62 66 67 69 72 75

8

Inhaltsverzeichnis 4. Typen „ P r i m i t i v e Gesellschaften" Republik Monarchie Despotie

79 79 82 87 90

5. Beziehungen zu einzelnen gesellschaftlichen Teilsystemen Erziehung Wirtschaft Religion Politisches System Freiheitsbegriffe Strafrecht Steuerrecht

91 91 93 98 100 102 106 107

6. Holistischer oder individualistischer Ansatzpunkt

108

7. Der Gesetzgeber Begriff Freiheit u n d Bindung Gesellschaftliche Eigengesetzlichkeiten Bevölkerungsentwicklung Wirtschaft

115 115 117 119 119 122

IL Einheit

und Vielfalt

125

III ê Natur

und Kultur

133

Naturbegriffe Lockes „Essay" Exkurs Klimatheorie Nationalgeist Germanen Frankreich Mechanische oder organische Staatstheorie

I V . Vernunft

und Gefühl

133 135 137 139 140 143 144 144

148

1. Fénelon

148

2. Grenzen der Vernunft bei Montesquieu

152

Stil Menschenbild Gefühl Exkurs Republik als A l t e r n a t i v e

154 155 155 157 160

Inhaltsverzeichnis V. Vernunft

und Geschichte

9 163

1. Robert Filmer

163

2. Jacques Benigne Bossuet

166

3. Montesquieu u n d die Geschichte

169

Bedeutung für die französische Revolution Geschichtsphilosophie Antike Sparta Athen Rom Germanen Dubos Boulainvilliers „Mythos der freien Germanen" Bewertung 4. Vernunftrecht der „Natur der Sache"

171 173 179 179 181 182 187 188 190 193 194 196

D. Zwei Strömungen

203

I. „Jakobinismus"

203

1. Rousseau

203

2. Marat

212

3. Saint-Just

217

4. Robespierre

221

II. Historismus

225

1. Hugo

225

2. Savigny

235

E. Zusammenfassung

241

Literaturverzeichnis

249

Α. Fragestellung 1. Ansatzpunkt: Kritik der Aufklärung M i t dem Ruf der Aufklärung steht es i n Deutschland nicht zum Besten. Als Beispiele sollen hier zwei Werke dreier — ansonsten grundverschiedener — Autoren dienen: Max Horkheimers und Theodor W. Adornos „Dialektik der Aufklärung" 1 sowie Reinhart Kosellecks „ K r i t i k und Krise" 2 . Ausgangspunkt für Koselleck ist die Diagnose eines Zustands der Krise, i n dem die Welt sich heute befinde. Diesen Zustand führt er auf die moralisierende K r i t i k der Aufklärung am absolutistischen Staat zurück, wobei die hier zutage tretende Sprengkraft des Dualismus von Moral und Politik — der Zustand der Krise — durch eine Geschichtsphilosophie verdeckt wurde, die den Lauf der Geschichte als zwangsläufiges Ende eines überpolitischen moralischen Prozesses ansah. Für seine Analyse hat Koselleck zwei Eckpunkte: Die religiösen Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts auf der einen, die französische Revolution auf der anderen Seite. Zwischen diese beiden historischen Situationen fällt Aufstieg, Blüte und Verfall des Absolutismus. Anhand der Staats- bzw. Völkerrechtslehre von Thomas Hobbes und Emer de Vattel stellt er sowohl für den inner- als auch für den zwischenstaatlichen Bereich eine Trennung von Politik und Moral fest: Der Staat ist moralisch neutral und entscheidet souverän, das Gewissen des Menschen ist, solange es den Staat nicht durch Taten berührt, frei 3 . Auch eine zwischenstaatliche Ordnung lasse sich nur durch Orientierung an politischen Gegebenheiten und nicht an moralischen Gesetzen erreichen 4 . Die — innerstaatliche — Trennung von Mensch und Untertan sei der Ansatzpunkt der Aufklärung. Sie radikalisiere diese Unterordnung der 1 I m folgenden zitiert nach der Erstausgabe: Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: D i a l e k t i k der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Amsterdam 1947. 2 Reinhart Koselleck: K r i t i k u n d Krise. E i n Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Freiburg — München 1959. 3 Koselleck, S. 29 f. 4 I b i d , S. 35.

12

Α. Fragestellung

Moral unter die Politik zu einem Dualismus: Einerseits übe sie von einem moralischen Standpunkt aus K r i t i k an der Politik, andererseits entziehe sich diese K r i t i k , die politisch gemeint ist, dem Bereich des Politischen, bleibe i m gesellschaftlichen Bereich 5 der Freimaurerlogen und der Gelehrtenrepublik: „Indem Voltaire literarische, ästhetische oder historische K r i t i k trieb, kritisierte er indirekt die Kirche und den Staat 6 ." Koselleck stellt eine zunehmende Politisierung der K r i t i k von Richard Simon und Pierre Bayle, über Voltaire und Denis Diderot, h i n zu Immanuel Kant fest. Das Mittel der Verwirklichung dieser K r i t i k wurde die Geschichtsphilosophie: Sie verlieh der moralischen Haltung die Gewißheit, einst zwangsläufig den Sieg davonzutragen 7 . Dabei erfülle Geschichtsphilosophie zweierlei Funktionen: Zum einen entlaste sie das Gewissen der K r i t i k e r — nicht sie, sondern der Lauf der Geschichte bestimmen das Schicksal des Staates — zum anderen ermögliche gerade diese Entlastung des Gewissens durch Verschieben der Konsequenzen auf morgen heutiges Agieren 8 . Zwischen 1770 und 1780 trete der Begriff der Krise i n das Denken der Aufklärer — von dem bisherigen, indirekt politischen, Verhalten gingen sie über zu der Frage nach dem „Entweder — Oder", der Frage nach Freiheit oder Despotie, die von der Krise als „Vollzug einer moralischen Jurisdiktion" 9 gelöst werden soll. Die Konsequenz des Bürgerkriegs werde durch die Erfüllung moralischer Postulate i n der Krisensituation geschichtsphilosophisch verschleiert. Das Ergebnis dieser Suche nach der Einheit von Moral und Politik ist so nach Koselleck der totale Staat, „die permanente Revolution i m Gewände der Legalität" 1 0 . Dabei werde auch der private Innenraum, den der Absolutismus gewährte, erfaßt und einer „ideologischen Diktatur der Tugend" 1 1 ausgeliefert — maskiert durch den Gedanken der volonté générale. Kritisiert Koselleck den politischen Totalitarismus der Aufklärung, deren Denken i n radikalen Dualismen einen bis heute andauernden Zustand der politischen Krise hervorgerufen habe, so wenden sich Horkheimer und Adorno noch weit umfassender gegen die Aufklärung 1 2 . 5 A l s Beispiel führt Koselleck die Schillersche Auffassung der Bühne als „Stätte moralischer Gerichtsbarkeit" an (S. 84 f.). 6 Ibid., S. 94. 7 Ibid., S. 107. 8 Ibid., S. 112. 9 Ibid., S. 146. 10 Ibid., S. 136. 11 Ibid., S. 139. 12 Auffallend bei allen drei A u t o r e n das religiös gefärbte Vokabular: „ V e r blendung" (.Koselleck, S. 157); „Verblendungszusammenhang" (Horkheimer, S. 56), „Verblendung" (ibid., S. 50), „gleißnerischer" Geist, „heilloser Zustand" (ibid., S. 8 f.).

1. Ansatzpunkt: Kritik der Aufklärung bei Koselleck

13

Dies zum einen i n der Zeitebene: Sie verstehen Aufklärung i n einem weiten Sinne als Entmythologisierung 13 , wobei die Aufklärung i m engeren Sinne sich aber durch eine besondere Radikalität auszeichnet. Aber auch diese Aufklärung bestimmen sie weiter: Nicht erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts lassen sie den kritischen Geist mit seinem Werk beginnen, das dann 1789 mit dem Erreichen des Zustandes der Krise vollbracht ist, sondern sie begreifen gerade Denker wie Thomas Hobbes als Vertreter der „dunklen Seiten" der Aufklärung 1 4 . Aufklärung also nicht als Reaktion auf, sondern als Theorie des Absolutismus — Aufklärung als „wirkliche Bewegung der bürgerlichen Gesellschaft" 15 , die sich also nicht erst i m Schatten des Absolutismus konstituiert, sondern schon den Absolutismus als ihr gemäße Herrschaftsform erzeugt. Zwei Thesen werden von den Autoren aufgestellt: Zum einen die, daß der Mythos schon Aufklärung sei, zum anderen, daß Aufklärung wieder i n Mythologie zurückschlage 16 . Der zweite Punkt ist für die vorliegende Arbeit wesentlich: Als Paradebeispiel aufklärerischen Denkens stellen Horkheimer und Adorno Francis Bacon dar. Für ihn ist Technik das Wesen aufklärerischen Wissens — es gilt die Natur und den Menschen zu beherrschen: „Macht und Erkenntnis sind synonym 17 ." Für die Autoren „schneidet" Aufklärung „das Inkommensurable weg" 1 8 , sie löse die Qualitäten auf, zwinge die Menschen zu Konformität 1 9 , „die Zahl wurde zum Kanon der Aufklärung" 2 0 . Die Zahl und nicht die Individualität findet sich i n der Formel wieder. Für die Aufklärung ist das Denken i n Systemen entscheidend, wobei Horkheimer und Adorno nicht zwischen der rationalistischen und der empiristischen Aufklärung unterscheiden wollen 2 1 . „Alles w i r d zum wiederholbaren, ersetzbaren Prozeß, zum bloßen Beispiel für diese begrifflichen Modelle des Systems, auch der einzelne Mensch, vom Tier zu schweigen 22 ." Dieses auf Wissen begründete Herrschaftsverhältnis sei — anders als dies Hegel sieht — nicht dialektisch: „Der Knecht bleibt unterjocht an Leib und Seele, der Herr regrediert 23 ." Die Mystifizierung der Tat13

Horkheimer , S. 112. Ibid., S. 107; 110. 15 Ibid., S. 8. 16 Ibid., S. 10; 22 „Wie die M y t h e n schon A u f k l ä r u n g vollziehen, so verstrickt die A u f k l ä r u n g m i t jedem ihrer Schritte tiefer sich i n Mythologie." 17 Ibid., S. 15. 18 Ibid., S. 23. 19 Ibid. 20 Ibid., S. 17 f. 21 Ibid. 22 Ibid., S. 103. 23 Ibid., S. 49. 14

14

Α. Fragestellung

Sachen läßt jeglichen revolutionären Impetus i n ein Vertrauen auf objektive geschichtliche Entwicklungen entarten. Die Einschätzung des Verhältnisses von Aufklärung und Geschichtsphilosophie ist hier also genau entgegengesetzt wie bei Koselleck: Zwar auch „Verblendung" 2 4 — jedoch nicht i m Sinne einer Verschleierung der destruktiven Kraft der Aufklärungskritik durch ein geschichtsphilosophisches Theorem, sondern i m Sinne einer Anpassung an das Gegebene. Der technische Aspekt, unter dem die aufklärerische Vernunft tätig wird, lasse sich vor alle Zwecke spannen. Indem sie nicht inhaltlich ist und Ziele setzt, seien ihr alle Affekte gleich natürlich: „Wenn alle Affekte einander wert sind, so scheint die Selbsterhaltung, von der die Gestalt des Systems ohnehin beherrscht ist, auch die wahrscheinlichste Maxime des Handelns abzugeben 25 ." Die Aufklärung ist sich so i m Innersten der Unableitbarkeit der Moral bewußt, ihre diesbezüglichen Lehren seien „propagandistisch und sentimental" 26 . Ein Zusammenhang mit den sonstigen Theorien bestehe kaum. Insoweit sehen Horkheimer und Adorno i m Denken des Marquis de Sade und Friedrich Nietzsches die letzte Konsequenz der Aufklärung. I n der „Genealogie der Moral" (1887) stellt dieser fest: „Daß die Lämmer den großen Raubvögeln gram sind, das befremdet nicht: nur liegt darin kein Grund, es den großen Raubvögeln zu verargen, daß sie sich kleine Lämmer holen 27 ." Nach der Religion w i r d auch die Moral als Vorurteil entlarvt, das die Aufklärung zerstören muß. Die „dunklen Schriftsteller" der Aufklärung sind hier konsequent, sie behaupten nicht mehr, „daß die formalistische Vernunft i n einem engeren Zusammenhang mit der Moral als m i t der Unmoral stünde" 28 . Zwei K r i t i k e n der Aufklärung also — beide jedoch mit völlig verschiedener Stoßrichtung. Betont die eine die Sprengkraft, die der Dualismus Moral — Politik für die pax hobbesiana bedeutet, so kommt die andere zum entgegengesetzten Ergebnis: Aufklärung als Lieferant von Herrschaftswissen, als instrumentalisierte Vernunft, der jegliche k r i t i sche Tendenz gegenüber dem Bestehenden fremd ist. Was die eine Auffassung der Aufklärung vorwirft, bemängelt die andere als fehlend; den Zustand, den die eine als unwiderbringlich dahin beklagt, sieht die andere heute zu seiner letzten Konsequenz geführt. Angesichts dieser Verwirrung bezüglich der Aufklärung w i l l die folgende Untersuchung wenigstens für ein „großes" Werk eines der „Gro24 25 26 27 28

Ibid., S. 56. Ibid., S. 110. Ibid., S. 105. Friedrich Nietzsche: Werke, Bd. V I I I . Leipzig (1905), S. 326. Horkheimer , S. 141.

2. Thema: Untersuchung eines „großen" Werkes

15

ßen" des Siècle des lumières eine Klärung versuchen: Thema dieser Arbeit ist Montesquieus „De l'esprit des loix ou du rapport que les loix doivent avoir avec la constitution de chaque gouvernement, les moeurs, le climat, la religion, le commerce, & cet." 2. Thema: Untersuchung eines „großen" Werkes eines „großen" Autors zur Überprüfung dieser Kritik Diese doppelte Beschränkung der Arbeit erscheint aus mehreren Gründen vertretbar und richtig. Zum einen kann man davon ausgehen, daß i n diesem Buch die meisten Tendenzen seiner Zeit vereinigt sind — Tendenzen, die oft widersprüchlich sind, so widersprüchlich wie das ganze K l i m a des späten Ancien régime. Ausgangspunkt ist der Esprit des lois als eines der meistgelesenen ünd heftigst diskutierten Bücher seiner Zeit; innerhalb weniger Jahre erlebte er über zwanzig Auflagen, dies trotz eines stolzen Preises und einer anspruchsvollen — wissenschaftlichen — Aufmachung 29 . Das Lesepublikum des Esprit des lois muß sich zu einem guten Stück i n diesem Buch wiedergefunden haben; indem w i r dieses analysieren, können auch Aussagen über die geistige Verfassung der führenden Kreise dieser Zeit gemacht werden. Beim Versuch, einige Hauptgedanken dieses Werkes herauszuarbeiten, ein Bemühen, das trotz einer vielfältigen Literatur (s. u.) nicht überflüssig ist, werden Spannungen und gegenläufige Tendenzen, die quer zur bisher angenommenen Trennung zwischen Bürgertum und Aristokratie verlaufen, deutlich werden. Diese Spannungen spiegeln sich auch i n der äußerst kontroversen Einschätzung des politischen Standorts unseres Autors wider. Das Spektrum reicht vom altständischen Reaktionär 30 über den Konservativen und aristokratischen Liberalen 3 1 bis h i n zum Vorläufer der Jakobiner 32 oder sogar des Sozialis29 Vgl. dazu Edgar Mass: Die Leser des „Esprit des Lois". I n : Jahrbuch für Internationale Germanistik. V I I (1975), S. 36—57, 55; die epochale W i r k u n g des Werkes gibt auch ein deutscher K r i t i k e r w i e Friedrich Ancillon: Über den Geist der Staatsverfassungen u n d dessen Einfluß auf die Gesetzgebung. Berl i n 1825, S. X I V zu, indem er den „Esprit" m i t Newtons „Principia", Smith's „Wealth of Nations" u n d Kants „ K r i t i k der reinen V e r n u n f t " vergleicht. 30 Statt vieler: Louis Althusser : Montesquieu. L a politique et l'histoire. 3e éd. Paris 1969, S. 121: „opposant de droite". 31 Statt vieler: Jean Carbonnier: Sociologie juridique. Paris 1978, S. 81; Jean-Jacques Chevallier: Montesquieu ou le libéralisme aristocratique. I n : Revue internationale de philosophie. 9 (1955), S. 331. 32 Maxime Leroy: Histoire des idées sociales en France. I. De Montesquieu à Robespierre. Paris 1946, S. 109; E. V. Walter: Policies of violence: F r o m Montesquieu to the terrorists. I n : K u r t H. W o l f f / Barrington Moore, j r . (eds): The critical spirit. Essays i n honour of Herbert Marcuse. Boston 1967, S. 121 bis 149.

16

Α. Fragestellung

mus 33 . Daß diese Einordnung des Weltbildes von Montesquieu auch wieder Voraussetzung für die Interpretation des Werkes ist, braucht nicht weiter betont zu werden. Das Problem, ob Montesquieu die französische Monarchie von „rechts" oder „links" kritisiert, hat natürlich seine Auswirkungen i n der Beschreibung und Analyse dieser Monarchie und ist weiter von Bedeutung bei der Klärung der Frage, inwieweit das Denken unseres Autors Nachfolger gefunden hat, wie seine Wirkungen i m politischen Raum ganz allgemein waren. Hier muß auch die Rückwirkung von Literatur auf die Gesellschaft herausgestrichen werden. Es ist gerade ein Zeichen für die mustergültige Formulierung von Auffassungen, die — wenn auch vielleicht nur unbewußt — das Verhalten der Menschen prägen, wenn dann wieder starke Wirkungen auf gerade dieses Verhalten festgestellt werden. „The author is not unie i n having an emotion, he is unie i n his ability to take the initiative i n expressing what all feel but what the author alone can bring to some k i n d of form which ,clarifies 4 what is felt 3 4 ." Insofern stellt der Schriftsteller dem Publikum Möglichkeiten des Handelns vor, „roles which are given to individuals to use i n imagining what i t would be like to play such roles" 35 . Besonders stark ist diese Wirkung natürlich bei schöngeistiger Literatur, diese stellt Handlungsmöglichkeiten oft personifiziert i n quasi-mythischen Helden dar: „Davy Crockett, Johnny Appleseed, Paul Bunyan, Huck Finn, Jesse James, Buffalo Bill, and more recently Babbit" 3 6 symbolisieren zum Beispiel i n den Vereinigten Staaten Typen von Handlungen. I n wenn auch nicht so eindrücklicher A r t und Weise w i r d dies ähnlich von philosophischen Werken geleistet. Auch sie stellen Möglichkeiten des Handelns i n einer bestimmten historischen Situation vor: Man denke nur an den „Fürsten" Niccolo Machiavellis. Eine weitere Einschränkung, neben der auf einen Autor, stellt die Beschränkung auf ein Werk dieses Autors dar. Diese Konzentrierung auf das politisch-staatsphilosophische Hauptwerk des Autors von La Brède läßt sowohl eine Reihe eher literarischer als auch wissenschaftlicher Werke außer acht. Weiter bleiben die i n letzter Zeit zunehmend i n den Mittelpunkt des Interesses gerückten, zu Lebzeiten des Autors 33 André Lichtenberger: Le socialisme au X V I I I e siècle. Etude sur les idées socialistes dans les écrivains français du X V I I l e siècle avant la révolution (Thèse Lettres) Paris 1895, S. 84. 34 Hugh Dalziel Duncan: Language and literature i n society. A sociological essay on theory and method i n the interpretation of linguistic symbols. W i t h a bibliographical guide to the sociology of literature. 2nd ed. New Y o r k 1961, S. 5. 35 Ibid. 36 Ibid., S. 14.

2. Thema: Untersuchung eines „großen" Werkes unveröffentlichten, Tagebücher, Reisebeschreibungen und sammlungen außer Betracht.

17 Material-

Diese Beschränkung hat ihre Gründe: Zum einen klammert sie eine Reihe von — für Literaturhistoriker interessante — Fragen aus (ζ. B. die nach der Schichtung zwischen Jugend- und Alterswerken Montesquieus), die jedoch den Rahmen dieser Arbeit sprengen würden. I m übrigen scheint m i r inzwischen die überwiegende Meinung dahin zu gehen, daß der Esprit des lois als Quintessenz des Montesquieuschen Denkens angesehen werden kann, i n der — wenn auch vielleicht i n anderer Gewichtung — alle Elemente seines Lebenswerkes vertreten sind 37 . Unstreitig ist der eher literarische Charakter der Lettres persanes und der politisch^staatsphilosophische des Esprit des lois 38 , auch insoweit bietet sich die Beschränkung auf diesen i m Rahmen meiner Arbeit an. Ein drittes Argument ist nach meiner Auffassung jedoch entscheidend: Seit der Herausgabe und breiten Publizierung der zu Montesquieus Lebzeiten ungedruckten und auch nicht zum Druck bestimmten persönlichen Aufzeichnungen hat die Montesquieu-Diskussion zwar erheblich an Breite gewonnen, jedoch keineswegs an Stringenz. Wie bei der Auswertung persönlicher Notizen nicht anders zu erwarten, ist die Interpretation unseres Autors ins Uferlose gewuchert. Jede Auffassung kann sich dabei m i t mehr oder weniger Recht auf diese oder jene „Pensées" des Denkers von La Brède berufen. Dies mag für die Psychologie und die Arbeitstechnik unseres Autors sehr aufschlußreich sein, zeigt aber die grundsätzliche Unzulänglichkeit eines solchen Vorgehens. Nur das Festmachen an der „positivité des pensées exprimées" 39 verhindert ein A b gleiten i n reine Spekulation, i n der sich eher der Interpret als der zu Interpretierende finden mag. Entscheidend können nicht die Absichten eines Autors sein, wie sie sich i n seinen Notizen finden lassen, ausschlaggebend kann nur das bewußt der Öffentlichkeit überantwortete Werk sein. Aber auch das Festmachen an einem bestimmten Text bannt die Gefahr der Spekulation noch nicht. Auch dies zeigt die Montesquieu-Literatur deutlich. Statt von dem ganzen Esprit des lois auszugehen, w i r d schnell i n wichtige und unwichtige Teile geschieden. Zur zweiten Kate37 Paul Vernière : Montesquieu et l'Esprit des lois ou la raison impure. Paris 1977, S. 29: „c'est l'homme d'un seul livre, unius libri " 38 A l s einziger v e r t r i t t die Auffassung, daß es sich auch beim Esprit u m ein literarisches W e r k — vergleichbar m i t Goethes Faust — handle: Victor Klemperer: Montesquieu. 2 Bde, Heidelberg 1914—15 (Beiträge zur neueren L i t e r a turgeschichte. N. F. V I — V I I ) : „ N u r daß er ein Dichter ist, der Himmel, Erde u n d Hölle abschreitet u n d eben deshalb jenes alles i n sich umfaßt, ist noch nicht gesagt worden . . . (S. I X ) . 39 Henry Duméry : Doctrine et structure. I n : Etudes sur l'histoire de la p h i losophie en hommage à M a r t i a l Gueroult. Paris 1964, S. 158.

2 Clostermeyer

18

Α. Fragestellung

gorie gehören fast immer die letzten Bücher des Esprit 4 0 . Dem entspricht regelmäßig eine Bevorzugung der ersten Bücher des Werks; trotz der riesigen Montesquieu-Literatur betritt man, je weiter man i m Werk vorankommt, noch eine terra incognita. Entscheidend ist meiner Auffassung nach jedoch die Gesamtstruktur des Werkes 41 — nur ihre Erforschung w i r d einem Denken gerecht, das ansonsten als eine Anhäufung von autonomen Elementen dem Interpreten oft lediglich als Beispielssammlung dient. „De même que la beauté d'un tableau apparaît dans les lignes, dans ses coloris, la beauté d'une statue ou d'un monument dans ses volumes ou dans ses proportions, de même la ,vérité' d'une philosophie apparaît dans son architecture, dans le concert et les éléments 42 ." Der Unterschied zwischen einem philosophischen und einem literarischen Werk kann dann darin gesehen werden, daß die Essenz des ersteren unter der Form, das Entscheidende des letzteren in seiner Form liegt. Für den Esprit wäre somit, wenn auch unter Berücksichtigung der Form, eher der Inhalt ins Auge zu fassen. Dieser Inhalt soll i n meiner Arbeit auf den gesellschaftlichen Hintergrund zurückbezogen werden. Daß dieser politisch-gesellschaftlichhistorische Hintergrund eines i m weitesten Sinne literarischen Werkes bei der Analyse zu berücksichtigen sei, ist i n neuerer Zeit seit dem berühmten Satz, wonach es nicht das Bewußtsein der Menschen sei, das i h r Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimme 43 , heftig umstritten gewesen. I n Auseinandersetzung m i t diesem Gedanken ist i n unserem Jahrhundert, wobei sie auf den Historismus W i l h e l m Diltheys aufbauen konnte, die Wissenssoziologie entstanden 44 . Diese beschäftigt sich — m i t jeweils wechselnder Gewichtung — m i t der Frage, inwieweit menschliches Denken durch seine Umwelt bestimmt wird. Dabei hat die „klassische" Wissenssoziologie eher die großen — literarischen und philosophischen — Ideen i m Auge, weniger die Alltagsvorstellungen der „einfachen" Menschen. 40 Diese E n t w i c k l u n g begann m i t der Ä n d e r u n g des Titels des Werks durch Jacob Vernet, der den Druck i n Genf beaufsichtigte: „De l'esprit des l o i x . . . à quoi l'auteur a ajouté des recherches nouvelles sur les l o i x romaines touchant les successions, sur les l o i x françoises et sur les l o i x féodales" — vgl. die Correspondance Montesquieus m i t Vernet: Oeuvres I I I , S. 1130 f. 41 Lucien Goldmann: Dialektische Untersuchungen. Neuwied — B e r l i n 1966, S. 35; Duméry, S. 159. 42 Duméry , S. 156. 43 Aus dem V o r w o r t zu: Karl Marx: Z u r K r i t i k der politischen Ökonomie. Erstes Heft. B e r l i n 1859 — i n der Ausgabe B e r l i n 1968, S. 15. 44 Vgl. die Übersicht bei Peter L. Berger / Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche K o n s t r u k t i o n der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. 2. Aufl. F r a n k f u r t a. M. 1970, S. 5—14.

2. Thema: Untersuchung eines „großen" Werkes

19

Der wissenssoziologische Ansatz w i r d auch für meine Arbeit wichtig: Ohne von einer einseitigen gesellschaftlichen Determiniertheit auszugehen, möchte ich versuchen, anhand des Werkes eines der „Großen" des 18. Jahrhunderts etwas vom Geist des französischen Siècle des lumières zu erfahren. Insoweit hat die Beschränkung auf den Esprit des lois jedoch zwei Nebenfolgen, die man immer i m Auge behalten muß: Diese Zeit ist natürlich noch wesentlich vielfältiger, als es selbst ein so umfangreiches Werk wie der Esprit des lois ausdrücken kann, zum anderen ist ein einzelner Autor auch i n vielem „origineller" als seine Zeit. Als methodischen Ausgangspunkt verwende ich einen Gedanken Lucien Goldmanns 45 . Dieser geht i n allen seinen Werken davon aus, daß es möglich sei, „repräsentative" Schriftsteller zu finden — seien es Wissenschaftler, Philosophen oder Künstler — die mehr oder weniger kohärent eine Weltanschauung ausdrücken, die einer bestimmten Schicht zu eigen ist. „Der wahrhaft große Denker ist erst derjenige, dem es gelingt, die jeweils vom Standort und Standpunkt irgendeiner Gruppe größtmögliche Wahrheitserkenntnis zu erreichen und sie so zu formulieren, daß er i h r wirkliches und wirksames Leben einflößen kann 4 6 ." Dabei muß die schriftstellerische Darstellung keineswegs den statistisch feststellbaren, tatsächlichen Auffassungen dieser Gruppen entsprechen. So bewegt sich zum Beispiel die Philosophie Immanuel Kants selbstverständlich auf einer ganz anderen Ebene als die durchschnittliche Vorstellung des Bürgertums seiner Zeit. Der Denker purifiziert das wirkliche Bewußtsein einer Gruppe, das i n der gesellschaftlichen Realität niemals rein vorkommen wird. Beide A r t e n der Untersuchung, die des wirklichen und die des Maximums an möglichem Bewußtsein ergänzen sich, arbeiten aber auf verschiedenen Abstraktionsebenen. Beispiele für die Beschreibung des wirklichen Bewußtseins — hier des Bürgertums — stellen die Arbeiten von Max Weber und Bernhard Groethuysen dar 4 7 . Die zweite A r t der Analyse hat Goldmann i n seinem Hauptwerk über Pascal und Racine versucht 48 , wobei er bei beiden den Typus der „tragischen Weltsicht" herausarbeitet, einen Typus, den er später auch bei Kant feststellt. Die französische noblesse de robe 45

Luden Goldmann: Mensch, Gemeinschaft u n d Welt i n der Philosophie Immanuel Kants (Diss, phil.) Zürich 1945, S. 19—36; ders.: Dialektische Untersuchungen. Neuwied — B e r l i n 1966; ders.: Gesellschaftswissenschaften u n d Philosophie. F r a n k f u r t a. M. 1971. 46 Goldmann: Gesellschaftswissenschaften, S. 50. 47 Max Weber: Die protestantische E t h i k u n d der Geist des Kapitalismus. I n : ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. 1. 5. A u f l . Tübingen 1963; Bernhard Groethuysen: Die Entstehung der bürgerlichen W e l t - u n d Lebensanschauung i n Frankreich. 2 Bde. Halle a. d. S. 1927—30. 48 Luden Goldmann: Le dieu caché. Etude de la vision tragique dans les Pensées de Pascal et le théâtre de Racine. Paris 1956.



20

Α. Fragestellung

des 17. und das deutsche Bürgertum der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert stehen als soziale Bedingungen hinter den Werken dieser Autoren. So wie der französische Amtsadel das Treiben des Hofadels „ m i t einer gewissen neiderfüllten Verachtung" 49 betrachtete, andererseits aber für ihn eine radikale Veränderung ausschied, da er zu sehr an das Ancien régime gebunden war, so bestand für das deutsche Bürgertum angesichts seiner Schwäche gegenüber der ständischen Ordnung ein „Mißverhältnis zwischen Ideal und Wirklichkeit" 5 0 . Beide Gruppen standen i n Konfliktsituationen: Überwiegt bei Pascal und Racine der Konflikt zwischen Vernunft und Empfindung, Pflicht und Leidenschaft, so w i r d das Denken von Kant und Goethe von einem Bruch zwischen Denken und Handeln beherrscht. Die Determiniertheit des Ausdrucks durch eine spezifische gesellschaftliche Herkunft lehnt Goldmann ab. Ein Aristokrat kann also durchaus bürgerliche Ansichten vertreten. Auch muß die eigene politische Auffassung des Schriftstellers durchaus nicht das Wesen seines Werkes ausmachen. Als Beispiel führt Goldmann Honoré de Balzac an: Obwohl Legitimist, zeichnet er schonungslos die Laster einer verfallenden Aristokratie. Er unterwirft also nicht jegliche geistige Produktion einem Ideologieverdacht. Ideologien sind für ihn, i m Gegensatz zu den oben skizzierten Weltanschauungen, nur partieller Natur. Goldmann verknüpft sie mit kleineren gesellschaftlichen Gruppen oder Klassen i m Niedergang. Weltanschauung dagegen ist für i h n Ausdruck einer Auffassung, die, obwohl von einer Klasse 51 getragen, das Ideal hat, sich auf die gesamte menschliche Gemeinschaft zu erstrecken. Hier gilt aber die Grenze eines möglichen Bewußtseins. Als Beispiel führt er die vollkommene Fremdheit des liberalen Wirschaftsdenkens gegenüber dem der Physiokraten, wie es i m „Tableau économique" von Francois Quesnay (1758) zum Ausdruck kommt, an 52 . Erst die wirtschaftlichen Probleme des 20. Jahrhunderts haben bei Autoren wie John Maynard Keynes und Joseph A. Schumpeter den Ansätzen der Physiokraten zu neuem Leben verholfen. Goldmann betont die „relative Autonomie" 5 3 des Geistigen. Sind bestimmte Grundgedanken einer Weltsicht erst einmal formuliert, so be49

Ders.: Dialektische Untersuchungen, S. 47. Ibid. 51 Goldmann verwendet hier nicht die althergebrachte Dreiteilung i n Adel — Bürgertum — Proletariat, sondern differenziert z. B. für das Siècle Louis X I V zwischen den großen Feudalherren, dem Hofadel, dem Amtsadel, dem vermögenden tiers état u n d dem bas peuple der Handwerker u n d Bauern (Gesellschaftswissenschaften, S. 93). 52 Goldmann: Gesellschaftswissenschaften, S. 104 ff. 53 Ibid., S. 83. 50

3. Literaturübersicht

21

steht für nachfolgende Denker die Möglichkeit, die gewonnene Weltsicht zu verfeinern, auszubauen und zu systematisieren. Zusammenfassend ist bei Goldmann also der Gedanke einer Verschränkung von geistiger Produktion und Umwelt festzustellen, wobei für die Umwelt spezifische soziale Schichten und ihre Denkungsart wichtig sind. Dieser Ansatz erlaubt, i n der Untersuchung eines einzelnen Autors typisierende Aussagen über sein Verhältnis zu seiner Umwelt zu machen. Die Analyse eines schriftstellerischen Werkes ist daher nicht nur für die Kenntnis seines Autors, sondern auch für die Kenntnis der Welt von Bedeutung. Der Einwand, daß dies mehr für den philosophischen als den literarischen Gehalt eines Werkes gelte und daß dieser Ansatz nur für die ganz großen Werke einer bestimmten Zeit Aussagekraft habe 54 , mag zutreffen und ist wohl von Goldmann selbst gesehen worden 55 . Diese K r i t i k berührt die vorliegende Arbeit nicht, da hier ja gerade eines der „großen" Werke eines Jahrhunderts untersucht werden soll. 3. Literaturübersicht Es existiert eine fast unübersehbare Montesquieu-Literatur 5 6 . Schlagartig setzt sie mit dem Erscheinen der Werke unseres Autors ein, sei es i n Form zahlloser Kopien, sei es i n Form mehr oder weniger kritischer Auseinandersetzungen. Zur ersten Gattung gehören eine Vielzahl von pseudo-orientalischen Briefromanen — obwohl auch Montesquieu hier Vorläufer hatte 57 . Ebenso hierher gehören die verschiedensten Abhandlungen über den „wahren" Geist der Gesetze und über den Geist der Gesetze der verschiedensten Nationen. Daneben setzt aber sehr bald auch eine Diskussion der Thesen Montesquieus i n Abhandlungen und Streitschriften ein 58 . I n dieser Diskussion zeigen sich schon manche Ansätze, die auch nach über zweihundert Jahren nicht an Interesse verloren haben: So ist schon seit Anfang umstritten, inwieweit Montesquieu den Vorurteilen seines Standes — der 54 Lionel Gossman: French society and culture. Background for 18th century literature. Englewood Cliffs N. J. 1972, S. 116 f. 55 So behandelt Goldmann j a auch das französische Grand siècle u n d das späte deutsche 18. Jahrhundert — beides klassische Zeitalter — sowie Pascal, Racine u n d Kant. 56 Einen ersten, w e n n auch nicht vollständigen Überblick geben David C. Cabeen: Montesquieu. A bibliography. New Y o r k 1947; ders.: A supplement a r y Montesquieu bibliography. I n : Revue internationale de philosophie. 9 (1955), S. 409—434; Corrado Rosso: Montesquieu présent. Etudes et travaux depuis 1960. I n : D i x - h u i t i è m e siècle. Revue annuelle. 8 (1976), S. 373—404. 57 Alessandro S. Crisafulli: L'observateur oriental avant les „Lettres Persanes". I n : Les lettres romanes. V I I I (1954), S. 91—113. 58 Robert Shackleton: Montesquieu. A critical biography. Oxford 1961, S. 356—377.

Α . Fragestellung

22

noblesse de robe — A u s d r u c k v e r l i e h e n habe, i n w i e w e i t seine K r i t i k des A b s o l u t i s m u s

„progressiv"

oder

„konservativ"

zu

interpretieren

sei 5 9 . Z u diesen sich i m m e r w i e d e r h o l e n d e n T h e m e n g e h ö r t , a l l e r d i n g s m i t e i n e r gewissen z e i t l i c h e n V e r z ö g e r u n g , der G e d a n k e d e r sogenannt e n G e w a l t e n t e i l u n g , a u f d e n sich seit d e m 19. J a h r h u n d e r t d i e D i s k u s sion, z u s a m m e n m i t d e r F r a g e des K o n s t i t u t i o n a l i s m u s , k o n z e n t r i e r t e 6 0 . M i t diesem G e d a n k e n i s t w o h l auch d e r S c h w e r p u n k t der p r a k t i s c h e n W i r k u n g M o n t e s q u i e u s bezeichnet 6 1 . A u c h h e u t e ist dieser

Gedanke

noch n i c h t erschöpft, i m m e r w i e d e r erscheinen scharfsinnige A n a l y s e n z u diesem T h e m a , i m m e r w i e d e r w i r d eine N e u - u n d U m i n t e r p r e t a t i o n v e r s u c h t 6 2 . A l l e diese A r b e i t e n k r a n k e n j e d o c h a n i h r e r B e s c h r ä n k u n g a u f einen

G e d a n k e n unseres A u t o r s , d e r seine v o l l e B e d e u t u n g n u r i m

Z u s a m m e n h a n g des ganzen W e r k e s e n t f a l t e t 6 3 . 59 Vgl. die — i n ihrer Echtheit allerdings umstrittenen — Briefe v o n Helvétius an Montesquieu u n d S aurin i n den Oeuvres complètes de Montesquieu (Ed. Masson) I I I . Paris 1955, S. 1102—1105; 1538—1540. 60 Daß damit das Denken Montesquieus stark verkürzt wurde, ist i n der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch bewußt: Johann Caspar Bluntschli: Geschichte des Allgemeinen Staatsrechts u n d der Politik. Seit dem sechzehnten Jahrhundert. München 1864, S. 262; Robert v. Mohl: Die Geschichte u n d L i t e r a t u r der Staatswissenschaften i n Monographien dargestellt. 1. Erlangen 1855, S. 272; einen geschichtlichen Uberblick geben Emst-Wolfgang Böckenförde: Gesetz u n d gesetzgebende Gewalt v o n den Anfängen der deutschen Staatsrechtslehre bis zur Höhe des staatsrechtlichen Positivismus. B e r l i n 1958; Oskar Werner Kägi: Z u r Entstehung, Wandlung u n d Problematik des Gewaltenteilungsprinzipes — E i n Beitrag zur Verfassungsgeschichte u n d V e r fassungslehre. Zürich 1937; Themistokles Tsatsos: Z u r Geschichte u n d K r i t i k der Lehre v o n der Gewaltenteilung. Heidelberg 1968 (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. 1968.6). 61 Beginnend m i t den amerikanischen Verfassungen, vgl. Alexander Hamilton / James Madison / John Jay: Der Föderalist (hrsg. v o n Felix Ermacora). W i e n 1958, insbesondere Nr. 47 u n d 48. Neben dem Gedanken der Gewaltenteilung ist für die amerikanische Bundesverfassung auch Montesquieus E i n stellung zum föderativen System wichtig, vgl. William Barclay Allen: M o n tesquieu: The federalist — antifederalist dispute (Ph. D.) Claremont Graduate School 1972. 62 Statt vieler sei hier n u r verwiesen auf Michel Troper: La séparation des pouvoirs et l'histoire constitutionnelle française. Paris 1973 (Bibliothèque constitutionnelle et de science politique. 48); kritisch dazu: Georges Vlachos: Le pouvoir judiciaire dans „L'Esprit des lois". I n : Mélanges en l'honneur du professeur M. Stassinopoulos. Paris 1974, S. 363—374; dem Denken Montesquieus, das auf eine soziale Gewaltenteilung abzielt, k o m m t am nächsten Hans Peters: Die Gewaltentrennung i n moderner Sicht. K ö l n — Opladen 1954, S. 24 ff.; das Augenmerk auf die soziale Seite der Gewaltenteilung richtet auch Nicos Poulantzas: Politische Macht u n d gesellschaftliche Klassen. 2. A u f l . F r a n k f u r t a. M. 1975, S. 303 ff.; interessant die Interpretation des Gewaltenteilungsgedankens unter systemfunktionalem B l i c k w i n k e l bei Niklas Luhmann: Rechtssoziologie. 2 Bde. Reinbek 1972, S. 240 ff.; ders.: Funktionen der Rechtsprechimg i m politischen System. I n : ders.: Politische Planung. Opladen 1971, S. 46 ff. 63 Ernst Forsthoff: Einführung zu: Montesquieu: V o m Geist der Gesetze. 2 Bde. Tübingen 1951, S. X X V .

3. Literaturübersicht

23

Der Schwerpunkt der Montesquieu-Forschung lag schon immer i n Frankreich. Größere deutsche Arbeiten existieren nur wenige 64 , hierzulande beschränkt sich die Beschäftigung m i t unserem Autor eher auf kleinere Aufsätze — vorzugsweise i n Festschriften 65 . Auffallend ist dagegen die Vielzahl von — teilweise ausgezeichneten — deutschen Dissertationen 66 . Von der internationalen Montesquieu-Forschung w i r d die 64 Jacob Venedey: Macchiavel, Montesquieu, Rousseau. Erster Theil: Macchiavel u n d Montesquieu. B e r l i n 1850 — diese A r b e i t k r i t i s i e r t Montesquieu v o m Standpunkt eines 1848ers: „Seine Aengstlichkeit, sein wohlwollendes V e r m i t t e l n u n d Versöhnen, sein bescheidenes Neigen u n d Beugen der Gewalt gegenüber . . . sicherten i h m außer den ehrbaren, guten u n d wohlgebildeten Männern aller Nationen auch alle freisinnigen armen Schlucker, alle liberalen Philister, die i n i h m ein V o r b i l d für ihre Schwächen fanden . . . " (S. 292); ebenfalls kritisch gegenüber unserem A u t o r : Walter Struck: Montesquieu als Politiker. B e r l i n 1933 (Historische Studien — Forschungen zur Geschichte des Ancien régime u n d der großen Revolution. Nr. 2 — Heft 228); ebenfalls i n dieser T r a d i t i o n steht auch die hervorragende A r b e i t v o n Walter Kuhfuss: Mässigung u n d Politik. Studien zur politischen Sprache u n d Theorie Montesquieus. München 1975 (Münchener Romanistische Arbeiten. X L I I ) ; vgl. weiter die schon oben zitierte A r b e i t v o n Klemperer, die den Esprit des lois als i n erster Linie literarisches W e r k interpretiert. 65 Eberhard Schmidt: Montesquieus „Esprit des lois" und die Problematik der Gegenwart v o n Recht u n d Justiz. I n : Festschrift für W i l h e l m Kiesselbach zu seinem 80. Geburtstag. Hamburg 1947, S. 177—210; Martin Göhring: M o n tesquieu. Historismus u n d moderner Verfassungsstaat. Wiesbaden 1956 (Institut für europäische Geschichte. Vorträge. 20); Kurt Kluxen: Die H e r k u n f t der Lehre v o n der Gewaltentrennung. I n : Aus M i t t e l a l t e r u n d Neuzeit. Gerhard K a l l e n zum 70. Geburtstag dargebracht v o n Kollegen, Freunden u n d Schülern. Bonn 1957, S. 219—236; Hans Maier: Montesquieu u n d die T r a d i tion. I n : Franz Wiedmann (Hrsg.): Epimeleia. Die Sorge der Philosophie u m den Menschen. H e l m u t K u h n zum 65. Geburtstag. München 1964, S. 267—282; Gerald Stourzh: Die tugendhafte Republik. Montesquieus Begriff der „vertu" u n d die Anfänge der Vereinigten Staaten v o n Amerika. I n : Österreich u n d Europa. Festgabe f ü r Hugo Hantsch zum 70. Geburtstag. Graz — W i e n — K ö l n 1965, S. 247—267; Hans-Joachim v. Schumann: E i n geschichtlicher I r r t u m i m E n t w u r f des Strafgesetzbuches 1962. I n : Monatsschrift für Kriminologie u n d Strafrechtsreform. 47 (1964), S. 258—265; eine Erwiderung hierzu stellt der Aufsatz v o n Gerhard Rudolph: Montesquieu u n d die Ursache v o n Krise u n d Verfall i n der antiken Welt. I n : Monatsschrift für Kriminologie u n d Strafrechtsreform. 49 (1966), S. 179—186 dar; Hans Gustav Keller: Die Metaphysik Montesquieu's. I n : A r c h i v für Rechts- u n d Sozialphilosophie. 1965 (51), S. 361 bis 401; ders.: Montesquieu's „Esprit des Lois". Eine methodologische Studie. I n : Jahrbuch für öffentliches Recht. N. F. 17 (1968), S. 33—63; Joachim H. Knoll: Der halbzitierte Montesquieu. I n : Ernst Heinen / Hans Julius Schoeps (Hrsg.): Geschichte i n der Gegenwart. Festschrift für K u r t K l u x e n zu seinem 60. Geburtstag. Paderborn 1972, S. 63—68; Hubert Armbruster: Montesquieu — der Europäer. I n : Fritz Burgbacher (Hrsg.): Festschrift für W i l h e l m Westenberger. B e r n — F r a n k f u r t a. M. 1973, S. 7—14; Berthold Falk: M o n tesquieu. I n : Hans Maier / Heinz Rausch / Horst Denzer (Hrsg.): Klassiker des politischen Denkens. 2. 3. A u f l . München 1974, S. 53—74; Emst Vollrath: Die Staatsformenlehre Montesquieus. I n : Peter Haungs (Hrsg.): Res publica. Studien zum Verfassungswesen. München 1977, S. 392—414. 66

Rudolf Eckardt: Montesquieu u n d die preußische Verfassung (Diss. jur.). Erlangen 1897; Willy Marcus: Die Darstellung der französischen Zustände i n Montesquieus Lettres persanes verglichen m i t der W i r k l i c h k e i t (Diss. phil.).

