Gesichter des Films [1. Aufl.] 9783839404164

Hat der Film das Gesicht neu erfunden? Zumindest hat er das Antlitz des Menschen immer wieder neu zu sehen gelehrt. Beso

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Gesichter des Films [1. Aufl.]
 9783839404164

Table of contents :
[ABC]
[Auge]
[Blick]
[Casting]
[Double]
[Exzeß]
[Frisur]
[Grimasse]
[Hand]
[Ikone]
[Jedermann]
[Konterfei]
[Lächeln]
[Make-up]
[Narbe]
[Oberfläche]
[Photogénie]
[Queer]
[Rasur]
[Star]
[Träne]
[Umriß]
[Vorspann]
[Widescreen]
[Xenos]
[Yentl]
[Zensur]
[Autorinnen und Autoren]
[Bildnachweise]

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Gesichter des Films

2005-09-05 10-32-07 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S.

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) T00_01 schmutztitel.p 93904539582

2005-09-05 10-32-07 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S.

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) T00_02 vakat.p 93904539590

Joanna Barck, Petra Löffler u.a.

Gesichter des Films

2005-09-05 10-32-08 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S.

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) T00_03 titel.p 93904539710

Diese Arbeit ist im Sonderforschungsbereich/-forschungskolleg (SFB/ FK 427) »Medien und kulturelle Kommunikation« der Universitäten Köln, Bonn, Bochum und Aachen entstanden und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung der ihm von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2005 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Projektmanagement: Andreas Hüllinghorst, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-416-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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) T00_04 impressum.p 93904539814

Inhalt

[ ABC ] [ Auge ] [ Blick ] [ Casting ] [ Double ] [ Exzeß ] [ Frisur ] [ Grimasse ] [ Hand ] [ Ikone ] [ Jedermann ] [ Konterfei ] [ Lächeln ] [ Make-up ] [ Narbe ] [ Oberfläche ] [ Photogénie ] [ Queer ] [ Rasur ] [ Star ] [ Träne ] [ Umriß ] [ Vorspann ] [ Widescreen ] [ Xenos ] [ Yentl ] [ Zensur ]

[ Autorinnen und Autoren ] [ Bildnachweise ]

Joanna Barck & Petra Löffler Joanna Barck 15 F.T. Meyer 29 Petra Löffler 43 Leander Scholz 57 Ekkehard Knörer 71 Petra Löffler 83 Petra Löffler 95 F.T. Meyer 109 Joanna Barck 123 F.T. Meyer 137 Joanna Barck 149 Wolfgang Beilenhoff 163 Claudia Liebrand 177 Joanna Barck 189 Ekkehard Knörer 203 Petra Löffler 215 Peter Rehberg 231 Rolf F. Nohr 247 Michael Cuntz 261 Petra Löffler 277 Ines Steiner 291 Alexander Böhnke 307 Gereon Blaseio 323 Sabine Hänsgen 337 Petra Löffler 351 Sabine Hänsgen 365 379 385

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) T00_05 inhalt.p 93904539926

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) vakat 006.p 93904540022

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[ ABC ]

Nichts erscheint in der visuellen Kultur unumgänglicher als das Gesicht. Die zeitkritische Diagnose, wonach wir geradezu in einer »facialen Gesellschaft, die ununterbrochen Gesichter produziert« (Macho 1996: 26), leben, hat nichts von ihrer Brisanz verloren – im Gegenteil: aus den Massenmedien sind Gesichter als Aufmerksamkeitserreger und Bedeutungsträger nicht mehr wegzudenken. Diese Unumgänglichkeit ist zugleich ein Faktum, das man noch immer beinahe unwillkürlich auf eine unbezweifelte ›humane‹ Basis stellt. Denn nichts scheint uns so vertraut zu sein wie das Gesicht – das eigene, das uns im Spiegel entgegenblickt, ebenso wie das fremde Gesicht, das wir zu verstehen und auf bestimmte Weisen zu lesen gelernt haben. Seine eingängige Grundform garantiert noch im abstrakten Schema von Punkt, Punkt, Komma, Strich Wiedererkennbarkeit. In phänomenologischer Perspektive leistet das Gesicht eine Grenzziehung zwischen dem Eigenen und dem Fremden, nicht ohne dabei seine spezifische Fähigkeit auszustellen, ein »Ereignis zwischen den Menschen« (Blümlinger/Sierek 2002: 9f.) zu sein. So changiert das Gesicht zwischen der Subjektivität des Sehens und der Objektivität des Angeblicktwerdens, zwischen dem ›Innen‹ und dem ›Außen‹, dem Zeigen und dem Verbergen von Affekten und Gefühlen. Und doch ist das Gesicht mehr als nur das, denn es ist zuallererst ein mediales Ereignis. Angesichts seiner enormen Präsenz in der visuellen Kommunikation, die es insbesondere in den westlichen Kulturen behauptet, kann das Gesicht nicht unabhängig von den optischen Medien, die ihm zu dieser Präsenz verhelfen, analysiert werden. Dies haben bereits Filmtheoretiker wie Béla Balázs in den ersten Dezennien des vergangenen Jahrhunderts erkannt. Aus dieser Erkenntnis speist sich auch die Konjunktur, die das Gesicht als Ge-

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genstand film- wie kultur- und medienwissenschaftlicher Forschung bis heute erlebt. So ist das Gesicht undenkbar geworden ohne den Bezug auf die Medien seiner Sichtbarmachung. In keinem anderen Medium hat es im 20. Jahrhundert eine vergleichbare Karriere erreicht wie im Film. Ob in Bewegung oder im Stillstand, der Film produziert unermüdlich neue Ansichten und Auffassungen des Gesichts, das er als »epistemisches Ding« (Hans-Jörg Rheinberger) geradezu neu definiert und mit massenmedialer Evidenz ausgestattet hat. Das dominante Dispositiv seiner Sichtbarmachung im Film ist zweifelsohne die Großaufnahme. Sie hat ihm nicht nur zu einer spezifischen medialen Existenz verholfen, sondern es gleichsam vom Menschen abgeschnitten. Folgt man den Thesen von Gilles Deleuze und Félix Guattari, die sie in ihrem Buch Mille Plateux/ Tausend Plateaus (1980/1997) über die abendländische Geschichte des Gesichts bereits vor 25 Jahren aufgestellt haben, so verliert das Gesicht in der Großaufnahme sein Privileg als Ausweis von Humanität und wird zu einer monströsen Entität. Dabei ist für Deleuze und Guattari die Großaufnahme mehr als nur eine beliebige filmische Einstellung, die das Gesicht in einem vergrößernden Maßstab erfaßt, sondern das Gesicht selbst entspricht generell schon immer einer Großaufnahme. Ausgehend von dieser provozierenden These entwickeln Deleuze und Guattari das Konzept einer allgemeinen Gesichthaftigkeit: das Schema »Weiße Wand – Schwarzes Loch«, welches das Gesicht enthumanisiert und zu einer universellen Projektionsfläche der Bedeutung (»weiße Wand«) macht, durch die sich Projektile der Subjektivität (»schwarze Löcher«) bohren. Dieses Schema definiert den gesamten filmischen Raum, in dem man nun überall – zum Beispiel in Gegenständen und Landschaften – Gesichter erkennen kann. Die Filmleinwand wird so zu einem Schauplatz, an dem es einen Singular ›Gesicht‹ nicht mehr geben kann, sondern Gesichter monströs in Erscheinung treten. Die Aktualität der Thesen von Deleuze und Guattari besteht darin, daß sie insbesondere das Verstörende in der Wahrnehmung von Gesichtern aufsuchen und benennen – das, was sich permanent der Signifikation und der Lesbarkeit entzieht: das Faszinierende an der verstörenden Sichtbarkeit des Gesichts in der Großaufnahme wie an dem Entzug dieser (vermeintlich selbstverständlichen) Sichtbarkeit, sei es durch Detailaufnahmen, die einzelne Partien des Gesichts zu Partialobjekten machen, oder indem der Blick auf das Gesicht teilweise oder ganz verstellt wird. Im Unterschied zu Deleuze und Guattari betont Jacques Aumont in seinem Buch Du visage au cinéma (1992), wie stark das Gesicht – nicht nur in der Großaufnahme – vom Konzept der Lesbarkeit bestimmt ist. Das Gesicht versteht er als entweder ein narratives Bindeglied der Diegese oder einen »Agenten des Sinns« (Aumont 1992: 49). Die Auseinandersetzung mit dem medialen Gesicht und seinen

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kulturellen wie gesellschaftlichen Funktionen verläuft entlang dieser beiden Pole: das Gesicht einerseits als monströse Entität (Deleuze/ Guattari), andererseits als lesbare Fläche (Aumont). Angesichts dieser unterschiedlichen Konzeptionen des medialen Gesichts verwundert das große Spektrum der Forschungsliteratur nicht, die auf die Aktualität des Phänomens in den optischen Medien Bezug nehmen (vgl. Literaturliste). Dabei zeigt sich, welche schillernden Facetten dieser Gegenstand für die film- wie kultur- und medienwissenschaftliche Forschung bis heute bereithält. Das ungebrochene Interesse am Gesicht als »epistemischem Ding« speist sich vor allem aus der Einsicht, daß die »Gesichtshaftigkeit als allgemeinstes Schema der Massenkommunikation« (Kappelhoff 2001: 10) gelten kann. In diesem Zusammenhang sind auch die Neuauflagen von zu Klassikern der Filmtheorie avancierten Entwürfen wie Béla Balázs’ Schriften Der sichtbare Mensch (1924) und Der Geist des Films (1931) zu sehen, die bereits die Omnipräsenz des Gesichts im Film analysiert und seine Bedeutung für die visuelle Kultur erkannt haben. Auch die neuerliche Beschäftigung mit den Thesen von Deleuze und Guattari (vgl. Treusch-Dieter/Macho 1996; Löffler/Scholz 2003) bzw. mit Deleuzes Kinotheorie (vgl. Fahle/Engell 1999) gehört hierher.

[ XYZ ] Der vorliegende Band versteht sich als Kommentar zu dieser besonderen Faszination, die das Gesicht als filmisches Ereignis gegenwärtig hervorruft. Die einzelnen Beiträge des Bandes verfolgen dieses Ziel auf zweifache Weise: Einerseits eignen sie sich selbst gewissermaßen die Technik der Großaufnahme an, rücken den Gesichtern des Films ›zu Leibe‹ und nehmen die derart fokussierten Phänomene in Nahsicht. Als Ausgangspunkt der kritischen Befragungen dienen ihnen daher Phänomene, die wie Auge und Blick genuin zum Gesicht zu gehören scheinen, wie Frisur und Hand in kulturwissenschaftlicher Perspektive traditionell mit ihm assoziiert werden oder wie Double und Oberfläche seinen medialen Bedeutungsrahmen bilden. Diese Phänomene werden zunächst visuell durch den Filmstill lokalisiert, bevor die eigentliche Begriffsarbeit beginnt. Die Lemmata, die den Standbildern zugeordnet sind, bündeln ihrerseits verzweigte Diskursstränge, ohne sie deshalb mit den Begriffen gleichzusetzen. Andererseits gehen die Beiträge zugleich wieder auf Distanz zu den beschriebenen Phänomenen, um in einem zweiten Schritt die Gesichter des Films in ihrer spezifischen medialen Verfaßtheit zu analysieren und sie im Kontext filmwissenschaftlicher, kulturwissenschaftlicher oder medienästhetischer Überlegungen zu deuten. Diese doppelte Perspektive, die auch der Titel des Bandes Gesichter des Films andeutet, soll garantieren, daß sich weder der affi-

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mierende noch der kritische Blick auf den Gegenstand einseitig justieren kann, denn der Film zeigt nicht nur verschiedene Gesichter, er hat sie auch als Medium der Sichtbarmachung. Dieser ›stereoskopische‹ Zugang birgt zugleich den Vorteil, daß er seinen Gegenstand in all seiner Vielfalt und Offenheit zu erfassen sucht. Dem trägt das Ordnungsschema des Alphabets gerade in seiner offensichtlichen Willkür Rechnung. Die den Buchstaben des Alphabets zugeordneten Lemmata teilen das »epistemische Ding« Gesicht in Detailvorstellungen auf, um es tradierten Sinnzusammenhängen zu entreißen und neue zu stiften. Ganz bewußt spannt der Band dabei entlang der willkürlichen Ordnung des Alphabets einen Bogen vom frühen Attraktionskino bis zum zeitgenössischen Bollywoodkino, vom klassischen Hollywood- bis zum Avantgardefilm ebenso wie vom Western bis zum Anime. Insbesondere geht es um den Zusammenhang von optischer Wahrnehmung und begrifflicher Anschauung. Die Ordnung der einzelnen Texte folgt dabei der Logik der Bilder, die den Beiträgen/den Lemmata wie eine Initiale vorangestellt werden. Die konzeptuelle Beschränkung auf ein Filmstill erscheint gegenüber dem Fluß der bewegten Filmbilder nur auf den ersten Blick restriktiv. Doch gerade das Filmstill eröffnet eine fremde Sicht auf das scheinbar Vertraute. Was sonst im Bruchteil einer Sekunde über die Leinwand huscht, scheint unter der Regie eines insistierenden Blicks im Standbild in seiner Vertrautheit und Fremdheit zugleich auf und erzeugt in seiner Ambivalenz zwischen Sichtbarem und Unsichtbaren eine Offenheit, die auf die vorangegangenen (also vergangenen) wie auf die folgenden (also zukünftigen) Bilder verweist. Die vorangestellten Standbilder induzieren auf diese Weise die Analyse und treiben sie voran, ohne dabei in eine (Re-)Auratisierung des Einzelbildes zu verfallen. So bilden Bild und Kommentar in der Interpretation der einzelnen Beiträge eine kontextuelle Einheit. Darüber hinaus knüpfen die Querverweise am Seitenrand ein enges Verbindungsnetz zwischen den Texten und den Bildern einerseits sowie zwischen den analysierten und verwiesenen Filmen andererseits. Sie sind zugleich eine Einladung an den Leser/die Leserin, sich den vorliegenden Band durch eine mäandernde Lektüre zu erschließen und die Gesichter des Films wie bei einem Daumenkino ineinander übergehen zu lassen – ein Daumenkino, das zwar nicht mit der üblichen Kohärenz der aufeinanderfolgenden Bilder, aber dafür mit größtmöglicher Diversität ausgestattet ist, die die Gesichter des Films bieten. Der Bilderreigen wiederum ergibt selbst so etwas wie einen virtuellen Film, der die Potentiale der Gesichter des Films in nuce enthält. Es sind schließlich die in Bewegung versetzten Bilder, die in ihrer Gesamtheit nicht nur den Film bilden, sondern auch Geschichten von der Auratisierung des Gesichts bis zu seiner Entmachtung oder gar Auflösung ›erzählen‹. Eine (nicht jede!) dieser Geschich-

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ten beginnt – wie könnte es anders sein? – mit A wie »Auge« und endet mit Z wie »Zensur« und durchläuft dabei das ganze Spektrum von Gesichthaftigkeit bis in seine extremen Pole: der Perversion der Sichtbarkeit im bruchstückhaften Auge und der Auslöschung des Gesichts durch eine Politik der Unsichtbarmachung. Dieser Band wäre ohne die Hilfe und Unterstützung des Forschungskollegs »Medien und kulturelle Kommunikation«, an dem die Universitäten Köln, Bonn, Bochum und Aachen beteiligt sind, nicht zustande gekommen. Das Forschungskolleg hat Joanna Barck, Wolfgang Beilenhoff, Petra Löffler und F.T. Meyer, von denen die Mehrzahl der Texte dieses Bandes stammt, nicht nur die Arbeit an diesem Gegenstand, sondern auch den Austausch mit anderen Forschern ermöglicht. Auf dieser Grundlage konnten unterschiedliche Interpretationsansätze verfolgt und gleichzeitig eine Plattform für andere Wissenschaftler geschaffen werden. Deshalb möchten wir uns an dieser Stelle bei den Autoren bedanken, die ebenfalls mit einem Beitrag in diesem Band vertreten sind. Darüber hinaus gebührt ein besonderer Dank Agnes Frey, Frederik Geisler und Thomas Waitz für die mühselige Arbeit der Text- und Bildbearbeitung sowie – last, but not least – Christoph Hesse für seine instruktive Redaktionsarbeit. [ Joanna Barck & Petra Löffler ]

Literatur Aumont, Jacques (1992): Du visage au cinéma, Paris: Éditions de

l’Étoile. Barck, Joanna/Beilenhoff, Wolfgang (Hg.) (2004): Das Gesicht im

Film (I), montage/av 13/1/04. Barck, Joanna/Beilenhoff, Wolfgang (Hg.) (2004): Das Gesicht im

Film (II), montage/av 13/2/04. Blümlinger, Christa/Sierek, Karl (Hg.) (2002): Das Gesicht im Zeit-

alter des bewegten Bildes, Wien: Sonderzahl. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1980/1997): Tausend Plateaus:

Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve. Fahle, Oliver/Engell, Lorenz (Hg.) (1999): Der Film bei Deleuze. Le

cinéma selon Deleuze, Weimar: Verlag der Bauhaus-Universität Weimar/Presses de la Sorbonne-Nouvelle (3. Aufl.). Gläser, Helga/Groß, Bernhard/Kappelhoff, Hermann (Hg.) (2001):

Blick-Macht-Gesicht, Berlin: Vorwerk 8. Kappelhoff, Hermann (2001): »Bühne der Empfindungen – Lein-

wand der Emotionen. Das bürgerliche Gesicht«. In: Helga Gläser/ Bernhard Groß/Hermann Kappelhoff (Hg.) (2001): Blick-MachtGesicht, Berlin: Vorwerk 8, S. 9-41.

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12 | [ Joanna Barck & Petra Löffler ] Löffler, Petra/Scholz, Leander (Hg.) (2004): Das Gesicht ist eine

starke Organisation, Köln: DuMont. Macho, Thomas (1996): »GesichtsVerluste. Faciale Bilderfluten und

postindustrieller Animismus«. In: Ästhetik und Kommunikation, H. 94/95: Medium Gesicht. Die faciale Gesellschaft, S. 25-28. Treusch-Dieter, Gerburg/Macho, Thomas (Hg.) (1996): Ästhetik und Kommunikation, H. 94/95: Medium Gesicht. Die faciale Gesellschaft.

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A

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) T01_01a A.p 93904540286

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) T01_01a vakat.p 93904540390

[ Auge ] | 15

[ Auge ]

Am Anfang der Erzählung steht eine extreme Detailansicht: Noch bevor eine Person sichtbar wird, sehen wir ein ins Bläuliche getauchtes Auge. Nicht viel mehr als geädertes Weiß, eine dunkle Iris, ein Augenlid, das auf- und zugeht – alles in allem ein glasiger Körper von einer amorphen, amöbenartigen Form. Allein diese gewaltige, leinwandfüllende, um nicht zu sagen leinwandsprengende Darstellung übt eine phantasmagorische Wirkung auf den Zuschauer aus, zumal darin ein Spiegelbild eines weißgekleideten Mannes eingebettet ist. Sie evoziert ein schwankendes Gefühl, denn was man hier zu sehen meint, ist auf eine arglistige Weise mehrdeutig: Ist der Mann ›im Auge‹ oder außerhalb des Auges? Damit ist etwas Grundsätzliches angesprochen, nämlich die Frage nach der Ausrichtung der Einstellung und der damit zusammenhängenden Position des Zuschauers. Geht man von einer subjektiven Einstellung aus, so muß man die Ansicht des Auges mit der Sicht des weißgekleideten Mannes gleichsetzen, der sich darin spiegelt. Doch kann ein Mensch eine so detailgenaue Sicht auf ein Auge haben und sich zugleich darin spiegeln? Auch wenn diese Vermutung dem Zuschauer zunächst als die nächstliegende angeboten wird – ein Mann schaut in ein Auge und sieht sich darin gespiegelt –, hinterläßt sie dennoch ein befremdendes Gefühl. Nimmt man jedoch an,

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16 | [ Joanna Barck ]

➞ [ Hand ]

daß es sich hierbei um eine objektive Einstellung handelt, eine Einstellung also, deren ›Subjekt‹ gleichsam anonym bleibt und selbst außerhalb des diegetischen Filmraums steht, so muß man von einer auktorialen Zeugenschaft der aufnehmenden Kamera ausgehen, deren Interesse am Geschehen eine ›unmenschliche‹, da eine ›maschinenmäßige‹ ist. Denn was ist die Detailaufnahme sonst, wenn nicht eine Monstrosität, die alles andere vereinnahmt und die natürlichen Wahrnehmungsmaßstäbe außer Kraft setzt (vgl. Deleuze/Guattari 1980/1997)? Dieses amorphe Etwas, als welches hier das Auge erscheint, drängt in seiner Ausdehnung aus der Leinwand heraus, zerfließt an den Bildrändern und entwickelt auf diese Weise eine zentrifugale Kraft, die den Zuschauer in seine Mitte hineinzieht. Denkt man hier noch an ein Gesicht, an jenen Ort also, zu dem Augen gewöhnlich dazugehören? Béla Balázs hat von dem Gesicht in Großaufnahme gesagt, daß es keines Raums und keiner (realen) Umgebung bedürfe – ganz anders als beispielsweise die Hand, die auf den Menschen und eine bestimmte Funktion hinweist –, »denn das Gesicht wird Ausdruck und Bedeutung auch ohne hinzugedachte räumliche Beziehung« (Balázs 1930/2001: 16). Das Auge aber, betrachtet man es wie hier en détail, hat, so scheint es, weder einen Ausdruck noch eine verweisende Funktion wie die Hand. Es bleibt ambivalent, man möchte fast sagen: kalt. Diese ›Kälte‹ ist von der Art eines Gegenstandes, der – um mit Balázs zu sprechen – keiner räumlichen Beziehung, das heißt keines Gesichts bedarf und somit zunächst zu nichts und niemandem im Verhältnis steht. Das Auge rückt hier deutlich in die Nähe der Kamera, mit der sie schon lange eine metaphorische Allianz verbindet: Ausdrücke wie Kinoglaz (die Kamera als Auge) und Kinoki (die Augen der Betrachter) von Dziga Vertov haben Kamera und Auge bereits in der frühen Filmtheorie zu einer anthropomorph-technischen Einheit verschmolzen. Verkürzt gesagt bestand deren Aufgabe in der Zeit der großen Siegeszüge der »entfesselten Kamera«, der technisch bedingten ›Revolutionen‹ innerhalb des Kinos der 1910er bis 1920er Jahre, in einer enormen Umgestaltung dessen, was man mit dem umfassenden Begriff ›Mensch‹ bezeichnen könnte. Der Frage nach dem Humanen wurde nun mit einem ›entfesselten Blick‹ begegnet und der als Folge der »entfesselten Kamera« einhergehenden Zerstückelung oder Entnaturalisierungen der Wahrnehmung, die eine technische Neuerung der beweglichen Kamera mit sich brachte. Man denke beispielsweise an die russische Filmavantgarde und deren harten bzw. schnellen Montagerhythmen und extremen Kadrierungen in Großaufnahmen aus ungewöhnlichen Einstellungswinkeln, in denen die Figuren ihre körperliche Einheit verlieren, um als Auge, Ohr, Gesicht, Hand etc. in den Betrachterblick zu rücken (vgl. Vertov 1923/ 1924/1995; 1896-1954/1984; Eisenstein 1923/1934/1995). Ganz Auge zu sein, heißt ganz und gar im Sehen und Gesehen-

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[ Auge ] | 17

werden aufzugehen, und damit ein Objekt anderer Augen, anderer Kameras und anderer Betrachter(interessen) geworden zu sein. Ein solches leinwandfüllendes Auge – noch lange bevor das Gesicht der Protagonistin zu sehen ist – zeigt uns auch Krzysztof Kie´slowski in seinem Film Trois couleurs: Bleu (Drei Farben: Blau, PL/F/CH/UK 1993). Dieses kameraähnliche, die Umgebung ›scannende‹ Auge produziert nicht minder unerwartete Ansichten der Dinge, wie die früheren ›entfesselten‹, das heißt in Bewegung geratenen Kameras der Filmavantgarde. In Großaufnahmen werden nacheinander gezeigt: eine Kielfeder aus einer Kissenfüllung, die sich zart im Atemhauch bewegt, und eine übergroße Hand (die des weißbekittelten Mannes, der offenbar ein Arzt sein soll), die das Kissen unbeholfen niederdrückt. Was dem Zuschauer hier vermittelt wird, überschreitet deutlich die Grenzen derjenigen Einstellungen, die für gewöhnlich darauf angelegt sind, dem Zuschauer zunächst einen Überblick über die Szene und die handelnden Personen zu geben. Hier geht es nicht in erster Linie darum, die Subjekt- und Objektpositionen zu bestimmen und den diegetischen Standort (Overview) zu markieren. Kie´slowski stattet seine einleitenden Einstellungen mit einem subversiven Potential aus, indem er sich bestimmter Formate und Bildverfahren bedient, wie der Groß- und Detailaufnahme oder einer exponierten Unschärfe, die selbst zum Sinnbild für subjektive Wahrnehmung par excellence geworden sind, ohne daß sie an diesen Stellen das Versprechen der Subjektivierung einlösen würden: denn das diegetische Subjekt, der Protagonist des Films, ist hinter diesen Aufnahmen nicht zu ermitteln. So beginnt Bleu beispielsweise mit einer Sequenz, in der die Radachse eines fahrenden Autos zu sehen ist. Das Subjekt der Aufnahme kann nur ein nicht-humanes, im positiven Sinne ausgedrückt, ein entfesseltes Objekt sein, und das ist im Film das Kameraauge selbst. Erst wenn man auf die abnorme Verzerrung dieser nur scheinbar subjektiven Wahrnehmungsbilder aufmerksam wird, ist deren eigentümliche Spannung wirklich zu greifen. Das Spiegelbild des Arztes auf der Augenoberfläche und die unscharfen, verzeichneten Bilder, die das Auge produziert, verweisen beide darauf, daß diesen Einstellungen gewissermaßen der Blick fehlt. Das heißt, es fehlt die dialogische Situation, die zwischen den Protagonisten (untereinander) und dem Zuschauer üblicherweise vorherrscht. Ob es die Großaufnahme der Kissenfeder, die der Hand, des Auges selbst oder schließlich die des Arztes in der Augenspiegelung ist – nirgends trifft man auf einen antwortenden Blick, der gewöhnlich zwischen Subjekt und Objekt hin und her wandert. Augen ohne Blick sind kaum vorstellbar, und doch müssen sie existieren, denn der Blick beschreibt letztlich nur eine Funktion, die als solche nicht a priori an das Auge gebunden ist (»was ich sehe, blickt mich an«, Lacan 1964/1987: 101f.; vgl. Didi-Huberman 1999).

➞ [ Blick ]

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15- 26) T01_01b auge.p 93904540470

18 | [ Joanna Barck ]

➞ [ Zensur ]

Sich des Auges im Gesicht bewußt zu werden, ist dennoch keine Selbstverständlichkeit, bedenkt man die Funktion, die es darin als eben jener Blickträger erfüllt. Man mache die Probe aufs Exempel und versuche, in einem Porträt nur ein Auge zu fixieren. Man wird schnell merken, daß man ohne die Hilfestellung der abdeckenden Hand sich weder auf ein Auge konzentrieren kann, noch überhaupt fähig ist, ein einzelnes Auge zu sehen. Was man sieht, sind immer nur Blicke, die man von diesem Augenpaar zu empfangen meint. Was ist also mit dem Auge hinter dem Blick? Ist es möglicherweise erst durch und mit dem Film, mit dessen Groß- und Detailaufnahmen, sichtbar geworden? Kie´slowski ist es gelungen, das Auge aus dem Kommunikationsverbund ›Gesicht‹ herauszunehmen und eine andere Sichtweise darauf zu ermöglichen. Die Inszenierung selbst unterliegt einer geschickten Verhinderungstechnik, die den Blick wenn nicht dauerhaft zerstört, so doch so weit verzögert, bis man des Auges selbst gewahr wird. Diese freie Sicht auf das Auge ist nicht so selbstverständlich, wie man zunächst annimmt. Zumeist ist der Blick der vorherrschende Untersuchungsgegenstand, auch wenn dabei viel vom Auge gesprochen wird (vgl. Brandes 1995; Flach 2001). Ist man schlußendlich aber zum bloßen Auge vorgedrungen, so findet man sich unvermittelt der Monstrosität einer Dingwelt ausgeliefert, die nun ihr Eigenleben zu erkennen gibt. Denn das ›blickfreie‹ Auge entwickelt sich zu einem Fremdkörper im eigenen Körper – oder anders formuliert: zu einem Zwitterwesen ohne feste Zugehörigkeit. In einer Detailaufnahme scheint es seine (Wahl-)Verwandtschaften neu zu knüpfen, wie es Georges Bataille gezeigt hat: Auge, Augapfel, Ei, Hoden, die Kugel etc., alles das sind Metaphern des Verdrängten, das der Blick vielfach verstellt. »Siehst du das Auge?« fragt Simone in Batailles Geschichte des Auges, und ihr Liebhaber Sir Edmund antwortet ihr: »Ja, und? ›Es ist ein Ei‹, sagt sie in aller Nachdrücklichkeit« (Bataille 1977: 17). Diese Ei-Auge-Beobachtung wird von der Protagonistin während eines Stierkampfes gemacht, bei dem ihr ein Stierhoden geschenkt wird und ein Stier dem Torero ein Auge aussticht und ihn tötet. Erst in dieser operativ-organischen Reduzierung gewinnt das Auge seine Unabhängigkeit von der Facies und die Selbständigkeit innerhalb des Gesichts. Kie´slowski unternimmt in Bleu etwas Vergleichbares, wenn er das Auge seiner Protagonistin Julie (Juliette Binoche) auf vielfache Weise ›seziert‹ und in diesem Sinne eine Bataillesche »Obszönität« des Organs filmt. Das rotgeäderte Weiß des Augapfels, die verspiegelte Iris und die an den Rändern des Filmbildes ›abgerissene‹ Kontur bezeugen eine andere Geschichte des Auges, welche die Metaphorik vom ›Spiegel der Seele‹ oder dem ›Fenster zur Außenwelt‹ unterläuft. Es ist kein Zufall, daß es in Bleu ausgerechnet ein Arzt ist, durch dessen Spie-

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gelbild Julies Blick zurückgedrängt und nach außen hin versiegelt wird. Denn ist es nicht gerade der Arzt, der in seiner modernen Wissenschaftlichkeit die Seele aus dem Körper austreibt und somit das Auge, nicht aber den gestörten oder gebrochenen Blick heilen kann? So leisten Kie´slowskis Detailaufnahmen ihrerseits eine technische Sezierungsarbeit, die fähig ist, dem vermeintlich allzu Bekannten eine andere, noch nicht geschaute Seite abzugewinnen. In diesem Sinne inszeniert Kie´slowski dieses eine monumentale Auge sowohl als Linse, die kontingente Objekte registriert, als auch als das ›Ausgeblendete‹, das nach der katastrophalen Erschütterung der Protagonistin an die Oberfläche drängt. Das Auge der verletzten Julie ist gespalten zwischen dem inneren und äußeren Sehen: »Das heißt, das Auge ist einerseits abgetrennt von dem, was es sieht – den Körper; andererseits ist es untrennbar von dem, wie es sieht – als Körper«, schreibt Gerburg Treusch-Dieter in seiner Analyse von Auge und Ei bei George Bataille (Treusch-Dieter 2000: 256). Ein solches in der Detailaufnahme ›geschnittenes‹, und das heißt: aus dem Gesicht herausgeschnittenes Auge wird zu einem monströsen Körper, und das nicht bloß, weil es in seiner riesenhaften Gestalt eine Anormalität bedeuten würde. Das Unerhörte und in diesem Sinne Monströse daran liegt vielmehr an dem Eigenleben, welches das Auge führt, wenn man es hinter dem verstellenden Blick entdeckt. Tatsächlich handelt es sich bei vielen Einstellungen in Bleu nicht um eine Entfaltung eines ›Stils‹ der subjektiven Wahrnehmung, sondern um die Vermittlung von unpersönlich-objektiven, in diesem Sinne ›technischen‹ Wahrnehmungen. Um das Auge hinter den semantischen Überschreibungen hervorzuholen, bedarf es offenbar einer Verstörung oder Verunsicherung der Wahrnehmung, die Bleu auf mehreren Inszenierungsebenen leistet. Als Auslöser der ›Seh-Störungen‹ fungiert auf der narrativen Ebene ein Autounfall, bei dem Julie sowohl ihren Ehemann als auch ihr einziges Kind verloren hat. Die Verzerrung der Bilder schließt an den spezifisch ›dokumentarischen‹ Stil Kie´slowskis an, der sich in seinen früheren Filmen durch die Schnörkellosigkeit der Filmbilder und die Reduzierung der Mise-en-scène auszeichnete, in Bleu hingegen in einer Stilisierung optisch-technischer Effekte mündet. Hier begegnet einem die ehemals ›dokumentarische‹, dem Cinéma Vérité vergleichbare Aufnahme als technisch konstruiertes Artefakt. Aber die Verspiegelung der Augenoberfläche signalisiert noch eine andere, eine körperlich-psychische Verstörung, die Julies Gesicht ergreift. Das Auge liefert verwirrte, reduzierte Bilder einer Umwelt, die Julie nicht mehr im vollen Umfang wahrnehmen kann oder will. Die physischen Spuren des Ereignisses sind ihr ins Gesicht geschrieben – Prellungen, blaue Flecke und Schnittwunden –, doch das psychische Leid findet keinen äußeren Ausdruck. Es bleibt unter der Oberfläche verborgen, auch wenn diese temporär auf die Störung, die Verstörung

➞ [ Oberfläche ]

➞ [ Jedermann ]

➞ [ Narbe ]

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➞ [ Photogénie ]

➞ [ Exzeß ]

➞ [ Widescreen ]

oder den Schock (Morbus Purtscher, das ›Schockauge‹) als Spuren auf der Haut verweist. Ein anderes Beispiel für die ambivalente Beziehung zwischen Auge und Gesicht liefern monochrome Skulpturen, deren Augen merkwürdig herausstechen, sei es, weil sie aufgemalt, sei es, weil sie aus anderen Materialien eingesetzt sind. Auch in Jean Cocteaus Film Le sang d’un poète (Das Blut eines Dichters, F 1930) wird dieses Verhältnis illustriert, wenn der Dichter bzw. Künstler eine Gipsfigur in eine ›echte‹ Frau verwandelt, indem er ihr zuerst einen ›lebenden‹ Mund aufdrückt. Verstörend an der Cocteauschen Skulptur ist vor allem der Kontrast zwischen dem weißen Steingesicht und den (auf die Lider) aufgemalten, riesigen Augen, die an archaische Kultbilder und Totenmasken erinnern. Doch die Figur bleibt trotz ihrer exponierten Augen blicklos, vielleicht sogar blickloser als zuvor, weil der Zuschauer sich der Differenzen zwischen Körper, Auge, Gesicht und Blick bewußt wird – indem das Gesicht nämlich weiterhin ausdruckslos weiß bleibt, geraten die Augen (wie der Mund) zu dem, was sie eigentlich sind: zu separierbaren Organen. Wer in diese versiegelten Skulpturenaugen schaut, fühlt sich befremdlich auf sich selbst zurückgeworfen. Auch François Truffauts Film La chambre verte (Das grüne Zimmer, F 1977/78) exponiert in einer morbiden Weise das starre Auge: Für die Verkörperung der verstorbenen Protagonistin und den an ihr auszuübenden Totenkult benutzte er zunächst eine lebensgroße Wachspuppe mit gläsernen Augen. Da die Wachspuppe in den Aufnahmen nicht die erhoffte Wirkung einer Effigie hatte, setzte Truffaut kurzerhand eine Schauspielerin ein, der man Augen auf die Lider aufmalte, um auf diese Weise einen erstarrten Zustand zu evozieren. Bei diesen Beispielen an ›tote‹ Augen der Automaten in E.T.A. Hoffmanns Erzählungen oder an die Puppen eines Hans Bellmer zu denken fällt nicht schwer (vgl. Müller-Tamm/Sykora 1999), doch den Kern dieser Assoziation bildet nicht der tatsächliche Tod einer Person oder die faktische Leblosigkeit einer künstlichen Figur. Entscheidend ist der radikale Bruch mit einer blickbasierten Kommunikation, die man üblicherweise einfordert, wenn man jemandem ins Gesicht schaut. Der Blickaustausch ist dabei konstitutiv, das heißt, das Empfangen und Aussenden von Blicken bildet die Basis einer gelungenen facialen Verständigung und damit auch die Basis der Selbstbestätigung als soziales Subjekt (vgl. Koch 1995: 272-291). Anders hingegen wirken die ›toten‹ Augen, die nicht eine unmittelbare Adressierung und Aussage über das fremde Subjekt, sondern eine Aussage über die eigene Person einleiten, indem sie nämlich ihre soziale Nichtexistenz zum Ausdruck bringen. Die berühmte Aufnahme des Auges in Luis Buñuels Film Un chien Andalou (Ein andalusischer Hund, F 1929), die noch heute viele Zuschauer dazu zwingt, ihren Blick kurz von der Kinoleinwand abzuwen-

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den, zeigt wie ein Rasiermesser ein Auge im Gesicht einer Frau durchschneidet. Daß es sich dabei um das Auge eines Stieres oder einer Kuh handelt, wie die darauffolgende Detailaufnahme vom durchgeschnittenen Auge nicht verheimlichen kann und will – man sieht deutlich das haarige Fell des Tieres und die schmale Form seines Auges –, schmälert die Wirkung der Darstellung nicht im geringsten. Was die Detailaufnahme leinwandfüllend vorführt, ist ein aufgerissenes Auge, aus dem die Flüssigkeit wie eine ›Innerei‹ herausquillt. Der Blick, den man gerade in der Groß- und Detailaufnahme gewohnt ist zu empfangen, ist hier buchstäblich durch- bzw. abgeschnitten: Dem Zuschauer kommt in aller Extremität etwas entgegen, was körperlich und nicht mehr ›sphärisch‹ wie der Blick selbst ist. Es ist der eigene Blick, der von diesem Auge abgewehrt unerwartet zu uns zurückkehrt und uns mit der ganzen Wucht eines sichtbargewordenen Partialobjektes trifft, so daß wir uns schließlich davon abwenden müssen. Buñuel, für die psychoanalytische Codierung seiner Bilder bekannt, bringt hier das Auge in Beziehung zum Mond (der von Wolken ›geschnitten‹ wird) und dem Stier (der Kuh), womit er es ganz im Einklang mit Batailles Geschichte des Auges lunatisch-sexuell und in Unabhängigkeit vom Gesicht konnotiert. Ob das weibliche Auge in Un chien Andalou von dem Rasiermesser ›durchgestrichen‹, das heißt tödlich penetriert wird, oder Truffauts Puppe in La chambre verte, Cocteaus junger Dichter in Le sang d’un poète und Julie in Bleu – sie alle sind in diesem Sinne tote Personen oder Dinge. Die Puppe ist in der Stellvertreterschaft eine unbelebte Effigie; der Poet stirbt einen symbolischen Tod, als er sich in die Welt der Kunst begibt, ebenso Julie, als sie sich der Trauerarbeit verweigert. Symbolisch für dieses Sterben oder den Tod steht das Auge, das nicht antworten will oder nicht antworten kann und dadurch die faciale Kommunikation zum Erliegen bringt. Damit befinden sich die lebenden Protagonisten der Filme in einem gleichsam mortifizierten Bereich zwischen (organischem) Leben und (sozialem) Tod. Ein anderes Verhältnis von Augen und Sehen thematisiert auf drastische Weise der Film Suspect Zero (Suspect Zero, USA 2004) von E. Elias Merhige. Ein mit seherischen Fähigkeiten ausgestatteter Ex-FBI-Agent beginnt Morde zu begehen, die sich dadurch auszeichnen, daß den Leichen die Augenlider abgetrennt werden. Die verstümmelnde Handlung verändert das Gesicht der Opfer bis zur Unkenntlichkeit. Es scheint, als ob nichts an dem Gesicht mehr so ist, wie es war, wenn statt der gewohnten Augen nun weiße, glasige Kugeln hervorstechen. Tatsächlich kann man sich beim Anblick der verstümmelten Leichen kaum des Gefühls erwehren, in den Gesichtern befänden sich zwei noch nie dort gesehene Fremdkörper. Mit dem Abtrennen der Lider wird das sonst im Gesicht ›versteckte‹ Auge entblößt oder losgelöst – im Kontext des Films steht es für ein monumentales, ein gottgleiches Sehen, dem nichts entgeht.