24

Α. Fragestellung

deutsche Literatur nur i n den seltensten Fällen zur Kenntnis genommen 67 . I n Frankreich dagegen ist Montesquieu — spätestens seit der Jahrhundertwende — fast Jahr für Jahr Gegenstand großer Monographien 68 . Fast ebenso reich ist das angloamerikanische Schrifttum 6 9 sowie die italienische Literatur 7 0 . Breslau 1902; Walter Schulze: Die Lehre Montesquieu's v o n den staatlichen Funktionen (Diss, jur.) Jena 1902; Fritz Haagen: Der Einfluß Montesquieus u n d Rousseaus auf die K o d i f i k a t i o n der französischen Verfassungen 1789 bis 1804 (Diss, phil.) Greifswald 1912; Ernst Friedrich Michel: Die anthropogeographischen Anschauungen Montesquieus (Diss. phil. Heidelberg) Bensheim 1915; Paula Zillig: Die Theorie v o n der gemischten Verfassung i n ihrer literarischen E n t w i c k l u n g i m A l t e r t u m u n d i h r Verhältnis zur Lehre Lockes u n d Montesquieus über Verfassung (Diss, phil.) Würzburg 1916; Hermann Knust: Montesquieu u n d die Verfassungen der Vereinigten Staaten v o n A m e r i k a (Diss, phil.) Greifswald 1921; Heinrich Gäfgen: Montesquieu als V o l k s w i r t (Diss. rer. pol.) Würzburg 1921; Ernst v. Hippel: Die Lehre Montesquieus von der Dreiteilung der Gewalten u n d der Grad ihrer V e r w i r k l i c h u n g i n den V e r fassungen des Deutschen Reichs v o n 1871 u n d 1919 u n d den Verfassungen des preußischen Staates v o n 1850 u n d 1920 (Diss, jur.) Göttingen 1921; Walter Reiche: Montesquieus Gewaltenteilungslehre u n d die deutsche Reichsverfassung v o m 11. August 1919 (Diss, jur.) Halle 1925; Ernst Klimowsky: Studien zur Entwicklungsgeschichte der englischen Gewaltenteilungslehre bis zu M o n tesquieu unter besonderer Berücksichtigimg der staatsrechtlichen u n d p o l i t i schen Zusammenhänge. Erster Teil: England (Diss, jur.) Königsberg 1926; Maria Zelzer: Montesquieu's Staatsideal (Diss, phil.) Prag 1944; Ilse Raynal: Die Moralistik Montesquieu's (Diss, phil.) Freiburg i. Β. 1944; Ferdinand Vohburger: Die Gewaltenteilungslehre Montequieus u n d ihre V e r w i r k l i c h u n g i m Bonner Grundgesetz (Diss, jur.) München 1950; Hans Carl Fickert: Freiheitsbegriff u n d Gewaltenteilungsgrundsatz i n der Staatsdoktrin Montesquieus u n d i m Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (Diss, jur.) K i e l 1953; Jean Mailhol: Die Methode des K u l t u r k r i t i k e r s u n d Geschichtsdenkers M o n tesquieu (Diss, phil.) Mainz 1955; Albin Holl: Die philosophischen Elemente i n der Konstitutionenlehre Montesquieus (Diss, phil.) München 1956; Adelheid Eiselin: Die Grundgedanken Montesquieus zu Staat u n d Gesetz (Diss, jur.) K ö l n 1964; Hansjörg Frommer: Das Ideal der französischen Monarchie bei Montesquieu (Diss, phil.) Tübingen 1968; Günther Köchling: Gesetz u n d Recht bei Montesquieu (Diss, jur.) K i e l 1975; Wolf gang Kentner: Montesquieu, der „Vater der K r i m i n a l p o l i t i k " ? (Diss, jur.) Tübingen 1951; Markus Lakebrink: Montesquieus Cicero-Rezeption (Diss, phil.) Freiburg i. B. 1967 — auf weitere Arbeiten w i r d i m Laufe des Textes verwiesen. 67 Eine Ausnahme macht hier vielleicht die italienische Literatur: So setzt Frédéric Sclopis: Recherches historiques et critiques sur l'Esprit des lois de Montesquieu. T u r i n 1857, S. 74 sich m i t der A r b e i t v o n Venedey auseinander. A l s ein Beispiel aus neuester Zeit sei auf Rosso: Montesquieu présent, S. 397 verwiesen, der zur A r b e i t v o n Kuhfuss meint: „Une bonne traduction de ce l i v r e vaudrait m i e u x que tant de pages noircies pour ne rien dire." 68 F ü r den A n f a n g des Jahrhunderts sei auf die großen A r b e i t e n v o n Sorel, Vian , Barkhausen, Oudin, Dedieu u n d Carcassonne verwiesen. Aus neuerer Zeit sind insbesondere erwähnenswert die großen Jubiläums-S ammeibände: Deuxième centenaire de „L'Esprit des Lois" de Montesquieu 1748—1948. Conférences organisées par la v i l l e de Bordeaux. Bordeaux 1949; L a pensée politique et constitutionnelle de Montesquieu. Bicentenaire de „L'Esprit des Lois" 1748—1948. Paris 1952; Actes d u congrès Montesquieu, réuni à Bordeaux du 23 au 26 m a i 1955 pour commémorer le deuxième centenaire de la m o r t de

3. Literaturübersicht

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Ein großer, wenn nicht der größte Teil der Literatur bemüht sich u m eine ideengeschichtliche Einordnung Montesquieus und setzt i h n i n Beziehung zu einer Vielzahl anderer politischer Denker. Das Verhältnis von Montesquieu zu Piaton 71 , Aristoteles 72 , Cicero 73 und der Klassik allgemein 74 wurden so untersucht. Weitere Themen sind das Verhältnis Montesquieus zu Machiavelli 75 , Bodin 7 6 , Grotius 77 , Hobbes 78 , Descartes 79 , Montesquieu. Bordeaux 1956. A n wichtigen A r b e i t e n sei schon jetzt hingewiesen auf: Pierre Barrière : U n grand provincial. Charles — Louis de Secondât baron de L a Brède et de Montesquieu. Bordeaux 1946; Louis Althusser: Montesquieu. L a politique et l'histoire. 3me éd. Paris 1964; Jean Starobinski : Montesquieu par lui-même. Paris 1971; Simone Goyard-Fabre : La philosophie du droit de Montesquieu. Paris 1973; Paul Vernière: Montesquieu et l'Esprit des lois ou la raison impure. Paris 1977. 69 Z u nennen sind hier insbesondere: Werner Stark: Montesquieu. Pioneer of the sociology of knowledge. London 1960; Robert Shackleton: Montesquieu. A critical biography. Oxford 1961; J. Robert Loy: Montesquieu. New Y o r k 1968; Mark H. Waddicor: Montesquieu and the philosophy of natural law. The Hague 1970 (Archives internationales d'histoire des idées. 37); Henry J. Merry: Montesquieu's system of n a t u r a l government. West Lafayette Ind. 1970; Thomas L. Pangle: Montesquieu's philosophy of liberalism. A commentary on The spirit of the laws. Chicago — London 1973; Sheila Mary Mason: Montesquieu's idea of justice. The Hague 1975 (Archives internationales d'histoire des idées. 79); Mark Hulliung: Montesquieu and the old regime. Berkeley — Los Angeles — London 1976; Melvin Richter: The political theory of Montesquieu. Cambridge 1977. V o n den i n Europa n u r schwer erhältlichen, aber äußerst profunden amerikanischen Dissertationen über Montesquieu sei als beste erwähnt: Kirk Saunders Thompson: O n Montesquieu: Social science and politics i n the Spirit of the laws (Ph. D.) University of California Berkeley 1965. Reich an A r b e i t e n über Montesquieu sind die „Studies on Voltaire and the eighteenth century". 70 Sergio Cotta: Montesquieu e la scienza della società. Torino 1953 (Pubblicazioni dell'istituto d i scienze politiche dell'università d i Torino. I I ) ; Corrado Rosso: Montesquieu moraliste. Des lois au bonheur. Bordeaux 1971; Francesco Gentile: L'„esprit classique" nel pensiero del Montesquieu. Padova 1965 (Pubblicazioni della facoltà d i giurisprudenza dell'università d i Padova. XLV). * 71 Barthélémy Saint-Hilaire: Mémoire sur la science politique et p a r t i culièrement sur l a politique de Platon, d'Aristote et de Montesquieu. I n : Séances et travaux de l'Académie des sciences morales et politiques. 2e série. I V ( X l V e de la collection). Paris 1848, S. 149—165; Jacques Flach: Platon et Montesquieu théoriciens politiques. I n : Revue politique et littéraire (Revue bleue) 47 (1909), S. 3—7, 36—42. 72 Saint-Hilaire. 73 Markus Lakebrink: Montesquieus Cicero-Rezeption (Diss, phil.) Freiburg i. Β. 1967. 74 Lawrence Meyer Levin: The political doctrine of Montesquieu's Esprit des lois: its classical background (Ph. D. Columbia 1936) Westport Conn. 1973; vgl. weiter die A r b e i t e n v o n Maier u n d Gentile. 75 Grundlegend: E. Levi-Malvano: Montesquieu e Machiavelli. Paris 1912 (Bibliothèque de l ' i n s t i t u t français de Florence — Université de Grenoble, l e série, I I ) ; A . Bertière: Montesquieu, lecteur de Machiavel. I n : A C M , S. 141 bis 158; Robert Shackleton: Montesquieu and Machiavelli: A reappraisal. I n : Comparative literature studies. 1 (1964), S. 1—13; als Gegenpole stellt beide Autoren dar: Maurice Joly: Macht contra Vernunft. Gespräche i n der U n t e r -

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Α. Fragestellung

Spinoza 80 , Vico 81 , Maffei 82 , Mandeville 8 3 , Bolingbroke 84 , Friedrich II. 8 5 , Voltaire 8 6 , Filangieri 8 7 , Beccaria 88 , Rousseau89, Maupertuis 90 , Burke 9 1 , w e i t zwischen Machiavelli u n d Montesquieu. München 1968, erschien zum ersten M a l 1864; genau i m Gegenteil interpretiert beide A u t o r e n unter dem B l i c k w i n k e l der faschistischen Autoritätsideologie: Marc Duconseil: Machiavel et Montesquieu. Recherche sur u n principe d'autorité. Paris 1943. 76 Etienne-Maurice Fournol: B o d i n prédécesseur de Montesquieu. Etude sur quelques théories politiques de la „République" et de „L'Esprit des Lois". Paris 1896 (Réimp. Genève 1970); Robert Derathé : Théorie et pratique en philosophie politique: L a monarchie française selon Jean Bodin et Montesquieu. I n : Klaus v. Beyme (Hrsg.): Theory and politics. Theorie u n d Politik. Festschrift zum 70. Geburtstag für Carl Joachim Friedrich. Haag 1971, S. 61 bis 69. 77 Jean Brèthe de la Gr essay e: Grotius et Montesquieu. I n : Revue j u r i d i q u e et économique du sud — ouest. Série juridique. X I V (1963), S. 129—139. 78 Paul Dimoff: Cicéron, Hobbes et Montesquieu. I n : Annales universitatis saraviensis. Philosophie/Lettres. I (1952), S. 19—47. 79 Etienne Géhin: Descartes et Montesquieu: de l'objectivité de l a nature à l'idée de système politique. I n : Revue française de sociologie. X I V (1973), S. 164—179. 80 Charles Oudin: Le spinozisme de Montesquieu — Etude critique. Paris 1911 (Réimp. Genève 1971). 81 J. Chaix-Ruy: Montesquieu et J.-B. Vico. I n : Revue philosophique de la France et de l'étranger. 137 (1947), S. 416—432; W. Folkierski : Montesquieu et Vico. I n : A C M , S. 127—140; Corrado Rosso: Vico e Montesquieu. I n : A . Corsano / Paolo Rossi u. a.: Omaggio a Vico. Napoli 1968 (Collana d i filosofia. X). 82 Giorgio del Vecchio: U n preteso precursore d i Montesquieu. I n : Rivista internazionale d i filosofia del diritto. 42 (1965), S. 146—151. 83 Pierre Rétat: De Mandeville à Montesquieu: honneur, luxe et dépense noble dans l'Esprit des lois. I n : Studi francesi. 17 (1973), S. 238—249. 84 Robert Shackleton: Montesquieu, Bolingbroke, and the separation of powers. I n : French studies. I l l (1949), S. 24—38. 85 Max Posner: Die Montesquieu-Noten Friedrich's I I . I n : Historische Zeitschrift. 47 — Ν. F. 11 — (1882), S. 193—288. 86 P. Sakman: Voltaire als K r i t i k e r Montesquieus. I n : A r c h i v f ü r das Stud i u m der neueren Sprachen u n d Literaturen. Jg. L V I I I , Bd. C X I I I — N. S. X I I I — (1904), 374—391; Emile Faguet: L a politique comparée de Montesquieu, Rousseau et Voltaire. Paris 1902 (Réimp. Genève 1970). 87 Sergio Cotta: Montesquieu et Filangieri. Notes sur la fortune de Montesquieu au X V i l l e siècle. I n : Revue internationale de philosophie. 9 (1955), S. 387—400. 88 Robert Derathé: Le droit de p u n i r chez Montesquieu, Beccaria et V o l taire. I n : A t t i del convegno internazionale su Cesare Beccaria. Torino 1966 (Memorie dell'academia delle scienze d i Torino, classe d i scienze morali, storiche e filologiche. Serie 4*. 9); Jean Pandolfi: Montesquieu et Beccaria. I n : Europe. Revue littéraire mensuelle. 55 (1977), N ° 574, S. 41—51. 89 Die beste A r b e i t zum Verhältnis beider Autoren ist: J. Tchemoff: Montesquieu et J.-J. Rousseau. I n : Revue de droit public et de l a science politique en France et à l'étranger. 10 (1903), Tome 19, S. 477—513; 20, 49—97; vgl. w e i ter: Ferdinand Béchard: L a monarchie de Montesquieu et la république de Jean-Jacques. I n : Le correspondant. Recueil périodique. 86 — N. S. 50 — (1872), S. 283—325; Robert Derathé: Montesquieu et Jean-Jacques Rousseau. I n : Revue internationale de philosophie. 9 (1955), S. 366—386.

3. Literaturübersicht

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Destutt de Tracy 9 2 , Mme de Stael 93 , Hegel 94 und Tocqueville 95 . Für die Soziologie wurde das Verhältnis Montesquieus zu Durkheim wichtig 9 6 . Ein weiteres wichtiges Gebiet der Montesquieu-Forschung ist die Untersuchung der Wirkungsgeschichte Montesquieus i n einzelnen Ländern. Es liegen Arbeiten vor über Frankreich 97 , die Vereinigten Staaten 98 , Großbritannien 99 , Italien 1 0 0 , Rußland 1 0 1 und Deutschland 102 . 90

Corrado Rosso: Maupertuis et Montesquieu. I n : Actes de la journée Maupertuis (Créteil, 1er décembre 1973). Paris 1975, S. 47—58. 91 C. P. Courtney: Montesquieu and Burke. Oxford 1963. 92 Pierre-Henri Imbert: Destutt de Tracy critique de Montesquieu ou de la liberté en matière politique. Paris 1974. 93 Susan Tenenbaum: Montesquieu and M m e de Stael. The w o m a n as a factor i n political analysis. I n : Political theory. 1 (1973), S. 92—103; zum V e r hältnis zu M m e de Stael, sowie zu A m i e l u n d Manzoni vgl. weiter: C. Biondi / Β . Ο. Ranzani / C. Rosso / M . C. Salvatores: Intorno a Montesquieu. Saggi a cura d i Corrado Rosso. Pisa 1970 (Studi e testi. 35). 94 Hildegard Trescher: Montesquieu's Einfluß auf die philosophischen Grundlagen der Staatslehre Hegels. I n : Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, V e r w a l t u n g u n d Volkswirtschaft i m Deutschen Reiche. 42 (1918), S. 471—501, 907—944; Guy Planty -Bonjour: L'esprit général d'une nation selon Montesquieu et le „Volksgeist" hégélien. I n : Jacques d'Hondt (ed.): Hegel et le siècle des lumières. Paris 1974, S. 7—24. 95 Melvin Richter: The uses of theory. Tocqueville's adaption of Montesquieu. I n : ders. (ed.): Essays i n theory and history. A n approach to the social sciences. Cambridge Mass. 1970, S. 74—102; ders.; Comparative political analysis i n Montesquieu and Tocqueville. I n : Comparative politics. I (1968—69), S. 129—160. 96 Nicole Breuer: Montesquieu u n d Durkheim. I h r e Ansichten über die Bestimmung des Menschen durch die Gesellschaft (Diss. rer. pol.) B o n n 1969. 97 Elie Carcassonne: Montesquieu et le problème de la constitution française au X V I I I e siècle (Thèse Lettres) Paris 1927 (Réimp. Genève 1970); André Masson: Naissance et fortune de „L'Esprit des lois". I n : Deuxième centenaire, S. 11—29; Marc Regaldo: Le culte de Montesquieu au temps de la révolution et de l'empire. Jean Darcet et son entourage. I n : Archives des lettres modernes. Paris 1970, N 116, S. 94—104. 98 Fernand Cattelain: Etude sur l'influence de Montesquieu dans les constitutions américaines (Thèse Lettres) Besançon 1927; Paul Merrïl Spurlin: Montesquieu i n America 1760—1801. Repr. Lousiana State University 1940 (Louisiana State University romance languages series. I V ) ; Sergio Cotta: Montesquieu, la séparation des pouvoirs et la constitution fédérale des EtatsUnis. I n : Revue internationale d'histoire politique et constitutionnelle. (1951), S. 225—247; Barbara Lindeman Shirk: The uses and abuses of Montesquieu's theories i n America 1787—1788 (Ph. D.) University of California Santa B a r bara 1972; Abraham Kupersmith: Montesquieu's influence on the quest for the american character: 1770 to 1845 (Ph.D.) New Y o r k University 1974 u. v. a. m. 99 Frank T. H. Fletcher: „L'Esprit des lois" before early b r i t i s h opinion. I n : Revue de littérature comparée. 14 (1934), S. 527—541; William Steward: M o n tesquieu et l'Angleterre. I n : Deuxième centenaire, S. 173—225; ders.: Montesquieu v u par les anglais depuis deux siècles. I n : A C M , S. 339—348. îoo Paola Berselli Ambri: L'opera d i Montesquieu nel settecento italiano. Firenze 1960; Enrico de Mas: Montesquieu, Genovesi e le edizioni italiane dello „Spirito delle leggi". Firenze 1971.

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Α . Fragestellung

Insgesamt ist e i n s t e t i g zunehmendes Interesse a n M o n t e s q u i e u z u verzeichnen. Sicher eine Ursache d a f ü r ist das V o r l i e g e n v o n n u n m e h r d r e i b r a u c h b a r e n Gesamtausgaben seiner W e r k e 1 0 3 . I n diesem Z u s a m m e n h a n g ist auch die z u n e h m e n d e B e s c h ä f t i g u n g m i t Tagebuchaufzeichn u n g e n u n d M a n u s k r i p t e n z u sehen. E r s t d u r c h die o b e n g e n a n n t e n A u s g a b e n s i n d diese T e i l e des M o n t e s q u i e u s c h e n W e r k e s e i n e r b r e i t e n wissenschaftlichen B e a r b e i t u n g z u g ä n g l i c h g e w o r d e n , w o b e i insbesondere die g e w a l t i g e q u e l l e n k r i t i s c h e L e i s t u n g R o b e r t Shackletons z u w ü r d i g e n ist. A u f g r u n d dieser B e s c h ä f t i g u n g m i t d e n opera m i n o r a unseres A u t o r s h a t sich i n d e n l e t z t e n J a h r e n das B i l d des A u t o r s v o n L a B r è d e w e i t g e h e n d g e w a n d e l t . So h a t z u m B e i s p i e l die F i g u r eines „ M o n t e s q u i e u m o r a l i s t e " 1 0 4 z u n e h m e n d a n G e w i c h t g e w o n n e n , h a t psychologisierendes Interesse a n i h m i n d e n „Pensées" v i e l f ä l t i g e A n s a t z m ö g l i c h k e i t e n g e f u n d e n 1 0 5 . A u f d e r a n d e r e n Seite h a t diese i n t e n s i v e B e s c h ä f t i g u n g m i t u n s e r e m A u t o r , w i e o b e n schon k u r z angedeutet, auch z u e i n e r e r h e b l i c h e n Z e r s p l i t t e r u n g d e r I n t e r p r e t a t i o n unseres A u t o r s g e f ü h r t . G a l t es n o c h v o r e i n i g e n J a h r e n als ausgemacht, daß M o n t e s q u i e u gerade i m Gegensatz z u m h e r k ö m m l i c h e n N a t u r r e c h t gesehen w e r d e n 101 Sergio Cotta: L ' i l l u m i n i s m e et la science politique: Montesquieu, Diderot, et Catherine I I . I n : Revue internationale d'histoire politique et constitutionnelle. Ν. S. I V (1954), S. 273—287; der Einfluß unseres Autors auf Katherina die Große w i r d auch deutlich i n der A r b e i t Nikolaj Michajlovic Druzinin: Der aufgeklärte Absolutismus i n Rußland. I n : K a r l Otmar Frhr. v. A r e t i n (Hrsg.): Der aufgeklärte Absolutismus. K ö l n 1971, S. 315—339, 320. 102 Artur Ficlcert: Montesquieus u n d Rousseaus Einfluß auf den vormärzlichen Liberalismus Badens (Diss, phil.) Leipzig 1913; Rudolf Vierhaus: M o n tesquieu i n Deutschland. Z u r Geschichte seiner W i r k u n g als politischer Schriftsteller i m 18. Jahrhundert. I n : Collegium Philosophicum. Studien Joachim Ritter zum 60. Geburtstag. Basel — Stuttgart 1965, S. 403—437. 103 Oeuvres complètes de Montesquieu (Ed. André Masson). 3 Bde. Paris 1950, 1953, 1955; Oeuvres complètes de Montesquieu (Ed. Roger Caillois). 2 Bde. Paris 1949, 1951 (Bibliothèque de la Pléiade); Montesquieu: Oeuvres complètes (Ed. Daniel Oster). Paris 1964. I n der vorliegenden A r b e i t w i r d nach der Masson-Ausgabe zitiert. Nachdem deren erster Band, der den Esprit des lois enthält, der Nachdruck einer alten dreibändigen Ausgabe ist, w i r d bei Zitaten zunächst Buch u n d K a p i t e l des Esprit angegeben, dann die Bandzahl der Masson-Ausgabe. Darauf folgt die Bandzahl der i n der Masson-Ausgabe enthaltenen alten Ausgabe, sowie deren Seitenzahl. 104 So der T i t e l des großen Buches v o n Corrado Rosso; die Interpretation Montesquieus i m Rahmen der französischen M o r a l i s t i k versuchen auch: Victor Giraud: Moralistes français. Paris 1923, S. 93—104; Ilse Raynal i n ihrer oben zitierten Freiburger Dissertation; Simone Goyard-Fabre: De la philosophie de Montesquieu et de son actualité. I n : Revue de métaphysique et de morale. 76 (1971), S. 292—322, 307; Claude Dauphiné: Pourquoi u n roman de sérail? I n : Europe. Revue littéraire mensuelle. 55 (1977), No 574, S. 89—96, 96. 105 Nicht zufällig dürfte das Interesse von A u t o r e n der „Genfer Gruppe" w i e Marcel Raymond: Génies de France. Neuchatel 1942 (Les cahiers du Rhône. 4) u n d Jean Starobinski sein.

3. Literaturübersicht

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müsse, so gewinnt heute eine Interpretation unseres Autors als Naturrechtler — wenn auch vielleicht i n einem modifizierten Sinne — wieder an Boden 106 . A u f der anderen Seite beschränkt sich ein Großteil der Literatur, wie aus dem oben zitierten auch zu ersehen, auf die Herausarbeitung von Teilaspekten des Montesquieuschen Werkes. Die „chaîne secrète" gerade des Esprit des lois scheint m i r noch nicht gefunden. So ist es sicher möglich, i n diesem Werk Belege für eine „antimachiavellistische" oder „antihobbesianische" Haltung zu finden; dabei bleibt aber außer acht die Möglichkeit tieferliegender Beziehungen innerhalb der Entwicklung „bürgerlich-neuzeitlichen" Denkens. Diese Lücke w i r d auch nicht durch die großen Gesamtdarstellungen 107 aufklärerischen Denkens ausgeführt. Zum einen beschränken sich solche Werke oft auf bestimmte Themen: Natur, Glück usw. Auch i n diesen Darstellungen bleibt die Interpretation fragmentarisch. Es ist festzustellen, daß Montesquieu neben den Heroen der „Hochaufklärung" wie Rousseau, Diderot, Helvétius, Holbach, aber auch Voltaire, hier eher i n den Hintergrund gedrängt wird. I n der vorliegenden Arbeit soll nun trotz — und gerade wegen — der Überfülle an vorhandener Literatur der Versuch einer Analyse des ganzen Montesquieus des Esprit des lois gewagt werden. Angesichts der Gefahr einer ausschließlichen Diskussion schon vorhandener Ansätze soll versucht werden, diesem Werk m i t einer Haltung der Unbefangenheit gegenüberzutreten, ein „degré zéro de l'écriture" 1 0 8 gesucht werden und ausgiebig das Werk selbst zu Wort kommen. Andererseits geht es aber auch darum, die an vielen Orten verstreuten, i n vielen Wissenschaftssparten gepflegten Ansätze einer Interpretation Montesquieus fruchtbar zu machen. Dies bedingt interdisziplinäres Arbeiten, bei dem Ergebnisse der Literatur- und Geschichtswissenschaft, der Soziologie und der Philosophie Verwendung finden werden. Dies ist nun der Weg dieser Arbeit: Ausgangspunkt ist die — oben dargestellte — Einschätzung der Aufklärung als kritisch und zersetzend. Diese Auffassung w i r d sowohl anhand der ausdrücklichen Absich106 v g l hierzu v o r allem die A r b e i t v o n Waddicor. 107 A l s pars pro toto seien hier n u r genannt: Ira Ο. Wade: The structure and form of the french enlightenment. 2 Bde. Princetown N. J. 1977; Lester G. Crocker: Nature and culture. Ethical thought i n the french enlightenment. Baltimore 1963; Robert Mauzi: L'idée du bonheur dans la littérature et la pensée françaises au X V I I I e siècle. 3e éd. Paris 1967; Roger Mercier: La réhabilitation de la nature humaine (1700—1750) (Thèse Lettres Paris) V i l l e monble (Seine) 1960; Jean Ehrard : L'idée de nature en France dans la première moitié du X V I I I e siècle. 2 Bde. Paris 1960. 108 Ausdruck von Roland Barthes : Le degré zéro de l'écriture. Paris 1953.

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Α. Fragestellung

ten, als auch der Struktur des Werkes überprüft. Hier w i r d sich zeigen, daß Montesquieu gerade das Gegenteil versucht. Er w i l l die von Thomas Hobbes aufgestellte Theorie des Staates, den veränderten Zeitumständen gemäß, auf eine neue, breitere Grundlage stellen. Er versucht, den Staat auf einer umfassenden Theorie der Gesellschaft aufzubauen. Ausgangspunkt ist nicht mehr die Individualpsychologie, sondern die Gesellschaft, die wiederum i n einem umfassenden Spannungsfeld von determinierenden Faktoren gesehen wird. Diese Theorie hängt weitgehend von dem durch neue Methoden gewonnenen Tatsachenmaterial ab. Beide sind auf ihre wechselseitige Bedingtheit zu untersuchen. Methode und Theorie sind beide wiederum vor einem geschichtlichen Hintergrund zu sehen. Der Aufschwung der Wissenschaft läuft zusammen m i t Krisen der verschiedensten A r t . Wirtschaftliche und geistige Probleme bilden den Hintergrund der Aufklärung. Die Wissenschaft Montesquieus stößt aber auch an ihre Grenzen. Hier, wo aus verschiedenen Gründen eine rationale Erklärung nicht mehr möglich ist, entstehen Mythen. Als Beispiele seien nur kurz genannt: Die Figur des „législateur", der Mythos des antiken Roms, der altgermanischen Freiheit und das abschreckende B i l d der orientalischen Despotie. Alle diese Gedanken stellen zwar Erklärungsversuche dar, sind andererseits jedoch derart emotional aufgeladen, daß sie ein Eigenleben entwickeln. So werden sie handlungsleitend und drängen nach Verwirklichung. Dieser Zwiespalt zwischen „Logos" und „Mythos", zwischen Vernunft und Sentiment, ist aber nur einer von vielen Widersprüchen i m Esprit des lois. Meine These ist, daß diese Widersprüche vor dem Hintergrund eines bestimmten Stadiums der Aufklärung und des Denkens i m Ancien régime gesehen werden müssen, wobei diese Widersprüche i m Denken ihre Entsprechung i n der gesellschaftlichen Wirklichkeit haben. Zwar versucht Montesquieu diese Widersprüche teilweise aufzulösen, dies gelingt jedoch nicht immer, oft werden sie nur verdeckt. Insgesamt kann der Gegensatz als Grundprinzip des Werkes festgestellt werden. Aus diesem Grunde hat Montesquieu auch kaum direkte Schüler gehabt. Jedoch können von i h m ausgehend zwei Strömungen des Denkens festgestellt werden, die jeweils i n verschiedene Richtungen laufen. Beide können kurz m i t dem Stichwort des Jakobinismus auf der einen Seite und dem des Historizismus auf der anderen Seite gekennzeichnet werden. M i t diesen beiden Tendenzen, die er i m Keime i n seinem Werk vereinigt, weist Montesquieu weiter als die meisten seiner Zeitgenossen ins 19. Jahrhundert hinein. Zurückgehend nun wieder zu Montesquieu, ist es auch möglich, den Stellenwert seines Denkens i m 18. Jahrhundert exakter zu bestimmen.

3. Literaturübersicht

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Gegen die verbreitete Auffassung, die Montesquieu als einen Verfechter ständisch geprägter Ideale sehen w i l l , als „Aristokraten" i m Sprachgebrauch der Französischen Revolution, möchte ich den „bürgerlichen" Charakter seines Denkens betonen. Montesquieu bringt die Auffassungen des französischen Bürgertums des 18. Jahrhunderts zum Ausdruck; ebenso widersprüchlich wie dessen Geistesverfassung und gesellschaftliche Stellung ist auch der Esprit des lois.

Β. Montesquieu und die Kritik 1. Der Begriff der Kritik „Es liegt i n der Sache und i n den menschen begründet, dasz man unter kritik vielfach vorzugsweise tadel versteht, nicht mehr blosz wol abgewogene beurtheilung.. } " klagen schon die Brüder Grimm und weisen hier auf eine Verengung der Bedeutung des Wortes „ K r i t i k " i m landläufigen Sprachgebrauch hin. Dabei geht die Bedeutung der K r i t i k als Denkmethode, wie sie seit der Stoa gepflegt wurde, verloren. I n der beginnenden Neuzeit ist es Petrus Ramus, der die alte stoische Unterscheidung zwischen Τοπική und Κριτική, von Synthese und Analyse als zweier Teile der Logik wieder aufnimmt 2 . Die K r i t i k w i r d i n der Folgezeit ein erkenntnistheoretischer Teil der Logik und führt so zum Kritizismus Kants hin. Ein anderer wichtiger Entwicklungsstrang ist der Begriff der K r i t i k i n der Philosophie. Auch hier hat der Humanismus eine antike Tradition wieder aufgenommen — Justus Lipsius, Jan Gruterus, Joseph Justus Scaliger befassen sich mit der „ars critica" als Kunst der Philologen. Eine Verbindung beider Traditionen stellt der poetische und ästhetische Begriff der K r i t i k dar, der „ i m 18. Jh. den vielleicht wichtigsten Akzent i m Begriff der K r i t i k ausmachte" 3 . Dieses Jahrhundert prägt den umfassenden neuzeitlichen Begriff der K r i t i k : Umfaßte er anfangs „ d i e k u n s t des fachmäszigen u r t h e i l e n s oder b e u r t h e i l e n s i n Sachen der

künste und Wissenschaften" 4, so ergreift er zunächst die Religion und dann den Staat. Eine solche Ausweitung der K r i t i k setzt zweierlei voraus: Zum einen ist das Objekt dieser K r i t i k — die nicht mehr nur eine erkenntnistheoretische Methode ist — grundsätzlich das Ergebnis menschlicher Handlungen. „ W i r kritisieren nicht Naturabläufe, sondern immer eine menschliche A k t i v i t ä t oder etwas, was i n irgendeiner Weise auf das Handeln von Personen zurückzuführen ist 5 ." Wenn K r i t i k sich 1 Jacob Grimm / Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. 5. Bd. Leipzig 1873, Sp. 2335. 2 Claus v. Bormann: K r i t i k . I n : Joachim Ritter / K a r l f r i e d Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 4. Darmstadt 1976, Sp. 1256. 3 Ders. / G. Tonelli f Sp. 1265. 4 Grimm, Sp. 2334.

1. Der Begriff der Kritik

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nun auf Institutionen wie Religion und Staat bezieht, so ist sie Ausdruck einer Säkularisierung der Welt. Naturgesetzlichkeiten sind nicht kritisierbar, hier bleibt auch dem denkenden Menschen nicht anderes übrig, als sich ihnen zu unterwerfen. Eine K r i t i k an Religion und Staat setzt dagegen das Bewußtsein voraus, diese nicht als dem Menschen von außen auferlegt zu sehen, sondern als das Ergebnis menschlichen Handelns. K r i t i k ist so die Beurteilung menschlichen Verhaltens. Dieses Beurteilen muß sich aber auf Normen beziehen können: Ein Urteil ist nur möglich, soweit Maßstäbe zur Verfügung stehen, anhand deren etwas beurteilt werden kann. K r i t i k ist ein „dienendes Instrument" 6 , das immer nur funktional auf ein vorgegebenes Ziel h i n zu verstehen ist. Sehr schön w i r d dies i m Ausdruck des „Kunstrichters", einem i m 18. Jahrhundenrt vielgebrauchten Wort für „kritiker, criticus i n kunstsachen, oder für ästhetiker" 7 deutlich. Es war eine Vorstellung von Männern wie Gottsched und Bodmer, daß der Kunstrichter Kunsturteile m i t widerspruchsfreier Begründung zu fällen habe. Dies erforderte zuerst die Ermittlung überindividuell geltender Normen aus vorausgesetzten Prinzipien. Diese Normen mußten durch bestimmte Kennzeichen klar bestimmt sein, und der Kunstrichter leitete sein Urteil nach den Gesetzen der Logik aus diesen Normen ab. Das Urteil war absolut gültig, da auf einem begründeten Normensystem aufgebaut 8 . Wichtig — und geradezu der Mittelpunkt dieser Theorie der K r i t i k — ist das Normensystem, und interessant ist n u n der Zerfall dieses Ausgangspunktes i n den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts i n der Geniezeit bei Hamann, Klopstock und Herder. Letzterer ist der Auffassung: „Die Norm, an der das Kunstwerk zu messen ist, liegt i n i h m selber und muß durch „Nachempfindung" oder Einfühlung aus i h m entwickelt werden 9 ." Die Norm ist also nicht mehr empirisch definierbar und eindeutig zu ermitteln. Diese Auffassung mündet i n die der Romantik ein, wonach K r i t i k die „Methode der Vollendung des Werkes" 1 0 ist. Das Ergebnis ist subjektivierter Occasionalismus 11 , wobei der K r i t i ker erste und letzte Instanz ist. Es zeigt sich anhand der Theorie der 5 Claus v. Bormann: K r i t i k . I n : Hermann Krings / Hans Michael Baumgartner / Christoph W i l d (Hrsg.): Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Bd. I I . München 1973, S. 812. 6 Ibid., S. 811. 7 Grimm, Sp. 2723. 8 Ich folge hier Werner Strube: Kurze Geschichte des Begriffs „ K u n s t richter". I n : Archiv für Begriffsgeschichte. X I X (1975), S. 51. 9 Ibid., S. 76 f. 10 I b i d , S. 81. 11 Ausdruck v o n Carl Schmitt: Politische Romantik. 2. A u f l . München — Leipzig 1925, S. 24.

3 Clostermeyer

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Β. Montesquieu und die Kritik

K r i t i k i m Deutschland des 18. Jahrhunderts der immer weiter ausgreifende Bereich der K r i t i k . Diese ergreift zuletzt ihre eigenen Beurteilungsmaßstäbe, nach äußeren Objekten ergreift die K r i t i k sich selbst. „Das Kennzeichnende und Neuartige dieser K r i t i k t r i t t dadurch hervor, daß sie sich nicht mehr auf eine Norm bezieht, die für sich gesetzt ist, sondern daß m i t der Relativierung der geltenden Autoritäten alle Normen ins Unausdrückliche zurückweichen oder gar i n dem Vollzug der Reflexion erst hervorgebracht werden. K r i t i k w i r d selbst etwas Absolutes, oder die kritische Reflexion w i r d doch so herrschend, daß ihre Substanz, das woraus sie lebt und worauf sie sich als ihr Voraus bezieht, kaum noch faßbar ist oder gar ganz durch die Reflexion verzehrt wird 1 2 ." Woher stammt dieser neue Bezugspunkt der K r i t i k , die sich auf Normen, die sie letztendes selber schafft, bezieht? A n dieser Stelle liegt der entscheidende Unterschied zum kritischen Denken der Antike: Dieses ist auf die Praxis ausgerichtet, das Ziel des praktischen Handelns liegt vor aller Überlegung, diese hat nur den Weg herauszufinden, auf dem dieses Ziel erreicht werden soll. I n der Neuzeit ist das anders: Hier fehlt es gerade an einer grundlegenden Bestimmung des Ziels menschlichen Handelns, alle überlieferten Ziele sind angesichts von Krieg, Unterdrückung und Elend, die sie mit sich gebracht haben, verdächtig geworden. K r i t i k untersucht die Ursachen dieser Unstimmigkeiten und setzt gegen die als bedrohlich erfahrene Welt eigene Ziele menschlichen Handelns. Dieses Ziel ist zum Beispiel für Hobbes der Wille des Menschen zum Überleben 13 . Die Theorie des „Leviathan" ist also eine eminent k r i t i sche Auseinandersetzung mit den englischen Zuständen des 17. Jahrhunderts 14 . Angesichts des Widerstreites der verschiedensten menschlichen Zielsetzungen und den hieraus resultierenden Folgen für den Menschen — nämlich Krieg und Tod — baut sie auf kleinstem gemeinsamem Nenner ein Ziel menschlichen Handelns auf, von dem aus sie eine kritische Theorie der Gesellschaft entwirft. K r i t i k ist aber immer, wenigstens dem Anspruch nach, auf Wahrheit ausgerichtet. Diese Wahrheit jedoch ist, von untergeordneten Ausnahmen abgesehen, i m gesellschaftlichen Bereich nicht eindeutig feststell12

v. Bormann: Handbuch, S. 811. Ibid., S. 814. 14 Günther Buck: Selbsterhaltung u n d Historizität. I n : Hans Ebeling (Hrsg.): Subjektivität u n d Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne. F r a n k f u r t a. M. 1976, S. 232: „Der konfessionelle Bürgerkrieg liefert nicht n u r die fundamentale negative Erfahrung, die zu einem Neuentwurf der p o l i t i schen Philosophie gegen die alte Teleologie zwingt, w e i l gerade auf deren G r u n d der K a m p f am mörderischsten geworden ist: er u n d die aufkommende bürgerliche Gesellschaft stellen den Boden für jene unbefangenen Erfahrungen dar, die sich auf menschliche Natur i n F o r m der menschlichen Verhältnisse beziehen. 13

1. Der Begriff der Kritik

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bar. Wahrheit kann, als Verminderung des Falschen, immer nur das Ziel des Prozesses der K r i t i k sein, das aber nie erreicht wird. Eine erste Setzung, wie der Zweck des Überlebens, schneidet diesen Prozeß ab. „Man kann i h m etwa entgegenhalten, daß i n bestimmten Situationen ein erfüllter Tod mehr Identität m i t den vorgenommenen Lebensinhalten bietet als ein bloßes Dahinvegetieren 15 ." So fordert jede K r i t i k zur Gegenkritik auf — eine Folge, der sich K r i t i k immer stellt. Denn indem die K r i t i k über etwas spricht, gibt sie grundsätzlich zu, daß sie etwas Bestimmtes für richtig hält. Damit ist aber gleichzeitig die Möglichkeit des Irrtums gegeben — der Ansatz für weitere K r i t i k also offen. So bleibt auch für einen radikalen Skeptiker wie Hobbes, der alle Moral aus dem Staat verbannen w i l l , eine Moral übrig, nämlich das Überleben des Menschen als Ziel, an dem sich der Staat auszurichten habe. So wie er alle anderen Auffassungen vom Zweck des Staates kritisiert, so setzt auch er sich m i t seiner Auffassung der K r i t i k aus. K r i t i k bedingt immer Gegenkritik. Wenn Koselleck von K r i t i k als Wesensmerkmal der Aufklärung schreibt, so ist das richtig. A u f eine A r t jedoch setzt diese K r i t i k nur das Werk Hobbes' fort: Alle bestehenden Institutionen werden k r i t i siert, vielleicht auch „zersetzt" 16 . Dieses Denken setzt allerdings nicht erst i m 18. Jahrhundert ein, vielmehr hatte es bei Hobbes schon einen Höhepunkt erlebt und hängt zusammen m i t der Entwicklung des neuzeitlichen Individuums 1 7 . Nach Koselleck liegt der eigentliche Sündenfall der Aufklärung i n der Ausweitung eines kritisch-moralischen Standpunktes vom eigenen Gewissen auf den Staat. Nun gibt es aber, wenngleich beide versuchen, den Weg zur Wahrheit zu beschreiben, zwei A r t e n von K r i t i k 1 8 . Die eine findet die — bisher nur schlummernde — Wahrheit i m Bestehenden, die andere versucht Gegenkonzepte zu entwickeln, wobei die Utopie ein typisches Mittel ist. Für die erste A r t der K r i t i k hat sich die Bezeichnung „konservativ" eingebürgert 19 , für die zweite die Bezeichnung „ k r i 15

υ. Bormann: Handbuch, S. 819. Das ist der V o r w u r f , den Arnold Gehlen: M o r a l u n d Hypermoral. Eine pluralistische Ethik. 2. A u f l . F r a n k f u r t a. M. —- B o n n 1970, S. 102 der A u f k l ä r u n g macht. I m Gegensatz zu Koselleck sieht er aber ihre größte W i r k u n g nicht i m staatlichen, sondern i m gesellschaftlichen Bereich der Institutionen. 17 Vgl. die Arbeiten v o n Roman Schnur: Die französischen Juristen i m k o n fessionellen Bürgerkrieg des 16. Jahrhunderts. E i n Beitrag zur Entstehungsgeschichte des modernen Staates. B e r l i n 1962; ders.: Individualismus u n d A b solutismus. Z u r politischen Theorie v o r Thomas Hobbes. 1600—1640. B e r l i n 1963 (Studien zur Verfassungsgeschichte. 2). 18 v. Bormann: Handbuch, S. 821 lehnt diese Auffassung ab. 19 Vgl. für diese A r t der Unterscheidung Jürgen Habermas: Kritische u n d konservative Aufgabe der Soziologie. I n : ders.: Theorie u n d Praxis. Sozialphilosophische Studien. F r a n k f u r t a. M. 1971, S. 290—306. 16

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Β . Montesquieu u n d die K r i t i k

t i s c h " . Koselleck v e r w e n d e t d e n B e g r i f f „ K r i t i k " p o l e m i s c h i n l e t z t e r e m S i n n e 2 0 : K r i t i k als V e r s u c h d e r Z e r s t ö r u n g e i n e r gegebenen O r d n u n g . H i e r f o l g t er e i n e r E i n e n g u n g des B e g r i f f s des K r i t i s c h e n , w i e sie i m p o l i t i s c h e n B e r e i c h w e i t v e r b r e i t e t ist. D i e K r i t i k d e r O p p o s i t i o n ist m i t p o s i t i v e m I n h a l t k a u m v o r s t e l l b a r . A n d e r s v e r h ä l t sich dies a u c h h e u t e noch i m ästhetischen Bereich. D i e K r i t i k eines T h e a t e r k r i t i k e r s k a n n s o w o h l p o s i t i v als auch n e g a t i v sein. I n diesem w e i t e r e n S i n n e ist die These v o n d e r K r i t i k als W e s e n s m e r k m a l d e r A u f k l ä r u n g b e r e c h t i g t . 2. Montesquieus ausdrückliche Absicht Z u m e r s t e n möchte i c h versuchen, die A b s i c h t , die M o n t e s q u i e u m i t s e i n e m W e r k v e r f o l g t , z u k l ä r e n 2 1 . H i e r b i e t e t sich e i n zweifaches V o r gehen an: Z u m e i n e n k a n n d e r E s p r i t selbst auf p r o g r a m m a t i s c h e A u s sagen u n t e r s u c h t w e r d e n , z u m a n d e r e n k a n n aus d e m Z u s a m m e n h a n g des W e r k e s eine I n t e n t i o n h e r a u s g e a r b e i t e t w e r d e n . F ü r die erste M ö g l i c h k e i t ist inbesondere das V o r w o r t z u m E s p r i t des lois aufschlußreich. E i n e r s e i t s f o r m u l i e r t M o n t e s q u i e u h i e r das b e k a n n t e P r o g r a m m d e r A u f k l ä r u n g : B e s e i t i g u n g v o n V o r u r t e i l e n , diese v e r h i n d e r n die Selbste r k e n n t n i s d e r Menschen 2 2 . M i t dieser a u f das einzelne I n d i v i d u u m ab20 Ebenso polemisch verwendet er den Begriff der Krise, der übrigens dem gleichen griechischen Wortstamm w i e K r i t i k entstammt (Fritz Schalk: K r i t i k , L i t e r a t u r k r i t i k e r . I n : Joachim Ritter / K a r l f r i e d Gründer: Historisches W ö r terbuch der Philosophie. Bd. 4. Darmstadt 1976, Sp. 1282). Der Begriff stammt aus der griechischen Medizin des Hippokrates, wo er den entscheidenden Wendepunkt i m Verlauf einer K r a n k h e i t bezeichnet, der sowohl zum Guten als auch zum Schlechten führen kann. Koselleck betont einseitig den Z u stand des Streites zwischem A l t e m u n d Neuem, ohne zu berücksichtigen, daß der Zustand der Krise j a gerade eine K r a n k h e i t voraussetzt. 21 Gerade für Montesquieu verweist auf Kosellecks These Paul H. Meyer: Politics and morals i n the thought of Montesquieu. I n : Studies on Voltaire and the eighteenth century. L V I (1967), S. 845—891: Montesquieu baue moralische Standards auf, deren V e r w i r k l i c h u n g i m Ancien régime unmöglich gewesen sei; auch Daniel Mornet: Les origines intellectuelles de la révolution française (1715—1787). 4me éd. Paris 1947, S. 74 ist der Auffassung, daß M o n tesquieu, vielleicht ungewollt, die bestehenden Institutionen bedroht habe, indem er sich gegen jeglichen politischen Mythos (?) wende; ebenso Hippolyte Adolphe Taine: Die Entstehung des modernen Frankreichs. I.: Das vorrevolutionäre Frankreich. 2. A u f l . Leipzig 1893, S. 263. A u f das Selbstmordmotiv bei Montesquieu, das die Gewalt der Revolution ankündige, verweist: Reinhold Wolff: Die Ästhetisierung aufklärerischer T a b u k r i t i k bei Montesquieu u n d Rousseau. München 1973 (Romanica Monacensia. 3), S. 50; anhand dieses Themas betont auch J.-M. Goulemot: Montesquieu: du suicide légitimé à l'apologie du suicide héroïque. I n : Revue d ' A u vergne. 79 (1965), S. 307—318, daß Montesquieu m i t der tabukritischen A u f fassung der Rationalisten übereinstimme. Er sieht h i n t e r dieser Übereinstimmung jedoch auch die tief erliegende Möglichkeit, die Verherrlichung des Selbstmordes sei „le rêve d'un féodal, perdu dans l'absolutisme, nostalgique d'un temps où sa classe v i v a i t u n idéal d'héroisme et de grandeur" (S. 318). 22 E d L préface, 1/1, S. L X I .