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➞ [ Umriß ]

In der Antike und in der christlichen Ikonographie war das einzelne lidlose Auge ein bevorzugtes Gottessymbol. Es versinnbildlichte die Allmacht des Sehens, was gleichermaßen die Allmacht des Wissens bedeutete. Aber ein solches Auge ist nicht nur wissend, sondern auch schutzlos – da lidlos – der Wahrheit ausgeliefert. Dem gottgleichen Protagonisten mit den seherischen Fähigkeiten wird das Sehen zum Fluch, dem er ›lidlos‹ ausgeliefert ist: »Lerne zu sehen« ist die verschlüsselte Botschaft, die mit der Offenlegung des Sehorgans gegeben wird. In diesem Punkt treffen sich die ansonsten so unterschiedlichen Filme Bleu und Suspect Zero, denn auch Julies monströses Sehen hat eine totale Preisgabe an die Realität zur Folge. »Lerne zu sehen« bedeutet hier, die Wahl einer radikalen Freiheit zum absoluten Nichtagieren (vgl. Zˇizˇek 2001). Was damit gemeint ist, verdeutlichen die zahlreichen Groß- und Detailaufnahmen des Films, in denen banale Dinge des Lebens aus ihren Kontexten herausgehoben werden. Als innerfilmische Exkurse, die die Kontingenz der realen Welt (der Dinge) thematisieren, durchziehen sie den gesamten Film. Hier ist Julie in gewisser Weise selbst zu einer Apparatur des Sehens, zu einem registrierenden Auge geworden. Sie sieht dem Schatten zu, der im Wechsel des Lichteinfalls langsam seine Position an der Wand verändert; sie betrachtet, wie sich ein Zuckerwürfel mit Kaffee vollsaugt und schließlich die volle Tasse zum Überschwappen bringt, sie sieht ihrem Finger zu, wie er sich entlang der Musiknoten bewegt. Bei diesen detaillierten Einzelwahrnehmungen handelt es sich um spezifische Parzellierungen der sichtbaren Wirklichkeit durch das menschliche Auge, das Zeit-Bilder produziert, ganz im Sinne von Gilles Deleuze. Die Zeitlichkeit dieser Bilder besteht darin, daß sie Sinnhandlungen ausschließen (vgl. Deleuze 1985/1992). Julie will sehen, ohne zu blicken, um sich von den Bildern der Realität forttragen zu lassen und vergessen zu können. Daß ein solches ambivalentes Sehen/Nichtsehen eines monströsen, da entsubjektivierten Auges bedürfte, liegt auf der Hand. Daß es gleichzeitig aber unmöglich ist, die Bilder der Erinnerung auszulöschen, das wird anhand der vielen Abblenden deutlich. An diesen ins Schwarze gehenden Szenen schließt Julie gewissermaßen das Auge, um sich der Erinnerung zu entledigen: Die Leinwand wird schwarz, so als ob der Zuschauer selbst blind geworden sei. Man könnte diese Fade-outs auch als ein Abbild der seelischen Untiefen, der Verweigerung der Kommunikation und der Teilnahme am Leben interpretieren: »Diese Nacht erblickt man, wenn man dem Menschen ins Auge blickt – in eine Nacht hinein, die furchtbar wird […]« (Hegel 1806/1987: 172). Auch hier muß man zunächst den erwidernden Blick, der den Betrachter an sich bindet, annullieren, will man ›ins Auge‹ selbst vordringen. Die lidlosen Augen in Merhiges Suspect Zero möchten etwas anderes lehren: ihre Anwesenheit als Körper – als hervorspringende, runde

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Körper – transformiert den Blick zum Sehen. Diese nächsthöhere Stufe entkoppelt die Wahrnehmung vom menschlichen Subjekt; das Auge drängt im wahrsten Sinne des Wortes nach außen, raus aus dem menschlichen Gesichtsfeld. Im Film ist der Zuschauer mit Szenen konfrontiert, die aus einer Vogelperspektive und durch eine konkave Linse aufgenommen wurden, so als schaute er nicht mit einem Auge, sondern buchstäblich durch ein Auge hindurch. Erneut begegnet uns das Monströse am Auge, das zu einer imaginären, einer allwissenden Kamera wird: »Ich bin Kinoglaz. Ich bin ein mechanisches Auge« (Vertov 1923/1995: 33) – in Suspect Zero ist es das entfesselte Auge eines Sehers. Aber es gibt auch Gesichter – worauf ich hier nur kurz hinweisen kann –, die ausschließlich aus Augen zu bestehen scheinen. Die Rede ist von den verschleierten moslemischen Frauen, wie sie beispielsweise Harun Farocki in seinem Film Bilder der Welt und Inschrift des Krieges (BRD 1988) thematisiert. Hier verschieben die signifikanten Sichtschlitze in den Kopf- und Körperbedeckungen der Frauen das Gesicht zu den Augen hin (vgl. Volkening 2001): Alles, was das Gesicht ist oder sein könnte, findet sich eingeschrieben in die einzige frei sichtbare Partie. Die berühmt gewordenen Fotografien von Marc Garanger, der 1960 für die koloniale Registrierung der algerischen Bevölkerung seitens der französischen Armee Hunderte von paßfotoähnlichen Darstellungen schuf (veröffentlicht 1982), inszeniert Farocki als Einschreibungen des Krieges in den Frauenkörper. In der kolonialen Aneignung, das heißt der Entschleierung, sollte die zuvor Verschleierte kein Gesicht, sondern vielmehr einen (nackten) weiblichen Körper bekommen. Indem Farocki diese ›entblößten Fotos‹ mit seinen Händen erneut ab- und aufdeckt, exponiert er auch die doppelte Aussage der Augen: Neben ihrer Funktion der Blickgenerierung – das explizieren Garangers Fotos insbesondere als den ›zurückgeworfenen Blick‹ (vgl. Dubois 1990/1998: 180f.; Abb. ebd.) – deuten sie auf die kulturellen, patriarchalen und religiösen Einschreibungen hin. Aber in einem unsichtbar gemachten Gesicht umgehen die Augen zugleich auch das Verbot der Sichtbarkeit der Frau. Inmitten der Verschleierung sind es die Augen, die sich selbst gegen das Eindringen von Außen verschließen können. Und das nicht nur, indem sie die Lider senken, sondern weil sie durch die Fähigkeit zur Spiegelung den Blick des Betrachters abwehren können. Abschließend komme ich noch einmal auf Bleu und auf die enge Verwandtschaft von Auge und Träne: Symptomatisch für ein ›monströses‹ Auge ist seine Unfähigkeit zu weinen. Julies Trauer – oder ihr Schock – ist zu maßlos, um in Tränen eine Erlösung finden zu können. So wie die weit aufgerissenen Augen des Sehers in Suspect Zero einen Tränenfluß produzieren, ohne daß sie in Trauer die Lider senken könnten, so symbolisiert die Farbe Blau, die ästhetisch den gesamten Film dominiert, und Julies rituelles Bad in einem blau

➞ [ Yentl ]

➞ [ Double ]

➞ [ Träne ]

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durchfluteten Wasserbecken eine Verschiebung der Funktion, die üblicherweise dem Auge zugesprochen wird, ins Symbolische: Blau als die Farbe des Wassers und der Melancholie bzw. Trauer steht hier für das Weinen und die Tränen, die Julie selbst (noch) nicht fähig ist zu vergießen. So wird in beiden Filmen das Auge von seinen psychologischen Konnotationen befreit: Julie registriert die Welt in sezierenden Detailaufnahmen – der Ex-Agent benutzt sein ›Auge‹ zu infrarotartigen, verzerrten Erkundungen der Welt des Verbrechens. Beide werden am Ende ihre ›kalten‹ Augen verlieren und wieder zum ›Blick‹ zurückkehren, wenn auch auf gänzlich unterschiedliche Weise. Damit der Seher seine Augen endgültig schließen kann, bleibt ihm nichts anderes übrig als der Suizid – Julie hingegen kann am Ende weinen. Und das Auge? Es kehrt im letzten Fade-out von Bleu zurück. Anders als bei den vorhergehenden Abblenden, die einen undurchdringlichen Raum suggerierten, taucht hier aus den Tiefen der Dämmerung ein Auge auf, das keinerlei räumliche Bezugspunkte zu einem wie auch immer gearteten Gesicht aufweist. In seiner Puppille erscheint wie eine Bildprojektion die Rückenansicht der nackten Julie. Die Musik, die die letzte Sequenz begleitet – es ist eine Komposition auf das alttestamentarische Hohe Lied der Liebe –, bricht in diesem Moment in bedrohlich-dramatische Dissonanzen ein, und zeigt so den Umbruch der Wahrnehmung auf der Tonseite an. Mit diesem in erdigen, warmen Brauntönen dargestellten Auge schließt sich der Kreis einer Erzählung, die mit einem blau illuminierten, ›trockenen‹ Auge einer verletzten Julie im Krankenhaus begann und nun mit einem wiederhergestellten, einem ›blickenden‹ Auge zum Abschluß kommt. Vor dem Hintergrund des durch die Musik angedeuteten biblischen Zusammenhangs, der auch frühere Arbeiten Kie´slowskis kennzeichnet, ist die Assoziation mit einem göttlichen, einem ›totalen‹ Auge naheliegend. Das Bild der nackten Julie im Zentrum eines glasigen, runden Gegenstandes erinnert indes auch an die Embryonalhaltung eines Ungeborenen, das sie in einer traumähnlichen Sequenz zuvor im blauen Licht des Ultraschalls betrachtet hat. War Julie bisher selbst das Auge gewesen, das die Welt in ihrer unerbittlichen Kontingenz aufzunehmen versuchte, so ist sie in dieser letzten Einstellung selbst ein ›Partialobjekt‹ im Auge Gottes, oder weniger theologisch ausgedrückt: im Auge des Anderen. Ganz Auge zu sein, heißt schließlich, sich von seinem Gesicht, von seiner Subjektivität zu befreien. Für Julie bedeutet es, sich der Bilder der Vergangenheit und der Erinnerung zu entledigen, um schließlich eine andere werden zu können. Was heißt das aber für das Gesicht selbst? Bedeutet es, daß beide – das Auge und das Gesicht – schlußendlich ohne einander auskommen? Daß Auge und Gesicht je ihre eigene Geschichte haben können? Ja, warum eigentlich nicht? So kann das Auge offenbar eine vom Gesicht unabhängige Geschichte schreiben, eine, in die sich die Tränen wie auch das Symbolische (das Ei oder der Hoden) einfügen

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können. Und doch ist es gerade die filmische Entdeckung des Auges hinter dem Blick – wie sie die Detailaufnahmen zuweilen ermöglichen –, die dem Gesicht seine Ambivalenzen und Eigentümlichkeiten zurückgibt. Es fällt schwer, den Blick von den filmischen Gesichtern abzuwenden, so wie es den Regisseuren offenbar schwer fällt, das Gesicht nicht in Nah- oder Großaufnahme zu filmen, vielleicht weil man erst auf der Kinoleinwand etwas im Gesicht wahrzunehmen beginnt, das sich sonst mit dem Blick tarnt. Und dazu gehört sicherlich nicht nur das Auge, das dem Zuschauer zeigt, daß am Gesicht nicht alles ›menschlich‹ ist. [ Joanna Barck ]

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[ Blick ]

»Mein persönliches Problem war begrenzter. Wie sollte ich die Damen von Biseau finden? Offenbar wendete sich die magische Funktion des Auges gegen mich. Auf den Märkten von Biseau und den Capverdischen Inseln habe ich die Gleichheit des Blicks wiedergefunden und diese Abfolge von Konstellationen, die einem Verführungsritual so ähnlich ist. Ich sehe sie, sie hat mich gesehen. Sie weiß, daß ich sie sehe. Sie bietet mir ihren Blick aber aus dem Winkel, wo es gerade noch möglich ist, so zu tun, als gelte er gar nicht mir. Und schließlich der wahre Blick, ganz direkt, der eine Fünfundzwanzigstelsekunde dauert, so kurz wie ein Bild.« Begleitet werden diese Beobachtungen der weiblichen Off-Stimme in Chris Markers Sans Soleil (Sans Soleil – Unsichtbare Sonne, F 1983) von drei kurzen Einblendungen. Auf der Leinwand sieht man zunächst Frauen, die eigentlich nicht gefilmt werden wollen: Die erste hält beim Auftauchen der Kamera schützend ihre Hände vor ihr Gesicht, die zweite läuft hastig an der Kamera vorbei und von der dritten ist nur der Hinterkopf zu erkennen. Nach einer Wischblende erscheint schließlich das großformatige Gesicht einer jungen Frau, die vor ihrem Stand sitzt und Waren auf dem Markt anbietet. Die zeitliche Dauer, mit der die Kamera sie aufnimmt, verstärkt die Fokussierung

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auf sie. Die Frau blickt verunsichert einen kurzen Moment in Richtung Kamera und senkt daraufhin ihren Blick, während Passanten durchs Bild laufen. Sie weicht weiterhin dem Zugriff der Kamera aus. Doch dann schaut sie mit einem leichten Lächeln zurück, so als ob ihr Blick von der Kamera unbemerkt geblieben sein könnte. Als sie merkt, daß die Kamera nicht von ihr abläßt, senkt sie ihren Blick wiederum nach unten. Ein weiterer Passant durchquert das Bild. Jetzt blickt sie für einen Moment mit weit geöffneten Augen zum Himmel. Nachdem ein weiterer Passant kurzzeitig den Blick auf sie versperrt, schaut sie wieder gefaßt in Richtung Kamera. Eine Einstellung auf eine andere Frau beendet die Szene. Die Sequenz besticht durch eine vom Autor reflektierte, komplexe Blickkonstellation, die im folgenden entschlüsselt und hinsichtlich der Verwendung des Blicks im Film allgemein untersucht werden soll. Bernhard Waldenfels definiert den Blick folgendermaßen: »Das deutsche Wort ›Blick‹, das etymologisch dem Wort ›Blitz‹ verwandt ist und ursprünglich einen ›Strahl‹ bedeutet, der aus den Augen hervordringt, bezeichnet ein Geschehen, das sich zwischen Sehendem und Gesehenem abspielt, ohne daß es sich in die engen Gesetze einer Optik pressen ließe. Der Blick hat es mit der Organisation und Überschreitung von Gesichtsfeldern zu tun, bei der einiges in den Blick rückt, anderes an den Rand oder den Hintergrund tritt« (Waldenfels 1999: 125). Anders als bei der beschriebenen längeren Sequenz mit der Frau auf dem Markt wenden sich vorher die Gesichter der Frauen demonstrativ von der Kamera ab. Die junge Frau läßt sie gewähren, reagiert aber zunächst mit Zurückhaltung und Ignoranz auf den aufdringlichen Blick der Kamera. Besonders die Attraktivität ihres Gesichts lädt den Betrachter dazu ein, ihre Schönheit lediglich sinnlich wahrzunehmen und den Blick wie den eines Touristen auf die nächste Bildtrophäe weitergleiten zu lassen. Der Wunsch nach Offenlegung einer »Intimität verborgener Einzelheiten« (Balázs 1930: 27), mit der die Großaufnahme des Gesichts das Interesse für die Nuance weckt, bildet im weiteren Verlauf den Ausgangspunkt einer (psychologischen) Dramaturgie von Blick und Gegenblick, die mit der Konzentration auf das Gesicht der Frau und ihrer Reaktionen an das frühe Attraktionskino erinnert. Belá Balázs beschreibt treffend das Mienenspiel als Lyrik und hebt dabei die Rolle des Blicks besonders hervor: »Um wieviel präziser kann ein Blick jede Schattierung eines Gefühls ausdrücken als eine Beschreibung! Um wieviel persönlicher ist ein Gesichtsausdruck als das Wort, welches auch andere gebrauchen! Um wieviel konkreter und eindeutiger ist die Physiognomie als der immer abstrakte und allgemeine Begriff!« (Balázs 1924/2001: 44) In Sans Soleil steigert die Kamera zunächst dieses Begehren hinzusehen. Was zuvor einige Male bei dem Versuch, ein Gesicht abzufilmen, mißlang, scheint nun zu gelingen, nämlich für einen Moment das

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Verhalten einer (aus eurozentrischer Perspektive) ›exotischen‹ Frau aus einer gewissen Distanz in ihrem alltäglichen Umfeld zu beobachten. Doch bei dieser bequemen Haltung beläßt es die Kamera nicht. Sie fokussiert akribisch die mimischen Veränderungen des Gesichts und ermöglicht es erst so, die Frau zu beobachten. Statt das Verlangen des Betrachters zu befriedigen, durchbricht die Einstellung mit zunehmender Länge die Inszenierung der Unberührtheit fremder Kulturen und unterläuft den vermeintlich authentischen Charakter der Szene. Schon Balázs hat in seiner frühen Filmtheorie um die Möglichkeiten der Semantisierung des Blicks gewußt: »Ein langer Blick hat eine andere Bedeutung als ein kurzer. Die Länge oder Kürze der Szenen ist nicht nur eine rhythmische Angelegenheit, sondern bestimmt ihren Sinn« (Balázs 1924/2001: 91). Die Dauer, mit der die Kamera die Frau ins Visier nimmt, stört die habitualisierte Sicht des Urlaubsreisenden auf die ›exotischen‹ Fremden ebenso wie die konsequente Verwendung der Großaufnahme, da diese eine Raumorientierung kaum zuläßt. Der ruhige und feste Kamerablick verrät ein gesteigertes Interesse, das nach einer gewissen Zeit in Aufdringlichkeit umschlägt und eine Reaktion des oder der Angestarrten provoziert: »Es gibt Blicke, die förmlich um den Gegenblick des Betrachters buhlen, und solche, die ihn abschütteln wie eine lästige Störung oder ihn schlichtweg von sich abprallen lassen« (Lersch 1932/1955: 143). Die Großaufnahme ermöglicht zwar, das Gesicht der Frau in Sans Soleil detailgenau zu beobachten, doch zugleich sorgt ihr Blick dafür, den Beobachter auf Distanz zu halten. In diesem Zusammenhang kommt der ›Blickmimik‹ eine besondere Funktion zu. Die Variabilität der Lidspalte erlaubt eine nuancierte Blickeinstellung; sie ermöglicht es, das Eindringen des Gegenblicks physiologisch abzuwehren, bis hin zum Schließen des Auges als einer totalen Verweigerung: »Die Abschirmung des Blicks durch das Schließen der Lidspalte führt in die Nähe von Schlaf, Tod, Erblindung bis hin zur leeren Augenhöhle, die als Symbol der Kastration gelesen werden kann« (Waldenfels 1999: 143). Das Distanznehmen wird mit dem Blick gewissermaßen verkörperlicht. Letztendlich ist es eine Gesichtsaktivität, die einem äußeren Blick den Zugang über Augenkontakt zum ›intimen‹ Inneren versperrt. Wie Philipp Lersch aufzeigt, ist das Vermeiden des direkten Blickkontakts mit der Kamera nicht nur ein Mittel, den Anblick des anderen zu umgehen, vielmehr stilisiert er ganz im Geist des zeitgenössischen Physiognomiediskurses diese Blickscheuheit zur substantiellen Charaktereigenschaft: »Der ausweichende Blick gehört außerdem als ein wesentliches Merkmal zum mimischen Bilde der Schüchternheit und ist durchaus zu verstehen aus der seelischen Grundhaltung des schüchternen Menschen« (Lersch 1932/1955: 59). Die drastischste Reaktion, sich vor dem Zugriff des Kamerablicks

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zu schützen, hätte wie bei den gefilmten Frauen darin bestanden, das Gesicht abzuwenden und zu verbergen. Doch für diesen abrupten Kommunikationsabbruch entscheidet sich die junge Frau auf dem Markt nicht. Vielleicht glaubt sie, daß ihre Intimität durch die ausreichende Distanz zwischen ihr und der Kamera geschützt bleibt. Sie blickt zurück. Allerdings, wie die Erzählerin aus dem Off bemerkt, »nur aus dem Winkel, wo es gerade noch möglich ist, so zu tun, als gelte er [ der Blick der Frau ]« gar nicht ihr respektive der Kamera. Implizit folgt sie so der Aufforderung der Kamera, sich auf sie einzulassen und damit ihr Verhältnis zum fremden Blick zu bestimmen. Das kommunikative Potential des Blicks, eine alltägliche, aber für ein Individuum prekäre Nähe-Distanz-Relation wie ein Relais zu bestimmen, wird in dieser Situation überdeutlich. Nach anfänglich betonter Zurückhaltung trifft schließlich der Blick der Protagonistin auf den der Kamera und damit auf den des Zuschauers, womit sich nach Lersch ein »Gefühl eines Aufgedecktseins, einer Schutzlosigkeit, einer inneren Berührung [ einstellt ], so als sähe der andere in unser Inneres, als habe er eine Wahrnehmung von dem, was in uns an Gedanken, Wünschen, Zielen usw. gegenwärtig ist« (ebd.: 59). In Sans Soleil ist es noch zunächst das Gefühl des neugierigen, aufdringlichen und fremden Blicks, dem sich zu Beginn ausschließlich die Frau als Objekt der Beobachtung ausgesetzt sah, und der sich nun gegen den Beobachter selbst richtet, der sich in der Rolle des Voyeurs ertappt sieht. Im Zurückwerfen des Beobachterblicks auf ihn selbst sieht dieser sich mit seiner eigenen Haltung konfrontiert. Die Wahrnehmung, die nach Jean-Paul Sartre ein Moment des Erfassens beinhaltet, weicht dem Bewußtsein, angeblickt zu werden (vgl. Sartre 1943/1993: 467). Den folgenden, für einen Moment mit weit geöffneten Augen zum Himmel gerichteten Blick der Frau bezeichnet die weibliche Off-Stimme als den »wahren Blick«. Das weit geöffnete Auge wird – kulturell bedingt – als eine Reaktion auf eine Situation interpretiert, die Erstaunen, Entsetzen aber auch Erschrecken auslöst. Die größtmögliche Öffnung der Lidspalte gilt schon lange als unverkennbares, gesichthaftes Zeichen eines psychologischen Zustands und konstituiert die »optische Bezogenheit des Individuums auf die Umwelt« (Lersch 1932/1955: 43ff.). Es ist das für jedermann ablesbare Eingeständnis, dem Blick der Kamera für einen kurzen Moment nicht länger ausweichen zu können. Die dieser Situation vorauseilende Formel der Ich-Erzählerin: »Sie sieht mich, ich sehe sie«, huldigt einem Sehen, das seinen Ursprung im dokumentarischen Bezeugen hat. Die bekannte empirische Behauptung eines »So ist es gewesen« läßt sich in das »So ist es gesehen worden« des historischen Zeugen transformieren, welches das Pathos des ungetrübten Blicks (bzw. Sehens) impliziert (vgl. Konersman 1997: 24). Diese Emphase des authentischen und überlegenen Blicks wird gefördert durch die Kameratech-

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nik, mit der die Ich-Erzählerin das Bei-Sich-Sein des Bewußtseins im »Ich sehe sie« ausdrückt. In diesem Moment fungiert die Kamera als Medium der Selbstbesinnung, womit sich der »innere Prozeß des Sich-Rechenschaft-Gebens […] nach außen verlegt [ hat ]. Der ›klare Blick‹ wird mechanisch fixiert, damit man ihn länger behalte. Die Selbstkontrolle des Bewußtseins war früher eine innere Bildfolge gewesen, nun wird sie als Filmrolle in den Apparat gespannt, mechanisch funktionierend und auch für andere sichtbar« (Balázs 1930/ 2001: 83). Doch dieser Verlockung einer ungetrübten Erweiterung und Verbesserung der Wahrnehmungsbedingungen durch die technische Apparatur, wie es im »Ich sehe« des Kamerablicks zum Ausdruck kommt, erliegt Chris Marker nicht. Die Stabilität des Glaubens an die Unbezweifelbarkeit des Gesehenen wird schnell erschüttert, denn wie die Erzählerin ausführt, dauert »der wahre Blick, ganz direkt« nur »eine Fünfundzwanzigstelsekunde […], so kurz wie ein Bild« (Chris Marker). Der ephemere Blick zum Himmel, mit dem die Frau für einen Moment die gefaßte Haltung vor der Kamera aufgibt, wird als Beweis für den Verlust ihrer gespielten Rolle ausgelegt. Diese apodiktische Evidenz des Blicks wird durch den unvermittelten Hinweis der OffStimme auf die Medialität des Filmbildes in Frage gestellt. Das Hervortreten der medialen Wirklichkeit des Films dekonstruiert zugleich die scheinbar unantastbare sinnliche Wirklichkeit der Szene, die sich im erstaunten Blick der Frau manifestiert. Die Behauptung, sich mit den apparativen Möglichkeiten der Kamera und des Zelluloidstreifens ein wahres Bild vom inneren Seelenzustand der Protagonistin machen zu können, verliert an Aussagekraft. Folgt man statt dessen den lyrischen Ausführungen des Films, so zeigt sich, daß Wahrheit sowenig sichtbar ist, wie der Bruchteil eines Filmbildes für die Trägheit des menschlichen Auges wahrnehmbar. Die Markierung der Wirklichkeit als mediales Abbild sensibilisiert den Betrachter für seine eigene Abwesenheit. Der kontinuierliche Blick auf das Gesicht der Frau wird durch die in rhythmischen Abständen durch das Bild laufenden Passanten immer wieder für einen Moment unterbrochen. Die Bilder wirken wie kurze Einzelbildaufnahmen, die auf den filmischen Aufnahmecharakter der Szene verweisen, da sie die Veränderungen in der Gesichtsmimik im Kontrast zum vorangegangen Bild besonders betonen. Somit ist es nicht nur der Blick der Frau (bzw. der Kamera), der einen Zugang in ihr Inneres versperrt, sondern auch das Medium selbst. Der Blick, der alles erfassen und begreifen möchte, wird zurückgewiesen. Was der Zuschauer statt dessen sieht, ist ein Spiel zwischen Nähe und Ferne, das der Blick austariert, ein Schwanken, das unablässig die Stabilität des Gesichts, seine ursprünglich eingenommene Haltung stört: Das Gesicht der Frau droht verlorenzugehen, und mit seinem Verlust auch die zuvor eingenommene Rolle. Es wird ein Blick

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➞ [ Yentl ]

evoziert, den die Frau erwidert und der zugleich den Betrachter in Frage stellt. Chris Marker zeigt die Bedeutung des menschlichen Gesichts und seine wesentliche Zerbrechlichkeit, mit anderen Worten: das Gesicht in seiner Bestimmung, für den Betrachter verloren zu sein, sobald er hinsieht. Man erfährt das angeblickte Gesicht als etwas, das entschwindet und seine sichtbare Stabilität verliert. Sinn stellt sich hier vor dem Hintergrund der Abwesenheit dar. Nähe und Ferne, das Spiel vom Erscheinen und Verschwinden, tritt in seiner buchstäblich konstituierenden Bedeutung auf. Das Gesicht der Frau wird zum Indiz einer Anziehungskraft, die visuell verarbeitet wird: indem sie sich zeigt, sich präsentiert, indem sie auf den Kamerablick reagiert, ohne ihre Distanz dabei aufzugeben, artikuliert sich diese Annäherung als ein sonderbares Moment souveräner Entfernung, von Fremdartigkeit oder Fremdheit. Der Filmemacher schafft mit seinem Blickspiel einen Ort, um sein Sehen (und das des Publikums) in Unruhe zu versetzen. Diese Unruhe tritt durch das Changieren des Blicks zutage, das den Betrachter erfassen muß, will er nicht wirkungslos sein. Im Akt des Blicks werden Schwellen überschritten. »Der Blick selbst verdoppelt sich. Nur weil der Blick sich selbst entgeht, kann er sich im Spiegelbild und im Spiegel der fremden Augen entdecken. […] Der Blick, der vom fremden Blick angestachelt wird, vollzieht sich immer schon im Anblick anderer« (Waldenfels 1999: 128). Georges Didi-Huberman geht in diesem Zusammenhang einen Schritt weiter. Er spricht nicht allein von einer Spaltung, die dadurch entsteht, daß das, was der Betrachter sieht, ihn anblickt: »Es besteht darin, sowohl über das, was wir sehen, als auch über das, was uns anblickt, – imaginär – hinausgehen zu wollen« (Didi-Huberman 1999: 24). Nach dieser Schlußfolgerung verläßt der Blick des Betrachters die Ebene einer sinnlichen Wahrnehmung und wird in den Formbildungsprozeß miteinbezogen. Erst so kann eine Mischung aus Respekt und Faszination, Anziehung und Distanzierung entstehen, die sich mit Didi-Huberman als Weiterführung des Aurabegriffs Benjaminscher Provenienz deuten läßt: »Zu sehen geben, das heißt stets, das Sehen in seinem Akt, in seinem Subjekt zu beunruhigen« (ebd.: 62). Es kommt also darauf an, eine Sehnsucht des Blicks zu erzeugen, die dem Blick Hindernisse in den Weg stellt oder ihn verunsichert. Die dynamische Alterität und Rätselhaftigkeit des (oder der) Angeblickten ist die Grundvoraussetzung für das Austarieren von Anund Abwesenheit, es ist ein »Dazwischen, ein Entschwinden, ein sich Entziehen, ein fortwährendes Hin und Her, ein Entschwinden und wieder näher Kommen« (Stock 2002: 52). Die Aura dieses dynamischen Blicks zurückzuweisen, hieße eine Gleichgültigkeit an den Tag zu legen, aus der eine Zufriedenheit gegenüber dem Evidenten resultiert (vgl. Didi-Huberman 1999: 23). Eine Sichtbarkeit, die nicht um ihren prekären Charakter weiß, evoziert eine Ergriffenheit, die sich im

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Pathos des distanzlosen Dabeiseins als Augenzeuge äußert und die jenen Filmen mit dokumentarischem Anspruch eine außerordentliche Spannkraft verleiht, die nach Balázs »kein Werk der künstlerischen Phantasie haben kann« (Balázs 1930: 82). Grundlage dieses Blicks ist die Illusion einer Gegenwart, der man scheinbar unmittelbar beiwohnt. Hingegen impliziert die Vergegenwärtigung des Gesehenen den souveränen Blick, der nicht ergriffen wird von seinem Gegenstand und das Gefühl des Überwältigtseins eines »So ist es gewesen« hinter sich läßt. Vor diesem Hintergrund besitzt für Didi-Huberman nur die radikale Abkehr vom unmittelbar Sichtbaren einen Wert. Die Gegenwärtigkeit der facialen Ausdrucksfläche soll sich nicht auf die Sphäre einer stets erreichten idealen Augenblicklichkeit beschränken, sondern sich als die Gegenwart einer Tiefe darbieten. Allerdings fällt es dem Menschen schwer, über das hinauszublikken, was den üblichen Rahmen seiner Alltagswahrnehmung sprengt. »Der Mensch der Tautologie wird alles tun, um die Latenzen des Gegenstandes zurückzuweisen, um die manifeste – minimale, tautologische Identität dieses Gegenstandes wie einen Triumph zu feiern: Dieses Objekt, das ich sehe, ist das, was ich sehe, ein Gegenstand, das ist alles« (Didi-Huberman 1999: 23). Doch selbst das bloße Wiedererkennen eines Gegenstandes im Alltag bietet stets mehr und anderes zu sehen, als sich wissen oder sagen läßt. Und dies trifft nicht nur für das »wiedererkennende Sehen«, sondern auch für das »sehende Sehen« zu. Beide Konzepte lassen sich nur graduell unterscheiden und entgleiten stets jedem Autor, der über die prinzipiell kontingente Wahrnehmung seines Werkes nur bedingt verfügen kann. Erschwert wird die genaue Bestimmung der Blickstrategie durch den synästhetischen Charakter des Blicks, der die gesehenen Dinge nicht als bloße Objekte erfaßt, sondern an ihnen körperlich teilnimmt (vgl. Merleau-Ponty 1964/1994: 181). Dieses Merkmal des Blicks registriert auch Balázs in seinen Beobachtungen zu Vertovs Cˇelovek s kinoapparatom (Der Mann mit der Kamera, UdSSR 1929): »Ein Mann, mit seiner Kamera und seiner Sensibilität. Er selber ist nicht zu sehen. Aber alles, was er sieht, zeigt ihn. Alles, was ihn berührt, läßt seine Rührung fühlen« (Balázs 1930: 78). Auch wenn sich Vertovs komplexe Filmkonzeption nicht einfach nur unter dem pejorativen Begriff des Voyeurismus abhandeln läßt, so betonen sein Filmwerk und seine Filmtheorie des allmächtigen Kameraauges jene Merkmale des Kamerablicks, der das disjunktive Verhältnis von Nähe und Distanz regelt, und dabei Verborgenes sieht, ohne erkannt zu werden (vgl. Meyer 2003: 159). Die physische Anwesenheit des Voyeurs im Kinosaal soll durch die Ergriffenheit seiner Person vergessen gemacht werden, damit dieser dem Geschehen folgt. Zu Vertovs Film notiert Balázs: »Wir gucken gewissermaßen immer durchs Schlüsselloch, und eine Erregung der Intimität ist dabei, Dinge zu sehen, die auf uns nicht vorbereitet sind« (Balázs 1930: 78). Offen-

➞ [ Träne ]

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➞ [ Queer ]

➞ [ Konterfei ]

sichtlich stellt sich das Gefühl der Intimität beim voyeuristischen Sehen insbesondere dank einer latenten Verbindung von Blicken (Sehen) und Berühren ein. Und dies unabhängig davon, ob das Ziel dieser Verbindung die Herstellung von unmittelbarer, ergreifender Nähe (voyeuristische Blickstrategie) beinhaltet oder sich in der Herstellung einer gewissen Ferne artikuliert, die den Blickenden berührt und ihn dabei gleichzeitig von seinem Verlangen distanziert. MerleauPontys Feststellung gilt für beide Strategien gleichermaßen, nämlich »daß jedes taktile Sein gewissermaßen der Sichtbarkeit zugedacht ist und daß es Übergreifen und Überschreiten nicht nur zwischen dem Berührten und dem Berührenden gibt, sondern auch zwischen dem Berührbaren und dem Sichtbaren, das in das Berührbare eingebettet ist« (Merleau-Ponty 1964/1994: 177). Der Sehende kann nach Merleau-Ponty das Sichtbare nicht besitzen, außer er ist davon obsessiv ergriffen. Es ist festzuhalten, daß Distanz oder Ferne das wesentliche Element des Blicks im allgemeinen bildet. Der Blick löst für Merleau-Ponty eine Reflexion über den Raum und die Zeitform des Empfindens aus. Für den französischen Autor ist der Blick oder das Sehen »kein bestimmter Modus des Denkens oder eine Selbstgegenwart; es ist mein Mittel, von mir selbst abwesend zu sein, von innen her der Spaltung des Seins beizuwohnen, durch die allein ich meiner selbst innewerde« (Merleau-Ponty 1967: 39). Das Sehen wird zu »jenem asymptotischen Spiel zwischen Nähe (bis hin zur wirklichen oder vorgestellten) Berührung und Ferne (bis hin zum wirklichen oder vorgestellten Verschwinden und Verlust)« (Didi-Huberman 1999: 150). In seiner Bedürftigkeit begehrt das Subjekt das Ferne. Es kann leicht den Verheißungen einer besseren Zukunft erliegen oder durch ihre heraufbeschworenen Gefahren in seinem gegenwärtigen Verhalten gesteuert und manipuliert werden: »Insofern haben Bilder, die Abwesendes vergegenwärtigen, stets auch den Charakter von Wunschbildern, Angstbildern und Drohbildern« (Waldenfels 1999: 135). Besonders der ›starre‹ Blick, wie er im frühen Kultur- und Spielfilm vorkommt, konnotiert eine räumliche Abwesenheit, die Abwesendes vergegenwärtigen soll. Diese Abwesenheit impliziert die Konstitution eines offenen Raums, in den Wunschbilder projiziert werden können. Allerdings, so betont Waldenfels (vgl. 1999: 135), muß Abwesenheit die Perspektive auf Verlockendes oder Bedrohliches beinhalten, sonst verkommt sie zu einer unproduktiven Kontingenz. Um die gewünschte kommunikative Intention des Blicks nicht zu verfehlen, rückt neben seiner Kontrolle und Eingrenzung daher auch die Frage nach seinem affektiven Modus ins Zentrum, insbesondere im Zeichen einer Blickkultur, die wie im Dritten Reich für die Zwecke einer Ideologie instrumentalisiert wird. Im zweiten Teil dieses Textes soll am Beispiel des Kultur- und Industriefilms im Dritten Reich eine Blickvermeidungsstrategie unter-

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sucht werden, die der reflexiven Blickkonzeption Chris Markers kontrastiv gegenübergestellt wird. Um unter den Bedingungen eines autoritären Regimes die ideologischen Potentiale des Blicks voll auszuschöpfen, leistet die massenhafte Verbreitung des Films in den 1920er bis 1940er Jahren in Italien, Rußland und Deutschland besonderen Vorschub. Sehdiskurse artikulieren, was jeweils von wem und auf welche Weise gesehen werden kann und was nicht. Dies soll im folgenden exemplarisch vor allem am Blickdispositiv des Industrie- bzw. Kulturfilms im Dritten Reich skizziert werden. Fragen nach Konjunkturen der Physiognomie, der Prozessualität des Mimischen und der Vermittlung des Utopischen (im Nationalsozialismus: Überwindung von Klassengegensätzen, Schaffung des ›Volkskörpers‹) lassen sich dabei nicht von der Inszenierung des filmischen Gesichts und seinen Blickoperationen abkoppeln. Auffällig ist, daß der ›starre‹ Blick mit Aufkommen und Entdekkung des ›Arbeitsfaktors Mensch‹ im Industriefilm (beispielsweise in den Filmen von Walther Ruttmann und Leni Riefenstahl) dominiert und ein neues Licht auf das Verhältnis von mimischer, gestischer und sprachlicher Kommunikation wirft, das sich unter dem Imperativ des filmisch inszenierten Blicks verändert. Die Suggestion einer als authentisch und ideologiefrei dargestellten Arbeitswelt, die den Gesetzen des Arbeitsprozesses folgt, erfolgt insbesondere über die filmische Präsentation des Arbeiterblicks. Die mediale Inszenierung des Blicks beruht auf einem strategischen Verhältnis von Inklusion und Exklusion, das das spezifische Verfahren der Sichtbar- bzw. Unsichtbarmachung impliziert. In Chris Markers Film Sans Soleil erwidert die junge Frau den Blick, der sie trifft, und deren Erwiderung beim Betrachter Verunsicherung auslöst und ein Nachdenken provoziert. Der Arbeiter im NS-Film hingegen soll weder durch den Blick in eine reflexive Haltung versetzt werden, noch mittels seiner eigenen Sprachfähigkeit, deren er beraubt bleibt. Der (filmisch konstruierte) Blick des nationalsozialistischen Arbeiters, der auf seine realhistorische Existenz schaut, soll diesen im Gegenteil in die Lage versetzen, sich als »in der Welt und von der Welt aus gesehen zu erfassen« (Sartre 1943/1993: 475). Die Inszenierung des Arbeiters auf der Leinwand, der mit seinem eindringlichen Blick den Arbeiter im Vorführsaal anschaut, distanziert diesen eher von seinem Ebenbild, als ihm die Identifikation damit zu erleichtern. Aus diesem Grund vermeiden es die Propagandafilme der NS-Zeit, den Zuschauer mit einem direkten Blick von der Leinwand zu konfrontieren und bevorzugen statt dessen den Blick des heroischen und ›geistesabwesenden‹ Arbeiters (diagonal aus dem Bild heraus) oder die Darstellung seines konzentrierten Blicks, der auf unmittelbare Arbeitstätigkeiten gerichtet bleibt. Die scheinbare ›Humanisierung‹ der Arbeitswelt im Dritten Reich beschränkt sich darauf, den Arbeiter

➞ [ Zensur ]

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im Film postkartenhaft zu inszenieren, wodurch sie dessen Blick ephemer erscheinen läßt. Der ›starre‹ Blick des stummen Arbeitersubjekts, der kein Gegenüber sucht, sondern diagonal aus dem Bild zielt, konnotiert die Abwesenheit des Blicks einer anderen Welt, »der den Kreis des Sichtbaren sprengt und eine Entgegenwärtigung bewirkt« (ebd.: 136). Erst durch den leicht diagonal angehobenen Blick aus dem Bildraum heraus entflieht der Arbeiter der Unmittelbarkeit des ›irdischen‹ Arbeitsprozesses und dessen konkreten Spuren. Der entgrenzte Blick impliziert den im Dritten Reich gewünschten Effekt einer Abwehr des Blicks, der Gesehenes verwandelt. Diese Abwesenheit trotz leiblicher Anwesenheit evoziert einen Blick, der den Kreis des Sichtbaren sprengt und eine räumliche Entgrenzung bewirkt. Eröffnet wird ein Sehen auf eine transzendente Wirklichkeit, die die physisch-psychische Wirklichkeit hinter sich läßt. Dieser der näheren Umgebung entfliehende Blick tritt einer Blickkonstellation diametral entgegen, die ein Gegenüber sucht, und die damit ihre Verweiskraft auf eine transzendente Wirklichkeit einbüßt. Ganz im Gegenteil: Der Anblick des anderen ermöglicht das Spüren der eigenen, subjektiven Gegenwart (Sartre 1943/1993: 481). In der dominierenden Blickkonzeption im Kultur- und Industriefilm der 1930er Jahre des Dritten Reichs wird jene Gegenseitigkeit gerade vermieden, die den Arbeiter einem fremden Blick aussetzt und der durch den beredten Anblick den Anspruch erhebt, die eigene Situation über den erwiderten Blick zu reflektieren. Das Regime wußte um die latente Gefahr, daß proletarische Traditionen und die Solidarität der Arbeiterschaft durch den direkten Blick des Arbeiters von der Leinwand auf das Publikum stimuliert werden könnten, und bezog sie in ihr propagandistisches Kalkül mit ein. In keinem Fall durfte eine Vergegenwärtigung der realhistorischen Situation heraufbeschworen werden, die das Bild vom entfremdeten, untertänigen ›proletarischen Sklaven‹ aktiviert. Selbst ein flüchtiges Wegsehen könnte die Haltung des Arbeiterheroen unterlaufen und seinen Blick in eine unerwünschte Form des Antwortens verwandeln (Waldenfels 1999: 131). Dem transzendenten Blick ist der Modus des ruhigen, leblosen Blicks eingeschrieben, wie er auch im Spielfilm, beispielsweise in der Figur des »müden Todes« (gespielt von Bernhard Goetzke) mit seinem ›nach innen gekehrten Blick‹ im gleichnamigen Film von Fritz Lang (Der Müde Tod, D 1921) auftritt. Der transzendente Blick des Arbeiters ist nicht ohne die aufrechte Haltung zu denken, eben jene Haltung, die sich von der des versklavten Arbeiters maßgeblich unterscheidet. Die Immunisierung gegen äußere Reize, die das Blickverhalten des überheblich-abweisenden und ›blasierten‹ Menschen ausmacht, läßt sich auch auf den abweisenden Blick des Arbeitstitanen im Dritten Reich übertragen, woraus sich eine »Ablehnung der allgemeinen Bereitschaft zur Reizaufnahme [ ergibt ], was sich auf dem besonderen Gebiete der opti-

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schen Wahrnehmung in der Herabsetzung des Impulses zur Innervation des Augendeckelhebers auswirkt« (Lersch 1932/1955: 53). Statt einer sozialistischen oder gar kommunistisch geprägten Einstellung sollte eine Nationalisierung und Heroisierung etabliert werden, die metaphorisch den ›Volkskörper‹ an die Stelle des Klassenkampfes setzt. Der Arbeiter durfte nicht in die Lage versetzt werden, seine soziale Situation im Hier und Jetzt zu reflektieren, sondern sollte statt dessen den Verheißungen einer besseren Zukunft nachgeben, die Bestandteil des Utopieversprechens der Nationalsozialisten waren. Für die Integration des für die Rüstungsindustrie so unentbehrlichen Arbeiters konnte die ideologisch ausgerichtete Blickkonstruktion, wie sie in Propagandafilmen des Dritten Reichs dominiert, einen wertvollen Dienst leisten. Neben dem ›transzendenten‹ Sehen (diagonal aus dem Bild heraus) wird indes noch eine zweite dominierende Blickkonstruktion im Industriefilm des Dritten Reichs etabliert: der auf Arbeitsprozesse an halbautomatischen Maschinen gerichtete, konzentrierte Blick des Arbeiters, der sich als ›männlicher Blick‹, als das ›Schauen nach dem Anderen‹ artikuliert. Auch im Mikronarrativ des Arbeitenden selbst wird das Potential des Blicks zielgerichtet eingesetzt. Der Blick erhebt keinen Anspruch, der daraus resultieren könnte, daß er als fremder Blick den Betrachter trifft. Claudia Schmölders sieht darin die Fortschreibung eines Blickdiskurses, der an den Beginn des 19. Jahrhunderts zurückreicht. »Das eigentümliche Starren in ein fremdes und nacktes Gesicht oder auf einen fremden oder nackten Körper wurde zu einer der auffälligsten Attitüden des anthropologischen Interesses ab 1800, halb szientifisch, halb voyeuristisch und in wachsendem Maße den Gegenblick abwehrend« (Schmölders 2000: 40). Teil dieses Physiognomiediskurses im Dritten Reich ist die Auffassung, sich selbst und andere im Spiegel zu evaluieren, statt miteinander zu reden. Im Rahmen der nationalsozialistischen Suggestivtechnik zeigt sich die kommunikative Funktion des Blicks und seine kulturell determinierten Implikationen; der Blick ist sowohl ausgerichtet auf ein ›Nicht-Sehen-Sollen‹ als auch auf unerfüllte Zukunftserwartungen der Adressaten. Dem deutschen Volk, so eine Leitmaxime des Dritten Reiches, sollten ›die Augen geöffnet werden‹. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland kommt verstärkt auch eine apokalyptische Sprache des Optischen zum Einsatz, die vom Gegenwärtigen absieht und den Blick in eine vermeintlich bessere Zukunft richtet. Dieses Sehen ist Ausgangspunkt für den schon im Kapitel 21 der Johannesoffenbarung konstatierten Untergang der alten Welt, die durch eine neue ersetzt werden soll. Die kritische Ironie einer distanzierenden Blickkonstellation wie in Sans Soleil steht einer solchen metaphysischen oder religiösen Haltung, die nach definitiver Offenbarung strebt, schroff entgegen. Im visuellen Begehren muß der Wunsch nach einer totalen Sichtbarma-

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➞ [ Ikone ]

chung wachgehalten bleiben, ohne seine Einlösung. Der Betrachter darf sich nicht satt sehen. In diesem Sinn steht im Zentrum »darüber hinaus zu schauen, im eschatologischen Wunsch nach einer Sichtbarkeit, die über den irdischen Raum und über die irdische Zeit hinausgeht … Auf diese Weise gab es für den vor der ›Veronika‹ knienden Gläubigen nichts zu ›haben‹ [ avoir ], sondern nur die Aura zu sehen [ à voir l’aura ]« (Didi-Huberman 1991: 141). Von der Ikonenverehrung, die für Didi-Huberman das »historische Paradigma und die anthropologische Form par excellence der Aura darstellt« (ebd.:147), profitiert auch die auf Unnahbarkeit, Ferne und Mythos ausgerichtete Blickkonzeption des Dritten Reichs. [ F. T. Meyer ]

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[ Casting ]