2. Montesquieus ausdrückliche Absicht

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stellenden Intention hängt auch die Aussage Montesquieus zusammen, wonach er sich für den Glücklichsten der Sterblichen halten würde, wenn er für jeden neue Gründe geliefert hätte, seine Pflichten, seinen Fürsten, sein Heimatland, seine Gesetze zu lieben. Montesquieu geht es darum „qu'on pût mieux sentir son bonheur dans chaque pays, dans chaque gouvernement, dans chaque poste où l'on se trouve" 2 3 . Ausdrücklich lehnt Montesquieu es ab, Einrichtungen, i n welchem Lande auch immer, tadeln zu wollen — für jede Nation w i l l er „les raisons de ses maximes" 2 4 suchen. Von sich selber gesteht er: „Je n'ai point naturellement l'esprit désapprobateur 25 ." Für seine Zeit stellt er einen merkwürdigen Zwiespalt fest: Gerade das zunehmende Wissen über die Zusammenhänge der verschiedensten Dinge führt, i m Gegensatz zu früheren Zeiten der Unwissenheit, als man noch bedenkenlos handeln konnte, zu einem merkwürdigen Stillstand. Das Wissen u m die vielfältigen Folgen jeder Entscheidung führt zum Bewahren des Hergebrachten, auch wenn die bestehenden Zustände nicht immer gut sind. Diese Beschreibung ist aber — und das ist das Besondere für einen üblicherweise zu den Aufklärern gezählten Autor — nicht kritisch gemeint. Montesquieu spricht von einem positiven Zustand, einer „temps de lumière", wobei hier offenbleiben kann, inwieweit Montesquieu einen solchen Zustand der Beharrung zu seiner Zeit wirklich feststellen kann. Es ist zu vermuten, daß er gerade angesichts der Erschütterungen der Régence (hier wäre vor allem an die Affaire Law zu denken) einen Zustand der Ruhe und des Gleichgewichts nur erträumt. A u f alle Fälle jedoch bleibt festzuhalten, daß für unseren Autor Aufklärung nicht so sehr K r i t i k des Bestehenden und der Entwurf einer besseren Welt ist als vielmehr ein Erkennen der Vorzüge des Hergebrachten, das dem Einzelnen ein glückliches Leben ermöglicht. Montesquieu betont ausdrücklich, daß er nicht wie andere Schriftsteller seiner Zeit immer nur die Dinge von einer Seite sehe, die anderen aber außer acht lasse. Er weiß u m das für seine Zeit Ungewöhnliche einer solchen Einstellung; ausdrücklich fordert er daher seine Leser auf, das Werk nach seinem Gesamtkonzept und nicht nach einzelnen Stellungnahmen zu beurteilen 26 . Aber es war gerade dieses Konzept, das den Aufklärern nicht so sehr gefiel, während einzelne Teile des Esprit durchaus ihren Vorstellungen entsprachen. Nur die ungeheuere Popularität des Werkes beim Publi23 24 25 26

Ibid. E d L préface 1/1, S. L X . E d L préface 1/1, S. L I X . E d L préface 1/1, S. L I X .

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Β . Montesquieu u n d die K r i t i k

k u m , sowie die A n g r i f f e d u r c h d e n g e m e i n s a m e n Gegner, die K i r c h e , l i e ß e n sie f ü r M o n t e s q u i e u e i n t r e t e n . D i e k i r c h l i c h e n G e g n e r M o n t e s quieus sahen dagegen n u r einzelne theologische K e t z e r e i e n u n d a n t i k l e r i k a l e Ä u ß e r u n g e n , o h n e aber d i e w i c h t i g e R o l l e , die u n s e r A u t o r der Kirche i m Staat zubilligt, zu w ü r d i g e n 2 7 . Ä n d e r u n g e n w i l l Montesq u i e u also m ö g l i c h s t v e r m e i d e n . E r w i l l sie n u r zulassen, w e n n m a n u m die G e s a m t v e r f a s s u n g des Staates u n d d e r Gesellschaft wisse. D a f ü r w i e d e r u m schätzt M o n t e s q u i e u die C h a n c e n n i c h t a l l z u hoch: A u s d a u erndes S t u d i u m genüge z u dieser K e n n t n i s n i c h t , s o n d e r n es b e d ü r f e eines „ c o u p de génie" h i e r f ü r 2 8 . N u n k ö n n e n aber V o r w o r t e verschiedenen Z w e c k e n d i e n e n — i n e i n e m Staate, i n d e m die Z e n s u r h e r r s c h t , u n t e r a n d e r e m d e m , diese Zensur irrezuführen. E i n Beispiel h i e r f ü r sind Pierre Bayles „Gedank e n ü b e r d e n K o m e t e n " 2 9 aus d e m J a h r e 1683. D e n Z w e c k , d e n A n g r i f f e n gegen sein B u c h z u begegnen, h a t ganz e i n d e u t i g das „ A v e r t i s s e 27 Z u m Streit u m den Esprit des lois vgl. Shachleton, S. 356—377; bezeichnend für die H a l t u n g der philosophes die, allerdings i n ihrer Echtheit bestrittenen, Briefe v o n Helvétius an Montesquieu u n d Saurin, die aber auf alle Fälle etwas v o n der H a l t u n g der République des lettres gegenüber Montesquieu ausdrücken ( I I I , S. 1102—1105 u n d 1538—1540). K u r z w i r d hier der Esprit als „traité des fiefs" (S. 1539) abgetan u n d die genetische Betrachtungsweise Montesquieus kritisiert. Wollte m a n dieser folgen, w ü r d e n die „erreurs accumulées" (ibid.) aller Zeiten unser Leben beherrschen. Gerade der aristokratische Standesgeist, den Montesquieu als ein B o l l w e r k der Freiheit gegenüber einer übermächtigen Staatsgewalt einstuft, stehe den gemeinsamen Interessen entgegen. Auch die Berücksichtigung einer Vielzahl v o n Staatsu n d Gesellschaftsformen, denen Montesquieu unter jeweils besonderen U m ständen eine innewohnende Vernunft zugesteht, mißfällt Helvétius. E i n „écrivain q u i vouloit être u t i l e aux hommes devoit plus s'occuper de maximes vraies dans u n meilleur ordre de choses à venir que de consacrer celles q u i sont dangereuses, du moment que le préjugé s'en empare pour s'en servir & les perpétuer" (S. 1103). Helvétius kennt dagegen n u r zwei Regierungsformen: „les bons & les mauvois; les bons q u i sont encore à faire" (S. 1105). Z u r kirchlichen K r i t i k an Montesquieu: C.-J. Beyer: Montesquieu et la censure religieuse de l'Esprit des Lois. I n : Revue des sciences humaines. 69 (1953), S. 105—131; Andrew J. Lynch: Montesquieu and the ecclesiastical critics of L'Esprit des Lois. I n : Journal of the history of ideas. X X X V I I I (1977), S. 487—500. 28 E d L préface 1/1, S. L X . 29 Deutsche Ausgabe: Pierre Bayle: Verschiedene einem Doktor der Sorbonne mitgeteilte Gedanken über den Kometen, der i m Monat Dezember 1680 erschienen ist. Leipzig 1975. Diese Schrift verwendet den Kometen n u r als Anlaß zu den verschiedensten Überlegungen über das Verhältnis v o n Atheismus u n d Moral, wobei sie zu dem Schluß k o m m t , daß Religion für ein gedeihliches Zusammenleben der Menschen nicht unbedingt erforderlich sei. Dieses W e r k ist ein Musterbeispiel einer Tarnung durch das V o r w o r t : Zaghaft antwortet Bayle auf die angebliche Aufforderung eines Doktors der kirchlich ausgerichteten Sorbonne, i h m seine Gedanken über die Erscheinung eines Kometen zu schreiben: Er sei nicht gewohnt, seine Gedanken ordentlich u n d gründlich aufzuzeichnen, er komme leicht i n Nebensächlichkeiten. Der Herr Doktor solle es sich m i t seiner B i t t e doch noch einmal ü b e r l e g e n . . . (S. 35).

2. Montesquieus ausdrückliche Absicht

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m e n t de l ' a u t e u r " des E s p r i t des lois, w a r u m also auch n i c h t ebenso das Vorwort 30? Jedoch auch a n a n d e r e r , n i c h t so h e r v o r g e h o b e n e r S t e l l e f i n d e t sich M o n t e s q u i e u s eher a u f E r h a l t u n g des B e s t e h e n d e n gerichtete E i n s t e l l u n g d o k u m e n t i e r t . I m B u c h ü b e r die „ A r t Gesetze z u geben" b e g i n n t er m i t der e i n l e i t e n d e n F e s t s t e l l u n g , daß e r d e n E s p r i t n u r geschrieben habe, u m z u beweisen, daß d e r Geist der M ä ß i g u n g d e r des Gesetzgebers sein solle 3 1 . E x t r e m e verabscheut M o n t e s q u i e u i n d e r M o r a l ebenso w i e i n d e r P o l i t i k , w o b e i e r a u s d r ü c k l i c h auch zwischen d e m „ b i e n p o l i t i q u e " u n d d e m „ b i e n m o r a l " t r e n n t . A u c h h i e r w i r d eine H a l t u n g d e u t lich, d i e sich a u ß e r h a l b des D u a l i s m u s v o n G u t u n d Böse m i t d e m B e stehenden a b z u f i n d e n v e r s u c h t , i n d e m sie i n d e n scheinbar g u t e n Gesetzen die schlechten N e b e n f o l g e n , i n d e n scheinbar schlechten — u n v e r n ü n f t i g e n — Gesetzen die p o s i t i v e n W i r k u n g e n sieht. I n s o w e i t w i r d die Aussage M o n t e s q u i e u s i m V o r w o r t des E s p r i t , eher d e m B e s t e h e n d e n neue V e r n u n f t g r ü n d e geben z u w o l l e n , als m i t d e r V e r n u n f t das Bestehende z u v e r ä n d e r n , b e s t ä t i g t 3 2 . 30 I m übrigen ist heute erwiesen, daß die Zensur i m späten Ancien régime sehr konziliant gehandhabt wurde: Vgl. die A r b e i t e n von Nicole HerrmannMascard: L a censure des livres à la f i n de Γ Ancien Régime (1750—1789). Paris 1968 (Travaux et recherches de la faculté de droit et des sciences économiques de Paris. Série Sciences historiques. 13), S. 97—123; ebenso: Werner Kranss: Die L i t e r a t u r der französischen Frühaufklärung. F r a n k f u r t a. M. 1971, S. 166, der die weitgehende D u l d u n g anonymer Werke (wie es der Esprit des lois war) feststellt: „Alles k a m darauf an, das Gesicht zu wahren."; Edward P. Shaw: Censorship and subterfuge i n eighteenth-century France. I n : Charles G. S. Williams (ed.): Literature and history i n the age of ideas. Essays on the french enlightenment. Presented to George R. Havens. Ohio State University 1975, S. 287—309 betont die Umgehung der Zensurbestimmungen durch die V e r w a l t u n g selbst; zu einem etwas anderen Ergebnis k o m m t David T. Pottinger: The french book trade i n the Ancien régime. Cambridge Mass. 1958: Die Zensur wachte besonders über politische u n d religiöse Stellungnahmen, weniger über Fragen der Moral (S. 59), allerdings betont auch er die Möglichkeit der Umgehung der Zensur (S. 75). 31 „L'esprit de modération doit être celui du législateur." (EdL X X I X , 1; 1/2, S. 269.) Der Gedanke, daß „l'excès même de la raison n'est pas toujours désirable" taucht noch an verschiedenen Stellen des Werkes auf. Anläßlich der Untersuchung des freiheitlichen englischen Systems unterstreicht Montesquieu, daß er m i t dieser Darstellung nicht andere Regierungsformen herabsetzen w i l l : E d L X I , 6; 1/1, S. 221. Die „modération" als „Tiefenstruktur" des ganzen Esprit des lois betont Kuhfuss, S. 12 f.; ebenso: Robert Derathé: L a philosophie des lumières en France: Raison et modération selon Montesquieu. I n : Revue internationale de philosophie. V I (1952), S. 275—293, 285. 32 Ebenso: Alberto Postigliola: Critique et lumières chez Montesquieu: „Nature du gouvernement" et „nature des choses" dans l'Esprit des lois. I n : Tijdschrift voor de Studie van de verlichting. 1 (1973) — Utopie, K r i t i e k en verlichting —, S. 192—243; ebenfalls der Ansicht, daß Montesquieu eher Beobachter als K r i t i k e r sei, w e n n er auch seine „quiet preferences" habe, ist John Plamenatz: M a n and society. 1. London 1963, S. 298; Montesquieus Widersprüchlichkeit auch hier betont Richter: Political theory, S. 63.

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Β. Montesquieu und die Kritik 3. Montesquieu und die Soziologie

Montesquieus A r t und Weise, gesellschaftliche Erscheinungen zu untersuchen, ist seit der Schaffung dieses lateinisch-griechischen Kunstwortes mit dem Begriff der Soziologie bezeichnet worden. Schon Auguste Comte zählt i n seinem „Système de politique positive ou traité de sociologie" Montesquieu zu den Begründern der Sozialwissenschaft 33 . Als wichtigste Leistung Montesquieus sieht er an, den Gesetzesbegriff auch auf die „sozialen Erscheinungen" 34 ausgedehnt zu haben. Jedoch werde Montesquieu diesem Vorsatz nur i n Teilbereichen gerecht, etwa bezüglich der Determinierung des gesellschaftlichen Lebens durch das Klima. Die Gesetze des sozialen Fortschritts, von deren Existenz Comte überzeugt ist, habe Montesquieu überhaupt nicht gesehen35. Wesentlich gründlicher setzt sich Emile Durkheim i n seiner Bordelaiser Thèse 36 m i t Montesquieu auseinander: „Quid Secundatus politicae scientiae instituendae contulerit" (1892)37. I n dieser Arbeit stellt Durkheim anhand einer Auseinandersetzung mit Montesquieu seine eigene soziologische Methode dar, wobei er zu einer der auch heute noch interessantesten Interpretationen unseres Autors gelangt. Durkheim betont am Esprit des lois den „wissenschaftlichen" Ansatz. Ausgehend von einem Wissenschaftsverständnis, das zwischen „science" auf der einen Seite und praktischer „art" auf der andern trennt, stellt er bei Montesquieu zwar fest, daß beide Ansätze sich bei i h m ab und zu kreuzen, der überwiegende Teil des Werkes sei aber vom Geist reiner Wissenschaft getragen. Er betont insbesondere das Fehlen eines kritischen Interesses bei unserem Autor. Montesquieu bevorzuge keine der von i h m vorgestellten Gesellschaftstypen 38 . Hier liege der Bruch zur Philosophie vor Montesquieu; dieser k a m es mehr darauf an „non pas de connaître cette réalité, mais de la corriger" 3 9 . 33 August Comte: Soziologie. 2. Aufl. 1: Der dogmatische T e i l der Sozialphilosophie. Jena 1923, S. 178. 34 Ibid., S. 180. 35 Ibid., S. 182 ff.; Georges Davy — ein Dürkheim-Schüler — kommentiert dies so: „Traduisons: une mauvaise fatalité a fait naître Montesquieu trois quarts de siècle trop tôt et l u i a refusé la connaissance du Cours de p h i l o sophie positive." (Vorwort zu: Emile Durkheim: Montesquieu et Rousseau. Précurseurs de la sociologie. Paris 1953, S. 15.) 36 Loy, S. 152 spricht v o n „a k i n d of landmark i n the social sciences". 37 Emile Durkheim: Montesquieu et Rousseau. Précurseurs de la sociologie. Paris 1953, S. 25—114; eine ältere Übersetzung ist unter dem T i t e l Montesquieu: Sa part dans la fondation des sciences politiques et de la science des sociétés. I n : Revue d'histoire politique et constitutionnelle. I (1937), S. 405 bis 463 erschienen. 38 Durkheim, S. 48. 39 Ibid., S. 30 f.

3. Montesquieu und die Soziologie

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Auch bei seiner Typenbildung betrete Montesquieu Neuland. Anders als die mit Aristoteles beginnende Tradition, teile er die Staatoformen nicht a priori nach der Zahl der Regierenden ein, sondern gehe von einer Analyse der empirisch feststellbaren Vielzahl von Gesellschaftsformen aus und bilde daraus seine Typen. Dabei vereinige er i n jedem Typus eine Vielzahl von Merkmalen. So sei für die Montesquieusche Republik wichtig: geringe Größe, mittlere Einkommen, ein bestimmter Geist. Alle diese Merkmale sehe Montesquieu bei seiner Untersuchung der antiken Stadtstaaten, die politisch Demokratien oder Aristokratien darstellten. Insoweit liege also i n der Montesquieuschen Zusammenfassung beider Formen unter dem Begriff der Republik kein Widerspruch vor 4 0 . Dürkheim sieht außerdem bei Montesquieu erste Ansätze, die — über die Typisierung sozialer Erscheinungen hinausgehend — soziale Determiniertheit i n Form wissenschaftlicher Gesetze erfassen wollen. Insbesondere verweist Durkheim hier auf die Bedeutung, die Montesquieu der Größe einer Gesellschaft beimißt 4 1 . A n einem Punkte scheiden sich aber die Wege beider Denker 42 . Durkheim geht von einer Tatsache des Sozialen aus, das sich auch — und gerade — i n abweichendem Verhalten äußert, da dieses ja nur von den sozialen Normen her definiert wird. Montesquieu stelle dagegen einen rein asozialen Zustand fest: die Despotie. I m Gegensatz zu den beiden anderen Typen, der Republik und der Monarchie, für die es neben dem „gesunden" Zustand die corruption als „kranken" gebe, bestehe die Despotie nur als „kranker" Zustand. Nur äußere Umstände wie Klima, Religion, Lage und Volksgeist geben dieser Gesellschaft eine gewisse Ordnung, von sich aus verkörpert dieser Typus keinerlei Ordnung 43 . Durkheim w i r f t Montesquieu hier einen Widerspruch vor: Wenn er zugebe, daß die Despotie für bestimmte Länder typisch sei, er andererseits aber dieser Form jegliche Struktur abspreche, so kehre Montesquieu auf Umwegen wieder zum normativen Begriff der Gesellschaft zurück und 40 Ibid., S. 57 ff.; D u r k h e i m hat übrigens seine Thèse dem großen Kenner der A n t i k e , Fustel de Coulanges, gewidmet (Hinweis von F. Alengry i n der Revue d'histoire, S. 407). 41 Ibid., S. 76. 42 Ibid., S. 92; so grundlegend wie Friedrich Jonas: Geschichte der Soziologie. 2: V o n der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart. Hamburg 1976, S. 47 f. würde ich diesen Unterschied nicht sehen. Richtig ist auf alle Fälle, daß Montesquieu weniger das Prinzip des Sozialen h i n t e r den verschiedenen Gesellschaftsformen, als vielmehr gerade die Verschiedenheit betont. Ob Montesquieu aber tatsächlich den Menschen „als flexibles Wesen, das sein Leben i m Lichte seiner Erfahrungen selbst führen muß" behandelt, wäre noch zu untersuchen. Möglich wäre auch die Betonung bestimmter „gesunder" Gesellschaftsformen gegenüber anderen, „krankhaften", ohne daß dabei das I n d i v i d u u m entscheidend i n das Blickfeld rücken müßte. 43 E d L V I I I , 10; 1/1, S. 158 f.

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Β. Montesquieu und die Kritik

gebe den deskriptiven Begriff, der auch für die Despotie Geltung haben müsse, auf. Montesquieu gehe hier vielmehr von einer normativen natürlichen Ordnung der Dinge aus, unter deren Blickwinkel der „krankhafte" Zustand nicht mehr sozial sei 44 . Diese Auffassung kritisiert Durkheim, ist aber dennoch grundsätzlich der Meinung, daß auch Montesquieu wisse, „c'est seulement dans de rares cas qu'une chose peut être universelle sans être en même temps saine et rationelle" 4 5 . Alles i n allem sieht Durkheim klarer als viele andere Autoren, daß Montesquieu sich nicht unbedingt i n der Positivität des Gegebenen erschöpft, sondern — auf einer höheren Ebene allerdings — eine natürliche Ordnung der Dinge annimmt. Was dieser natürlichen Ordnung widerspricht ist „krankhaft" — u m i n der Durkheimschen Terminologie zu bleiben. Die Natur stellt sich hier als normative Ordnung dar. Inwieweit dieses „Zurück zur Natur" jedoch radikalen Bruch oder behutsame Verbesserung bedeutet, ist eine Frage, die an dieser Stelle offenbleiben muß. Bewußt wurde der Durkheimsche Ansatz ausführlicher dargestellt. Zum einen ist er bisher i n der ideengeschichtlichen Literatur kaum gewürdigt worden. Zum anderen aber handelt es sich u m die am konsequentesten „soziologische" Deutung Montesquieus. Dies ist für die vorliegende Arbeit besonders wichtig, da dieser Ansatz, wenigstens ein Stück weit, fortgesetzt werden soll. Gerade die Interpretation Montesquieus durch einen anderen epochemachenden Autor bringt den ganzen auch heute noch wichtigen Gehalt des Montesquieuschen Werkes zu Bewußtsein 46 . Diese Interpretation, die keineswegs historisch erklärend gemeint ist, zeigt die vorbildliche Formulierung von Gedanken durch unseren Autor, die auch für eine heutige Beschäftigung mit Staat und Gesellschaft noch wichtig sind und sich keineswegs i n Rokoko-Spielereien erschöpfen. Weiter zeigt die Arbeit Dürkheims aber auch deutlich die Grenzen einer Untersuchung des Rechts ganz unter Gesichtspunkten der Gesellschaft. Montesquieus Feststellung, wonach ein Gesetzgeber u m so besser sei, je mehr er sich äußeren determinierenden Faktoren entgegenstelle und versuche, eine eigenständige normative Ordnung aufzubauen 47 , die Unterscheidung von Sein und Sollen, paßt nicht i n den Rahmen des Durkheimschen Ansatzes. 44

Durkheim, S. 91 ff. Durkheim, S. 92 f. 46 Außer acht bleiben mußten hier so interessante Gedanken wie die I n t e r pretation des Gewaltenteilungsgedankens i m Rahmen des Durkheimschen Theorems des Ubergangs v o n der mechanischen zur organischen Solidarität u n d des Aufkommens der Arbeitsteilung. 47 I m Gegensatz zu Montesquieu, der die Rolle des Gesetzgebers folgendermaßen zusammenfaßt: „Que les mauvais législateurs sont ceux qui ont favo45

3. Montesquieu u n d die Soziologie

43

Eine Interpretation Montesquieus muß nach meiner Auffassung den b e i d e n S e i t e n des M o n t e s q u i e u s c h e n D e n k e n s gerecht w e r d e n :

einer

empirisch-deskriptiven u n d einer rationalistisch-normativen. D i e I n t e r p r e t a t i o n M o n t e s q u i e u s als „soziologisch" ausgerichteten D e n k e r k a n n i n z w i s c h e n als ausgemachte Sache gelten. D e r S t r e i t d r e h t sich h i e r n u r m e h r d a r u m , i n w i e w e i t u n s e r A u t o r V o r l ä u f e r oder B e g r ü n d e r d e r Soziologie, eher Rechts- oder p o l i t i s c h e r Soziologie sei 4 8 . A u c h m i r scheint diese E i n o r d n u n g des D e n k e r s v o n L a B r è d e z u m i n d e s t e i n e n w i c h t i g e n A s p e k t des E s p r i t des lois z u t r e f f e n . I c h b i n m i r durchaus d e r P r o b l e m a t i k b e w u ß t , die daraus entsteht, w e n n m a n e i n e n A u t o r e i n e r R i c h t u n g z u o r d n e n w i l l , die z u dessen L e b z e i t e n n i c h t e i n m a l d e m N a m e n n a c h bestand. L e i c h t l ä u f t dies a u f die B a n a l i t ä t eines „ A l l e s - s c h o n - e i n m a l - d a g e w e s e n " h i n a u s , die das A u g e n m e r k gerade v o n d e n B r ü c h e n u n d d e m d u r c h sie e n t s t e h e n d e n N e u e n abl e n k t . A n d e r e r s e i t s ist d e r zeitliche Z w i s c h e n r a u m , d e r u n s e r e n A u t o r v o n e i n e r i n s t i t u t i o n a l i s i e r t e n Soziologie t r e n n t , w i e d e r u m n i c h t so groß, als daß n i c h t b e i M o n t e s q u i e u schon T e n d e n z e n i n d i e R i c h t u n g risé les vices du climat, & les bons sont ceux q u i s'y sont opposés." (EdL X I V , 5; 1/1, S. 311); Durkheim dagegen sieht diese Rolle so: Er sei „ l ' i n s t r u ment qui permet de les (die Gesetze) établir p l u t ô t que leur cause génératrice" (S. 84). I n der v o n Montesquieu geforderten Eigenständigkeit der moralischen Ordnung gegenüber der U m w e l t sieht Stark, S. 156 die Bedeutung Montesquieus u n d wendet sich daher gegen die Durkheimsche MontesquieuK r i t i k (S. 160). 48 Hans Proesler: Die Anfänge der Gesellschaftslehre. Erlangen 1935, S. 130 f.; Georg ν . Below: Die Entstehung der Soziologie. Jena 1928, S. 32 f.; A . Robinet de Clery: Montesquieu sociologue. I n : Revue internationale de sociologie. 47 (1939), S. 221—232; Roger Caillois: Montesquieu ou la révolution sociologique. I n : Les cahiers de la pléiade. 8 (1949), S. 179—194; Helmut Schoeck: Soziologie. Geschichte ihrer Probleme. Freiburg — München 1952, S. 80 ff.; Sergio Cotta: Montesquieu e la scienza della società. Torino 1953; Howard Becker / Harry Elmer Barnes: Social thought from lore to science. 3d ed. New Y o r k 1961, S. 352, 409 f., 510 f., 551, 560, 571, 696; Raymond Aron: Hauptströmungen des soziologischen Denkens. 1. K ö l n 1971, S. 17—60; Friedrich Jonas: Geschichte der Soziologie. 1: Aufklärung, Liberalismus, Idealismus, Sozialismus, Übergang zur industriellen Gesellschaft. Reinbek 1976; Waldemar Voisé: L a réflexion présociologique d'Erasme à Montesquieu. Wroclaw — Warszawa — K r a k ó w — GdaÄsk 1977 (Monografie ζ dziejów n a u k i i techniki. CX), S. 171; für spezielle Soziologien nehmen Montesquieu i n A n spruch: Eugen Ehrlich: Montesquieu and sociological jurisprudence. I n : H a r v a r d l a w review. X X I X (1915/16), S. 582—600; George Gurvitch: L a sociologie j u r i d i q u e de Montesquieu. I n : Revue de metaphysique et de morale. 46 (1939), S. 611—626; ders.: Grundzüge der Soziologie des Rechts. Neuwied 1960, S. 53 bis 57; Jean Carbonnier: Sociologie juridique. Paris 1978, S. 78—81; Gunther Ipsen: Montesquieu u n d die politische Soziologie. I n : A r c h i v für angewandte Soziologie. 5 (1933), S. 112—124; Maurice Duverger: Sociologie politique. Paris 1976, S. 3; M . P. Masterton: Montesquieu's grand design: The political sociology of „Esprit des lois". I n : B r i t i s h j o u r n a l of political science. 2 (1972), S. 283 bis 318; a. A . ist Ρ angle, S. 45: Montesquieu stehe eher i n der T r a d i t i o n der politischen Philosophie als am A n f a n g der modernen Soziologie.

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Β. Montesquieu und die Kritik

dieser Wissenschaft festgestellt werden könnten. Ein besonderes Interesse gewinnt eine solche Untersuchung daraus, daß hier an einer der Wurzeln der Soziologie unter Umständen Probleme studiert werden können, die auch noch heute für diese Wissenschaft wichtig sind. Hinzuweisen wäre hier auf den Streit u m den Charakter der Soziologie als grundsätzlich kritischer „Oppositionswissenschaft" oder eher konservativer Technologie. Interesse gewinnt die Beschäftigung m i t Montesquieu aber auch angesichts seiner Verbindung von Soziologie und Rechtswissenschaft, eine Verbindung, die heute allen Bemühungen u m eine Rechtssoziologie zum Trotz, jedenfalls von Seiten der Soziologie kaum gepflegt wird 4 9 .

49 Helmut Schelsky: B e r l i n 1979, S. 1—21.

Die Soziologen u n d das Recht. I n : Rechtstheorie. 9.

C. Strukturen des Esprit des lois I . Zeit und Raum 1. H i n t e r g r u n d : Vernunftrecht und Gesellschaf tsvertrag M o n t e s q u i e u s L e h r e v o n Staat u n d Gesellschaft m u ß v o r d e m H i n t e r g r u n d d e r i n der e r s t e n H ä l f t e des 18. J a h r h u n d e r t s n o c h l a n g e h e r r schenden T h e o r i e n des m o d e r n e n Naturrechts

1

gesehen w e r d e n . Z w a r

v e r d a n k t M o n t e s q u i e u auch d e r T r a d i t i o n d e r A n t i k e v i e l , h i e r a u f h a t z u Recht L a w r e n c e M e y e r L e w i n h i n g e w i e s e n 2 , j e d o c h ist s e i n D e n k e n z u a l l e r e r s t i m R a h m e n d e r zeitgenössischen D i s k u s s i o n z u sehen u n d zu verstehen3. Das n e u z e i t l i c h e N a t u r r e c h t , das als V e r n u n f t r e c h t a u f t r i t t , h a t seine B l ü t e i m 17. u n d 18. J a h r h u n d e r t . Z u n ä c h s t b i l d e t es G e d a n k e n w e i t e r , d i e die a n t i k e T r a d i t i o n u n d das a u g u s t i n i s c h - t h o m i s t i s c h e N a t u r r e c h t 1

Dieses moderne Naturrecht muß, was nicht i m m e r geschieht, wiederum i m Gegensatz zum antiken u n d mittelalterlichen Naturrecht gesehen werden. Z u dessen herausragenden Formulierungen durch Aristoteles u n d Thomas von A q u i n vgl. René Marcie : Geschichte der Rechtsphilosophie. Schwerpunkte — Kontrapunkte. Freiburg i. B. 1971, S. 184 ff. u n d 242 ff. Marcie sieht den Unterschied zum klassischen neuzeitlichen Naturrecht darin, daß dieses w e n i ger den geschichtlich-konkreten Staat, die ordo accidentalis, meine, als v i e l mehr Staat u n d Gesellschaft als Begriff, ordo transcendentalis. F ü r das antike u n d mittelalterliche Naturrecht stehe schon v o r jeder weiteren Überlegung fest, daß der Mensch „ v o n N a t u r ein gesellschaftliches u n d politisches Wesen" sei (S. 273). Den Unterschied betont für Hobbes auch Leo Strauss: Naturrecht u n d Geschichte. Stuttgart 1956, S. 174 f. Die neuzeitlichen N a t u r rechtstheorien stehen i m Gegensatz zu den älteren Lehren auf dem Boden von Individualismus u n d Subjektivismus. Hier handelt es sich u m den Subjektivismus, der i n der zeitgenössischen philosophischen Diskussion m i t dem Begriff der „Inversion der Teleologie" beschrieben w i r d . Statt Entfaltung des Seins i n einer i h m gemäßen Tätigkeit, einem i h m spezifischen Ziel, Selbsterhaltung als Selbststeigerung (vgl. Buck , S. 216 f.). A u f den jeweils spezifischen Charakter des Naturrechts i m Hinblick auf den theologischen H i n t e r g r u n d verweist Carlo Antoni: V o m Historismus zur Soziologie. Stuttgart 1950, S. 92 ff. E r unterscheidet zwischen lutheranischinnerlichem u n d calvinistisch-aggressivem Naturrecht, wobei er aber auch auf ein katholisches Naturrecht hinweist, das nicht bereit ist, soziale M i ß stände als poena hinzunehmen. 2 Op. cit. 3 Joseph Dedieu: Montesquieu. Paris 1913 (Réimp. Genève 1970), S. 64 f. betont insbesondere die Auseinandersetzung m i t dem „materialistischen" Naturrecht Hobbes'.

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C. Strukturen des Esprit des lois

i h m überliefert hatten: überzeitlicher Geltungsanspruch, die Anthropologie als Ausgangspunkt sowie der Rationalismus seiner Methode 4 . Hintergrund des naturrechtlichen Denkens der Neuzeit sind die Religions- und Machtkämpfe, die m i t der Reformation beginnen und erst i m Siècle Louis X I V ihren Abschluß finden 5 . Man hat auf die verschiedenste A r t und Weise versucht, die Denker dieser Schule zu ordnen. So bietet sich eine Unterscheidung zwischen eher aprioristischem und rationalistischem Naturrecht auf der einen, eher historischem und empirischem auf der andern an. Franz Wieacker unterscheidet zwischen einer älteren Schule (Althusius und Grotius), die noch mehr i n der scholastischen Tradition stehe, sowie einer jüngeren (Hobbes, Spinoza und Pufendorf), die eine von der Moraltheologie unabhängige Methodik schaffe 6. Der Kern dieses Naturrechts kann m i t vier Voraussetzungen 7 gekennzeichnet werden: Wichtig ist zunächst der Ausgangspunkt i m einzelnen Individuum, das zudem meist als „idyllisches Wesen i n paradiesischer Natur" 8 gesehen wird. Weiter wichtig ist der Gedanke einer mechanisch-gleichmäßigen Natur, die von einer mathematischen Naturwissenschaft erfaßt werden kann 9 . Hiermit hängt auch zusammen „der Glaube an die Macht verstandesmäßiger Konstruktion überhaupt" 1 0 . Diese Methode kann als „geometrisch" gekennzeichnet werden, als Verbindung von Komposition und Resolution. Diese Methode ist es auch, die das „wissenschaftliche" Naturrecht vor allem von utopischem Denken unterscheidet, i h r ist daher hier besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Wolfgang Rod beschreibt dieses Vorgehen so: „Durch Analyse (resolutio) der zu erklärenden Phänomene gewinnt man nach dieser Methode (relativ) einfache begriffliche Elemente, aus denen sodann synthetisch (kompositiv) ein gedankliches Modell konstruiert wird 1 1 ." Wegbereiter dieser Methode ist die Naturwissenschaft, wie sie Galileo Galilei ent4 Franz Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung. 2. Aufl. Göttingen 1967, S. 265. 5 Ibid., S. 281. 6 Ibid., S. 270 f. 7 Ich folge hier Ernst Bloch: Naturrecht u n d menschliche Würde. F r a n k furt a. M. 1972, S. 69 ff. 8 Ibid., S. 72. 9 „Wo hier i m M i t t e l a l t e r Liederliches, Fratzenhaftes, nie Geheures, I r r sterne u n d Ausnahmen, Einbrüche ohne Maß u n d Z a h l Platz zu haben schienen, stand n u n ein Reich besonders sicherer G e s e t z e . . ( I b i d . , S. 71.) 10 Ibid., S. 70. 11 Wolf gang Rod: Geometrischer Geist u n d Naturrecht. Methodengeschichtliche Untersuchungen zur Staatsphilosophie i m 17. u n d 18. Jahrhundert. M ü n chen 1970 (Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse. N. F. 70), S. 11.

I. Zeit und Raum

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wickelt und Isaac Newton vervollkommnet hat. I m Hintergrund steht der Gedanke der Gleichartigkeit von Natur- und Gesellschaftswissenschaft, die Auffassung von der Gesellschaft als eines Teils der Natur 1 2 , des Staates als Körper. Erkenntnis des Ganzen ist auch hier nur durch Erkenntnis der zusammenwirkenden Teilkräfte möglich 13 . Der Protagonist dieser Wissenschaft ist Thomas Hobbes 14 , dessen Beziehungen zu führenden Naturwissenschaftlern seiner Zeit, Galilei, Mersenne und Descartes, hervorgehoben werden müssen. I n Auseinandersetzung mit letzterem versucht er, den Dualismus von res cogitans und res extensa aufzulösen, indem er auf das Grundprinzip der Bewegung abstellt. „Nothing without us but bodies i n motion, nothing w i t h i n us but organic motion 15 ." Indem Hobbes sowohl i n der äußeren als auch i n der menschlichen Natur die Sätze der Bewegung als bestimmend erkennt, ist für i h n die geometrische Methode nicht nur für die Natur-, sondern auch für die Staatsphilosophie einschlägig. Rechtsbeziehungen werden von i h m auf psychische Verhältnisse, diese wiederum auf physiologische Vorgänge zurückgeführt 16 . So stellt Hobbes als anthropologisches Grundmotiv des Menschen den Trieb zur Selbsterhaltung fest, aus diesem leitet er i m Rahmen der compositio den Unterwerfungsvertrag aller unter den Souverän ab. Hobbes verwendet die Selbstbeobachtung als Methode der resolutio: „Die empirische Tatsache der Furcht vor dem gewaltsamen Tode als Reflex des Selbsterhaltungsstrebens gilt dem Philosophen als entscheidendes Motiv für die Beendigung des Krieges aller gegen a l l e . . . 17 ." Hier aber gerät Hobbes, und m i t i h m alle Vertragstheoretiker, die von einer bestimmten Menschennatur — ob gut oder böse — ausgehen, i n einen Widerspruch: Zwar ist ohne weiteres ein bestimmtes Wertungssystem bei vielen Menschen feststellbar, jedoch nur auf der Ebene der Deskription. Wie aus diesem deskriptiven System von Wertungen ein System von Normen, aus denen dann kompositiv abgeleitet werden könnte, entstehen soll, ist das Problem des Naturrechts. Normen ent12

Ernst Cassirer : Die Philosophie der Aufklärung. Tübingen 1932, S. 18 ff. Ibid., S. 341 f. 14 Falsch ist die Auffassung v o n Richard Wollheim: Natural law. I n : Paul Edwards (ed.): The encyclopedia of philosophy. 5. New Y o r k — London 1967, S. 450, der meint, jegliches Naturrecht setze die Zurückweisung der nominalistischen Auffassung v o n Hobbes voraus. Auch dieser geht v o n laws of nature aus, die dem gedeihlichen Zusammenleben der Menschen dienen. 15 Z i t i e r t nach dem „Klassiker" v o n Edwin Arthur Burtt: The metaphysical foundations of modern physical science. London 1925, S. 121. 16 Rod, S. 17. 17 Ibid., S. 28; hierzu die kleine Bemerkung v o n Grillparzer: „Merkwürdig u n d zum besseren Verständnis v o n Hobbes Werken, besonders jenes de cive, führend, wäre es, w e n n es sich erweisen ließe, daß er sehr furchtsam gewesen s e i . . . " (Briefe u n d Tagebücher. 2. Stuttgart — B e r l i n o. J., S. 51). 13

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C. Strukturen des Esprit des lois

springen j a dem Willen des Souveräns 18 , der aber durch den Gesellschaftsvertrag erst geschaffen werden muß. Dasselbe Problem taucht bei der Analyse des bestehenden Staates und seiner Rechtsordnung auf. Hier w i r d das Durchstoßen zur Triebstruktur des Menschen problematisch. Wenn als Ausgangspunkt der — bestehende — Staat und seine Rechtsordnung genommen wird, so gelangt man zum Individuum als kleinstem Bestandteil. Diesen Zustand charakterisiert Hobbes als völlig rechtlos. Er bleibt dabei jedoch immer noch i n der normativen Ordnung, indem er die i n diesem Zustand herrschende Gleichheit und Freiheit negativ faßt — als Freiheit von gesetzlichen Verpflichtungen, als Gleichheit i m Gegensatz zu rechtlichen Differenzierungen. Die Begriffe von Freiheit und Gleichheit sind also normativ gemeint. Andererseits gibt Hobbes aber diesen Begriffen auch einen anthropologischen — deskriptiven — Sinn. Analyse der Rechtsordnung und empirische Untersuchung des Menschen werden eins, Hobbes springt vom Sollen zum Sein, vom Sein zum Sollen 19 . A n und für sich sind beide Wege gangbar: Eine Analyse der Gesellschaft, die letztlich bei der Psychologie des Individuums ankommen muß, sowie darauffolgend die Konstruktion einer völlig funktional arbeitenden Idealgesellschaft. Der gleiche Weg ist für die staatliche Rechtsordnung möglich: Aus der empirisch feststellbaren Vielzahl von Normen sind Grundnormen herauszuarbeiten, von denen dann, ebenfalls unter dem Gesichtspunkt der jeweils höherrangigen Normen, ein Normsystem sich entwickeln ließe. Jedoch die Verschränkung beider Ebenen, wie Hobbes und die Naturrechtstradition sie vornimmt, ist logisch nicht haltbar. Inwieweit diese Theoretiker durch Abstützung auf die Natur nur Legitimation zu erreichen versuchen, mag dahingestellt bleiben. 18 Thomas Hobbes of Malmesbury: Leviathan or, the matter, form and power of a commonwealth ecclestical and civil. I n : The English works (Ed. W i l l i a m Molesworth) I I I . A a l e n 1962, I I , § X X V I , S. 255. 19 Diese K r i t i k übersieht nicht die Einflüsse, die v o n der Realität auf das Normsystem ausgehen. Auch Hans Kelsen, dem dieses vorgeworfen w i r d , leugnet solche Einflüsse nicht. E r läßt der Rechtssoziologie durchaus i h r Forschungsgebiet, die Ursachen v o n Rechtsnormen zu erforschen. Er betont n u r die Eigenständigkeit der Normsphäre: Die Physiologie untersuche w o h l chemische Prozesse, die Gefühle, die sich i n diesen Prozessen ausdrückten, könne sie aber nicht erfassen, Hans Kelsen: Reine Rechtslehre. 2. A u f l . Wien 1965, S. 108. Diese K r i t i k verneint n u r die Möglichkeit einer logischen Ableitbarkeit v o n Normen aus der Realität: „ . . . an argument purporting to establish a n o r m exclusively on the basis of w h a t is not normative is either not a logical argument or i t is an elliptic logical argument i n which at least one premiss i m p o r t i n g a n o r m is suppressed." (limar Tammelo : „The Is" and „the Ought" i n logic and i n law. I n : Peter Schneider (Hrsg.): Sein u n d Sollen i m Erfahrungsbereich des Rechts. A r c h i v f ü r Rechts- u n d Sozialphilosophie. Beiheft. N. F. 6. Wiesbaden 1970, S. 74 f.

I. Zeit und Raum

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Als erste Stufe der compositio erscheint bei den Vernunftrechtlern üblicherweise ein Gesellschaftsvertrag, teilweise verbunden mit, teilweise gefolgt von einem Herrschaftsvertrag 20 . „The first to bring the state into existence, the second to regulate its government 21 ." Obwohl die logische Begründung dieses Vertrages schwierig sein dürfte — wie sollen die Individuen Rechte auf den Herrscher übertragen, da Recht ja diesen voraussetzt; wie soll der Herrscher die Bürger nach Vertragsschluß als Rechtssubjekte repräsentieren, da sie vorher j a keine Rechts-, sondern Natursubjekte waren 22 ? Jedoch w i r d das logische Argument, ebenso wie ein historisches, das auf dem fehlenden Nachweis eines solchen Vertrags i n der Realität beruht, diesen Theorien nicht gerecht. Sie müssen vielmehr gesehen werden zum einen als Ausdruck eines ausgeprägten Individualismus 2 3 , zum anderen funktional als Theorien der Legitimation, deren es i n bestimmten „ k r i t i schen" Situationen für die eine oder andere Seite bedarf 24 . Über diese konkret-politischen Implikationen hinaus kann der Vertragsgedanke als ein einfaches Modell der gegenseitigen Verflochtenheit innerhalb der Gesellschaft interpretiert werden, ein Modell, das gerade wegen seiner Unbestimmtheit und Vagheit beliebt war 2 5 . Der Gesellschaftsvertragsgedanke erscheint so als ein Pendant zu anderer, ζ. B. 20 Näheres bei Otto von Gierke : Johannes Althusius u n d die E n t w i c k l u n g der naturrechtlichen Staatstheorien. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Rechtssystematik. 3. A u f l . Breslau 1913, S. 76—122, 339—350, 376—383; Adalbert von Unruh: Dogmenhistorische Untersuchungen über den Gegensatz v o n Staat u n d Gesellschaft v o r Hegel. Leipzig 1928 (Abhandlungen der Rechtsu n d Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Göttingen. 7), 36 ff. 21 J. W. Gough: The social contract. A critical study of its development. 2nd ed. Oxford 1957, S. 3. 22 Vgl. die bei Rod , S. 42—47 vorgestellten Lösungsversuche, die alle v o n der L o g i k her n u r schwerlich überzeugen. Auch Gough, S. 4 h ä l t unter diesem Gesichtspunkt mehr v o n der Theorie Robert Filmers als v o n der John Lockes. 23 I n w i e w e i t der Vertragsgedanke spezifisch bürgerlichen Ursprungs ist, wie Wilfried Röhrich: Sozialvertrag u n d bürgerliche Emanzipation von Hobbes bis Hegel. Darmstadt 1972 (Erträge der Forschung. 13), S. 4 meint, mag hier offen bleiben. 24 Wobei insbesondere i n religiösen Auseinandersetzungen die seit alters vorhandene Vertragsbegrifflichkeit eingesetzt wurde, vgl. Gough, S. 53 ff.: „The language of contract lay ready to hand, and they furbished i t up afresh for their o w n purposes." 25 Jürgen Sandweg: Rationales Naturrecht als revolutionäre Praxis. U n t e r suchungen zur „ E r k l ä r u n g der Menschen- u n d Bürgerrechte" v o n 1789. Berl i n 1972 (Historische Forschungen. 6) stellt die Verwendung naturrechtlicher Schlagworte als Leerformeln auf allen Seiten der französischen Revolution fest. Daß dieser Gedanke auch heute noch nicht erschöpft ist, beweist der A r t i k e l v o n Ralf Dahrendorf: E i n K r i e g aller gegen alle? I n : Die Zeit v. 16. 2. 1979, S. 9 f., i n dem er für Großbritannien einen neuen Gesellschaftsvertrag fordert.