Den Mann trennen nur wenige Zentimeter von der Kamera. Er befindet sich im wörtlichen Sinne Auge in Auge mit dem Objektiv: Kurzerhand stülpt er der Kamera seinen Cowboyhut über und bezeichnet sie als »altes Glotzauge«, das eine gewisse Familienähnlichkeit mit einem seiner Onkel aufweise. Durch diese Aktion vermenschlicht er die Apparatur, die eigentlich nur sein Bild aufzeichnen soll. Sein Gesicht wird in dieser Szene seitlich aus dem Off angestrahlt, aus Richtung der direkt vor ihm postierten Kamera. Die mittlere Partie im Halbprofil wird dabei hell ausgeleuchtet, während auf dem Hals ein Schlagschatten liegt. Der Mann nennt sich »Lonesome« Rhodes und befindet sich zum ersten Mal in einem Fernsehstudio. Er verkörpert den Mann von der Straße, dem man zuvor wegen des malerischen Effekts kurzerhand einen Cowboyhut aufgesetzt und einen Strohhalm zwischen die Lippen geschoben hat – einen Mann, der jedoch gerade eine sagenhafte Karriere als Rundfunkentertainer begonnen hat. Dieser von Andy Griffith gespielte Held ist zugleich Titelfigur in Elia Kazans Film A Face in the Crowd (Das Gesicht in der Menge, USA 1957) – einer Parabel über Einfluß und Macht von Massenmedien in der Ära Eisenhowers und McCarthys. Sein erster Auftritt im Fernsehen soll darüber entscheiden, ob er diese Karriere auch in einem

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44 | [ Petra Löffler ]

➞ [ Make-up ]

➞ [ Double ]

Medium fortsetzen kann, das über größere Wirkungsmöglichkeiten verfügt als das lokale Radio. Zur Überraschung aller Anwesenden durchbricht der Held jedoch den Wirklichkeitsillusionismus der LiveSendung, indem er mit dem Kameramann spricht und dessen Kontrollmonitor ins Blickfeld seines imaginären Fernsehpublikums rückt. Diese Chuzpe begründet, wie sich bald herausstellen wird, sein Ansehen und seinen Erfolg, macht ihn gerade authentisch und glaubwürdig. Die Szene entspricht in präziser Weise einem Vorgang, der gemeinhin Casting genannt wird. Beim Casting werden Bewerber für eine Rolle ausgewählt; es gilt, einen vorbestimmten, noch leeren Platz einzunehmen, ein Territorium zu besetzen. Dies ist genau die Situation, in der sich der Protagonist bei seinem ersten Fernsehauftritt befindet. Um den Testcharakter dieser Situation zu unterstreichen, schneidet der Film auf den Senderchef, den Aufnahmeleiter in der Sendekabine und auf seine ›Entdeckerin‹ Marcia Jeffries (Patricia Neal), die gemeinsam mit dem zukünftigen Gagschreiber Mel Miller (Walter Matthau) im leeren Publikumssaal sitzt. Sie alle markieren die Subjekt-Position des Publikums, aus der sie genauestens Rhodes’ ungewöhnliches Handeln beobachten und ihm zunächst bestürzt, dann aber zunehmend bewundernd folgen. Denn in gewisser Weise entsprechen seine unvorhergesehenen Aktionen durchaus der Idee der Live-Sendung, die Zufälle in ihr Sendeschema zu integrieren gewohnt und zur Improvisation verpflichtet ist. Dazu paßt auch, daß sich der Held vor seinem Auftritt die Schminke wieder abwischt, die ihm in der Maske verpaßt wurde, um so authentisch wie möglich zu wirken. Diese Demaskierung muß dem imaginären Zuschauer der Fernsehsendung natürlich verborgen bleiben. Sie findet ausschließlich auf der Ebene der filmischen Diegese statt: Der Film zeigt die Herrichtung eines ›Nobody‹ hinter den Kulissen des Fernsehstudios. Dieser ›Nobody‹ wiederum wird von einem Schauspieler verkörpert, der seinerseits vor Drehbeginn für diese Filmrolle gecastet und für die Aufnahme hergerichtet wurde. Die Casting-Situation läßt sich also auch über die Grenzen der filmischen Diegese hinaus auf die Produktionsbedingungen des Films ausdehnen – solche Szenen, die das Casting ausstellen, reflektieren immer zugleich auch die Bedingungen und Konventionen des Filmemachens. Auf filmästhetischer Ebene stellt diese Szene aus Kazans Film eine Spiegelsituation dar: Im Kader des Films sind der zum Fernsehpublikum sprechende und der sich als Sprechender zugleich im Kontrollmonitor beobachtende Rhodes vereint. Dessen Spiel mit der Kamera und dem Live-Charakter der Fernsehshow gestaltet Kazans Film als mediale Verdoppelung der technischen Apparatur. Er rückt die üblicherweise unsichtbare Kamera im Fernsehstudio mitsamt Kameramann in den Fokus der ihrerseits unsichtbar bleibenden Filmkamera und entlarvt auf diese Weise nicht

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nur den künstlichen Charakter der Aufzeichnung vor laufender Kamera, sondern erzeugt zugleich eine Mise-en-abîme der apparativen und institutionellen Rahmungen jeglicher technischen Reproduktion. Solche Spiegelungen sind für die filmische Reflexion des Schauspielens, der Konfrontation von Darsteller und Kamera Legion und noch nicht unbedingt ein Beleg für eine subversive Haltung: Das Dispositiv zu ›zeigen‹, gehört darüber hinaus zum ideologiekritischen Selbstverständnis vieler Filmemacher nicht erst seit den 1970er Jahren (vgl. Metz 1991/1997: 69f.). Film-im-Film-Konstruktionen haben sich jedoch bewährt, um das Casting aus dem filmischen Off zu holen und seine spezifischen Bedingungen und Effekte zu reflektieren. Man denke etwa an Filme wie Charlie Chaplins Limelight (Rampenlicht, USA 1952), A Star is Born (Ein neuer Stern am Himmel, USA 1954, George Cukor) oder Mulholland Dr (Mulholland Drive – Straße der Finsternis, USA 2001, David Lynch), die den Testcharakter des Castings und den institutionellen Rahmen des Startums aufzeigen. Oftmals bezieht dabei die Handlung ihre Spannung aus der Vermischung des Lebens auf und des Lebens hinter der Bühne. Lynchs Film etwa ist geradezu eine Parabel auf das Verwischen der Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit – nicht zuletzt überzeugt die angehende Filmschauspielerin Betty (Naomi Watts) in einer expliziten Casting-Szene durch ihre Fähigkeit, Gefühle selbst für ihren gewieften Spielpartner perfekt zu verkörpern. Auch Andrzej Zuławskis Film L’important c’est d’aimer (Nachtblende, F/I/BRD 1975) arbeitet sich an diesem Dispositiv des Films ab. Hier muß sich Romy Schneider als erfolglose Schauspielerin in pornografischen Filmen exponieren und wird dabei auch noch von einem Pressefotografen bedrängt. Und es ist die bilderhungrige Kamera, die ihr auch den letzten Rest an Würde und Menschlichkeit zu rauben scheint. Man kann in diesem Film auch die private Tragödie der Darstellerin wiedererkennen, die als Filmstar ihre Intimsphäre vergeblich zu wahren versucht. Foto- und Filmkamera werden in Zuławskis Film, der als eine Kritik der ökonomischen Zwänge des Kinos und der Machenschaften der Boulevardpresse verstanden werden kann, als entmenschlichende Apparate gezeigt; sie erscheinen als kannibalistisches Monster, wie Luigi Pirandello die Filmkamera bereits Ende der 1920er Jahre in seinem Roman Aufzeichnungen des Kameramanns Serafino Gubbio bezeichnet hat. Auf Zuławskis Film trifft aber auch zu, was Christian Metz als »sentimentale Alchemie« gebrandmarkt hat: Er demystifiziert die Kamera nur, um das Kino »zugleich umso mehr zu bewundern« (ebd.: 70). Vor diesem Hintergrund könnte man sagen, daß A Face in the Crowd Mensch und Apparatur in ein durchaus ausgewogenes »Figurationsverhältnis« (Stefan Rieger) spannt, in dem die Kamera genauso vermenschlicht wie der Darsteller diszipliniert wird – und zwar allein deshalb, weil die reale Filmkamera unsichtbar ist und damit »eine

➞ [ Star ]

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➞ [ Grimasse ]

Konstruktion des Zuschauers« (ebd.: 76) bleibt. In Kazans Film beinhaltet und reflektiert das Filmbild gleichzeitig das Medium Fernsehen, wenn man die verbreitete These Marshall McLuhans abwandelt, daß der Inhalt eines Mediums stets ein anderes Medium sei. Für McLuhan ist jedoch umgekehrt das ›ältere‹ Medium Film Inhalt des ›jüngeren‹ Mediums Fernsehen, weil dieses seine mimetische Wirklichkeitsdarstellung beerbt, um sie zu einem Echtzeit-Kontrolldispositiv zu operationalisieren (vgl. McLuhan 1964/1995). Diese Sichtweise legt zumindest Kazans Held nahe, wenn er in die Kamera hineinschaut und behauptet: »So ist es recht, jetzt sehe ich die ganze Stadt vor mir«, ganz so als wäre sie ein gigantisches Fernrohr. Er benutzt die Kamera, die ihn fokussiert, seinerseits zugleich als imaginäres Überwachungsinstrument. Dabei steht er so nahe vor ihr, daß der Fernsehzuschauer, wie man schlußfolgern muß, nur einen Teil seines Gesichts in ungewöhnlicher Vergrößerung zu sehen bekommt und seine Mundbewegungen als Grimassen erscheinen. Dabei adressiert der Protagonist das Publikum direkt, und zwar in einer Weise, die seit den Anfängen des fiktionalen Films verpönt war: Er zeigt mit dem Finger auf seine Zuschauer, spricht sie an und bringt sie sogar dazu, Geld für eine bedürftige Afroamerikanerin zu spenden, die er vor die Kamera drängt. Allein dies stellt im Amerika der 1950er Jahre einen brisanten und skandalösen Akt dar, war es doch damals ganz und gar nicht üblich, Farbige als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft zu betrachten. Die Kamera ist jedoch in dieser Szene nicht ausschließlich der symbolische Platzhalter für eine Kommunikation mit dem abwesenden Publikum, sondern gleichzeitig Medium der Selbstkontrolle, wenn der Protagonist den Monitor, der dem Kameramann als Kontrollinstrument dient, zu sich dreht und sie damit zugleich dem Fernsehpublikum zu sehen gibt, ihm und gleichzeitig sich selbst zuwinkend. Die Kamera fungiert hier gleichsam als ein mobiler Spiegel, der ihm sein Bild instantan und ungetrübt liefert: Der Protagonist winkt und betrachtet sein Winken auf dem Monitor, als würde er seine Wirkung auf dem häuslichen Bildschirm direkt testen wollen. Die filmische Figur castet sich gewissermaßen selbst und spielt zugleich mit der Testsituation, als welche Walter Benjamin das Schauspielen vor der Filmkamera charakterisiert hat. Für Benjamin bestand das Besondere des Films darin, daß er die Testleistung ausstellbar macht, »indem er aus der Ausstellbarkeit der Leistung selbst einen Test macht« (Benjamin 1935/1991: 450). Für diese Auffassung des Schauspielens im Film waren Pirandellos Aufzeichnungen ein wichtiger Stichwortgeber. Auch Arnold Bronnens biografischer Roman Film und Leben. Barbara La Marr von 1928 reflektiert die disziplinierende Macht der Kamera. Das Casting, dem sich die hier angehende Filmschauspielerin unterziehen muß, trägt bei Bronnen Züge einer unmenschlichen Tortur: Um den Anforderungen der Kamera zu genügen, müssen nicht nur

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die Mängel ihres Gesichts mittels Schminke behoben werden, sondern sie muß auch das blendende Scheinwerferlicht und die Kommandos des Kameramanns aushalten, der in dieser Zeit noch vielsagend Operateur genannt wird. Durch das Vis-à-vis von menschlichem Auge und Kameralinse werden in Kazans A Face in the Crowd der übliche Ablauf und die Selektionsmechanismen des Castings kenntlich gemacht und zugespitzt. Bereits in der Eingangsszene des Films wird das Casting als Leitmotiv etabliert: Die Rundfunkreporterin Marcia Jeffries sucht sich für ihre tägliche Morgensendung beim lokalen Sender KGRK jedesmal einen anderen Schauplatz und einen anderen Gesprächspartner aus. Sie interviewt vor allem einfache Menschen von der Straße. Ihre Sendung heißt entsprechend Ein Gesicht in der Menge. Bei ihrer Suche nach einem Interviewpartner besucht die Reporterin auch das örtliche Gefängnis. Dort gerät ihr zunächst eine Reihe unwilliger Häftlinge vors Mikrofon. Schließlich beugt sie sich über einen schlafenden Mann, der mit dem Rücken zu ihr auf dem Boden liegt und seinen Rausch ausschläft. Erst als er sich verärgert aufrichtet, bemerkt er die Frau mit dem Mikrofon in der Hand direkt vor sich. Der Unbekannte gibt sich als Vagabund Larry Rhodes aus – sie verpaßt ihm prompt den Spitznamen »Lonesome«. Für das Versprechen, am nächsten Morgen freigelassen zu werden, ist er bereit, ein paar Lieder ins Mikrofon zu singen. Inzwischen hat die clevere Reporterin das Bandgerät heimlich eingeschaltet und das verräterische Mikrofon in ihrer winzigen Handtasche verschwinden lassen. Auf diese Weise gelangt sie zu einer ungestellten Aufnahme. Dieses versteckte Vorgehen wird immer wieder beim Casting eingesetzt. Es legitimiert sich nicht zuletzt durch das Versprechen, daß prinzipiell jeder Laie ein Star werden könne. Als Marcias Onkel, der nicht nur Besitzer der Radiostation ist, sondern auch eine Zeitung sein eigen nennt und damit bereits ein moderner Medienmogul genannt werden kann, das aufgenommene Material begutachtet, steht auch für ihn fest, daß sie ein echtes Talent unter den Gesichtern der namenlosen Menge gefunden hat. Sie hat Rhodes jedoch nicht nur einen Streich gespielt, als sie seine Eloge auf die Freiheit des Vagabunden aufgezeichnet hat, sondern ihn vielmehr unbemerkt einem Casting unterzogen. Marcia und ihr Onkel suchen dieses Talent sogleich für ihren Sender zu gewinnen. Schon bald ist »Lonesome« Rhodes’ morgendliche Sendung, insbesondere durch seine flotte Zunge, so populär, daß er auch in der Reklame Erfolge feiern kann und sich das Fernsehen für ihn interessiert. Denn der Held scheint auf schlagende Weise das Denken und Fühlen des einfachen Mannes, den ›gesunden Menschenverstand‹ zu verkörpern. Damit ist er so erfolgreich, daß er auf dem Höhepunkt seiner Macht glaubt, gar den Präsidenten der Vereinigten Staaten beeinflussen zu können.

➞ [ Narbe ]

➞ [ Jedermann ]

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48 | [ Petra Löffler ]

➞ [ Photogénie ]

➞ [ Konterfei ]

Marcias Idee zu dieser Radiosendung wird dann vom Fernsehen übernommen und zu einem eigenen Sendeformat umgestaltet. Und wieder trägt die Fernsehsendung den Titel »A Face in the Crowd«. Dieser Titel ist mehr als eine bloße Anspielung auf Edgar Allan Poes berühmte Erzählung Man of the Crowd – mittels Zufallsprinzip, Interviewtechnik und Rundfunkübertragung ist dieses Sendeformat genau dem ›mittleren Menschen‹ auf der Spur, den die Statistik im 19. Jahrhundert zum Maßstab der Gesellschaft erhoben hat und der nach wie vor für die Meinungsforschung unverzichtbar ist. Dieser homme moyen findet sich im Ideal des ›Mannes aus dem Volke‹ wieder, den Rhodes verkörpern soll. Sein Erfolg liegt auch darin begründet, daß er diesen ›mittleren Menschen‹ medial zu repräsentieren vermag. Seine Akzeptanz beim Radio- und Fernsehpublikum verdankt sich vor allem seiner Fähigkeit, als Projektionsfläche des Massengeschmacks und der öffentlichen Meinung dienen zu können. Während Kazans Film die Testsituation beim Casting im intermedialen Rahmen des Films reflektiert, geben Andy Warhols Screen Tests (USA 1965) die Sache selbst zu sehen (vgl. Bourdon 1995: 178f.). Mitte der 1960er Jahre hat der Künstler über 500 Kurzfilme auf 16mm-Film gedreht, bei denen sowohl bekannte Künstler als auch Starletts und Freunde ihr Gesicht für wenige Minuten in die Kamera gehalten haben. Einstellung und Beleuchtung sind statisch, die Filmbilder ohne Ton: Die Gesichter im Close-up werden der Ästhetik des Film noir entsprechend stark von der Seite beleuchtet und weisen dadurch harte Kontraste auf. Die gefilmten Personen wurden zudem angehalten, sich so wenig wie möglich zu bewegen. Sie zeigen deshalb nur minimale mimische Veränderungen; jedes unfreiwillige Zucken oder Zwinkern wird so zu einem »highly dramatic event« (ebd.). Einigen Probanden ist zudem das Unbehagen anzusehen, sich derart vor einer Kamera zu exponieren. Warhol hat seine Screen Tests als filmische Porträts verstanden, die dem Bewegungsprinzip des Films entgegenarbeiten. Zudem wurden die Filme zwar mit 24 Bildern pro Sekunde gedreht, aber bei ihrer Vorführung mit 16 Bildern pro Sekunde verlangsamt abgespielt, so daß der Eindruck des Stillstandes zusätzlich verstärkt wurde. Gleichzeitig stellen sie das Casting explizit als Test aus. Die Testleistung der derart Gefilmten besteht darin, der Apparatur standzuhalten – oder wie es Walter Benjamin, bezogen auf die Aufnahmesituation im Filmstudio, formuliert hat: Die spezifische Leistung des Filmschauspielers bestehe darin, »im Angesicht der Apparatur seine Menschlichkeit« zu bewahren (Benjamin 1935/1991: 450). Warhols Screen Tests führen durch das Ausstellen der Testsituation exemplarisch die Selektionsprinzipien beim Casting vor Augen. Auch der Zuschauer wird beim Betrachten von Warhols filmischen Experimenten implizit getestet: Er muß den zumeist starren Blick der Gefilmten aushalten und wird durch dieses Angeblicktwer-

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den zugleich diszipliniert. Die Screen Tests stellen die Produktionsbedingungen wie die visuellen Effekte des Casting aus und zeigen die Wirkungsmacht des medialisierten Gesichts, das den Blick des Zuschauers unweigerlich auf sich zieht und bannt. Nicht umsonst war Warhols »Factory« in den 1960er Jahren als Produktionsstätte artifizieller Images bekannt. Sein Slogan »In the future everybody will be world famous for fifteen minutes« setzt konsequent einen Effekt der Medialisierung in Szene: die Popularisierung und Zirkulation öffentlicher Selbstbilder. Bereits Warhols serieller Film Kiss (USA 1963) funktioniert wie ein Testlauf: Er zeigt über 60 Minuten lang sich küssende Paare und zitiert dabei einen der berühmtesten Filme aus der Ära des Attraktionskinos – nämlich den von Edison und Porter produzierten May Irwin – John Rice Kiss (USA 1896, William Heise). Das Casting lebt von der permanenten Talentsuche, offen oder versteckt, ganz wie es die Situation und der mediale Rahmen erfordern. Gleichzeitig wird diese Suche von den Selektionsvorgaben der großen Filmstudios bzw. Fernsehsender gelenkt, die letztlich über Besetzung und Honorar entscheiden – einschließlich kalkulierter Fehlbesetzungen (vgl. Bona 1996). Das ist bis heute so geblieben – man denke nur an publikumswirksame Fernsehformate, die das Prinzip der versteckten Kamera ausbeuten, oder an die allgegenwärtigen Casting Shows (vgl. Balke/Schwering/Stäheli 2000). Erst das Fernsehen hat das Casting zu einem publikumswirksamen Event gemacht. Es spielt sich dort im Unterschied zum Film, wo es für gewöhnlich vor Drehbeginn von professionellen Agenturen vorgenommen wird, vor aller Augen und unter Beteiligung des Publikums ab. Darin liegt eine entscheidende Mediendifferenz zwischen den ›heißen‹ Medien Radio und Film und dem ›kalten‹ Medium Fernsehen. Marshall McLuhan insistiert in seinem 1964, also nur wenige Jahre nach Kazans Film, erschienenen Buch Understanding Media auf der »dem Radio eigenen Macht, Menschen zusammenzubringen« und »die Gemeinschaft in eine einzige Echokammer zu verwandeln« (McLuhan 1964/1995: 452, 453f.). Das Radio ist deshalb für McLuhan ebenso wie der Film ein ›heißes‹ Medium; es heizt die Gemüter auf und macht Stimmung: »Das Radio berührt die meisten Menschen persönlich, von Mensch zu Mensch, und schafft eine Atmosphäre unausgesprochener Kommunikation zwischen Autor, Sprecher und Hörer. Das ist der unmittelbare Aspekt des Radios. Ein persönliches Erlebnis« (ebd.: 453). Im privaten Raum öffnet das Radio jedem einzelnen einen Zugang zu archaischen Formen der Gemeinschaft: Die ganze Welt wird zu einem Dorf, läßt es doch »unersättlich dörfliche Bedürfnisse nach Klatsch, Gerüchten und persönlichen Bosheiten aufkommen« (ebd.: 463). Larry »Lonesome« Rhodes’ allmorgendliche Plauderrunde beim Lokalsender KGRK scheint das perfekte Vorbild für McLuhans Beschreibung des Radios als »Stammestrommel« abgegeben zu haben – eine Rolle, die dem Radio allerdings erst zugefal-

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len ist, nachdem es »vom zentralistischen Druck des Rundfunknetzes durch das Fernsehen befreit« wurde (ebd.: 464). Auf dieser massenmedialen Klaviatur spielt Kazans Held so perfekt wie auf seiner Gitarre. Er veranlaßt seine Zuhörerschaft zu Spaßaktionen des kollektiven Unfugs und betreibt zugleich Lokalpolitik, wenn er den örtlichen Sheriff und Bürgermeisterkandidat vor aller Ohren lächerlich macht. Der Regisseur kennt die manipulative und mobilisierende Macht des Radios aus eigener Erfahrung – 1939 war er Mitarbeiter von Orson Welles, der ein Jahr zuvor mit seiner fingierten Live-Reportage War of the Worlds eine Massenpanik ausgelöst hatte (vgl. Kreimeier 1996: 61). Wenn Rhodes zu seiner Fernsehkarriere aufbricht und die gesamte Einwohnerschaft der Kleinstadt Piggott den abfahrenden Zug säumt und sich von ihm winkend und Plakate schwingend verabschiedet, dann bekommt man eine Ahnung von der gemeinschaftsstiftenden Kraft des Radios, von der uns McLuhan überzeugen will. Dagegen ist das Fernsehen für ihn ein ›kaltes‹ Medium, das »hitzige Persönlichkeiten und heißumstrittene Probleme« abweist (ebd.: 452). Im Unterschied zum Radio, dem man auch nebenbei zuhören könne, beanspruche uns das Fernsehen ganz: »Das Fernsehen will nicht Kulisse sein« (ebd.: 471). Außerdem habe es die Rezeption von Filmen grundlegend verändert, denn das datenarme, flache Fernsehbild absorbiere die gesamte Aufmerksamkeit: »Beim Fernsehen ist der Zuschauer Bildschirm« (ebd.: 473). Auch die Großaufnahme sei im Fernsehen »etwas ganz Gewöhnliches« (ebd.: 481). Das Gesicht ist deshalb im Fernsehen keineswegs so exponiert und bedeutungsbeladen wie im Kinofilm. Kazan scheint jedoch mit A Face in the Crowd den normalisierten Einsatz der Großaufnahme im Fernsehen mit den Mitteln der Satire zu kommentieren, wenn er wiederholt das lachende Gesicht seines Hauptdarstellers in grotesker Vergrößerung seines geöffneten Mundes zeigt: Dieses jegliche Autorität untergrabende Lachen wird zum Emblem einer Karnevalisierung, der Kazan die Effekte des massenmedialen Gesichts generell unterzieht. Auch auf anderer Ebene sind für McLuhan die Unterschiede zum Film eklatant. Nicht nur könne der Fernsehstar mehr improvisieren als der Filmstar, auch nehme das Publikum an seinem »Innenleben […] so regen Anteil wie am äußeren Leben des Filmstars« (ebd.: 480f.). Der Fernsehdarsteller ist also nicht in gleicher Weise auf sein äußeres Erscheinungsbild abonniert wie der ungleich glamourösere Filmstar, dafür aber muß er als öffentliche Person seinen Lebensstil den Werten und Normen seines Publikums anpassen – genau das wird »Lonesome« Rhodes (wie auch bis heute so manchem Politiker) zum Verhängnis. Das ist auch der Grund, warum das die Massen beteiligende Fernsehen allgemein die Bedeutung des Startums verringert hat. In dieser Hinsicht hat McLuhan durchaus recht behalten: Im Fernsehen kann heute im Prinzip jeder, wenn auch nur für Minu-

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ten, zum Star werden. Vor diesem Hintergrund markieren die CastingSzenen in A Face in the Crowd eine bedeutende mediengeschichtliche Zäsur: den Untergang des klassischen Starsystems Hollywoods. Kazan geht selbst deutlich auf Distanz zur inkludierenden und normalisierenden Macht des Fernsehens. Nicht von ungefähr begann seine Karriere im Theater, ist er immer Schauspielerregisseur geblieben und vor allem durch die Verfilmung gefeierter Theaterstücke von Tennessee Williams berühmt geworden. Kazan hat 1947 das berühmte Actors Studio mitbegründet und damit für Lee Strasbergs Method Acting eine institutionelle Basis geschaffen. Viele Schauspieler wie Marlon Brando, James Dean, Warren Beatty oder Lee Remick wurden von Kazan entdeckt und haben in seinen Filmen ihre Karriere begonnen. Seinen Erfolg als Filmregisseur verdankt er auch der Fähigkeit, Talente zu entdecken, die richtigen Schauspieler für seine Filme auszuwählen und sie zu Stars zu machen. Dies läßt sich nicht mit der inkludierenden Macht des Fernsehens verbinden – im Gegenteil: Die Geschichte vom Aufstieg und Fall »Lonesome« Rhodes’ bezeugt, daß das Fernsehen massenkompatible Images von geringer Dauer erzeugt. Auch das bestätigen die aktuellen Casting Shows zur Genüge. Kazan hat mit A Face in the Crowd einen melodramatischen Film über den kometenhaften Aufstieg und Fall eines Fernsehstars gemacht, eine moderne Parabel über die Perversion der Macht und die Beeinflussung der Bevölkerung durch die modernen Massenmedien Radio, Fernsehen, Werbung und Zeitung sowie durch medial aufbereitete Massenveranstaltungen. Sein Film behandelt die Effekte und Auswirkungen massenmedialer Kommunikation in ihrer ganzen Bandbreite. Die Hauptfigur des Films wird in Kontrast dazu als Original gezeichnet, als ein modernes Genie, das – ganz in der Tradition der Genieästhetik des 18. Jahrhunderts – wie ein Komet verglüht. Sein Gesicht mag ursprünglich ein unbedeutendes in der Menge gewesen sein, Kazans Film verleiht jedoch seinem Helden auch dann noch die Aura eines individuellen Scheiterns, als sein Stern fällt und seine Geschichte in einer Satire auf die Verstrickungen einer massenmedialen Gesellschaft zwischen politischer und ökonomischer Macht aufgeht. Die Tycoons und Medienmogule, die Werbeagenten der Madison Avenue und die opportunistischen Trittbrettfahrer, die immer und überall zur Stelle sind, zeigt der Regisseur mit der gleichen zynischen Kälte wie die unaufhaltsame Pervertierung seines Helden, der sich bis zuletzt, als sein Gesicht längst die Cover der führenden Magazine des Landes schmückt, an das Image des einfachen Mannes aus dem Volke klammert. Seine Tragödie ist, daß er die Möglichkeiten der Massenmedien zugleich über- und unterschätzt: Distanzlosigkeit und Ignoranz verleiten ihn zu einer Reihe von Fehlurteilen. Auch ein Vergleich von A Face in the Crowd mit Welles’ Citizan Kane (Citizan Kane,

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USA 1941) liegt bezüglich der Verbindung von Macht und Massenmedien nahe. Deren Rolle bei der Meinungsbildung in Demokratien hatte bereits Walter Lippmanns erstmals 1922 publiziertes Standardwerk der Meinungsforschung Public Opinion reflektiert. In der Tradition der Massenpsychologien des ausgehenden 19. Jahrhunderts stehend, lastete er den optischen Medien an, daß sie die Massen durch vorfabrizierte Bilder affizierten und damit für Manipulation und Propaganda empfänglich machten (vgl. Lippmann 1922/1990). Rhodes setzt in Kazans Film seine Popularität als Film- und Reklamegesicht nicht zuletzt dafür ein, einen erzkonservativen Senator im Wahlkampf zu unterstützen. Gleichzeitig verkörpert dieser Protagonist den vertrauten Typus des Tramps, den Charlie Chaplin so populär gemacht hat. Die Figur des sich mühsam durchs Leben schlagenden Vagabunden hat somit nicht nur in Chaplins Paraderolle eine filmhistorische Vergangenheit, sondern in Griffiths »Lonesome« auch eine gesellschaftskritische Gegenwart. Das zeigt sich etwa darin, wie A Face in the Crowd das großstädtische Leben in der Metropole New York gegen das kleinstädtische Leben in Arkansas ausspielt. Darin steckt auch eine kulturkritische Volte. Der Film beruht auf der Erzählung Your Arkansas Traveller aus dem Buch Some Faces in the Crowd von Budd Schulberg. Schulberg hat Kazan bei seinen ausgiebigen Recherchen im ländlichen Milieu und Interviews mit Politikern begleitet und unterstützt. Kazan und sein Team haben mehrere Monate am Drehort gewissermaßen zu Studienzwecken verbracht. Diese akribischen Vorarbeiten sind in den Film eingeflossen und am dokumentarischen Charakter von Szenen besonders am Anfang des Films abzulesen, die das Alltagsleben in einer Kleinstadt wiedergeben. Kazans Film verteidigt die kleinen Leute, die genau dann erstmals aus ihrer Passivität als Fernsehzuschauer heraustreten, als der betrunkene Held sie vor laufender Kamera als dumme, willenlose Herde verhöhnt – ohne allerdings zu ahnen, daß seine Worte von ihnen gehört werden können. Das Publikum wehrt sich daraufhin, greift wütend zum Telefon, um sich beim Sender zu beschweren, und leitet damit den Niedergang des einstigen Fernsehlieblings ein. Diese Publikumsbeschimpfung entspricht in ihrem Aufbau der Casting-Situation am Anfang des Films, diesmal allerdings mit negativem Ausgang. Und wieder hat Marcia Jeffries, mittlerweile Rhodes’ Aufnahmeleiterin und Vertraute, ihre Hände im Spiel: Sie betätigt heimlich den Regler und schickt damit seine hämischen Worte über den Sendekanal – als letzte und einzige Möglichkeit, seinem gigantomanischen Machthunger Einhalt zu gebieten. A Face in the Crowd ist also durch zwei, sich in gewisser Weise gegenseitig aufhebende Casting-Szenen gerahmt. Das zweite, wiederum unfreiwillige Casting, dem Rhodes durch das Weiterlaufen des Tons unterzogen wird, ermöglicht dem Fernsehzuschauer genau jene

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[ Casting ] | 53

Kontrollfunktion, die ihm laut McLuhan im Unterschied zum Filmzuschauer aufgrund des inkludierenden Live-Charakters des Fernsehens zusteht, und erinnert gleichzeitig an die permanente Testsituation, in der sich Menschen vor der Kamera ohnehin befinden. Der Protagonist wird also durch genau dieselbe Handlung zu Fall gebracht, die einst seinen Erfolg begründet hat. Sein Fall vom Fernsehstar zur persona non grata markiert den Grenzverlauf einer Karriere in den modernen Massenmedien. Das Casting bereitet dafür den Boden: Es macht aus dem Gesicht einen ausschließlich optischen Wert, ein öffentliches Image, das immer wieder neu bewertet wird. [ Petra Löffler ]

Literatur Balke, Friedrich/Schwering, Gregor/Stäheli, Urs (Hg.) (2000): Big

Brother. Beobachtungen, Bielefeld: transcript. Benjamin, Walter (1935/1991): »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner

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[ Double ]

Es gibt einen Moment, in dem der Film anzuhalten droht, in dem das Paradox, um das sich die gesamte Filmhandlung anordnet, genau diese Handlung zum Stillstand bringt. Sean Archer (John Travolta) und Castor Troy (Nicholas Cage) stehen sich wie bei einem Duell gegenüber, bewaffnet, jedoch mit dem entscheidenden Unterschied, daß sie sich nicht sehen können und trotzdem in das Gesicht des jeweils anderen blicken. In der Mitte des Zimmers befindet sich ein doppelseitiger Spiegel, in dem Archer und Troy den jeweils anderen sehen können, weil sie in ihr eigenes Gesicht blicken, das in diesem Fall das Gesicht des anderen ist. Diese Situation einer seltsam verdoppelten Spiegelung, die im gleichen Moment auch die Blindheit der Protagonisten verdoppelt, beschreibt eine Gleichheit, die das eigentliche Problem benennt, das durch den Tausch der Gesichter gelöst wird. In dieser Situation zielen beide Protagonisten auf ihr eigenes Spiegelbild und damit zugleich auf sich selbst und auf den anderen. Für einen Moment wirkt die Situation unlösbar. Und trotzdem heißt der entscheidende Satz: Jeder knallt den anderen ab! Die Chronologie der Ereignisse scheint klar zu sein. Am Anfang der Geschichte fällt ein Schuß, der einen kleinen Jungen töten wird, kein Mord, sondern ein tödlicher Unfall, jedenfalls keine Absicht. Dann folgt eine über zehn Jahre dauernde Verfolgung, endlich eine Verhaftung und schließlich die dramatische Situation, die den Verfolger zwingt, sich selbst in den Feind zu verwandeln, um diesen Feind

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➞ [ Narbe ]

vernichtend schlagen zu können. Der Tausch der Gesichter, der im Zentrum des Films Face/Off (Face/Off, USA 1997) von John Woo steht, bezieht sich jedoch keineswegs nur auf die chirurgische Transplantation, auf die Ablösung und den Transfer der Gesichtshaut, als ein in sich abgeschlossener Teil der Filmhandlung, sondern steuert auch dort das Feld der Beziehungen, wo diese Handlung eine Chronologie der Ereignisse nahelegt. Die Operation des Gesichtstauschs, die im Lauf des Films eine ganze Reihe von Spiegelungen in Gang setzen wird, ist eine Operation, die sich auf die Bedingungen der Narration selbst bezieht und die es erlaubt, ebenso vorwärts wie rückwärts zu erzählen oder im nachhinein die Zeit des Erzählten außer Kraft zu setzen. Der Kampf zwischen dem FBI-Agenten Sean Archer und dem Topterroristen Castor Troy ist nicht bloß ein Kampf, der sich im Hier und Jetzt entscheidet, ein Kampf der guten und der bösen Kräfte, aus dem entweder die eine oder die andere Seite als Sieger hervorgehen und die deshalb den Ausgang der Geschichte bestimmen wird, sondern ein zirkulärer Kampf, der ebenso rückwärtig geführt wird und dessen Ausgang somit auch über den Anfang entscheidet. Am Anfang des Films, noch vor der eigentlichen Filmhandlung, erfährt der Zuschauer den Grund für die bittere Auseinandersetzung, für den Kampf auf Leben und Tod, den der FBI-Agent und der Topterrorist führen. Bei einem versuchten Attentat auf Archer trifft die Kugel, die eigentlich für den FBI-Agenten gedacht war, nicht ihn, sondern seinen Sohn, den er in den Armen gehalten hat und der deshalb für den Schützen Troy nicht sichtbar war. Die Kugel durchschlägt Archers Oberkörper und hinterläßt eine Narbe, die fortan für diesen Verlust stehen wird. Diese Narbe, wie sie zustande gekommen ist und wie sie wieder entfernt wird, rahmt die gesamte Filmhandlung. Denn am Ende wird es nicht darum gehen, eine Wunde zu heilen und Trauerarbeit zu leisten, sondern es wird darum gehen, eine Narbe auszulöschen und somit das, was geschehen ist, ungeschehen zu machen. Der Verlust wird substituiert, der Sohn durch einen anderen Sohn ersetzt. Was erzählt wird, ist deshalb keine biographische oder psychologische Entwicklung von einem Ausgangszustand zu einem Endzustand, die sich immer in der Zeit vollziehen muß und die in diesem Sinne eine Geschichte darstellt, sondern eine Operation, die es erlaubt, zum Ausgangszustand zurückzukehren. Es geht also um die Ewigkeit, um einen ewigen, man könnte fast sagen, kosmologischen Augenblick eines Helden und einer Familie, die sich um diesen Helden anordnet und die am Ende des Films die gleiche Familie sein wird wie vor dem Verlust. Welche Operation aber erlaubt es einem, zum Ausgangzustand zurückkehren? Die Sequenzen, die dem Zuschauer noch vor der eigentlichen Filmhandlung von der Entstehung der Narbe berichten, versammeln im Grunde genommen schon alle Elemente, die für diese Operation nötig sein werden. Einerseits handelt es sich ledig-

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lich um einen tragischen Zufall, daß die Kugel Archers Sohn und nicht ihn selbst tötet. Es ist nicht das Attentat, das die Ordnung durcheinanderbringt, sondern eine Blindheit im Visier des Schützen. Der Attentäter sieht nicht, daß er zugleich auf Archer und seinen Sohn zielt. Während das Attentat gewissermaßen zur ewigen Ordnung des Kampfes gehört, so ist es erst der tragische Zufall, der diese Ordnung und damit auch die Arbeit des FBI-Agenten in Frage stellt. Andererseits ist in der Art und Weise, wie dieser Zufall zustande kommt, dennoch eine Verbindung zur ewigen Ordnung des Kampfes gegeben. So ist die Geste der Umarmung und des Schutzes zugleich die Geste, die jene Blindheit im Visier des Schützen produziert. Aus diesem Grund ist Archers Überleben von Anfang an an eine Schuld geknüpft, die das Ziel der Verfolgung und des Kampfes weit über einen möglichen Sieg hinaustreibt. Es geht nicht bloß darum, ein Verbrechen zu sühnen und damit eine Gerechtigkeit wiederherzustellen, sondern vielmehr markiert die Adoption von Troys verwaistem Sohn am Ende des Films die Schließung eines Kreislaufs, dessen Bahnen sich zu keiner Zeit außerhalb der einzigen und ewigen Ordnung des souveränen Helden befunden haben. Denn auch wenn der Film die Austauschprozesse zwischen den beiden Antagonisten bis hin zum chirurgischen Austausch der Gesichter steigert und dadurch eine Vielfalt von komplexen und verwirrenden Spiegelungen produziert, handelt es sich um einen Austausch, der restlos aufgeht und gerade keine Spuren hinterläßt. Daß die zentrale Operation, die Archers Schuld tilgen wird, die Entfernung einer Narbe betrifft, also ein körperliches Zeichen, das für etwas Unabänderliches einsteht, macht dies besonders deutlich. Der Körper stellt hier keineswegs die Grenze eines Zeichenregimes der Wiederholung und der Identität dar, das immer bei sich selbst ankommt, sondern ganz im Gegenteil, der Körper des FBI-Agenten wird Teil einer Ökonomie der Zeichen, die in sich geschlossen ist und genau das vermag, was Körper nicht vermögen, nämlich souverän zu sein. In diesem Sinne ist der Körper des FBI-Agenten ein autologischer Körper, der sich selbst in der äußersten Grenze der Gewalt erhalten kann und von dem gilt, was Hegel in der Phänomenologie des Geistes über die Wiederaneignung des Geistes gesagt hat, nämlich daß die »Wunden des Geistes heilen, ohne daß Narben bleiben« (Hegel 1807/1986: 492). Wenn am Ende des Films Archer sein Gesicht und seinen Körper zurückerhält, sind dieses Gesicht und dieser Körper unversehrt, und zwar nicht etwa, weil Archer den erlittenen Verlust, den die Narbe bedeutet hat, überwunden hätte, sondern weil der Körper tatsächlich niemals versehrt worden ist. Worin aber genau besteht dann die Rolle des Gesichtstauschs? Zumal dieser Tausch erst nach der Verhaftung von Castor Troy, also erst nach dem Sieg des FBI-Agenten über den Terroristen das eigentliche Feld der Beziehungen zwischen dem Verfolger und dem Verfolg-

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60 | [ Leander Scholz ]

➞ [ Yentl ]

➞ [ Make-up ]

➞ [ Xenos ]

➞ [ Auge ]

ten offensichtlich werden läßt, nämlich in den Spuren, die Troy trotz seiner Niederlage hinterlassen hat. Denn nachdem es dem FBI-Agenten gelungen ist, Troy und seinen Bruder Pollux zu verhaften, stellt sich heraus, daß die beiden eine biochemische Bombe an einem unbekannten Ort in Los Angeles installiert haben, deren Countdown läuft. Um von Pollux die Information über den Standort der Bombe zu erfahren, läßt sich Archer deshalb anstelle seines eigenen Gesichts das von Troy transplantieren, der bei der Verhaftung schwer verletzt worden und ins Koma gefallen ist. Bei diesem Rollentausch fällt auf, daß der Film die körperliche Verwandlung allein vom Transfer des Gesichts her inszeniert. Zwar wird ebenso die Stimme, die Gestik, die Bewegung und schließlich der gesamte Körper angeglichen, aber sowohl die medizinische Machbarkeit der Verwandlung als auch die körperliche Maskenhaftigkeit dieser Verwandlung gehen zentral von der Verwandlung des Gesichts aus. Was getauscht wird, betrifft daher nicht nur das Aussehen im Sinne einer nahezu perfekten Maske, die Archer von nun an tragen wird und dank der er alle anderen täuschen kann. Der Tausch betrifft ebenso das Feld der Wahrnehmung selbst, das Gesichtsfeld. Getauscht wird auch die Perspektive, und zwar sowohl auf sich selbst als auch auf den anderen. Diese Ebene des Gesichtstauschs ist es, die es Archer am Ende des Films erlauben wird, den Sohn seines einstigen Feindes als seinen eigenen Sohn anzunehmen. Denn erst dieser Tausch macht aus dem verwaisten Sohn keinen Fremden mehr, der als dieser Fremder in die Familie adoptiert werden müßte, sondern den tatsächlichen Sohn eines zweiten Sean Archer, der sich durch den Tausch der Perspektive selbst verdoppelt hat. Indem Archer den schon für medizinisch tot erklärten Troy wieder zum Leben erweckt, indem er sich sein Gesicht und seinen Körper aneignet, verdoppelt er sich selbst und tritt in eben jenes Zwischenreich ein, in dem der komatöse Troy weder als Lebender noch als Toter existiert. Als Archer sich auf diese äußerste Weise maskiert zum ersten Mal im Spiegel sieht, erleidet er einen Schock. Er ist entsetzt über das, was er getan hat, wie weit er bei seiner Verfolgung gegangen ist, daß er dem Verfolgten bis in den Tod hinein gefolgt ist und ihn zumindest als Spiegelbild wieder zum Leben erweckt hat. Dieses gespenstische Spiegelstadium, in dem Archer sich selbst als jemand anderes sieht, seine eigenen Bewegungen als die eines anderen wahrnimmt, wird im weiteren Verlauf der Filmhandlung jedoch eine Beziehung zwischen Archer und Troy zum Vorschein bringen, die sich nicht als Folge des Gesichtstauschs darstellt, sondern im Gegenteil schon vorher bestanden hat. Denn gerade das, was das Spiegelstadium nach Jacques Lacan eigentlich kennzeichnet, nämlich die »jubilatorische Aufnahme« des eigenen Spiegelbilds, die das Selbst auf der Ebene des Imaginären als ein omnipotentes Selbst einsetzt, leistet diese Spiegelung nicht (Lacan 1949/1973: 63). Der symboli-