4 Clostermeyer

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C. Strukturen des Esprit des lois

organischer Metaphorik. Hier handelt es sich jedoch u m eine Metaphorik, die den freien Willen und die Individualität der Glieder betont, die nicht nur abhängige Organe oder Zahnräder einer politischen Maschine sein wollen. Eine solche „root metaphor" 2 6 strukturiert dann das weitere politische Denken, das, wenn es von einem Vertrag ausgeht, auch eventuell gegen die Intention des Theoretikers einen kritischen, antihistorischen Impetus haben wird. 2. Montesquieus Konzept der „rapports" als funktionale Theorie Von diesem traditionellen Gedankengut finden sich bei Montesquieu nur verschwindende Spuren. Ausgangspunkt für Montesquieus Untersuchung ist vielmehr der Begriff der Beziehungen. Gesetze sind i m weitesten Sinne „les rapports nécessaires qui dérivent de la nature des choses"27. Montesquieu geht also von einer Vielzahl von Interdependenzen und Relationen aus, die die Welt strukturieren, und nimmt damit eine Grundkategorie der späteren Beziehungssoziologie vorweg 28 . Montesquieu geht weiter so vor, daß er zuerst eine Vielzahl von mehr oder weniger bedeutungsvollen Elementen, die für das gesellschaftliche Leben von Interesse sein können, herausarbeitet und dann versucht, diese Vielzahl von Gesichtspunkten zueinander i n Beziehung zu setzen und daraus allgemeine Gesetzmäßigkeiten abzuleiten. Aus diesem Wechselspiel der verschiedensten Elemente erklärt sich vielleicht der vielzitierte „désordre de l'Esprit des lois" 2 9 . Andererseits aber gibt dieses Konzept der Beziehungen einen festen Bezugsrahmen 30 , i n den die ver26 Z u diesen „root metaphors" Stephen C. Pepper : Metaphor i n philosophy. I n : P h i l i p P. Wiener (ed.): Dictionary of the history of ideas. Studies of selected p i v o t a l ideas. I I I . New Y o r k 1973, S. 199 ff. 27 E d L 1/1, S. 1; Léon Brunschvicg: Le progrès de la conscience dans la philosophie occidentale. 1. Paris 1927, S. 491 meint dazu: „comme le portique d'une cathédrale". 28 Vgl. dazu m i t weiteren Nachweisen: J. Debus: Beziehungssoziologie. I n : Historisches Wörterbuch der Philosophie. I, S. 910. 29 Statt vieler: Henri Barckhausen: Montesquieu. Ses idées et ses oeuvres d'après les papiers de la Brède. Paris 1907 (Réimp. Genève 1970), S. 253 ff., der aber auf S. 264 f. versucht, Ordnung i n diese anscheinende Unordnung zu bringen. 30 Julien Freund: L'essence d u politique. Paris 1965 (Philosophie politique. 1) stellt Montesquieu wegen dieses Denkens i n Beziehungen an den Beginn einer Tradition, die, anders als Freud selbst, das Politische nicht i n den Kategorien v o n „ i n i m i t i é " u n d „commandement et . . . obéissance" (S. 1) sieht (S. 229 ff.). Ebenso kontrastiert dieses Konzept m i t dem Voluntarismus des Naturrechts Charles W. Hendel: To Montesquieu: Acknowledgement and appreciation. I n : Revue internationale de philosophie. 9 (1955), S. 346—365, 363: „the grand sovereigns of the philosopher's dream are b u t lieutenants i n a w o r l d governed b y the laws"; ebenso Maier, S. 274, der insgesamt die traditionellen Züge der ersten Bücher des Esprit betont u n d Voisé, S. 113 ff., der bei Montesquieu die Ablösung der noch bei Pufendorf, Spinoza u n d deren

I. Zeit u n d Raum

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w i r r e n d e V i e l f a l t d e r E r s c h e i n u n g e n des gesellschaftlichen Z u s a m m e n lebens i n Z e i t u n d R a u m g e s t e l l t w e r d e n k a n n , ohne noch w i e b e i M o n t a i g n e oder Pascal d e m S k e p t i z i s m u s z u v e r f a l l e n 3 1 . Diese E l e m e n t e , z w i s c h e n d e n e n d i e B e z i e h u n g e n herrschen, stehen aber n i c h t g l e i c h b e r e c h t i g t n e b e n e i n a n d e r . Es g i b t a b h ä n g i g e V a r i a b l e n u n d unabhängige. Montesquieu denkt hier funktionalistisch 32. I m w e i t e s t e n S i n n e k a n n u n t e r e i n e r f u n k t i o n a l e n A n a l y s e , w i e sie von A l f r e d Reginald Redcliffe-Brown u n d Bronislaw Malinowski entw i c k e l t w u r d e , folgendes v e r s t a n d e n w e r d e n : „ F i r s t , t h a t s t a n d a r d i z e d social a c t i v i t i e s o r c u l t u r a l i t e m s are f u n c t i o n a l f o r t h e e n t i r e social o r c u l t u r a l system; second, t h a t a l l such social a n d c u l t u r a l i t e m s f u l f i l l sociological f u n c t i o n s ; a n d t h i r d , t h a t these i t e m s are c o n s e q u e n t l y i n d i s p e n s a b l e 3 3 " . W i c h t i g ist also d e r n o t w e n d i g e B e z u g a l l e r T e i l e aufs Ganze. Diese A u f f a s s u n g h a t K r i t i k e r f a h r e n i n d e m A u f s a t z v o n R o b e r t K . M e r t o n ü b e r „ M a n i f e s t a n d l a t e n t f u n c t i o n s " . H i e r w i e s er d a r a u f h i n , daß es durchaus f ü r die Gesamigesellschaft d y s f u n k t i o n a l e oder gar n i c h t - f u n k t i o n a l e I n s t i t u t i o n e n gäbe, die andererseits aber f ü r b e s t i m m t e I n d i v i d u e n u n d G r u p p e n durchaus f u n k t i o n a l s i n d 3 4 . D i e M ö g Zeitgenossen herrschenden Vorstellung des autoritativen Charakters des Rechts feststellt. Nunmehr w i r d es zunehmend als etwas Einsehbares behandelt. 31 Den Gegensatz betonen Soboul / Lemarchand / Fogel, S. 575. 32 A u f den Ursprung des Funktionalismus als „amoralischem" Denken von den Zielen her bei Macchiavelli verweist Arnold Hauser: Der Ursprung der modernen Kunst u n d Literatur. Die E n t w i c k l u n g des Manierismus seit der Krise der Renaissance. 2. A u f l . München 1973, S. 87. Macchiavelli w o l l e menschliches Handeln w i e es ist beschreiben. I n seinen Schriften manifestiere sich die „endgültige Auflösung des einheitlichen, innerlich geschlossenen geistigen Kosmos" (S. 81) u n d entstehe der moderne Individualismus. A u f die Beziehungen Montesquieus gerade zu Machiavelli unter dem Gesichtspunkt der Trennung v o n Staat u n d M o r a l weist Klemperer, I I , S. 179 h i n ; ebenso Lowenthal, S. 282; differenzierend Raynal, S. 7 f., die bei Montesquieu einerseits einen moralistischen Zug feststellt, andererseits aber i n der Nachfolge Macchiavellis moralfreies politisches Denken. Interessant der Gedanke v o n Goulemot: Errances, S. 28, der die These aufstellt, die Theorie des F u n k t i o nalismus sei dem alles planenden Absolutismus nachgebildet; den Gedanken der Organisation als Quintessenz Montesquieuschen Denkens betont auch Théodore Quoniam: Introduction à une lecture de l'Esprit des Lois. I n : Archives des lettres modernes. Paris 1976, No 166 (Archives Montesquieu No 7), S. 90 f. 33 Robert K. Merton: Social theory and social structure. Rev. ed. Glencoe 111. 1957, S. 25; bemerkenswert ist, daß einer der Protagonisten des F u n k t i o nalismus selbst sich auf Montesquieu bezieht: Bronislaw Malinowski: Eine wissenschaftliche Theorie der K u l t u r . F r a n k f u r t a. M. 1975, S. 19: „Der F u n k tionalismus als Methode ist so alt wie das erste Aufflackern eines Interesses an fremden u n d daher vermeintlich w i l d e n u n d barbarischen K u l t u r e n , gleichgültig, ob dies Interesse bei einem griechischen Geschichtsschreiber, w i e Herodot, einem französischen Enzyclopädisten, w i e Montesquieu, oder einem deutschen Romantiker, w i e Herder, auftaucht. Ausdrücklich ebenfalls als Funktionalis ten beschreibt Thompson, S. 146 ff., Montesquieu.



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C. Strukturen des Esprit des lois

lichkeiten einer gesamtgesellschaftlichen funktionalen Analyse werden also eingeschränkt. Es soll jetzt nicht weiter die Problematik der funktionalen Analyse vertieft werden, für den Zweck dieser Arbeit genügt es, wenn dieses Konzept kurz vorgestellt ist, andererseits aber auch die Grenzen einer derartigen Betrachtungsweise aufgezeigt werden. I m folgenden soll der Esprit des lois auf die Anwendung dieses Denkens h i n untersucht werden. Ausgangspunkt für Montesquieu sind fünf Typen von Gesellschaften. Eine weitverbreitete Ansicht sieht dagegen i n Montesquieus „espèces de gouvernement" eine — modifizierte — Wiederaufnahme der antiken Staatsformenlehre, zum Beispiel eines Aristoteles 35 . Aufgrund dieser Voraussetzung w i r d dann eine Vielzahl von Unstimmigkeiten festgestellt 36 . Seit alters her gibt es zwei Ordnungsprinzipien i n der Staatsformenlehre: Das eine geht von der Zahl der Herrschenden aus, das andere von einer ethischen Bewertung, wobei eine Vielzahl von Kombinationen möglich ist 37 . Montesquieu scheint beide Prinzipien zu vermischen. Er beginnt m i t der Republik, kommt dann zur Monarchie und endet bei der willkürlichen Ein-Mann-Herrschaft, der Despotie. Ebenfalls ungewöhnlich ist an der Montesquieuschen Typologie, daß sie Demokratie — die Herrschaft aller — und Aristokratie — die Herrschaft einiger — nicht trennt, sondern beide Formen unter den Begriff der Republik bringt. Vollends ungereimt scheint — falls dies überhaupt gesehen w i r d — die Ablösung des dreigliedrigen Schemas durch ein zweigliedriges, das zwischen gemäßigten und despotischen Staaten unterscheidet. Hier überlagert anscheinend ein zweites Ordnungsprinzip das erste, mit dem es nur bei der Despotie zur Deckung kommt 3 8 . Meiner Ansicht nach handelt es sich bei den Montesquieuschen „espèces de gouvernement" u m Typen von Gesellschaften. Ansätze für eine begriffliche Trennung zwischen Gesellschaft und Staat sind bei Montesquieu nur am Rande vorhanden. Bei seiner kurzen 34

nes".

Ibid., S. 19—84, 80 i n der Analyse der amerikanischen „political machi-

35 Statt vieler: Barckhansen: Idées, S. 53, der die Übereinstimmung der Montesquieuschen Monarchie m i t Piaton u n d Xenophon betont. 36 Saint-Hilaire, S. 151; dabei ist aber zu beachten, daß Montesquieu sich ausdrücklich v o n der antiken Staatsformenlehre absetzt: E d L X I , 9 u n d 11, 1/1, 224 u n d 226 betont er, daß die A l t e n von der Monarchie keine rechte Vorstellung gehabt hätten u n d k r i t i s i e r t Aristoteles. 37 Reinhold Zippelius: Allgemeine Staatslehre. München 1969, § 16, S. 78. 38 Kuhfuss, S. 117; i n dem zweiten Schema sieht er „eine auf den Despotiebegriff übergreifende moralische Fundierung der politischen Theorie durch Montesquieu, der damit selbst die scheinbar objektive Grundlage für eine wertneutrale Gesellschaftslehre durch eine apriorisch gesetzte moralische Entscheidung i n Frage stellt" (S. 131).

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Skizze eines Naturzustandes zu Beginn des Esprit des lois bemerkt er: „Une société ne saurait subsister sans u n gouvernement 39 ." Hier erscheint eine Trennung zwischen Gesellschaft, begriffen als die Vereinigung einer Vielzahl von Menschen, und Regierung, die m i t Gesetzen das Zusammenleben regelt. Auch an anderer Stelle scheint eine solche Spaltung durch, ebenfalls i m Zusammenhang m i t einem naturrechtlich geprägten Gedankengang. Bei der Erörterung des Rechts der Eroberung trennt Montesquieu zwischen dem „citoyen" und dem „homme" 4 0 . A n dieser Stelle t r i t t allerdings der Begriff der „société" als Bezeichnung des staatlichen Zusammenschlusses auf: „ L a société est l'union des hommes, & non pas les hommes." Die Gesellschaft ist also mehr als die Summe der einzelnen. Montesquieu behandelt diesen Aspekt unter dem Gesichtspunkt des Kriegsrechts. Er wendet sich gegen die völkerrechtliche Auffassung, die dem Sieger das Recht zugesteht, die Besiegten zu töten 41 . Montesquieu anerkennt dagegen nur das Recht, die „société" zu zerstören, nicht aber die Menschen zu töten. „Société" ist i n diesem Zusammenhang sichtlich politisch gemeint. Wieder an anderer Stelle schimmert die Trennung zwischen Staat und Gesellschaft i n einem uns heute geläufigen Sinne durch: Montesquieu definiert anläßlich seiner Untersuchung des Begriffs der politischen Freiheit: „ u n état, c'està-dire . . . une société où i l y a des loix" 4 2 . Gesetze also als Spezifikum des Staates. Es sind auch Anklänge an die Vertragstheorie m i t ihrer rationalen Begründung des staatlichen Zustandes feststellbar: Die Tätigkeit des Staates ist genau definiert und i n Regeln gefaßt. Jedoch ist diese anscheinende terminologische Klarheit schnell wieder verwischt. I m ganzen Werk verwendet Montesquieu die Begriffe „état", „peuple", „nation", „cité" als Synonyme, wobei jedoch „état" der meistgebrauchte Begriff für zivilisierte Formen des Zusammenlebens ist 43 . Für unzivilisierte Stämme verwendet Montesquieu speziell den Begriff des „peuple", ohne umgekehrt diese Völkerschaften als „états" zu bezeichnen 44 . A u f der anderen Seite verwendet er auch für zivilisierte „états" den Begriff der „peuples", allerdings oft m i t dem Unterton des wilden, ungestümen, wobei „peuple" dann eine Bezeichnung für die breiten Volksmassen wird. I h m w i r d ζ. B. i n der Demokratie zugestanden, gute Repräsentanten zu wählen 4 5 ; das ruhige Führen der Staatsgeschäfte traut Montesquieu i h m jedoch nicht zu. Die Natur des „peuple" liegt i m 39 E d L 1,3; 1/1, S. 8. E d L X , 3; 1/1, S. 185. 41 „le citoyen peut périr, & l'homme rester", ibid. 42 E d L X I , 3; 1/1, S. 205. 43 Ebenso Kuhfuss, S. 103. 44 E d L X V I I I , 11 ff.; 1/1, S. 386 ff.; X X I , 2; 1/1, S. 468. 45 E d L I I , 2; 1/1, S. 12 ff. 40

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C. Strukturen des Esprit des lois

leidenschaftlichen Handeln. Hier ließe sich vielleicht ein Begriff des „peuple" herausschälen, der das ungeordnete, naturhafte betont, wohingegen „état" und „société" i n gewissem Maße künstlich sind. Daß Montesquieu diese Teilung nicht als völligen Gegensatz meint, w i r d bei der Behandlung der wilden „peuples" klar. Sie haben ebenfalls Gesetze, jedoch bei weitem nicht so viele wie die „états"; das Schwergewicht liegt bei ihnen auf den Sitten und Gebräuchen. A n vielen Stellen w i r d der Begriff „nation" und „peuple" synonym verwendet als Begriff der lebendigen, tätigen und aktiven Seite des gemeinschaftlichen Lebens. Besonders auffällig ist diese Bedeutung i n Buch X I X . Dort handelt Montesquieu die „mœurs & les manières d'une nation" ab, der „manière de penser d'une nation" w i r d das „gouvernement" gegenübergestellt. Die Nation erscheint dabei als gewachsene, natürliche kulturelle Einheit 4 6 ; das Gegenstück hierzu bildet das künstliche Wesen des Politischen47. I n diesem Zusammenhang w i r d auch wieder die Unterscheidung zwischen „homme" und „citoyen" aufgenommen: Das Verhalten der Menschen regeln Sitten und Gebräuche, das Verhalten der Bürger die Gesetze. Zwar stellt Montesquieu durchaus Beziehungen zwischen dem „gesellschaftlichen" Bereich der Sitten und dem staatlichen der Gesetze fest, dabei sind aber die Gesetze die abhängige Variable 4 8 . Es finden sich also, wenn auch nur i n nuce, Ausgangspunkte für eine begriffliche Trennung von Staat und Gesellschaft; neben der Wirklichkeit des Staates gibt es noch eine andere, gesellschaftliche Wirklichkeit, die durchaus i n der Lage sein kann, sich selbst zu regulieren. Es handelt sich hier jedoch nur u m Ansätze, i m weiteren ist eine nähere Untersuchung der „espèces de gouvernement" erforderlich. A l l e i n die Bezeichnung „gouvernement" läßt aber noch nicht auf den Charakter dieser Typen als Staatsformen schließen; nach dem oben Dargestellten sind die Abgrenzungen unscharf. Zunächst unterscheidet Montesquieu seine Typen nach dem Inhaber der Souveränität und der A r t ihrer Ausübung. I n der Republik hat das ganze oder ein Teil des Volkes die Staatsgewalt inne 49 , i n der Monar46

E d L X I X , 6; 1/1, S. 414: „ L a nature répare tout." E d L X I X , 3; 1/1, S. 411 ff. 48 E d L X I X , 21; 1/1, S. 428 ff. 49 Die Frage der Souveränität stellt f ü r Montesquieu k e i n Problem mehr dar, sie ist eine feststehende Tatsache. Das Interesse Montesquieus geht dahin, „de considérer le pouvoir comme u n animal d'une espèce particulière" (Maurice Duverger : Montesquieu et notre temps. I n : Deuxième centenaire, S. 227—240, 233). Der gleichen Auffassung ist George C. Vlachos: La politique de Montesquieu. Notion et méthode. Paris 1974, S. 22; a. A . Max Landmann: Der Souveränitätsbegriff bei den französischen Theoretikern, v o n Jean Bodin bis auf Jean Jacques Rousseau. E i n Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des Souveränitätsbegriffs (Diss, jur.) Leipzig 1896, S. 111: Montesquieu „zertrümmert das v o n Bodin k u n s t v o l l aufgeführte Gebäude der Souveränitätslehre, 47

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chie regiert ein einzelner nach feststehenden Regeln, womit Montesquieu auf das System der Stände verweist 5 0 ; i n der Despotie herrscht einer allein, „sans loi & sans règle" 51 . Diese Einteilung ist, für sich genommen, alles andere als aussagekräftig, sie wurde auch von vielen Autoren kritisiert. Insbesondere die Unterscheidung von Monarchie und Despotie hat K r i t i k erfahren müssen 52 . Diese Einteilung ist aber bei Montesquieu, und das w i r d nicht so häufig gesehen, nur der erste Schritt h i n zur Bildung seiner Typen. I m folgenden werden diese weiter konkretisiert: Neben die nature t r i t t das principe du gouvernement. Dabei liegt die Betonung nicht mehr auf der Organisation der Staatsgewalt, sondern auf bestimmten typischen Verhaltensweisen. Montesquieu stellt gesellschaftliche Verhaltensmuster fest und untersucht diese „gemeinsamen Denkweisen und Überzeugungen der verschiedenen Kulturen" 5 3 . Deutlicher noch w i r d der Charakter der Montesquieuschen espèces de gouvernement, wenn man ihre weitere Verwendung i m Werk betrachtet. Sie werden i n Verbindung gebracht m i t verschiedenen Arten der Erziehung, der Lebensführung, des Handels und der Religion 54 . Hier handelt es sich u m Bereiche, i n denen sich i m Laufe der Neuzeit das Bewußtsein einer, vom Staat verschiedenen, bürgerlichen Gesellschaft herauszukristallisieren begann 55 . Andererseits korrespondieren auch die Gesetze eines Staates m i t den principes 56 . Diese finden ihren Ausdruck i n den Gesetzen, welche aber auch auf die Prinzipien zurückwirken. Montesquieu zieht hier einen Vergleich aus der Physik heran: „l'action est toujours suivie d'une réaction" 57 . Montesquieus espèces de gouvernement lassen sich also unter einen weiten Begriff der Gesellu n d zwar so, daß davon nicht einmal die Grundmauern erkennbar geblieben sind; vgl. auch Adolf Dock: Revolution u n d Restauration über die Souveränität. Eine weitere Quellensammlung über den Begriff der höchsten Gewalt u n d zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Staatstheorien. Strassburg 1900 (Neudruck A a l e n 1972), S. 24, der bei Montesquieu einen englisch-konstitutionellen Souveränitätsbegriff, i m Gegensatz zum französischen Jean Bodins, feststellt; allgemein zum Problem der Souveränität: Helmut Quaritsch: Staat u n d Souveränität. 1: Die Grundlagen. F r a n k f u r t a. M. 1970. 50 „point de monarque, point de noblesse: point de noblesse, point de monarque" (EdL I I , 4; 1/1, S. 21. 51 E d L I I , 1; 1/1, S. 10. 52 Statt vieler: Saint-Hilaire, S. 152. 53 Z u diesem Begriff der Verhaltensmuster: Joseph H. Fichtner: Grundbegriffe der Soziologie. 2. Aufl. W i e n — N e w Y o r k 1969, S. 107; diese „passions humaines" sind für Montesquieu die eigentlich bewegenden gesellschaftlichen Kräfte, vgl. E d L I I I , 1; 1/1, S. 25. 54 E d L I V ; 1/1, S. 39 ff.; V I I ; 1/1, 128 ff.; X X ; 1/1, 445 ff.; X X I V ; 1/2, S. 80 ff. 55 Erich Angermann: Das „Auseinandertreten v o n Staat u n d Gesellschaft" i m Denken des 18. Jahrhunderts. I n : Zeitschrift für Politik. N. F. 10 (1963), S. 89—101, 96 ff. 56 E d L V u n d V I ; 1/1, S. 54 ff. 57 E d L V, 1; 1/1, S. 54.

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schaft fassen, e i n e n B e g r i f f , d e r n i c h t — w i e später b e i H e g e l —

im

Gegensatz z u d e m des Staates steht, s o n d e r n diesen als e i n T e i l s y s t e m e n t h ä l t 5 8 . N a c h m o d e r n e r T e r m i n o l o g i e lassen sich i m a l l g e m e i n e n sechs spezifische

F u n k t i o n e n d e r Gesellschaft

ausmachen 5 9 , die

„Gruppen-

r e a k t i o n e n a u f d i e p r i m ä r e n u n d g r u n d l e g e n d e n sozialen B e d ü r f n i s s e des Menschen" d a r s t e l l e n : V e r f a h r e n z u r E r n e u e r u n g des M i t g l i e d e r bestandes (Liebe, Ehe, V e r w a n d s c h a f t ) 6 0 , B i l d u n g , W i r t s c h a f t ,

Sicher-

heit u n d Ordnung, Religion u n d Freizeit. Bis auf den letzten P u n k t , d e n er n u r a m R a n d e s t r e i f t 6 1 , h a n d e l t M o n t e s q u i e u a l l e diese I n s t i t u t i o n e n i n s e i n e m W e r k ab — u n d dies a u s d r ü c k l i c h i n B e z i e h u n g z u seinen espèces de g o u v e r n e m e n t . A u f g r u n d dieses w e i t e n B e g r i f f s d e r Gesellschaft w i r d d e r i n B u c h X I einsetzende D i c h o t o m i s m u s i n g e m ä ß i g t e u n d despotische S t a a t e n erst s i n n v o l l . B e t r a f d i e erste — d r e i g l i e d r i g e — E i n t e i l u n g die G e s a m t gesellschaft, so g e h t es b e i d e r T r e n n u n g i n g e m ä ß i g t e u n d despotische S t a a t e n u m das politische T e i l s y s t e m 6 2 . D i e T e r m i n o l o g i e M o n t e s q u i e u s h a t , i n d e m sie B e g r i f f e v e r w e n d e t , d i e aus d e r a l t e n S t a a t s f o r m e n l e h r e s t a m m e n , f ü r v i e l e Leser d e n W e g z u M o n t e s q u i e u s D e n k e n v e r s p e r r t . E r s t die n e u e r e L i t e r a t u r b e m ü h t 58 Z u weit geht Merry, S. 40, der i n der Montesquieuschen Typenlehre den Ansatz einer Klassenanalyse sehen w i l l . W e n n Montesquieu für die A r i s t o kratie auf bestimmte Teile des Volkes abstellt, die die Staatsgewalt ausüben, so haben w i r es hier gerade m i t dem „klassischen" T e i l seiner Typenlehre zu tun. 59 Ich folge hier Fichtner, S. 86 f. 60 Hier handelt Montesquieu — wie i n den Lettres persanes — insbesondere orientalische Verhältnisse ab. Dort ist die „esclavage domestique" die Fortsetzung der das übrige gesellschaftliche Leben beherrschenden U n t e r drückung, vgl. E d L X V I ; 1/1, S. 349 ff. Z u Montesquieus Stellung zur Frauenfrage vgl. die gewichtige A r b e i t v o n Jeanette Geffriaud Rosso: Montesquieu et la féminité. Pise 1977, S. 582, die zu dem Ergebnis k o m m t , daß Montesquieu das Denken seiner Zeit repräsentiere u n d weder besonders progressiv noch reaktionär sei. Gemeinsam sei i h m m i t Diderot, Voltaire u n d Rousseau, daß sie die Frau n u r als Objekt betrachteten: „inférieure ou supérieure, elle n'est jamais vraiment l'égale n i la compagne de l'homme dans ses oeuvres et dans sa pensée." Vgl. weiter Robert F. O'Reilly: Montesquieu, a n t i - f e m i nist. I n : Studies on Voltaire. C i l (1973), S. 143—156. 61 So wendet er sich unter dem Gesichtspunkt des Volkswohlstandes gegen ein Übermaß an — kirchlichen — Feiertagen: E d L X X I V , 23; 1/2, S. 101 f.; ein besonderes Augenmerk w i d m e t er jedoch der verfeinerten Lebensweise, dem Luxus i n E d L V I I ; 1/1, S. 128 ff. 62 Diese Trennung v o n Staat u n d Gesellschaft betont i n seinem h e r v o r ragenden Aufsatz: Louis Gérard-Varet: Montesquieu et le rôle social de la religion d'après L'Esprit des lois. E x t r a i t d'un cours sur les fondateurs modernes de la sociologie. I n : Revue bourguignonne de l'enseignement supérieur. X I (1901), S. 123—145, 123: „rompant avec la t r a d i t i o n de Hobbes, qui identifiait société, état et gouvernement, i l a posé à part l a société."; auf diese Trennung macht auch aufmerksam Simone Goyard-Fabre, S. 207; also nicht erst bei Rousseau eine Trennung von Privatmensch u n d Staatsbürger w i e Karl Löwith: V o n Hegel bis Nietzsche. Zürich — N e w Y o r k 1941, S. 315 meint.

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sich, die Beziehungen zwischen sprachlichem Verhalten und politischer Theorie zu untersuchen 63 . Für unsere Arbeit wäre festzuhalten, daß Montesquieu zwar eine alte Begrifflichkeit übernimmt, ihren Bedeutungsgehalt aber zugleich erweitert und verengt 64 . Zum einen geht er über die politischen Institutionen hinaus und zeigt weitere Determinanten gesellschaftlichen Seins auf. Mag die Ökonomie für antike Denker i n einer auf Sklavenarbeit aufgebauten Gesellschaft kaum von allzu großer Bedeutung für die polis gewesen sein, so hatte sich diese Situation spätestens seit dem Ende des 17. Jahrhunderts — insbesondere vor dem Hintergrund der englischen Expansion 65 und des spanischen Niedergangs 66 — radikal geändert. Montesquieu gibt der Ökonomie ihren Platz i n der politischen Theorie, i m 19. Jahrhundert w i r d die Ökonomie versuchen, die Politik zu verdrängen. Zum anderen w i r d der Begriffsinhalt enger und konkreter. Montesquieu behandelt nicht eine abstrakte, konstruierte Republik, sondern baut auf der konkreten, historischen antiken Stadtrepublik, der polis, auf. Hieraus erklären sich gewisse Schwierigkeiten, die Montesquieu bei der Behandlung der zeitgenössischen Republiken hat. Dennoch sieht er — was manchmal bezweifelt w i r d — auch i n diesen eine Verkörperung seines Typus der Republik. Hier ergibt sich aber auch die Problematik der Montesquieuschen Typenlehre. Diese ist ideal gemeint, nicht i n jeder Republik w i r d zum Beispiel nach dem von i h m festgestellten Grundprinzip der politischen Tugend gelebt, man sollte es nur, wenn man den Typus der Republik erhalten w i l l 6 7 . Darüber hinaus stellt Montesquieu fest, daß es auch die jeweils anderen Verhaltensmuster i n den verschiedenen Gesellschaften gäbe, nur sind diese Verhaltensmuster nicht die entscheidende Triebfeder 68 . 63

Insbesondere Kuhfuss, S. 14, der hier aber eine Überlagerung der alten Staatsformenlehre durch die „Tiefenstruktur" der „modération" annimmt, S. 16. 64 Montesquieu ist sich selber dieser Problematik bewußt. I m „Avertissement de l'auteur", das der K r i t i k am Esprit des lois begegnen soll, schreibt er: „J'ai eu des idées nouvelles; i l a bien f a l l u trouver de nouveaux mots ou donner aux anciens de nouvelles acceptions" (EdL; 1/1, S. L V I I — Hervorhebung von mir.) 65 Montesquieu bemerkt dazu: „D'autres nations ont fait céder des intérêts politiques: celle-ci (d. i. England, d. V.) a toujours fait céder ses intérêts p o l i tiques aux intérêts de son commerce." (EdL X X , 7; 1/1, S. 452.) 66 E d L X X I , 22; 1/1, S. 521 ff. 67 E d L I I I , 11; 1/1, S. 38: „Ce q u i ne signifie pas que, dans une certaine république, on soit vertueux; mais qu'on devroit l'être." 68 Avertissement de l'auteur: „l'honneur est dans l a république, quoique la v e r t u politique en soit le ressort; la v e r t u politique est dans la monarchie, quoique l'honneur en soit le ressort." (1/1, S. L V I I I . )

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Nun ist jeder Typus — als Abstraktion von der Wirklichkeit, die er ordnen w i l l — ideal und nicht real, so wie es ein gegebenes materielles Objekt ist 69 . Die Besonderheit des Montesquieuschen Idealtypus liegt darin, daß er versucht, die „Wahrheit" eines Systems i n den Extremen zu finden. Die „reale" — auch antike — Republik mag eine bunte Mischung der verschiedensten Verhaltensmuster aufgewiesen haben, ihr eigentliches Wesen versucht Montesquieu aber m i t dem Verhaltensmuster der politischen Tugend zu erfassen. Es gibt zu diesem Vorgehen eine Parallele i n der Physik. Die „ideale" Bewegung ist i m täglichen Leben nie zu beobachten, immer gibt es Widerstände, die sie behindern. Trotzdem formuliert die Wissenschaft Gesetze, die diese „ideale" Bewegung theoretisch erfassen sollen 70 . Idealtypen akzentuieren einen Gesichtspunkt, lassen dabei aber viele andere, i n der Realität zusammen vorkommende Gesichtspunkte außer acht 71 . Diese Methode erinnert stark an die Max Webers 72 , obwohl dieser i n seinem i n vielem an Montesquieu erinnernden Hauptwerk „ W i r t schaft und Gesellschaft" unseren Autor nur i n bezug auf den Gewaltenteilungsgedanken erwähnt 7 3 . Verständlich w i r d dies vielleicht, wenn man Webers Methodik vor allem i n der Auseinandersetzung m i t der wissenschaftstheoretischen Diskussion der Jahrhundertwende sieht 74 . Gemeinsam ist beiden Autoren auf alle Fälle der Versuch, Theorien auf sehr abstraktem Niveau zu konstruieren, wobei für die empirische Grundlage einerseits die Geschichte und andererseits die vergleichende Methode das Material liefert. Das Ziel beider Ansätze ist die Erkennt69 Stanislav L. Andreski: Ideal type. I n : Duncan Mitchell (ed.): A dictionary of sociology. London 1969, S. 94; ders.: Elements of comparative sociology. London 1964, S. 78: „ t a l k i n g about wet water." 70 Ibid. 71 Dies ist ζ. Β. k r i t i s i e r t worden anhand Montesquieus Begriff der Monarchie. Einerseits w i r d i h m vorgeworfen, seinem Typus der Monarchie n u r die französische Monarchie seiner Zeit zugrundezulegen, während auf der anderen Seite bemängelt w i r d , daß er die Generalstände nicht zum Wesen der Monarchie zähle. Vgl. zu dieser K r i t i k Voltaires: Ε. H. Price: Montesquieus historical conception of the fundamental law. I n : Romanic Review. X X X V I I I (1947), S. 234—242, 241 f.. I m Entwickeln des Typus sieht Etienne Géhin: Descartes et Montesquieu: de l'objectivité de la nature à l'idée de système politique: I n : Revue française de sociologie. X I V (1973), S. 164—179, 176 den entscheidenden Bruch m i t der Tradition: „Montesquieu préfigure la méthode structurale", die Systeme nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Unterschiede i n Beziehung setze. 72 Helmut Schoeck: Soziologie. Geschichte ihrer Probleme. Freiburg — M ü n chen 1952, S. 82; Stark, S. 69. 73 Max Weber: Wirtschaft u n d Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. 5. A u f l . Tübingen 1972, S. 166, 394, 634. 74 Don Martindale: Sociological theory and the ideal type. I n : L l e w e l l y n Gross (ed.): Symposium on sociological theory. Evanston 111. 1959, S. 65 f f.; Antoni , S. 233.

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nis quasi-naturwissenschaftlicher Gesetzlichkeiten i m menschlichen Zusammenleben, wobei der Idealtypus selber allerdings noch keine Theorie darstellt, sondern nur einen ersten Ausgangspunkt zu deren B i l dung. Die Typen leisten insoweit Pionierarbeit: Das unendliche empirische Material kann i m Hinblick auf sie geordnet und untersucht werden 75 . Der Idealtypus ist das Ergebnis eines sowohl synchronistischen als auch diachronistischen Denkens 76 — eines Denkens, das sowohl i n die geschichtliche Tiefe als auch i n die zeitgenössische — geographische und politische — Breite geht. Eine Vielzahl vergangener und lebender Gesellschaften dient dem Montesquieuschen Denken als Grundlage. Weshalb aber rückt nun, anders als i m politischen Denken der meisten seiner Vorgänger — und auch Nachfolger — diese Vielzahl der Formen menschlichen Zusammenlebens bei Montesquieu i n den Mittelpunkt des Denkens? Man könnte hier zwischen Ideal- und Realfaktoren unterscheiden 71. Erstere geben die Herkunft der von Montesquieu bearbeiteten Quellen an, letztere aber erklären die Tatsache des Interesses überhaupt an diesen Quellen, die — mehr oder weniger — schon ein- oder zweihundert Jahre vorher greifbar waren. Es ist schon ein Gemeinplatz, daß die Vielzahl der Reisebeschreibungen einer dieser Idealfaktoren ist 78 . Die vorliegenden Reisebeschreibungen, hier kann für Näheres nur auf die äußerst materialreiche Arbeit von Muriel Dodds verwiesen werden 79 , hat Montesquieu v o l l ausgeschöpft 80 . Dabei geht Montesquieu jedoch nicht unkritisch vor, er gewichtet die Quellen. Die Berichte von Personen, die länger i m Lande waren, ζ. B. von Missionaren, zieht er den eher subjektiv gefärbten Berichten von Händlern und Seefahrern vor 8 1 . Jedoch gibt es hier eine 75

Martindale, S. 58 f. Ausdrücke v o n Aron , S. 59. 77 Ich folge hier der Terminologie v o n Max Scheler: Probleme einer Soziologie des Wissens. I n : ders.: Die Wissensformen u n d die Gesellschaft. 2. A u f l . Bern — München 1960 (Gesammelte Werke. 8), S. 15—190, „Erst da, wo sich ,Ideen' irgendwelcher A r t m i t Interessen, Trieben, K o l l e k t i v t r i e b e n oder, w i e w i r letztere nennen, »Tendenzen4 vereinen, gewinnen sie indirekt Macht u n d Wirksamkeitsmöglichkeit." (S. 21.) 78 Z. B. Jonas I, S. 22 f. 79 Muriel Dodds: Les récits de voyages, sources de l'Esprit des lois de Montesquieu (Thèse Lettres) Paris 1929, vgl. insb. die Synopse zwischen dem Esprit u n d den mutmaßlichen Quellen auf S. 175—290; Françoise Weil: Le manuscrit des „Geographica" et „l'Esprit des lois". I n : Revue d'histoire littéraire de la France. 52 (1952), S. 451—461; David Young: Montesquieu's v i e w of despotism and his use of travel literature. I n : Review of politics. 40 (1978), S. 392—405, 403 ist i m Gegensatz zu Dodds der Auffassung, daß Montesquieu die L i t e r a t u r selektiv verwendet, u m Belegstücke für ein negatives B i l d des Orients zu erhalten. 80 Dodds, S. 168. 81 Ibid., S. 173. 76

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Ausnahme. China scheint, jedenfalls den Berichten der jesuitischen Missionare nach, nicht unter den Montesquieuschen Begriff der Despotie zu fallen, sondern ein „gouvernement admirable" zu besitzen 82 . Hier stützt sich Montesquieu nun ausdrücklich auf die Erfahrungen von Kaufleuten m i t den „brigandages des mandarins". Seine Typenlehre gerät anhand des Reichs der Mitte an einen entscheidenden Punkt. Sollte es einen Gesellschaftstyp geben, i n dem sich zu gleichen Teilen Furcht, Ehre und Tugend mischen? Montesquieu verneint dies, China ist für ihn eine Despotie wie Persien und die Türkei. Montesquieu schottet an dieser Stelle seine Typenlehre gegen eine widersprechende Realität ab 83 . Montesquieu verwendet vorzugsweise Berichte über den Orient: Persien, Türkei, Indien, Thailand, China und Japan sind bevorzugte Gebiete. Nur am Rande, und mehr der Kuriosität halber, streift er Äthiopien und Nordafrika, ebenfalls eher beiläufig befaßt er sich m i t Nord- und Südamerika. Anders als i n der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, i n dem „la douceur, la patience, l'humilité des Indiens" 8 4 dem europäischen, insbesondere spanischen, „fanatisme" entgegengesetzt wird, beschränkt Montesquieu sich auf die alte Welt, wohl ahnend, daß seine Typenlehre, t die — wenn sie auch den Orient m i t einbezieht — europäisch geprägt ist, nicht auf die Indianerreiche paßt 85 . Eine weitere Quelle sind Montesquieus eigene Eindrücke von seinen Reisen. 1728 bis 1731 besuchte er Österreich, Ungarn, Italien, Deutschland und England 86 . Weiter ist für Montesquieu die Kenntnis einer unendlichen Zahl von antiken und mittelalterlichen Schriftstellern wichtig: Philosophen, Geschichtsschreiber, Juristen, Theologen und Naturwissenschaftler werden von i h m ausgewertet, auch hier eine Erklärung für den vielzitier82

E d L V I I I , 21; 1/1, S. 168 ff. Dieses Chinabild k r i t i s i e r t Voltaire an Montesquieu, vgl. Sakmann, S. 381. 84 Jean-François Marmontel: Les incas, ou la destruction de l'empire du Pérou. Francfort — Leipsic 1777, S. X I I I . 85 Dodds , S. 114 ff. 86 Shackleton, S. 67 f f.; Peter Schunck : Die Reisen Montesquieus u n d der A u f b a u des Esprit des lois. I n : Germanisch-Romanische Monatsschrift. Ν. F. X V I I I ( X L I X ) (1968), S. 113—130, 129 betont, daß Montesquieu auf seinen Reisen — insbesondere i n Deutschland — die „Anerkennung des Bestehenden als ein Grundprinzip des Denkens, da sich h i n t e r dem Bestehenden sein ursprünglicher Geist erkennen läßt" erfahren habe; vgl. weiter Pierre Barrière: Montesquieu voyageur. I n : A C M , S. 61—67, der zwei Aspekte hervorhebt: Z u m einen sieht er unseren A u t o r als mondänen Reisenden, zum anderen als Weingärtner u n d Händler, der sich für seine Berufsgenossen i m Ausland interessiert; Anton Vantuch: Le voyage en Slovaque de Montesquieu et l'expérience hongroise dans L'Esprit des Lois. I n : Studia historica Slovaca. 1 (1963), S. 96—116; Micheline Fort Harris: Le séjour de Montesquieu en Italie (août 1728-juillet 1729). Chronologie et commentaires. I n : Studies on Voltaire. C X X V I I (1974), S. 65—197. 83

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ten Relativismus Montesquieus 87 . Eine weitere wichtige Quelle ist der zeitgenössische Journalismus 88 sowie die persönliche Information durch Gespräche m i t Fachleuten und Personen der Zeitgeschichte 89 . A l l e diese Quellen hätten jedoch schon den politischen Schriftstellern früherer Zeiten offengestanden. Woher nun das Interesse an diesen Quellen? Man pflegt dies m i t einem weiteren „Idealfaktor" zu begründen: Der baconianischen 90 beziehungsweise newtonianischen 91 Methode Montesquieus. Die Interpretation unseres Autors i n der Nachfolge der beiden Engländer hat die noch bis zur Jahrhundertwende herrschende A u f fassung von Montesquieu als Cartesianer abgelöst. Der letzte große Vertreter dieser These hat selbst die oben skizzierte Schwenkung m i t vollzogen 92 . Die genannten Namen stehen i n der Diskussion auf der einen Seite für empirisch begründete Induktion, auf der anderen für rationalistische Deduktion. Angesichts der Tragweite einer solchen Einordnung soll i n der vorliegenden Arbeit kurz versucht werden, auf die Quellen zurückzugehen und anhand der methodischen Äußerungen der drei Naturwissenschaftler die Berechtigung der oben genannten Klassifizierung zu überprüfen.

87 E i n Beleg für die Belesenheit Montesquieus ist der Katalog seiner B i b l i o thek: Louis Desgraves: Catalogue de la bibliothèque de Montesquieu. Genève — L i l l e 1954 (Société de publications romanes et françaises. X L I I I ) ; vgl. w e i ter: Françoise Weil: Les lectures de Montesquieu. I n : Revue d'histoire l i t t é raire de la France. 57 (1957), S. 494—514, insbes. die Listen auf S. 499—513; Artur Greive / Alexander v. Hase: Z u r B i b l i o t h e k Montesquieu's. I n : Romanische Forschungen. 82 (1970), S. 375—382. 88 Hinweis u. a. bei Joseph Dedieu: Montesquieu et la t r a d i t i o n politique anglaise en France. Les sources anglaises de l'Esprit des lois. Paris 1909 (Réimp. Genève 1971), S. 35—69. 89 Mailhol, S. 44 f.; so besuchte er auf seiner Italienreise den inzwischen i n Venedig lebenden berühmt-berüchtigten Finanzmann John L a w (S. 3). 90 Statt vieler: Stark, S. 8. 91 Statt vieler: Goyard-Fabre, S. 57 ff., die ausdrücklich den Gegensatz zu Francis Bacon betont, der doch noch sehr i n der Vergangenheit wurzele. 92 Gustave Lanson: L'influence de la philosophie cartésienne sur la l i t t é r a ture française. I n : Revue de métaphysique et de morale. 4 (1896), S. 517—550, 540: „ L a plus forte construction de doctrine q u i se soit fait dans la première moitié d u siècle appartient à la méthode de Descartes." schreibt er über den Esprit des lois; genau zwanzig Jahre später jedoch, i n seinem Aufsatz ders.: Le déterminisme historique et l'idéalisme social dans l'Esprit des lois. I n : Revue de métaphysique et de morale. 23 (1916), S. 177—202 schränkt er sich selber ein u n d meint, n u r der A u f b a u des Werkes sei cartesianisch, die Methode dagegen sei die v o n N e w t o n u n d Francis Bacon (S. 199 ff.). Richtig ist der Hinweis v o n Mailhol, S. 102, daß zum Zeitpunkt des ersten Aufsatzes die Notizbücher Montesquieus noch nicht beaknnt waren.

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C. Strukturen des Esprit des lois 3. Geistige Väter der Methode Montesquieus93

Heute weitgehend herrschend ist die Betonung des Einflusses Isaac Newtons allgemein auf die Aufklärung und speziell auf unseren Autor 9 4 . Es ist richtig, daß der Ruhm Newtons i m 18. Jahrhundert gar nicht überschätzt werden kann: „Nature and Nature's laws lay h i d i n night; God said, ,Let Newton be', and all was light." schreibt Alexander Pope 95 . Andererseits aber w i r d der Einfluß Newtons auf die Methodik unserer Autors m i t der induktiven Methode gleichgesetzt. Meines Erachtens ist m i t diesem Schlagwort keinesfalls der K e r n der Newtonschen Wende bezeichnet, es handelt sich vielmehr bei diesem Schlagwort von Montesquieu als „Newton der sozialen Welt" u m einen Gemeinplatz der Montesquieu-Literatur, der gedankenlos von Autor zu Autor weitergereicht wurde. Da die hier vertretene A u f fassung einer fast einhelligen Meinung i n der Literatur widerspricht, möchte ich sie m i t einem längeren Zitat belegen 96 . „As Mathematicians have two Methods of doing things w 0 1 they call Composition & Resolution & i n all difficulties have recourse to their method of resolution before they compound so i n explaining the Phaenomena of nature the like methods are to be used & he that expects success must resolve before he compounds. For the explications of the Phaenomena are Problems much harder then those i n Mathematicks. The method of Resolution consists i n t r y i n g experiments & considering all the Phaenomena of nature relating to the subject i n hand & drawing conclusions from them & examining the t r u t h of those conclusions by new experiments & new conclusions (if i t may be) from those experiments & so proceeding alternately from experiments to conclusions & from conclusions to experiments u n t i l i you come to the general properties of things, . . . Then assuming those properties as Principles of Philosophy you may by them explain the causes of such Phaenomena as follow from them: w 6 * 1 is the method of Composition. But if without deriving the 93

Vgl. allgemein zur Methode Montesquieus die A r b e i t v o n Mailhol. A l l g e m e i n betont das A n k n ü p f e n der Aufklärungsphilosophie an das „methodische Paradigma der Newtonschen Physik" Ernst Cassirer: Die P h i losophie der Aufklärung. Tübingen 1932, S. 14, wobei aber zu beachten ist, daß Cassirer Newtons Methode i n der T r a d i t i o n Galileis als ein „Ineinander der ,resolutives u n d der ,kompositiven' Methode" entwickelt (S. 12). 95 Z i t i e r t nach Edwin Arthur Burtt: The metaphysical foundations of modern physical science. London 1925, S. 18. 96 Daß die methodischen Ausführungen Newtons spärlich sind, darauf weist Burtt, S. 202 ff. hin. 94

I. Zeit und Raum properties of things from Phaenomena you feign Hypotheses & t h i n k by them to explain all nature you may make a plausible system of Philosophy for getting your self a name, but your system w i l l be little better than a Romance 97 ." I n diesen Bemerkungen kommt ein doppelter Charakter der Newtonschen Methode zum Ausdruck. Ausgangspunkt ist die Vielzahl der Erscheinungen, sie werden untersucht. Mittel hierfür sind das Experiment und die Beobachtung. Aus der Vielfalt dieser Beobachtungen werden dann am Ende eines langen Prozesses von Experimenten und daraus gezogenen Schlüssen Naturgesetze gebildet — Newton spricht hier m i t Vorliebe von Prinzipien 9 8 . Von diesen einmal gefundenen Prinzipien aber leitet Newton dann wieder selbständig neue Erklärungen anderer Erscheinungen ab. Diese Deduktion dient also nicht nur der Bestätigung des Gefundenen oder didaktischen Zwecken, sondern auch dazu, neue Erscheinungen vorauszusagen und zu entdecken. So schließt er ausdrücklich vom Gravitationsgesetz: „Some new motions w**1 Astronomers had not then observed but since appeare to be true, as that Saturn & Jupiter draw one another, that the variation of the Moon is bigger i n winter then i n summer . . . " . " Beide Methoden ergänzen sich also, wobei jedoch, dies muß festgestellt werden, die Betonung gegenüber der Tradition der scholastischen Gedankenexperimente auf der Induktion von Beobachtungen her ruht 1 0 0 . I n dem anfangs zitierten Text von Newton kommen aber noch zwei weitere Elemente seines Denkens zum Ausdruck. Zum einen die Betonung nicht so sehr der einfachen Beobachtung als vielmehr des Experimentes, zum anderen aber auch die Mathematik. Zu diesen beiden hat Montesquieu kaum Beziehungen. Zwar gibt es bei i h m Anklänge an mathematische Vorstellungen, wenn Montesquieu die Gerechtigkeit m i t den Radien eines Kreises vergleicht 101 . Seine berühmte Klimatheorie baut Montesquieu auf einem Experiment auf: Er untersucht die Veränderungen aufgrund von Wärmewirkung an einer Hammelzunge unter dem Mikroskop 1 0 2 . Jedoch handelt es sich hier nur u m Marginalien 97

Z i t i e r t nach einem Manuskript Newtons bei Henry Guerlac: Newton on method. I n : Dictionary of the history of ideas. 3, S. 385. 98 Auch Montesquieu verwendet gerne diesen Ausdruck, vgl. E d L préface; 1/1, S. L I X : „J'ai posé les principes . . 99 Guerlac, S. 386. 100 Auch Burtt , S. 209 betont, daß Newton zwei Stränge naturwissenschaftlichen Denkens verbinde. Die T r a d i t i o n eines Francis Bacon u n d eines Robert Boyle steht der eines Nicolaus Copernicus u n d René Descartes gegenüber, beide vereinen sich i n der Methode Isaac Newtons. 101 E d L I, 1; 1/1, S. 3. 102 E d L X I V , 2; 1/1, S. 307 f.

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i n seinem Werk, die wohl eher Ausdruck der Begeisterung seiner Zeit für einen „wissenschaftlichen" Stil sind, ohne daß der Inhalt des Werkes weiter durch diese naturwissenschaftlichen und mathematischen Überlegungen geprägt wäre. I m übrigen würde eine Übertragung der experimentellen Methode auf die Gesellschaftswissenschaft anders aussehen. Die Untersuchung der Hammelzunge ist sicher ein physiologisches Experiment, ein gesellschaftswissenschaftliches Experiment, das den Ruf unseres Autors als eines „Newtons der sozialen Welt" begründen könnte, ist es nicht. Die Übertragung der „Frage an die Natur" auf den gesellschaftlichen Bereich sieht anders aus. Beispiele hierfür wären die Maßnahmen Anne-Robert-Jacques Turgots, m i t denen er die physiokratischen Theorien über den Getreidepreis i n der Realität erprobte und scheiterte. Ebenfalls als gesellschaftswissenschaftliches Experiment wären die Versuche Robert Owens i n „New Lanark" und später i n „New Harmony" zu bezeichnen sowie die sonstigen Versuche m i t Produktions- und Konsumtionsgenossenschaften i m 19. und 20. Jahrhundert. Aber auch bezüglich der Quantifizierung und Mathematisierung, die Newton betrieb 1 0 3 , t r i t t Montesquieu nicht i n die Fußstapfen des großen Engländers. Obwohl schon zu seiner Zeit erste Ansätze zu einer Statistik i n unserem heutigen Sinne bestanden, versucht Montesquieu, insbesondere i n seiner langen Darstellung bevölkerungswissenschaftlicher Fragen 104 , nicht, quantitative Methoden nutzbar zu machen 105 . Bezüglich dieser beiden für Newton wesentlichen Punkte sind i m Esprit des lois also keine Übereinstimmungen festzustellen. Die resolutiv-kompositive Methode, mit der Betonung der Induktion, ist bei Montesquieu sicher vorhanden. I h n deshalb aber i n die Nachfolge Newtons zu stellen, leuchtet nicht ein. M i t der gleichen Berechtigung wäre hier an Galilei als Vorbild zu denken, zumal dieser besonders „the method of final demonstration and presentation" 106 pflegt, die ein 103 H i e r i n liegt der eigentlich entscheidende Fortschritt Newtons gegenübei seinen naturwissenschaftlichen Vorgängern, insbesondere gegenüber Francis Bacon: RJHooykaas: Religion and the rise of modern science. Edinburgh — London 1972, S. 49; Thomas S. Kuhn: Mathematische versus experimentelle T r a d i t i o n i n der E n t w i c k l u n g der physikalischen Wissenschaften. I n : ders.: Die Entstehung des Neuen. Studien zur S t r u k t u r der Wissenschaftsgeschichte. F r a n k f u r t a. M. 1977, S. 84 ff., 102 stellt zum erstenmal i n den Newtonschen „Opticks" eine Verbindung v o n Mathematik u n d experimenteller Wissenschaft fest, die „nicht-Baconische Verwendimg Baconischer Experimente". 104 Siehe unten C I 7. 105 Vielleicht w i r k t hier bei Montesquieu die cartesianische Vorstellung v o n der Mathematik als K ö n i g i n der Wissenschaften, die aber v o n der Physik getrennt bleibt, nach. 106 Guerlac, S. 383; auf Galilei verweist auch Stàrobinski, S. 82.

I. Zeit und Raum wichtiges Kennzeichen auch des Esprit des lois ist. Naheliegend wäre auch eine Verbindung zu den Logikern von Port-Royal, Arnauld und Nicole 107 , die das didaktische Moment der Komposition betonen. Andererseits w i r d i n der neueren Literatur auch die empirische Tradition des Mittelalters wieder mehr betont 1 0 8 , insoweit w i r d ein Anknüpfen Montesquieus an die moderne Naturwissenschaft unter diesem Gesichtspunkt ebenfalls problematisch. Nun wäre gegen den Vergleich mit Newton, so weit hergeholt er auch sein mag, nichts einzuwenden, wenn sich nicht sogleich mit der Nennung dieses Namens und dieser Methode Schlußfolgerungen wieder über den Inhalt des Montesquieuschen Werkes ergäben. „Mechanistisch" ist das Stichwort, das dann häufig zur Kennzeichnung des Esprit des lois verwendet wird. Hieraus ergibt sich eine Grundhaltung, die der wahren Tragweite des Werkes nicht gerecht zu werden vermag 109 . Insoweit wäre es einer vorurteilsfreien Interpretation des Autors von La Brède zuträglich, auf die Formel des Newtonianismus Montesquieus zu verzichten. Treffender ist sicher die Feststellung, daß die Arbeitsweise Montesquieus i m großen und ganzen heutigen wissenschaftlichen Standards entspricht, ohne sie aber an bestimmten Vorbildern festmachen zu wollen. Bestimmt ist i m 18. Jahrhundert eine Begeisterung für Newton und das naturwissenschaftliche Denken festzustellen, ohne daß jedoch mehr als erste Anfangsgründe wissenschaftlicher Naturforschung i n das Bewußtsein einer weiteren Öffentlichkeit getreten wären — gerade die Mathematik ist auch für Montesquieus naturwissenschaftliche Jugendschriften eine nur schwer übersteigbare Grenze gewesen. Das, was man den „naturwissenschaftlichen Geist" seiner Zeit nennen könnte, beruht auf mehreren Grundlagen: Zum einen das Vertrauen auf die Möglichkeiten der Wissenschaft und Technik, wie es schon bei Francis Bacon zum Ausdruck kommt: Kunst und Natur werden eins, auch die Natur ist vom Menschen beherrschbar 110 . Zum anderen aber auf gewissen ersten Sätzen, wie Newton sie i n seinen „Regeln zur Erforschung der Natur" 1 1 1 formuliert: So zum Beispiel die Überzeugung von 107

La logique ou l'art de penser. 1662. Kuhn , S. 92 m. w. Nachw. 109 Statt vieler, insbesondere deutscher Autoren: Wilhelm Dilthey: Das achtzehnte Jahrhundert u n d die geschichtliche Welt. I n : ders.: Gesammelte Schriften. I I I : Studien zur Geschichte des deutschen Geistes. Leipzig — Berl i n 1927, S. 233. 110 R. Hooykaas: Das Verhältnis v o n Physik u n d Mechanik i n historischer Hinsicht. Wiesbaden 1963, S. 16 ff. 111 Isaac Newton: Mathematische Prinzipien der Naturlehre (Ed. J. Ph. W o l fers). Darmstadt 1963, 380 f. 108

5 Clostermeyer

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der Einfachheit der Natur 1 1 2 , der Grundsatz von der Gleichartigkeit der Ursachen bei gleichartigen Wirkungen, der Satz, daß die Eigenschaften von Körpern, die man i n Versuchen bestätigt bekommt, für alle Körper gelten: Von der Schwerkraft, die auf irdische Körper w i r k t , kann man auf dieselbe Erscheinung i m Verhältnis zwischen Erde und Mond schließen. A l l e diese Sätze ließen sich ohne weiteres auch auf andere Bereiche übertragen. Sie waren einleuchtend, bedurften keiner weiteren theoretischen Kenntnisse und begannen die unüberschaubare Vielfalt des menschlichen Lebens zu ordnen. Diese erste Ordnung ist auch eines der großen Anliegen von Francis Bacon. I n der Auseinandersetzung m i t der Büchergelehrsamkeit der Scholastik und den magischen Vorstellungen der Renaissance bekämpft er Vorurteile und betont daher als wichtigsten Grundsatz jeglicher wissenschaftlichen Arbeit das Ausgehen von der Realität und die Induktion: „Quamvis igitur relinquamus syllogismo, et huiusmodi demonstrationibus famosis ac jactatis, jurisdictionem i n artes populäres et opinabiles (nil enim i n hac parte movemus) tarnen ad naturam rerum, inductione par omnia, et tarn ad minores propositiones, quam ad majores utimur 1 1 3 ." Bei dieser Sammlung der Fakten, die er ordnet und klassifiziert, bleibt er jedoch stehen: „The chief limitations of the Baconian method derive no doubt from the fact that Bacon had a very meager awareness of the function of hypotheses, abstractions, and mathematics i n scientific research 114 ." Die Baconsche Methode führt daher eher zu den Fortschritten von Anatomie, Botanik, Zoologie und Mineralogie, wo die Überzeugung, daß die Natur geordnet und klassifiziert werden kann, Früchte trug. Ebenso ist der Einfluß Bacons auf die systematische Arbeit der Encyclopädie und deren positive Einschätzung der Technik unverkennbar 1 1 5 . Darüber hinaus w i r d aber auch grundsätzlich der Gedanke der Praxisbezogenheit von Wissenschaft — „scientia est potentia" — wich112 Z u r überragenden Bedeutung dieses Konzeptes i m 18. Jahrhundert: Raymond D. Havens : Simplicity, a changing concept. I n : Journal of the history of ideas. X I V (1953), S. 3—32. 113 The works of Francis Bacon, Baron of Verulam, Viscount St. Alban, and L o r d H i g h Chancellor of England. I I I . London 1753, S. 6; die zitierte Stelle stammt aus der distributio operis der „Instauratio magna". 114 Paolo Rossi: Baconianism. I n : Dictionary of the history of ideas. I., S. 176. 115 Ibid., S. 177.

I. Zeit und Raum tig. Der Mensch versucht sich die Natur — sowohl Umwelt als auch Gesellschaft — Untertan zu machen 116 . Zwar zieht Montesquieu ebenfalls eine Vielzahl von Fakten heran, zwar möchte auch Montesquieu Vorurteile beseitigen, hier jedoch von einer Baconschen Methode sprechen zu wollen, erscheint m i r nur i n einem sehr weiten Sinne möglich. Montesquieu ist i m Gegenteil gerade ein Autor, der gerne von einer sehr schmalen empirischen Basis weitgehende Generalisierungen macht, er ist i n dieser Beziehung das Gegenteil des detailbesessenen Großkanzlers von England, bei dem i m übrigen noch eine Vielzahl von kruden Vorstellungen zu finden ist. I n vielen Dingen ist Bacon eben noch ein Mann der Renaissancegelehrsamkeit, dessen Werke sich dem heutigen Leser, allein vom Umfang, nur schwer erschließen. I m Gegensatz dazu handelt es sich beim Esprit des lois u m ein „modernes" Werk, das für ein breites Publikum geschrieben wurde und auch noch heute ohne Probleme lesbar ist. Die Auffassung, die Montesquieu i n der spezifisch französischen Tradition des Cartesianismus sehen w i l l , hat heute nur noch wenige Anhänger, die allerhöchstens denselben metaphysischen Hintergrund 1 1 7 oder eine Verbindung i m Rahmen eines sich entwickelnden bürgerlichen Bewußtseins 118 annehmen. Der Name Rene Descartes' steht hier für die Methode logischer Deduktion und das Verlassen eher auf den eigenen Verstand als auf sinnliche Wahrnehmung. Diese Schlagworte haben sicherlich ihre Berechtigung, ob sie jedoch so unbedingt gelten, möchte ich bezweifeln. Ausgehend von dem berühmten „ie pense, donc ie suis" 119 bemerkt Descartes, daß er diese Wahrheit dadurch erkannt habe, daß er „très clairement" 1 2 0 gesehen habe, daß man, u m zu denken, sein müsse. Daraus zieht er die allgemeine Regel „que les choses que nous concevons fort clairement & fort distinctement sont toutes vrayes" 1 2 1 . Descartes scheint sich hier rein i n der Sphäre des Verstandes zu bewegen, sinnliche Erfahrungen spielen anscheinend keine Rolle. I m Gegenteil, i n dem berühmten Beispiel von dem Wachsklumpen zeigt er, wie dieser 116 Hans Girsberger: Der utopische Sozialismus des 18. Jahrhunderts i n Frankreich. 2. Aufl. Wiesbaden 1973, S. 25 betont diese Seite des Baconschen Denkens, diese werde f ü r die Z u k u n f t wichtig. 117 Charles-Jacques Beyer: Montesquieu et l'esprit cartésien. I n : A C M , S. 159—173, 169. 118 Géhin, S. 178. 119 René Descartes: Discours de la méthode. I n : Oeuvres (ed. Charles A d a m / Paul Tannery) V I . Paris 1902, S. 32. 120 Ibid., S. 33. 121 Ibid.

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Klumpen je nach Erwärmung einen völlig anderen sinnlichen Eindruck macht. Trotzdem aber wissen wir, und dies durch die Vernunft, daß es sich immer u m dasselbe Wachs handelt 1 2 2 . Wenn Descartes dann seine Methode näher darstellt, führt er aus, daß bei der Untersuchung der Welt von „Principes, ou Premières Causes" ausgegangen sei, wobei er diese aus uns angeborenen Wahrheiten bezogen habe, als deren Ursache er nur Gott annehmen könne. Aus diesen ersten Ursachen habe er dann weitere deduziert: „de Cieux, des Astres, une Terre, & mesme, sur la terre, de l'Eau, de l ' A i r , du Feu, des M i n é r a u x . . ." 1 2 3 . Hier scheint sich also Descartes ganz auf die i h m als Methode nachgesagte Deduktion zu beschränken. Dann aber kommt die Wende: Die unendliche Mannigfaltigkeit der Dinge läßt sich kaum aus diesen Prinzipien weiter erklären, er kehrt seine Methode daher um. Nun steigt er von den Wirkungen zu den Ursachen auf, indem er sich „de plusieures expériences particulières" bedient 124 . I m Bereich der allerabstraktesten Denkkategorien deduziert also Descartes, geht es jedoch u m die eigentliche Untersuchung der Erscheinungen dieser Welt, bedient er sich der Induktion von Erfahrungen 125 . Ausdrücklich bemerkt er, daß je weiter man i n seinen Kenntnissen komme, desto mehr die Erfahrung an Bedeutung gewinne. Statt einer spekulativen Philosophie w i l l Descartes eine praktische, die uns zu „maistres & possesseurs de la Nature" mache 126 — ein ganz Baconscher Gedanke! I n seiner wissenschaftlichen Lebensbeschreibung, die einen Teil des Discours ausmacht, betont Descartes die Bedeutung, die die praktische Erfahrung für i h n gehabt habe. Die Schulphilosophie sei i h m zu unsicher geworden und so beschloß er „de ne chercher plus d'autre, que celle qui se pourroit trouver en moymesme, ou bien dans le grand livre du monde . . ." 1 2 7 . Die erste Seite der cartesianischen Wissenschaft, die auf der Vernunft des einzelnen aufbaut, ist i n der Folgezeit einseitig betont worden. Die andere Seite Descartes', das Lesen i m „Buch der Welt", geriet darüber fast i n Vergessenheit 128 . Weiter berichtet Descartes, daß er auf Reisen ging und zu dem Schluß kam, daß i n 122 René Descartes: Meditationes de p r i m a philosophia. I n : Oeuvres (ed. Charles A d a m / Paul Tannery) V I I . Paris 1904, S. 30 f. 123 Discours, S. 64. 124 Ibid. 125 Darauf weisen sowohl Kuno Fischer als auch Hermann Glockner i n der deutschen Ausgabe René Descartes: A b h a n d l u n g über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs u n d der wissenschaftlichen Wahrheitsforschung. Stuttgart 1977, S. 76 hin. 126 Discours, S. 63. 127 Ibid., S. 9. 128 Eine Ausnahme macht hier Maxime Leroy: Descartes social. Paris 1931, der zeigen w i l l , daß „Descartes a été u n philosophe concret, u n visuel, u n manuel . . ( S . X X X I X ) .

I. Zeit und Raum den praktischen Überlegungen, die ein jeder i n seinen eigenen Angelegenheiten anstellt und deren Richtigkeit sich gleich anhand der Folgen zeigt, mehr Wahrheit liege, als i n denen, „que fait un homme de lettres dans son cabinet" 1 2 9 . Daneben sieht er aber auch die Vorteile eines wissenschaftlichen Studiums der Geschichte: „car c'est quasi le mesme de converser avec ceux des autres siecles, que de voyager" 1 3 0 . So gelangt er zur Erkenntnis eines Relativismus: Er bemerkt, „que tous ceux qui ont des sentimene fort contraires aux nostres, ne sont pas, pour cela, barbares ny sauvages, mais que plusieurs usent, autant ou plus que nous, de raison" 131 . Innerhalb dieser verwirrenden Vielfalt von Ansichten und Sitten sucht Descartes nun nach der Wahrheit. Hier gibt er sich vier Regeln, anhand deren er alles prüfen w i l l . A n dieser Stelle hat wieder die Deduktion von den einfachsten Grundlagen ihren Platz, die Zerkleinerung der Probleme i n ihre Teile, das klare und deutliche Erkennen. Zu betonen bleibt aber, daß dieses Vorgehen ausdrücklich auf einer breiten empirischen Basis aufbaut — Induktion und Deduktion ergänzen sich. Es sollte gezeigt werden, daß die simple Gegenüberstellung von Baconianisch-Newtonianischer Induktion und Cartesianischer Deduktion so eindeutig nicht zu machen ist. A l l e drei Autoren verwenden beide Methoden, wenn auch, das soll zugestanden werden, mit unterschiedlicher Gewichtung. Inwieweit englisches und französisches Denken ineinander übergehen, zeigt ein Blick auf den Okkasionalisten Nicole Malebranche 132. Dieser geht nicht mehr wie noch Descartes von einer grundsätzlichen Trennung von res extensa und res cogitans aus. Er anerkennt die Wirkungen von Nahrung, Getränken, Blutzirkulation und der umgebenden Luft auf das Denken der Menschen und gibt so das Vorbild ab für die „historisch-psychologische Methode Montesquieus" 133 . Der Unterschied zum Denken Montesquieus liegt aber darin, 125

Discours, S. 10. Ibid., S. 6. 131 Ibid., S. 16. 132 1638—1715; Malebranche w a r Oratorianer, i n einem i h r e r Kollegs, i n J u i l l y , wurde Montesquieu erzogen, vgl. Shackleton, S. 8. Insoweit ist durchaus ein Einfluß der Denkungsweise dieses Ordens, der v o m Gönner Descartes, dem K a r d i n a l Bérulle gegründet wurde, anzunehmen. Mason, S. 138 weist insbesondere auf die „Entretiens sur les sciences" (1684) des Père B. Lamy hin. Montesquieu besaß i n seiner Bibliothek eine Reihe v o n Werken aus dem Nachlaß Malebranches, vgl. Desgraves, S. X V , ebenso besaß er die großen Werke Malebranches, ibid., No 1495 f. 133 E. Buss: Montesquieu u n d Cartesius. E i n Beitrag zur Geschichte der französischen Aufklärungsphilosophie. I n : Philosophische Monatshefte (hrsg. 130

C. Strukture

des Esprit des lois

daß M a l e b r a n c h e diese ä u ß e r e n E i n f l ü s s e als I r r t u m ansieht u n d sie d u r c h e i n e n „ e s p r i t p u r " , dessen H e r r s c h a f t z u e r s t r e b e n sei, a u f h e b e n lassen w i l l . D i e A u f f a s s u n g e n M a l e b r a n c h e s n ä h e r n sich, s o w e i t m a n n u r ihre „materialistische"

Seite b e t r a c h t e t , d e n e n des Sensualismus

J o h n Lockes. A u s a l l e d e m ist z u e r k e n n e n , daß eine s t r i k t e T r e n n u n g zwischen rationalistisch-deduktivem D e n k e n auf der einen u n d empiristischi n d u k t i v e m D e n k e n a u f d e r a n d e r e n Seite n i c h t m ö g l i c h ist. Ebenso falsch w ä r e eine T r e n n u n g zwischen d e r Naturrechtsschule, als V e r t r e t e r i n der e r s t e n D e n k r i c h t u n g , u n d M o n t e s q u i e u als A n h ä n g e r d e r zweiten134. N a c h m e i n e r A u f f a s s u n g k a n n m i t d e r gleichen B e r e c h t i g u n g , m i t d e r M o n t e s q u i e u i m R a h m e n des N e w t o n s c h e n W e l t b i l d e s i n t e r p r e t i e r t w e r d e n k a n n , auch v o n e i n e m C a r t e s i a n i s m u s unseres A u t o r s gesprochen w e r d e n . N a c h d e m — w i e oben d a r g e s t e l l t — d e r U n t e r s c h i e d z w i schen b e i d e n M e t h o d e n n u r eine F r a g e d e r B e t o n u n g zwischen E r f a h r u n g u n d V e r n u n f t ist, s o l l d e r B e g r i f f des C a r t e s i a n i s m u s i n d e m S i n n v e r w e n d e t w e r d e n , d e n er i m 18. J a h r h u n d e r t g e f u n d e n h a t 1 3 5 . H i e r v o n J. Bergmann) I V (1869/70), S. 1—38, 29. Buss sieht Montesquieu i m Lichte des Einflusses Descartes', der über Malebranche w i r k s a m geworden sei. A u f den Einfluß Malebranches verweist auch, ohne die ausgezeichnete A r b e i t v o n Buss zu kennen, Charles-Jacques Beyer: Montesquieu et la philosophie de l'ordre. I n : Studies on Voltaire. L X X X V I I (1972) — gleichzeitig: Transactions of the t h i r d international congress on the enlightenment. I. S. 145—166; ebenso betont diesen Einfluß HöZZ, S. 18 ff. 134 So aber Althusser , S. 15. Dieser läßt die Naturrechtler auf den Spuren Descartes' nach der Essenz des Gesellschaftlichen suchen, während er bei Montesquieu das V o r b i l d der Newtonschen Physik als „modèle épistémologique" (S. 24) anerkennt, wobei er aber betont, daß dies nicht der wesentliche Unterschied sei. Dieser liege vielmehr i n dem polemischen u n d zugleich idealistischen Ansatz (S. 25—27). Diese Theorie vermag nicht zu überzeugen: Die vorwiegend protestantischangelsächsische Naturrechtsschule als Ausdruck cartesianischen, die Theorien Montesquieus als Ergebnis angelsächisch-naturwissenschaftlichen Denkens zu sehen, scheint doch ein wenig verquer. Hierzu soll n u r auf das über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen des modernen Naturrechts Gesagte verwiesen werden. Gerade das Naturrechtsdenken hängt auf das engste m i t der Entstehung der modernen Naturwissenschaft zusammen, wobei i h r jedoch der oben skizzierte logische Fehler des Sprungs v o n der Seinssphäre zur Sollenssphäre unterläuft. Hier wäre noch darauf hinzuweisen, daß der V e r tragsrechtler Hobbes i m m e r h i n den Vorzug hatte, m i t einem der Protagonisten modernen naturwissenschaftlichen Denkens, nämlich Francis Bacon, befreundet gewesen zu sein, vgl. Burtt y 118. Der Unterschied zwischen M o n tesquieu u n d dieser Schule liegt auf einer anderen Ebene, dazu mehr weiter unten. 135 Dieses — u n d die folgenden Jahrhunderte — ist m i t u n t e r sehr eigenw i l l i g m i t diesem A u t o r umgegangen u n d hat k a u m Descartes' B i t t e beherzigt: „ie suis bien ayse de prier icy nos neveux, de ne croire iamais que les choses qu'on leur dira vienent de moy, lorsque ie ne les auray point moy mesme divulguées." (Discours, S. 69 f.)

I. Zeit u n d Raum

1

w i r d d e r C a r t e s i a n i s m u s z u r M e t h o d e des Z w e i f e l s 1 3 6 u n d des k l a r e n u n d d e u t l i c h e n E r k e n n e n s als W a f f e gegen V o r u r t e i l e 1 3 7 . Des w e i t e r e n h a t d e r C a r t e s i a n i s m u s b e i e i n e m großen T e i l d e r klassischen f r a n z ö sischen L i t e r a t u r D a r s t e l l u n g u n d S t i l geprägt. I n s o w e i t k a n n sicher ebenfalls v o n e i n e m C a r t e s i a n i s m u s M o n t e s q u i e u s gesprochen w e r d e n 1 3 8 . So schreibt er z u B e g i n n seiner D a r s t e l l u n g d e r verschiedenen Gesellschaftstypen, daß er v o n d e r „ i d é e q u ' e n o n t les h o m m e s les m o i n s instruits"

ausgehe u n d

fährt

dann

fort:

„Je

suppose

trois

défini-

t i o n s . . . 1 3 9 . " E b e n f a l l s d e m Zeitgeschmack e n t s p r i c h t eine m e c h a n i s t i sche M e t a p h o r i k 1 4 0 . A n d e r e r s e i t s geht M o n t e s q u i e u , ebenfalls n i c h t i m Gegensatz z u Descartes, aber h i e r i n v i e l l e i c h t d e n E n g l ä n d e r n n ä h e r , v o n e i n e r V i e l z a h l v o n E r s c h e i n u n g e n aus 1 4 1 . H i n t e r diesen h o f f t

er

G e s e t z m ä ß i g k e i t e n z u entdecken. I m V o r w o r t des E s p r i t des lois schreibt er v o n „ c e t t e i n f i n i e d i v e r s i t é des l o i x & de m œ u r s "

die er

unter-

suchen w o l l e u n d die sich i h m i m m e r w i e d e r entzogen habe. T a u s e n d M a l e h a b e er seine A u f z e i c h n u n g e n schon d e m W i n d e ü b e r a n t w o r t e t , w e i l er k e i n e O r d n u n g i n d e r V i e l z a h l d e r E r s c h e i n u n g e n

gefunden

habe. D a n n aber h a b e er die P r i n z i p i e n e n t d e c k t , die O r d n u n g i n diese 136 Diese Methode des Zweifeins stellt Richard H. Popkin: The history of scepticism f r o m Erasmus to Descartes. Assen 1960, S. 179 als den entscheidenden Zug cartesianischen Denkens dar, das letztendes die Zweifel M o n taignes u n d Charrons systematisiere. 137 Georg Klaus / Manfred Buhn Philosophisches Wörterbuch. 1. 8. Aufl. B e r l i n 1972, S. 209; diesen französischen „cartesianischen Geist" stellt auch Hugo Friedrich: Descartes u n d der französische Geist. Leipzig 1937, S. 34 als die weitreichendste W i r k u n g Descartes' fest, wobei Ideologie u n d W i r k l i c h keit zusammenwirkten u n d einen „Descartes-Mythos" (S. 63) gebildet hätten; i n dieselbe Richtung geht die Auffassung v o m Cartesianismus als „vision du monde" des französischen Bürgertums des 17. Jahrhunderts bei Géhin, S. 165 f. u n d Franz Borkenau: Der Ubergang v o m feudalen zum bürgerlichen Weltbild. Paris 1934 (Nachdruck Darmstadt 1971), S. 347 ff., der i m cartesianischen Denken die Prinzipien der Manufakturwirtschaft entdecken w i l l . K r i t i k hieran bei Henryk Grossmann: Die gesellschaftlichen Grundlagen der mechanischen Philosophie u n d die Manufaktur. I n : Zeitschrift für Sozialforschung. I V (1935), S. 161—231. 138

Lanson: Influence, S. 540 ff.; ders.: Déterminisme, S. 177. E d L I I , 1; 1/1, S. 10. 140 Maria Ruchti: Raum u n d Bewegung i m „Esprit des Lois". Versuch einer Deutung des Stils v o n Montesquieu (Diss. phil. Basel) A f f o l t e r n 1945, S. 70; Milhaud, S. 41 betont, daß Montesquieu den Wissenschaftler „spiele"; ebenso: Creyx: Biologie et médicine dans l'oeuvre de Montesquieu. I n : Deuxième centenaire, S. 79—125, 123 u n d J. Jaffray: La carrière scientifique de Montesquieu. I n : L a nature. 56 (1928), S. 465—467. 141 Diese Verbindung zweier, w i e w i r gesehen haben n u r i n der Akzentsetzung verschiedenen Denktraditionen, betont Emile Callot: L a philosophie de la vie au X V I I I e ciècle. Paris 1965, S. 70—78; ebenso: Elie Carcassonne : La Chine dans „L'Esprit des Lois". Revue d'histoire littéraire de la France. 31 (1924), S. 193—205, 205: „ce géomètre s'intéresse aux faits"; Dedieu: M o n tesquieu, S. 90 f. 139

C. Strukture des Esprit des lois bunte Vielfalt gebracht hätten 1 4 2 . Montesquieu ging, und das belegen insbesondere seine Notizbücher, von einer Menge von Einzelbeobachtungen aus, hinter denen er dann die Regelmäßigkeiten entdeckte. Diese stellen sich für Montesquieu i n den oben schon dargestellten Idealtypen dar. So wie der Physiker hinter der Bewegung eines realen Wagens die Gesetze der Bewegung sieht, so erkennt Montesquieu hinter der Vielzahl realer Staaten die drei großen Typen von Republik, Monarchie und Despotie mit den ihnen innewohnenden Bewegungskräften, den principes 143 . Montesquieu verändert den Bezugsrahmen hier zweifach. Zum einen stellt er seine Theorie auf eine wesentlich breitere Basis als der größte Teil der herkömmlichen politischen Theorie. Geht diese von einer, so oder so zu interpretierenden, ungeschichtlichen Menschennatur aus, so bringt Montesquieu die ganze Vielfalt des tatsächlichen politischen und gesellschaftlichen Lebens ins Spiel. Die Ergebnisse seiner Untersuchungen sind jedoch, ebenfalls anders als i m Falle der Naturrechtslehren, nicht allgemein anwendbar. War für diese Lehien, jedenfalls dem Grundsatz nach, Bezugsobjekt die gesamte Menschheit, so gelten die Aussagen Montesquieus nur für jeweils einen bestimmten Typus, unter Umständen auch nur für eine Nation dieses Typus. Diese doppelte Veränderung des Blickwinkels, der zugleich weiter als auch enger ist als i m herkömmlichen Staatsdenken, kann nach dem oben skizzierten nicht mit dem „Idealfaktor" des Newtonianismus erklärt werden. Auch der Gedanke einer „wissenschaftlichen Re\^olution" scheint m i r den Kern des Problems nicht zu treffen: Hier werden die Eigengesetzlichkeiten der Wissenschaft zu sehr betont. Sicher spielt die neue sensualistische Erkenntnistheorie eine wichtige Rolle i n der Neuorientierung der Wissenschaft Anfang des 18. Jahrhunderts. Der Mensch erschien für diese Theorie nicht mehr, wie noch für die ältere Vertragslehre, als für alle Zeiten gleich; die Umwelt wurde als prägend erkannt. Demgegenüber mußten die Theorien des Naturrechts blaß und inhaltsarm erscheinen, i n vielen Fällen vollzogen sie nurmehr positive Zustände als vernunftsrechtlich nötig nach. Insoweit ist sicher wissenschaftsgeschichtlich eine Erschöpfung dieser Theorie anzunehmen 1 4 4 . 142

E d L préface; 1/1, S. L I X — L X I I . Falsch ist die Auffassung v o n Keller: Montesquieu, S. 53 f., der der Auffassung ist, hierbei handele es sich u m Hypothesen. Der Montesquieusche Sprachgebrauch deckt sich hier m i t dem Newtonschen. Prinzipien sind gerade das Gegenteil v o n Hypothesen, w o m i t von Newton die weltfernen Theorien der Scholastik gemeint sind. 143 E d L I I I , 1; 1/1, S. 25: das Prinzip „fait agir". 144 Z u m Gedanken der wissenschaftlichen Revolution vgl. Thomas S. Kuhn: Die S t r u k t u r wissenschaftlicher Revolutionen. F r a n k f u r t a. M. 1973, S. 100 ff.

I. Zeit u n d Raum

Bedeutung erlangte diese Erschöpfung jedoch erst aufgrund von p o l i t i s c h e n Ursachen, diese m a c h t e n l e t z t e n d l i c h die N e u o r i e n t i e r u n g d e r p o l i t i s c h e n Wissenschaft e r f o r d e r l i c h 1 4 5 . W i c h t i g erscheint m i r h i e r , daß d i e a l t e n T h e o r i e n i h r e S c h u l d i g k e i t g e t a n h a t t e n . D i e S o u v e r ä n i t ä t des Staates w a r l e g i t i m i e r t u n d n i c h t m e h r v o n ständischen U m t r i e b e n b e d r o h t , auf d e r a n d e r e n Seite w a r die Sphäre des B ü r g e r s , insbesondere b e z ü g l i c h a u f F r a g e n der R e l i g i o n , aber auch des E i g e n t u m s , j e d e n f a l l s i m G r u n d s a t z gesichert 1 4 6 . A u f d e r a n d e r e n Seite t r a t e n n u n P r o b l e m e auf, die m i t d e m h e r k ö m m l i c h e n I n s t r u m e n t a r i u m des V e r n u n f t r e c h t s k a u m z u lösen w a r e n . W i r t s c h a f t l i c h e K r i s e n p r ä gen das E n d e des Siècle L o u i s X I V . Endlose K r i e g e , Seuchen u n d Hungersnöte hatten zu einer allgemeinen Verelendung geführt. Die jetzt a k t u e l l e n ökonomischen Fragen w a r e n nicht m e h r durch einen e i g e n t u m s s i c h e r n d e n Gesellschaftsvertrag l ö s b a r 1 4 7 . Es ist die a u f d e n e r s t e n B l i c k sehr e i n l e u c h t e n d e These v o n M e l v i n R i c h t e r , daß die „ c o m p a r a t i v e p e r s p e c t i v e " d u r c h K r i s e n s i t u a t i o n e n b e d i n g t sei 1 4 8 . E r z i e h t h i e r eine L i n i e v o n J e a n B o d i n 1 4 9 ü b e r M o n t e s q u i e u u n d A l e x i s de T o c q u e v i l l e 1 5 0 h i n z u M a x W e b e r . E r s t e l l t d a b e i 145

Das sieht Althusser, S. 25 richtig. Z u diesem Grundsatz gibt es selbstverständlich eine ganze Reihe v o n Ausnahmen. So ist für Frankreich insbesondere die Rücknahme des Edikts von Nantes zu erwähnen, sowie das Problem der Bulle Unigenitus. Daß die W i r k l i c h k e i t unter Umständen nicht ganz so spannungsreich war, mag das Beispiel Montesquieus selbst belegen. V o l l k o m m e n unangefochten heiratete er kirchlich eine Hugenottin, vgl. Shackleton, S. 14. 147 John Locke: T w o treatises of government. A critical edition w i t h an introduction and apparatus criticus by Peter Laslett. 2nd ed. Cambridge 1970, § 94, S. 347: „government has no other end but the preservation of Property"; ebenso § 124, S. 368 f. 148 Melvin Richter: Comparative political analysis i n Montesquieu and Tocqueville. I n : Comparative politics. I (1968/69), S. 129—160. 149 A u f zahlreiche Parallelen, insbesondere auch unter dem Gesichtspunkt der Persönlichkeit verweist Etienne-Maurice Fournol: Bodin prédécesseur de Montesquieu. Etude sur quelques théories politiques de la „République" et de „L'Esprit des Lois". Paris 1896 (Réimp. Genève 1970), S. 146—150. Bezüglich der politischen Ideen stellt er aber doch erhebliche Unterschiede fest, „ce qui anime Bolin, c'est l'horreur de l'anarchie, ce qui anime Montesquieu, c'est la haine d u despotisme." Insbesondere k r i t i s i e r t Fournol, daß Montesquieu seine politische Theorie nicht auf der Lehre v o n der Souveränität, „cette porte magnifique et imposante", aufbaue (S. 155 f.). Gemeinsam sei beiden Autoren die Klimatheorie, w o r i n Montesquieu jedoch nicht originell sei (S. 166), sowie die auf Klassifikation aufgebaute Grundhaltung (S. 170). Eine Analogie i m Aufbau des „Esprit des lois" u n d der „République" sieht Ira Ο. Wade: The intellectual origins of the french enlightenment. Princeton N. J. 1971, S. 115; vgl. weiter: J. Η. Franklin: Jean Bodin and the sixteenth — century revolution i n the methodology of l a w and history. 2nd ed. New Y o r k — London 1966, S. 78. 146

150 A u f die vielfältigen Ubereinstimmungen verweist auch Pierre Birnbaum: Sociologie de Tocqueville. Paris 1970, S. 17, 22, 28, 63; Helmut Göring:

C. Strukture des Esprit des lois für alle vier Autoren eine ähnliche politische Situation fest. Kennzeichen sind einerseits soziale Gegensätze i m Innern, andererseits eine Expansion nach Außen. Diese Situation verbinde sich i n allen vier Fällen mit einer kritischen Zuspitzung der Lage und der Gefahr eines Zusammenbruchs. Richter sieht jedoch selber, daß i n einer solchen krisenhaften Situation auch das Ausweichen i n ein überzeitliches Naturrecht naheliegt 151 . Statt der Verschiedenheit, ist immer auch das Gemeinsame ein Ansatz zur Überwindung aktueller Probleme. Auch der Hinweis auf die j u r i stische Ausbildung, die bei allen vier Autoren die Basis für die vergleichende Methode abgegeben habe, vermag nicht unbedingt zu überzeugen. Gerade dem kontinental-europäischen Juristen liegt ja bekanntlich die strenge Subsumtion durch Syllogismusbildung näher als das eher topische Denken i n Vergleichbarem und Abweichendem, wie es für die komparative Methode typisch ist. Hier ist wieder auf das Naturrecht zu verweisen, das eher juristischem Staatsdenken entspricht als die vergleichsweise assoziative vergleichende Methode. Andererseits ist die Reihe von vergleichenden Autoren, die Richter aufstellt, noch zu erweitern. Auch Aristoteles hat für seine Typenlehre angeblich 255 verschiedene Verfassungen herangezogen 152 , die vergleichende Methode setzt also nicht erst mit Jean Bodin ein. Tocqueville u n d die Demokratie. München — B e r l i n 1928, S. 24 weist darauf hin, daß Tocqueville bei der Niederschrift der „Demokratie i n A m e r i k a " täglich den Esprit zur Hand genommen habe; umfassend zum Verhältnis beider Autoren: Melvin Richter: The uses of theorie. Tocqueville's adaption of Montesquieu. I n : ders.: Essays i n theory and history. A n approach to the social sciences. Cambridge Mass. 1970, S. 74—102. Als einen fünften A u t o r i n dieser Reihe würde ich Bertrand de Jouvenel sehen. I n seinem W e r k über die Staatsgewalt ist Montesquieu einer der meistzitierten Autoren, die ganze A r b e i t ist v o n dem Spannungsverhältnis zwischen Staat u n d Gesellschaft geprägt, das auch für Montesquieu entscheidend ist. Ebenso wie Montesquieu w i l l er die Gegenüberstellung von einerseits Staat, andererseits Individuum, nicht mitmachen u n d betont die Rolle intermediärer Kräfte. (Bertrand de Jouvenel: Über die Staatsgewalt. Die Naturgeschichte ihres Wachstums. Freiburg i. B. 1972, S. 447.) A u f Jouvenel verweist auch Jean Touchard: Histoire des idées politiques. I I : D u X V i l l e siècle à nos jours. 5e éd. Paris 1970, S. 825. 151 Richter: Comparative, S. 146; richtiger scheint m i r somit der Ansatz v o n George Gusdorf: Introduction aux sciences humaines. Essai critique sur leurs origines et leur dévelopment. Paris 1960, S. 250, der die Entstehung einer politischen Wissenschaft allgemein als „une réaction à l'incertitude des temps et à la contradiction établie" auffaßt u n d hier insbesondere die Lösungsversuche der Utopisten m i t einbezieht. 152 Hinweis bei Edouard Laboulaye: Etude sur l'Esprit des loix, de Montesquieu. I n : Revue de droit international et de législation comparée. 1 (1869), S. 161—171, 161; m i t gutem G r u n d k a n n daher Henry Guerlac: Three eighteenth-century social philosophers: Scientific influences on their thought. I n : Daedalus (1958), S. 8—24, 11 auf die klassisch-humanistische Tradition, i n der unser A u t o r stehe, hinweisen; dieselbe These v e r t r i t t Hans Maier, op. cit.

I. Zeit und Raum Die Bedeutung des Montesquieuschen Neuansatzes liegt nach meiner Auffassung auf einem anderen Gebiet. Montesquieus Werk ist, wenn auch am Anfang und auf einem wesentlich höheren Abstraktionsniveau als die meisten Autoren dieser Richtungen, i m Rahmen einer zunehmenden Beschäftigung m i t praktischen Fragen des staatlichen und gesellschaftlichen Zusammenlebens zu sehen. Nachdem die staatliche Souveränität gesichert war und die selbstregulierenden gesellschaftlichen Kräfte weitgehend ausgeschaltet waren 1 5 3 , kam eine ungeheure Fülle von Aufgaben auf den Staat zu, zu deren Bewältigung i h m aber noch weitgehend das theoretische und praktische Rüstzeug fehlte. Nicht zuletzt aufgrund dieses Defizits sind insbesondere die großen Krisen des späten Siècle Louis X I V und der Régence zu erklären. Der Staat ist noch nicht i n der Lage, die mit seinem großen Machtzuwachs seit der Niederschlagung der letzten Erhebung des Adels verbundenen neuen Aufgaben zu erfüllen. Ein Beispiel ist hier insbesondere die Finanzwirtschaft, die sich lange Zeit kaum über das Niveau einer privaten Hauswirtschaft erhebt. Ein Beispiel ist auch die langsame Entwicklung eines neuzeitlichen Strafrechts 154 . Hier wäre kurz auf einige Tendenzen der Beschäftigung mit dem Staate i m 17. und 18. Jahrhundert hinzuweisen, die i n diese Richtung der inhaltlichen Ausfüllung der Staatsgewalt laufen. Diese Strömungen werden bei der eher rechtswissenschaftlich geprägten Diskussion u m die Entstehung des modernen Staates oft übersehen, insoweit w i r d dann der Bezug h i n zum Konkreten i m Montesquieuschen Denken zu Unrecht als für seine Zeit einzigartig dargestellt. Diesem Fehler ist insbesondere ein Teil der französischen Literatur erlegen 155 . 153 M. E. aus diesem G r u n d erwähnt Montesquieu den Gedanken der Souveränität nicht ausführlich. Sie ist für i h n eine selbstverständliche Voraussetzung, wie sich insbesondere j a aus der Definition der nature de gouvernement z.B. der Republik ergibt: „Lorsque, dans la république, le peuple en corps a la souveraine puissance , c'est une démocratie." (EdL I I , 2; 1/1, S. 11, Hervorhebung v o n mir.) Falsch, oder zumindest eher formalistisch, ist daher die Aussage von Maier, S. 278: „Das W o r t »souveraineté' k o m m t i m ganzen ,Esprit des Lois' nicht einmal vor." 154 Michel Foucault: Überwachen u n d Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. F r a n k f u r t a. M. 1977, S. 133 ff.; nicht richtig ist m. E. der Ansatz von Rolf-Peter Calliess: Theorie der Strafe i m demokratischen u n d sozialen Rechtsstaat. E i n Beitrag zur straf rechtsdogmatischen Grundlagendiskussion. F r a n k f u r t a. M. 1974, S. 35, der den „Übergang v o m Strafrecht des Polizeiu n d Wohlfahrtsstaates zum rechtsstaatlichen Strafrecht" als den entscheidenden Bruch betont. Der entscheidende Bruch liegt früher, der Absolutismus führt schon h i n zum bürgerlichen Gesellschaftstypus. 155 Eine Ausnahme bilden die A r b e i t e n v o n H e n r i Sée, der insbesondere die sozialreformerischen Tendenzen des späten 17. Jahrhunderts betont: Henri Sée: Les idées politiques en France au X V I I e siècle. Paris 1923, S. 299 ff., während i n der übrigen L i t e r a t u r gerne über den „großen" Diskussionen über den Ursprung der französischen Monarchie eines Dubos u n d Boulainvilliers diese „praktische" T r a d i t i o n übersehen w i r d .

6

C. Strukture des Esprit des lois

Zum einen ist hier auf die deutsche Universitätsstatistik zu verweisen, als akademisches Lehrfach schon 1660 von Hermann Conring i n Helmstedt eingeführt, die i n die Göttinger Schule von Gottfried Achenw a l l und August Ludwig Schlözer einmündet. Achenwall definiert diese Statistik so: „Der Inbegriff der würklichen Merkwürdigkeiten eines Staats macht seine Staatsverfassung i m weiteren Verstände aus, und die Lehre von der Staatsverfassung eines oder mehrerer einzelnen Staaten ist die Statistick 156 ." Schlözer vertieft diesen Begriff weiter. Die Statistik untersucht historisch, wie die Staaten sind, philosophische Politik, wie der Staat sein sollte 157 . Geschichte ist dabei für Schlözer das Primäre, Statistik ist ein Teil dieser. „Geschichte ist eine fortlaufende Statistik, und Statistik ist eine stillstehende Geschichte 158 ." Auch Achenwall unterscheidet die Statistik als historische Staatslehre von der philosophischen, ihr Zweck ist Anleitung zu praktischem Handeln i n Staatsgeschäften 159 . Ihr Gebiet umfaßt die bisherige historische Entwicklung eines Landes, seine „Lage, Grenzen, Grösse, das Clima, die Flüsse und Berge" 160 , die Bevölkerung und ihren Nationalcharakter, die Verfassung und den Staatsapparat, die Religion und das Verhältnis von Staat und Kirche, Wissenschaft und Wirtschaft. Quellen der Statistik sind Rechtssammlungen, amtliche Verlautbarungen, „StatsKalender, IntelligenzBlätter, selbst A r t i k e l der HofZeitung" 1 6 1 . Weiter wichtig ist die Literatur eines Landes, sind Reisebeschreibungen und Zeitungen. Schlözer betont aucli die Wichtigkeit eigenen Reisens 162 . Eine weitere Tendenz, die nicht allein das Politische i m Staate, sondern insbesondere Finanzfragen und Probleme der Wirtschaft, daneben aber auch allgemein die Wohlfahrtspflege behandelt, ist der deutschösterreichische Kameralismus 16*. Die i n Deutschland entstandenen Territorialstaaten benötigten diese Wissenschaft, u m ihren aus dem Zerfall der altständischen Ordnung zuwachsenden Aufgaben gerecht zu wer156 Gottfried Achenwall: Staatsverfassung der heutigen vornehmsten Europäischen Reiche i m Grundriß. 4. Aufl. Göttingen 1762, § 5, S. 3. 157 August Ludwig von Schlözer: Theorie der Statistik. Nebst Ideen über das Studium der P o l i t i k überhaupt. Göttingen 1804 (StatsGelartheit nach ihren HauptTheilen i m Auszug u n d Zusammenhang. Zweiter Theil. A l l g e meine Statistik. 1. Heft), S. 94 f. 158 Ibid., S. 86. 159 Achenwall, § 5, S. 3. 160 Ibid., § 14, S. 7. 161 Schlözer, S. 75. 162 Ibid., S. 97. 163 Vgl. dazu das klassische W e r k von Kurt Zielenzinger: Die alten deutschen Kameralisten. E i n Beitrag zur Geschichte der Nationalökonomie u n d zum Problem des Merkantilismus. Jena 1914 (Beiträge zur Geschichte der Nationalökonomie. 2).