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[ Double ] | 61

sche Andere, der im Spiegelstadium gerade abgeschirmt wird, erscheint nun im Spiegel selbst. Die Beziehung zu und damit die Abhängigkeit von diesem Anderen ist daher dasjenige, was im Unterschied zur jubilatorischen Aufnahme bei Archer den Schock auslöst. Er sieht sich tatsächlich als Troy, er sieht die Ähnlichkeit, die zwischen ihm und Troy die ganze Zeit über bestanden und die seine Identität in der langen Phase der Verfolgung an Troys Identität gebunden hat. Diese Symmetrie zwischen dem Verfolger und dem Verfolgten, die genau dann zum Problem wird, wenn Troy von Archer besiegt worden ist, beherrscht deshalb nach der Transplantation des Gesichts den ersten Blick in den Spiegel und den Schock, den dieser Blick auslöst. In der langen Zeit der Verfolgung hat sich Archer dem Verfolgten immer mehr angenähert, hat selbst häufig das Gesetz übertreten und sich von seiner Umgebung so vollständig isoliert, daß der Zuschauer den Eindruck gewinnt, Archer sei von Troy besessen. Deswegen ist es plausibel, daß Archer im Moment der Verhaftung in eine Krise gerät und nicht erlöst zu seiner Familie zurückkehren kann. Das wird ihm erst gelingen, wenn er den Terroristen noch einmal getötet hat, indem er genau die Symmetrie auslöscht, die zwischen den beiden besteht. Gleich nach dem ersten Schock, den Archer erleidet, stellt sich deshalb doch so etwas ein wie eine jubilatorische Aufnahme des Spiegelbilds, nur daß es sich dabei nicht um das eigene Spiegelbild handelt, sondern um das des anderen, dem Archer sich vorher in der Phase der Verfolgung angenähert hat. Auf eine bestimmte Weise sieht sich Archer also wirklich selbst, indem er das Gesicht von Troy sieht. Nachdem Archer das Moment des Schocks überwunden hat, findet er ein kindliches Gefallen daran, sich als den toten Troy im Spiegel zu sehen. Denn dieser Troy ist nichts anderes als eine bewegliche Puppe, eine leblose Marionette, die Archer nach Belieben hin und her bewegen kann. Die Omnipotenz, die sich in diesem gespenstischen Spiegelstadium einstellt, betrifft daher nicht die imaginäre Selbstaneignung, sondern die Aneignung des einstigen Feindes, den Archer schon besiegt hat. Während Archer bei diesem ersten Blick in den Spiegel sich als den anderen sieht und diese Spiegelung affirmieren kann, weil dieser andere nur eine Maske, nur ein totes Gesicht ist – während er sich also zugleich in diesem anderen erkennt und trotzdem weiß, daß er nicht dieser andere ist, geschieht etwas Unvorhersehbares: Der Blick in den Spiegel wird noch einmal gespiegelt. Troy erwacht aus seinem Koma, wird wieder lebendig und tut genau das gleiche wie Archer, indem er sich nun im Gegenzug dessen Gesicht aneignet. Während sich der FBI-Agent schon perfekt maskiert auf dem Weg in das Hochsicherheitsgefängnis befindet, um dort Troys Bruder Pollux die Informationen über die Bombe zu entlocken, geschieht das Unwahrscheinliche – nämlich daß Troy die Operation überlebt und ohne

➞ [ Blick ]

➞ [ Oberfläche ]

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62 | [ Leander Scholz ]

➞ [ Rasur ]

Gesicht aufwacht. Auch Troy sieht in den Spiegel, in dem er allerdings nicht sich selbst sieht, sondern lediglich feststellt, daß ihm das Gesicht entfernt wurde. Der Zuschauer sieht diesen Blick nur indirekt, und zwar nicht nur, weil diese blutige Ansicht eines Kopfes ohne Gesichtshaut unerträglich wäre, sondern weil Troy in diesem gesichtslosen Zustand kein Spiegelbild hat, in dem er sich wiedererkennen könnte. Daß er daraufhin das Spezialteam des FBI zwingt, ihm nun das körperlose Gesicht von Archer zu transplantieren und darüber hinaus alle Zeugen dieser Operation tötet, ist alles andere als ein unglücklicher Zufall. Denn diese Aneignung komplettiert erst die Symmetrie, in der sich Archer und Troy von nun an als ausgetauschte Protagonisten gegenüberstehen und die es Archer erlauben wird, alle Spuren der Anwesenheit des anderen im eigenen Selbstbild zu tilgen, was ihm ohne Troys Wiedererweckung unmöglich gewesen wäre. Erst in dem Moment, in dem sich der Terrorist die Identität des FBI-Agenten vollkommen aneignen kann, in dem er also selbständig als maskierter FBI-Agent agieren kann, ist umgekehrt Archer gezwungen, nun seinerseits die Rolle des Topterroristen anzunehmen, um den Austausch der Identitäten wieder rückgängig zu machen. Er muß aus dem Gefängnis ausbrechen und den in die Rolle eines Polizeibeamten geschlüpften Terroristen selbst stellen. Beide Protagonisten haben also nicht nur ihre Rollen getauscht, sondern sich tatsächlich verdoppelt, so daß der Zuschauer jederzeit beide Protagonisten sieht, auch wenn nur einer der beiden sichtbar ist. Eine Verdoppelung übrigens, die sich auch auf der Ebene der Schauspieler niederschlägt, die beide jeweils zwei Charaktere verkörpern, so daß die dramatis personae nicht nur im Film, sondern auch in den Paratexten zweifach ausgewiesen werden müssen. Zumindest bis hierher scheint der Film mit einer bemerkenswerten Treue jener Logik des Kampfes zu folgen, die Hegel in dem berühmten Kapitel aus der Phänomenologie über die Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins als Kampf um Anerkennung entfaltet hat, bei dem jede Aktion eine gespiegelte Aktion ist und die »gedoppelte Bedeutung« hat, »ebensowohl sein Tun als das Tun des Anderen zu sein« (Hegel 1807/1986: 146). Jeder der beiden Protagonisten tut genau das, was der andere tut, und kann es überhaupt nur tun, insofern es der andere ebenfalls tut. Es handelt sich folglich nicht um eine einfache Spiegelsituation, bei der das Spiegelbild die Bewegungen dessen, der vor dem Spiegel steht, lediglich nachvollzieht, sondern um ein Spiegelbild, das aus dem Spiegel getreten und so zu einem wirklichen Double geworden ist, das mit einer eigenen Handlungsmacht ausgestattet ist. Diese Handlungsmacht bleibt allerdings jederzeit an die Situation der wechselseitigen Projektion gebunden und ist dadurch zugleich selbständig und unselbständig. »Jedes sieht das Andere dasselbe tun, was es tut«, heißt es weiter in der Phänomenologie, »jedes tut selbst, was es an das Andere fordert, und tut

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[ Double ] | 63

darum, was es tut, auch nur insofern, als das andere dasselbe tut« (Hegel 1807/1986: 147). Es ist leicht einzusehen, daß die Logik des Kampfes auf Leben und Tod, die auf diese wechselseitige Projektion folgt, keine unüberbrückbare Differenz zur Voraussetzung hat, etwa die zwischen einer guten und einer bösen Seite, sondern im Gegenteil voraussetzt, daß beide Protagonisten sich auf eine grundlegende Weise gleichen. Denn sowohl Sean Archer als auch Castor Troy sind ihrem Selbstverständnis nach Souveräne, die sich ausschließlich durch sich selbst definieren und sich insofern notwendigerweise auch gegenseitig ausschließen müssen. Daß sie sich jedoch weder aufeinander beziehen können, ohne sich auszuschließen, noch nicht aufeinander beziehen können, eben weil sie sich ausschließen, daß es also überhaupt eine Souveränität im Plural geben kann, ist das Paradox, das durch den Tausch der Gesichter gelöst wird. Zunächst aber führt der Film diese strukturelle Gleichheit zwischen Archer und Troy auf beiden Seiten des Rollentauschs vor. Sowohl Troy in der Rolle von Archer als auch Archer in der Rolle von Troy beginnen ihren Rollentausch nach dem anfänglichen Schock zu genießen. Während Troy sich in Archers bürgerlichem Leben einrichtet und Gefallen an seinem Erfolg als FBI-Agent und der damit verbundenen Anerkennung findet, muß Archer erfahren, daß auch die Verbrecherwelt Familie, Ehre und Liebe kennt. Es gibt Passagen, in denen Troy zuweilen wie der bessere Archer erscheint und so als Archers Double exakt die Position vorwegnimmt, die Archer selbst am Ende des Films einnehmen können wird. Als Archers Double ist Troy nicht nur der bessere Ehemann, Liebhaber, Vater und Kollege, sondern gibt der Figur Archer genau das Leben zurück, das diesem seit dem Verlust des Sohnes fehlt. In diesen Passagen bleibt der Rollentausch zwischen Archer und Troy nicht etwa deshalb unbemerkt, weil die Maskierung und damit die Täuschung aufgrund der Transplantation der Gesichtshaut perfekt wäre, sondern weil die Täuschung einem Begehren entgegenkommt, das Archer selbst nicht erfüllen konnte. Denn Archers Verwandlung oder besser seine Doublierung wird von seiner Umgebung durchaus bemerkt, nur bleibt dieses Bemerken ohne Folgen, da das Double der ursprünglichen Figur eine Konkurrenz macht, die ebenso die Differenz von Original und Kopie durcheinanderbringt. Mit dem Austausch der Gesichter geht folglich kein Verlust einher, im Gegenteil: Wenn man für einen Moment annimmt, daß die Identität der beiden Protagonisten gar nicht ausgetauscht wurde, so erscheint der gedoubelte Archer lediglich um genau die Attribute erweitert, die dem ursprünglichen Archer fehlen. Das Double ist in diesem Sinne zugleich Archer selbst und seine spiegelbildliche Projektion, also seine imaginäre Komplettierung. Aus diesem Grund zeichnen sich diese Passagen durch ein Genießen aus, das aus der Substitution der Figur durch ihr Idealbild resultiert, während im gleichen Moment die Figur selbst aus diesem

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Idealbild verbannt ist. Denn der ursprüngliche Archer befindet sich zu dieser Zeit als Troy im Hochsicherheitsgefängnis, um dessen Bruder Castor die Informationen über die geheime Bombe zu entlocken. Da das Substitut die Rolle des FBI-Agenten vollständig ursurpiert hat, bleibt dem ursprünglichen Archer nichts anderes übrig, als umgekehrt das gleiche zu tun. Er bricht aus dem Gefängnis aus und sucht Troys Freunde auf, um mit deren Hilfe das Substitut zu bekämpfen. Auch diese Situation stellt ein doppeltes Spiegelstadium dar. Denn Archer muß dabei einerseits erfahren, daß die Verbrecherwelt Züge seiner eigenen Welt aufweist, in denen er sich selbst wiedererkennen kann, und andererseits erkennen, daß sein Double in der Welt, aus der er selbst verbannt wurde, einen besseren Archer abgibt als er selbst. Er muß einsehen, daß die Täuschung nicht nur aufgrund einer enormen Manipulation erfolgreich ist, sondern auf einem Mangel beruht, für den er selbst die Verantwortung trägt. Der Tausch des Gesichtsfelds ist die Voraussetzung, um eben diesen Mangel zu beseitigen. Denn daß der andere zu jeder Zeit im eigenen Spiegelbild anwesend ist und folglich gerade nicht ausgeschlossen wird, sondern in der imaginären Ordnung des Selbst auf eine bestimmte Weise zirkuliert, ermöglicht es, diese Zirkulation so zu beschränken und letztlich zu schließen, daß am Ende alle Überlebenden ihren Platz wieder einnehmen können, so als wäre überhaupt nie etwas passiert. Denn paradoxerweise kann sich Archer erst in seiner Rolle als Troy genau diejenigen Eigenschaften aneignen, die dem ursprünglichen Archer seit dem Verlust seines Sohnes fehlen. Am Ende wird er den Feind nicht nur vernichtet, sondern auch dessen Gesicht, Blick und Körper in Besitz genommen haben, indem er die Liebe und die Freundschaft, die dem ursprünglichen Troy entgegengebracht wurden, und schließlich auch die Zuneigung von Troys Sohn gewinnt, und das alles, ohne sich als Archer erkennen geben zu müssen. So wie es Passagen gibt, in denen Troy als der bessere Archer erscheint, gibt es ebenfalls Passagen, in denen Archer als der bessere Troy erscheint. Archer wird somit wieder zum zentralen Subjekt, das im nachhinein niemals außer sich war, indem er auch als Verbrecher das bessere Double abgibt, dem es immerhin gelingt, den unbesiegbaren FBI-Agenten zu besiegen. All diese Austauschprozesse, die nicht nur den jeweils anderen betreffen, sondern vor allem die eigene Projektion, finden ihren Höhepunkt in der ›blinden‹ Duellszene, in der sich die Duellierenden gerade nicht von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, sondern sich nur sehen, insofern sie selbst den jeweils anderen verkörpern, da sie sein Gesicht tragen. Der Kampf auf Leben und Tod betrifft deshalb nicht in erster Linie den Tod des anderen, sondern vielmehr die Beziehung selbst, die strukturelle Gleichheit, die ausgelöscht werden muß, um diesen Kampf und seine Spuren selbst auszulöschen. Der Satz »Jeder knallt den anderen ab!« meint nicht nur, daß jeder auf den anderen schießt, sondern

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[ Double ] | 65

daß jeder bereit sein muß, ebenso auf sich selbst, auf sein eigenes Gesicht zu schießen. Auf diese Duellszene folgt der Exzeß der Gewalt. Der gesamten Bewegung dieser Wiederaneignung, die mit der Entfernung, dem Austausch und schließlich der erneuten Transplantation des Gesichts vollzogen wird, entspricht eine doppelte Spiegelung, weil die vollständige Schließung des Imaginären zu einem ewigen Augenblick, der keine Geschichte und keine Veränderung mehr kennt, nur dann gelingen kann, wenn dieser Augenblick auf zwei Formen der Immanenz basiert. Die Szene des Imaginären ist wesentlich durch eine selbstbezügliche Geschlossenheit gekennzeichnet, deren Funktion darin besteht, eine tatsächliche Dezentrierung abzuschirmen und in eine imaginäre Zentrierung zu verwandeln. Das Seltsame an der Inszenierung eines gedoppelten Spiegelstadiums besteht allerdings darin, daß die durch den Spiegel abgeschirmte Bedrohung mit der Realität der tatsächlichen Bedrohung zusammenzufallen scheint, indem die Bedrohung nun auch diesseits des Spiegels ihre adäquate bildliche Entsprechung findet. Die beiden Protagonisten sehen wie im Spiegelstadium das scheinbar eigene Spiegelbild, das in diesem Fall jedoch tatsächlich das Spiegelbild des anderen ist. Beide Spiegelungen haben die Aufgabe, das Selbst der imaginären Spiegelung nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich zu zentrieren. Das Selbst, das sich im Spiegel als Ganzes sieht, stellt mit diesem scheinbar konstativen Wiedererkennen seine Identität nicht nur auf eine performative Weise her, sondern spricht sie auch als eine aus, die immer schon Bestand hatte. Diese retroaktive Dimension des Wiedererkennens, die im nachhinein ihre eigenen Bedingungen auslöscht, hat Louis Althusser die »omnihistorische Realität« des Imaginären genannt (Althusser 1977: 132). Die imaginäre Zentrierung eines Subjekts, das tatsächlich dezentriert ist, basiert dabei auf einer Innenseite seiner Immanenz und auf einer Außenseite. Neben der Intimität mit dem eigenen Spiegelbild muß es ebenso ein inkorporiertes, ein scheinbares Außen geben, eine abweisende Spiegelung, damit die Ordnung des Imaginären vollständig geschlossen ist (vgl. Pfaller 1997: 62-157). Schon der Narziß-Mythos berichtet von zwei Spiegelungen, einer stimmlichen und einer bildlichen, die sich ergänzen müssen, indem sie sich ausschließen. Die Abweisung von Echo, in deren Ruf sich Narziß zugleich gespiegelt findet und sich nicht wiedererkennt, fixiert ihn erst in jener narzißtischen Situation vor dem eigenen Spiegelbild (vgl. Scholz 2004). Auf dieses Außen ist auch Archer angewiesen, um seine eigene Unversehrtheit wieder herzustellen. Nach dem Kampf auf Leben und Tod und nach dem Exzeß der Gewalt liegt Archer immer noch mit Troys Gesicht im Krankenwagen, zusammen mit seinem Double Troy, der seinerseits Archers Gesicht hat. Dieses Mal ist der neben ihm liegende Körper tatsächlich tot. Auch wenn Archer den Kampf überlebt hat, blickt er in sein eigenes

➞ [ Widescreen ]

➞ [ Ikone ]

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66 | [ Leander Scholz ]

Gesicht als das Gesicht eines Toten. Wer also ist dieser Tote? Oder worin besteht dieser doppelte Tod, der über den physischen Tod des Kontrahenten hinausgeht? Auf den ersten Blick könnte man meinen, Archer habe nun seinen Feind endgültig besiegt, indes scheint er auch sich selbst im anderen getötet zu haben. Aber was bedeutet das? In der letzten Szene der Filmhandlung sieht man Archer einem Wiedergeborenen gleich zurückkehren zu seiner Familie, zusammen mit dem Sohn seines Feindes, der seinen eigenen toten Sohn in Zukunft ersetzen oder sogar dessen Tod ungeschehen machen wird. Die familiäre Idylle dieser letzten Szene, die Aufhebung des gesamten Konflikts in dieser vollständigen Heilung ist umgeben von einer ganzen Reihe spiegelbildlicher Toten, von dem Tod einer anderen Familie nämlich. Denn nicht nur Troy ist im Verlauf des Kampfes gestorben, auch sein Bruder, seine Geliebte, seine Freunde, nur eben sein Sohn nicht. Der gedoubelte Tote, der neben Archer im Krankenwagen liegt, ist der Archer der Vergangenheit, der seinen eigenen Sohn nicht beschützen konnte. Dieses Mal ist der Vater gestorben, für den die Kugel, wie die Vorgeschichte erzählt, eigentlich bestimmt war, und der Sohn hat überlebt. Die Vorgeschichte ist durch das Schicksal des anderen als Projektion des eigenen Schicksals korrigiert. Und das Gefühl der eigenen Schuld, nämlich überlebt zu haben, ist am Feind ausgelöscht worden. Die vollständige Geschlossenheit des Imaginären löscht also auch die eigene Vergangenheit aus. Sie zentriert den souveränen Helden nicht nur hinsichtlich der Herrschaft über den anderen, sondern auch hinsichtlich der Herrschaft über die eigene Vergangenheit. Die gesamte Narration stellt folglich die Bedingungen her, unter denen die Vorgeschichte nicht mehr zutreffend ist. Die Zwangsläufigkeit des Kampfes auf Leben und Tod ergibt sich demnach nicht daraus, daß der andere schlicht anders ist. Sie ergibt sich daraus, daß der andere das Auge der eigenen Vergangenheit darstellt. Troy ist nicht nur Täter, er ist auch Zeuge des Geschehens. Genau das ist die Stelle, an der die Feindschaft in die Kategorie des Bösen übergeht, in eine Heimsuchung, die aus der eigenen Vergangenheit kommt. Die Feindschaft ist deshalb stets mehr als eine Bedrohung, ihre Bekämpfung muß immer auch die Bekämpfung der eigenen Schuld einschließen. Der Feind muß nicht nur besiegt, ihm muß auch das Gesicht genommen werden. Am Anfang des Films steht eine Narbe und damit die Erinnerung an eine Wunde, die sich am Ende vollständig schließt, ohne daß eine Narbe zurückbleiben wird. Das Verschwinden dieser Narbe ist zugleich die vollständige Schließung der imaginären Ordnung. Eine Schließung allerdings, die durchaus reale Tote hinterläßt. [ Leander Scholz ]

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Literatur Althusser, Louis (1977): Ideologie und ideologische Staatsappa-

rate: Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg/Berlin: VSA. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1807/1986): Werke in 20 Bän-

den, Bd. 3: Phänomenologie des Geistes, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Lacan, Jacques (1949/1973): »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion«. In: ders.: Schriften I, hrsg. v. Norbert Haas, Olten: Walter-Verlag, S. 63-70. Pfaller, Robert (1997): Althusser. Das Schweigen im Text, München: Fink. Scholz, Leander (2004): »Narziß, Luhmann und das Spiegelstadium«. In: Rolf Nohr (Hg.): Evidenz – »… das sieht man doch!«, Münster: LIT-Verlag, S. 256-270.

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[ Exzeß ]

Eine Szene unter Beobachtung. In einem Garten des Kaiser-Palasts begegnen sich Anarkali (Madhubala) und Prinz Salim (Dilip Kumar) in Großaufnahmen ihrer Gesichter. Gerahmt wird die wortlose, nur von intradiegetischer Musik begleitete intime Szene von den Blicken der Frau, die um die Liebe des Prinzen mit Anarkali konkurriert. Die Kamera aber macht die Leinwand zum hortus conclusus der untersagten Liebe. Die Ausschließung jedes Außenraums hat zur Folge, daß man die Rahmung durch den eifersüchtigen Blick für den Moment vergißt und sich mit den Figuren in diesen Bildern verliert. Anarkali und Salim berühren sich zunächst nicht. Mit einer großen Feder streicht der Prinz über die Wange der Geliebten. Gleich darauf wird die Feder zum Schirm für den Blick, ein weiterer Einschluß als Ausschluß nun auch des Betrachters: Der Prinz küßt Anarkali, geschützt durch die in den Bildvordergrund geschobene Feder – eine Geste, die es ermöglicht, dem im Bollywoodkino bis heute gültigen Verbot des Filmkusses auf der Leinwand in züchtiger Ekstase Folge zu leisten. Ich werde mich in einer Art Zoom von allgemeinen Überlegungen zu Grammatik und Form des kommerziellen indischen Kinos zurück zu diesem Standbild und dieser Sequenz aus dem Film Mughal-e-Azam (Der große Moghul, IND 1960) von Karim Asif bewegen, um deren

➞ [ Zensur ]

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➞ [ Jedermann ]

➞ [ Star ]

genauere Beschreibung dann mit theoretischen Erwägungen zur Großaufnahme im Bollywoodfilm zu verbinden. Ich werde mit dem Versuch beginnen, zentrale Differenzen des Bollywood-Stils zu den ästhetischen Prinzipien des klassischen Hollywood-Stils zu bestimmen. Dies kann nicht anders als pointiert und in der Pointierung sehr schematisch geschehen. Ausnahmen von den allgemeinen Regeln lassen sich fraglos auf beiden Seiten finden. Die grundsätzlichen Erwägungen aber machen, so hoffe ich, den unterschiedlichen Status der Großaufnahme in zwei der bedeutendsten Systeme, die das kommerziell ausgerichtete Weltkino hervorgebracht hat, deutlich. (Daneben wären in erster Linie Hongkong und Japan zu nennen – beide aber sind, von wenigen Ausnahmen in jüngster Zeit abgesehen, ohne Einfluß auf Bollywood geblieben.) Von Hollywood und der dort präferierten Grammatik glatt fließender Découpage aus betrachtet, sind die in den Filmen Bollywoods verwendeten Stilmittel inkonsistent und zugleich überdeutlich, ihr Einsatz exzessiv. Die Filmsprache Bollywoods gehorcht, von den Konventionen des westlichen Kommerzkinos aus gesehen, einer eigentümlichen Pidgin-Grammatik, die erlaubt, was gefällt, auch und gerade dann, wenn der Rahmen des flüssigen Fortgangs der Geschichte dabei gesprengt oder beschädigt wird. Die Form folgt nicht der Funktion, sondern verselbständigt sich, in Fahrten und Zooms der Kamera, in der Wahl seltsamer Aufnahmewinkel, in der Lust an der Redundanz und Wiederholung, in Achsensprüngen, willkürlich anmutenden Blenden und Großaufnahmen. Die Welt der fiktional geschaffenen Illusion ist offener und durchlässiger, bis hin zu Formen, die im Westen als Fehler des Anschlusses, der Geschlossenheit, auch der Synchronizität von Bild und Ton betrachtet würden, hier aber oftmals gar nicht als solche wahrgenommen werden: von Blicken der Darsteller in die Kamera bis hin zum Dreh in der Stadt mit Passanten, die nicht aus dem diegetischen Raum ausgeschlossen werden, sondern im Bild auf das inszenierte Geschehen genauso starren wie der Betrachter im Kinosaal. Die Tatsache, daß die Darsteller in den choreographierten Song-and-Dance-Szenen nicht selbst singen, sondern die Lippen nur mehr oder minder synchron zum Playback selbst oftmals als Stars gefeierter Sängerinnen und Sänger bewegen, unterstreicht noch einen anderen Grundsachverhalt: fast niemals gibt es in Bollywoodfilmen Originalton. Alle Dialoge werden nachsynchronisiert, die Geräusche nachträglich zum Bild komponiert, oft komisch unterstreichend, manchmal seltsam asynchron, kaum jedoch, wie es die Hollywood-Konvention vorschriebe, dem Ideal eines Realismus gehorchend, der das Medium als Form im Dienst einer durchgehenden Realitätsillusion auslöschen möchte. Für alle Theoretiker und Liebhaber des Films, die das Medium als Erretter von Wirklichkeiten betrachten, ist das indische Kommerzkino, mit dem man im Westen lange Zeit kurzen Prozeß gemacht hat,

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ein Greuel. Aber auch die Freunde der strengen Adäquanz von Form und Funktion, in der Grammatik der Filmsprache ebenso wie der damit stets verbundenen linearen Schlüssigkeit der Figurenpsychologie, haben am Ausufern der Form im Kino von Bollywood wenig Freude. Der formalen Enttäuschung jeder eingeübten Realismuserwartung korrespondiert eine inhaltliche. Anders als im sogenannten Parallel Cinema eines Satyajit Ray oder Shyam Benegal, das auf westlichen Festivals sehr viel häufiger anzutreffen ist, kommt in Bollywood die gesellschaftliche Wirklichkeit nur über implizierte allegorische Lesarten ins Bild. Die Häufigkeit von Plots, in denen früh getrennte, am Ende wieder vereinigte Geschwister (z.B. als Zwillingsschwestern in Seeta aur Geeta [ IND 1973, Ramesh Sippy ]) oder feindliche, freundliche Brüder verschiedener Religionszugehörigkeit (z.B. ein Hindu, ein Moslem, ein Christ in Amar, Akbar, Anthony [ IND 1977, Manmohan Desai ]) zentrale Rollen spielen, ist kein Zufall. Das Trauma der mit der Selbständigkeit verbundenen Trennung Indiens und die damit keineswegs überwundenen Religionskonflikte sind Themen, die man höchst selten in realistischer Schilderung von Milieus und Sozialverhältnissen dargestellt finden wird – aber eben in für das indische Publikum sofort entzifferbaren Plotstrukturen und Symbolen. Was als eskapistische Erzählweise kritisiert wird, läßt sich ebensogut – ohne daß das eine das andere ausschließt – als Anschluß an nichtrealistische Erzählformen lesen, wie sie in den großen Sanskrit-Epen wie dem Mahabharata vorliegen, aber natürlich auch von den voraufklärerischen Epen des Westens her – ganz grob gesagt: von Chrétien de Troyes bis John Bunyan – nicht ganz unvertraut sind. Das Komplement des Allegorischen ist das Melodrama. Erst im unbedingten Junktim von Allegorie und Melodrama wird die ästhetische Differenz des indischen zum europäischen wie amerikanischen – in anderer Weise auch zum asiatischen – Kino deutlich. Was dieses Komplementärverhältnis schlüssig erscheinen läßt, ist der ambivalente Bezug von Allegorie wie Melodrama zum Narrativen. Während die Allegorie zur buchstäblichen Lesart (das Geschehen, der Plot, die Geschichten, in die die Figuren sich verstricken) immer eine zweite, allgemeinere Lesart impliziert, setzt das Melodrama auf Plots, deren Unwahrscheinlichkeit die Voraussetzung für abrupt wechselnde Affektmodulationen ist. Beides scheint notwendig für ein ›Kino der Unterbrechungen‹ und Diskontinuitäten: der Bilder, von Bild und Ton, Effekt und Affekt, Plot und unvermitteltem Wechsel in die arienhaften Gesangs-Sequenzen. Heraus kommen dabei Mischungen, in denen – mit Saussure gesprochen – jedes Bild, jedes formale Mittel und jeder Affekt einen anderen ›Wert‹ haben als in den im Westen vertrauten Filmsprachen. Dies gilt auch für die Großaufnahme des Gesichts und deren exzessiven Einsatz, um den es hier gehen soll. Die These kann nicht sein, daß sie in der Pidgin-Grammatik Bollywoods eine ›ganz andere‹

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➞ [ Grimasse ]

Funktion hätte als in den Découpage-orientierten Verfahren Hollywoods – weder im allgemeinen noch im besonderen, hier verhandelten Fall. Viel eher müßte die These für den besonderen Fall lauten, daß es sich um die Apotheose jenes transfigurierenden Entzugs der Repräsentation handelt, der die Großaufnahme nach Gilles Deleuze grundsätzlich charakterisiert – und zwar in einer Filmsprache, die der Überschreitung und affektiven Entgrenzung der repräsentativen Funktion des fotografischen Bewegungs-Bildes ohnehin affin ist. Das Kino Bollywoods zielt als Kino des Melodramas auf die – um Hermann Kappelhoffs Ausführungen zum Theater der Empfindsamkeit zu zitieren – »Transformation theatraler Illusionen in reale Empfindungen« (Kappelhoff 2003). Es operiert – der Tendenz nach – mit Auflösung, nicht mit Darstellung, mit der (affektiven) Aufladung des Bildes, nicht mit seiner Neutralisierung zum Medium für Referenz und Repräsentation. Die Unterbrechungen und Diskontinuitäten fungieren als Medien der Errichtung eines Raums der Gefühlsübertragung. Sehr allgemein gesprochen ist das Kino Bollywoods als Kunst des Melodramas im Unterschied zu Hollywood nicht ein Kino des unsichtbaren Schnitts, sondern ein Kino der Blende – und im Begriff der Blende darf man sich den ›weichen‹ Schnitt, der im Trennen verbindet, und das englische blend als synchrone oder sukzessive Vermischung des Getrennten selbst noch einmal ungeschieden vorstellen. Die Utopie des kommerziellen indischen Kinos ist es, alles auf einmal zu sein, und zwar in den Effekten, die sich dem – notwendig: unvermittelten, aber: sanften – Übergang vom einen zum anderen verdanken. Im Zugleich etwa des Bitteren und des Komischen, zu dem es immer wieder kommt, entstehen Zwischenzustände der Gefühle als Formprinzip eines Erzählens, das auf nichts anderes aus ist als auf diese Gemengelagen. Der gleitende Übergang vom internen – das heißt also: mit Wirklichkeitsabbildung unter keinen Umständen zu verwechselnden – Realismus der Diegese zum Überschwang der Bewegung in den Tanzeinlagen, der der Kontinuität von Ort, Zeit, Handlung kaum mehr verpflichtet ist, ist selbst ein Emblem dieser Übergängigkeit. Emblem und Höhepunkt zugleich, reinste Gestalt des Prinzips: denn von Bild zu Bild, von Schnitt zu Schnitt, wechseln hier – potentiell – die Kleider, die Farben, die Schauplätze, die Stimmungen, die Musikstile, die Verhältnisse zwischen den Personen. Die Großaufnahme des Gesichts ist im Bollywoodkino sehr viel häufiger anzutreffen als in den Kinematographien der im Dienst der Narration stehenden Découpage. Als Unterbrechung der Narration steht sie in der Grammatik Hollywoods als Ausnahmeeinstellung zur Verfügung. Im Hindi-Kino dagegen kann sie sogar als ein universales Bindeglied fungieren. So heißt es in einer Einführung über den Cutter und späteren Regisseur Hrishikesh Mukherjee (*1922): »Er führte Schnittkonventionen ins Hindi-Kino ein wie die Einfügung eines Close-

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up als Verbindungsstück zwischen zwei inkompatiblen Einstellungen« (Ganti 2004: 9). Auch diese Konvention wäre nach den Regeln des Narrationskinos ein Bruch mit den Natürlichkeitsvorschriften, die den Fluß der Geschichte wie die Unsichtbarkeit des Mediums selbst gewährleisten. In Hollywood bleibt die Großaufnahme herausgehobenen Momenten, insbesondere den Liebesszenen, vorbehalten. In Bollywood ist das anders. Wie der Filmwissenschaftler Ravi Vasudevan schreibt, ist die »Beziehung zwischen Narration, Spielszenen und Action-Spektakel nach Art eines Kinos der Attraktionen lose strukturiert« (Vasudevan 2000: 131). Im Rahmen dieses »Kinos der Attraktionen« (vgl. Gunning 1986) geht es um die Reihung, mehr noch: die exzessive Akkumulation von Höhepunkten, über die sich ein Rhythmus einstellt, der auch die Narration und ihre Ökonomie dominiert. Das auffälligste und zugleich gewöhnlichste Beispiel für diese ganz andere Ökonomie sind die sogenannten »Picturizations«, also die Song-and-Dance-Sequenzen, die die Besonderheit des Bollywoodkinos seit den ersten Tonfilmen ausmachen. Oftmals brechen sie in den linearen Fortgang ein oder aus ihm heraus. Sie unterliegen weder räumlichen noch zeitlichen noch logischen Konsistenzvorschriften, jeder Schein von Realismus kann aufgehoben sein. Die Rahmung als Traum oder Vision, ohne die ähnliche Sequenzen in Hollywood nicht denkbar wären, findet man nur gelegentlich, sie ist jedoch keinesfalls nötig. Die Großaufnahme als überblendende Verbindung zwischen zwei nicht linear aufeinander beziehbaren Einstellungen ist eine Art Miseen-abîme eines solchen Einbruchs und fügt sich so in die auf Effekte, nicht auf Konsistenz setzende Grammatik des Attraktionskinos. Der Close-up als Montagebild hat seinen Ort zwischen den Bildern und affiziert die vorausgehende und die nachfolgende Einstellung nach Art einer Konjunktion. Diese Konjunktion aber wird – grammatikalisch gesprochen – nicht von einer semantisch belanglosen Wortart, sondern vom attraktiven Affektbild (meist ist der Close-up natürlich die Großaufnahme des Gesichts) geleistet, und zwar als Regelfall. Das heißt: Bollywood liegt so etwas wie eine schon in den Funktionswörtern affektiv aufgeladene Filmsprache zugrunde. Es ist ein Kino des Melodramas noch in seinen auf den ersten Blick nicht melodramatischen Momenten. Im klassischen, dank unterschiedlichster Einflüsse jedoch ästhetisch immer schon hybriden Bollywoodfilm der 1940er und 1950er Jahre wird man diesen Einsatz des Close-up als vermittelndes Element selten finden – auffällig ist aber auch hier die im Vergleich mit Hollywood außerordentliche, geradezu exzessive Häufigkeit der Großaufnahme. Insbesondere in Verbindung mit dem – in Bollywood als Unterstreichungsgeste sehr beliebten, in Hollywood eher verpönten – schnellen Zoom auf das Gesicht gewinnt die Großaufnahme so einen über ihre Einbettung in die filmische Narration als auch über bloße

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➞ [ Konterfei ]

Repräsentationsfunktionen hinausweisenden Affekt-Eigenwert. Zeigen möchte ich das exemplarisch an zwei Filmen, in denen die Großaufnahme des Gesichts jeweils eine der hauptsächlichen Attraktionen darstellt. Der erste Film ist die (vermeintliche) Gespenstergeschichte Mahal, entstanden im Jahr 1949 als eine der letzten erfolgreichen Produktionen des Studios »Bombay Talkies«. Zwischen diesem 1934 gegründeten Studio und dem Stummfilm der Weimarer Republik gibt es eine unmittelbare Beziehung. Der Gründer der seit 1934 existierenden »Bombay Talkies«, Himansu Rai, hatte sein Handwerk in Deutschland und als Assistent des Regisseurs Franz Osten gelernt. Osten hieß eigentlich Franz Ostermayr und war einer der Brüder, die das in München ansässige Studio »Emelka« leiteten, aus dem später »Bavaria« hervorging. Für »Bombay Talkies« hat Osten, der für seinen Stummfilm Die Leuchte Asiens (D 1925) nach Indien gereist war, in den 1930er Jahren nicht weniger als 16 indische Filme gedreht. Auf den auch nach Franz Ostens Abschied 1939 weiter in Indien arbeitenden österreichischen Kameramann Josef Wirsching gehen zentrale Elemente der dem deutschen Expressionismus nahestehenden Arbeit mit Licht und Rauminszenierung in Mahal zurück. Auch die Attraktivität der Großaufnahme für das indische Kino hat also eine ihrer Wurzeln im Stummfilm und dessen vom späteren Tonfilm deutlich unterschiedener Bilder- und Einstellungsgrammatik (vgl. Löffler 2004). Der Film erzählt von der Liebe des Anwalts Hari Shankar zu einer schönen jungen Frau, die als Geist der toten Kamini in dem von Shankar erworbenen Palast Mahal umgeht. Er sieht sich mit einem mysteriösen Gemälde konfrontiert, das das Gesicht eines Toten zeigt, des Vorbesitzers des Palasts: Er gleicht ihm aufs Haar. Shankar erfährt von der Legende einer tragischen Liebesgeschichte, die Wiedergängerin der Toten erscheint ihm. Dem Ruf – vor allem dem Gesang – der Liebe folgend, will er sich, um mit der Geliebten vereint zu sein, in den Tod stürzen. Sein Vater und ein Freund fallen ihm in den Arm und drängen ihn zur Heirat mit Rajani, der für ihn ausersehenen Frau. Dem Vollzug der Ehe aber steht die wahre Liebe entgegen, die mit Hilfe einiger Erinnerungssymbole Raum und Zeit überwindet, vor allem im immer wiederkehrenden Gesang der mysteriösen Toten. Nicht ein einziges Mal wird Shankar das Gesicht seiner Ehefrau ohne Schleier sehen. Als er in einer dramatischen Szene vor Gericht, die über Leben und Tod entscheidet, mit einer Reihe von Fotografien von Frauengesichtern konfrontiert wird, kann er nicht sagen, welche von ihnen seine Ehefrau ist. Mahal arbeitet mit dem Entzug des Gesichts, dies aber nur, um auf der Rückseite dieser Unsichtbarkeit mit affektiven Überblendungen das Schicksal der verschmähten Ehefrau ins Tragische zu modulieren. Sehr wohl ist nämlich für den Zuschauer das dem Mann abgewandte Gesicht zu sehen, etwa in frontalen Großaufnahmen, die immer wieder mit den als Konfessionen für die

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Freundin verfaßten Briefen überblendet werden, aber auch im Klagegesang Main Woh Dulhan Hoon, der mit einem leinwandfüllenden Close-up des Gesichts von Rajani beginnt. Vor Gericht kommt es zur Enthüllung, die buchstäblich eine Entschleierung ist. Der Geist Kaminis war kein Geist, sondern die nun in den Zeugenstand tretende Hausbedienstete Asha, die Shankar – wie auch seine Ehefrau – nur verschleiert gesehen hat. Der Blick auf ihr Gesicht vor Gericht enthüllt diese Wahrheit und damit die Täuschung, ändert aber nichts an seiner Liebe. Shankar wird zum Tode verurteilt, es gibt eine (vermeintliche) Abschiedsszene zwischen den beiden, die Gitter des Verlieses trennen sie. In einer Serie von im Schuß-Gegenschuß-Modus montierten Close-ups stellt die Kamera eine letzte Kommunion der Liebenden her. In der Montage verschwinden die Gitter, wird somit ein Raum sui generis eröffnet, der – ganz wie in einer Song-and-Dance-Szene, als deren funktionales Attraktions-Äquivalent diese Einstellungen begriffen werden können – nicht mehr an die Beschränkungen des Realen gebunden ist. Ähnliches geschieht in der Sequenz, deren Bestandteil das eingangs beschriebene Standbild ist. Mughal-e-Azam (Der große Mogul, IND 1960, Karim Asif) ist einer der großen Klassiker Bollywoods. Beinahe fünfzehn Jahre wurde an dem Film gearbeitet, er war am Ende zehn Mal so teuer wie der bis dahin kostspieligste Film des indischen Kinos. Entsprechend handelt es sich um ein Werk der verschwenderischen Fülle. Die Settings, die Kostüme, die Massenszenen, die bildreiche Poesie der Urdu-Dialoge (geschrieben vom Dichter Kamal Amrohi, dem Regisseur von Mahal), auch die Musik (für den Song »Zindabad Zindabad« wurde ein Chor von mehr als 100 Sängern verpflichtet): alles zielt auf Überwältigung. Das gilt auch für die intimste Szene des Films, die Serie der wohl berühmtesten Großaufnahmen in der Geschichte Bollywoods. Eine Liebe, die aus Staatsräson nicht sein darf, findet darin ihre momentane Erfüllung in der Überschreitung der realen Figuren, des realen Raums und der realen Zeit. Mughal-e-Azam setzt, wie Mahal, ein Spiel des Verdeckens und Enthüllens, des Sichtbaren und Unsichtbaren, der buchstäblichen und metaphorischen Ver- und Entschleierung in Szene. Die Liebe wird beschrieben als Geschichte einer ›Infektion‹ durch das Bild. Ein Künstler wird zu Beginn mit der Schöpfung einer Statue beauftragt, die die Verkörperung der Liebe darstellen soll. Der Künstler wird nicht rechtzeitig fertig, eine junge Tänzerin (Madhubala) bei Hofe muß einspringen als Ersatz, versteckt hinter einem Perlenvorhang. Am Tag vor der offiziellen Enthüllung nähert sich Prinz Salim (Dilip Kumar) der verschleierten, unfertigen Statue, dem Gesetz des Hofes zum Trotz, das den ersten Blick darauf nur in der feierlichen Zeremonie und in der Anwesenheit des Regenten erlaubt. In Umkehrung der Entzugsstruktur von Mahal sieht der Zuschauer das Gesicht der Statue

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➞ [ Blick ]

in dieser Szene zunächst nicht. Statt dessen bleiben wir auf das in einer lange währenden Großaufnahme unbewegt bleibende Gesicht des Prinzen verwiesen, das zwischen den Perlenschnüren des Vorhangs frontal in die Kamera/auf die Statue blickt: »Die Behauptung des Künstlers ist gerechtfertigt«, sagt er, die Schönheit der Statue bewundernd. »Man kann euch«, warnt der Berater des Prinzen, »der Idolatrie verdächtigen«. Am darauffolgenden Tag zielt der Prinz zur offiziellen Enthüllung mit einem Pfeil auf die Halterung des Perlenvorhangs und verfehlt die Frau, die er als Statue schon liebt und die nun deren Platz eingenommen hat, nur knapp. Die Statue belebt sich, das Staunen über die Frau, die man als Verkörperung der Schönheit zu verehren bereit war, ist groß. Der Vater des Prinzen gibt ihr den Ehrennamen Anarkali und ahnt nichts von der verhängnisvollen idolatrischen ›Infektion‹, die sein Sohn durch den verbotenen Blick auf die Statue erlitten hat. Der Bezug der eingangs beschriebenen, gut dreißig Sekunden währenden Großaufnahmen-Sequenz auf diese beiden Enthüllungen der Statue – die heimliche und die offizielle – ist offenkundig. Der Film überträgt nun den infizierten Blick des Liebenden auf den Betrachter. Ob die von Gertrud Koch für die Großaufnahme im allgemeinen geltend gemachte Einfühlung des Zuschauers in die Figur auch im vorliegenden Fall ohne weiteres funktioniert, bleibt fraglich: »Mit der Kamera«, heißt es bei Koch, »setzt sich der Zuschauer an die Stelle einer Figur und kann so deren emotionale Situation nachvollziehen« (Koch 2004: 568). Tatsächlich geht es in dieser Szene, würde ich behaupten, zwar um eine Affektübertragung, aber nicht um die einfach nachvollziehbare Darstellung einer Emotion. Konstitutiv scheint mir im Gegenteil der Ausschluß des Betrachters aus der Szene. Die Serie der Großaufnahmen wird kein einziges Mal unterbrochen, nicht durch einen Schnitt auf die beobachtende Konkurrentin, nicht durch eine ›objektivierende‹ Einstellung, welche die Liebenden in ein gemeinsames Bild kadrierte. In einem bestimmten Sinn ist das die Apotheose des Affektbildes als ikonischer ›Attraktor‹. In Bezugnahme auf Charles Sanders Peirces Kategorie der »Erstheit« schreibt Gilles Deleuze über den Affekt: »Der Affekt ist unpersönlich und unterscheidet sich von jedem individuierten Zustand. […] Der Affekt ist unteilbar und hat keine Teile. […] Der Affekt ist unabhängig von jeder raumzeitlichen Bestimmtheit« (Deleuze 1983/1997: 138). Das Gesicht, so Deleuze weiter, »individuiert […], es sozialisiert […], es ist relational oder kommunizierend […]« (ebd.). In der Großaufnahme als Affektbild jedoch verkehrt sich das Gesicht in sein genaues Gegenteil: »Alle drei Aspekte, die das Gesicht gewiß im Film wie auch anderswo zeigt, verliert es nun, sobald es sich um eine Großaufnahme handelt« (ebd.: 139). Ingmar Bergman habe das Affektbild in seinen Filmen an eine Grenze getrieben: »In einem ganzen Bereich seines Œuvres stößt Bergman an die äußersten Grenzen des Affekt-

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bildes vor, er verbrennt das Ikon, er verzehrt und löscht das Gesicht genauso bestimmt aus, wie Beckett es tut. Ist das der Weg, auf den uns die Großaufnahme als Entität unvermeidlicherweise führt« (ebd.: 140)? Kann es sein, daß im Kino Bollywoods als einem Kino, das Rahmen setzt und diese im nächsten Moment wieder auflöst und dessen filmsprachliche Grammatik unausgesetzt Diskontinuitäten produziert, eine positive äußerste Grenze des Affektbilds erreicht wird? Statt der negativen Grenze bei Bergman und Beckett also eine positive, zudem sehr weltliche Theologie der Überschreitung aller Bestimmungen im Gesicht, das sich in der Großaufnahme verliert. Ein sich schließender Raum, der Affekte erzeugt, aber weder durch Empathie noch durch eine nachvollziehende Übernahme von Blicken. Vielmehr scheint sich der Blick im von der Großaufnahme geschaffenen Affektraum von den individuellen, sozialen und relationalen Beziehungen des Gesichts zu lösen. Auch dieser Blick verlöre in der Szene von Mughal-e-Azam seine Bestimmtheit: Er ist weder Blick des Betrachters vor der Leinwand noch der Blick der beobachtenden Konkurrentin noch der Blick des Liebenden. In der dreifachen ›Aufhebung‹ des Gesichts eröffnete sich so der Möglichkeitsraum einer ansteckenden »Erstheit« des Gefühls; diese Aufhebung wäre aber keine Löschung oder Defiguration, sondern eine Transfiguration des Gesichts hin zum exzessiven Affekt als Entität. Die Beschreibung des Syndroms als Idolatrie träfe die Sache also sehr genau. »Das Kino ist das, was größer ist als wir – wir müssen unsere Augen zu ihm erheben«, heißt es in Chris Markers CDRom-Werk Immemory (F 1997). Selten hat das genauer zugetroffen als für die Großaufnahmensequenz in Mughal-e-Azam: Anarkali/Madhubala ist dank der Großaufnahme tatsächlich nicht von dieser Welt. Transfiguration hieße, weniger theologisch ausgedrückt: Aufhebung der Bestimmtheit von Raum und Zeit. Vielleicht kommt man dem eigentümlichen Irrealismus der allegorischen Melodramen Bollywoods, und insbesondere der jubilatorischen Reaktion darauf, mit diesem Begriff tatsächlich nahe. Noch in der funktionalen Montage des Unzusammenhängenden durch die Großaufnahme, deren Erfindung Hrishikesh Mukherjee zugeschrieben wird, setzt die Ästhetik des Hindi-Kinos en miniature räumliche und zeitliche Beziehungen in eine Schwebe, die der Verpflichtung auf Realismus und Repräsentation grundsätzlich widersteht.

➞ [ Ikone ]

➞ [ Träne ]

[ Ekkehard Knörer ]

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Bombay: Magna Publ. Deleuze, Gilles (1983/1997): Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frank-

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[ Frisur ]

Das dichte schwarze Haar rahmt das Gesicht und betont seine weichen Konturen. Zum Bubikopf geschnitten, nimmt es eine kompakte Form an und wirkt dadurch fast wie ein Helm. Die getuschten langen Wimpern der halbniedergeschlagenen Augen bilden zusammen mit dem Schwarz des Haares ein dunkles Band, das sich von der hellen Gesichtshaut abhebt. Die Frisur zieht den Blick auf Kosten des Gesichts auf sich, das sich gewissermaßen unter dem Helm aus Haaren versteckt. Es ist diese Frisur, die das Wiedererkennen sehr bekannter Gesichtszüge erschwert – die Bubikopfperücke macht sie beinahe unkenntlich. Sie gehören Brigitte Bardot, die in Jean-Luc Godards Filmepos Le Mepris (Die Verachtung, F/I 1963) als Camille das Idealbild verlockender Weiblichkeit verkörpert. Zu diesem Bild gehört die Wandelbarkeit des äußeren Erscheinungsbildes, zumal sie hier eine doppelte ist, nur bedingt: Die schwarzhaarige Perücke verändert in dieser Szene nicht nur das vertraute Aussehen der weiblichen Filmheldin auf schlagende Weise, sondern auch das Image ihrer weltberühmten Darstellerin. Die Perücke setzt Brigitte Bardots öffentliches Bild als blonde Sirene – zumindest für einen irritierenden Moment – außer Kraft. Mehr noch: die Ikone des französischen Kinos der 1950er Jahre dementiert sich selbst. Mit anderen Worten: Die ungewohnte Frisur, die Camille in der beschriebenen Szene trägt, irritiert mindestens das identifikatorische Verhältnis, das auf seiten des Publikums zwischen der Darstellerin und ihrer Rolle besteht. Denn auch das schwarze Haarband Camilles,

➞ [ Ikone ]

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➞ [ Widescreen ]

➞ [ Star ]

das ihr üppiges blondes Haar in anderen Szenen bändigt, hat »BB« oft selbst getragen. Auf dieses Verhältnis nimmt Godard implizit Bezug, wenn er seine Heldin die Bubikopfperücke aufsetzen läßt und den Zuschauer auf diese Weise vom Star-Image der Bardot distanziert. Godards Film, eine aufwendige Großproduktion im FranScope-Format, die mehr als eine Million Dollar verschlang, spielt mit den wechselnden Identitäten seiner weiblichen Hauptfigur zwischen blondem Liebesengel und selbstbewußter Frau, durch die immer wieder die vertrauten Gesichtszüge und Posen eines Filmstars durchscheinen, der unter der schwarzhaarigen Modefrisur mit seinem öffentlichen Wunschbild kokettiert. Diese Nähe von Darstellerin und Rolle hat Brigitte Bardots Karriere selbst immer wieder provoziert. Für den Film entdeckt wurde sie angeblich, weil sie bereits 14jährig auf dem Cover einer Modezeitschrift abgebildet war (vgl. D’Eckardt 1982: 21). Ihr Gesicht schien genau dem Typus der verführerischen Kindsfrau zu entsprechen, von dem sich die französischen Filmregisseure volle Kinokassen versprachen. Damals waren ihre Haare zwar noch nicht blond, aber ihr lasziver Gang und ihre freizügigen Posen bedienten bereits perfekt das Lolita-Schema. Diese Rolle spielte Brigitte Bardot auch in der Öffentlichkeit und verstand auf diese Weise, die Aufmerksamkeit der Medien zu erregen. Als Verkörperung der idealen Frau, der neuen Eva, wurde sie von Roger Vadim, ihrem damaligen Ehemann, in Et Dieu créa la femme (… und immer lockt das Weib, F/I 1956) bewußt skandalträchtig inszeniert. Dieser Film war es vor allem, der ihren Weltruhm als Sexidol begründete und den »Mythos BB« heraufbeschwor (ebd.: 77). Ihre bewegte Lebensgeschichte wurde deshalb oft Gegenstand weiterer Filme wie La vie privée (Privatleben, F/I 1961, Louis Malle). Dort spielt Brigitte Bardot an der Seite von Marcello Mastroianni ein von Reportern verfolgtes Filmidol, das tödlich verunglückt, weil es, vom Blitzlicht eines Fotografen geblendet, in die Tiefe stürzt. Bereits in diesem Film trug sie eine schwarzhaarige Perücke, um sich den begehrlichen Blicken ihrer Fans und den Zudringlichkeiten der Paparazzi zu entziehen. Gleichzeitig ist Camilles Bubikopf in Le Mepris eine Anspielung auf eine ganz bestimmte Frisurenmode und eine Zeit, in der dieser Haarschnitt erstmals eine unglaubliche Popularität erlangte. Gemeint sind die 1920er Jahre, in denen ein neuer Frauentyp in Erscheinung trat. Populär wurde der Bubikopf in jener Zeit nicht zuletzt deshalb, weil ihn zahlreiche Schauspielerinnen – von Louise Brooks bis Colleen Moore – sowohl in ihren Filmen als auch privat zur Schau trugen und weil Frauenmagazine und Reklame diesen neuen Frauentyp und sein modisches Erscheinungsbild zirkulieren ließen. Der Bubikopf avancierte dadurch zum Erkennungszeichen des girl – jener neuen Generation von Frauen, die sich vom bürgerlichen Weiblichkeitsbild des 19. Jahrhunderts verabschiedet hatte, statt dessen in die Be-

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[ Frisur ] | 85

rufswelt der Angestellten drängte und dabei zumeist nicht nur ledig, sondern auch selbstbewußt und sportlich war (vgl. Ankum 2000). Er prägte damit das Erscheinungsbild einer ganzen Epoche und kann zu Recht als ein Emblem sowohl der Widersprüche weiblicher Emanzipation als auch der Manipulationsmacht der Mode verstanden werden. Von daher verwundert es nicht, daß ausgerechnet der Bob oder Bubikopf gerade in den 1960er Jahren zahlreiche Variationen und Renaissancen erlebte und wiederum eine ganze Generation Britpop-bewegter Frauen zur Nachahmung animierte. Die Frisur unterliegt seit jeher den Gesetzen der Mode. Wie kaum ein anderer Körperstoff ist das Haar, genauer: der Haarschnitt, geprägt von wechselnden Schönheitsvorstellungen und zugleich ein Spielfeld der Selbstinszenierung. Das Haar selbst gilt dagegen als Teil der ›ersten‹, ungebändigten Natur des Menschen; eine reiche Haarpracht signalisiert nicht zuletzt Vitalität: »Hairiness indicates animal nature: it is the distinctive sign of the wilderness and its inhabitants […]« (Warner 1994: 359). Die Löwenmähne wurde bereits in der aristotelischen Physiognomik als Zeichen von Animalität und Stärke angesehen. Daß Haare auch über den Tod hinaus wachsen, verleiht ihnen eine geradezu unheimliche Kraft. In Analogie dazu wurden Haare, die vor Entsetzen zu Berge stehen, in der medizinischen Physiognomik als pathologisches Zeichen von Wahnsinn gewertet (vgl. Gilman 1988: 131f.). Die Frisur hingegen gehört ganz der Kultur an; das Haar ist für sie primär ein Feld, das es zu bestellen gilt. In vielerlei Hinsicht nimmt in diesem Zusammenhang die Locke einen Sonderstatus ein. Ihre Rolle als Liebesunterpfand ist legendär. Darüber hinaus gilt sie als ein doppeldeutiges Zeichen von natürlicher Anmut ebenso wie des künstlichen Willens zur Schönheit. Den Locken verdanken auch die Friseure ihren Namen. Im Französischen bedeutet friser unter anderem kräuseln, in Wellen legen. Der artifizielle Umgang mit dem als formbare Materie verstandenen Haar ist der Frisur also schon etymologisch eingeschrieben. Friseure und Perükkenmacher genossen nicht umsonst Privilegien besonders in höfischen Gesellschaften, in denen der öffentliche Körper eine eigene Zeichenmacht besaß. In einer Gesellschaft, in der die persona neben ihrem Status immer auch zugleich diese Gesellschaft repräsentierte, mußte zwangsläufig der Frisur besondere Aufmerksamkeit zukommen. Victor Stoichita hat am Beispiel von Goyas Gemälde Der Infant Don Luis und seine Familie von 1783 dargelegt, welche Rolle eine kunstvolle Frisur für das Repräsentationsbedürfnis der Mächtigen spielte und welche Wege dagegen die bürgerliche Kultur beschritt, um ihren Idealen Gestalt zu verleihen (vgl. Stoichita 1999: 219-263). In Stephen Frears opulentem Film Liasions dangereuses (Gefährliche Liebschaften, USA/UK 1988) etwa kann man bewundern, wie Kopfputz und Schminke die Gesichter von Männern wie Frauen gleichermaßen

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86 | [ Petra Löffler ] ➞ [ Make-up ]

➞ [ Queer ]

in repräsentative Masken verwandeln. Nicht von ungefähr zeigt er die Demaskierung der Intrigantin, Marquise de Merteuil (Glenn Close), ganz wörtlich zuerst im Theater und danach vor dem heimischen Spiegel beim Abnehmen der Perücke und beim Abschminken. Der Frisierkunst wurden bereits 1762 von J.H. Marchand, der sich Monsieur Beaumont nannte, bzw. 1767 von M. de Garsault umfangreiche Werke gewidmet. Beide hielten nicht nur die besonderen Fähigkeiten eines Genies für diese Kunst erforderlich, letzterer sah im Schneiden und Arrangieren gar eine Wissenschaft, die dem Haar erst zu einer rechtmäßigen Form verhilft und damit das Gesicht vervollständigt (vgl. ebd.: 231f.). Man könnte also im Sinne dieses physiognomischen Imperativs behaupten: je zivilisierter der Mensch, desto wichtiger die Frisur. Alexander Cozens’ Principles of Beauty relative to the Human Head, 1778 erschienen, thematisierten nur wenige Jahre später, inwiefern unterschiedliche Frisuren den Typus ihres Trägers beeinflussen können (ebd.: 235ff.). Mit diesen Überlegungen bezog Cozens eine sehr moderne Position, die sich bis zum Phänomen der Typberatung in unsere Gegenwart verfolgen läßt. Bezogen auf die Perücke könnte man von einer Wandlung vom aristokratischen Statussymbol zum modischen Accessoire wie in Godards Film oder zum Requisit von Gendercrossing sprechen, einer Wandlung, die zugleich Ausdruck der Flexibilisierung moderner Subjektivität ist und eine Kritik am Identitätsmodell der Physiognomik und deren Vorstellung von der Unwandelbarkeit des Charakters impliziert. Wie ein roter Faden zieht sich dieser Zusammenhang zwischen Frisur und Identität durch Le Mepris. Die Götterfiguren der Odyssee etwa, die Fritz Lang in Godards Film im Film in Szene setzt, zeichnen sich als Idealvorstellungen des Menschen durch Frisuren aus, deren Zeichencharakter offensichtlich ist. Athene, die machtbewußte Göttin der Weisheit, und der kriegerische Meeresgott Poseidon sind allein schon an ihrer Haartracht als Gegenspieler zu erkennen. Die kunstvoll gearbeiteten dunklen Locken Athenes stehen metonymisch für ihre Selbstbeherrschung und kultivierte Intelligenz, während das nur von einem Band gehaltene wilde Haar und der Bart ihres Opponenten Poseidon auf sein unbeherrschtes Wesen und seine urwüchsige körperliche Kraft anspielen. Die kontrastierenden Frisuren Athenes und Poseidons symbolisieren darüber hinaus in Homers Epos zwei Prinzipien, die sich unversöhnlich gegenüberstehen: Athene verkörpert die Segnungen der Kultur, Poseidon dagegen das Prinzip der Naturgewalt. Dieser Gegensatz macht deutlich, welches zivilisatorische Potential der Frisur in unserer Kultur zukommt. Frisuren sind demnach sprechende Zeichen, die auf Sichtbarkeit und Wahrnehmbarkeit angelegt sind. Sie wollen auffallen, von ihnen geht deshalb Signalwirkung aus – man denke nur an die rote Mähne der Lola in Tom Tykwers Episodenfilm Lola rennt (D 2001). Dieses Rot der Haare fungiert nicht nur als Erkennungszeichen der Heldin. Es ist

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[ Frisur ] | 87

auch eine Markierung, die die reale Film- und die surreale Comic-Figur einer animierten Sequenz, die in die realistische Filmhandlung eingebaut ist, optisch einander angleicht. Filme kreieren durch die Signalwirkung von Frisuren weit über ihren ›genuinen‹ Wirkungskreis hinaus bestimmte Moden oder Images bzw. nehmen sie auf und verstärken ihre Verbreitung. Sie sind daher stilbildend. Kleidung und Frisuren werden besonders gern von weiblichen Kinogängern imitiert: Mit Filmstars wie Grace Kelly, Audrey Hepburn oder eben Brigitte Bardot verbindet man nicht zuletzt eine bestimmte Kleider- und Frisurenmode. Frisuren schreiben Geschichte, die zugleich die Geschichte von Weiblichkeitsbildern und Schönheitsvorstellungen ist. Auch Camilles Wechsel von der blonden Mähne zum schwarzen Bubikopf ist eine Verwandlung mit Signalwirkung. Die schwarzhaarige Perücke signalisiert innerhalb der filmischen Narration vor allem Distanz – gegenüber ihrem Mann Paul (Michel Piccoli), gegenüber der ihr fremden Filmwelt und nicht zuletzt gegenüber sich selbst: Denn ein neuer Haarschnitt markiert nicht selten eine geänderte Sicht auf das eigene Leben, den Beginn eines neuen Lebensabschnitts, der ein anderes Selbstbild impliziert. Die Frisur selbst, der dunkle Bubikopf, ist aber auch eine Verwandlung, die selbst wiederum als provozierendes erotisches Signal verstanden werden kann, sofern sie mit Attraktivitätsattributen spielt und dadurch Aufmerksamkeit hervorruft. Und dieses Rollenspiel scheint Brigitte Bardot geradezu auf den Leib geschneidert zu sein. Als Objekt des (männlichen) Begehrens hat Godard die von ihr verkörperte Camille in den Film eingeführt. In ihrer ersten Szene liegen sie und ihr Mann Paul gemeinsam auf dem Bett, sie nackt, er spielt mit ihren langen blonden Locken und findet ihr Haar prächtig. Sein Spiel mit Camilles blonden Locken verweist auf deren erotische Wirkung im Liebesspiel. Das dichte, lange, gelockte Haar gilt nicht umsonst als Erkennungszeichen Aphrodites, der Liebesgöttin der griechischen Mythologie, die ihre Nacktheit wie in Sandro Botticellis Die Geburt der Venus (um 1485) einzig mit ihren langen blonden Locken bedeckt. Dieser ikonographischen Vorbilder hat sich Godard offenbar ganz bewußt bedient. Sein Film ist in dieser Hinsicht mehr als eine Reflexion über die Bedingungen des Filmemachens, auf Cinecittà und Hollywood, auf berühmte Regisseure und Filmstars. Die lange blonde Mähne ist bereits in den 1950er Jahren zum Markenzeichen Brigitte Bardots geworden, zu einem Superzeichen des Sexidols, das zugleich althergebrachten Schönheitsvorstellungen entgegenkam. Außerdem waren viele Filmstars der Vergangenheit blond oder zumindest dunkelblond, und wenn nicht von Natur aus, so bleichten sie sich eben die Haare: Mae West, Greta Garbo, Marlene Dietrich, Grace Kelly, Marilyn Monroe, Ingrid Bergmann, Monica Vitti, Catherine Deneuve … bis heute werden Blondinen bevorzugt – in Film und Fernsehen ebenso wie in der Werbung, um ein jugendliches,

➞ [ Oberfläche ]

➞ [ Yentl ]

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anziehendes Image zu etablieren. Auch gegenwärtige Filmstars wie Nicole Kidman, Gwyneth Paltrow oder Reese Witherspoon sowie Popdiven wie Madonna, Courtney Love oder Gwen Stefanie profitieren noch heute von der Aura der Filmblondine. Doch erst im klassischen Hollywoodfilm wurde die Blondine zunehmend mit Sexappeal ausgestattet – ihre Reize beschränkten sich also nicht mehr auf die Pracht und den Glanz ihres Haares: Sie ist verführerisch und naiv wie Marilyn Monroe in Gentlemen Prefer Blondes (Blondinen bevorzugt, USA 1953, Howard Hawks) nach dem Bestsellerroman von Anita Loos oder im Gegenteil geheimnisvoll, ohne jedoch weniger anziehend zu sein, wie Greta Garbo in Two-Faced Woman (Die Frau mit den zwei Gesichtern, USA 1941, George Cukor) oder Kim Novak in Vertigo (Aus dem Reich der Toten, USA 1958, Alfred Hitchcock), immer gehen die Pfade der Narration mit der Blondheit der leading woman konform. In Hitchcocks Film spielt die Frisur der Heldin darüber hinaus auch eine symbolische Rolle für die Filmhandlung: Sie offenbart den dramatischen Konflikt des männlichen Helden. Das streng zurückgekämmte und zu einem Knoten verschlungene blonde Haar fungiert nicht nur als ein Erkennungszeichen Madelaines (Kim Novak), sondern symbolisiert darüber hinaus das titelgebende Schwindeltrauma, das James Stewart seine tragische Rolle als ausgenutzter Privatdetektiv Scottie Ferguson erst ermöglicht. In einer Einstellung versucht die subjektive Kamera die Effekte dieses Traumas zu fingieren, indem sie Scottie Madelaines gewundenen Haarknoten anstarren und dadurch in einen optischen Taumel geraten läßt. Die Frisur evoziert hier eine Mise-en-abîme, einen Abgrund der visuellen Wahrnehmung. Man könnte in dieser formvollendeten Frisur bloß ein sprechendes Requisit sehen, das kunstvoll in die Kriminalstory eingeflochten ist – zumal sie auf einem Gemälde wiederholt wird, dessen Geschichte Scottie in die Irre führen soll. Entscheidend ist aber, daß die unterschiedlichen Identitäten von Madelaine/ Judy in besonderer Weise durch verschiedene Frisuren und Haarfarben definiert werden, denn Judy trägt ihr Haar nicht nur offen, sondern ist auch im Gegensatz zu Madelaine brünett. Die Ähnlichkeit beider verblüfft ausschließlich den Helden des Films, während der Zuschauer den Moment erwartet, an dem er die Täuschung bemerkt. Doch der Held erfährt erst am Ende des Films, daß die vermeintlich tote Madelaine und Judy ein und dieselbe Person waren. Judy hat von Anfang an Madelaine imitiert und wird von Scottie, der sich in diese ›falsche‹ Madelaine verliebt hat, gezwungen, erneut in die Rolle der eleganten Blondine zu schlüpfen. Nicht von ungefähr verfällt er in Hitchcocks Film ihrer geheimnisvollen Ausstrahlung – blondes Haar steht in der abendländischen Kultur seit jeher für Reinheit und Schönheit: »Blondeness and beauty have provided a conceptual rhyme in visual and literary imagery ever

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since the goddess of Love’s tresses were described as xanthe, golden, by Homer« (Warner 1994: 363). Blondes Haar assoziiert in der Mythologie Sanftheit, Anmut und Jugendlichkeit, Schönheit und Gerechtigkeit wie im englischen Märchentitel The Fair with the Golden Hair (vgl. ebd.). Marina Warner macht zudem auf die symbolische Verbindung von hellem Haar und Lichtmetaphysik in der christlichen Theologie aufmerksam. Das Licht ist das Prinzip der Schönheit, weil es, wie Umberto Eco betont, alle Variationen von Farbe und Helligkeit erst hervorbringt (vgl. ebd.: 367). Wegen seiner besonderen Fähigkeit, das Licht zu reflektieren und dabei golden zu schimmern, wird das Haar der Jungfrau Maria zumeist blond dargestellt. Diese Lichtmetaphorik gelangte im Film auf besondere Weise zur Geltung. Im frühen Schwarz-Weiß-Film profitierten besonders die weiblichen Darsteller von den inszenierten Lichtreflexen ihres Haars. Meister des ›stummen‹ Films wie D.W. Griffith, Erich von Stroheim, Carl Theodor Dreyer oder Victor Sjöström setzten solche visuellen Effekte bewußt ein. In Sjöströms The Wind (Der Wind, USA 1928) etwa wird die Auseinandersetzung der Menschen mit der feindlichen Natur in ihrem vergeblichen Bemühen gezeigt, den übermächtigen Naturkräften zu widerstehen. Während eines nächtlichen Sturms fährt der Wind immer wieder durch die langen offenen Haare der von Lillian Gish gespielten Heldin. Er sprengt Türen und Fenster auf, und der herbeigewehte Sand dringt durch jede Ritze des Hauses, in das sie sich geflüchtet hat. Dieses vom Wind bewegte Haar symbolisiert einerseits die unbändigen Naturkräfte und andererseits den individuellen Kampf gegen eine feindlich gesinnte Umwelt wie gegen einen aufdringlichen Verführer. Deshalb ist das flatternde Haar auch ein außerordentliches Affektzeichen, das die Leidenschaften der Heldin sichtbar macht, ohne dabei primär auf die Ausdrucksbewegungen des Gesichts angewiesen zu sein. Es spricht vielmehr eine ›genuine‹ Sprache der Leidenschaften. Naheliegend wäre die Vermutung, daß das Haar hier physiognomische Qualitäten des Gesichts übernimmt. Damit wäre das Haar aber nur eines jener Gegenstände oder Requisiten, die wie eine Landschaft oder ein Teekessel als Gesicht wahrgenommen werden können (vgl. Deleuze/Guattari 1980/1997: 240). Dagegen spricht, daß es in keiner Weise auf das Grundschema des Gesichts bezogen ist. Der Affekt wird vielmehr durch das vom Wind hin und her bewegte Haar zu einer Entität, die die Geltungsmacht des Gesichts als Medium der Expressivität beschneidet. Mehr noch: Das bewegte Haar ist ein ›genuin‹ filmisches Phänomen und kann als solches die Intensität von Konflikten melodramatisch versinnbildlichen. Die Affektpotentia. le des bewegten Haares hat auch Sergej Ejzensˇtejn in seinem Potemkin-Film (Bronenosec Potemkin, Panzerkreuzer Potemkin, UdSSR 1926) genutzt. Kurz bevor der Sturm auf die große Freitreppe einsetzt, fährt einer Frau, die am oberen Treppenrand verharrt, ein

➞ [ Exzeß ]

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➞ [ Photogénie ]

Windstoß durch die Haare. Sie wendet daraufhin den Kopf und sieht die Katastrophe auf sich zukommen. Die Vorstellung, daß sich das Kommende durch einen plötzlichen Windhauch ankündigt, der die Betroffenen streift, entspringt einem messianischen Denken, in dem menschliche Tragödien Naturkatastrophen gleichkommen. Mit ihrer Rolle in Sjöströms The Wind geht Lillian Gish über den Typus des Little Darling, den sie in vielen Filmen zuvor verkörpert hat, deutlich hinaus. Griffith hatte ihn in seinen Filmen entwickelt und damit offenbar auch seinen Schüler Erich von Stroheim inspiriert. Lotte H. Eisner beschreibt das Little Darling folgendermaßen: »Leuchtende, manchmal verschleierte, kleine Gesichter; viel lockeres Haar umspielt das zarte Oval eines Gesichts mit großen, strahlenden Augen« (Eisner 1976: 70). Konzentrieren wir uns auf ihre Beschreibung des Haares: Locker frisiert konnte das oftmals helle Haar, durch das sich dieser Typus auszeichnet, bestens ausgeleuchtet werden, zum Beispiel durch eine Lichtquelle im Rücken der Darstellerin. Durch diese subtile Durchleuchtung wurde es zu einem Strahlenkranz, einem Transzendenzsymbol, das die Unschuld des »kleinen Lieblings« untermauern sollte. Doch der Glanz dieser zarten Geschöpfe war nicht selten nur von kurzer Dauer – allzuoft hatten sie das unschuldige Opfer zu geben wie etwa Lillian Gish als junges mittelloses Mädchen in Griffiths Broken Blossoms (Gebrochene Blüten, USA 1919), das von seinem trunksüchtigen Vater erschlagen wird. Das Bild der gebrochenen Blüte, das Griffith für seinen Film wählt, läßt sich noch um ein weiteres ergänzen: Nicht nur Blumen blühen recht kurz, auch die Leuchtkraft von Kometen ist vergänglich. Sie werden deshalb so genannt, weil ihr leuchtender Schweif an fließendes goldenes Haar erinnert – und Haar heißt im Lateinischen comes (vgl. Warner 1994: 367). Zwischen dem locker frisierten, lichtdurchfluteten Haar des Little Darling und der blonden Lockenmähne von Sexgöttinnen wie Brigitte Bardot liegen, semantisch gesehen, Welten. Gleichwohl ist an diesen unterschiedlichen Haarmoden der Zusammenhang zwischen Frisur und Identität erkennbar: Das Drama von Subjektivitätsentwürfen bildet sich gewissermaßen auf dem Kopf ab, wird gedoppelt durch die jeweilige Frisur. Dennoch lauern Instinkte und das verdrängte Animalische auch an den Pforten der Kultur. Marina Warner hat diesen Zusammenhang treffend beschrieben: »Hairstyles continually perform a drama about the beastly and the human selves present within each individual, and mark off degrees of identification and repudiation in a form of animal mimicry« (ebd.: 372). Der Wechsel der Frisur bedeutet einen Wechsel des Typus, der Identität, der Rolle, durch den das Verhältnis zwischen dem Animalischen und dem Humanen erneut ausgefochten wird. Mit der Perücke nimmt Camille vorübergehend eine andere Identität an und gibt dadurch dem sich entspinnenden Drama der Eifersucht eine neue Richtung. Gleichzeitig

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lenkt sie das Begehren ab auf einen anderen Fetisch als ihre langen blonden Locken. Frisuren können aber auch eine Konfusion etablierter Geschlechterrollen herbeiführen – so zum Beispiel Jeanne d’Arcs historisch verbürgte Jungenfrisur: Ihr kurzgeschnittenes Haar markiert einen unerlaubten Rollenwechsel, den das kirchliche Tribunal nicht hinnehmen kann, denn er widerspricht eklatant dem christlichen Verständnis von Weiblichkeit. Im Gegensatz dazu betont die weibliche Heroine ihre männlich konnotierten Tugenden wie Mut und Kampfgeist. Noch 1927, als Carl Theodor Dreyers La Passion de Jeanne d’Arc (Die Passion der Jeanne d’Arc, F 1927) herauskam, war die Kurzhaarfrisur der Hauptdarstellerin, Renée Falconetti, ungewöhnlich. Frisuren werden also stets auch nach geschlechtsspezifischen Merkmalen bewertet: Bart und Koteletten gehören in der Regel – wenn man von Phänomenen wie der Bartfrau absieht – männlichen Trägern. Ponyfrisuren sind oft eine Domäne der Jugend. Die Frisur erscheint in jedem Fall als flexible Grenze des Gesichts, als stets veränderlicher Rahmen. Dabei können Haare das Gesicht bis zu seiner Auslöschung verdecken und sich auf bedrohliche Weise an dessen Stelle setzen – wie in Ringu (Ring – Das Original, J 1998, Hideo Nakata), einem erfolgreichen Film aus dem Horrorgenre, von dem es mittlerweile ein Remake und eine Fortsetzung gibt, wo das Gesicht eines weiblichen Dämons vollständig durch das über den Hinterkopf nach vorn gekämmte Haar verdeckt wird. Die Haare sind hier ein beunruhigendes Zeichen ihrer dämonischen Macht, von anderen Menschen Besitz zu ergreifen oder sie gar zu töten. Sie führen im wahrsten Sinne des Wortes ein Eigenleben, verkörpern sie doch die Potenz des Dämons über seinen körperlichen Tod hinaus. In der Regel bestimmt jedoch das geschnittene – und das heißt immer auch: das seiner ›ursprünglichen‹ Macht beraubte – Haar die Gesichtsform. Die Frisur ist in erster Linie ein bewegliches Parergon, das auch selbst zum Ergon – also zum hauptsächlichen Sujet, zum eigentlichen Werk, aus dem ein Gesicht hervorgeht (vgl. Derrida 1992: 56-104) – werden kann, das in jedem Fall aber die Wirkung des Gesichts, wie wir am Beispiel von Camilles Perücke gesehen haben, entscheidend beeinflußt. Solche Verwandlungen des Gesichts durch wechselnde Frisuren oder flatternde Haare sind im Film Legion. Er zeigt sie mit Vorliebe in statu nascendi, in ihrem Entstehen – der Film gibt die veränderte Wirkung des Gesichts als Veränderung seines Bedeutungsrahmens zu sehen, der sich sogar an dessen Stelle setzen kann. Das macht das Haar zu einem ›genuin‹ filmischen Phänomen.

➞ [ Träne ]

➞ [ Konterfei ]

[ Petra Löffler ]

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92 | [ Petra Löffler ]

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[ Grimasse ]

Zuerst ist eine dunkelhäutige Frau zu sehen, die sich vor Schmerzen die geschwollene Wange hält und den Kopf rhythmisch hin- und herbewegt – The Laughing Gas (USA 1907, Edwin S. Porter) ist einer der ersten Filme, die mit der Großaufnahme eines Gesichts beginnen. Es folgt ein Einstellungswechsel, und in der nächsten Szene, mit der die Filmerzählung eigentlich erst einsetzt, betritt dieselbe Frau eine Zahnarztpraxis, wo sich sogleich zwei Männer ihrer annehmen. Um die Zahnbehandlung schmerzfrei zu überstehen, wird ihr ein betäubendes Gas zum Einatmen verabreicht. Dabei wird nicht nur ihr Schmerzempfinden neutralisiert, sondern sie verliert – und das ist das Entscheidende – die Kontrolle über das Gesicht und den ganzen Körper: Die Patientin bricht in Lachen aus, das auch die Personen in ihrer Umgebung ansteckt und zu einer Serie von Unfällen und unkontrollierbaren Situationen führt. Am Ende dieses kurzen Films wird wiederum eine Großaufnahme ihres Gesichts gezeigt, welches nun, die erzählte Handlung emblematisch zusammenfassend, von einem Lachkrampf geschüttelt wird. Das durch das verabreichte Gas induzierte Lachen verzerrt die Gesichtszüge auf eine extreme, unnatürlich wirkende Weise. Dieser Eindruck wird noch durch kreisende Kopfbewegungen verstärkt,

➞ [ Lächeln ]

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durch die das Gesicht immer wieder aus der Mitte des Bildkaders gerät. Für gewöhnlich werden solche nervösen Zuckungen der Muskulatur, eine solche Entgleisung der Gesichtszüge, sei sie gewollt oder nicht, als Grimasse bezeichnet. Diese Zuckungen und Verzerrungen des Gesichts werden durch die Großaufnahmen, die den Film rahmen, zum eigentlichen Gegenstand der filmischen Repräsentation – die Zahnbehandlung gibt nur den äußeren narrativen Rahmen ab, um diese temporäre Verunstaltung des Gesichts zu plausibilisieren und zugleich im Close-up zur puren optischen Sensation steigern zu können. Das mimisch bewegte Gesicht der Darstellerin in The Laughing Gas pendelt also zwischen Attraktion (das Lachen als pures Grimassieren) und Narration (das Lachen als kausale Folge der Behandlung mit Lachgas) und bindet auf diese Weise die Aufmerksamkeit des Filmpublikums in zweifacher Weise. Im Kino der Attraktionen spielen sogenannte Facial Expression Films, die zumeist grimassierende Gesichter zeigen, eine besondere Rolle: Sie sind zu einem Experimentierfeld für die Möglichkeiten der Kamera und die expressiven Wirkungen des Gesichts geworden (vgl. Kessler 2002). The Laughing Gas läßt keinen Zweifel daran aufkommen, daß diese Gesichtsverzerrungen nur gemimt sind – zu offensichtlich rollt die Darstellerin, die afroamerikanische Komikerin Bertha Regustus, die Augen und verzieht den Mund. Ihr Lachen verfolgt offensichtlich keine bestimmte kommunikative Absicht. Sie beherrscht vielmehr wie viele Schauspieler, besonders Komiker, das, was der Physiologe Benjamin-Guillaume-Armand Duchenne de Boulogne 1862 als »Gymnastik der Leidenschaften« (Duchenne de Boulogne 1862/1990: 36) bezeichnet hat. Sie entsteht durch das harmonische Zusammenspiel aller Gesichtsmuskeln, die am Zustandekommen eines bestimmten Gesichtsausdrucks beteiligt sind. Duchenne glaubte, wer dieses Zusammenspiel kenne, könne zum Beispiel ein falsches Lachen entlarven, das sich durch eine Inkongruenz der Gesichtszüge verrate. Auch er verstand unter dem Terminus Grimasse eine (pathologische) Dysfunktion einzelner Muskeln, die die Harmonie der Züge stört. Grimassen werden vor allem in Komödien als visuelles Spektakel akzeptiert, zumal wenn sie, wie in unserem Beispiel, von einer Farbigen aufgeführt werden: Denn nur für jemanden, der einen niedrigen Rang in der Gesellschaft einnimmt, Kind ist oder Frau, dumm ist oder verrückt und/oder nicht der ›weißen Rasse‹ angehört, ist es opportun, Grimassen zu schneiden – auch das zeigt The Laughing Gas. Um eine extreme Mimik als Grimasse zu qualifizieren, muß man diesen auf Exklusion beruhenden sozialen Bedeutungsrahmen mitdenken. Dafür sprechen gute Gründe, die sich anhand der Geschichte der Grimasse als Begriff wie als Bild aufzeigen lassen. Was also ist eine Grimasse? Diese Frage zu beantworten, ist – wie gesehen – nicht ganz so leicht wie erwartet. Das Grimmsche Wörterbuch bietet eine erste Orientierung: Seit dem 17. Jahrhundert

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wird mit dem französischen Lehnwort ›Grimasse‹ jegliche Art grotesker Bewegungen bezeichnet, in der Fratze eine Gesichtsverzerrung, ein – mit Lessing gesprochen – »reitz am unrechten orte« namhaft gemacht, aber auch eine zu explizite, sich zudem der Verstellung verdächtig machende Körpersprache verurteilt: das (affektierte) Gestikulieren (vgl. Grimm 1935: Sp. 336-339). Der Grimasse wird vor allem in der aufgeklärten Ästhetik eine deutliche Nähe zur Verstellung nachgesagt. So entlarvt William Hogarth in seiner Analysis of Beauty einen Bettler, der auf heuchlerische Weise versucht, Mitleid zu erregen: »Aber seine Gesichtszüge waren unglücklicherweise für diesen Zweck vollkommen ungeeignet, so daß die Grimasse, mit der er Not und Elend ausdrücken wollte, zu einem vergnügten Lachen geriet« (Hogarth 1753/1995: 179). Der Bettler scheitert für Hogarth gleich in zweifacher Weise: denn ihm mißlingt nicht nur die Simulation einer mitleiderregenden Trauermiene, seine Miene schlägt auch noch um in ihr glattes Gegenteil und fordert dadurch Hogarths Spott heraus. Der Heuchler ist also doppelt geschlagen – zum einen, weil er vortäuscht, was er nicht empfindet, und zum anderen, weil die Grimasse seine falsche Absicht offenbart. Mit der Bezeichnung ›Grimasse‹ wird Hogarth zufolge eine der eigentlichen Mitteilungsabsicht widersprechende Wirkung annonciert. Damit wird zugleich unterstellt, dem mimischen Gebaren liege eine gewisse Ausdrucksmechanik zugrunde, die in der Grimasse offenbar wird und deren Regeln sich näher bestimmen lassen. Daß sich auf diese Weise Grimassen erkennen und mithin entlarven lassen, ist eine weitverbreitete und ebenso langlebige Meinung: »Der Wille hat also die Absicht, das Sichtbarwerden eines bestimmten Seelenzustandes zu verbergen, er kann sogar, zum Zwecke der Täuschung, Ausdruckswirkungen hervorbringen, welche dem wirklichen Seelenzustand absolut entgegengesetzt sind. Mißlingt diese Absicht dem Willen, so haben wir ein unruhiges Zerren des Gesichts, die Grimasse« (Rudolph 1903: 16). Die bürgerliche Kultur hat, wie die Beispiele zeigen, das Vortäuschen von Affekten und das Ausstellen extremer Gefühlsskalen mit einem Darstellungsverbot belegt, denn in der Grimasse fand sie zugleich das Häßliche bzw. moralisch Verwerfliche angezeigt, das mit ihr ausgeschlossen werden sollte. Sie privilegiert hingegen den zivilisierten, das heißt disziplinierten und moralisch gefestigten Menschen, der seine Affekte kontrolliert und nicht über ein gewisses Maß hinaus nach außen dringen läßt. Dagegen glaube der Ungebildete, der für Hegel »ohne Macht über sein Inneres« sei, »nicht anders, als durch einen Luxus von Mienen und Gebärden sich verständlich machen zu können«, werde »dadurch aber mitunter sogar zum Grimassenschneiden verleitet« und bekomme »auf diese Weise ein komisches Ansehen […], weil in jeder Grimasse das Innere sich sogleich ganz äußerlich macht, und der Mensch dabei jede einzelne Empfin-

➞ [ Zensur ]

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➞ [ Rasur ]

dung in sein ganzes Dasein übergehen läßt, folglich – fast wie ein Tier, – ausschließlich in diese bestimmte Empfindung versinkt« (Hegel 1830/1970: 195). Dagegen besitze das souveräne, selbstbewußte Subjekt der bürgerlichen Kultur in der Rede selbst »das würdigste und geeignetste Mittel, sich auszudrücken«, und es habe deshalb nicht nötig, »mit Mienen und Gebärden verschwenderisch zu sein« (ebd.: 195). Für Hegel stellen Grimassen jedoch nicht nur einen verzichtbaren Luxus, eine Verschwendung körperlicher Ressourcen dar, sie bringen den Menschen vielmehr in eine gefährliche Nähe zum Tier, bedrohen also letztlich seine Menschlichkeit. Es handelt sich dabei nicht um eine Verschwendung im eigentlichen Sinne, sondern um ein Aussetzen, ja um ein folgenreiches Überspringen des Geistes durch den Körper, da in der Grimasse sich der Affekt »sogleich ganz äußerlich« mache, also ohne sublimierende Übersetzung in die Sprache auskomme. Aus der Grimasse spricht dagegen für die bürgerliche Kultur die unbeherrschte ›erste‹ Natur, also das Triebhafte oder Vorbewußte. Dieses ›Zum-Tier-Werden‹ des Menschen in der Grimasse hat jedoch mittlerweile längst seine Bedrohlichkeit eingebüßt und ist zu einer philosophisch relevanten Erkenntnisfigur aufgestiegen – Gilles Deleuze und Félix Guattari etwa sehen darin eine Option, um dem restriktiven Bedeutungsregime des Gesichts zu entgehen (vgl. Deleuze/Guattari 1980/1997: 256-262). Auch anhand der Geschichte der Visualisierung von Grimassen läßt sich dieser Bedeutungswandel belegen: Das 19. Jahrhundert erlebt geradezu einen Boom in der Visualisierung der ›ersten‹ Natur, die auch noch in der ›zweiten‹ Natur durch habituelle Prägungen sichtbar sein soll. In dieser Epoche entstehen visuelle Typologien des geisteskranken, des delinquenten und des triebhaften Menschen. Gleichzeitig erfährt das Groteske und Häßliche etwa in der Karikatur eine folgenreiche Aufwertung – insbesondere Grimassen provozieren nunmehr die gängige Verschwisterung von Schönheit und Moral: »Freilich muß man sich von der noch vielfach herrschenden Anschauung frei machen, daß der Ausdruck heftiger Gemütsbewegungen in unschöner Gesichtsverzerrung zu tage trete und darum ungeeignet für die Darstellung sei. […] Künstlerisch betrachtet ist jeder Ausdruck schön und darum der Darstellung wert, denn unser Urteil, ob schön oder häßlich, in Bezug auf den Ausdruck beruht lediglich auf unserer durch das Empfinden irre geleiteten Vorstellung« (Rudolph 1903: X). Grimassen erreichen darüber hinaus im frühen Kino, besonders im Attraktionskino, eine exklusive Sichtbarkeit und Relevanz als Spektakel, weil sie wie in den Facial Expression Films, zu denen man auch The Laughing Gas rechnen kann, die pure Schaulust des Publikums in besonderer Weise zu befriedigen scheinen (vgl. Gunning 1997). Diese Art Film knüpft explizit an populäre Unterhaltungsweisen des 19. Jahrhunderts an. Bereits damals wurde Lachgas auf