I. Zeit und Raum den 164 . Als praktische Wissenschaft konzipiert, zuerst — i m älteren Kameralismus Johann Joachim Bechers — ganz an den Bedürfnissen der fürstlichen Auftraggeber orientiert, dann aber systematischer i n der neueren Kameralistik Johann Heinrich Gottlob v. Justis, ist die Kameralistik eine Wissenschaft vom Wohlergehen des Staates und der „Glückseligkeit" der Untertanen. Eine dritte wichtige Entwicklung, die die empirische Seite des Staates betont, ist die „political arithmetick" von John Graunt, W i l l i a m Petty und Edmund Halley, die i n der „göttlichen Ordnung" von Johann Peter Süßmilch ihre Fortsetzung findet 1 6 5 . Bei den erwähnten Ansätzen handelt es sich nicht u m Tendenzen, die i n das Werk unseres Autors direkt Eingang gefunden haben 166 . Die zitierten Autoren sollen nur die verstärkte Beschäftigung m i t Fragen des konkreten Staates dokumentieren, wie sie seit dem Ende des 17. Jahrhunderts einsetzt. I n diesem Rahmen muß auch Montesquieu gesehen werden, wobei aber festzuhalten bleibt, daß er die konkreten Ansätze sofort auf ein wesentlich höheres Niveau hebt. Ein direkter Einfluß geht jedoch vom französischen sozialreformerischen Denken der Jahrhundertwende auf unseren Autor aus 167 . Als Beispiel möchte ich kurz die Gedankengänge des Marschalls Vauban zu den uns hier interessierenden Fragen darstellen. Sébastien le Prestre de Vauban geht bei seinen Überlegungen zur Reform der französischen Monarchie von drei Grundüberlegungen aus: Die Menschen können ohne den Staat nicht leben, sie brauchen seinen Schutz. Dieser Aufgabe kann der Staat nur nachkommen, wenn er die dazu nötigen Mittel hat. Die Einwohner sind daher verpflichtet, i h m das zur Erfüllung seiner Aufgaben nötige zu geben 168 .

164 Das betont Hans Maier: Die ältere deutsche Staats- u n d Verwaltungslehre (PolizeiWissenschaft). E i n Beitrag zur Geschichte der politischen Wissenschaft i n Deutschland. Neuwied — B e r l i n 1966 (Politica. 13), S. 83 ff. 165 Den einzigen Hinweis i n diesem Zusammenhang auf einen „ a r i t h m e t i schen" Geist, der i n der Ideengeschichte gegenüber dem „geometrischen" nie so v i e l Beachtung erlangt habe, gibt Voisé, S. 164. Er betont, daß der geometrische Geist eher hierarchisch, der arithmetische auf Gleichordnung gerichtet sei. 166 N u r Petty w i r d bei der Erörterung bevölkerungswissenschaftlicher Fragen erwähnt, vgl. E d L X X I I I , 17; 1/2, S. 57. 167 A u f diese E n t w i c k l u n g des „conscience sociale" verweist Gustave Lanson: Origines et premières manifestations de l'esprit philosophique dans la littérature française de 1675 à 1748. I n : Revue hebdomadaire des cours et conférences. 16—19 (1907—1910) fortgesetzt i n diesen Jahrgängen abgedruckt. 17,1; S. 499. 168 (Sébastien le Prestre) de Vauban: Projet d'une dixme royale. 8ième ed. ο. Ο. 1708 (1. Aufl. 1698!), S. 23 f.

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C. Strukture des Esprit des lois

I n der Realität stellt Vauban nun einen elenden Zustand Frankreichs fest: „depuis plusieurs années . . . j'ay fort bien remarqué que dans ces derniers temps, près de la dixième partie du Peuple est réduite à la mandicité, & mandie effectivement; que des neuf autres parties, i l y en a qui ne sont pas en état de faire l'aumône à celle-là, parce qu'euxmêmes sont réduits, à très-peu de chose prés, à cette malheureuse condition; que des quatre autres parties qui restent, les trois sont fort malaisées, & embarassées de dettes & de procès .. ." 1 6 9 . Aus diesem elenden Zustand des Volkes ergibt sich ein ebenso elender Zustand des Staates, insbesondere aber der Staatskasse. Der Staat kann i n dieser Situation seinen Pflichten den Bürgern gegenüber nicht nachkommen. Ursache für diese Mißstände ist nach Auffassung Vaubans das völlig verworrene bisherige System der Steuern und Abgaben. Die auf dem Grundbesitz ruhenden Lasten sind zu hoch und darüber hinaus ungleich verteilt, die Folge ist, daß die Landwirtschaft nicht mehr lohnt und die Ländereien verlassen werden 170 . Handel und Wandel werden durch innerstaatliche Zölle behindert, Steuerbefreiungen, die mit dem Kauf eines Amtes verbunden sind 171 , entlasten gerade die Zahlungskräftigen. Vauban schlägt dagegen die Abschaffung sämtlicher Abgaben zugunsten des schon i n der Bibel erwähnten und auch schon bei Griechen, Römern und Germanen üblichen 172 Zehnten vor. Dieser Zehnte solle von Einkünften jeglicher A r t erhoben werden, also insbesondere vom landwirtschaftlichen Ertrag — ohne jegliche Ausnahme 173 — und allen sonstigen Einkünften 1 7 4 . Das i n Jahrhunderten gewachsene System der verschiedenartigsten Abgaben und der tausend verschiedenen Befreiungen soll nach Vauban zugunsten einer gleichmäßigen Heranziehung aller Bürger für das Aufkommen des Staates, der auch für alle Bürger gleichermaßen da ist, ersetzt werden. Ein weiteres Zeichen für die schlechte Lage Frankreichs ist für Vauban die sinkende Bevölkerungszahl 175 . Er ist der Auffassung, daß 169

Ibid., S. 4. Ibid., S. 30. 171 Z u diesem i n Europa einmaligen System des legalen Ämterkaufs: Martin Göhring: Die Ämterkäuflichkeit i m Ancien régime. B e r l i n 1938. 172 Vauban, S. 10. 173 Ibid., S. 40 ff. 174 Ibid., S. 66 ff. 175 Hier folgt Vauban einer zu seiner Zeit stark verbreiteten Auffassung, der auch Montesquieu anhängt. Alles i n allem ist sie wahrscheinlich nicht richtig. Z w a r gab es i m m e r wieder Einbrüche i n der Bevölkerungsentwickl u n g aufgrund v o n Seuchen, Hungersnöten u n d Kriegen, i m ganzen w a r die Tendenz jedoch steigend, vgl. Soboul / Lemarchand / Fogel, S. 282 ff. 170

I. Zeit und Raum der wahre Reichtum eines Staates i n einer großen Einwohnerzahl liege und nicht auf Geld beruhe, wie dies ein Teil der Merkantilisten glaubte. Als eine der Ursachen erkennt Vauban das schlechte Steuersystem sowie Hungersnöte und überlange Kriege. Auch hier schlägt er Reformen vor, insbesondere w i l l er unnütze Ausgaben des Hofes, Sinekuren und Pensionen gestrichen sehen, damit Kapital für die Wirtschaft frei werde 176 . Aus Gründen der Staatsraison kritisiert er auch den Widerruf des Ediktes von Nantes durch Louis X I V . Das Land habe dadurch 80 bis 100 000 teilweise hochqualifizierte Menschen verloren und beträchtliches Kapital habe das Land verlassen. Auf die Kirche ist Vauban nicht gut zu sprechen, insbesondere die Einkünfte aus den Kirchengütern, die dem Klerus dazu dienten „pour piaffer, se donner du bon temps et ne rien contribuer aux charges de l'Etat" 1 7 7 , sind i h m ein Dorn i m Auge. Wohlgemerkt, dies schreibt kein radikaler philosophe, sondern ein hoher Beamter Louis' X I V . Dem Adel w i l l Vauban wieder sinnvolle Aufgaben verschaffen: So sollen i h m die hohen Staatsämter vorbehalten bleiben, andererseits soll er aber auch die Möglichkeit haben, Handel zu treiben, was bisher den Rangverlust nach sich zog. Auch hier versucht Vauban also, die ökonomischen Reserven Frankreichs zu entwickeln. Aufgrund seiner militärischen Tätigkeiten ist Vauban von der Wichtigkeit empirischer Informationen für den Staat überzeugt. Er fordert daher die Schaffung einer amtlichen Statistik, die Bevölkerungszahl und wirtschaftliche Daten enthalten soll. Zweck dieser kurzen Hinweise war es, das Umfeld des Montesquieuschen Denkens klarer hervortreten zu lassen, i h n i n einen Zusammenhang mit einer neuen A r t der Beschäftigung mit Fragen des Staates zu stellen. Kennzeichnend für diese Denkweise ist der weitaus höhere empirische Gehalt der Theorien sowie ein praktisches Interesse an der Führung der Staatsgeschäfte, verursacht durch eine ganz neue Dimension der Staatsaufgaben. 4. Typen Montesquieu stellt zu Beginn des Esprit des lois drei Typen von „zivilisierten" Gesellschaften dar, ergänzt werden diese Typen durch die i n Buch X V I I I dargestellten beiden Typen „primitiver" Gesellschaften. 176 177

Z u diesem Aspekt der K r i t i k Vaubans vgl. Sée, S. 306. Z i t i e r t nach Sée, S. 317.

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C. Strukture des Esprit des lois

Interessant ist, daß Montesquieu diese zwei letzten Typen nicht i m Zusammenhang mit den „espèces de gouvernement" zu Anfang des Werkes abhandelt, sondern i n einem Buch, das vornehmlich der Natur des Bodens gewidmet ist. Dies ist auch die Erklärung für die strukturelle Andersartigkeit dieser zwei Typen, die Montesquieu vornehmlich i n Amerika feststellt: Der Boden bringt dort ohne viel Mühe reiche Frucht, Jagd und Fischfang bescheren den Menschen Überfluß, Weidetiere gedeihen gut. Die Natur Europas setzt i m Gegensatz dazu eine mühevolle Bearbeitung des Bodens voraus, w i l l der Mensch sich ernähren. Überläßt man den Boden einfach der Natur, so wachsen hier nur Bäume, i n Amerika aber gedeiht auf einem freien Stückchen Land bald der Mais. Also auch bei dem nüchternen Montesquieu A n klänge an die paradiesische Schilderung des Lebens der Wilden, wie sie später i m Jahrhundert für eine ganze Literatur bezeichnend wird. I m Unterschied zu diesen Werken trennt Montesquieu jedoch säuberlich diese Typen von Gesellschaften von denen der alten Welt und zieht keine Schlußfolgerungen für das heutige politische Leben. Eine Ausnahme machen für i h n nur die alten Germanen, i n deren Tradition er die abendländische Monarchie sieht. Auf seine Typen von Gesellschaften zu Beginn des Werkes haben sie jedoch kaum Einfluß. Montesquieu differenziert zwei Typen von „primitiven Gesellschaften" 1. Zum einen sind dies die wilden — sauvages —, zum anderen die barbarischen — barbares — Völker. Der erste Typus w i r d durch die Zersplitterung i n kleine voneinander getrennt lebende Stämme gekennzeichnet. Die Gesellschaftsmitglieder leben von der Jagd. Das Zusammenleben ist durch Sitten geregelt, die A l t e n stehen i n hohem A n sehen. Ansehen verleiht i m übrigen nur persönliche Leistung, nicht der Reichtum. Dieser ist i n solchen Gesellschaften unbekannt. Da es kein Geld gibt, besteht auch nicht die Möglichkeit Reichtümer anzuhäufen. Die negativen Folgen einer ungleichen Vermögensteilung, wie zum Beispiel Diebstahl, gibt es hier nicht. Es besteht eine natürliche Gleichheit, diese muß also nicht wie i n entwickelten Gesellschaften erst durch Maßnahmen von oben erzeugt werden. Das Zusammenleben verläuft nicht i n so festen Formen, wie bei den „zivilisierten" Völkern: Zwischen den Stämmen gibt es, da keiner ein festes Territorium hat, endlose Streitigkeiten. Also kein ganz so idyllisches B i l d der „edlen Wilden" wie zum Beispiel bei Rousseau! 1 Vgl. dazu: Georges Hervé: Montesquieu. L'ethnographie dans l'Esprit des lois. La théorie des climats. I n : Revue mensuelle de l'école d'anthropologie de Paris. X V I I (1907), S. 337—355, 347 ff.; Marc Augé: Montesquieu, Rousseau et l'anthropologie politique. I n : Cahiers internationaux de sociologie. X L (1966), S. 17—42, 29 zählt ihn, zusammen m i t Rousseau, zu den „fondateurs de l'anthropologie sociale".

I. Zeit und Raum

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Auch innerhalb eines Stammes sind die Institutionen, bedingt durch die umherziehende Lebensweise, nicht so fest wie bei seßhaften Völkern. Montesquieu führt hier die Ehe an. Freiheit w i r d i n diesen Gesellschaften großgeschrieben. Sollte sich ein Häuptling als Despot aufspielen, so würden i h m seine Stammesmitglieder einfach i n die Wälder weglaufen. Montesquieu bemerkt an dieser Stelle ein Zusammenfallen von persönlicher und politischer Freiheit. Dies ist insoweit bemerkenswert, als Montesquieu ansonsten säuberlich zwischen diesen beiden Arten von Freiheit trennt 2 . Er ist jedoch durchaus konsequent, da er bei diesen peuples sauvages ja gerade keine Trennung von Staat und Gesellschaft, Bürger und Mensch annimmt, sondern von einem ganzheitlichen, i m wesentlichen undifferenzierten, Menschenbild ausgeht. Dennoch idealisiert Montesquieu nicht: Auch bei diesen Völkern stellt er, ein Hauptthema der Aufklärung, die Macht des Aberglaubens fest. I n Louisiana solle es, obwohl zu diesem Typus von Gesellschaft nicht passend, einen Häuptling geben, der sich wie ein orientalischer Despot aufführe 3 . Dieser habe den Aberglauben — hier ist Montesquieu ganz i m Denken der Aufklärung verhaftet 4 — geschaffen, er sei ein Bruder des Sonnengottes5. Als zweiten Typus einer „primitiven" Gesellschaft stellt Montesquieu die peuples barbares dar. Bei diesen haben w i r es m i t ersten Ansätzen zur Bildung eines einheitlichen Volkes zu tun: I m Gegensatz zu den peuples sauvages schließen sich die peuples barbares zu größeren Einheiten zusammen. Dies hängt mit der wirtschaftlichen Grundlage des Lebens dieser Völker zusammen. Die Viehzucht erfordert das Zusammenleben i n größeren Gemeinschaften, nur so können die Herden geschützt werden. Interessant ist, daß Montesquieu nicht von einem abstrakten Geselligkeitstrieb ausgeht, sondern, wie schon bei den sauvages, die wirtschaftliche Basis des menschlichen Zusammenlebens betont. M i t anderen Vorzeichen w i r d dieses Thema i m Rousseauschen „Zweiten Diskurs" wiederkehren. Die gesellschaftlichen Institutionen gewinnen bei den barbares an Festigkeit. Prototypen und gleichzeitig Antagonisten unter den barbares sind für Montesquieu die Tartaren und die alten Germanen. Nach Montesquieu leben die Tartaren i n Unfreiheit, zum einen begründet er das mit seiner Klimatheorie, zum anderen mit den besonderen 2

E d L X V I I I , 14; 1/1, S. 388. Für Ethnologen ein bekanntes Thema: S. F. Nadel: A black Byzantium. The k i n g d o m of the Nupe of Nigeria. London 1942. 4 Obwohl auch die moderne Anthropologie die Verwendung des Sakralen als Dimension des Politischen kennt: Georges Balandier: Politische A n t h r o pologie. München 1972, S. 131. 5 E d L X V I I I , 18; 1/1, 390 f. 3

6 Clostermeyer

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C. Strukture des Esprit des lois

geographischen Gegebenheiten Asiens. I n den endlosen Weiten der Steppe haben sie keinerlei Zufluchtsort, wohin sie ihr Vermögen, ihre Herden, bringen könnten. Sie leben daher i n einem ständigen Kampf ums Überleben, der Freiheit nicht aufkommen lassen kann. Das Gegenstück sind die freien alten Germanen. I m Frieden haben ihre Stämme keine gemeinsame Obrigkeit, sondern jedes Dorf verwaltet sich selber. Wichtige Angelegenheiten werden vom Volk beschlossen, das auch Kapitalverbrechen selber aburteilt. Nur unwesentliche Entscheidungen bleiben den Fürsten überlassen 6 . Montesquieu beschreibt liebevoll die Natürlichkeit des Lebens der Germanen. Das Datum der Volljährigkeit hing nicht von abstrakten Überlegungen, sondern der Fähigkeit, Waffen zu tragen, ab. Daher waren die alten Franken schon m i t 15 volljährig, da sie nur leichte Waffen hatten. M i t der Waffenfähigkeit begann auch das Bürgerrecht, bis dahin waren die Kinder nur Glieder der Familie, nicht des Stammes 7 . Die Ehe war i m Gegensatz zu den ansonsten eher lockeren Sitten anderer barbares fest und gesichert, die Sexualmoral streng 8 . Montesquieu betont die Schlichtheit und Natürlichkeit der Germanen, denen Luxus fremd gewesen sei. Selbst die Könige hätten als Krone nur ihr langes Haupthaar gehabt 9 . Hier also die Montesquieusche Version des „edlen W i l den", nur m i t dem Unterschied, daß er i h n nicht i n fernen Ländern, sondern unter unseren Vorfahren ansiedelt 10 . Bei den verschiedenen Typen „zivilisierter" Gesellschaften erwähnt Montesquieu zunächst die Republik m i t ihren zwei Spielarten, der Demokratie und der Aristokratie 1 1 , je nach der Zahl der Inhaber der Staatsgewalt 12 . Über die Republik Montesquieus ist heftig diskutiert worden. Sehen die einen darin eine „république des notables" 13 und unterscheiden sie von der Republik Rousseaus, so sehen andere i n der Schilderung der 6

E d L X V I I I , 30; 1/1, S. 407. E d L X V I I I , 26 f.; 1/1, S. 403 f. 8 E d L X V I I I , 24 f.; 1/1, S. 401 f.; über sein Frauenbild allgemein Jeannette Geffriaud Rosso: Montesquieu et la féminité. Pise 1977. 9 E d L X V I I I , 23; 1/1, S. 401. 10 Näheres dazu unten C V 3. 11 René Duchac: Montesquieu et la démocratie: une espèce de la république. I n : Cahiers internationaux de sociologie. X L I X (1970), S. 31—52, 37 betont „la faillite de l'arithmétique dans la politique" bei Montesquieu. F ü r i h n ist nicht mehr die Z a h l der Inhaber der Souveränität, sondern die A r t deren Ausübung entscheidend. Levin , S. 303 weist aber darauf hin, daß der Montesquieusche Typus der Republik aufgrund der Verschiedenheit der als V o r b i l d dienenden antiken Stadtstaaten Brüche auf weise. 12 E d L I I , 2; 1/1, S. 11. 13 Althusser, S. 68. 7

I. Zeit u n d Raum R e p u b l i k d u r c h M o n t e s q u i e u denselben T y p u s , w i e i h n später d i e J a k o b i n e r z u v e r w i r k l i c h e n suchten 1 4 . D i e erste Fassung s t ü t z t sich auf die A u s f ü h r u n g e n Montesquieus zur Frage der politischen Repräsentation. E i n i g e A u t o r e n z i e h e n h i e r a u s d e n Schluß, daß das V o l k nur i n d e r L a g e sei, R e p r ä s e n t a n t e n z u w ä h l e n , n i c h t aber, selbst die Souv e r ä n i t ä t auszuüben 1 5 . D i e andere A u f f a s s u n g s t ü t z t sich dagegen m e h r a u f die S c h i l d e r u n g , die M o n t e s q u i e u v o n d e n t y p i s c h e n gesellschaftl i c h e n V e r h a l t e n s m u s t e r n i n seiner R e p u b l i k g i b t . N a c h m e i n e r A u f f a s s u n g k ö n n e n b e i d e Bereiche n i c h t g e t r e n n t gesehen w e r d e n . A u s g a n g s p u n k t f ü r die D a r s t e l l u n g der R e p u b l i k ist b e i M o n t e s q u i e u das P r i n z i p d e r „ v e r t u " 1 6 . Diese ist e i n z u t i e f s t v e r i n n e r lichtes, n i c h t r a t i o n a l b e g r ü n d b a r e s G e f ü h l . A u c h u n d gerade einfache L e u t e k ö n n e n es h a b e n 1 7 . Es besteht i n d e r L i e b e z u m V a t e r l a n d u n d 14 Maxime Leroy: Histoire des idées sociales en France. 1. De Montesquieu à Robespierre. Paris 1946, S. 109. 15 Goyard-Fabre, S. 144 ff., die, insoweit Althusser folgend, bei Montesquieu „deux peuples dans le peuple" sieht (S. 146). 16 Eine Übersetzung des Begriffs m i t dem deutschen Ausdruck „Tugend" ist problematisch. Dieser Begriff drückt nicht die Strenge u n d Selbstverleugnung aus, die für Montesquieu u n d die Jakobiner m i t der „vertu" verbunden sind. Z u m deutschen Begriff vgl. Wolf gang Martens: Die Botschaft der Tugend. Die A u f k l ä r u n g i m Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. 2. A u f l . Stuttgart 1971, S. 264: „Tugend ist eine liebenswürdige Begleiterin; sie leitet den Menschen zur Glückseligkeit. Sie verlangt nicht, daß m a n dieser Welt den Abschied gebe." Die L i t e r a t u r zu Montesquieus Begriff der „ v e r t u " ist ausgesprochen reich, hier können n u r einige Schwerpunkte aufgezeigt werden. John T. Agresto : Liberty, virtue, and republicanism: 1776—1787. I n : Review of politics. X X X I X (1977), S. 473—504 betont die entscheidende Bedeutung dieser H a l t u n g für einen T e i l der amerikanischen Verfassungsväter. So spricht z. B. Samuel Adams v o n den Vereinigten Staaten als einem „Christian Sparta". I m Laufe der Revolution wurde jedoch die Unvereinbarkeit dieser H a l t u n g m i t der angelsächsisch-liberalen deutlich, letztere gewann die Oberhand. Z u diesem Thema auch Gerald Stourzh: Die tugendhafte Republik. Montesquieus Begriff der „ v e r t u " u n d die Anfänge der Vereinigten Staaten v o n Amerika. I n : Österreich u n d Europa. Festgabe für Hugo Hantsch zum 70. Geburtstag. Graz — W i e n — K ö l n 1965, S. 247—267; Herbert Lüthy: Tugend u n d Menschenrechte. Z u r Topologie politischer Begriffssysteme. Basel — Stuttgart 1964, S. 23—60 (Basier Beiträge zur Geschichtswissenschaft. 134). A u f den theologischen Ursprung der Tugend, die einen neuen Begriff für die Gnade darstelle, verweist Carl L. Becker: Der Gottesstaat der Philosophen. Würzburg 1946, S. 32. Die antiaristokratische Stoßrichtung des Begriffs betont Mauzi, S. 274; vgl. weiter Thédore Quoniam: A l'école du civisme avec M o n tesquieu. I n : Archives des lettres modernes No 116 (1970), S. 63—69. 17 Soboul / Lemarchand / Fogel, S. 518 betonen hier die sentimentale Seite: „L'homme vertueux est à la fois homme de raison et homme de sentiment." Vgl. den Gedanken bei Ph. Buonarroti : Babeuf u n d die Verschwörung für die Gleichheit m i t dem durch sie veranlaßten Prozeß u n d den Belegstücken. Stuttgart 1909, S. 191, der v o n der „obersten Leidenschaft" spricht. Meines Erachtens stehen w i r bei der Montesquieuschen Darstellung der Republik am Beginn einer politischen Tradition, die h i n zum utopischen Sozialismus des 19. Jahrhunderts führt.

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C. Strukture des Esprit des lois

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i m Verzicht auf die Verfolgung von Eigeninteressen 18 . Montesquieu zieht als Vergleich das mönchische Leben heran. Je strenger die Entsagung sei, desto mehr konzentrieren sich alle Gefühle, die nun keinen anderen Bezugspunkt mehr hätten, auf den Orden. Vaterlandsliebe beweist sich nach Montesquieu i n der Liebe zu Gleichheit und Einfachheit. Gleichheit ist dabei nicht formal gesehen, sondern besteht i n einem Mittelmaß, sowohl des Vermögens als auch der Begabung. Großartig darf nicht der einzelne sein, sondern nur der Staat. A l l e r Überfluß muß i h m zukommen. Diese Haltung, darüber ist Montesquieu sich i m klaren, entsteht nicht durch einen A k t guten Willens, sondern ist das Ergebnis einer „révolution" 1 9 , die nur „avec des peines & des travaux infinies" zu bewerkstelligen ist. Montesquieu sieht deutlich, anders als viele Autoren des 18. Jahrhunderts, daß der Zustand der vertu dem Volk nicht, da naturgegeben, i n den Schoß fällt, sondern daß diese vertu Selbstentäußerung und nicht natürliche Eigenschaft oder wohlverstandenes Eigeninteresse ist 20 . Sie bedeutet Unterordnung des Individuums unter die Gesellschaft. Diese Haltung kann nicht i n einer Gesellschaft entstehen, wo es arm und reich gibt, sie setzt einen Bruch voraus, das Eingreifen eines Gesetzgebers 21. Montesquieu betont als wichtigste Grundlage der vertu die ökonomischen Verhältnisse. Entscheidend ist eine Verteilung des Grundbesitzes i n gleiche und kleine Stücke 22 . Jedoch genügt diese einmalige Verteilung von Grund und Boden nicht. Es muß verhindert werden, daß sich i m Laufe der Zeit wieder Vermögen bei einzelnen Personen ansammelt. Montesquieu befürwortet i n diesem Zusammenhang eine weitgehende Einschränkung der Privatautonomie 23 . E i n weiteres Mittel zur Erhaltung von Gleichheit und Einfachheit ist ein progressiver Steuersatz, die Reichen sollen belastet werden, die Armen unterstützt 2 4 . Montesquieu erkennt eine Neigung des Menschen, Eigentum anzuhäufen. Dies muß der Gesetzgeber sehen und entsprechend gegen18

E d L V, 2; 1/1, S. 54 f. E d L V , 7; 1/1, S. 64; der Begriff der „révolution" w i r d hier noch i m alten Sinne, so wie er aus der Astronomie entnommen wurde, verwendet. Es ist damit eine allgemeine Umwälzung gemeint. Vgl. dazu Karl Griewank: Der neuzeitliche Revolutionsbegriff. Entstehung u n d Geschichte. F r a n k f u r t a. M. 1973, S. 164. 20 Nicht erst Rousseau, w i e Mauzi, S. 631, meint, f ü h r t diesen Wandel herbei u n d sieht die v e r t u als „ l u t t e contre soi". 21 Z u dieser Figur vgl. C I 7. 22 E d L V, 6; 1/1, S. 63. 23 „Car, s'il étoit permis de donner son bien à qui on voudroit, & comme on voudroit, chaque volonté particulière troubleroit la disposition de la loi fondamentale." (EdL V, 5; 1/1, S. 58.) 24 E d L V, 1/1, S. 61. 19

I. Zeit und Raum steuern, u m einen Zustand allgemeiner Gleichheit zu erreichen. Erst auf dieser Basis ist dann eine Entwicklung der republikanischen vertu möglich, sie ist kein Geschenk des Himmels, sondern muß gepflegt und gehegt werden 25 . Montesquieu betont ebenso wie Rousseau die Rolle einer Körperschaft, die die Sitten überwacht, „ u n sénat où l'âge, la vertu, la gravité, les services donnent entrée; les sénateurs, exposés à la vue du peuple comme les simulacres des dieux, inspiréront des sentiments qui seront portés dans le sein de toutes familles" 26 . Es w i r d Montesquieu vorgeworfen, daß er das Volk i n zwei Teile aufspalte: A u f der einen Seite das „bas peuple", das von Leidenschaften getrieben ungezügelt voranstürme und daher die Staatsgewalt nicht selbst ausüben könne, sondern nur i n der Lage sei, andere Bürger zu bestimmen, die dieses Geschäft für es ausüben könnten. Hierin w i r d oft ein Gegensatz zur Rousseauschen Volkssouveränität gesehen. Meines Erachtens ist dies nicht richtig. Ausdrücklich betont Montesquieu als Grundsatz der Republik, daß allein dem Volk i n der Volksversammlung die souveräne Gewalt zustehe, die sich dann i n der Gesetzgebung ausdrücke. Dieselbe Auffassung vertritt Rousseau: „Le souverain n'ayant d'autre force que la puissance législative n'agit que par des lois . . . le souverain ne saurait agir que quand le peuple est assemblé27." Daß das Volk für die täglichen Staatsgeschäfte Beamte einsetzen muß, ist auch für Rousseau selbstverständlich: „le peuple nomme les chefs qui seront chargés du gouvernement établi" 2 8 . Wenn Montesquieu vorgeworfen wird, er gestehe dem Volk nur die Fähigkeit zu, Beamte zu wählen, so steht dies i m Widerspruch zum Text des Esprit des lois 29 . Montesquieu erwähnt zwar die Fähigkeit des Volkes, geeignete Personen für die Staatsgeschäfte zu finden und bemerkt auf der anderen Seite, daß es nicht i n der Lage sei, die Verwaltungsgeschäfte selbst zu führen. Hierzu bedürfe es eines ruhigen, leidenschaftslosen Handelns. Es handelt sich dabei aber nicht u m eine Repräsentation der Souveränität. Diese besteht für Montesquieu, ebenso wie für Rousseau, i n der „puissance législative" des Volkes, hierin kann es auch nicht vertreten werden: „mais i l peut et doit l'être dans la puissance exécutive, qui 25 Darauf verweist André Lichtenberger: Le socialisme au X V I I I e siècle. Etudes sur les idées socialistes dans les écrivains français du X V I I I e siècle avant la révolution (Thèse Lettres) Paris 1895, S. 88. 26 E d L V , 7; 1/1, S. 64; vgl. über die Einrichtung der antiken Zensur JeanJacques Rousseau: D u contrat social, Paris 1966, I V , 7; S. 168 f. 27 Contrat social I I I , 12; S. 129. Die entsprechende Stelle i m Esprit des lois findet sich E d L I I , 2; 1/1, S. 16. 28 Contrat social I I I , 17; S. 138. 29 Althusser zieht S. 69 dann auch als Beleg für eine „volksfeindliche" H a l t u n g Montesquieus ein nicht näher gekennzeichnetes Zitat aus den Reisenotizen Montesquieus, den „Voyages", heran.

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C. Strukturerl des Esprit des lois

n'est que la force appliqué à la loi" 3 0 . Diese Übereinstimmung ist kein Zufall, sowohl Rousseau als auch Montesquieu haben als empirische Grundlage ihrer Überlegungen das antike Griechenland und das republikanische Rom. Bei Rousseau wirken sich diese Vorbilder auf den ganzen Contrat aus, bei Montesquieu i n erster Linie auf die Schilderung seines Typs der Republik. Ein weiterer I r r t u m ist es anzunehmen, Montesquieu siedele diese Republik ausschließlich i n der Vergangenheit an. I m Rahmen dieser Argumentation w i r d anerkannt, daß die antiken Republiken zwar ein Ideal für Montesquieu darstellen, heute sei diese Form für i h n jedoch überholt 3 1 . Montesquieu zählt dagegen i n einem Atemzuge die griechischen Republiken und das alte Rom m i t Holland, Deutschland, der Schweiz 32 , aber auch einer italienischen Republik wie Lucca 33 auf. Ebenfalls nicht i m Gegensatz zu Rousseau beschäftigt sich unser Autor mit der Klasseneinteilung der Republik 3 4 . Auch Rousseau setzt sich ausführlich m i t den verschiedenen Klassen des alten Roms auseinander, ohne sie aber grundsätzlich abzulehnen 35 . Auch hier w i r d das gemeinsame antike Vorbild deutlich. I m Gegensatz zu Rousseau schätzt Montesquieu Parteiungen i m Volke 3 6 , sie seien Ausdruck des lebhaften Interesses an öffentlichen Angelegenheiten. Ruhe i m Volke lasse auf ein Erlahmen des Interesses an öffentlichen Angelegenheiten schließen, sie sei ein Symptom dafür, daß das private Wohl dem einzelnen mehr am Herzen liege, als das allgemeine. K l a r sieht unser Autor, daß man über dieses öffentliche Wohl immer geteilter Meinung sein kann, daher sind für ihn lebhafte Auseinandersetzungen nur natürlich. Insgesamt ergibt sich aus der Darstellung des Typus der Republik bei Montesquieu ein ausgesprochen positiver Eindruck: Unser Autor behandelt diesen Typus, wenn auch m i t starker Betonung der Antike, als ein auch heute noch gültiges Modell. Die Probleme der Antike sind 30

Contrat social I I I , 15; S. 135. Statt vieler: Daniel Momet: Les origines intellectuelles de la révolution française 1715—1787. 4e éd. Paris 1947, S. 71. 32 E d L I X , 1; 1/1, S. 173. 33 E d L I I , 3; 1/1, S. 19. 34 Henry J. Merry: Montesquieu's system of natural government. West Lafayette Ind. 1970, S. 155 w i l l insgesamt Montesquieus Typenlehre als Klassenanalyse sehen, vgl. E d L I I , 2; 1/1, S. 13 ff. 35 Contrat social I V , 4; S. 152 ff.; Rosseau gibt deutlich seiner Ablehnung v o n Klasseneinteilungen, bei denen dem nichtstuenden städtischen „populace" das Übergewicht zufällt, Ausdruck. Er schätzt eher die patrizischen Landbewohner, S. 154 f. 36 E d L I I , 2; 1/1, S. 16. 31

I Zeit und Raum für Montesquieu auch die der Gegenwart. I m Unterschied zu Rousseau allerdings ist für Montesquieu die Republik nicht das Modell des Staates, sondern stellt nur einen Typus, wenn auch einen besonders positiv bewerteten, dar 37 . Als zweite Spielart der Republik erwähnt Montesquieu neben der Demokratie die Aristokratie. Diese ist von der Demokratie nicht grundsätzlich verschieden. Es besteht nur ein gradueller Unterschied: Je mehr sie sich der Demokratie annähert, desto eher verwirklicht sie ihre Form, je mehr sie sich der Monarchie nähert, desto weiter entwickelt sie sich von ihrem Wesen weg 38 . Als zweiten großen Gesellschaftstyp stellt Montesquieu die Monarchie dar. I h r Wesensmerkmal ist die ständische Ordnung: „point de monarque, point de noblesse; point de noblesse, point de monarque" 39 . Montesquieu erarbeitet diesen Typus aus der feudal strukturierten Gesellschaftsform, wie sie i m europäischen Mittelalter herrschte und i m 18. Jahrhundert sich dem Ende zuneigte. Das herrschende Verhaltensmuster ist für Montesquieu der „honneur". Hier hat sich bei unserem Autor ein Wandel vollzogen: Bisher galt die „Tugend" als der Zentralbegriff ritterlich-adeligen Denkens und Handelns 40 . Diese adelige Tugend stammte aus dem System der vier Tugenden, wie es sich i n der griechischen Polis entwickelte und i n die christliche Sittenlehre aufgenommen wurde. Montesquieu ordnet die Tugend — insoweit konsequent an die Wurzeln gehend — dem aus der antiken Polis abgeleiteten Typus der Republik zu, wobei er aber diese vertu ausdrücklich nicht als moralische, sondern als politische Tugend ansieht 41 . Christliche und moralische Tugend interessieren unseren Autor nicht — ein vernichtendes Urteil: Er sagt beiläufig, daß diese Haltungen i m 37 Dies betont ein zunehmender T e i l der Montesquieu-Literatur: Nannerl O. Keohane: Virtous republics and glorious monarchies: T w o models i n Montesquieu's political thought. I n : Political studies. X X (1972), S. 383—396, 394; ebenfalls für zeitlos h ä l t das Modell der Republik Masterton, S. 295 f. u n d Jean Varloot: Montesquieu. I n : L a pensée. (1955), S. 91—94; a. Α. ist Klemperer I I , S. 20, der meint, Montesquieu wisse eigentlich m i t der Demokratie nichts anzufangen; ebenso G. C. Morris: Montesquieu and the varieties of political experience. I n : D a v i d Thomson (ed.): Political ideas. London 1966, S. 79—94, 86. 38 E d L I I , 3; 1/1, S. 20. 39 E d L I I , 4; 1/1, S. 21. 40 Otto Brunner: Adeliges Landleben u n d europäischer Geist. Leben u n d Werk W o l f Helmhards v o n Hohberg (1612—1688). Salzburg 1949, S. 75. 41 E d L Avertissement; 1/1, S. L V I I : „Ce n'est point une v e r t u morale, n i une v e r t u chrétienne; c'est la v e r t u politique . . w o b e i diese politische Tugend dann doch letztendes zu einer moralischen wird. Das v o n Montesquieu gezeichnete „spartanische" Leben m i t seiner weltentsagenden H a l t u n g enthält mehr als den Bezug n u r auf das öffentliche Leben, gewinnt eine eigenständige asketisch-moralische Qualität.

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C. Strukture des Esprit des lois

politischen Raum nicht zum Tragen kommen und nie zum Tragen kamen. Besonders ausgeprägt stellt er dies für die abendländische Monarchie fest. Konnte man die politische vertu der Republik noch als eine moralische Tugend des rechten Maßes ansehen — Montesquieu betont ja für die Demokratie das Strukturprinzip des Mittelmaßes, für die Aristokratie die modération — so ist dies i n der Monarchie nicht mehr möglich 42 . Das Prinzip des honneur ist für Montesquieu „le préjugé de chaque personne et de chaque condition" 4 3 . Dieses Vorurteil zeigt sich i n einer ganzen Anhäufung von negativen Kennzeichen: „ambition dans l'oisiveté, la bassesse dans l'orgueil, le désir de s'enrichir sans travail, l'aversion pour la vérité, la flatterie, la trahison, la perfidie, l'abandon de tous ses engagements, le mépris des devoirs du c i t o y e n . . . " gehören zu dieser Ansammlung aller nur möglichen moralisch gemeinhin negativ bewerteten Verhaltensweisen 44 . Montesquieu diagnostiziert also den vollkommenen Niedergang der alten r i t terlichen Ideale. Seine Analyse steht am Endpunkt eines schon i m Mittelalter einsetzenden Prozesses, i m Laufe dessen die „heroische Haltung durch das Mondäne, Zierliche, durch raffinierte Preziosität verdrängt" wird 4 5 . Montesquieu bezieht sich i n seiner Darstellung der Monarchie ausdrücklich auf eine weitgehend höfisch geprägte Gesellschaft 46 . Der alte „Dualismus des Ritterlich-Höfischen" 47 taucht bei i h m nurmehr am Rande auf. Montesquieu analysiert scharf, daß die höfische A r t darin bestehe, seine eigene Größe gegen eine erborgte herzugeben 48 . I n seiner Darstellung der Monarchie führt Montesquieu den Gedanken La Rochefoucaulds fort, der i n seinen Réflexions meint: „Nos vertus ne sont le plus souvent que des vices déguisés 49 ." Montesquieu 42 Die Stoßrichtung des Begriffs des „honneur" v o n Seiten des ernsthaften Bürgertums gegen die frivole Aristokratie betont daher auch Mauzi, S. 278. 43 E d L I I I , 6; 1/1, S. 33; Montesquieu verwendet hier eines der Schlüsselwörter der A u f k l ä r u n g seit Francis Bacons Idolenlehre. 44 E d L I I I , 5; 1/1, S. 32. 45 Brunner, S. 89. 46 E d L I I I , 5; 1/1, S. 32. 47 Brunner, S. 110; als einziges Beispiel erwähnt er das Verhalten eines Vicomte d'Orte, der als Gouverneur v o n Bayonne sich i n der Bartholomäusnacht weigerte, den Befehlen nachzukommen u n d den K ö n i g aufforderte „d'employer nos bras et nos vies à choses faisables", E d L I V , 2; 1/1, S. 42 f. 48 E d L I V , 2; 1/1, S. 41: „ L ' a i r de la cour consiste à quitter sa grandeur propre pour une grandeur empruntée." 49 ( François , Duc de) La Rochefoucauld: Réflexions ou sentences et maximes morales. I n : Oeuvres complètes. Paris 1950 (Bibliothèque de la Pléiade. 24), S. 241; vgl. den Hinweis v o n Brunner, S. 330; zum Verhältnis zwischen M o n tesquieu u n d L a Rochefoucauld meint Raynal, S. 49, daß Montesquieu einerseits den Menschen wie dieser zergliedere, andererseits aber dann nach einer „positiven Bewertung des Negativen" suche.

I. Zeit u n d Raum geht j e d o c h e i n e n S c h r i t t w e i t e r . E r m u ß n i c h t m e h r erst die h i n t e r d e n anscheinenden T u g e n d e n stehenden L a s t e r e n t l a r v e n , die „ L a s t e r h a f t i g k e i t " des Lebens d e r Régence ist d a z u z u o f f e n k u n d i g 5 0 . A u s g e h e n d v o n dieser A n a l y s e , v e r s u c h t M o n t e s q u i e u d a n n aber — i n A n l e h n u n g a n eine neue D e n k r i c h t u n g des 18. J a h r h u n d e r t s 5 1 — diese „ m o r a l i s c h e n L a s t e r " als „ p o l i t i s c h e T u g e n d e n " d a r z u s t e l l e n . A u c h i n n e u e r e n soziologischen U n t e r s u c h u n g e n w i r d a u f diese „ E h r e " als die herrschende M o t i v a t i o n des höfischen Menschen v e r w i e sen 5 2 . Sie steht i m Gegensatz z u e i n e m E t h o s d e r W i r t s c h a f t , w i e es j e d o c h i m F r a n k r e i c h M o n t e s q u i e u s höchstens ansatzweise, keineswegs aber als herrschende M o t i v a t i o n b r e i t e r Schichten, a n z u t r e f f e n w a r 5 3 . 50 Vgl. dazu die sehr anregende Interpretation v o n Claude Dauphiné : Pourquoi u n roman de sérail? I n : Europe. Revue littéraire mensuelle. 55 (1977), No 574, S. 89—96, die Montesquieu als Gesellschaftskritiker darstellt, der der Gesellschaft der Régence die Verwechslung zwischen „liberté" u n d „libertinage" vorhält. 51 Gemeinhin w i r d hier der englische Einfluß betont: Pierre Rétat: De Mandeville à Montesquieu: honneur, luxe et dépense noble dans l\,Esprit des lois". I n : Studi francesi. 17 (1973), S. 238—249; Dedieu: Tradition, S. 304 bis 314; Montesquieu selbst verweist i n seinem K a p i t e l über den Luxus auf „l'auteur de la fable des abeilles EdL V I I , 1; 1/1, S. 129; daß es sich hier nicht — wie allgemein angenommen — u m eine spezifisch angelsächsische Denkrichtung handelt, zeigt Gustave Lanson: La rôle de l'expérience dans la formation de la philosophie du X V I I Ï e siècle en France. I. La transformat i o n des idées morales et la naissance des morales rationnelles de 1680—1715. I n : Revue du mois. 5 (1910), S. 5—28, 25 unter Hinweis auf den Jansenisten Nicole, der der Auffassung w a r : „Servir la concupiscience d'autrui pour satisfaire la sienne, devient u n ,ordre admirable' . . . " 52 Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Neuwied — B e r l i n 1969, S. 157; Maurice Halbwachs: Les cadres sociaux de la mémoire. Nouv. éd. Paris 1952, S. 230 schreibt über dieses feudale Weltbild: „eile ne tient compte en p r i n cipe que de l'honneur (!), du prestige , des titres, c'est — à — dire de notions purement sociales, où n'entre aucun élément de nature physique q u i se prête à la mesure, au calcul, ou à une définition abstraite." 53 Joseph Aynard: L a bourgeoisie française. Essai de psychologie. Paris 1934, S. 297 weist darauf hin, daß rastloses wirtschaftliches Streben v o m französischen B ü r g e r t u m dieser Zeit allenfalls als Mittel angesehen wurde zu Ämterkauf, Landbesitz u n d insbesondere Nobilitierung. Er schildert den Bürger dieser Zeit so: „C'est délicieusement, dans bien des coins de province, qu'il v i t en lettré, en père de famille, sensible et indulgent, dans ses beaux meubles maintenant confortables, dans sa charmante maison parfumée et rayonnante de paix et de sécurité." (S. 300); gut arbeitet Elinor G. Barber: The bourgeoisie i n 18th century France. 2nd ed. Princeton N. J. 1967, S. 44 ff. die Unterschiede zwischen dem Calvinismus, dessen Bedeutung für ein b ü r gerliches Wirtschaftsethos seit den A r b e i t e n M a x Webers, w e n n auch heiß umstritten, ins Blickfeld gerückt ist, u n d dem französischen, „bürgerlichen" Jansenismus heraus: Z w a r ist beiden Lehren der Gedanke der Prädestinat i o n u n d der Gnadenwahl gemeinsam, aber i m Unterschied zur — weiterentwickelten — Lehre Calvins sind f ü r die Jansenisten n u r wenige erwählt, ist die Lehre mehr auf ein passives Verhalten ausgerichtet. S. 59 verweist Barber darauf, daß die aristokratischen Gesetze v o n Geburt u n d Abstamm u n g auch innerhalb des Bürgertums galten. Erst als dem Bürgertum gegen Ende des Ancien régime der soziale Aufstieg i n die noblesse de robe v e r -

C. Strukture

des Esprit des lois

M o n t e s q u i e u ist d e r A u f f a s s u n g , daß es sich m i t d e r R o l l e des A d e l s n i c h t v e r t r a g e , H a n d e l z u t r e i b e n . E r b e t o n t , daß es gerade die a r i s t o k r a t i s c h e E h r e gewesen sei, d i e z u r Größe F r a n k r e i c h s b e i g e t r a g e n habe. Angesichts des v o n i h m als ausgesprochen schwach e r k a n n t e n W i r t s c h a f t s e t h o s des französischen B ü r g e r t u m s sieht er auch k e i n P r o b l e m , diese Schichten i n das S y s t e m d e r M o n a r c h i e z u i n t e g r i e r e n . E r e r k e n n t die B e d e u t u n g des Ä m t e r k a u f s , d e r es d e m B ü r g e r t u m e r m ö g l i c h t , f ü r eine größere G e l d s u m m e d e n A d e l , z u s a m m e n m i t e i n e r R e i h e v o n V o r t e i l e n , w i e der S t e u e r f r e i h e i t , z u e r w e r b e n 5 4 . A l s d r i t t e n T y p u s entwickelt Montesquieu den der Despotie* 5.

orientalischen

W i e i n d e r R e p u b l i k s i n d h i e r , w e n n auch u n t e r u m g e k e h r -

w e h r t wurde, entwickelte sich i m m i t t l e r e n Bürgertum der Gedanke der Gleichheit als revolutionäre Forderung (S. 144). Eine ganz andere Geisteshaltung spricht da aus den Memoiren des Prototyps des amerikanischen Bürgers: „Ich erwähne dieses Fleißes u m so nachdrücklicher u n d freimütiger, obschon ich dabei i n den Verdacht des Eigenlobs kommen könnte, damit diejenigen meiner Nachkommen, welche meine A u f zeichnungen lesen, den W e r t dieser Tugend erkennen, w e n n sie deren günstige Folgen für mich durch meine ganze Erzählung verfolgen können." Benjamin Franklin: E i n Leben für den Fortschritt. W i e n — Zell am See — St.5 4Gallen o. J., S. 117 f. Vgl. Göhring, S. 291, der betont, daß m i t diesem M i t t e l sich das absolute K ö n i g t u m einen Verbündeten gegen den „alten" Adel, gegen die „Gebundenheit des Feudalstaates" besorgte. Vgl. dazu die Ausführungen Montesquieus i n E d L X X , 22; 1/1, S. 462 ff.; Rétat, S. 240 verweist insoweit auf zwei Spielarten des honneur i n der Monarchie: Aristokratischer R u h m u n d bürgerliches Geldausgeben sind insoweit beide funktional zum System des honneur u n d f ü r die Monarchie. 55 Vgl. zum Stellenwert dieses Begriffs i n der Ideengeschichte Melvin Richter: Despotism. I n : Dictionary of the history of ideas. I I , S. 1—18; Montesquieu steht hier am Beginn einer Denkrichtung, die h i n zu Hannah Arendt: Elemente u n d Ursprünge totaler Herrschaft. F r a n k f u r t a. M. 1962 führt. A u f diese T r a d i t i o n weist auch Karl Jaspers i n seinem V o r w o r t zu diesem Buch hin. Den Begriff der Despotie w i l l v o m Begriff des Totalitarismus getrennt wissen Carl Joachim Friedrich: Totalitäre D i k t a t u r . Stuttgart 1957, S. 13, der aber w i e Montesquieu „Inseln der Absonderung" w i e Familie (S. 220) u n d Kirche (S. 233) heraushebt. A u f Ansätze einer Theorie des Totalitarismus bei Montesquieu weist dagegen Arnd Morkel: Montesquieus Begriff der Despotie. I n : Zeitschrift für Politik. 13 (1966), S. 14—32 h i n ; Badreddine Kassem: Décadence et absolutisme dans l'oeuvre de Montesquieu (Thèse Lettres) Genève 1960, S. I l l ff. k r i t i s i e r t den Begriff der orientalischen Despotie als ideologische Rechtfertigung der Ausbeutung außereuropäischer Völker; ebenso Paul Vernière: Montesquieu et le monde musulman, d'après l'Esprit des lois. I n : A C M , S. 175—190; die Rechtfertigung des Montesquieuschen Orientbildes wenigstens f ü r die Oberschichten gibt zu Mariam Firouz: L ' I r a n et le dixhuitième siècle. Influence de l a culture iranienne dans l'oeuvre de V o l taire, Montesquieu et Diderot. 2 Bde. (Diss, phil.) Leipzig 1963, S. 136, obwohl auch sie die Schwarzmalerei Montesquieus k r i t i s i e r t ; daß dieses O r i e n t b i l d Montesquieus nicht typisch ist f ü r das 18. Jahrhundert, darauf verweist Pierre Martino: L'orient dans la littérature française au X V I I e et au X V I I I e siècle (Thèse Lettres) Paris 1906, S. 315, insbesondere Voltaire hatte ein ausgesprochen positives B i l d des Orients; daß die Stoßrichtung der Theorie der Despotie eher gegen den Absolutismus Louis' X I V ging, ist eine fast allge-

I. Zeit und Raum

1

tem Vorzeichen, alle Menschen gleich. Der Unterschied liegt aber darin, daß i n der Republik die Menschen alles, i n der Despotie nichts sind 56 . Es gibt keinerlei gesellschaftliche Strukturen. Das bewegende Prinzip dieses Typus ist die Furcht 57 . Das Ergebnis ist ein Zustand völliger Ruhe, man lebt von der Hand i n den Mund, da keinerlei Sicherheit für das Vermögen herrscht 58 . Aus diesem Grunde ist auch das ganze Land i n einem schlechten Zustand. Kennzeichnend ist die völlige Isolierung der einzelnen, Ehe und Familie schließen sich nach außen h i n ab 59 , nach innen setzen sich aber die Strukturen der Despotie fort 6 0 : Das Serail ist dafür das Musterbeispiel. Die Knechtung der Frau und die Verstümmelung der Eunuchen sind für Montesquieu alles Momente derselben Struktur 6 1 . Ebenfalls findet sich dieser „privatistische" Grundzug i n der Spitze des Staates wieder. Fürst und Staat sind eins, für Politik gibt es keinerlei Spielraum, das einzige Gesetz ist der Wille des Fürsten 62 . „Tout se réduit à concilier le gouvernement politique et civil avec le gouvernement domestique, les officiers de l'état avec ceux du sérail 63 ." 5. Beziehungen zu einzelnen gesellschaftlichen Teilsystemen Nach der Darstellung dieser Typen von Gesellschaften untersucht Montesquieu die Beziehungen zu einzelnen gesellschaftlichen Teilbereichen. Ganz zu Beginn kommt er auf die Erziehung zu sprechen. Montesquieu ist hier ganz K i n d seiner Zeit, die den Menschen nach der sensualistischen Theorie John Lockes als „être flexible" 6 4 ansieht. Ebenfalls typisch für die Aufklärung ist die enge Verbindung zwischen m e i n akzeptierte These, vgl. statt vieler Françoise Weil: Montesquieu et le despotisme. I n : A C M , S. 191—215; positiv wertet dieses Eingehen auf eine von Europa abweichende politische T r a d i t i o n als Beginn einer politischen Anthropologie Balandier, S. 19. 56 E d L V I , 2; 1/1, S. 101. 57 E d L I I I , 9; 1/1, S. 35; Richter: Despotism, S. 9 sieht hier eine Anspielung auf Hobbes Lehre v o m Naturzustand. 55 E d L V, 14; 1/1, S. 81; V , 15; 1/1, S. 85 f. 59 E d L I V , 3; 1/1, S. 44: „chaque maison est u n empire séparé"; V, 15, 1/1, S. 85; X V I , 8; 1/1, S. 356; das Moment der totalen Einsamkeit durch die Furcht, sowohl auf Seiten des Herrschers, seiner Beamten als auch der E i n wohner betont i n seinem umstrittenen W e r k Karl A. Wittfogel: Die orientalische Despotie. Eine vergleichende Untersuchung totaler Macht. K ö l n — Berl i n 1962, S. 206 ff. 60 E d L X V I , 9; 1/1, S. 356 f. 61 Montesquieu spricht bezüglich der Frau v o n Sklaverei, „servitude domestique" (EdL X V I , 1; 1/1, S. 349); vgl. weiter Jean Starobinski: Une theorie d u pouvoir. I n : La nouvelle revue française. 42 (1973), No 249, S. 28—35. 62 E d L I I I , 10; 1/1, S. 36 f. 63 E d L V, 14; 1/1, S. 80. 64 E d L préface, S. L X I I .