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Jahrmärkten als Attraktion eingesetzt. Der narrative Rahmen führt direkt zum Schauplatz der medizinischen Verwendung dieses Betäubungsmittels: Der Amerikaner Horace Wells setzte es 1845 erstmals bei einer Zahnbehandlung ein (vgl. Starobinski 1963: 81). Auf diesen kulturellen Kontext spielt The Laughing Gas an, setzt aber zugleich mit der Exposition der mimischen Konvulsionen in der Großaufnahme einen neuen visuellen Standard. Besonders die Mimik der (weit aufgerissenen) Augen und des (obszön geöffneten) Mundes, in der die Nähe zu pathologisch genannten Entgleisungen der Mimik greifbar wird, wird im frühen Film zu einer Attraktion. Die Verschwisterung von filmischer Vergrößerung und extremer Mimik führen geradezu mustergültig Filme wie Grandma’s Reading Glass (GB 1900, Georges Albert Smith) oder The Big Swallow (USA 1901, James Williamson) vor. Zugleich bekunden diese nur wenige Minuten langen Filmstreifen ein wissenschaftliches Interesse an den Extremen der menschlichen Mimik – der Film selbst wird zu einem Forschungs- und zugleich zu einem Kontrollinstrument (vgl. Cartwright 1995/1997). Das Grimassieren als gängige Darstellungsoption der Filmkomödie hat bis heute nichts an Beliebtheit eingebüßt. Insbesondere die Filmfiguren Jim Carreys lassen an das Kino der Attraktionen denken, wenn der Schauspieler »die Grimasse zu antipsychologischen Zwecken nutzt« und durch die mimische Modellierung des Gesichts »ständig abweicht vom Verlauf der Erzählung« (Samocki 2002: 15). Darin beerbt das Genre der Filmkomödie nicht nur die aristotelische Poetik, die nur in den niederen Gattungen wie der Komödie das Ausstellen von Affekten angemessen fand und dafür spezielle Masken vorschrieb. Es setzt auch die spezifisch filmische Tradition des Slapstick fort, die im antiken Mimus, einem maskenlos aufgeführten Schaustück, dessen ausschließlich pantomimisch agierenden Darstellern eine explizite, gar obszöne Gestik und Mimik gestattet war, einen direkten Vorläufer hat (vgl. Löffler 2004: 65-76). Doch nicht nur das Verständnis dessen, was als Grimasse angesehen wird, hat sich kulturgeschichtlich gesehen immer wieder gewandelt, auch innerhalb einer Kultur sind je nach Situation und Umfeld verschiedene Ansichten und Wertmaßstäbe vorherrschend. Man denke dabei nicht nur an die Bühne, wo grimassierende Schauspieler seit jeher einen festen Platz hatten, sondern zum Beispiel an den scheinbar völlig entgegengesetzten Bereich der medizinischen Diagnostik, wo bestimmte Gesichtsverzerrungen als pathologischer Tic erkannt wurden. So bezeichnete bereits Duchenne de Boulogne bestimmte chronische Gesichtsmuskelzuckungen als »tic indolent de la face« (Duchenne de Boulogne 1862/1990: 17). Auch die Charakterköpfe des geisteskranken Bildhauers Franz Xaver Messerschmidt hat der Psychoanalytiker Ernst Kris als »pathologisch entstelltes Mienenspiel« gedeutet (vgl. Kris 1939). Zwischen der komödiantischen Pro-

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➞ [ Queer ]

duktion einer grotesk übertriebenen Mimik und der medizinischen Symptomatik tut sich indessen eine semantische Grauzone auf, die einerseits durch untergründige Vorurteile, kulturelle Wertmaßstäbe und gesellschaftliche Normen gebildet wird und damit diskursive Machtverhältnisse widerspiegelt, andererseits jedoch einen permanenten Unruheherd, eine latente Bedrohung für die Stabilität dieser Verhältnisse darstellt. Wir müssen also unsere Frage präzisieren: Was zeichnet eine Grimasse im Film aus? Auffällig ist zunächst, daß der Film eine Art Sammelbecken für die verschiedenen Ausformungen von Grimassen ist. Man findet sowohl das übertriebene Gestikulieren, die bewußt zur Schau getragene Fratze, selbst der Tic ist nicht selten, wenngleich zumeist konventionalisiert in den komischen Genres, allem voran im Slapstick (man denke an Stan Laurel und Oliver Hardy), als auch besonders im Melodrama, wo bestimmte Pathosformeln, die, mit zeitlicher Distanz betrachtet, wie leere Posen wirken können – auch das eine Option, die der Terminus ›Grimasse‹ nahelegt. Hier gibt es ebenfalls eine Parallele zur medizinischen Symptomatik. Denn auch das simulatorische Gebaren von Hysterikern wurde als Posieren gedeutet. So zeigen etwa für Ludwig Klages Hysteriker nur »erloschene Affektgesten« (zit. in Schmölders 1995/1997: 137). Auf den ersten Blick scheint das Medium Film jedoch wenig Neues mit dem Bedeutungspotential von Grimassen angefangen zu haben: Die Filmgeschichte ist bevölkert mit liebenswerten Figuren, die ihre Gesichtsmuskulatur für extreme Mimiken trainiert haben. Ihre Funktion ist es, die Aufmerksamkeit und das Interesse des Publikums auf sich zu ziehen und sich dessen Sympathie zu versichern. Gerade für sie hat die filmische Großaufnahme ein gewisses Faible entwickelt. Ein kurzes Beispiel soll diese dramaturgisch wichtige Funktion grimassierender Gesichter im Melodrama erläutern: In Victor Sjöströms Verfilmung von Nathaniel Hawthornes Roman The Scarlet Letter (Der rote Buchstabe, USA 1926) agiert die Figur des Barbiers kontrapunktisch zur melodramatischen Handlung. Er gibt den klassischen Hanswurst, den Einfaltspinsel, der seine Gefühle vorrangig mimisch ausagiert: Seine Gefühle stehen ihm buchstäblich ins Gesicht geschrieben – im deutlichen Kontrast zu den beiden, in verbotener Liebe verbundenen Hauptfiguren des Films, die ihre Zuneigung vor der Mißgunst und ›hohen‹ Moral ihrer Nachbarn verbergen müssen. Der Barbier ist nicht nur die einzige ›naive‹ Figur, die zu der gebrandmarkten Ehebrecherin Hester Prynne hält und damit die Sympathieströme des Publikums auffängt, er greift auch zu einer List, um eine klatschsüchtige Denunziantin die Folgen ihres verwerfliches Tuns am eigenen Leibe spüren zu lassen. Dazu schlüpft er in deren Rolle und ahmt ihre Mimik und Redeweise erfolgreich nach. Seine imitatorische Mimik wirkt auf schlagende Weise entlarvend: Sie denunziert nicht nur die Anklagen der boshaften Nachbarin als belang-

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losen Klatsch, in der Grimasse wird darüber hinaus das Denunzieren selbst als moralisch verwerflich ausgestellt. Das komödiantisch anmutende Grimassieren des Barbiers unterstützt auf diese Weise die Inszenierung einer Katharsis, die am Ende des Films die gesamte Gemeinde ereilt, sie stört also gerade nicht die melodramatische Handlung des Films. Solcher Figurenkontraste bedienen sich narrative Genres mit Vorliebe, um die Handlung spannend zu gestalten. Gleichzeitig wird das grimassierende Gesicht des Barbiers in Sjöströms Film zu einem optischen Spektakel eigener Art: Im Fokus der Kamera wird dieses Gesicht zu einer Spielfläche simulierter Affekte, die der Film auch um ihrer selbst willen zeigt. Täuscht deshalb der (erste) Eindruck nicht, der Film habe wenig Neues zur Visualisierung von Grimassen beigetragen? Die Grimasse als entleerte Form, als Mimik ohne Sinn, bietet einen Ansatz, in die angesprochene semantische Grauzone einzudringen. Was ist damit gemeint? Wenn es richtig ist, daß eine einstmals bedeutungsvolle Miene oder Geste ihren Sinn verlieren kann und damit zur leeren Pose wird, dann kann man erforschen, unter welchen Bedingungen sie dies tut. Man wird sich also beschäftigen mit der Geschichte des Schauspielens (nicht allein im Film), wird Hand- und Lehrbücher für den Schauspielunterricht konsultieren und Rezensionen von Theaterbzw. Filmaufführungen lesen, um Darstellungskonventionen, Genrevorgaben und Publikumserwartungen zu analysieren. Auf diese Weise lassen sich Formationssysteme bilden, die historische Veränderungen in den Darstellungskodes und mithin bei der Qualifikation einer mimischen Aktion als Grimasse sichtbar machen. Dabei wird man erkennen, welchen veränderlichen Koordinaten und Moden gerade das Deuten eines Gesichtsausdrucks als Grimasse oder Pose unterliegt (vgl. Pearson 1992). Grimassen geben also nicht nur wie in Hogarths Beispiel eine innere Einstellung zu erkennen, auch die Qualifikation einer mimischen Konfiguration als Grimasse offenbart gesellschaftliche Wertvorstellungen und Vorurteile. Die Grimasse als Darstellungsform läßt sich jedoch auch in eine andere Richtung denken. Wenn eine bedeutungsvolle Miene oder Geste in ihr Gegenteil, die bloße Form ohne Inhalt, die Grimasse oder die Pose, umschlagen kann, dann muß dieses Umschlagen im Film selbst zu sehen sein. Dann wird uns der Film dieses Erstarren der Mimik zur Maske, denn darum handelt es sich, in ausgezeichneter Weise vor Augen führen können. Neben den deutlich erkennbaren, ausgestellten Grimassen, die zumeist der Komik dienen und Einverständnis mit dem Publikum erzeugen sollen, gibt es also Gesichtsund Körperbewegungen, die erst dadurch zu Grimassen werden, daß sie in einem bestimmten Moment ihren Sinn verlieren, was nichts anderes heißt, als daß sie ihre psychologische Lesbarkeit einbüßen. Wodurch kann ein solches Umschlagen ausgelöst werden? Bereits Duchenne de Boulogne hat durch seine elektrophysiologischen

➞ [ Jedermann ]

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➞ [ Konterfei ]

Experimente glaubhaft gemacht, daß eine zu lange Reizung der Gesichtsmuskeln zu einem Erstarren der Gesichtszüge führt und somit in unsinnige Mimiken, sprich: Grimassen, umschlägt (vgl. Löffler 2003). Durch ein solches Einfrieren des Mienenspiels, dem Anhalten einer mimischen Aktion erzielt der Film bestimmte psychologische Effekte. Es löst immer wieder eine gewisse Überraschung beim Publikum aus, das an eine kontinuierliche Bewegung gewohnt ist. Das Erstarren der Mimik in der Grimasse oder in der Maske kann hingegen den filmischen Illusionismus durchbrechen und den Zuschauer für Momente paralysieren. Insbesondere der Horrorfilm bedient sich mit Vorliebe solcher inszenierten Schockmomente. Mimische Bewegungen unterliegen demnach einem zeitlichen Modus, einem Bewegungsintervall, das sie begrenzt und erst dadurch psychologisch deutbar macht. Wird diese Zeit des Affekts in der visuellen Repräsentation negiert, die mimische Bewegung also angehalten oder im Gegenteil extrem beschleunigt, entstehen einerseits starre Masken oder andererseits undeutliche Mimiken, die letztlich ihren Sinn pervertieren. Durch ein Anhalten oder durch eine extreme Steigerung der Heftigkeit und Geschwindigkeit einer Bewegung, die vor der Kamera verschwimmt bzw. durch einen Einstellungswechsel oder Kamerazoom, in Ausschnitte aufgelöst wird, können im Film Grimassen erzeugt werden. Das filmische Bewegungsbild nutzt also bestimmte Verfahren der Visualisierung, um seine Wahrnehmung durch das Publikum zu verunsichern, und erzeugt dadurch Grimassen als visuellen Effekt. Zwischen der visuellen Repräsentation im bewegten Filmbild und der körperlichen Präsentation des Schauspielers tut sich also eine Kluft auf, die die Frage nach der Grimasse von der rein figürlichen Ebene der Repräsentation abhebt. Damit gerät nicht nur das Timing einer mimischen oder gestischen Bewegung in den Blick. Gleichzeitig verschiebt sich dadurch der Ort der Bedeutung von Grimassen; er ist nicht mehr auf das (verzerrte) Gesicht – also das Grimassieren – als Schauplatz beschränkt, sondern impliziert auch den medialen Ort seiner Erscheinung, das mediale Interface. Damit wird letztlich deutlich, daß sich Grimassen nicht jenseits der Medien und Verfahren ihrer Visualisierung bestimmen lassen. Dieser Zusammenhang läßt sich an einer Szene aus G.W. Pabsts filmischer Bearbeitung des Lulu-Stoffes, Die Büchse der Pandora (D 1929), aufzeigen. Auf der Hinterbühne eines Varietés trifft Lulu, die von Louise Brooks gespielte weibliche Hauptfigur des Films, auf ihren ehemaligen Geliebten, den Rechtsanwalt Dr. Schön. Weil sie sich weigert, vor dessen Verlobter aufzutreten, versucht er sie umzustimmen. Dabei kommt es zu einem Streit: Schön packt Lulu an den Armen und schüttelt sie. Die verneinende Pendelbewegung ihres Kopfes wird dadurch noch verstärkt. Die physische wie psychische Anspannung löst zudem eine Art Lachkrampf aus, der ihre Gesichtszüge

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verzerrt. Es handelt sich hierbei in psychoanalytischer Lesart tatsächlich um eine Grimasse, weil das Lachen als Paroxysmus, als »mimische Fehlleistung« (Kris 1939: 160) deutbar wird. Als temporäre Entgleisung zeigt die Grimasse in dieser Perspektive eine Störung des Selbstbewußtseins an, die sie in die Nähe zur pathologischen Symptomatik rückt. Außerdem verdeckt das durch die heftigen Kopfbewegungen ins Flattern geratene Haar zum Teil Lulus Gesicht. Diese Bewegungen zeigt die Kamera in Großaufnahme bei verlangsamter Aufnahmegeschwindigkeit, so daß sie zugleich wie in Zeitlupe wirken. Das Gesicht wird dabei zu einer grell ausgeleuchteten Fläche voller Schattierungen und Lichtreflexe, aus der die Züge Lulus nur schemenhaft hervortreten (vgl. Löffler 2005: 67f.). In dieser affektgeladenen Szene wird die Auflösung der Gesichtszüge zu einer unlesbaren Grimasse gleichermaßen mit filmischen Mitteln erzeugt und verstärkt, denn für die diffuse optische Erscheinung des Gesichts zeichnen in erster Linie die filmische Einstellung und die Aufnahmegeschwindigkeit verantwortlich. Sie trennen die Bewegung der Körper von der Geschwindigkeit der Aufzeichnung und entlassen sie dadurch aus ihrer anthropologischen Verfassung. Auch die Züge des Gesichts verschwimmen und werden undeutlich. Das Gesicht wird hier zu einem reinen Bewegungsvektor. In dieser Szene nimmt Pabst gewissermaßen einen Bildmodus vorweg, den Gilles Deleuze später als Zeit-Bild bezeichnet hat (vgl. Deleuze 1985/1997). Durch diese doppelte Bewegung des Kopfes (durch das Schütteln des Körpers) und der Kamera (zur Großaufnahme des Gesichts) entsteht ein Sog, der den diegetischen Raum des Films selbst ins Wanken bringt. Die geschilderte Szene setzt nicht nur den narrativen Lektüremodus außer Kraft, sie verfügt auch über ein Schockpotential, wie es der Ästhetik der Plötzlichkeit eigen ist. Die optische Sensation wird wie schon durch die rahmende Großaufnahme eines unbeherrscht lachenden Gesichts in The Laughing Gas dominant. Denn das Verschwimmen der heftig bewegten Gesichtszüge, die durch die Kamerabewegung sanktioniert wird, kommt überraschend. Sie bedeutet einen Bruch mit der Bildästhetik und insbesondere mit der Inszenierung des Gesichts der Hauptdarstellerin, die Pabsts Film bis dahin verfolgt hat: Hier geht es nicht mehr um das Ausstellen der Attraktivität bzw. Photogenität dieses Gesichts oder seiner psychologischen Lesbarkeit. Es verliert diese Potentiale, um zu einer diffusen visuellen Fläche zu werden. Dadurch stellt Pabst die filmische Erzeugung von Grimassen als visuellen Effekt auf besondere Weise heraus.

➞ [ Frisur ]

➞ [ Photogénie ]

[ Petra Löffler ]

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[ Grimasse ] | 105 Schmölders, Claudia (1995/1997): Das Vorurteil im Leibe. Eine

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[ Hand ]

Zwei Hände liegen übereinandergefaltet auf einem hölzernen Spatengriff. Die Handrücken und die angewinkelten Arme in einer Uniform bilden eine horizontale Linie, die zu dem senkrecht zu Boden führenden Holzstiel verlängert ist. Es ist der im Schwarzweiß der Aufnahme hell blinkende Holzstiel eines im Standbild nicht zu erkennenden Spatens, der als Transmissionspunkt zwischen Mensch und Arbeitgegenstand fungiert. Diese Verbindung von Händen und Erde spiegelt allegorisch die nationalsozialistische Blut-und-Boden-Ideologie in Leni Riefenstahls Triumph des Willens (D 1935) wider. Im buchstäblichen Sinne überkreuzen sich in dieser Einstellung die Fragen nach dem Verhältnis von (innerem) Affekt und (äußerem) Ausdruck, und die nach dem medialen Ort, an dem dieser Ausdruck sichtbar wird. Wie bei der Ankunft Adolf Hitlers auf seiner Rednertribüne zu erfahren ist, sind es angeblich die ruhenden Hände von 52.000 Arbeitern, die sich auf dem Nürnberger Parteitag in militärischen Anordnungen formiert haben. Markant ins Bild gesetzt, veranschaulichen die Hände der Arbeiter-Soldaten, wie Gesten im Film vom Körper isoliert repräsentiert werden. Die Großaufnahme lenkt die Aufmerksamkeit und erzeugt gleichzeitig eine Mannigfaltigkeit von Bedeutungen, die im folgenden näher beleuchtet werden sollen.

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➞ [ Blick ]

Als Untersuchungsfeld erscheint mir die Kultur- und Industriefilmproduktion in der Zeit des Nationalsozialismus besonders interessant und gleichwohl zu wenig beachtet worden zu sein, dabei hat es hier einen regelrechten Kult um die Hand gegeben. Analog zur ruhenden Hand des Künstlers oder des Schriftstellers scheinen die ruhenden Arbeiterhände auf den Spaten gestisch die Autorität der vollbrachten Arbeit in den Vordergrund zu stellen. Doch die Serialität der immer wieder in Triumph des Willens inszenierten Hände, der militärische Gestus im Umgang mit dem Spaten, der in Analogie zum Gewehr vorgeführt wird, der zeremonielle Auftritt der Arbeiter-Soldaten und nicht zuletzt ihr in die Ferne gerichteter Blick, entkräften die Vorstellung von einem autonomen und selbstzufriedenen Arbeiter, der sich wie ein Künstler angesichts seiner vollbrachten Arbeit entspannt zurücklehnt. Vielmehr wird in Triumph des Willens ein ›Bilddiskurs‹ lanciert, der eine anthropologische Lesart der Arbeit nahelegt. Fleiß, Opferbereitschaft und Willenskraft sind die als ›natürlich‹ gesetzten Äquivalente dieses Arbeitsbegriffs. Mit dem Beginn der Rede Hitlers kristallisiert sich in dieser Einstellung ein zweites signifikantes Motiv heraus: der Moment der Andacht. Die Montage suggeriert, daß die aus dem Bild führenden Blicke der Arbeiter gespannt auf den immer wieder eingeblendeten Führer gerichtet sind. Das durch die Haltung der Hände nahegelegte Bild einer nach innen gerichteten, andächtigen Haltung konzentriert jedoch den Blick und damit die Aufmerksamkeit des Arbeiters nicht auf den Spaten (wie etwa bei einem Schriftsteller, der beim Schreiben auf seine Hände blickt), sondern wird aus dem Bild heraus ganz auf den im Off sprechenden Führer verlagert. Die Interaktion zwischen Händen und Blick stellt den Bezugsrahmen nonverbaler Kommunikation her; die gezeigten körperlichen Regungen exponieren und intensivieren die bereitwillige Hingabe des Arbeiters: Hitlers Präsenz inspiriert die Arbeiter offenbar nicht nur zum Hinhören – die ›transzendente‹ Wirkung seiner Rede, die sich an den strahlenden Augen und dem festen Blick ablesen läßt, erfährt ihre Fortsetzung über die Hände, die im Gestus des Handauflegens den Spaten und nicht zuletzt auch den Boden, auf dem die Arbeiter stehen, ›heiligsprechen‹. Darüber hinaus wird das ideologische Bild des ›neuen Arbeiters‹ entworfen, der von seinen sozialhistorischen Bedingungen isoliert, ausgestattet mit gestrafften Hand- und Gesichtszügen, den ›Herrenmenschen‹ symbolisiert. Das Beispiel in Triumph des Willens verdeutlicht, daß diese Gebärde erst in der filmischen Komposition entsteht. Belá Balázs zufolge rücken die Hände als stumme Zeichen des menschlichen Körpers besonders dann in den Vordergrund, wenn auf gesprochene Sprache verzichtet wird. Folglich geht mit der Einführung der Rede in der Regel auch eine Veränderung in der Bedeutung der sichtbaren Dinge einher: »In der Welt des sprechenden Menschen sind die stummen Dinge viel lebloser und unbedeutender als der

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Mensch« (Balázs 1924/2001: 31). Der sprechende Darsteller ordnet gleichsam die stummen Gegenstände seiner Rede unter, wohingegen die Hände im Stummfilm zugunsten der gesprochenen Sprache der Schauspieler in den Vordergrund treten: »In der gemeinsamen Stummheit werden sie [ die Dinge ] mit dem Menschen fast homogen und gewinnen dadurch an Lebendigkeit und Bedeutung. Weil sie nicht weniger sprechen als die Menschen, darum sagen sie gerade so viel« (ebd.: 32; Hervorh. F.T.M.). Die Hand als das ›Organ‹ der physischen Tätigkeit bleibt in der Inszenierung von Triumph des Willens der Autorität des Arbeiters vorbehalten, wohingegen der Ausdruck der geistigen Tätigkeit über den ›sakralen‹ Blick und damit über das Gesicht des Arbeiters geformt wird, der ganz auf die Verheißungen Hitlers konzentriert bleibt. Folgt man der Argumentation Balázs’, wird der schweigende Arbeiter wie der stumme Schauspieler mit »seinem ganzen Körper zu einer homogenen Ausdrucksfläche, und jede Falte seines Kleides bekommt die Bedeutung, die eine Falte in seinem Gesicht hat« (ebd.: 39). Die Darstellung der ruhenden Hand des Arbeiters evoziert das Bild einer Individualität, das an die klassische Vorstellung vom autonom arbeitenden Schriftsteller erinnert, wie sie im fotografischen Porträt der Zeit häufig zu sehen ist (vgl. Bickenbach 2003: 188f.). Diese Individualität wird jedoch durch die Reihung der Hände in Triumph des Willens aufgehoben. Die Hand am Spaten ist als Medium der Geste den Arbeitern entzogen, ist der Dimension der Rede beraubt und damit auch ihrer subversiven Option, ihrem möglichen Aufbegehren. Sie bleibt fest verbunden mit dem Arbeitsgerät, das zum Boden weist. Die zusammengefalteten Hände des Arbeiters stabilisieren gleichsam die vorhandenen Machtverhältnisse. Der linke Arbeiterdiskurs des aufsässigen, unzufriedenen und zu allem entschlossenen Proletariers, der die Arbeiterfaust kämpferisch in den Himmel streckt, wird ersetzt durch den des ehrfürchtigen und zu allem einsatzbereiten Arbeiters, der die Heilsbotschaften von Hitler wie die eines Messias aufnimmt. Expressive Haltungen und Bewegungen der Hand, die einen unabhängigen, gar individuellen Ausdruck oder eine Eigenart eines Arbeiters ausdrücken, werden im NS-Film vermieden. Auf diese Weise kann ein Brückenschlag zwischen ›Arbeitertum‹ einerseits und einem mit Opferbereitschaft und Militarismus assoziierten Soldatentum andererseits, vollzogen werden. Die Darstellung der unzähligen zum Hitlergruß formierten Hände bei der Einfahrt Hitlers in Nürnberg in Triumph des Willens zeigt, daß sich die Vorstellung einer gleichgeschalteten Masse, wie Balázs ausführt, besonders über den Ausdruck der Hände inszenieren läßt: »Im wilden Gestrüpp von hundert ausgestreckten Händen lodert mehr Volkserregung als in der endlosen Fläche eines Demonstrationszuges« (ebd.: 56). Allein die Hände der Arbeiter in Leni Riefenstahls Film sind ›still‹, sie verharren bewegungslos, sie schwingen sich nicht zur Geste, zum Zeichen, zur rheto-

➞ [ Jedermann ]

➞ [ Zensur ]

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rischen Gebärde auf, die ausschließlich Hitler vorbehalten bleibt. Die rhetorischen Gesten der Rede hingegen (oder die Deixis im demonstrativen oder autoritativen Sinn) bleiben auf Hitler zugeschnitten. Die Arbeiter scheinen dem Betrachter keine Zeichen geben zu wollen und tun es doch. An dieser Grenze, zwischen Faktum und Zeichen, zwischen dem Zeigen eines Körperteils und seiner Qualität als Zeichen, ist die Inszenierung erneut zu hinterfragen. Der dem nationalsozialistischen Idealbild vorangestellte ›Arbeitstitan‹ konnte im Film, aber insbesondere auch in der Plastik auf öffentlichen Plätzen gezeigt und aufgestellt werden. Der Flüchtigkeit des Mediums Film setzten die Nationalsozialisten die Monumentalisierung entgegen. Die Darstellung der in dieser Weise ›andächtig‹ gefalteten Hände des Arbeiters ist zwar im Kultur- bzw. Industriefilm eher die Ausnahme, allerdings stellt sie in der Strategie des Nationalsozialismus keineswegs ein singuläres Ereignis dar: Sie zeigt, daß sie Teil eines intermedial verflochtenen strategischen Diskurses ist. In der 1934 entstandenen, zwei Meter hohen Bronzeplastik Betender Bergmann von Fritz Koelle stützen sich die Hände in ähnlich gefalteter Haltung auf das Arbeitsgerät wie in Triumph des Willens (vgl. Schirmbeck 1984: 59). Zwar kann durch den gesenkten Kopf und den nach unten gerichteten Blick der Eindruck der Niedergeschlagenheit und Bedrückung des Arbeiters aufkommen, entscheidend ist jedoch der Anlaß dieser Körperhaltung: Es ist der Ausdruck einer individuellen, verinnerlichten Haltung, die sich von den äußeren Umständen der Arbeitsverhältnisse radikal abzuwenden scheint. Das Beispiel der Bronzestatue belegt, daß der symbolische Ausdruck des leidenden, unterdrückten Arbeiters im Nationalsozialismus geschickt in ein Moment der Andacht transponiert und damit seiner gesellschaftskritischen Komponente beraubt wird. Auffällig ist, daß bereits in der zeitgenössischen Physiognomiedebatte der Weimarer Republik zahlreiche Fotobände und Publikationen zum Thema Hände veröffentlicht worden sind. Der von Emil Schaeffer 1929 herausgegebene Band Hände und was sie sagen, 64 Bilder dokumentiert beispielhaft ihren Stellenwert. In seiner Einleitung zu diesem Band hebt Adolf Koelsch die Hand als ein wichtiges Wesenszeichen des Menschen hervor und unterscheidet es vom Gesicht; er charakterisiert die Hand als konstanten Ausdruck des Körpers, denn anders als beim Gesicht, so Koelsch, kann »durch Verstellung nicht das Mindeste mit Erfolg an ihr verändert werden« (Koelsch 1929: 11). Koelsch orientiert sich bei seiner Beobachtung an der anatomischen Gestalt der Hände. Dabei klammert der Autor die gestischen Möglichkeiten der Hand und damit ihr polyvalentes Ausdrucksvermögen aus. Er diskutiert, welche Merkmale des Menschen sich in der Hand widerspiegeln und fragt nach Regeln, die eine gewisse Gleichförmigkeit der Handlinien voraussetzen. Dabei lehnt er Lavaters These ab, in der von der Ähnlichkeit der Gesichter auf die Ähnlichkeit der Hände

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geschlossen wird (vgl. ebd.: 12). Parallel zu Lavaters Feststellung knüpfen die im Nationalsozialismus verbreiteten Thesen an den seit dem Ende des 18. Jahrhunderts sich entwickelnden Physiognomiediskurs an, wo eine Lesbarmachung des Körpers nach ›objektiven‹ Kriterien postuliert wird. Charakterisierungen wie »Mischrasse« und »Gesellschaftsklasse«, die noch im Weimarer Diskurs auftauchen, fallen im Dritten Reich weg (vgl. ebd.: 11). Die Typologien der Hand, die Schaeffer in seinem Band dargestellt hat, skizzieren das Bild einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft, deren Bürger nach Berufsgruppen und ihren vorherrschenden manuellen Beschäftigungen klassifiziert werden sollten. Berühmt für die Darstellung berufsspezifischer Typisierungen sind vor allem die Fotografien August Sanders. Im Zuge der nationalsozialistischen ›Militarisierung‹ des Arbeiters mit soldatischen Werten und der propagierten Verschmelzung der Standes- und Klassengegensätze im Bild des Arbeiterheroen verlieren die Fotografien von Sander für das Dritte Reich an Bedeutung und werden schließlich sogar verboten. Im Kontext der Medialisierung von Arbeit nehmen die Hände einen mindestens genauso hohen Stellenwert ein wie das Gesicht und erleben mit der Entdeckung des ›Arbeitsfaktors Mensch‹ im Kino des Dritten Reichs eine besondere Konjunktur. Filme wie Hände am Werk (D 1935, Walter Frentz) oder Flammersheim & Steinmann Tapetenfabrik zu Köln-Zollstock zeigt die Herstellung der Tapete (D 1937, Produzent Edmund Epkens) sollen den vermeintlich wahren Charakter menschlicher Arbeit ausweisen. In Hände am Werk sind es stets wiederkehrende Einstellungen, die den taktilen Umgang mit dem Arbeitsgerät oder die virtuose Bearbeitung des Werkstücks herausstellen. Hände und Blicke übernehmen die Kommunikation, sie substituieren gewissermaßen nonverbal die gesprochene Sprache des Tonfilms. Entschlossene Hände und konzentrierte Blicke treten in einen ungestörten Dialog mit dem Arbeitsgerät. Wertet der taktile und für den Betrachter als ungefährlich wirkende Umgang mit Arbeitsstoffen den Stellenwert der Arbeit auf, scheut man sich im Dritten Reich nicht, die ansonsten verborgenen Spuren der Arbeit deutlich herauszustellen. In Flammersheim & Steinmann Tapetenfabrik sind es die farbverschmierten Hände beim Anmischen der Farben, die in Großaufnahme sichtbar werden. Gleichwohl sind es grobmotorische Arbeiten wie das Mischen und Sieben der Farben, in denen die Hände zum Dreh- und Angelpunkt der Arbeit werden. Gleichsam ›kopf- und gesichtslos‹ agiert ein solcher Arbeiter, der mit seinen Händen Farbe anrührt. Eine andere Bildmotivik ergibt sich bei der Darstellung der Qualitätssicherung. Zu den Händen treten nun die Augen und ihr Zusammenspiel mit den Händen hinzu. Weder der gezeigte Vergleich der Farbproben mit dem Original an der Staffelei bzw. dem Reißbrett noch die ins Bild gesetzte Arbeit des Tapetenmalers kommt ohne die Darstellung der Augen und damit des Blicks aus. Es kommt zu einer

➞ [ Auge ]

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➞ [ Konterfei ]

semantischen Verbindung zwischen den Augen, die traditionell die Erkenntnis symbolisieren, und den Händen, die das künstlerische Schaffen, aber auch handwerkliches Geschick in den Vordergrund rücken. Die Korrespondenz der Augen mit den Händen rückt besonders dann in den Mittelpunkt, wenn Arbeiten dargestellt werden, in denen ein Höchstmaß an Genauigkeit gefordert wird. Gerade das Reißbrett als Symbol für Planung und Präzision evoziert im Industriefilm ein immer wiederkehrendes Verhältnis zwischen Blick und Händen. Handarbeit als Qualitätsarbeit – unter diesem Motto steht auch die Arbeit in der Formstecherei, die offenbar jeden Gedanken an die Vorstellung einer Massenproduktion beim Publikum gar nicht erst aufkommen lassen soll. Die eindrucksvoll zur Schau getragene Arbeitsausführung des Formstechers, die das Zusammenspiel zwischen Hand, Blick und Werkzeug betont, suggeriert völlige Konzentration auf die Arbeit. Dieser Modus in der Verwendung der Hand hat seine Vorläufer in der Malerei, die traditionell besonders auf das symbolische Zeigen, auf die Deixis ausgerichtet bleibt. Mit dem Aufkommen der Fotografie und vor allem mit den durch den Film gegebenen Möglichkeiten einer kontinuierlichen Bewegungsrepräsentation werden Hände gewissermaßen als notwendiger Bestandteil des arbeitenden Körpers authentifiziert. Im Industriefilm der Weimarer Republik sind Großaufnahmen von Händen und Gesichtern noch die Ausnahme. Erst das Dritte Reich inszeniert bei der Darstellung von Arbeit gezielt den Ausdruck der Hände im Zusammenspiel mit dem Gesicht, da Fingerfertigkeit und Handarbeit traditionsgemäß als Ausdruck des stolzen und autonomen Handwerkers gelten. In Flammersheim & Steinmann Tapetenfabrik sind es zahlreiche, in der Großaufnahme deutlich erkennbare Zangenformen, die allegorisch auf die Fingerfertigkeit des Facharbeiters verweisen. Erkauft wird das verherrlichende Bild eines unfallfreien, sauberen und ungestörten Arbeitsablaufes durch die Unterdrückung verborgener Wünsche des menschlichen Daseins. Der Film folgt der immanenten Dramaturgie von Produktionsabläufen und zeigt dabei die Hand in Bewegung. Als evidentes Symbol für den Stolz des Arbeiters und seiner überlegenen Fähigkeit, die Maschine souverän zu beherrschen, sind die Hände für die Propaganda im Dritten Reich unverzichtbar. Die Illusion von Handarbeit wird geradezu signifikant herausgestellt und überhöht, denn das virtuose Spiel eingeübter Hände büßt vor dem Rationalisierungsdruck der kriegswichtigen Produktion ihren Stellenwert immer mehr ein und beraubt den Arbeiter gleichermaßen seiner handwerklichen Fähigkeiten und damit einhergehend seines Selbstwertgefühls. Sekundenlange Einstellungen in Triumph des Willens von unbewegten, erstarrten Soldaten springen aus dem Fluß der (Filmbild-)Bewegungen, aus der Kontinuität des filmischen Prozesses heraus und steuern die Aufmerksamkeit. Im Erzählrhythmus des Films wirken diese Einstellungen wie ein Standbild, das Stillstand suggeriert. Dadurch erzeugt

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diese Sequenz zunächst einen gezielt irritierenden Effekt und konzentriert die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf den monumentalisierten Ausdruck der Hände und des Gesichts. Den rhythmischen Gegenpol dazu findet der Film in den Einstellungen der aufbrausenden Rede, der gestischen ›Handarbeit‹ Hitlers. Die Ausdruckshand Hitlers ist prinzipiell nicht selbstbezüglich. Sie lockt, droht, befiehlt, appelliert, treibt an, wehrt ab usw. – das heißt, sie braucht ein Publikum. Die Anhänger Hitlers waren ohnehin besonders auf seine Hände fixiert: Claudia Schmölders konstatiert, daß Hitler seiner unausgeprägten, allen ›arischen‹ Maßstäben trotzenden Erscheinung mit schierer Gestikulation ein Gesicht verschaffen hat. Hitler als Redner ist ohne seine bewegten Hände kaum zu denken: »Als Hitler Ende 1924 die Festung Landsberg verlassen konnte, hatte er den Status eines vergötterten Führers schon längst erreicht – ohne Lautsprecher und fast noch ohne visuelle Reklame« (Schmölders 2000: 103). Der Schriftsteller Houston Stewart Chamberlain, der den nationalsozialistischen Antisemitismus nachhaltig beeinflußte, traf Adolf Hitler zum ersten Mal im Jahr 1923. Bei seiner Begegnung, die er in einem Brief Revue passieren ließ, fielen ihm besonders Hitlers Hände auf: »Daß Sie mir Ruhe gaben, liegt sehr viel an Ihren Augen und an Ihren Handgebärden. Ihr Auge ist gleichsam mit Händen begabt, es erfaßt den Menschen und hält ihn fest, und es ist Ihnen eigentümlich, in jedem Augenblicke die Rede an einen Besonderen unter Ihren Zuhörern zu richten, – das bemerkte ich als durchaus charakteristisch. Und was die Hände anbetrifft, sie sind so ausdrucksvoll in ihren Bewegungen, daß sie hierin mit Augen wetteifern« (zit. in Schmölders 2000: 59). Die Bedeutung der Hand wird weiter dadurch aufgewertet, daß man ihr eine intellektuelle und sogar juristische Konnotation zuspricht. Die Hand gewinnt totalitäre Züge, wenn sie als Herrscherbegabung ausgewiesen wird. In Anlehnung an Ludwig Klages interpretiert Schmölders den Hitlergruß des ausgestreckten Arms mit geöffneter flacher Hand als Geste »des Schützens, Segnens, Bevormundens, ›Protegierens‹, Beherrschens« (ebd.: 12). Bei Rudolf Kassner heißt es in seinem 1932 veröffentlichtem Hauptwerk Physiognomie: »Ich kann mir nicht denken, daß echte Herrscherbegabung nicht in der Hand zum Ausdruck kommen sollte. Man sehe sich die Hände auf dem Porträt Pauls III. des Farnesen von Tizian an… Ich habe gesagt, daß die Hände oft unmittelbarer Vererbung, Art, Rasse ausdrücken als Gesichter« (zit. in Schmölders 1994: 13). Dieses Verständnis eines Charakterbildes, das sich von der Prägnanz der Hand ableitet, gehört zum Standardrepertoire des Physiognomiediskurses. Konterkariert wird das Bild einer individuellen, gottgegebenen und letztlich unantastbaren Hand durch die Rationalisierung von Handbewegungen, wie sie Frank und Lilian Gilbreth bereits in den 1910er Jahren analysiert haben. Deren Ausgangspunkt

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➞ [ Grimasse ]

bildeten damals Taylors Überlegungen einer Optimierung von Bewegungen im Arbeitsprozeß (vgl. Löffler 2003: 239). Wie sich Lavaters Vorstellung, von der Hand auf den ganzen Körper zu schließen, bis in die Gegenwart fortsetzt, zeigt sich auch im zeitgenössischen populären Kinofilm. In Der Untergang (D 2004, Oliver Hirschbiegel), der die letzten Tage von Adolf Hitler im Berliner Bunker der Reichskanzlei kurz vor Kriegsende nachkonstruiert, ist es nicht sein Gesicht, das Hitler hinter seiner Mütze und seinem hochgezogenen Kragen versteckt, sondern vor allem seine Hand, die in signifikanter Weise den Verfall des Führers dokumentiert. Der Film stützt sich auf Wochenschaumaterial, das Hitler am 4. April 1945 bei einem Empfang von Hitlerjungen im Garten der Reichskanzlei zeigt. Seine hinter dem Rücken erkennbare, zitternde Hand scheint bei der Auszeichnung von Kindersoldaten nicht mehr seinem Willen zu gehorchen; wegen ihrer dekonstruierenden Wirkung auf das gesamte Persönlichkeitsbild Hitlers fehlt sie wohlweislich in den letzten offiziellen Wochenschauaufzeichnungen. Mittlerweile gehören Hitlers Hände, die emblematisch den gesteigerten Verfall des Regimes zum Ausdruck bringen, zum Standardrepertoire des kollektiven Gedächtnisses. Das Format der Großaufnahme ermöglicht eine detailgenaue Beobachtung von Gesten, denen schnell etwas Artifizielles oder gar Groteskes anhaften kann. Die Großaufnahme ist bis heute ein bewußtes Stilisierungsmittel, das die Widersprüchlichkeiten des Ausdrucks einer Person in der Darstellung des Gesichts und der Hände offenlegen kann, wie Balázs schon 1924 bemerkt hat: »Zum Beispiel geben wir in der Totale einen unbefangen-ruhig plaudernden Menschen. Aber die Großaufnahme seiner Finger, die nervös die Brotkrumen kneten, wird doch dem ganzen Bilde die Stimmung geben. Oder es erscheint in den Physiognomien der Dinge eine Zukunftsahnung, die die Menschen noch nicht haben« (Balázs 1924/2001: 53). Das veranlaßt die Filmproduzenten dazu, bei der Darstellung der Personen mimische Zurückhaltung einzufordern. Es zeigt sich, daß Gestik durch ihre allgemeine Verständlichkeit besticht und deshalb als universale Sprache von beträchtlicher Komplexität definiert wird. Die Hände sind wichtige Zeichen am Menschen, ebenso wichtig wie der Gesichtsausdruck oder die Körperhaltung. Die Vorstellung, daß die Hände dazu geeignet seien, das Innenleben des Menschen sichtbar zu machen, gewinnt man nicht erst in Anbetracht der (Selbst-)Inszenierungen Hitlers, sondern schon in früheren Filmen. Robert Wienes Orlacs Hände von 1924 beispielsweise thematisiert (nach Harun Farocki) den beliebtesten Kino-Handarbeiter par excellence, den Pianisten, und seine Hände (vgl. Liebrand/ Steiner 2003: 263). Der Verlust der eigenen Hände, der durch eine Transplantation wieder wettgemacht werden soll, bildet den Ausgangspunkt dieser Geschichte, in der die Funktionsfähigkeit der Hän-

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de unweigerlich ins Zentrum gerückt wird: Der Pianist Orlac wacht nach einem Unfall mit neuen Händen aus dem Koma auf. Ein Erpresser macht Orlac glaubhaft, daß an seinen neuen Händen Blut klebt: Sie sollen die Vorgeschichte eines prominenten Mörders tragen. Schockiert von der grausamen Hand-Biographie steigert sich Orlac sukzessive in den Wahn einer Selbstentfremdung. Orlac blickt immer wieder auf seine Mörderhände, die ein Eigenleben zu führen scheinen und von ihm Besitz ergreifen. In seinem Gesicht spiegelt sich das Entsetzen. An der Symbiose von Eigenem und Fremdem zeigt sich, daß die Autorität und die Genialität des Musikers von seinen Händen vollends abhängig sind. In Orlacs Hände kommt das klassische Komponisten- und Klaviervirtuosenbild der Neuzeit zum Ausdruck. Wie Claudia Liebrand und Ines Steiner herausgearbeitet haben, wird über die operative »Neukombination eigener und fremder Körperteile zu einem hybridisierten Mischwesen […] ein ganzer Katalog zeitgenössisch virulenter Topoi von Modernekritik abgerufen und in Szene gesetzt: ein kontingenter Unfall als traumatisierender Schock, Zerstörung der Intaktheit des Körpers, Schock des Gelingens moderner (medizinischer) Technik, kombinierender Konstruktion von Ganzheit aus Fragmenten oder Surrogaten, Dissoziation des Subjekts, Krise der Identität, Krise des artistischen Vermögens, Krise der Wahrnehmung, Krise der Kommunikation« (Liebrand/Steiner 2003: 271). Orlacs Hände behandelt Modernitätserfahrungen von »Fragmentierung, Dissoziation, Desintegration, und inkorporierter Alterität« (ebd.), wie sie in Triumph des Willens und allgemein im Dritten Reich als überwunden erscheinen. Die Hände sind Teil eines weit zurückverweisenden Genderdiskurses: Als Orlac erfährt, daß seine Hände keine Mörderhände sind, rekonstituiert sich seine soziale Position als Handlungssubjekt. Seiner Frau wird nur mehr die konventionelle und passive Rolle zugedacht, die sie vor seinem Unfall in der Exposition des Films eingenommen hatte. Mit der Darstellung der Hände des Autors im Film gerät zugleich der Prozeß der Zeichenbildung selbst in den Blick. So etwa in Harun Farockis Dokumentarfilm Bilder der Welt und Inschrift des Krieges (BRD 1988). Farockis Werk greift das Wahrnehmungsdispositiv der konstruktivistischen Arbeitshand auf. Grundlage des Konstruktivismus ist die Ansicht, der Künstler sei ein Mechaniker, dessen Aufgabe es ist, Gebrauchsgegenstände herzustellen. Dieser Gebrauchswert liegt darin, daß Film in hohem Maße als Mittel zur Aufklärung angesehen wird. In diesem Sinne wollte schon der russische Filmemacher und Theoretiker Dziga Vertov in den 1920er Jahren (besonders in Cˇelovek s kinoapparatom [ Der Mann mit der Kamera, UdSSR 1929 ]) die Mechanismen des Films freilegen und damit an der Transformation von der bourgeoisen zur proletarischen Gesellschaft mitwirken (vgl. Petric 1987: 14). Der Arbeiterhand, der einige Finger fehlen und die eine

➞ [ Double ]

➞ [ Xenos ]

➞ [ Oberfläche ]

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Axt hält, werden in einer Kontrastmontage die manikürten Hände einer Dame gegenübergestellt. Weitreichender erscheint jedoch Vertovs Anspruch, keinen Unterschied zwischen handwerklicher und kreativer Arbeit gelten zu lassen. Diesem Paradigma des Arbeiterkünstlers folgend, sind es die Hände des Kameramanns, Cutters und Filmemachers (und nicht etwa die Verwendung der Großaufnahme, die an ein Bild des als genial und damit als ›bourgeois‹ geltenden Künstlers erinnern könnte), die die konstruktivistische Interpretation der abgefilmten Wirklichkeit immer wieder spürbar werden läßt. Auch Harun Farocki kadriert das Bild wie ein Handwerker. Mit den symbolisch ins Filmbild eingeführten Händen weist er auf den handwerklichen Charakter des Filmemachens hin, der seiner Arbeit – offenbar in einer Anspielung auf Vertov – den Gestus einer selbstbezüglichen Nachvollziehbarkeit verleiht. In Bilder der Welt und Inschrift des Krieges wählt Farocki mit den Händen Ausschnitte und macht Hervorhebungen: Eine bedeutsame Komponente in der Definition des filmischen Raums ist das Format und der Rahmen, die Kadrierung; sie normieren in erheblichem Maße das Filmbild. Dem Rahmen der Bilder kann aber auch eine metaphorische Funktion zugewiesen werden: je enger der Rahmen oder die Fokussierung, desto enger der Interpretationsspielraum für den Rezipienten. Häufig ist zu erkennen, wie die Hände des Regisseurs Ausschnitte festlegen, indem sie beispielsweise Gesichter abdecken, Bilder beschriften und Bücher durchblättern. Die körperlich inszenierte Präsenz des Regisseurs macht für den Zuschauer kenntlich, daß es nur um individuelle, persönliche Deutungen und Interpretationen gehen kann, die an die Möglichkeiten und Grenzen der Subjektivität des Filmemachers gebunden sind; Erfahrungen, die sich gewissermaßen außerhalb des Bildes abspielen und die Resultat der Recherchen des Filmemachers sind. Die Differenz zwischen der subjektiven Wirklichkeit des Regisseurs, die vorwiegend über die Hände vermittelt wird, und der Repräsentanz der Bilder bleibt für den Zuschauer somit transparent. Das Gesicht bleibt ›ausgespart‹ oder abgedeckt, es scheint von der reflexiven Strategie des Filmemachers abzulenken. Seine körperliche Präsenz bleibt über die Hände spürbar. Das Zusammenspiel von Gesicht und Händen generiert eine Bedeutung, die sich nur im historischen Kontext und mittels filmischer Detailanalysen erschließen läßt. In der Darstellung von Arbeitsprozessen im Dritten Reich fungieren die Hände als körperliches und symbolisches Ausdrucksmittel, um dynamische Prozesse abzubilden, wohingegen das Gesicht als äquivalenter Gegenpol skulpturalisiert ist. Besonders das Wechselspiel von verschiedenen Mienen, das für Balázs die Konstruktion der Empfindungen im Film ausmacht, findet in den Arbeiterdarstellungen des Nationalsozialismus in der Regel keinen Resonanzboden (vgl. Balázs 1924/2001: 45). Die emotionale Darstellung des Körpers kann über den metonymischen Einsatz der

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Hände (anstelle des Gesichts) umgangen und modifiziert werden. Ruhende oder arbeitende Hände vermögen weit weniger die Facetten eines inneren Seelenzustandes auszudrücken als das mimisch bewegte Gesicht. Die monumentalisierten und stummen Arbeiter ›sprechen‹ über ihre Hände und ihre Blicke: Am Arbeitsplatz scheinen sie in einen vertrauten Dialog mit dem Arbeitsgerät zu treten, bei dem hohe Geschicklichkeit und Präzision gefordert sind; bei der Parade in Triumph des Willens erinnert ihre Handhaltung am Spaten an die christliche Aufnahmebereitschaft und symbolisiert so die in der Blut-undBoden-Ideologie propagierte Verbundenheit von Volk und Land. Oratorische Gesten bleiben allein auf Hitler zugeschnitten, der sich nicht zuletzt über seine Hände ein Gesicht verschafft. Die Ausdrucksgebärde seiner Hände ermöglicht es Hitler, Anforderungen an das arische Ideal zu kompensieren, dem er selbst nicht entspricht. Die physiognomische Beobachtung, Hitlers in den letzten Kriegstagen zitternde Hand sei Ausdruck seines innerlichen Verfalls, kann sich ohne weiteres auf die Homologie-These Lavaters berufen: »Wie der ganze Körper, so die Hand!« (zit. in Löffler 2003: 213). [ F. T. Meyer ]

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120 | [ F. T. Meyer ]

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I

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) T01_09a I.p 93904542830

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) T01_09a vakat.p 93904542854

[ Ikone ] | 123

[ Ikone ]

Mit seiner rechten Gesichtshälfte dem schwarzen Stoff noch verhaftet, scheinbar dem tiefen Schwarz abgerungen, entsteht hier ein Gesicht, das aus Licht modelliert und kraftvoll ist, doch eigentümlich statisch in sich zu ruhen scheint. Was sich auf der Filmleinwand nur zögerlich abzeichnet, ist merkwürdig bekannt und doch zugleich fremdartig. Oval ist dieses Gesicht und von einem feinen Knochenbau. Lange Nase, dunkle Augen, volle Lippen, die Ohren wohlgeformt – hier und da sind markante Züge gesetzt, die hohe Stirn beispielsweise, die das ganze Licht auf sich zieht, und die ausgeprägten Augenbrauen, die die Augen betonen. Offenbar sind es diese wenigen Merkmale, die dem ansonsten weichen Gesicht eine kraftvolle Erscheinung verleihen. An diesem Antlitz ist alles Stillegung und eigentümliche Arretierung, denn hier bewegt sich nicht das Gesicht in seiner gewohnten mimischen Weise, sondern das faciale ›Beiwerk‹: Es sind die im Wind wehenden Haare oder das Kopftuch, das sie bedeckt, es ist der Wechsel des Hintergrunds von pastosem Schwarz zu bewegten Naturansichten, wie sie in den folgenden Einstellungen gezeigt werden. Auf diese Weise entsteht nach und nach der Eindruck eines ›ikonischen‹ Gesichts, das außerhalb eines realen Raums, ja außerhalb der

➞ [Photogénie ]

➞ [ Frisur ]

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124 | [ Joanna Barck ]

➞ [ Lächeln ]

➞ [ Träne ]

Zeit zu existieren scheint und infolgedessen dem näherkommt, was man mit dem Begriff der Erhabenheit benennt. Gefragt nach den berühmten Gesichtern der Bildmedien heutzutage, fällt einem vielleicht zuallererst die Kunstikone Mona Lisa (La Gioconda, um 1503-06, Louvre) oder die Popikone Madonna oder aber der Hollywoodstar Tom Cruise ein. Doch keines dieser Gesichter hätte seine heutige mediale Bedeutung erlangt, gäbe es nicht lange vor ihnen bereits eine wirkungsmächtige faciale Entwicklung, die das Gesicht zu dem prominentesten Ort der Individualität und Identität, aber auch zu einer dankbaren Projektionsfläche für Kommerz machte, für die es heute steht. Gilles Deleuze und Félix Guattari haben auf die Frage nach diesem Urgesicht eine mögliche Antwort gegeben, indem sie den Siegeszug der menschlichen Facies mit dem Jahr Null und damit mit dem Gesicht eines weißen Mannes beginnen lassen – mit dem von Jesus Christus. »Es ist nicht einmal das Gesicht des Weißen Mannes, es ist der Weiße Mann selber mit seinen breiten weißen Wangen und dem schwarzen Loch der Augen. Das Gesicht ist Christus. Das Gesicht ist der typische Europäer […]. Nicht universell, sondern facies totius universi. Jesus-Christus-Superstar: er erfindet die Vergesichtlichung des ganzen Körpers und überträgt es auf alles (die Passion der Jeanne d’Arc in Großaufnahme)« (Deleuze/Guattari 1980/1997: 242-243). Diese Antwort der beiden französischen Denker war vor allem politisch motiviert, denn der »Weiße Mann« bestimmt auf zweifache Weise das ›Gesicht des Abendlandes‹, nämlich einerseits als metaphysische Religionsfigur und andererseits als kulturpolitischer Usurpator. Der Film hat sich dieses weißen Urgesichts von Anfang an dankbar angenommen, wenn auch selten in einer eigenständigen und befriedigenden Bildform. Für eines der wenigen herausragenden Beispiele um die Auseinandersetzung mit der ikonischen Bedeutung des medialen Gesichts steht Pier Paolo Pasolinis Film Il vangelo secondo Matteo (Das erste Evangelium – Matthäus, I/F 1964), aus dem das einleitend beschriebene Standbild stammt und worauf ich noch genauer eingehen werde. Zunächst aber möchte ich ein wenig den Kontext beleuchten, ohne den eine kinematographische Ikonisierung des Gesichts nicht möglich gewesen wäre. Zu den gleichen Schlußfolgerungen wie Deleuze und Guattari gelangen auch die kulturhistorischen Disziplinen, die nach der Bedeutung des medialen Gesichts fragen. Auch für sie fungiert die Facies Jesu Christi, wenn man so will, als die Urmatrix der Gesichtshaftigkeit schlechthin, weil sie zugleich das Sinnbild der Göttlichkeit, die die höchste Souveränität und Singularität besitzt, als auch das Sinnbild des absolut Menschlichen und damit seiner spezifisch humanen Charakteristik ist. Die Fragen nach der Porträtierung eines göttlichen Gesichts, das heißt nach der Möglichkeit bzw. der Unmöglichkeit, Jesus Christus darzustellen, münden in den Disputen um das ›wahre

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[ Ikone ] | 125

Abbild‹. Was macht ein Bild zum Porträt? Wie kommt es zustande? Und welche Merkmale sind ihm wesentlich? Diese und ähnliche Fragestellungen sind entscheidend für die Entwicklung der gesamten Porträtkunst gewesen, denn sie berühren jene bis heute gültigen Überlegungen zum Wesen des medialen Gesichts. Icon heißt in der kulturellen Entwicklung zunächst Bild, doch bald wird es zu Ikone und bedeutet viel mehr als das bloße Darstellen von Dingen und Personen. Es bezeichnet Kultbilder höchsten Ranges – Wunderbilder Christi und vor allem die Acheiropoietos, was auf deutsch »nicht-von-Hand-gemacht« heißt. Sie sperren sich gegen das alttestamentarische Gebot: »Du sollst dir kein Bildnis von mir machen« und geben der Porträtmalerei eine andere Bedeutung (vgl. Spanke 2004: 53-67; Belting 1990: 64ff.). Die prominenteste Legende eines nicht von Menschenhand gemachten Porträts Christi ist die vom Mandylion, dem »Tuchbild«, auf dem Jesus selbst sein Gesicht abgedrückt haben soll (vgl. Belting 1990: 233ff.; Wolf 2002: 43ff.). Dieses Linnen, das weiße Tuch der Maler und später die Kinoleinwand, ist der Bilderort, ist eben jenes Jahr Null, von dem Deleuze und Guattari sprechen und in dem das Gesicht selbst zu einer Ikone geworden ist, indem es sich vom Körper trennte und seine Existenz als pures Medium begann. Mit dieser Handlung entstand also nicht nur das kultische, das ›wahre Porträt‹ Jesu, das die Präsenz des Porträtierten im Bild begründet, sondern zugleich die Einsicht, daß das Gesicht eines bestimmten Ortes bedurfte, um sich jenseits des Körpers zu konstituieren. Aus dem strengen Archetypus der ersten Christusikonen entwikkelte sich folglich ein bestimmtes Gesichtsformat, das sich bis in die Gegenwart hinein kaum verändert hat. Die Rede ist von dem sogenannten Brustbild, einem Format, das den Dargestellten ab der oberen Hälfte des Torsos erfaßt, um auf diese Weise die Symbolik der Armhaltung und der Handgestik – die ›sprechenden Hände‹ – komplementär zum Gesicht setzen zu können. Bis heute ist dieses Bildformat auch in den technischen Medien wie Fotografie und Film nur wenig variiert worden (Nahaufnahme). Mit dem Verzicht auf die Wiedergabe der Hände entwickelt der Film schließlich das stärkste Gesichtsformat: die Großaufnahme, mit der, wenn man so will, das Gesicht endgültig vom Kopf getrennt wird. Mit der künstlerisch-kultischen Übertragung des Gesichts auf eine Fläche ist die absolute Entkörperlichung erreicht, die die entscheidende Medialisierung des Gesichts einläutet. Interessanterweise beginnt diese Entwicklung nicht mit einer Individualisierung, sondern mit einer monumentalisierten und das heißt mit einer unspezifischen Facies. Das Gesicht Christi – das »Gesicht des Weißen Mannes« – ist zu einer universellen Ikone des menschlichen Gesichts, zu einer Blaupause geworden, aus der das Individuelle als eine Abweichung erwächst.

➞ [ Konterfei ]

➞ [ Hand ]

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126 | [ Joanna Barck ]

➞ [ Star ]

Charaktér, Siegel und Icon – mit dieser aufeinander bezogenen Trias versuchte man schon im 6. Jahrhundert die Präsenz des Abgebildeten im Abbild zu institutionalisieren. Ausgehend von dem griechischen Wort charaktér (χαρακτηρ), das einritzen, eingravieren meint und das im Griechischen die »pragmatische Bedeutung von ›Prägung‹ als einer Formgebung [ behält ]«, funktioniert die Ikone wie ein Abdruck der Wesenheit (Spanke 2004: 53). Das Gesicht Jesu steht hier in der Metaphorik des Siegels, der die in ihm ›eingeritzten‹ Zeichen als einen exakten Abdruck auf dem Material hinterläßt und doch sich selbst nicht in diesem Abbild entäußert. Auf diese Weise wird sein Gesicht allmählich zu einer medialen Hypostase, die durchaus als eine Vorstufe der ›filmischen Ikonen‹ gelten kann. Vor diesem Hintergrund liegt die Frage nahe, ob das Gesicht in Großaufnahme oder sogar das Format selbst nicht eine göttliche Referenz hat. Sicherlich kann nicht daran gezweifelt werden, daß das Filmpublikum dazu bereits seit der frühsten Kinoentwicklung zu aufgeklärt war. Und dennoch gleicht diese kinematographische Überhöhung des Gesichts beinahe einem ›ikonischen Wunder‹, insofern mit der kultischen Ikone zum ersten Mal bewußt an einer Auratisierung des Gesichts gearbeitet wurde, die schließlich im Starporträt seinen profanen Höhepunkt findet. Aber die ›filmische Ikone‹ leistet noch etwas anderes, denn sie entwickelt aus der kultischen Vorgängerin ein transzendentes und darin auf Universalität angelegtes Gesichtsmodell, womit zunächst eine prinzipielle Umgestaltung des Gesichts zu einem reinen, in gewisser Weise frei fluktuierenden Medium gemeint ist, das von seinem lebenden Träger, dem Menschen selbst, unabhängig geworden ist. Pasolinis Christusgesicht ist dafür ein gutes Beispiel, aber auch die Metaphern und Beschreibungen, die sich im Kontext einiger prominenter Gesichter des Films finden, sprechen eine überaus deutliche Sprache – ihre Galionsfigur ist die »göttliche« Greta Garbo: »Das Gesicht der Garbo steht ein für jenen flüchtigen Augenblick, in dem der Film eine existentielle Schönheit aus einer essentiellen Schönheit gewinnt, in dem der Archetypus das Faszinierende vergänglicher Gesichter durchscheinen läßt […]« (Barthes 1957/1996: 74). War Greta Garbo am Anfang ihrer Karriere nichts mehr als eine hübsche Schauspielerin aus Fleisch und Blut, so ist sie als die Göttliche nichts weniger als ein ›beseeltes‹ Bild, eine Ikone, von der man das Fleischliche abstrahiert und so die Essenz eines transzendenten Mediums erhalten hat. Dabei darf man die Funktion der Großaufnahme nicht verkennen, die geradezu prädestiniert ist, die metaphysische Idee des Gesichts im und als Bild zu visualisieren. Man kann sogar noch einen Schritt weiter gehen und wie Deleuze und Guattari behaupten, die Großaufnahme sei selbst ein Gesicht, denn wo gibt es eine Großaufnahme, die nicht gleichzeitig Vergesichtlichung wäre? Man denke nur an den berühmten Wasserkessel bei Griffith, der in der Großaufnahme so

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[ Ikone ] | 127

wenig mit einem Gebrauchsgegenstand und so viel mit einem Gesicht zu tun hat (vgl. Deleuze/Guattari 1980/1997: 240). Aber die Großaufnahme ist selbst eine unbeständige oder nur schwer faßbare Größe, betrachtet man sie jenseits ihres bloßen Formats. Sie ist ein Hauch von Etwas, das letztendlich nur als flüchtige mediale Erscheinung von Dauer ist. Diese Paradoxie von Transzendenz und Dauer greift Pasolini in Il vangelo auf, wenn er sich auf die Suche nach einem Gesicht macht, das den Archetypus der (abendländischen) Menschheitsgeschichte darstellen soll. Es drängt sich der Verdacht auf, daß er bei seinem Jesusdarsteller nach einem facialen Ausdruck suchte, der der Schönheit der »Göttlichen Diva« adäquat sein sollte. Doch wie kann ein männliches Gesicht diesem Attribut gerecht werden, ohne wahlweise seine Männlichkeit oder seine Göttlichkeit zu verlieren? Die Passion ist eines der frühesten Genres der Filmgeschichte überhaupt – man denke beispielsweise an La vie et la passion de JésusChristus (F 1897) der Gebrüder Lumière oder an den italienischen Monumentalfilm Christo von Giulio Antamoro (Christus, I 1916) – und zeugt von unzähligen Versuchen einer filmischen Ikonisierung des (Jesus-)Gesichts. Es erscheint mir nicht ganz abwegig, in diesen zahlreichen, noch stark kanonisierten Darstellungen den möglichen Ursprung kinematographischer Nahaufnahmen von Gesichtern überhaupt zu vermuten. Am Anfang, hier noch in Ermangelung einer spezifisch filmischen Bildrhetorik, findet man in den Jesusfilmen schlichte Adaptionen von Gemälden oder sogenannte Lebende Bilder (Tableaux vivants), die das Gesicht Jesu (und auch das Mariens) noch gemäß dem klassischen Kanon der Repräsentationsbilder, und das heißt als statuarische Ansichten eines Typus wiedergeben. Ausgewogene, wenig markante Gesichtszüge, hohe Stirn, ein feiner, unauffälliger Bart, blonde oder braune, immer aber lange, gewellte Haupthaare – fraglos, das Gesicht Jesu ist kein Ort für allzu menschliche Individualität. So macht dieser vielfach klischierte Gesichtstypus – zumindest auf die heutigen Zuschauer – häufig den Eindruck eines wenig gelungenen Bildzitats oder eines Konglomerats überlappender Abbilder aus der Kunstgeschichte. Erst spätere Passionsfilme nehmen sich die Freiheit, Jesus als einen lebenden Menschen darzustellen, was jedoch nicht selten mit einer Reduzierung der Nah- und Großaufnahmen einhergeht. Es scheint so, als ob ein lebendiger, das heißt ein historischer Jesus sich jenseits der tradierten Vergesichtlichungen bewegen müßte, und die Großaufnahme bot offenbar zu viele Fallstricke: Sie konnte wahlweise den Schauspieler hinter der Jesusfigur offenlegen – und damit Jesus zu einer bloßen Rolle herabsetzen – oder erneut in ein Klischee zurückfallen und damit dem Filmvorhaben zuwiderlaufen. Ein Ausweg aus diesem Dilemma war schwierig, wollte man auf die Großund Nahaufnahmen nicht vollständig verzichten. Auffällig in diesem

➞ [ Exzeß ]

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128 | [ Joanna Barck ]

➞ [ Casting ]

Zusammenhang ist die Wahl der Schauspieler, die die Jesusrolle übernehmen durften, denn es handelt sich dabei um zumeist unbekannte Akteure. Eine solche Wahl steht in einer langen Tradition der Passionsspiele, die ihr berühmtestes Beispiel in den Festspielen von Oberammergau hat, und deren Lebende Bilder – das heißt Nachstellung von Bildszenen oder Gemälden durch Schauspieler unter Verzicht auf Bewegung – ausschließlich von Laienakteuren gestellt werden sollten (vgl. Zwick/Huber 1999). Der Laie als Schauspieler verbürgte die Authentizität der Gefühle und die Redlichkeit im Ausdruck, da er vermeintlich nicht zu schauspielern gelernt hatte. Darüber hinaus entging er dem Vorwurf der Blasphemie, auch wenn man dabei nicht soweit gehen mußte wie in Oberammergau, wo die Laienschauspieler ›biblische‹ Berufe ausüben sollten wie zum Beispiel den des Schreiners für die Jesus- oder Josephrolle. Für die Darstellung Jesu bedeutete der Verzicht auf bekannte Darsteller, das Schauspielern, das immer schon als ein Handel mit unechten Gefühlen galt, so weit als möglich zu minimieren und die Betrachtung auf eine mehr oder weniger traditionell-religiöse contemplatio et devotio zu richten. Dem Zuschauer sollten echte lebendige Bilder aus dem Leben Jesu geboten werden, die zu einer anbetenden Haltung und, im Falle der Marter, zu einer Verinnerlichung der Leiden Christi führen sollten. Es liegt auf der Hand, daß eine Großaufnahme, in der man zuallererst einen bekannten, möglicherweise einen überaus markanten Schauspieler erkannte, einer ›Naturalisierung‹ des Gesichts jenseits der Ikone entgegenwirken würde (vgl. Huber 1992; Zwick 1992). Um so prominenter sind die Ausnahmen, so zum Beispiel Max von Sydow in The Greatest Story Ever Told (Die größte Geschichte aller Zeiten, USA 1963, George Stevens) oder Willem Dafoe in The Last Temptation of Christ (Die letzte Versuchung Christi, USA 1988, Martin Scorsese). Ein Meilenstein in der Geschichte der Jesusfilme ist sicherlich Pasolinis Il vangelo. Auch er verwendete, wie in den meisten seiner Filme, vor allem Laiendarsteller, da er der Meinung war, daß sie dann am besten spielen, wenn sie darstellen, was sie sind (vgl. Halliday/ Pasolini 1969/1995: 57). Ganz besonders stolz, so Pasolini in Eigenaussagen, war er auf seine Wahl des Jesusdarstellers. Damit macht er unfreiwillig deutlich, wie stark er einem Entstehungsmythos der Filmbilder unterlag, ganz in der Tradition der frühchristlichen Ikonodulen, den Bildanbetern und Befürwortern der archetypischen (Christus-) Ikonen: »Es war eine plötzliche Eingebung, die mit meiner Psychologie, meiner Art, Menschen zu sehen, zu tun hat. Ich habe mehr als ein Jahr lang nach einer Besetzung für diese Rolle gesucht und hatte mich beinahe schon für einen deutschen Schauspieler entschieden. Dann kam ich eines Tages nach Hause, und da saß ein junger Spanier, Enrique Irazoqui, und wartete auf mich, und bevor er noch das Wort an mich richten konnte, fragte ich ihn schon: ›Entschuldigen Sie,

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[ Ikone ] | 129

würden Sie eine Rolle in einem meiner Filme übernehmen?‹ Ich wußte nicht einmal, wen ich vor mir hatte« (Halliday/Pasolini 1969/1995: 83). In dieser Aussage schwingt etwas mit, das den bloßen Zufall aus der Begegnung ausschließen möchte. Es fällt schwer, bei dieser szenischen Beschreibung mit dem wartenden unbekannten jungen Mann nicht an einen Gottgesandten oder an eine göttliche Eingebung zu denken, die bei der Wahl des Schauspielers mitentschieden haben soll. In Enrique Irazoqui findet Pasolini das, was er zunächst im Nahen Osten, in Palästina, gesucht hat, nämlich ein christliches Gesicht. Angesichts arabischer Kinder, die er für den Dokumentarfilm Supralluoghi in Palestina (Motivsuche in Palästina, I 1963) auf der Suche nach Drehorten und Personen für Il vangelo aufnahm, sagte er: »Die taugen nicht für den Film, weil man sieht, daß das Wort Christi ihr Antlitz nicht berührt hat« (Halliday/Pasolini 1969/1995: 80). Was darunter zu verstehen ist, erläutert Pasolini selbst folgendermaßen: »[…] ihre Moralität hat nichts mit dem Evangelium zu tun, sie beruht nicht auf Liebe, sondern auf Ehre; es gibt keine Spur von Pietismus; es gibt nicht einmal eine innere Frömmigkeit im christlichen, d.h. gewissermaßen erpresserischen Sinn […]« (ebd.). Sein Jesus sollte nicht individuell, dafür aber durch und durch archetypisch und darin zugleich hypostatisch sein. Um dem Klischee eines indifferenten Jesus zu entgehen, bediente er sich der Kunst, die für ihn eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration war. Nicole Brenez spricht in diesem Kontext von einem »figurativen Zurückgreifen auf Bildauslegungen der Bibel in der abendländischen Kunst« (Brenez 2002: 119). In der Tat kennzeichnet Pasolinis Suche nach geeigneten Gesichtern ein tiefes Verständnis christlicher Ikonographie, nicht jedoch eine Zitationsmanier. Es sind nicht konkrete El Grecos, Mantegnas oder Botticellis, die er filmisch reproduziert, vielmehr zeugen seine Filmgesichter von einem grundsätzlichen Verständnis einer medialen Vergesichtlichung, womit in erster Linie die Entkörperlichung des Menschen hin zur Fläche und damit zum Gesicht gemeint ist. Il vangelo deutet in seinen Gesichtsdarstellungen vor allem auf das byzantinische Ikonenmodell, in dem das Abbild Christi am stärksten einer facialen Universalie näherkommt. Auf der narrativen Ebene geht es darum, eine spezifische Bildklarheit und mit ihr eine Evidenz ohne Worte zu erreichen. »Ich wollte einen Christus, dessen Gesicht auch Kraft und Entschlossenheit auszudrücken vermochte, ein Christusgesicht, wie es bei mittelalterlichen Malern vorkommt. Ein Gesicht, das den kargen und steinigen Orten, an denen die Predigten stattfanden, angemessen war. […] Als Enrique mein Arbeitszimmer betrat, wußte ich sofort: das ist mein Christus. Er hatte genau das schöne, stolze, gleichzeitig menschliche und entrückte Gesicht der von El Greco gemalten Christusfiguren. Streng, bisweilen sogar hart im Ausdruck« (Pasolini/DVD).

➞ [ Oberfläche ]

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130 | [ Joanna Barck ]

➞ [ Yentl ]

➞ [ Double ]

➞ [ Vorspann ]

Das etwas fremdartige Gesicht von Jesus-Irazoqui dominiert den Film in suggestiven und expressionistischen Bildaufnahmen, die neben der mit Vorliebe benutzten Frontaldarstellung auch ungewöhnliche Ansichten beispielsweise aus der Froschperspektive zeigen. Am eindringlichsten ausgestellt ist das Jesusgesicht in der zentralen Sequenz des Films, in der Irazoqui die Bergpredigt rezitiert. Matthias Loretan spricht von gewaltigen Worten, die keiner versteht, das heißt, dem Zuschauer bleibt angesichts der schnellen Montage keine Zeit zum Atemholen (vgl. Loretan 2005: 2-3). In der Tat ist hiermit ein interessantes Problem angesprochen, das allerdings weniger die Bibelworte selbst als vielmehr die Relation zwischen (gesprochenem) Wort und Gesicht betrifft. Es ist nicht allein die auffällige Dauer, die die Sequenz der Bergpredigt ungewöhnlich macht (nicht nur für das Genre der Jesusfilme). Was verblüfft und die gewohnte Sicht auf eine Filmfigur bricht, ist vor allem die Montage, die ausschließlich Einzeleinstellungen, Groß- und Nahaufnahmen des Gesichts aneinanderreiht. Wie das Standbild am Anfang meines Textes zeigt, wird das Gesicht in einem, im wesentlichen gleichbleibenden Ausschnitt vorgeführt: Beginnend knapp ab dem Halsansatz wird das Gesicht wie eine leuchtend weiße Fläche erfaßt, so daß es den Eindruck einer leergebliebenen Bildstelle vermittelt. In diesem Sinne ist es tatsächlich Projektionsfläche und Spiegelbild in einem – ein Icon, das den Anspruch des Göttlichen im Menschlichen aufscheinen läßt und in dieser göttlichen Verwandtschaft als Spiegelbild für jeden Christen, und schließlich für jeden Menschen, fungiert. Dieser Geltungsanspruch wird visualisiert durch die statuarische Bildformel, in die das Gesicht eingespannt ist und die keines narrativen Raumes bedarf. Tatsächlich extrapoliert Pasolini diese Idee, indem er zu einer exaltierten Gestaltung der jeweiligen Hintergründe übergeht: mal ist es ein tiefes Schwarz, mal ein schnell dahinfließender Bach, mal wiederum vorbeiziehende Wolken am Himmel oder auch eine urbane Landschaft, die in ein blendend helles Licht getaucht ist (vgl. Berenz 2002: 122f.). All diese Variationen des Bildhintergrundes erzeugen Geschwindigkeit und stehen damit in einem kontrapunktischen Verhältnis zu dem statuarischen, formelhaften Gesicht. Winde wehen und zerren an Christi Kopfumhang, Donnergrollen vermischt sich mit dem gesprochenen Bibelwort, und Lichtblitze durchziehen den Hintergrund, doch haben sie keine Auswirkung auf sein Gesicht. Die Unantastbarkeit des Gesichts unterstreicht die Rolle, die es für den gesamten Film spielt, denn es verweist auf die Macht eines piktoralen Archetypus, aus dem heraus sich erst die Vielfalt der Individualansichten entwickelt. Das erste unsichtbare und nicht darstellbare Gesicht Gottes, nach dessen Bild das Gesicht des Menschen erschaffen wurde, ist hier mit der Vorstellung von einer Teilhabe an Gottes Gnaden verschmolzen: auch der filmische Jesus soll das ›ewige‹, das ›wahre‹

2005-09-05 10-32-29 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 123-133) T01_09b ikone.p 93904542862

[ Ikone ] | 131

Gesicht vorzeigen. Es ist das Gesicht eines Menschen, der die Göttlichkeit seines Ursprungs widerspiegelt. Zum Abschluß möchte ich auf eine besondere Sequenz hinweisen, die vielleicht am anschaulichsten vorführt, was das Ikonische am filmischen Gesicht sein kann. Die Szene spielt am See Genezareth, und die Sequenz besteht ausschließlich aus streng aneinander montierten Großaufnahmen, in denen erneut das eine Gesicht »mit seinen breiten Wangen und dem schwarzen Loch der Augen« (Deleuze/Guattari 1980/1997: 242) vor einen hellen Hintergrund gesetzt ist. In einem 1:1- und 1:2-Rhythmus folgen auf eine Großaufnahme Jesu je eine, später je zwei Einstellungen der Jünger. Sie sind alle frontal gefilmt, stark ausgeleuchtet und mimisch reduziert. Und doch unterscheiden sie sich von dem Gesicht Christi, denn in ihrer ikonischen Einfachheit sind sie lediglich Typen, die die Vielheit des einen Gesichts zum Ausdruck bringen sollen. In Falten gefurchte, ovale oder breite, mit krausen oder schütteren Haaren, zahnlose, junge und alte Gesichter – sie alle partizipieren am Bildsystem des Films, den Schuß-Gegenschuß-Einstellungen, die sie symbolisch mit dem Gesicht Jesu verbinden, ohne daß sie den gleichen Bildraum miteinander teilen. Jesus, Jünger, Jesus, Jünger, Jünger oder Jesus, Bauern, Jesus, Frauen, Jesus, Sünder, Jesus etc. – dieser Bilderrhythmus der Gesichter hinterläßt eine starke, beinahe schwindelerregende Sogwirkung, in der man den Archetypus als den ›ikonographischen‹ Schöpfer aller facialen Individualität intuitiv zu fassen meint. Auf das eine Universalgesicht des Abendlandes folgen nun unzählige Individuen: Es sind Gesichter, die bis dahin bloße Körper waren. So überträgt sich gleichsam die ›göttliche Idee‹ auf die Gesichter der Kinder, der Stadtbewohner, der Bauern, der Fischer, der Frauen, der Subproletarier (etwa in Pasolinis Filmen Accatone [ Accattone – Wer nie sein Brot mit Tränen aß, I 1961 ] und Mamma Roma [ Mama Roma, I 1962 ]). Das universelle Gesicht Jesu verbreitet sich von Bild zu Bild über den gesamten Film, der am Ende nichts anderes ist als eine große Ehrung der Facies selbst. Mit dem Antlitz Jesu als filmische Ikone stellt Pasolini eine bestimmte Bildgrammatik auf, die wie eine Negativpause funktioniert und ein Positiv-Negativ-Bild in wechselnden Ansichten hervorbringt. Mal ist das Gesicht ein graphischer, dunkel konturierter Abdruck auf der weißen Kinoleinwand, mal ist es ein heller Fleck vor dem schwarzen Abgrund der Leinwand. Dieses mediale Gesicht brennt sich auf der Retina des Betrachters unauslöschlich ein wie ein SchwarzweißHeiligenbildchen. Aus Pasolinis Suche nach dem abendländischen Urgesicht für den Film lassen sich einige Aspekte herausdestillieren, die das Ikonische am filmischen Gesicht allgemeiner zu fassen ermöglichen. Zunächst einmal bedarf es offenbar eines Gesichts, das selbst zuvor medial bestimmt wurde. Ein solches Gesicht ist seinem Wesen nach

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➞ [ Umriß ]

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132 | [ Joanna Barck ]

➞ [ Jedermann ]

bereits Bild. In diesem Kontext fallen Form (Groß- und Nahaufnahme), Modus (Unbeweglichkeit, Zeitlosigkeit) und Bedeutung zusammen. Damit ist das ikonische Gesicht des Films zuallererst eine Fläche, die für kulturelle Einschreibungen Platz bietet. Sie ist eine Art Wunderblock, in dem der Subtext immer wieder durchscheint und nach Bedarf wenn nicht gänzlich ausgelöscht, so doch im Foucaultschen Sinne durchgestrichen werden kann. Eine solche ikonische Gesichtsfläche bedarf keiner narrativen Kontinuität in der Diegese des Films. Als bloße mediale Erscheinung ist das ikonische Gesicht bedeutungsentleert und als solches um so besser als Projektionsfläche für andere Einschreibungen geeignet. Eines, so scheint es mir, ist dem ikonischen Gesicht aber unabdingbar: sein kultureller Code, den Pasolini in der Christusikone selbst gefunden hat. Die Faszination an der Facies, um nicht zu sagen, die Huldigung, die Pasolini mit Il vangelo dem menschlichen Gesicht erwiesen hat, wird zusätzlich gesteigert durch die auffällige Häufung von Hinterkopfdarstellungen in Großformat. Wie ein Keil schieben sie sich zwischen die frontalen Gesichtsansichten, so als wollten sie gegen ihre ›göttliche Überhöhung‹ angehen. Tatsächlich wird dieses filmische Vera Icon des menschlichen Antlitzes an diesen Stellen konterkariert: In einigen Sequenzen, die zu den kraftvollsten und dynamischsten von Il vangelo gehören, folgen wir als Zuschauer dem Jesus der Filmleinwand durch Jerusalem und sehen im gleißenden Licht seinen dunkelhaarigen Hinterkopf vor uns, der kontrapunktisch zu seinem zumeist hell ausgeleuchteten bis überzeichneten Gesicht steht. Solche expressiven Großaufnahmen des Hinterkopfes erinnern an das Direct Cinema bzw. das Cinéma Vérité der 1960er Jahre, wo die Hinterkopfdarstellungen auf die Direktheit oder Natürlichkeit einer Bewegung hinwiesen. In Primary (Vorwahlkampf, USA 1960, R. Leacock/D.A. Pennebaker/R. Drew/A. Maysies) beispielsweise sollte so die Wahrnehmungssituation eines Besuchers der Wahlkampfveranstaltung von John F. Kennedy verdeutlicht und der Aufnahmerealismus ausgestellt bzw. simuliert werden. Die Ereignisse sollten eine dramatische Krisenstruktur bekommen, indem man dem Zuschauer die frontale (medien- und werbewirksame) Ansichtigkeit des Gesichts entzog und ihm statt dessen das scheinbar normale Verhalten der Anwesenden, die in Hinterkopfansichten zu sehen sind und sich von der Kamera wegdrehen, vorführte. Auf diese Weise suchte man die Wahlkampfsituation buchstäblich ›einzufangen‹, so wie sie auch ohne die Anwesenheit der Kamera gewesen wäre. Dem stehen die leinwandfüllenden Aufnahmen des Hinterkopfes in Il vangelo in nichts nach, nur daß Pasolinis diegetische Wirklichkeit statt einer (konstruierten) Realsituation ihre bewußte Konstruktion ausstellen will. Und so bleibt es auch nicht aus, daß der Hinterkopf von Jesus-Irazoqui sich drehen muß, um sich erneut in ein filmischikonisches Gesicht zu verwandeln. Der Pasolinische Jesus tut dies

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überraschend und konfrontiert uns auf diese Weise mit einer der seltenen Detailaufnahmen, in denen das Gesicht aus dem ikonischen Format ausbricht und den bis dahin bestandenen Abstand zwischen dem Zuschauer und dem Abgebildeten negiert. Ganz nah an uns herangerückt, beinahe aus der Leinwand herausdrängend, macht dieses Gesicht noch einmal ex negativo deutlich, was das Ikonische an ihm sein kann, nämlich seine absolute Präsenz als Bild.