C. Strukture des Esprit des lois Politik und Pädagogik. Es handelt sich nicht u m zwei getrennte Bereiche 65 , sondern der eine ist auf den anderen bezogen: Eine bestimmte gesellschaftliche und politische Orientierung muß sich immer wieder selbst neu erzeugen. Montesquieu vertraut nicht auf geschichtliche Notwendigkeiten, sondern auf die aktive schöpferische Kraft der Menschen. Entscheidend ist die Einordnung des Individuums i n die Gesellschaft i m Rahmen einer natürlichen Ordnung 66 . Montesquieu unterscheidet drei Stadien der Sozialisation 67 . Die primäre Sozialisation erfolgt i n der Familie, die sekundäre während der Ausbildung und dann i n der Gesellschaft 68 . Montesquieu bezieht diese Sozialisationsprozesse nicht auf ein bestimmtes Rollenverhalten, sondern auf die grundlegenden gesellschaftlichen Verhaltensmuster Tugend, Ehre, Furcht. A m wichtigsten ist die Erziehung i n der Republik, Tugend ist ja, wie oben schon dargestellt, nichts Natürliches und Selbstverständliches, sondern „renoncement à soi-même" 69 . Sie besteht i m Bevorzugen des Gemeinwohls vor dem Eigenwohl. Interessant ist, daß Montesquieu diese beiden Prinzipien als Gegensätze sieht und nicht, wie Rousseau, sie zu verbinden sucht. Furcht und Ehre ergeben sich dagegen aus der menschlichen Anlage von selbst. Die Tugend ist das Ergebnis eines Erziehungsprozesses, i n dessen Verlauf sie als „passion" 70 verinnerlicht wird. Die Sozialisation i n der Republik ist durch eine besondere Einheitlichkeit gekennzeichnet: Familie, Ausbildungsinstitutionen und Gesellschaft sind — idealtypisch — alle vom gleichen Geist beseelt. Für die Monarchie stellt Montesquieu dagegen eine Teilung fest. Häusliche und schulische Erziehung stehen dabei auf der einen, die gesellschaftliche auf der anderen Seite 71 . Montesquieu führt dies auf den Unterschied zwischen den Forderungen der Religion, die i n den beiden ersten Abschnitten vermittelt werden und denen der Welt, die den dritten Abschnitt prägen, zurück. Die Prinzipien der Gesell65 F ü r diese Einheit zwischen den „politischen" (den beiden Discours und dem Contrat social) u n d „pädagogischen" Werken Rousseaus vgl. Günther Buck: La place systématique de l'Emile dans l'oeuvre de Rousseau. I n : Revue de théologie et de philosophie. 110 (1978), S. 363. 66 Ibid., S. 400. 67 Ich verwende hier Ausdrücke der modernen Soziologie, vgl. Walter Rüegg: Soziologie. F r a n k f u r t a. M. 1969, S. 95 ff. 68 E d L I V , 4; 1/1, S. 45: „celle de nos pères, celle de nos maîtres, celle du monde." 69 E d L I V , 5; 1/1, S. 45; das gleiche Thema erscheint bei Rousseau: v e r t u als Unterdrückung des amour-propre, vgl. Iring Fetscher: Rousseaus politische Philosophie. Z u r Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffes. Neuwied 1960, S. 85. Fetscher verweist S. 77 auf den Einfluß, den Montesquieu insoweit auf Rousseau ausübt. 70 E d L I V , 5; 1/1, S. 46. 71 E d L I V , 2; 1/1, S. 39.

I. Zeit und Raum schaft stellen dabei die i n der Jugend gelehrten Prinzipien auf den Kopf. I n der Despotie hat die Erziehung die geringste Bedeutung, genauer gesagt ist sie eine Gegenerziehung, ihre Ziele sind Gehorsam und Unwissenheit. Montesquieu stellt dabei, wie an anderen Stellen seines Werkes, eine merkwürdige Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft fest. Obwohl während seiner Jugend selbst Opfer der Unterdrückung, w i r d der Tyrann, wenn er an die Macht kommt, zum neuen Unterdrücker. Montesquieu betont einen Gegensatz von Wissen und Wollen. I n der Despotie ist ein zu großes Wissen nur schädlich, der Tyrann „n'a point à délibérer, à douter, n i à raisonner; i l n'a qu'à vouloir" 7 2 . Zusammenfassend bleibt festzuhalten, daß Montesquieu bei seinen Überlegungen zur Erziehung einerseits ein für die Aufklärung wichtiges Thema anschneidet, andererseits aber dazu originelle Gedanken entwickelt. Er stellt die Erziehung weniger i n den Rahmen einer Entwicklung der wahren Natur des Menschen, sondern bezieht sie auf die jeweils verschiedene Umwelt. Den größten Stellenwert erhält Erziehung bei unserem Autor nicht i n einem auf Verwirklichung des Menschen als isoliertem Individuum gerichteten Zusammenhang, i m Gegenteil, Erziehung i n ihrer ausgeprägtesten Form zielt auf die A b schaffung der Individualität und die Entwicklung eines gesellschaftlichen Menschen 73 . Eine weitere wichtige Beziehung besteht zwischen den verschiedenen Gesellschaftstypen und den verschiedenen Wirtschaftsformen. Lange Zeit ist Montesquieus Beitrag zur Ökonomie wenig beachtet geblieben. Erst i n letzter Zeit rückt mehr und mehr Montesquieus eigenartige Zwischenstellung zwischen Merkantilismus und Liberalismus i n das Blickfeld der Forschung 74 . 72

E d L I V , 3; 1/1, S. 44. Vgl. Lester G. Crocker: Nature and culture. Ethical thought i n the french enlightenment. Baltimore 1963, S. 513: „The »managing4 of people becomes the supreme moral and political t a s k . . 74 Hier v o r allem zu nennen sind die Arbeiten v o n Nicos E. Devletoglou: Montesquieu and the w e a l t h of nations. I n : Canadian j o u r n a l of economics and political science. X X I X (1963), S. 1—25; ders.: The economic philosophy of Montesquieu. I n : Kyklos. Internationale Zeitschrift für Sozialwissenschaften. X X I I (1969), S. 530—541 u n d Alain Cotta: Le développement économique dans la pensée de Montesquieu. I n : Revue d'histoire économique et sociale. X X X V (1957), S. 370—415; weiter zu erwähnen sind: Jean Cavignac: Montesquieu et le commerce. I n : Etudes sur Montesquieu. I n : Archives des lettres modernes. (1970), N ° 116, S. 51—62; André Garrigou-Lagrange: Montesquieu et les économistes. I n : A C M , S. 279—284. Ausgesprochen interessant sind zwei ältere thèses zu diesem Thema: Charles Jaubert: Montesquieu économiste (Thèse Droit) A i x 1901 sowie C. de la Taille-Lolainville: Les idées économiques et financières de Montesquieu (Thèse Droit) Paris 1940; wenig ergiebig ist die A r b e i t v o n Heinrich Gäfgen: Montesquieu als V o l k s w i r t . (Diss. rer. pol.) Würzburg 1921; vgl. weiter die Reihe v o n Arbeiten über Montesquieu 73

C. Strukture des Esprit des lois Zunächst fällt an der Behandlung ökonomischer Fragen i m Esprit des lois auf, daß Fragen des Verbrauchs gleich am Anfang des Werkes behandelt werden, Handel und Produktion dagegen völlig für sich gegen Ende. Weiter ist i n diesem Zusammenhang das Vorherrschen von Fragen des Handels gegenüber denen der Produktion festzustellen. Es kann vermutet werden, daß die Gewichtung den Bewußtseinsstand i n wirtschaftlichen Fragen widerspiegelt, wie er noch Anfang des 18. Jahrhunderts i n Frankreich weitaus herrschend war. A l l e Versuche, aus dem Esprit des lois ein einheitliches ökonomisches System herausarbeiten zu wollen, sind meiner Ansicht nach problematisch 75 . Zu sehr denkt Montesquieu auch bei der Untersuchung w i r t schaftlicher Zusammenhänge i n den Kategorien seiner Gesellschaftstypenlehre 76 . Er versucht, verschiedene Formen des Wirtschaftens festzustellen, ohne daß sich dabei auf Anhieb seine eigene Meinung zu wirtschaftlichen Fragen erkennen ließe. Es bleibt jedoch festzuhalten, daß es auch Bereiche gibt, i n denen unser Autor versucht, abgesehen von den spezifischen Fragen der einzelnen Gesellschaftstypen, Ansätze von „Naturgesetzlichkeiten" des Wirtschaftslebens herauszuarbeiten 77 . Wie schon oben angedeutet, geht Montesquieu zuerst auf Fragen des Verbrauchs ein 78 . Er unterscheidet dabei zwischen luxe und nécessité physique. Luxus kann für Montesquieu nur auf der Aneignung des Ertrags der Arbeit anderer beruhen 79 . Er setzt daher auch eine spezifische Form von Produktion und Verteilung voraus. Bedarfsdeckung ist das Kennzeichen der Wirtschaft der barbares und der sauvages, da dort das Geld unbekannt ist, existieren kaum größere Unterschiede des Reichtums 80 . Aber auch i n der Republik verhindert die gleichmäßige Verteilung von Grund und Boden die Ausbeutung von Menschen — jeder kann hier von seiner eigenen Hände Arbeit leben 81 . i m Journal des économistes, insbes. Pascal Duprat: Les idées économiques de Montesquieu. I n : Journal des économistes. Revue de la science économique et de la statistique. 3e série, 5e années, tome 18e (1870), S. 13—37. 75 Ebenso Vernière: Raison impure, S. 89. 76 Jaubert, S. 2: „ I I ne sépare pas l'économie politique de la politique proprement dite." 77 Die A r b e i t v o n de la Taîlle-Lolainville ist größtenteils diesem Thema gewidmet. Er kontrastiert insbesondere Montesquieus Auffassung v o m w i r t schaftlichen Naturgesetz m i t der Theorie der Physiokraten (S. 300 ff.). 78 K r i t i k hierzu bei Rétat, S. 245: Montesquieu beachte zu wenig die Bedeutung von Ersparnis u n d Investition. 79 E d L V I I , 1; 1/1, S. 128; vgl. zur Geschichte der Einschätzung des Luxus: H(enri) Baudrillart: Histoire du luxe privé et public depuis l'antiquité jusqu'à nos jours. I V : Le luxe dans les temps modernes. Paris 1880, insbes. S. 243 ff. 80 E d L X V I I I , 16 f.; 1/1, S. 388 f. 81 E d L V I I , 2; 1/1, S. 130.

I. Zeit u n d Raum A r b e i t i s t f ü r M o n t e s q u i e u auch d i e entscheidende G r u n d l a g e seiner ö k o n o m i s c h e n T h e o r i e . I m Gegensatz z u r L i t e r a t u r , d i e sich d a r ü b e r G e d a n k e n m a c h t , i n w i e w e i t M o n t e s q u i e u eher d i e L a n d w i r t s c h a f t o d e r aber

Handel

und

Industrie

zur

Grundlage

seines

wirtschaftlichen

Systems m a c h t 8 2 , w ü r d e i c h die B e d e u t u n g , d i e M o n t e s q u i e u d e r menschlichen A r b e i t gibt, betonen. M e i n e r Ansicht nach sind bei Montesquieu die A n s ä t z e eines n e u e n Menschenbildes z u e r k e n n e n , das sich p r i m ä r d u r c h d e n F a k t o r d e r A r b e i t d e f i n i e r t , eine A r b e i t , die —

selbstbe-

s t i m m t — die E n t w i c k l u n g des Menschen p r ä g t 8 3 . I m R a h m e n e i n e r solchen I n t e r p r e t a t i o n M o n t e s q u i e u s s i n d v o n b e sonderer B e d e u t u n g d i e B e m e r k u n g e n , die u n s e r A u t o r i n seiner A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t d e r F r a g e d e r S k l a v e r e i m a c h t 8 4 . H i e r f ü h r t er aus, daß m a n i n d e r A n t i k e die B e r g w e r k s a r b e i t f ü r z u schwer g e h a l t e n habe, als daß m a n sie anders als d u r c h S k l a v e n u n d S t r ä f l i n g e h ä t t e a u s f ü h r e n lassen k ö n n e n . D i e E r f a h r u n g h a b e aber i n z w i s c h e n gezeigt, u n d h i e r s t ü t z t M o n t e s q u i e u sich a u f eigene A n s c h a u u n g — u n t e r ande82

Devletoglou: Montesquieu, S. 4 ff. f ü h r t aus, daß Montesquieu die Landwirtschaft als erste Grundlage des Reichtums ansehe, aber nach Befriedigung der primären Bedürfnisse Industrie u n d Handel für die weitere E n t w i c k l u n g entscheidend sein läßt; auch Cotta, S. 375, 411 ff. betont p r i m ä r den Gedanken der wirtschaftlichen Entwicklung. 83 Montesquieu steht am Anfang einer Linie, die über A d a m Smith zu K a r l M a r x h i n f ü h r t ; vgl. Theo Surânyi-Unger : Wirtschaftsphilosophie des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 1967, S. 33. I n Geschichten des ökonomischen Denkens w i r d diese Umwälzung, die der A r b e i t den entscheidenden Stellenw e r t zumißt, gemeinhin m i t dem Namen v o n A d a m S m i t h verbunden: vgl. Hans Haussherr: Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit v o m Ende des 14. bis zur Höhe des 19. Jahrhunderts. 4. Aufl. K ö l n — W i e n 1970, S. 281; richtiger verweist Löwith, S. 357 auf das allmähliche Geltungverschaffen der A r b e i t i m 18. Jahrhundert; w i e hier: Pangle, S. 242, der Montesquieu sich m i t A d a m Smith den R u h m der Begründung der modernen Ökonomie teilen lassen w i l l ; ebenso sah dies der Zeitgenosse John M i l i a r : „President Montesquieu is the Bacon of this branch of philosophy, Dr. S m i t h is the Newton." (zitiert nach Richter: Uses, S. 98); auf eine angeblich stoische Grundlage dieser E i n schätzung der A r b e i t verweist M . W. Rombout: L a conception stoïcienne du bonheur chez Montesquieu et chez quelques-uns de ses contemporains. Leiden 1958 (Leidse romanistische reeks v a n de rijksuniversiteit te Leiden. IV), S. 25; der Begriff der A r b e i t w i r d f ü r das 19. Jahrhundert zu einem Schlüsselwort der Staatsphilosophie über Hegel h i n zu M a r x werden. Die Kategorie der A r b e i t w i r d i m Laufe dieser Entwicklung die politischen Kategorien überflügeln, die Entfremdung der A r b e i t k a n n dann n u r durch ein Absterben des Staats aufgehoben werden, vgl. zu dieser Entwicklung die Untersuchung v o n Friedrich Müller: Entfremdung. Zur anthropologischen Begründung der Staatstheorie bei Rousseau, Hegel, M a r x . B e r l i n 1970, S. 80. 84 E d L X V , 8; 1/1, S. 333; die bisher weitgehend angenommene Gegnerschaft Montesquieus gegenüber der Sklaverei bezweifelt Julien Joseph Lafontant: Montesquieu et le problème de l'esclavage (Ph. D.) State U n i v e r sity of New Y o r k Binghamton 1976: Die Ablehnung der Sklaverei durch Montesquieu gelte n u r für Europa, über A m e r i k a u n d insbesondere die französischen Besitzungen auf Santo Domingo schweige Montesquieu sich aus. Hier schreibe unser A u t o r ganz i m Sinne des europäischen Kolonialismus.

6

C. Strukture des Esprit des lois

rem der Bergwerke i m Harz —, daß heute der Bergbau durchaus Sache von freien Männern sein könne. Privilegien und ein hoher Verdienst haben dies bewirkt. Montesquieu resümiert: „ I I n'y a point de travail si pénible qu'on ne puisse proportionner à la force de celui qui le fait, pourvu que ce soit la raison & non pas l'avarice qui le règle 85 ." Als Beispiel führt er die ungarischen Bergwerke an, die von freien Männern betrieben werden. Trotz der geringeren Ergiebigkeit der dortigen Vorkommen produzierten sie mehr als die Bergwerke i m damals türkischen Temesvarer Banat, wo Sklaven arbeiten mußten. Arbeit steht nach Montesquieus Auffassung m i t dem System der Natur i n Übereinstimmung: Große Mühen finden ihren Lohn i n reichem Gewinn. Hier betont Montesquieu eine Naturgesetzlichkeit: Es ist die Natur, die aufgrund dieser Aussichten den Menschen fleißig mache 86 . Montesquieu anerkennt durchaus die Bedeutung einer Mechanisierung der Produktion, er sieht aber hierfür auch Grenzen. Das Entscheidende ist für i h n die Beschäftigung des Menschen, nicht das Ergebnis der Produktion. Sollte bei einer Ware der Preis zur Zufriedenheit von Produzenten und Verbrauchern sein, so würde er den Einsatz von Maschinen ablehnen, die eine Vielzahl von Menschen arbeitslos machen würden 8 7 . Die Wertschätzung der Arbeit, die ganz dem neuzeitlichen, „bürgerlichen" Arbeitsethos entspricht, zeigt sich auch i n Montesquieus Einstellung zu christlich-mittelalterlich geprägter Wohltätigkeit: „ u n homme n'est pas pauvre parce qu'il n'a rien, mais parcequ'il ne travaille pas." Der Staat erfülle seine Fürsorgepflicht für seine Bürger nicht durch Almosen, sondern indem er ihnen Arbeit gibt. Ausdrücklich 85

Ibid. E d L X I I I , 2; 1/1, S. 286 f.; dies gilt für alle Gesellschaftsformen. I n der L i t e r a t u r w i r d bisher n u r auf die Republik m i t der „triade nature — bonheur — frugalité" verwiesen, durch die sich Montesquieu gegenüber dem Spek u l a n t e n t u m zugunsten gediegenen Wirtschaftens abheben wolle, vgl. Ehrard: Idée, S. 581; ebenso n u r auf die Republik verweist Keohane, S. 388, die die Montesquieusche Darstellung der Republik m i t den protestantischen Idealen, w i e sie von M a x Weber untersucht wurden, i n Verbindung bringen w i l l . Das ist m. E. nicht ganz richtig: Die Montesquieusche Darstellung der Republik geht ökonomisch eher i n Richtung eines Staatssozialismus. Sie betont die persönlichen Einschränkungen nicht als ein M i t t e l der Kapitalanhäufung zu Zwecken der Investition; sie sind Selbstzweck u n d nicht M i t t e l zur Ausweitung der Geschäfte. 87 E d L X X I I I , 15; 1/2, S. 54; hier steht unser A u t o r am Beginn einer T r a dition, die sowohl als sozialistische als auch als romantisch-konservative K r i t i k auftreten kann: Vgl. Buonarroti , S. 189: Maschinen sollen die Mühe nehmen, nicht aber die A r b e i t abschaffen; vgl. weiter Maxime Leroy: Retour à Montesquieu. I n : Hommes et mondes. 3 (1948), S. 408—419, 414, der neben der Beziehung zu Babeuf auf die zu Saint-Simon, Fourier, Sismondi, Considérant u n d Proudhon verweist. F ü r die andere Seite: Adam Müller: Die Elemente der Staatskunst. Sechsunddreißig Vorlesungen. Meersburg 1936 (Nachdruck B e r l i n 1968), S. 308: „da alle absolut mechanische u n d handwerksartige A r beit dem Menschen unanständig u n d unnatürlich i s t . . 86

I. Zeit und Raum wendet Montesquieu sich gegen die alte Institution der Armenhäuser, die die Menschen nur von der produktiven Arbeit abhielten 88 . Somit w i r d erst i n zweiter Linie interessant, inwieweit Montesquieu Landwirtschaft oder Gewerbe als Grundlage des Volksreichtums ansieht. Entscheidend sind für ihn die Menschen, sie bestimmen das Wohlergehen einer Gesellschaft. Nach Montesquieus Auffassung gibt der Boden zum Beispiel immer so viel her, wie von i h m verlangt wird. Unfruchtbarkeit zwinge die Menschen zum Fleiß, „ i l faut bien qu'ils se procurent ce que le terrein leur refuse" 89 . I m übrigen überträgt sich diese aktive Einstellung der Natur gegenüber auch auf das Verhalten innerhalb des politischen Systems. Länder, die durch den Fleiß der Menschen gestaltet werden, haben nach Auffassung unseres Autors auch ein gemäßigtes politisches System. Ein Beispiel dafür ist Holland 9 0 . So teilt er auch die Landwirtschaft je nach der Arbeitsintensität ein. Die Weidewirtschaft ernähre die wenigsten Menschen 91 , sie ist die W i r t schaftsform der barbares 92 ; am arbeitsintensivsten, und daher von Montesquieu bevorzugt, ist der Reisanbau. I m folgenden kommt Montesquieu, nachdem die Ausführungen zur Frage der Arbeit allgemeine ökonomische Gesetzmäßigkeiten i m Auge hatten, auf seine Typenlehre zurück. I n den antiken Republiken, wo Grund und Boden gleichmäßig verteilt waren, verzehrte jedermann die Früchte seiner Arbeit selber. Heute dagegen, und hier hat Montesquieu insbesondere die Monarchie i m Auge, produziere die Landwirtschaft mehr, als die Bauern benötigten. Bei dieser Unterscheidung klingt die Sombartsche Trennung zwischen Bedarfsdeckungs- und Erwerbsprinzip an, m i t der der Unterschied zwischen dem wirtschaftlichen Verhalten der Menschen i n Vergangenheit und Gegenwart charakterisiert werden soll. Jedoch w i l l Montesquieu dieses Wirtschaftsverhalten nicht unbedingt zeitlich unterschieden wissen. Beide Formen — Bedarfsdeckungs· und Erwerbsprinzip — kommen zu allen Zeiten vor; dem Idealtypus der Republik entspricht zwar eher die Bedarfsdeckung, was jedoch nicht ausschließt, daß zum Beispiel während der Verfallszeit Roms durchaus nicht nach dem Bedarfsdeckungsprinzip gewirtschaftet wurde 9 3 . Montesquieu sieht i n dem Abkommen von diesem Grundsatz 88 E d L X X I I I , 29; 1/2, S. 79; an dieser Stelle betont Dedieu: Montesquieu, S. 233 die „tendances socialistes" unseres Autors. 89 E d L X V I I I , 4; 1/1, S. 381. 90 E d L X V I I I , 6; 1/1, S. 382 f.; zum Montesquieuschen Begriff der gemäßigten Regierungsform siehe weiter unten. 91 E d L X X I I I , 14; 1/2, S. 52. 92 E d L X V I I I , 11; 1/1, S. 386. 93 E d L V I I , 2; 1/1, S. 131; darauf weist auch Walter Euchen: Die Grundlagen der Nationalökonomie. 1. A u f l . Jena 1940, S. 236 f. hin.

7 Clostermeyer

8

C. Strukture des Esprit des lois

i n der Landwirtschaft den Ursprung des Gewerbes. U m den Bauern einen Gegenwert für ihre landwirtschaftliche Produktion zu geben, mußten neue Bedürfnisse geschaffen werden, die von den Handwerkern befriedigt werden konnten. Insoweit ist die Landwirtschaft noch Montesquieus Auffassung historisch die Voraussetzung von Gewerbe und Handel 94 . Hier vertritt Montesquieu, jedenfalls i n einem Teilbereich, die bekannte physiokratische These von der Landwirtschaft als Quelle des Reichtums. Produktion, die nur den Bedarf deckt, und Produktion, die weiterem Erwerb dient, haben ihre Entsprechung auch i n der Welt des Handels. Es gibt hier nach Montesquieu einerseits einen commerce d'économie, andererseits einen commerce de luxe. Dieselbe Unterscheidung macht Montesquieu i n den zwei Arten des Verbrauchs: Luxus ist derjenige Verbrauch, der über den notwendigen Lebensunterhalt, „le nécessaire physique" hinausgeht 95 . Hatte Montesquieu die Rolle der Arbeit für den Menschen allgemein hervorgehoben, so stellt er ausführliche Überlegungen über den Nutzen des Luxus i m Hinblick auf die Monarchie an. Nachdem die Mittel für ein Luxusleben immer nur darauf beruhen können, daß anderen Leuten ein Stück von ihrem Lebensunterhalt weggenommen wird 9 6 , so sind Luxusausgaben nach Montesquieu wiederu m nötig, u m sie vor dem Hungertode zu bewahren. Hier klingt der Gedanke der „private vices, public benefits" an 97 . Montesquieu hält entsprechend dem Prinzip des honneur diesen Luxus i n der Monarchie für notwendig, ebenso i n der Despotie. Die Unsicherheit der Verhältnise dort verhindert langfristiges Planen, man lebt nur für den Augenblick 9 8 . Weiter setzt Montesquieu die Religion i n Beziehung zu den verschiedenen Typen von Gesellschaften. Grundsätzlich lehnt Montesquieu den Β ayleschen Gedanken, wonach der Atheismus für eine Gesellschaft weniger schädlich sei als eine schlechte Religion, ab 99 . Montesquieu geht 94 Devletoglou: Montesquieu, S. 5. « E d L V I I , 1; 1/1, S. 128. 96 E d L V I I , 4; 1/1, S. 133. 97 Vgl. dazu: Mandevilles Bienenfabel (Ed. Otto Bobertag) München 1914, S. 16: „Der Geiz, dies scheusslich böse Laster / — Keins ist fluchwürdiger u n d verhasster —, / W a r Sklav' der nobelsten der Sünden, / Verschwendung; durch den Luxus finden / M i l l i o n e n A r m e r sich erhalten, / Auch durch den Stolz, den alle schalten. / Nicht minder dient der Neid sowie / Die Eitelkeit der Industrie." 98 Z u diesen beiden Typen v o n Wirtschaftsauffassung vgl. Euchen, S. 249. 99 E d L X X I V , 2; 1/2, S. 81; vgl. Bayle, S. 250 ff. A l l g e m e i n zur Montesquieuschen Auffassung der Rolle der Religion: Jean Carayon: Essai sur les rapports du pouvoir politique et d u pouvoir religieux chez Montesquieu (Thèse Théol. Prot. Paris) Montbéliard 1903; Louis Gérard-Varet: Montesquieu et le rôle social de la religion d'apprès l'Esprit des Lois. E x t r a i t d'un

I. Zeit u n d Raum

99

ü b e r die f ü r die A u f k l ä r u n g typische E n t l a r v u n g d e r R e l i g i o n als V o r u r t e i l h i n a u s 1 0 0 . E r v e r s u c h t jedoch, i n s o w e i t ebenfalls t y p i s c h a u f k l ä r e risch, i n f r e m d a r t i g e n r e l i g i ö s e n V o r s c h r i f t e n eine r a t i o n a l d a r l e g b a r e „ V e r n u n f t " z u f i n d e n 1 0 1 . H a u p t s ä c h l i c h aber befaßt er sich, o h n e n a c h d e r „ W a h r h e i t " e i n e r R e l i g i o n z u fragen, m i t i h r e r sozialen K o m p o nente. R e l i g i o n ist f ü r M o n t e s q u i e u e i n T e i l g e b i e t der Gesellschaft, das ebenso O b j e k t

d e r wissenschaftlichen

U n t e r s u c h u n g ist w i e

andere

Bereiche des Gesellschaftlichen. E r ist sich — als A u f k l ä r e r — v i e l e r n e g a t i v e r S e i t e n d e r R e l i g i o n b e w u ß t , i m Gegensatz z u a n d e r e n w i l l er j e d o c h i h r e i m H i n b l i c k a u f die Gesellschaft p o s i t i v e n F u n k t i o n e n u n t e r s u c h e n : „Chose a d m i r a b l e ! l a r e l i g i o n chrétienne, q u i ne semble a v o i r d ' o b j e t que l a f é l i c i t é de l ' a u t r e v i e , f a i t encore n o t r e b o n h e u r dans c e l l e - c i 1 0 2 . " M o n t e s q u i e u b e t o n t besonders i h r e R o l l e f ü r die S t a b i l i t ä t d e r Gesellschaft. I m Gegensatz z u m I s l a m w i d e r s p r e c h e n seiner A u f f a s s u n g nach d i e c h r i s t l i c h e n D o g m e n d e m Despotismus, w o h i n g e g e n d e r I s l a m die dieser Gesellschaftsform entsprechende R e l i g i o n i s t 1 0 3 . W i e d e r i m Gegensatz z u cours sur les fondateurs modernes de la sociologie. I n : Revue bourguignonne de l'enseignement supérieur. X I (1901), S. 123—145; Roger B. Oake: Montesquieu's religious ideas. I n : Journal of the history of ideas. X I V (1953), S. 548 bis 560, 551 weist darauf hin, daß auch die aus utilitaristischen Gründen positive Einschätzung der sozialen Rolle der Religion einen Bruch m i t der Vergangenheit darstellt. Früher w a r die Religion das Primäre, das keine soziale Rechtfertigung brauchte. Die andere Einschätzung der Religion nocli i n den Lettres persanes betont Jacques Solé: Montesquieu et la Régence. I n : La Régence. Paris 1970 (Centre A i x o i s d'études et de recherches sur le d i x huitième siècle) S. 125—130, 126, der i n den Lettres persanes „ u n extrait du Dictionnaire de Bayle à l'usage du monde" sieht; auch Jean-Marie Thomasseau: Montesquieu u n d die Toleranz. I n : Gewissen u n d Freiheit (1977), Nr. 8, S. 24—33 betont den Wandel zwischen den Lettres persanes u n d dem Esprit des lois. Vgl. auch Sergio Cotta: Le rôle politique de la religion selon M o n tesquieu. I n : Mélanges offerts à Jean Brèthe de la Gressaye par ses collègues, ses élèves et ses amis. Bordeaux 1967, S. 123—140. Die Übereinstimmung i n Fragen der Religion m i t dem anglikanischen Bischof Warbuton einerseits u n d dem Freidenker Mandeville andererseits bemerkt Dedieu: Tradition, S. 248—260; auch John Locke, eine weitere Übereinstimmung, wandte sich gegen eine Tolerierung v o n Atheisten. Unter dem Gesichtspunkt des Staatsvertrags stellen diese eine „vivante objection" dar, vgl. Ch. Bastide: John Locke. Ses théories politiques et leur influence en Angleterre. Paris 1907, S. 250. 100 Diesen Gedanken h i n g Montesquieu i n seiner Jugend noch an, vgl. seine „Dissertation sur la politique des romains dans la religion" i n seinen Oeuvres complètes I I I , S. 37—50. 101 So w i l l er ζ. Β. die heiligen Kühe Indiens durch die Absicht erklären, i n diesem ungünstigen K l i m a eine ausreichende A n z a h l von Rindern für die Feldarbeit zu erhalten; weiter versucht er das Verbot, Schweinefleisch zu essen, sowie die heiligen Waschungen zu erklären, E d L X X I V , 24 ff.; 1/2, S. 103 ff. 102 E d L X X I V , 3; 1/2, S. 83. 103 E d L X I X , 18; 1/1, S. 426. 7*

C. Strukture des Esprit des lois Pierre Bayle 1 0 4 hält Montesquieu insbesondere das Christentum für eine gute Grundlage für das gesellschaftliche Zusammenleben. Der Katholizismus entspreche dabei mehr den monarchischen Gesellschaften des Südens, die Lehre Luthers solchen des Nordens, während der Calvinismus für die Republiken geeignet sei 105 . Montesquieu stellt die Religion i n ein umfassendes System der sozialen Kontrolle, das Religion, Ethik und Gesetzgebung umfaßt, wobei alle drei Faktoren sich gegenseitig ergänzen 106 . Ein Faktor kann dabei mangelhaftes Funktionieren der beiden anderen ausgleichen 107 . So hält Montesquieu die Prädestinationslehre des Islam für gesellschaftlich schädlich — eine allgemeine Trägheit sei ihre Folge. Deshalb müssen die Gesetze korrigierend eingreifen 108 . Umgekehrt kann auch die Religion bei zerrütteten gesellschaftlichen Zuständen ausgleichend wirken. Diese Funktionalität einer Religion i n bezug auf ein bestimmtes gesellschaftliches Umfeld verhindert nach Montesquieus Auffassung dauernde Erfolge bei der Missionierung. Eine Religion t r i f f t hier auf eine völlig andersartige Umwelt, i n die sie i n den seltensten Fällen paßt 109 . Ein weiteres Teilsystem der von Montesquieu weit verstandenen Gesellschaftstypen ist das politische System. Da die Literatur weitestgehend die Montesquieuschen espèces de gouvernement als Staatsformen interpretiert, gerät sie bei der Analyse der Bücher X I und X I I des Esprit des lois i n erhebliche Schwierigkeiten. Kann die Teilung i n Republik — Monarchie — Despotie noch als, wenn auch originelle, Wiederaufnahme der antiken Staatsformenlehre interpretiert werden, so v e r w i r r t sich der Zusammenhang i n diesen Büchern anscheinend vollends: Die Frage der Gewaltenteilung oder der Mischverfassung scheint die ganzen Ausführungen zu den „Staatsformen" gegenstandslos zu machen. A n dieser Stelle setzen dann auch verschiedene Spielarten einer Schichtungsthese an, die diese Bücher einem späteren Zeitabschnitt als die ersten Bücher des Werkes zuordnen w i l l : Der Eindruck 104 u n d Jean-Jacques Rosseau: Contrat social I V , 8; S. 177, der der Auffassung ist, daß die christlichen Moralvorstellungen, einmal i n die Praxis u m gesetzt, jedes gesellschaftliche Zusammenleben unmöglich machen würden. S. 173 k r i t i s i e r t er auch die Schwächung der weltlichen A u t o r i t ä t durch die Kirche, hier ausdrücklich Bezug nehmend auf Thomas Hobbes. Allgemein zum Verhältnis v o n Montesquieu u n d Bayle vgl. Cinderella Ann Madison : Bayle and Montesquieu: toward the age of revolution (Ph. D.) Columbia U n i versity 1971. 105 E d L X X I V , 5; 1/2, S. 85 f. 106 E d L I, 1; 1/1, S. 4. 107 E d L X X I V , 11; 1/2, S. 91. 108 E d L X X I V , 14; 1/2, S. 93. 109 E d L X X I V , 3; 1/2, S. 83; X X V , 15; 1/2, S. 125.

I. Zeit und Raum

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von den realen italienischen Republiken habe die Ausführungen über diese „Staatsform" zunichte gemacht und die Anschauung der englischen Verhältnisse ein neues Ideal i n Montesquieu erzeugt 110 . Eine der neueren Arbeiten über Montesquieu versucht dieses Problem zu lösen, indem sie den Begriff der modération als „Tiefenstruktur" 1 1 1 , die die „Oberflächenstruktur" seines politischen Denkens steuere, herausstellt. Mäßigung erscheint als „eine den Kriterien der Staatstypologie übergeordnete Kategorie" 1 1 2 , die anscheinend so verschiedene Systeme wie die englische und französische Monarchie i n der Weise verbinde, daß beide nur „zwei Variationen des gleichen Prinzips" 1 1 3 seien. Dies erkläre Montesquieu aus dem gemeinsamen Ursprung beider Verfassungen i n der germanischen Frühzeit. Kuhfuss bringt seine Theorie sodann m i t der alten Lehre der Mischverfassung i n Beziehung, deren Inhalt die Verteilung der Macht auf verschiedene soziale Gruppen ist 1 1 4 . Diese Aufteilung geschehe i n England zwischen König, Hochadel und commons, i n Frankreich zwischen dem König und den Ständen. Kuhfuss versucht, die Herkunft dieses Gedankens der Mäßigung aus der Tradition der französischen Parlamente herzuleiten, die ihre eigene Lebenshaltung des rechten Maßes auf den politischen Bereich projiziert hätten. Montesquieu nun „sublimiert das gruppenspezifische Verhaltensmuster der Mäßigung zur generellen politischen Norm" 1 1 5 . Meiner Ansicht nach verhält es sich mit dieser Beziehung von Tiefenund Oberflächenstruktur etwas anders: Der Gegensatz von gouverne110 Statt vieler vgl. die A r b e i t v o n Struck, S. 221, der den angeblichen Widerspruch zwischen Buch X I u n d den ersten Büchern des Werkes betont; vgl. weiter die Analyse des Manuskriptes durch Shackleton, S. 285, der darauf hinweist, daß Buch X I kurz nach Montesquieus England-Aufenthalt geschrieben wurde. Über die Enttäuschung Montesquieus bezüglich der realen Republiken vgl. ibid., S. 274.

111

112

Kuhfuss, S. 13.

Ibid., S. 149. 113 Ibid., S. 152. 114 Gegen diese Auffassung: Shackleton, S. 298 ff.; ebenso schon i n ders.: Montesquieu, Bolingbroke, and the separation of powers. I n : French studies. I l l (1949), S. 24—38, 37; Shackleton geht aber v o n einer äußerst speziellen Definition der Theorie der Mischverfassung aus; m i r scheint das Entscheidende hier jedoch zu sein, daß Montesquieu zwar durchaus Staatsfunktionen sieht, diese aber auf verschiedene soziale Gruppen aufteilen w i l l . Insoweit w i r d ganz sicher der Gedanke des status m i x t u s fortgeführt. I n der Folgezeit hat sich dieser Gedanke Montesquieus jedoch verwischt. Der Gedanke abstrakter Gleichheit findet insbesondere i m Syndikalismus des 19. Jahrhunderts seine K r i t i k : vgl. statt vieler: Hubert Lagardelle: Le socialisme ouvrier. Paris 1911, S. 59, der das Prinzip der reellen Differenzierung statt abstrakter Gleichheit i n der démocratie ouvrière betont. 115 Kuhfuss, S. 212; ebenso sieht Montesquieu i n dieser Rolle: Franklin L. Ford: Robe and sword. The regrouping of the french aristocracy after Louis X I V . Cambridge Mass. 1953 (Harvard historical studies. 64), S. 245.

C. Strukture des Esprit des lois ment modéré und gouvernement despotique stellt nicht die Struktur des Werkes dar, sondern ergänzt nur, wie auch die Ausführungen zu Erziehung, Ökonomie und Religion, die zu Anfang des Werkes vorgestellte Gesellschaftstypenlehre. Für diese Auffassung spricht zum einen ein durchaus „äußerlicher" Grund. Es scheint äußert unwahrscheinlich, daß die Essenz des Denkens unseres Autors sich an einer derart versteckten Stelle wie dem Buch X I finden sollte, während das Akzidenz dagegen den großen Anfang macht und immer wieder i m ganzen Werk aufgenommen wird. Auch i n der Aufzählung der Elemente, die den Geist der Gesetze bestimmen, rangieren an erster Stelle Natur und Prinzip der Regierung. Der „degré de liberté que la constitution peut souffrir" 1 1 6 w i r d dagegen erst weiter unten erwähnt. Die Ausführungen über Gewaltenteilung und die gemäßigte Verfassung sind nur eines der verschiedenen Elemente, die i n Beziehung zu den Gesellschaftstypen Montesquieus stehen. So wie Montesquieu für den Erziehungsbereich, die Wirtschaft und die Religion spezifische Unterscheidungen i n bezug auf seine drei Typen entwickelter Gesellschaften macht, so auch bezüglich des politischen Systems. Montesquieu verwendet für dieses den Begriff der constitution 117 . Ebenso wie die Despotie ein ihren Strukturprinzipien entsprechendes politisches System hat, haben auch Republik und Monarchie ihre spezifische constitution, wobei jeweils charakteristisch der Grad der Freiheit ist. Barbares und sauvages läßt unser Autor hier außer acht. Die „liberté de Thomme" ist bei diesen Völkern derartig groß, daß sie die politische Freiheit fast zwangsläufig nach sich zieht. Ein politisches System i n unserem Sinne gibt es bei ihnen nicht 1 1 8 . Es herrscht die „natürliche" Autorität der Alten und der Familie. Die constitution dagegen ist etwas „Künstliches". Entscheidendes Merkmal einer jeden constitution ist für Montesquieu, wie oben schon gesagt, der Grad der Freiheit, den sie den Bürgern gibt. Montesquieus Freiheitsbegriff unterscheidet zwischen einer „natürlichen" und einer „politischen" Freiheit 1 1 9 . Die letztere besteht, i m 116

E d L I, 3; 1/1, S. 9. Shackleton, S. 284 weist darauf hin, daß es sich bei diesem Begriff für die politische Ordnung u m „a neologism and an anglicism" gehandelt habe. Der Ausdruck allein sei bis zu Montesquieu n u r für die Bulle Unigenitus, die w i r oben schon i m Zusammenhang m i t der Auseinandersetzung m i t dem Jansenismus erwähnt haben, verwendet worden. 118 E d L X V I I I , 14; 1/1, S. 388. 119 Montesquieu bezeichnet die erstere auch als „liberté philosophique" (EdL X I I , 2; 1/1, S. 251) u n d b r i n g t sie m i t dem Glauben an die menschliche Willensfreiheit zusammen; als Strukturelement dieser Unterscheidung stellt Kuhfuss zu Recht das „unruhige Pendeln einer dialektisch Pragmatisches u n d Absolutes vermittelnden Denkbewegung" fest, vgl. Kuhfuss, S. 77. Diese 117

I. Zeit u n d Raum

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Unterschied zur natürlichen oder philosophischen Freiheit, nicht d a r i n z u t u n , w a s m a n w o l l e 1 2 0 , i m G e g e n t e i l , diese F r e i h e i t „est l e d r o i t de f a i r e t o u t ce que les l o i x p e r m e t t e n t " 1 2 1 . Montesquieu

greift

hier

auf

den

\

Staatsvertragsgedanken

zurück,

w e n n er b e t o n t , daß n u r e i n d u r c h Gesetze g e r e g e l t e r Z u s t a n d die F r e i h e i t i m gesellschaftlichen B e r e i c h h e r s t e l l e n k ö n n e , da ansonsten j e d e r das täte, w a s er w o l l e u n d d a d u r c h a l l e sich gegenseitig schaden w ü r den. Das E r g e b n i s eines d e r a r t i g e n gesetzlosen Zustandes w ä r e n a c h M o n t e s q u i e u s A u f f a s s u n g die V e r n i c h t u n g j e g l i c h e r F r e i h e i t e n . Montesquieu unterscheidet

z w e i Seiten der politischen

Freiheit122.

E i n m a l sieht er sie u n t e r d e m A s p e k t d e r V e r t e i l u n g d e r S t a a t s g e w a l t a u f verschiedene soziale Schichten, z u m a n d e r e n u n t e r e i n e m gleichsam „ p r i v a t e n " A s p e k t , aus d e r Sicht des e i n z e l n e n B ü r g e r s . A u t o r e n , d i e M o n t e s q u i e u als V e r t r e t e r ständischer F r e i h e i t e n sehen, b e t o n e n m e i s t M o n t e s q u i e u s A u s f ü h r u n g e n z u m e r s t e n A s p e k t seines F r e i h e i t s b e g r i f fes 1 2 3 . dialektische S t r u k t u r erscheint m i r überhaupt als das wesentliche M e r k m a l des Montesquieuschen Denkens, allerdings sehe ich, i m Gegensatz zu K u h fuss, die V e r m i t t l u n g an vielen Stellen nicht. Meiner Auffassung nach ist das Denken des Esprit des lois gerade durch das Vorhandensein einer Vielzahl nicht vermittelter u n d auch nicht vermittelbarer Gegensätze gekennzeichnet. 120 E d L X I , 3; 1/1, S. 205. 121 Ibid., S. 206; ebenso E d L X X V I , 20; 1/2, S. 153; dieser Freiheitsbegriff hat häufig K r i t i k erfahren, vgl. Lorenz v. Stein: Geschichte der sozialen Bewegung i n Frankreich v o n 1789 bis auf unsere Tage. 1: Der Begriff der Gesellschaft u n d die soziale Geschichte der französischen Revolution bis zum Jahre 1830. München 1921, S. 182, der Montesquieus Begriff der Freiheit k r i tisiert u n d bemerkt, daß er „keinen Begriff v o n einer freien, ihre Ordnung aus dem freien Besitz heraus erzeugenden Gesellschaft" gehabt habe. M o n tesquieu steht m i t seiner starken Betonung des Gesetzes i n einer spezifisch französisch-calvinistischen Tradition, vgl. dazu Carl Bernhard Hundshagen: Calvinismus u n d staatsbürgerliche Freiheit. Zürich 1946, S. 49, der betont, daß die calvinistische D o k t r i n „die I n d i v i d u e n der strengsten, rigorosesten Zucht des Gesetzes unterwarf". 122 Vgl. dazu: Richard Dietrich: „Prolem sine matrem creatam". U n t e r suchungen zum Begriff der Freiheit bei Montesquieu. I n : W i l h e l m Berges / Carl Hinrichs (Hrsg.): Z u r Geschichte u n d Problematik der Demokratie. Festgabe für Hans Herzfeld. B e r l i n 1958, S. 33—53; Andrzej N. Wróblewski: Dwie interpretacje Monteskiusza. I n : Panstwo i prawo. 32 (1977), S. 57—65. 123 Hier handelt es sich v o r allem u m marxistisch geprägte Autoren: vgl. Althusser , S. 109 ff.; ders.: Despot et monarque chez Montesquieu. I n : Esprit. N. S. 26 (1958), S. 595—614, 609; Werner Krauss: Die Entstehungsgeschichte v o n Montesquieus „Esprit des lois". I n : ders.: Studien zur deutschen u n d französischen Aufklärung. B e r l i n 1963 (Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft. 16), S. 241—272, 271; Albert Mathiez: L a place de Montesquieu dans l'histoire des doctrines politiques du X V I I I e siècle. I n : Annales historiques de la révolution française. 7 (1930), S. 97—112, 106 ff.; aber auch Struck, S. 127 bezeichnet Montesquieu als einen „ausgesprochenen Reaktionär", er zeige „jene Härte des Herzens, die dem Ständetum eigentümlich ist; v o n w a h r haftem Liberalismus ist da keine Ader i n i h m " ; daß auch v o n marxistischem

C. Strukture des Esprit des lois Jedoch stellen auch diese Ansätze einen Fortschritt gegenüber der herkömmlichen Montesquieu-Interpretation dar, die den Gewaltenteilungsgedanken glaubt isoliert behandeln zu können, ohne i h n i n den weiteren Zusammenhang seiner Theorie von Staat und Gesellschaft zu stellen 1 2 4 . Montesquieu untersucht allgemein das gemäßigte System der abendländischen Monarchie, die englische Verfassung ist dabei nur ein Anwendungsfall. Gemeinsame Wurzel dieser Verfassungen ist die germanische Frühzeit, über das englische System schreibt er: „Ce beau système a été trouvé dans les bois" (Germaniens) 125 . Das Gegenstück hierzu ist das französische „gouvernement gothique", das durch den Zusammenklang der verschiedenen Stände gekennzeichnet war: „la liberté civile du peuple, les prérogatives de la noblesse & du clergé, la puissance des rois se trouvèrent dans u n tel concert" 126 . Ausdrücklich kommt es Montesquieu bei der gemäßigten Monarchie nicht allein auf die Institution des Königs an. Sie ist eine zwar notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung für diese gemäßigte Monarchie. Montesquieu kritisiert i n diesem Zusammenhang Aristoteles, der sowohl das Persische Reich als auch Sparta unter die Monarchien eingeordnet hatte. Zwar hätten beide Staaten einen König gehabt, jedoch — und hier zeigt sich wieder, daß Montesquieu von Gesellschafts- und nicht von Staatsformen ausgeht — handelte es sich nach seiner Auffassung bei Persien um eine Despotie, bei Sparta u m eine Republik. Der König ist bei Montesquieu nur Teil einer monarchisch-gemäßigten Verfassung 127 , sie besteht keinesfalls nur aus i h m allein. Entscheidend für den Charakter einer gemäßigten Verfassung ist für Montesquieu die Verteilung der drei Staatsfunktionen auf verschiedene soziale Schichten, wobei er i n der Monarchie den König neben den Adel und das Volk stellt. Bei der gemäßigten Verfassung des alten Roms ist für Montesquieu das Gleichgewicht zwischen Patriziat und Plebs i n der Ausübung der Staatsfunktionen bedeutsam. Ein Gegenbeispiel stellt dann der Verfall des alten Rom dar, der für ihn m i t den Gracchen beginnt: „Iis choquèStandpunkt eine andere Einschätzung Montesquieus möglich ist, zeigt die interessante A r b e i t v o n Ferdinand Boura: La signification historique de l'oeuvre de Montesquieu. I n : B u l l e t i n de droit tchécoslovaque. 13 (1955), S. 3 bis 44, 38, der der Auffassung ist, die Theorien Montesquieus „temoignent sans aucun doute de ses sympathies pour le capitalisme naissant." Vgl. Kurt v. Raumer: Absoluter Staat, korporative Libertät, persönliche Freiheit. I n : Historische Zeitschrift. 183 (1957), S. 53—96, der die antiabsolutistische Tendenz altständischen Denkens betont u n d i n i h m auch eine W u r zel bürgerlicher Freiheit sieht. 124 Anders Forsthoff, S. X X X , der insbesondere auf die „soziale Plazierung" der Gewalten bei Montesquieu verweist. 125 E d L X I , 6; 1/1, S. 221. 126 E d L X I , 8; 1/1, S. 223 f. 127 E d L X I , 10; 1/1, S. 225.

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rent donc la liberté de la constitution, pour favoriser la liberté du citoyen; mais celle-ci se perdit avec celle-là 128 ." Entscheidend w i r d für Montesquieu der Verlust der richterlichen Gewalt des Senats. Boten früher die altrömischen Institutionen dem „délire de la liberté" 1 2 9 Widerstand, so war nun das kunstvolle System von Macht und Gegenmacht gestört. Auch i n den zeitgenössischen Republiken Italiens stellt Montesquieu eine Vereinigung der drei Gewalten fest. Dadurch entstand dort ein despotisches — hier i n der Bedeutung also eines nicht-gemäßigten — System, das nurmehr durch „des moyens aussi violens que le gouvernement des Turcs" 1 3 0 aufrechterhalten werden könne. Die andere Seite der Freiheit i m gesellschaftlichen Zustand stellt für Montesquieu die Sicherheit, oder wenigstens das Gefühl der Sicherheit, der Bürger dar 1 3 1 . Unser Autor sieht zwischen dieser „bürgerlichen" und der „konstitutionellen" Freiheit eine Wechselbeziehung. I m Idealfall wirken beide zusammen, Montesquieu sieht auch die Bedingtheit der einen Seite der Freiheit durch die andere 132 . Er bemerkt, daß zwischen Verfassung und tatsächlicher Übung auch Unterschiede bestehen können. Zum einen könne die Verfassung zwar freiheitlich, die Bürger i n Wirklichkeit aber unfrei sein, aber auch der umgekehrte Fall sei denkbar 133 . Wichtig ist auch der Montesquieusche Gedanke, daß es keine Ausnahmen von der Freiheit geben könne und dürfe: Die Freiheit jedes einzelnen Bürgers ist für unseren Autor Teil der staatlichen Freiheit 1 3 4 . 128

E d L X I , 18; 1/1, S. 243. E d L X I , 16; 1/1, S. 235. 130 E d L X I , 6; 1/1, S. 209. 131 E d L X I I , 2; 1/1, S. 251; Arnold Gehlen: M o r a l u n d Hypermoral. Eine pluralistische Ethik. 2. Aufl. F r a n k f u r t a. M . — B o n n 1970, S. 101 zitiert diese Gleichsetzung von Freiheit u n d Sicherheit für „institutionelle Stabilität"; auf diese institutionellen Wurzeln der Freiheit bei Montesquieu verweist auch Goyard-Fabre, S. 293 unter Hinweis auch auf Tocqueville; daß Montesquieu die I n s t i t u t i o n u n d nicht das I n d i v i d u u m i n den Vordergrund stelle, betont auch Bernard Groethuysen: Philosophie de la révolution française précédé de Montesquieu. 6e éd. Paris 1956, S. 62; unter diesem Gesichtspunkt schränkt Rosso: Montesquieu moraliste, S. 181 die Bedeutung der Freiheit für Montesquieu ein. F ü r i h n stehe das Glück der Menschen i m Vordergrund, ein freies V o l k könne unglücklich, ein unfreies glücklich sein, w e n n es n u r das Gefühl der Sicherheit habe (S. 187). Die Freiheit habe bei Montesquieu i m m e r noch einen zusätzlichen positiven Gehalt nötig: Glück oder Tugend (S. 189). „Sans doute la liberté est-elle une condition du bonheur: mais elle n'est pas une condition toujours nécessaire, et surtout, elle n'est pas suffisante." 129

132 Vgl. Fn. 128; hierauf verweist auch Charles Oudin: Le spinozisme de Montesquieu. Etude critique. Paris 1911 (Réimp. Genève 1971), S. 9. 133 E d L X I I , 1; 1/1, S. 250. 134 E d L X V , 2; 1/1, S. 327: „ L a liberté de chaque citoyen est une partie de la liberté publique. Cette qualité, dans l'état populaire, est même une partie

6

C. Strukture des Esprit des lois

Montesquieu betont, für das Gefühl der — institutionellen — Sicherheit sei mehr als eine gute Gesetzgebung nötig. Erst i n Verbindung m i t Sitten, Gebräuchen und Leitbildern entstehe das Gefühl der Sicherheit und damit verbunden, die Freiheit. Hier scheinen sich Ansätze zur Entwicklung des Gedankens der „bürgerlichen Gesellschaft" des 19. Jahrhunderts zu zeigen. Man kann an dieser Stelle das Vertrauen i n die Selbstregulierungsfähigkeit der Gesellschaft erkennen, wie es für die theoretische Formulierung des Liberalismus wichtig wurde: A m besten funktioniert diese Gesellschaft unabhängig vom Staat, der ihr nur den äußeren Rahmen garantieren muß 1 3 5 . Es gibt für Montesquieu zwei Bereiche, i n denen der Staat i n die Sphäre des Bürgers eingreift. Dies ist zum einen das Gebiet des Strafrechts, zu dem Montesquieu auch das Polizeirecht zählt, zum anderen das des Steuerrechts. Montesquieus erste Intention für den strafrechtlichen Bereich ist die Beseitigung jeglicher W i l l k ü r 1 3 6 . Wichtig ist zuallererst eine klare Abfassung der Gesetze. Jeder soll genau wissen, was er t u n darf und was er lassen muß 1 3 7 . Der Richter hat, jedenfalls i n gemäßigten politischen Systemen, nur der „bouche qui prononce les paroles de la l o i " 1 3 8 zu sein. Sicherheit des Bürgers w i l l Montesquieu auch durch schärfste Anforderungen an den Beweis erreichen. Jedoch bleibt er nicht bei einer verfahrensmäßigen Sicherheit stehen, auch der Inhalt der Strafen muß der A r t des Vergehens angepaßt sein 139 , u m so der Gefahr der W i l l k ü r von Seiten des Gesetzgebers zu begegnen. Montesquieu w i l l ζ. B. als naturgemäße Strafe für Vergehen gegen die Religion die Ausstoßung aus der Religionsgemeinschaft. Solange die allgemeine Öffentlichkeit nicht durch seine Tat berührt wird, hat der Staat nicht einzugreifen. Vergehen gegen die Sitten sollen nach Montesquieus Auffassung ebenfalls gesellschaftlich geahndet werden. Ächtung und Ausstoßung aus der Gemeinschaft sind die passende Reaktion. Montesquieu weist i n diesem Zusammenhang darauf hin, daß sexuelle Verfehlungen ihren Keim häufig i n bestimmten gesellschaftde la souveraineté." (Übrigens auch hier der Begriff der Souveränität, den ζ. B. Maier, S. 278 bei Montesquieu vermißt.) 135 Vgl. Wilhelm v. Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen. I n : ders.: Ausgewählte Schriften. B e r l i n o. J., S. 269—361, der die Frage zu klären versucht, i n w i e w e i t der Staat n u r die Sicherheit (!), oder aber den „positiven Wohlstand" (S. 283) seiner Bürger zu befördern habe. Sicherheit ist dabei für Humboldt — w i e für Montesquieu — die „Gewißheit der gesetzmäßigen Freiheit" (S. 347). 136 Hier ist Montesquieu typisch für aufklärerisches Denken, vgl. Michel Foucault: Überwachen u n d Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. F r a n k f u r t a. M. 1977, S. 133 ff. 137 E d L X X I X , 16; 1/2, S. 283 ff. 138 E d L X I , 6; 1/1, S. 217. 139 E d L X I I , 4; 1/1, S. 253 ff.

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liehen Einrichtungen selber haben 140 . Vergehen gegen die Ruhe w i l l Montesquieu nur polizeilich verfolgt wissen, lediglich Vergehen gegen die Sicherheit der Bürger verdienen die Sanktionen des Strafrechts. Auch hier gilt der Grundsatz der Natur der Sache, i n der Form eines milden Talions 141 . Weiter darf überhaupt nur eine Handlung bestraft werden, da nur durch sie der Frieden der Gesellschaft gestört wird 1 4 2 . Straffrei bleiben Gedanken, unbedachte Reden und i m wesentlichen auch Schriften. Weiter wendet sich Montesquieu gegen die Statuierung von Handlungspflichten i m Strafrecht. I n einem gemäßigten politischen System ist nach Montesquieu der Gedanke der Prävention dem Sühnegedanken vorzuziehen 143 . Insgesamt stellt er eine Korrelation zwischen der Schwere der Strafen und dem Grad der Freiheit auf — Milde herrsche nur i n gemäßigten Regierungsformen. Montesquieu geht davon aus, daß es primär auf einen gesunden gesellschaftlichen Zustand ankomme, Strafen haben für i h n nur eine sekundäre Funktion. Er betont dabei die gleiche Wirkung eines harten wie eines milden Straf systems. Er plädiert für Sparsamkeit i n der Wahl der Mittel und weist darauf hin, daß die Einführung einer härteren Strafe vielleicht anfangs die Kriminalität verringere, diese sich aber bald wieder auf den alten Stand einpendeln werde 144 . Wichtig ist für i h n besonders das Verhältnis der Strafen zueinander. Es muß ein richtiges Verhältnis zwischen den Strafdrohungen der einzelnen Tatbestände bestehen, Montesquieu warnt davor, bei leichteren Vergehen gleich hohe Strafen einzusetzen. Steuern sind das zweite wichtige Instrument, m i t dem der Staat i n die Privatsphäre eingreift. Gerade zur Aufrechterhaltung der bürgerlichen Sicherheit muß der Staat m i t Mitteln versorgt werden. Montesquieu weist jedoch darauf hin, daß diese Mittel nur für die „besoins réels" der Gesellschaft („peuple") und nicht für die „besoins de l'état imaginaires" 1 4 5 eingesetzt werden dürfen. Auch an dieser Stelle erscheint wieder der Gegensatz zwischen Staat und Gesellschaft unter Betonung des Gesellschaftlichen als dem eigentlich Entscheidenden. Montesquieu zählt zu den „eingebildeten Bedürfnissen" des Staates eine unverhältnismäßige Rüstung 146 . Das wichtigste K r i t e r i u m bei der 140

E d L X I I , 6; 1/1, S. 258 f. E d L V I , 19; 1/1, S. 124. 142 E d L X I I , 11 ff.; 1/1, S. 264 ff: „Les paroles ne forment point u n corps de délit." (S. 264.) 143 E d L V I , 9; 1/1, S. 110. 144 E d L V I , 12; 1/1, S. 113. 14 5 E d L X I I I , 1; 1/1, S. 285. 146 „Une maladie nouvelle s'est répandue en Europe, elle a saisi nos princes, & leur fait entretenir u n nombre désordonné de troupes." E d L X I I I , 17; 1/1, S. 300. 141

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C. Strukture des Esprit des lois

Steuererhebung ist der wirkliche Bedarf des Staates; Montesquieu wendet sich gegen ein Auspressen der Bürger bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit und w i l l den Staat auf das Nötigste beschränken. Die Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft erklärt sich bei Montesquieu durch die Personifizierung des Staates i m Fürsten, dessen „passions & les foiblesses" diese imaginären Bedürfnisse, „les besoins de leurs petites ames" hervorbringen 1 4 7 . Die Gesellschaft ist von der Teilhabe am Staat ausgeschlossen und sieht ihn i m Gegensatz zu ihren eigenen Interessen. Auch hier herrscht wieder die Vorstellung einer naturgesetzlichen Selbstregulation der Gesellschaft. Die Natur macht die Menschen m i t der Aussicht auf höheren Verdienst durch größere Mühen fleißig; wenn die Steuern zu stark belasten, w i r d diese Naturgesetzlichkeit gestört und der Mensch fällt i n einen Zustand des Widerwillens gegen die Arbeit zurück 148 . Als „règle générale" stellt er fest, daß die Abgaben u m so höher sein können, je mehr Freiheit die Untertanen genießen. Freiheit und Steueraufkommen ergänzen sich 149 . Zwei Gedanken stehen hinter dieser Aussage. Zum einen die Feststellung, daß eine gemäßigte, freiheitliche Regierung für Handel und Gewerbe günstiger ist, zum anderen die Vorstellung, daß der Bürger, der das Geld für sich und die Förderung seiner Bedürfnisse zu zahlen glaubt, eher bereit ist, eine höhere Summe abzugeben. 6. Holistischer oder individualistischer Ansatzpunkt I m folgenden soll die gesellschaftswissenschaftliche Theorie Montesquieus auf ihren Ausgangspunkt h i n untersucht werden. Als Ergebnis einer lebhaften Diskussion i n der Soziologie 150 kann eine grundlegende Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Erkenntnisprogrammen hinter den unterschiedlichen Richtungen dieser Wissenschaft festgestellt werden. Der von Emile Dürkheim klassisch formulierten These von der Gesellschaft als einer Realität eigener A r t steht eine Theorie gegenüber, die soziale Strukturen und Normen als das 147

E d L X I I I , 1; 1/1, S. 285. E d L X I I I , 2; 1/1, S. 286 f. 149 E d L X I I I , 12 ff.; 1/1, S. 295 ff. 150 v g l dazu die Arbeiten v o n Alfred Bohnen: Individualismus u n d Gesellschaftstheorie. Eine Betrachtung zu zwei rivalisierenden soziologischen E r kenntnisprogrammen. Tübingen 1975 (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften. 15) u n d Viktor Vanberg: Die zwei Soziologien. Individualismus u n d Kollektivismus i n der Sozialtheorie. Tübingen 1975 (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften. 17). 140

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Ergebnis von menschlichem Handeln versteht, das auf individuelle Ziele gerichtet ist. Der Ausgangspunkt Dürkheims ist mit aus seinem Anliegen, die Soziologie als selbständige Disziplin begründen zu wollen, zu erklären. Als Wurzel dieser A r t von Gesellschaftswissenschaft w i r d die spezifisch französische Spielart der Aufklärung mit ihrer Geschichtsphilosophie angesehen, i n der das Individuum nur Objekt einer über i h m stehenden bewegenden Macht ist 1 5 1 . Diese Linie verlaufe weiter über Saint-Simon und Auguste Comte h i n zu Durkheim und werde heute insbesondere von der funktionalistischen Theorie Talcott Parsons' gepflegt 152 . Der andere Ausgangspunkt w i r d von der individualistisch-utilitaristischen Konzeption markiert, wie sie von Bernard de Mandeville und den schottischen Moralphilosophen vertreten wird 1 5 3 . Für diese Theoretiker entsteht gesellschaftliche Struktur, ohne daß es dem Einzelnen darauf ankäme, aus einer „Verflechtung individueller Handlungen" 1 5 4 . Diese Tradition w i r d heute insbesondere von George C. Homans fortgesetzt, der soziale Interaktion als Austauschprozesse betrachtet und auf dieser Basis versucht, soziale Tatbestände zu erklären 1 5 5 . Es soll nun versucht werden, die Montesquieusche Gesellschaftslehre i n eine der dargestellten Denkrichtungen einzuordnen. Zum einen ist die Abhängigkeit Fergusons von Montesquieu nachgewiesen. Als er seinen „Essay on the history of civil society" 1766 herausbringen wollte, riet i h m Hume davon ab, „da er das Buch für einen bloßen Kommentar zu Montesquieu's ,Esprit des Lois' hielt" 1 5 6 . Auch Hume selbst schätzte Montesquieus Werk als „the best system of political knowledge that, perhaps, has ever yet been communicated to the world" 1 5 7 . Man korrespondierte auch miteinander, und Hume ließ 151 N U r a m Rande sei angemerkt, daß dieser V o r w u r f auch umgekehrt möglich ist: Gaston Larroque: Descartes et la sociologie. I n : Revue de philosophie. 10e année, 17 (1910), S. 599—607 w i r f t gerade der „méthode de la Table Rase de Descartes" die Vaterschaft des soziologischen Individualismus v o r (S. 600). 152

Bohnen, S. 55 ff. Vanberg, S. 8 ff. 154 Ibid., S. 20; Hauptvertreter dieser Denkrichtung sind David Hume, A d a m Ferguson, Francis Hutcheson, John M i l i a r u n d A d a m Smith; vgl. speziell zu Ferguson: Herta Helena Jogland: Ursprünge u n d Grundlagen der Soziologie bei A d a m Ferguson. B e r l i n 1959 (Beiträge zur Geschichte der Sozialwissenschaften. 1) u n d zu Smith: Hermann Huth: Soziale u n d individualistische Auffassung i m 18. Jahrhundert vornehmlich bei A d a m S m i t h u n d A d a m Ferguson. E i n Beitrag zur Geschichte der Soziologie. Leipzig 1907 (Staats- u n d sozialwissenschaftliche Forschungen. 125). 155 Vanberg, S. 63 ff. 156 Jogland,, S. 32. 157 Z i t i e r t nach Shackleton, S. 245. 153

C. Strukture des Esprit des lois Montesquieu seine „Political discourses" zukommen 158 . Zum anderen stützt Montesquieu sich offensichtlich i n der Darstellung der Monarchie und seines Prinzips der „falschen" Ehre auf die Theorien Mandevilles. Aber auch der Hauptvertreter einer „kollektivistischen" Gesellschaftstheorie beruft sich ausdrücklich auf Montesquieu. Emile Durkheim nimmt i n seiner Thèse von 1892 unseren Autor ausdrücklich als den Begründer der Soziologie, genauer gesagt, seiner A r t der Soziologie, i n Anspruch 159 . Er findet i n Montesquieus Werk, wenn zwar noch m i t einigen Widersprüchen behaftet, seine Methode verwirklicht, die zum einen versucht, beschreibend Typen zu bilden und zum anderen nach Gesetzen sucht, die quasi-naturwissenschaftlich allgemeingültig sind 160 . Die Bezüge, die Montesquieu durch sein ganzes Werk i m Hinblick auf die verschiedenen Gesellschaftstypen herzustellen versucht, sind für Durkheim Ausdruck eines rein soziologischen Denkens, „elles résultent en effet, selon lui, non de la nature de l'homme, mais dans les conditions de la vie sociale" 161. Ausdrücklich diskutiert also Durkheim am Beispiel unseres Autors die oben dargestellten unterschiedlichen gesellschaftstheoretischen Ansätze. Jedoch hat er auch Unstimmigkeiten i m Werk unseres Autors feststellen müssen. Zum einen kritisiert er den Begriff des „loi naturelle" 1 6 2 , m i t dem Montesquieu eine ursprüngliche Triebstruktur des Menschen annimmt, die h i n zur Geselligkeit führe. Diese Triebstruktur ist für Durkheim nicht gesellschaftlich, daher kann sie auch nicht Objekt soziologischer Untersuchung sein. Zum anderen kritisiert Durkheim die normative Seite i m Denken Montesquieus, der von einem idealen „menschlichen" Zustand ausgehe, zu dem die Menschen, auch wenn sie anders leben wollten, gezwungen werden müßten 163 . Für Durkheim ist der Gesetzgeber dagegen „l'instrument qui permet de les (die Gesetze, d. Verf.) établir plutôt que leur cause génératrice" 164 . Sowohl das Lob Dürkheims als auch seine K r i t i k zeigen meiner Ansicht nach sehr deutlich die dem Esprit des lois innewohnende Zwiespältigkeit auch i n dieser Grundeinschätzung der Natur des „Gesellschaftlichen" . 158

Vgl. Montesquieu: Oeuvres complètes I I I , S. 1460 ff. Emile Durkheim: Montesquieu et Rousseau. Précurseurs de la sociologie. Paris 1953, S. 45: „la science que l'on rencontre chez Montesquieu, est réellement la science sociale." 160 Ibid., S. 36 ff. 161 Ibid., S. 50 (Hervorhebung v o n mir). 162 E d L I, 2; 1/1, S. 5. 163 Ibid., S. 91; ein Beispiel für diese Haltung ist E d L X I V , 5; 1/1, S. 312: hier lobt Montesquieu die Gesetzgeber Chinas, die, i m Gegensatz zu den Indern, die Menschen nicht i n einem, unter den dortigen klimatischen Verhältnissen natürlichen, Zustand möglichster Ruhe gelassen hätten, sondern versuchten, die A k t i v i t ä t zu fördern. 164 Ibid., S. 84. 159

I. Zeit und Raum

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Die, zuerst von Durkheim prägnant formulierte, „holistische" Tradition der Gesellschaftstheorie w i r d heute von Talcott Parsons vertreten. Ausgangspunkt für ihn ist das Hobbessche „problem of order". Ausdrücklich bezieht er sich auf diesen Denker, wenn er angesichts der Knappheit der M i t t e l ausführt: „ A purely utilitarian society is chaotic and instable, because i n the absence of limitations on the use of means, particulary force and fraud, i t must, i n the nature of the case, resolve itself into an unlimited struggle for power 165 ." Dieses Problem des u t i litaristischen Ansatzes erkenne Hobbes, wenn er die politischen Institutionen i n ihrer Aufgabe, die Ordnung zu garantieren, betone. Die gegenteilige Schlußfolgerung aus dem gleichen utilitaristischen Menschenbild ziehe dagegen Locke, der als erster „the possibility of mutual advantage i n exchange" 166 betont habe und auf diese A r t und Weise das Problem der Ordnung gelöst haben wolle. Diese Tradition führt heute insbesondere George Caspar Homans fort. Er versucht soziale Prozesse dadurch zu erklären, indem er Erkenntnisse der Verhaltenspsychologie und der Nationalökonomie kombiniert. Als Gemeinsames sieht er i n beiden Bereichen, daß das Verhalten als Funktion von Verhaltensergebnissen gesehen wird 1 6 7 , das heißt, daß es von den „Strafen" beziehungsweise „Belohnungen" abhängt, die auf das Handeln h i n erfolgen. Ausdrücklich bemerkt Homans hierzu, daß er sich gegen Dürkheims These stelle, die Soziologie und Psychologie strikt trennen w i l l . Nach meiner Auffassung handelt es sich dabei u m einen künstlichen Gegensatz. Auszugehen ist davon, daß i n jeder wiederholten Handlung der Ansatz zu einer Typisierung und Habitualisierung steckt 168 . I m Laufe der Zeit entstehen hieraus Institutionen, die sich spätestens i n der folgenden Generation, für die Kinder, als etwas Objektives — nicht von ihnen Gemachtes — darstellen. Diese Institutionen werden internalisiert. Folgende drei Thesen sind also möglich: „Gesellschaft ist ein menschliches Produkt. Gesellschaft ist eine objektive Wirklichkeit. Der Mensch ist ein gesellschaftliches Produkt 1 6 9 ." Berger / Luckmann unter165 Talcott Parsons: The structure of social action. A study i n social theory w i t h special reference to a group of recent european writers. 2nd ed. Glencoe 111. 1949, S. 93 f. 166 jjers.: The general interpretation of action. I n : Talcott Parsons / Edward Shils / Kaspar D. Naegele / Jesse R. Pitts (eds): Theories of society. Foundations of modern sociological theory. I. Glencoe 111. 1961, S. 88. 167 George Caspar Homans: Social behaviour. Its elementary forms. London 1961, S. 13: „ h u m a n behaviour as a function of its pay-off." 168 Ich folge hier Peter L. Berger / Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche K o n s t r u k t i o n der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. 2. Aufl. F r a n k f u r t a. M. 1971. 169 Ibid., S. 63.

C. Strukture des Esprit des lois scheiden zwischen dieser vergegenständlichten Welt, die den Menschen als etwas gegenübertritt, „das außer seiner selbst ist" und der Verdinglichung der Welt, wodurch „die objektivierte Welt ihre Begreifbarkeit als eines menschlichen Unterfangens verliert" 1 7 0 . Wie ist nun die Stellung der Montesquieuschen Gesellschaftstheorie zu den hier diskutierten Problemen? Zum einen betont Montesquieu die verschiedenen Typen von Gesellschaften, diese sind sein wichtigster Ansatzpunkt. Die Instinktnatur des Menschen w i r d nur ganz am Rande gestreift; ein moral sense, der sich aus der Natur des Menschen ergibt, ist für ihn, anders als für die Schotten 171 , nicht entscheidend. Unser Autor beschäftigt sich vorwiegend m i t dem Ganzen der verschiedenen Gesellschaften und ihren Teilbereichen 172 . Hier w i r d für ihn das Konzept der Beziehungen — rapports — wichtig. Gleich zu Anfang des Esprit des lois stellt Montesquieu fest, daß sämtliche Gesetzlichkeiten, gleich ob i n Natur oder Gesellschaft, auf dem Prinzip der notwendigen Beziehungen beruhen 173 . M i t dieser Betonung des relationalen Aspektes w i r d ein wesentliches Argument der Autoren vorweggenommen, die betonen, daß das Ganze mehr als die Summe seiner Teile, Gesellschaft mehr als die Summe der Individuen sei. I m Zusammenleben ergäben sich eine Vielzahl von Beziehungen zwischen den Gesellschaftsmitgliedern, denen keine entsprechenden individuellen Eigenschaften gegenüberstünden 174 . Als ein solches spezifisch gesellschaftliches Phänomen w i r d ζ. B. seit Durkheim die Arbeitsteilung angesehen. Andererseits definiert Montesquieu seine Gesellschaftstypen aber von bestimmten Verhaltensweisen der Gesellschaftsmitglieder her. Ausgangspunkt sind Tugend, Ehre und Furcht, es sind also die „passions humaines" 175 , die die Gesellschaft tragen. Dabei bleibt jedoch offen, ob es sich u m „natürliche" individuelle Verhaltensweisen handelt, oder aber gerade u m den Ausdruck des gesellschaftlichen Zusammenlebens 176 . Für die Republik betont Montesquieu, daß die Tugend Anstrengung und Selbstentäußerung fordere, sie sei das „renoncement à soi-même, le sacrifice de ses plus chers intérêts" 1 7 7 . Diese Haltung muß von einem 170

I b i d , S. 95. Jogland, S. 54 ff. 172 Die Auseinandersetzung m i t dem Utilitarismus i n der Spielart Hobbes' betont Joseph Dedieu: Montesquieu. Paris 1913 (Réimp. Genève 1970), S. 64, 86: „ L e premier phénomène social est l'existence des sociétés, grâce à u n pouvoir central q u i maintient la cohésion . . 173 E d L I, 1; 1/1, S. 1. 174 Vanberg, S. 69, 545 ff. 175 E d L I I I , 1; 1/1, S. 25. 176 Letzteres ist die These v o n Thompson, S. 9. 177 E d L I I I , 5; 1/1, S. 31. 171

I. Zeit und Raum

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Gesetzgeber erzwungen werden und ist gerade das Gegenteil des utilitaristischen Eigeninteresses. Hier geht Montesquieu von einer ähnlichen Konzeption wie Hobbes aus. Die Verfolgung des Eigeninteresses führt zu einem gesellschaftlich schlechten Zustand. Jedoch stellt Montesquieu diese selbstentäußernde Haltung vorwiegend i n der Vergangenheit fest. I n der Mehrzahl der heutigen Gesellschaften, die Montesquieu als Monarchien bezeichnet, wobei er, wie w i r oben gesehen haben, diesem Begriff eine spezielle Bedeutung gibt, herrsche das leitende Verhaltensmuster der Ehre. Diese ist „philosophiquement faux" 1 7 8 auf das Eigeninteresse gerichtet, wobei sie sich auch unmoralischer Mittel bediene 179 . Sie ist gekennzeichnet durch das Streben nach Ruhm und Auszeichnung, Montesquieu sieht das Selbstinteresse also nicht nur auf ökonomischem Gebiet wirksam. Aber auch auf diesem Gebiet hat es eine erhebliche Bedeutung. Der Luxusverbrauch w i r k t als Stimulans für das ganze gesellschaftliche Leben. I n diesem Zusammenhang gibt Montesquieu eine allgemeine utilitaristische Rechtfertigung der Verfolgung des Eigeninteresses. Das Verlangen nach Ruhm veranlasse die Menschen, Großes zu vollbringen, ohne dafür materielle Vorteile erlangen zu wollen: „ i l se trouve que chacun va au bien commun, croyant aller à ses intérêts particuliers 1 8 0 ." Bezüglich des Luxuskonsums stellt Montesquieu klar, daß das prägende Verhaltensmuster honnneur nicht nur eine Angelegenheit der Oberschichten ist, sondern die ganze Gesellschaft durchdringt 1 8 1 . Für Montesquieu ist es nicht so, daß nur die Reichen „malhonnêtes gens" seien, dagegen die Armen „gens de bien" 1 8 2 . Montesquieu geht von einem einheitlichen Verhaltensmuster, das die gesamte Gesellschaft prägt, aus; ein Klassenbewußtsein stellt er, wenigstens was die A r m e n betrifft, nicht fest. Jedoch ist auch dieses Verhaltensmuster nicht „natürlich" i n dem Sinne, daß es als Basis einer verhaltenstheoretischen Konstruktion der Gesellschaft dienen könnte. Die meisten Völker leben nach Montesquieu i n einer Despotie 183 . Europa ist eine Ausnahme, die Völker Asiens, Afrikas und Amerikas leben seiner Ansicht nach zu einem großen Teil i n despotischen Gesellschaften 184 . Auch die Monarchien sind der Gefahr 178

E d L I I I , 7; 1/1, S. 34. Keohane, S. 390 weist insoweit auf einen rein utilitaristischen Ansatz h i n u n d b r i n g t Montesquieu m i t Mandeville i n Verbindung. Typisch für beider Denken ist die Betonung des Unterschieds v o n „public" u n d „private" (S. 395). 180 E d L I I I , 7; 1/1, S. 34. 181 E d L V I I , 4; 1/1, S. 133. 182 E d L I I I , 5; 1/1, S. 32. 183 E d L V, 14; 1/1, S. 84. 184 E d L V I I I , 8; 1/1, S. 157; X V I I , 6 f.; 1/1, S. 375 f. 179

8 Clostermeyer

C. Strukture des Esprit des lois einer Entwicklung i n dieser Richtung ausgesetzt: „Les fleuves courent se mêler dans la mer: les monarchies vont se perdre dans le despotisme 185 ." Die Montesquieusche Monarchie ist ein „chef-d'oeuvre de législation", der Despotismus ist dagegen die „natürlichste" Sache der Welt: „comme i l ne faut que des passions pour l'établir, tout le monde est bon pour cela 186 ." Diese Interpretation w i r d auch dadurch gestützt, daß i n Republik und Monarchie die Erziehung jeweils eine große Rolle spielt, dagegen ist sie i n der Despotie „en quelque façon, nulle" 1 8 7 . Die Despotie stellt einen gesellschaftlichen Naturzustand dar. Sie ist fast völlig strukturlos, nur die unumschränkte Gewalt des Fürsten hält sie zusammen 188 . Montesquieu vergleicht das Leben i n einer Despotie m i t dem von Tieren: „Le partage des hommes, comme des bêtes, y est l'instinct, l'obéissance, le châtiment 189 ." Gewalt ist das einzige Bindeglied zwischen den Gesellschaftsmitgliedern 190 . Es w i r d die Auffassung vertreten, der Montesquieusche Typus der Despotie sei „illusion géographique . . . parce qu'il est allusion historique" 1 9 1 und vornehmlich gegen den europäischen Absolutismus gerichtet. Darüber hinaus stelle er eine Warnung, ebenfalls an die Adresse des absoluten Fürsten, vor den i n diesem System durch die Leidenschaften des Volkes zutage tretenden Gefahren dar 1 9 2 . Vor diesen Gefahren könne sich der Fürst nur durch einen starken Adel schützen — also durch ein System, wie es Montesquieu i m Rahmen seines Typus der Monarchie darstellt. Unser Autor w i r d hier i n den Rahmen der „réaction nobiliaire" der Régence gestellt. Nach meiner Auffassung stellt, wobei selbstverständlich aktuelle Bezüge nicht übersehen werden dürfen, die Despotie bei Montesquieu einen Urzustand gesellschaftlichen Zusammenlebens dar. Er ist das Ergebnis einer rein individualistischen Auffassung von Mensch und Gesellschaft, einer Auffassung, die keinerlei gesellschaftliche Strukturen außerhalb der Individuen anerkennt. Dieses System des Despotismus ergibt sich von allein, nur für die anderen beiden Typen ist menschliche 185

E d L V I I I , 17; 1/1, S. 167. EdL, 14; 1/1, S. 84. 187 E d L I V , 3; 1/1, S. 44. 188 E d L I I I , 9; 1/1, S. 35. 189 E d L I I I , 10; 1/1, S. 37; dieser Vergleich m i t der Dressur eines Tieres, dem „zwei, drei Bewegungen, nicht mehr" eingebleut werden, auch i n E d L V, 14; 1/1, S. 78. 190 E d L V, 17; 1/1, S. 89. 191 Althusser , S. 92; Kassem, S. I l l ordnet die Montesquieusche Darstellung i n den Rahmen einer orientfeindlichen Tradition, die die biblischen Prophezeiungen v o n Gog u n d Magog i n den Mongolenstürmen v e r w i r k l i c h t sah. 192 Althusser, S. 96. 186

I. Zeit u n d Raum

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A n s t r e n g u n g v o n n ö t e n 1 9 3 . B e i diesen erscheint Gesellschaft z w a r auch als v o n d e n Menschen selbst geschaffen, j e d o c h n i c h t v o n d e n e i n z e l n e n I n d i v i d u e n , s o n d e r n v o n e i n e r einzelnen, q u a s i ü b e r m e n s c h l i c h e n , Ges t a l t — d e m l é g i s l a t e u r 1 9 4 . Gesellschaftliche O r d n u n g ist d o r t also etwas d e n e i n z e l n e n v o n außen auferlegtes, das seinen U r s p r u n g z w a r i m menschlichen H a n d e l n h a t , g l e i c h z e i t i g d e m I n d i v i d u u m als etwas Fremdes gegenübertritt.

7. D e r Gesetzgeber D i e ü b e r r a g e n d e R o l l e , die der Gesetzgeber i m E s p r i t des lois spielt, ist b i s h e r l e d i g l i c h ansatzweise b e m e r k t w o r d e n 1 9 5 . B e i d e r n ä h e r e n B e s t i m m u n g dieser F i g u r f ä l l t eine interessante Z w e i t e i l u n g auf. Z u m e i n e n h a n d e l t M o n t e s q u i e u als Gesetzgeber M ä n n e r m i t e i n e r r e l i g i ö 193 Die Montesquieusche Darstellung der sauvages u n d der barbares soll hier einmal außer acht bleiben. Auch sie spielen zwar — insbesondere die alten Germanen — eine gewichtige Rolle i m Montesquieuschen Denken, b i l den aber einen der Gegenpole zum rational-wissenschaftlichen Ansatz, wie er größtenteils i n der Typenlehre vorherrscht. Weiter unten soll auf die Bedeutung des Bildes der alten Germanen für unseren A u t o r zurückgekommen werden. 194 Albert Soboul / Guy Lemarchand / Michèle Fogel: Le siècle des lumières. I : L'essor (1715—1750). 1. Paris 1977, S. 517 weisen auf die Ersetzung eines kriegerischen Heroismus h i n , „ i l se fait h u m a i n et pacifique". 195 Eine Ausnahme macht die hervorragende A r b e i t v o n Thompson, S. 283 ff.; aber schon Gottfried Salomon-Delatour: Politische Soziologie. S t u t t gart 1959, S. 20 f ü h r t aus: „ I n der Figur des Gesetzgebers hat Montesquieu das Wesen des eigentlichen Herrschers gesehen, wie es der bürgerlichen Gesellschaft entspricht, dieser M a n n des Codes c i v i l w a r Napoleon. Der Cäsarismus ist der demokratische Ersatz der Monarchie." Vgl. weiter Jean-Marie Goulemot: Errances sur la nature et le principe dans quelques livres de „L'Esprit des Lois". I n : Europe. Revue littéraire mensuelle. 55 (1977) N ° 574, S. 18—30, 26, der auf den ideologischen K o n t e x t hinweist: Der M a n n der Tat w i r d durch den Gelehrten ersetzt; i n dieselbe Richtung deutet der Gedanke v o n Jo Ann Louise Oliver: Montesquieu and Rousseau: the social contract. (Ph. D. University of Wisconsin) Madison 1976, S. 244, die zwischen dem Rousseauschen u n d dem Montesquieuschen „législateur" unterscheidet. Ersterer sei ein Genius, der den Bürger erst schaffe, letzterer ein Gelehrter, der aufgrund seines Wissens die Gesellschaft ordne. M. E. finden sich auch i m Montesquieuschen Gesetzgeber Züge eines Genius. A u f die schöpferische K r a f t des Gesetzgebers verweist auch Leopold Pospisil: Anthropology of law. A comparative theory. New Y o r k — Evanston 1971, S. 134. Hildegard Trescher: Montesquieu's Einfluß auf die philosophischen Grundlagen der Staatslehre Hegels. I n : Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, V e r w a l t u n g und Volkswirtschaft i m Deutschen Reiche. 42 (1918), 471—501, 907—944, 927 betont anläßlich der Untersuchung der Gestalt des Gesetzgebers den Unterschied zu Hegel. Der législateur betone das Allgemeine, Hegel dagegen fordere Sittlichkeit, das heißt die Einheit von Allgemeinem u n d Besonderen. Sie stellt hier einen „rationalistisch-aristokratischen Zug" (S. 928) bei M o n tesquieu fest, dagegen ein „historisch-demokratisches Moment" bei Hegel. Angesichts der Schilderung, die Montesquieu v o n der Gestalt des Gesetzgebers gibt, ist diese Entgegensetzung m. E. so nicht zu machen.

8*

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C. Strukture des Esprit des lois

sen Sendung wie Moses 196 und Mohammed 197 oder halb mythische Gestalten wie Minos 198 , Solon 199 und L y k u r g 2 0 0 ab. A u f der anderen Seite bezeichnet Montesquieu auch eine Reihe von Staatsphilosophen als Gesetzgeber, zum Teil nennt er sie i m gleichen Atemzuge wie die „wirklichen" Gesetzgeber 201 . Wenn er zum Beispiel darstellt, daß sich i n den Gesetzen immer die „passions & les préjugés du législateur" finden lassen, so erwähnt er Aristoteles, Piaton, Machiavelli, Morus und Harrington 2 0 2 . Diese Gleichsetzung erklärt sich aus dem Montesquieuschen Gesetzesbegriff. Gesetze sind für i h n i m staatlichen Bereich, ebenso wie i n der Natur, „les rapports nécessaires qui dérivent de la nature des choses"203. Diese Beziehungen gilt es zu erkennen und i n positive Gesetze umzumünzen. Zur Lösung dieser Aufgabe ist zuallererst der Wissenschaftler berufen. Aber auch ein Praktiker ist kraft quasi-göttlicher Einsicht hierzu i n der Lage 204 . Es ist richtig erkannt worden, daß i m allgemeinen heroische, „große" Gestalten i n Montesquieus Geschichtsauffassung keinen allzu bedeutenden Platz einnehmen. So bemerkt er zu K a r l X I I , daß nicht die Schlacht bei Poltawa (1709) zu seinem Niedergang geführt habe, „s'il n'avoit pas été détruit dans ce lieu, i l l'avoit été dans un autre" 2 0 5 . Hier schimmert, wie schon i n den „Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence", der Beginn einer Geschichtsphilosophie durch, die die Ereignisse, von menschlichen Ein™ E d L X I X , 21; 1/1, S. 429. 197 E d L X I V , 10; 1/1, S. 315. 198 E d L I V , 7; 1/1, S. 50. 199 E d L X I X , 21; 1/1, S. 429. 200 E d L I V , 6; 1/1, S. 46 ff.; i m übrigen vergleicht er W i l l i a m Penn m i t L y k u r g : „ M . Pen est u n véritable Lycurgue." (EdL I V , 6; 1/1, S. 48.) 201 E d L I V , 7; 1/1, S. 50: „Les l o i x de Minos, de Lycurgue & de P i a t o n . . . " 202 E d L X X I X , 29; 1/2, S. 290 f.; auf letzteren ist er übrigens nicht besonders gut zu sprechen: „ A r r i n g t o n , dans son Oceana, . . . a b â t i Chalcédoine, ayant le rivage de Bysance devant les yeux." (EdL X I , 6; 1/1, S. 222.) 203 E d L I, 1; 1/1, S. 1. 2