➞ [ Auge ]

[ Joanna Barck ]

Literatur Barthes, Roland (1957/1996): Mythen des Alltags, Frankfurt a.M.:

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[ Jedermann ]

Wir befinden uns im Jahr 1960 in den USA: Die Senatoren Hubert Humphrey und John F. Kennedy treten in den Vorwahlkämpfen gegeneinander an. Die Kamera begleitet sie auf Schritt und Tritt, ohne dabei selbst sichtbar zu werden. Gleichzeitig verspricht der begleitende Off-Kommentar, hinter die Kulissen des Wahlkampfes blicken und ein intimes Bild der Kandidaten zeichnen zu wollen. Mit versteckter, gleichsam ›neutraler‹ Kamera sollen die Kandidaten in Autos und Bussen begleitet und bei ihren Auftritten im Fernsehen, auf offiziellen Wahlkampfveranstaltungen und auf der Straße beobachtet werden. In einer solchen Szene schwenkt die Kamera zwischen den Fußgängern, die auf den Senator Humphrey treffen, hin und her, fokussiert ihre Gesichter und ihren mimischen Ausdruck. Immer wieder wird die Aufmerksamkeit auf solche scheinbar zufällig auftauchenden Passanten gelenkt. Einen solchen beliebigen Vorübergehenden, einen Jedermann, zeigt der oben abgebildete Filmstill: einen ›Durchschnittsmenschen‹, der scheinbar zufällig an diesem Tag auf Hubert Humphrey und das Kamerateam getroffen und von der Kamera spontan ›eingefangen‹ worden ist. An seiner Kleidung – Mantel und Hut – glaubt man einen mittelständischen Bürger zu erkennen. Von der Euphorie einer neuen Kameratechnik getragen, meinen

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die Filmemacher um Robert Drew 1960 ein ›objektives‹ Bild der Wirklichkeit liefern zu können. Dies trifft auch auf den Film Primary (Vorwahlkampf, USA 1960, Robert Drew, Terence Macartney-Filgate, Don Allan Pennebaker, Albert Maysles, Richard Leacock) zu, der als Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen dient. Mit Entwicklung und Anwendung der leichten und schallgedämpften Kameratechnik glaubten die Regisseure des Films, die beiden Kandidaten ›hautnah‹ überallhin verfolgen zu können und gleichzeitig durch ihre Präsenz keinen Einfluß mehr auf die Protagonisten auszuüben, wie das bei der schwerfälligen und relativ unbeweglichen Kameratechnik zuvor unumgänglich erschien. Das Direct Cinema war geboren. Es ermöglichte mit seiner beweglichen Kameratechnik eine flexible Haltung gegenüber der Kontingenz des Alltags. Der soziale Ort par excellence, die ›neuen‹ Möglichkeiten der Kamera unter Beweis zu stellen, war die Straße. Das zufällige Zusammentreffen von Passanten und damit die Beobachtung alltäglicher Gesichter stellte denn auch das bevorzugte Objekt des Dokumentarfilms der 1960er Jahre dar. Am Beispiel des Dokumentarfilms dieser Zeit lassen sich zudem allgemeine Fragen nach der Territorialität, der interpersonellen Distanz oder dem Blickwechsel verhandeln. Der gesetzte Mann in Mantel und Hut ›illustriert‹ völlig beiläufig Humphreys Strategie im Straßenwahlkampf. Was wir sehen, ist das kurz eingeblendete, äußere Erscheinungsbild eines zeittypischen ›Alltagsmenschen‹. Doch schon Goethe hielt es in seinen Beiträgen zu Lavaters physiognomischen Fragmenten für problematisch, diesen ›Alltagsmenschen‹ an seiner äußeren Erscheinung erkennen zu wollen: »Was ist das Äußere am Menschen?«, fragte er sich: »Wahrlich, nicht seine nackte Gestalt, unbedachte Gebärden, die seine inneren Kräfte und deren Spiel bezeichnen! Stand, Gewohnheit, Besitztümer, Kleider, alles modifiziert, alles verhüllt ihn« (zit. in Balázs 1924/2001: 39). Béla Balázs, der sich mit Goethes Auffassung der Physigonomik im Zusammenhang seiner eigenen filmästhetischen Überlegungen auseinandersetzt, unterstreicht, daß der Dichter seine Zweifel an der Aussagefähigkeit der menschlichen Gestalt beseitigt, indem er Habitus und Milieu zum Äußeren dazuzählt. Von Kleidern und Hausrat läßt sich, nach Goethes Vorstellung, sehr wohl auf den Charakter schließen. Bezogen auf den Film bedeutet das: Die Großaufnahme hingegen, die ausschließlich die momentane physische Beschaffenheit des Passanten zeigt, läßt Rückschlüsse auf den Charakter des Protagonisten kaum zu. Das spontane Erscheinen des Passanten in Primary erinnert zudem eher an eine Momentaufnahme, an einen zufälligen Schnappschuß. Sein Gesicht läßt sich daher kaum im Sinne der Physiognomik deuten. Die Naheinstellung auf das Gesicht kann lediglich das Bedürfnis befriedigen, den banalen Ereignisfluß zu unterbrechen, um so zu einer Intensivierung und Vergegenwärtigung trivialer Vorgänge zu

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gelangen, die in der flüchtigen Wahrnehmung gewöhnlich nicht gelingt (vgl. Großklaus 1995:19). Dabei wird die Kamerabewegung für einen Moment angehalten, um auf den Gesichtern der Passanten zu verweilen, wodurch der Film seinen Gegenwartsbezug zusätzlich verstärkt. In Großaufnahme sieht man also einen unbekannten Passanten, der den Sentator Humphrey mit kritischem Blick beäugt. Sein Auftritt ist weder besonders charismatisch noch ungewöhnlich. Sein Gesicht scheint frei von Gefühlen zu sein und wirkt nicht besonders nachdenklich. Der kaum spürbare Empfindungsausdruck läßt Raum für Interpretationen des in diesem Gesicht Nichtausgedrückten – jenem ›negativen‹ Teil des Ausdrucks, der sich der Darstellung und damit der physiognomischen Deutung entzieht. Dieser indifferente Gesichtsausdruck prädestiniert den anonymen Passanten geradezu zum Jedermann. Zugleich ist der Mann in dieser Szene gegen jeden anderen ›Alltagsmenschen‹ austauschbar, der sich 1960 in Wisconsin bewegt. Statt der ästhetischen Einzigartigkeit des Gesichts dient in Primary dessen ›natürliche Wirklichkeit‹ als Überraschungsmoment, das sich im unvorbereiteten und spontan auftauchenden Gesicht des Jedermanns auf der Straße manifestiert. Dabei kann das Direct Cinema filmhistorisch an die Dokumentarfilmtechnik der Brüder Lumière anknüpfen. Schon diese hatten jede sichtbare Selbstreferenz des Mediums in der Aufnahmesituation unterdrückt. Die illusionistische Eindruck der Zuschauer, es handelte sich zum Beispiel bei L’Arrivée d’un train à la ciotat (F 1895) um eine zufällige Außenaufnahme eines Bahnhofs, durfte nicht in Frage gestellt werden. Daß Lumière seine als Akteure des Films gewonnenen Verwandten in dieser berühmten Szene eigens anhalten mußte, jeden Blickkontakt zur Kamera beim Ausstieg aus dem Zug konsequent zu vermeiden, begründet Martin Loiperdinger folgendermaßen: »Der neuartige Apparat, das Hantieren an der Kurbel und die knatternden Geräusche des Cinématographe bei der Aufnahme erregen unweigerlich die Neugier von Passanten, die sich im Gehen umdrehen oder auch stehenbleiben und gaffen« (Loiperdinger 1996: 60f.). Die Passanten schlüpfen bei den Lumières wie auch später im Direct Cinema gewissermaßen vor der ›unsichtbaren‹ Kamera in die Rolle des zufällig anwesenden Jedermanns. Ein ganz anderer Jedermann, der insbesondere im zeitgenössischen Fernsehen immer wieder beobachtet werden kann, ist der Gaffer oder Grimassenschneider. Er ist nicht nur ein Betrachter der Apparatur während der Aufnahme, sondern zugleich ein narzißtischer Zuschauer, der sein eigenes Bild während der Vorführung sehen will. Dagegen spielt das prominente und dem Schönheitsideal dieser Zeit entsprechende Gesicht von Kennedys Frau Jackie, das allgegenwärtig bei allen Veranstaltungen Kennedys ein kalkuliertes Lächeln

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➞ [ Rasur ]

➞ [ Grimasse ]

zur Schau trägt, im Wahlkampf auf der Straße keine Rolle. Statt dessen gewinnt die Darstellung der alltäglichen Wirklichkeit an Kraft, wird der profane ›Alltagsmensch‹ ästhetisiert, der ansonsten filmisch zumeist unsichtbar bleibt. Die Darstellung des Alltagsmenschen etabliert sich in der Totalen bzw. Halbtotalen und wird um so wahrscheinlicher, je wesentlicher die Ereignisstruktur an die Orientierungskoordinaten von Raum und Zeit gebunden ist. Das Jedermannsgesicht konkretisiert zugleich den gesellschaftlichen Bezug zur Normalität. Diese Normalität basiert in bürgerlichen Gesellschaften auf der angenommenen Gültigkeit moralischer Werte und einem mimetischen Realitätsverständnis. Denn das ›Natürliche‹ umfaßt nach bürgerlicher Auffassung ausschließlich das Vernünftige und Wohlanständige. So sollten die Dichter, die der Mimesis huldigten, sollten nur »tapfere, besonnene, fromme und edle Männer, nicht aber Weichlinge und Wahnsinnige nachahmen« (vgl. Gebauer/Wulf 1992: 54). Diese bürgerliche Mimesiskonzeption stellt selbst schon eine ideologische Norm dar (vgl. Kohl 1977: 211), die Widerspruch provoziert. Beim deutschen Dokumentarfilmemacher Klaus Wildenhahn etwa, der nachhaltig vom Direct Cinema beeinflußt wurde, soll die Darstellung des Jedermanns genau diese Vorstellung von Normalität in Frage stellen: »Nicht sogenannte Experten werden befragt, wie in fast allen sich ›dokumentarisch‹ nennenden Features, sondern Menschen, die sonst nur Objekt der Berichterstattung (und der politischen Verhältnisse) sind; bei Wildenhahn werden sie zum Subjekt – Arbeiter, Bauern, aber auch Angehörige des Mittelstandes« (Roth 1982, 63). Jede Mimesisstrategie beinhaltet potentiell die Identifikation mit einem Anderen. Die Passanten unterschiedlichen Alters, Geschlechts und Berufsstands, die in Primary auftreten, spiegeln das heterogen zusammengesetzte Fernsehpublikum, das sich im zufällig flanierenden Passanten auf der Straße wiedererkennen kann und so in das Geschehen miteinbezogen wird. Allgemein gilt auch für das interessierte Publikum vorm Fernseher, daß sich »Sinnerfahrung […] über die Wahrnehmung und die Herstellung von Ähnlichkeiten« vollzieht (Gebauer/Wulf 1992: 374). Wie schon durch die Panoramen des 19. Jahrhunderts soll auch im Direct Cinema die Grenze zwischen Betrachter und Bild aufgehoben werden, so daß der Betrachter Bestandteil des Bildes und das Bild unmittelbare Betrachterumgebung wird. Die Aufgabe eines externen Beobachtungsstandpunktes wird auch durch die Figur des Jedermanns erreicht: Der Zuschauer sieht die Szene durch dessen Blick. Entscheidend bei dieser Transposition ist, Nähe herzustellen und die Szenen in »raumzeitliche Nah- und Nächstverhältnisse zu bringen, Distanzen zu tilgen und Grenzen aufzuheben: alles zu taktilisieren« (Großklaus 1995: 24). Das spontane Gespräch auf der Straße

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und die mimischen Reaktionen in den Gesichtern der Passanten steigern dieses Unmittelbarkeitspathos des Direct Cinema noch. Der Mann mit Hut aus Primary als Figur des Jedermann impliziert Stellvertretung. Nichts Eigenes zu besitzen, ermöglicht erst, alles machen zu können, das heißt auch: alles nachmachen, alle Rollen spielen zu können. »Lediglich der Mensch ohne Eigenschaften, das Wesen ohne Eigenes oder Spezifität, das Subjekt ohne Subjekt (abwesend von sich selbst, abgezogen von sich selbst, beraubt von sich selbst) ist wirklich in der Lage, ganz allgemein produktiv zu sein« (Gebauer/Wulf 1992: 421). Die Detailaufnahmen von Humphreys Gesicht und nicht zuletzt die Aufnahmen seiner marschierenden Füße sollen in Primary die Volksnähe des Bewerbers verdeutlichen, auf die Humphreys Wahlkampfkampagne angelegt ist – eine Strategie, mit der er aber schließlich scheitert. Für einen distanzierten, kritischen Blick wird durch die Wahl des Kameraausschnitts, der auf der Straße Humphreys Augen und Mund im Detail fokussiert, dessen Bestreben nach Volksnähe jedoch karikiert. Dem Jedermann auf der Straße die Hände zu drücken, Visitenkarten und frohe Grüße auszuteilen, muß im Zeitalter der Massenmedien als überholte Wahlkampfstrategie wirken, wie sich kontrastiv an Kennedys Auftreten ablesen läßt. Unmittelbare körperliche Präsenz und zuviel Nähe vermeidet der Senator, der seine Darstellung lieber in den Medien feiert, anstatt sprichwörtlich Türklinken bei den Wählern zu putzen. Kennedy markiert eine neue Kultur des Politischen: die Entstehung des Politstars. Der Politstar ist ohne den Jedermann, der ihn wählt, undenkbar. Der Jedermann, der anonym und mit vielen kurzen Einstellungen immer wieder eingeblendet wird, ist die Gegenfolie zum Gesicht des Prominenten, der insbesondere durch lange Einstellungen mit Bedeutung aufgeladen wird. Senator Humphrey, der bei seinen Auftritten der Alltagswelt des Jedermanns verpflichtet bleibt, indem er sich den Problemen der Leute auf der Straße oder der Farmer in den ländlichen Gebieten stellt, zieht gegenüber den symbolischen Handlungen Kennedys den kürzeren. Er nimmt den Passanten förmlich den Raum für ihr Begehren, indem er ihnen hinterherläuft. Kennedys Aura wird gerade aufgrund seiner Distanz gesteigert, die er im Vergleich zu Humphrey über seine Präsenz in den Medien herstellt. Er tritt auf Versammlungen des Wahlvolkes stets auf einer Bühne auf. Die Darstellung dieser ›neutralen‹ Versammlungsräume in Primary, in denen der Jedermann als konzentrierter und begeisterter Zuhörer mit zahlreichen kurzen Einstellungen vorgestellt wird, geben häufig weder Aufschluß über den Anlaß noch den realen Ort der Versammlung. Sie geben jedoch Auskunft über den sinnlich erfahrbaren Ausdruck der Kommunikation und ermöglichen es dem Jedermann, an symbolischen Handlungen zu partizipieren (vgl. Sartorti 1981: 140). Es entsteht das Bedürfnis,

➞ [ Auge ] ➞ [ Hand ]

➞ [ Star ]

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➞ [ Zensur ]

dabeisein zu wollen. Kennedy verkörpert eher den Helden, der als Entertainer die emotionale Verfassung des Publikums im Auge hat, als Humphrey, der in der Auseinandersetzung mit dem Jedermann auch sich selbst den Anstrich eines gewöhnlichen und alltäglichen Menschen gibt und als solcher die Utopie einer besseren Welt kaum glaubhaft verkörpern kann. An die Stelle trockener Parteiprogramme und ausdrucksloser ›Bürokratengesichter‹ rückt das politische Gesicht des Helden und Entertainers, durch das sich »zugleich der alltagsnahe Normalmodus des unterhaltungsöffentlichen Diskurses und damit ein Fundus kultureller Selbstverständlichkeiten erfassen [ läßt ], der den Menschen Materialien für die Konstruktion ihrer Alltagswelt liefert« (Dörner 2001: 161). Der anonyme einzelne ist dabei nur soweit von Interesse, als er durch seine physische Anwesenheit, durch sein massenhaftes Auftreten (wie dies in Primary durch zahlreiche kurze Einblendungen konzentrierter Zuhörer in Großaufnahme geschieht) den Eindruck erst herstellt, er wohne einer einmaligen und mitreißenden Veranstaltung bei. Die Zuhörer der Wahlkampfveranstaltung werden in ihrer akklamativen Funktion präsentiert; sie sind es, die Kennedy den Status eines Stars verleihen. »Nicht Argumente oder Problemlösungsangebote, sondern positive Stimmungen müssen von den Kandidaten geboten werden, damit die Akzeptanz im Elektorat steigt« (ebd.: 162). Es ist die Multiplikation des Einmaligen mittels der Medien, durch die Kennedy auratisch verzaubert wird. Auch der Jedermann kann, wenn er von den Medien entdeckt wird, zum Star avancieren. So etabliert sich zeitnah zu den Entwicklungen des Fernsehdokumentarismus unter den gleichen apparativen Voraussetzungen, wie sie sich die Filmemacher des Direct Cinema in den USA zunutze gemacht haben, das Cinéma Vérité in Frankreich. In Chronique d’un été (Chronik eines Sommers, F 1961) verfolgen der Soziologe Edgar Morin und der Ethnograph Jean Rouch bei ihrer Untersuchung des Pariser Alltags jedoch eine diametral entgegengesetzte Konzeption der Wirklichkeitswiedergabe, die nicht ohne Folgen für die Darstellung des Jedermanns bleibt. Anders als in der kurzweiligen und anonymen Präsentation des Jedermanns im Direct Cinema, in welchem der Alltagsmensch letzten Endes eine Randnotiz in der Konzentration auf die Auseinandersetzung zweier Helden bleibt, sind es die sozialen Probleme eines Fabrikarbeiters, einer immigrierten Italienerin oder eines bürgerlichen Ehepaares, deren soziale und alltäglichen Probleme im Cinéma Vérité in den Mittelpunkt gerückt werden. Eine Solidarisierung der beiden Filmemacher, die selbst im Bild auftauchen, mit den Protagonisten und ihr subjektiver Einfluß auf das Geschehen sind deutlich erkennbar. Aus dem vermeintlich nach ›objektiven‹ journalistischen Kriterien beobachteten Jedermann des Direct Cinema, der den Rezipienten emotional gleichgültig läßt, wird im Cinéma Vérité der unverwechselbare Laienschauspieler, der

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sich selbst spielt und zugleich seine Haltung zum Medium Film reflektiert. Im Cinéma Vérité werden nicht zufällige Passanten für einen kurzen Moment von der Kamera erfaßt, sondern nach soziologischen Kriterien ausgewählte Menschen filmisch porträtiert und Schicksale erzählt. Dabei kommt einmal mehr das Gesicht zu seinem Vorrecht, das Individuum und die Gattung ›Mensch‹ zu repräsentieren. Balázs hat im Kapitel »Seele und Schicksal« aus Der sichtbare Mensch den Facettenreichtum des Gesichts gerühmt, der sich vor allem dann zeigt, wenn das Gesicht sich dem Spannungsfeld der Kräfte überläßt, die seinen Ausdruck formen: »Das Gesicht des Menschen trägt beides. In diesem sichtbaren Verhältnis, in diesem Wechselspiel der Gesichtszüge ringen Typus und Persönlichkeit, Ererbtes und Erworbenes, Faktum und eigener Wille, das ›Es‹ und das ›Ich‹ miteinander. Tiefste Geheimnisse des innersten Lebens werden hier offenbar, und das ist aufregend zu sehen wie bei der Vivisektion das Schlagen eines Herzens. Und hier bekommt das Bild auch eine Tiefendimension. Denn das Gesicht kann auf den ersten Blick anders scheinen, als es in Wirklichkeit ist. Zuerst sieht man den Typus.« (Balázs 2001/1924: 42). Im Tonfilm wird zudem die facettenreiche und polyvalente Gesichtsmimik um die Intonation und den Inhalt der gesprochenen Sprache ergänzt. Dies eröffnet ein äußert komplexes und prekäres Feld physiognomischer Beobachtungen, wenn man bedenkt, vor welchen Problemen sich die Forschung sieht, wenn die Beziehung von Redeinhalt, Wortwahl, Sprechweise Pausen, Verzögerungen, Kleidung, Wohnung, Mimik und Gestik widersprüchlich erscheint und die Validität von Zeugenaussagen fraglich wird (vgl. Roth 1982: 133). In dem Moment, in dem sich das Gesicht einer attraktiven, nach Paris immigrierten Italienerin unter dem Eindruck des von Morin geführten Interviews bei der Schilderung ihrer unglücklichen Lebenssituation mehr und mehr unter Tränen verzerrt, wird der Zuschauer emotional beteiligt. Es offenbart sich in Chronique d’un été bereits eine Form der Empathielenkung, die den Beginn eines medialen Gefühlskults einläutet, der mittlerweile zum festen Repertoire der RealityShows im Fernsehen gehört. Einerseits drückt sich darin die Absicht aus, innere oder verborgene Zustände im Gesicht sichtbar werden zu lassen, andererseits wird dadurch die Privatsphäre öffentlich gemacht. Chronique d’un été provoziert beim Filmzuschauer den emotional beklemmenden Eindruck einer verzweifelten Frau. Dies zieht schließlich die moralische Frage nach sich, was von einer Person vor der Kamera in der Öffentlichkeit gezeigt werden darf und was nicht. In Chronique d’un été wird ausgerechnet ein Fabrikarbeiter, der mit den schlechten Arbeitsbedingungen nicht mehr einverstanden ist, zum ›Helden des Alltags‹. Sein ›volkstümliches‹ Gesicht und seine Handlungen authentisieren ihn als einem Stellvertreter des Volkes. Über die Selbstinszenierung seines Alltagslebens tritt er aus der ano-

➞ [ Konterfei ]

➞ [ Träne ]

2005-09-05 10-32-35 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 137-146) T01_10b jedermann.p 93904542894

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nymen Masse der ›Durchschnittsmenschen‹ hervor und kann so potentiell zum Star oder gar zum Revolutionär aufsteigen. Eine demokratische Gesinnung läßt sich aus dem Gesicht dieses Jedermanns jedoch nicht ableiten, gleichwohl verkörpert er eine Haltung, die latent autoritätsgefährdend ist (vgl. Kohl 1977: 203). Es gehört zugleich zum realistischen Anspruch des Cinéma Vérité, auch das vermeintlich Niedrige, Profane oder gar Häßliche darzustellen, denn auch das Häßliche kann ›Edles‹ enthalten und moralische Wirkung entfalten. Das Cinéma Vérité folgt dabei der Erkenntnis, daß ›Wirklichkeit‹ gemäß kultureller Vorannahmen und normativer Werte konstruiert wird. Der Übergang zwischen dem markanten Stargesicht eines Kennedy und dem Alltagsgesicht des Jedermanns ist fließend geworden. Sobald die filmische Inszenierung ansetzt, den Alltagsmenschen über eine bloße Großaufnahme seines Gesichts hinaus zu inszenieren und ihm dadurch die Möglichkeit einräumt, sich im Modus der Selbstdarstellung der sozialhistorischen Bedingungen seiner Existenz zu versichern, erscheint hinter dem Jedermann das Individuum. Ob dessen Persönlichkeit, dessen Charakter zum Ausdruck kommen darf, hängt neben der ästhetischen und moralischen Konzeption der Filmemacher häufig auch von dem jeweiligen politischen Kontext ab. Die Darstellung des Jedermanns im Film ist filmhistorisch schon früh ein umkämpftes Feld. Balázs attestierte dem Film bereits in den 1920er Jahren einen physiognomischen Impuls: Der Kontingenz des Jedermanns wird im Film, so Balázs, zwangsläufig durch die Lesbarkeit des Typus entgegengetreten. Balázs, dem zufolge der Kinematograph »die einzige und gemeinsame Psyche des weißen Menschen« (Balázs 1924/2001: 22) generiert, pointiert dieses Argument. Der »einheitliche[ n ] Typus der weißen Rasse« (ebd.) erscheint ihm als allgemeingültiges ästhetisches Ideal des Films. Das nationalsozialistische Rassenideal sieht Balázs als einen Effekt der technischen Entwicklung des Films gleichsam vorweggenommen: »Die Verschiedenheit des Gesichtsausdrucks und der Bewegung, die schärfere Grenzen zwischen den Völkern gezogen hat als Zoll und Schlagbaum, wird durch den Film allmählich wegretuschiert werden« (ebd.: 23). Ernst Jünger hält die Filmtechnik deshalb für besonders geeignet, der Verbreitung des Typus Vorschub zu leisten und im Zuge dessen jegliche schauspielerische und natürliche Individualität im Keim zu ersticken: »Noch deutlicher tritt die Tatsache, daß sich hier eine Repräsentation des Typus, nicht aber des Individuums vollzieht, am Lichtspiel hervor« (Jünger 1932: 130). Die in der Weimarer Republik nicht zuletzt durch die sich verschärfenden Klassengegensätze ausgeprägten Physiognomien wurden im Dritten Reich schließlich einer typologischen Reduktion unterzogen, die sich vor allem im sogenannten Kulturfilm nachweisen läßt. Was sich hier als demagogische Ma-

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nipulation entlarvt, wird von Balázs und Jünger als filmspezifische Zurichtung des Gesichts überhaupt erkannt. Das Gesicht des Jedermanns im Dritten Reich, so ephemer es im Bild auftaucht, wird nach physiognomischen Kriterien ausgewählt; es soll ein bestimmtes Bild des Jedermanns naturalisieren, freilich auf Kosten der Darstellung von Gesichtern, die der herrschenden Doktrin im Wege standen. Schon die Großaufnahmen im russischen Revolutionsfilm, die an heroische Porträts des Zaren erinnerten, waren für avantgardistische Fotografen wie Aleksandr Rodcˇenko inakzeptabel. Diese Diskussionen aus der Frühphase der Revolution verstummten allerdings bald; die Großaufnahme setzte sich durch und wird bis heute zur Präsentation des Alltagsmenschen eingesetzt, die den Jedermann im Dienst der Propaganda idealisieren. In seiner Losgelöstheit vom Alltäglichen (nur einige Elemente korrespondieren mit der Wirklichkeit) unterdrückt der solchermaßen standardisierte Typus die zufälligen, ephemeren Aspekte des Gesichts, die zum Beispiel den eingangs erwähnten Passanten aus Primary auszeichnen. Dieser eigentümliche Mangel an ›Realität‹ wird im Propagandafilm vorzugsweise über den Off-Ton kompensiert. Die Abbildeigenschaften des Films, auf die sich Direct Cinema und Cinéma Vérité in den 1960er Jahren immer wieder berufen haben, treten hier zugunsten einer symbolischen Ikonographie (Zeitlosigkeit, Verallgemeinerung, Konnotation) zurück. [ F.T. Meyer ]

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K

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) T01_11a K.p 93904542934

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) T01_11a vakat.p 93904542974

[ Konterfei ] | 149

[ Konterfei ]

»Eine Horrorgeschichte, das Gesicht ist eine Horrorgeschichte« (Deleuze/Guattari 1980/1997: 231) – Das Standbild zeigt das zerstörte Konterfei einer jungen Frau, deren Schönheit trotz der störenden Linien für den Betrachter noch gut zu erkennen ist. Eine Diagonale verläuft von links oben nach rechts unten und teilt das Gemälde in zwei Hälften. Bezeichnenderweise berührt sie das Gesicht nur am Rande. Weitere Schnitte kadrieren es deutlicher, indem sie entlang seiner Demarkationslinien – Auge, Augenbraue, Mund, Kinn – verlaufen. Dabei suggeriert diese Binnenteilung eine eigentümliche Verletzung, die nicht nur das Bild betrifft. Wie in Fleisch schneiden die tiefen Furchen in die frischen, weichen Farbschichten und lassen eine leicht rosige, dichte Konsistenz der Malgrundierung durchscheinen. Rote Farbspritzer beflecken das Porträt und laufen in dünnen Rinnsalen daran herunter. Blut? Der erste Gedanke, der sich beim Anblick der Farbe einstellt, täuscht nicht: es ist tatsächlich Blut, das auf die Leinwand gespritzt ist, als der Maler seine Geliebte, die ihm für das Porträt Modell stand, aus Wut umbrachte. Dieses Szenario bildet die Eingangssequenz zu dem japanischen Horrorfilm Tomie: Re-birth (Tomie: Re-birth, J 2001) von Takashi Shimizu, dem dritten Teil einer (bisher fünfteiligen) erfolgreichen Verfilmung des gleichnamigen Mangas von Junji Ito. Tomie heißt die junge

➞ [ Oberfläche ]

2005-09-05 10-32-42 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 149-160) T01_11b konterfei.p 93904542982

150 | [ Joanna Barck ]

Frau – gespielt von Miki Sakai –, die sterben mußte, weil sie ihr eigenes Porträt zerstörte. Sie war es, die in der Eifersucht auf eine mögliche Nebenbuhlerin ihr Konterfei mit einer Malerspachtel zerschnitt, um sich auf diese Weise an ihrem Geliebten zu rächen. Ohne es zu ahnen, besiegelte sie mit dieser Bild- und Gesichtszerstörung ihr eigenes Todesurteil. Es wäre für sie sicherlich glimpflicher ausgegangen, hätte sie die Fotos zerrissen, auf denen sie die andere Frau entdeckt hat. Denn im Horrorgenre zählt das Medium in zweifacher Hinsicht: als Vermittler und als körperliche Materialisierung zugleich. Und ganz offenbar besteht eine enge, geradezu substantielle Verbindung zwischen dem gemalten Porträt und der Person selbst, die dem Fotoporträt jedoch nicht gegeben ist. Dieses Motiv erinnert vordergründig an den Roman The Picture of Dorian Gray von Oscar Wilde, in dem der gleichnamige Protagonist sterben mußte, als er sein eigenes Bildnis mit einem Messer zerstörte. Bei Dorian Gray – erwähnenswert sind zwei Verfilmungen: Massimo Dallamanos Ritratto di Dorian Gray und Albert Lewins The Picture of Dorian Gray (beide deut. Das Bildnis des Dorian Gray, I/BRD 1969 und USA 1945) – ist es eine übernatürliche Art des Selbstmords, denn im Moment der Bildzerstörung vernichtet sich der Protagonist selbst. Oder sollte man besser sagen, er stirbt zusammen mit dem Porträt? Das Besondere am Dorian-Gray-Motiv ist die Umkehrung der gewohnten Verhältnisse, die zwischen der Person und ihrem Abbild angenommen werden: Während das Bildnis immer nur das eine im Moment der Produktion verewigte Antlitz wiedergibt, unterliegt die reale Person, das Modell des Bildes, normalerweise dem natürlichen Alterungsprozeß bis zu ihrem Tod. Ganz anders liegen die Dinge bei Dorian Gray, der scheinbar über Jahrzehnte seine Jugend bewahrt, ohne daß sich sein Gesicht oder sein Körper verändern. An ihrer Statt altert hingegen das Porträt. In umgekehrten Rollen stehen sich das Konterfei als Spiegel der Seele und Dorian als das ›lebende‹ Bildnis seiner selbst gegenüber: er, kaum mehr als eine Marionette seiner eigenen egoistischen Begierden und sein Bildnis als deren lebendiges Abbild. Erst als Dorian sein deformiertes Antlitz im Gemälde annimmt und im Gegenzug die ewige Jugend, die ihm geschenkt wurde, als einen Fluch erkennt, ist der erste Schritt getan, um beide aus der schicksalhaften Verkettung zu befreien. Im Moment der (Bild-)Zerstörung werden die normalen Verhältnisse zwischen Abbild und Abgebildetem wiederhergestellt: Das zerschnittene Porträt zeigt wieder den jungen Dorian, wohingegen der vor dem Bild liegende Tote ein alter Mann geworden ist. Doch dieses scheinbar natürliche Verhältnis zwischen Bild und Abbild ist gar nicht so selbstverständlich, wie man gemeinhin annimmt. Daß dem Bildnis auch eine andere Kraft innewohnt, davon zeugen nicht nur vereinzelte Romane und einige noch bekannte Legenden um wundertätige, zumeist sakrale Gemälde. Es ist der

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[ Konterfei ] | 151

Horrorfilm, der diese Tradition explizit aufgreift und damit zugleich etwas von der ursprünglichen Magie des Bildes wiederbelebt. Im Porträt, so sagt man, lebt der oder die Dargestellte ewig – diese Metapher beziehen wir in unserer als aufgeklärt geltenden Zeit vor allem auf die Dauer des Materials und vergessen dabei ihren Ursprung und ihre Bedeutung. Denn die Geburtsstunde des Porträts liegt nicht in den profanen Bildnissen der Renaissance, sondern in den sakralen Bildern, in den Ikonen des frühen Christentums. Im Kontext des Horrorfilms ist es nicht nötig, auf den spezifischen Kult der Jesus- und Marienbildnisse zurückzugreifen, doch drängt sich eine besondere Bedeutung der frühen Bildnisse auf, die der Film scheinbar beerbt. Es handelt sich dabei um die bildinhärente Vorstellung, der zufolge das Porträt eine Teilhabe an der real existierenden oder ehemals existierten Person hat. An dieser Stelle vollzieht sich eine Verschiebung der Parameter vom symbolischen oder illustrativen Abbild hin zum Präsentischen des Porträtierten als Bild. Im Horrorgenre wird diese Verschiebung durch eine ultimative Verlebendigung des Porträts visualisiert. Sie geschieht nicht immer über eine körperliche Auferstehung des Porträtierten aus dem Bild, aber sie ist immer an eine sekundäre Inszenierung des Porträts als eine Art Effigie gebunden – eine Inthronisierung des Dargestellten im Bild, oder genauer: als Bild selbst. Gemeint sind die filmästhetischen Verfahren der Bildgestaltung, der Kameraführung, der Montage, aber auch der musikalischen Synchronisation, die darauf abzielen, das Porträt, das schließlich ein ›Bild im Bild‹ ist, aus seiner zweidimensionalen Trägergebundenheit zu lösen und in eine filmische Präsenz zu überführen. Worum es dabei also geht, so könnte man einwenden, ist schließlich nichts anderes als eine starke Dramatisierung des Fremdbildes im Film. Um eine solche Dramatisierung geht es in der Tat, allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: daß nämlich hier das Porträt den Status eines Objekts verliert und zum Subjekt der Handlung wird. War es anfänglich ein schmückender Teil einer Einrichtung, ein kostbarer Besitz, ein identitätsstiftendes Bild oder ein bloßer Gegenstand der Erinnerung, so ist das Porträt nun ein aktiver, präsentischer Handlungsermächtigter, der sowohl als Bild als auch als die dargestellte Person in Aktion treten kann, wobei die Grenzen zwischen diesen strukturell unterschiedlichen Ansätzen nicht immer genau zu trennen sind (vgl. Sykora 2003). Die filmische Inszenierung des Porträts als Akteur gewinnt nicht nur im Horrorfilm an Relevanz, sondern kann auch in Filmen wie The Paradine Case (Der Fall Paradin, USA 1947) von Alfred Hitchcock zum Tragen kommen, wo Porträts gleichsam ein eigenes Blickregime entwickeln und die Handlungsräume als Subjekte zu beherrschen beginnen, ohne dabei auf die Unheimlichkeit einer körperlichen Verlebendigung zurückgreifen zu müssen (vgl. Barck 2004). Spätestens seit der Verbreitung der Fotografie veränderte sich

➞ [ Ikone ]

➞ [ Blick ]

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152 | [ Joanna Barck ]

➞ [ Xenos ]

die Sicht auf die Malerei endgültig, nicht zuletzt weil man sich des Malers als eines ›Bildherstellers‹ mit besserer oder schlechterer Könnerschaft bewußt wurde. Charles Baudelaire gehörte zu jenen, die an den Verlust des Imaginären im Bild gemahnten, der durch den uneingeschränkten Glauben an die äußere Realität, an die objektive Wiedergabe der Welt durch das ›Kameraauge‹ verursacht wurde (vgl. Baudelaire 1859/1980: 110-113). Und doch muß man vielleicht etwas verwundert feststellen, daß es gerade der Film ist, der die ursprünglich ›transzendente‹ Bedeutung des Bildnisses wiederentdeckte. Vielleicht weil er, genealogisch vom Gemälde weit genug entfernt, ein Faszinosum in dessen Andersartigkeit entdecken konnte. Durch die zeitliche und apparative Nähe zur Fotografie war der Film sich der Profanität dieses (vermeintlich) realistischen Mediums nur zu gut bewußt, so daß er den Foto- und Filmmetaphern wie pencil of nature (William H.F. Talbot 1844), caméra stylo (Astruc 1948/ 1992) oder Schreiben mit Licht (Paech 1994) etc. möglicherweise etwas anderes entgegensetzten wollte, das wiederum pastos, undurchdringlich und in diesem Sinne ›beseelt‹ zu sein scheint. Der Horrorfilm The Others (The Others, USA 2001, Alejandro Amenábar) beispielsweise thematisiert sehr deutlich die mediale Differenz zwischen Fotografie und Malerei: Die Protagonistin (Nicole Kidman) betritt ein abgedunkeltes, als Abstellraum dienendes Zimmer, um dort einen unheimlichen Eindringling zu stellen. Das Zimmer ist vollgestopft mit abgelegten, im Laufe der Jahre angesammelten Gegenständen, die mit weißen Laken abgedeckt sind, unter denen sich der bedrohliche Fremde versteckt halten könnte. Gespannt reißt die Protagonistin die Laken herunter und glaubt eine Schrecksekunde lang die gesuchte Person unter einem der Tücher erblickt zu haben – die Gestalt entpuppt sich schließlich als ein Gemäldeporträt, aber der Schrecken bleibt. Dort aber, wo gemalte Porträts für lebendige Menschen gehalten werden, können auch Tote als Fotomodelle posieren. So auch bei dem in The Others gefundenen Fotoalbum, das voller melancholischstiller Porträts von Verstorbenen ist, die man mit Hilfe der fotografischen Aufnahme wieder zum Leben erweckt hat. Der Schock und der darauffolgende Ekel der Protagonistin gegenüber diesem ungewöhnlichen ›Totenbuch‹ drückt auch einen Widerwillen gegen das Medium Fotografie aus, das mit der Metapher des pencil of nature offenbar nur ungenügend beschrieben ist. Ganz im Sinne von Roland Barthes ist das Fotoporträt hier eine wörtliche »Wiederkehr der Toten« (Barthes 1980/1989: 17). Seine doppeldeutige Anlage zeigt das Abgebildete im Hier-und-Jetzt der Betrachtung gegenwärtig als auch bereits tot und vergangen. Folgt man Barthes’ Ausführungen weiter, so erfährt man im Fotoporträt noch mehr, nämlich das Ereignis des Todes selbst als die Ausklammerung oder die Einbalsamierung des Lebendigen: »[…] wenn ich mich auf dem aus dieser Operation hervorge-

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[ Konterfei ] | 153

gangenen Gebilde erblicke, so sehe ich, daß ich ganz und gar Bild geworden bin, das heißt der Tod in Person […]« (ebd.: 22-23). Von Honoré de Balzac weiß man, daß er eine nicht geringe Skepsis, um nicht zu sagen Angst, vor dem Fotografiertwerden hegte, da er an die dem Foto immanente Bedrohung seiner Seele glaubte. Seine Angst war in einem Punkte berechtigt, wollte er seinen Tod in der Fotografie nicht vorweggenommen sehen. Wie anders ist dagegen die Unheimlichkeit des gemalten Bildes, das die Protagonistin in The Others für einen lebenden Menschen gehalten hat. Unheimlich ist das Porträt hier, weil es als das gemalte Bild selbst lebendig werden kann. Tomie: re-birth beweist ein ähnliches Gespür für die phänomenologische Betrachtung des Bildes, die jenseits der bloßen Abbildung noch eine andere Wirkung aufspürt. Gottfried Boehm macht in seinem Aufsatz Die Bilderfrage darauf aufmerksam, daß im sakralen Bilderkult »das Bild und sein Inhalt bis zur Ununterscheidbarkeit [ verschmelzen ]« (Boehm 2001: 330). Hierzu allerdings bedarf es einer Initiationshandlung, um die Übertragungsleistung von der Person auf das Bildnis zu bewerkstelligen (vgl. Wolf 2002). Bei allen kultischen Bildern handelt es sich dabei um eine buchstäbliche oder symbolische Abdrucks- bzw. Berührungsgeste, mit der das Abbild seine reale Präsenz gewinnt. In Tomie: re-birth ist es das Blut und damit die stärkste Übertragungssubstanz, die in allen religiösen Kulten eine herausragende Rolle spielt. Zischend verteilt es sich auf dem Porträt und deutet in dieser Inszenierung auf eine geisterhafte Kontamination des Gemalten, das von nun an die Stelle des getöteten Modells einnimmt. Ambivalent bleibt in der filmischen Diegese, ob die junge Frau nach ihrem Tod im Bildnis weiterlebt oder ob das Bildnis selbst zu einer körperlichen Präsenz gelangt. Die Eingangsszene – die Mordszene während der Modellsitzung – endet mit einer seltsam anmutenden Schminkhandlung, in der der Maler das geleeartige Blut der Ermordeten dazu benutzt, der gemalten Tomie die Lippen rot nachzumalen. Mit dieser Geste wiederholt er die letzte Handlung, die seine Geliebte vor ihrem Tod vollzogen hat, als sie sich schminkte. In dieser doppelten Initiationshandlung, in der das Blut der Toten das Porträt kontaminiert, um im nächsten Schritt den Lippenstift zu einem Instrument der Übertragung zu machen, wird das Porträt endgültig als Handlungsermächtigter eingesetzt. Dementsprechend wird in Tomie: re-birth versucht, das Porträt aus seiner Stasis herauszulösen und in Bewegung zu versetzen. Die Inszenierungsstrategien sind in ihrer drastischen Deutlichkeit dem Horrorgenre geschuldet, aber sie machen gleicherweise deutlich, daß das Interesse des Films am Bild offenbar in dessen präsentischem Charakter begründet liegt. Gut zu beobachten ist, wie das Porträt in Tomie: re-birth seine anfänglich filmische Semantik abstreift und gleichsam in ein anderes, dem Gemälde eigenes Bildsystem eintritt. Die Filmgeschichte, die um das Bildnis zentriert ist, beginnt mit

➞ [ Make-up ]

2005-09-05 10-32-45 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 149-160) T01_11b konterfei.p 93904542982

154 | [ Joanna Barck ]

➞ [ Grimasse ]

➞ [ Auge ]

einem noch klassischen Prolog, in dem das Gemälde in (kunst-)tradierter Manier zusammen mit dem Maler gezeigt wird. Bereits die kurz darauf einsetzende Zerstörung des Bildes löst es aber aus der passiven Position eines Objekts und macht es zum Verursacher der darauf folgenden Handlung – der Tötung des Modells. Seine zweite Verwandlung erfährt das Porträt in einer traumähnlichen Szene, in der der Maler – selbst mittlerweile durch die Wiedergängerin Tomie in den Selbstmord getrieben – das schöne, wenn auch zerschnittene Bildnis zu einem expressionistisch verzerrten Doppelporträt ausmalt. In dieser zweiten Bildversion ist das Konterfei der schönen Frau zu einer Fratze geworden, zu einem faltigen, lädierten Gesicht, aus dem sich seitlich ein zweiter Kopf herausbildet. Dieses doppelköpfige Wesen erinnert an Siamesische Zwillinge, an wuchernde Zellteilung oder Klonung und betont durch die Verzerrung den gewaltsamen Trennungs- und Dopplungsvorgang. An dieser Stelle schreibt sich die Bewegung des Filmbildes deutlich in das gemalte Gesicht ein. Dort, wo sich das zweite Gesicht spaltet, ist die Haut zum Reißen gespannt und das linke Auge der ehemals so schönen Frau der Länge nach verzerrt. Aus dem Gemälde erwächst ein doppelköpfiges Zyklopenwesen, das aus dem Bild herausdrängt. Mit dieser Umgestaltung des Porträts ist eine Veränderung indiziert, die dem Rechnung trägt, was Gottfried Boehm als die »Kraftseele« des Bildnisses bezeichnet, die ihrerseits auf die »geheimnisvolle Wirkung der Bilder« zurückzuführen sei (Boehm 2001: 3). Gerade dieser filmische Versuch einer Verlebendigung des Bildes ist es, der dessen physische Präsenz begründen soll. Hierzu muß das Porträt zunächst überhaupt als Bild festgehalten und gleichsam aus dem Bewegungs-Bild des Films herausgelöst werden, bevor es seinerseits in ›Bewegung‹ gesetzt werden kann. Das Bildnis der Tomie, das zunächst als unbewegtes Objekt innerhalb des filmischen BewegungsBildes eingeführt wurde (vgl. Deleuze 1983/1997; Bergson 1907/ 1921), befreit sich schließlich im zweifachen Sinne aus seiner Immobilität: zunächst durch die Handlungen an ihm selbst – es wird zerstört, übermalt, verschenkt, verpackt, versteckt, entdeckt etc. –, sodann durch seine eigene verändernde Aktivität, die sich allmählich auch auf die Personen seiner Umgebung auswirkt. Ich komme noch einmal auf das beschriebene Doppelporträt in Tomie: Re-birth zu sprechen und damit auf die dritte und entscheidende Episode, die mit dem Schenkungsakt des Porträts an Takumi (Satoshi Tsumabuki) beginnt, der dem Künstler bei der Beseitigung der Leiche geholfen hat, und Takumis Aneignung des Lippenstifts, den er im Zimmer des toten Malers vom Boden aufsammelt. Sichtlich davon abgestoßen, versteckt Takumi das Bildnis, mit weißem Papier fest verschnürt, in seiner Wohnung, das Corpus delicti aber – den Lippenstift – vergißt er in seiner Jackentasche. Diese beiden eng miteinander verbundenen Dinge – der Lippenstift als Malpinsel und

2005-09-05 10-32-46 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 149-160) T01_11b konterfei.p 93904542982

[ Konterfei ] | 155

das mit ihm bemalte Bildnis – bilden ein folgenschweres Bindeglied zwischen den beiden Erzählsträngen des Films. Der rote Lippenstift, so wie anfangs das Blut der Ermordeten, fungiert als kontaminierender Stoff und Überträger zugleich. Sein ›Auftrag‹ endet in dem Moment, als Takumis Freundin Hitomi (Kumiko Endou) sich mit dem Lippenstift schminkt. Mit der Benutzung des Lippenstifts stellt Hitomi eine Verbindung her zwischen sich und dem Doppelbildnis, das diese Beziehung in seiner Doppelköpfigkeit gewissermaßen schon vorweggenommen hat. Von da an schwindet Hitomis Bewußtsein, sie kann sich nicht mehr an ihre Vergangenheit erinnern, auch ihr Benehmen ändert sich merklich, bis schließlich der Verdacht aufkeimt, daß sie nicht mehr sie selbst ist. Tatsächlich entwickelt sich das Bildnis immer mehr zum aktiven Part der Erzählung, es ersetzt schließlich Tomie, die, nachdem sie von der Mutter ihres Liebhabers umgebracht worden ist, die Lebenden nicht mehr als eine monströse Wiedergeburt heimsucht. Hitomi ist die erste, die von der Porträtierten ›ergriffen‹ wird. Mit zunehmendem Gedächtnisschwund, dem sie bezeichnenderweise durch das Studium ihrer Fotoalben entgegenzuwirken versucht, intensiviert sich die Präsenz des Bildnisses. Die Fotoporträts, die als Garanten für die rationale Sicht der Welt stehen und als Zeitzeugen angerufen werden, entpuppen sich als absolut unwirksame Hüter der Identität. Hitomi kann weder sich selbst, noch ihren Freund, noch die Orte wiedererkennen, die sie zusammen mit ihm aufgesucht hat. An die Stelle ihrer Erinnerungsbilder tritt ein zunehmend deutlicher werdendes visionäres Bild, das von ihr mehr und mehr Besitz ergreift. Was sie sieht, ist zunächst nur eine weiße Leinwand, auf der sich Schatten und Schemen abzeichnen – eine Anspielung auf das Papier, in welches das Doppelporträt eingewickelt ist. Man fühlt sich unweigerlich an die weiße Leinwand des Kinos oder an die Höhle Platons mit ihren bewegten Schemen an der Wand erinnert. Was Hitomi sieht, entspricht also dem Blick der Porträtierten aus dem Bildnis heraus. Weit von ihrer Wohnung entfernt, in einem Schuppen abgestellt, steht das doppelgesichtige Porträt, das seine Gegenwart als Energeia, als ›wirkmächtige Tätigkeit‹ entwickelt: »[…] in der Repräsentation selbst ist das Abwesende nicht nur gegenwärtig, sondern es ist wirksam« (Boehm 2001: 7). Im Horrorfilm ist mit dieser besonderen Gegenwart des Porträts im wörtlichen Sinne zu rechnen, was in diesem Fall bedeutet, daß Hitomi sich in der paradoxen Situation wiederfindet, sowohl Teil des Bildnisses zu sein als auch außerhalb dessen zu existieren. Ohne eigene Erinnerung, umgeben von Fotografien, deren Bedeutung sie nicht mehr versteht, ist Hitomi längst zu einem Abbild geworden, das nur äußerlich noch an die frühe Hitomi erinnert und damit selbst zum ›lebenden Bild‹ stagniert. Eine der schaurigsten Szenen des Films ist die finale Verlebendi-

➞ [ Yentl ]

2005-09-05 10-32-47 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 149-160) T01_11b konterfei.p 93904542982

156 | [ Joanna Barck ]

➞ [ Hand ]

gung der Porträtierten. Der Vorgang vollzieht sich hinter dem Packpapier, der ›Schutzhülle‹ und dem ›Schleier‹ des Gemäldes. Raschelnde Geräusche, Ausbeulungen im Papier und schließlich die unter der Abdeckung herausschauende Hand – noch feucht und glitschig wie nach einer Geburt – machen deutlich, daß die anfänglich ambivalent gehaltene Präsenz des Porträts inzwischen zu einer veränderten Ordnung geführt hat. Denn tatsächlich bedeutet Tomies Verlebendigung eine Umkehrung der ursprünglichen Repräsentationsverhältnisse. Die Idee des Bildes, die Tomie: Re-birth visualisiert, beruht auf der Vorstellung einer dem Bildnis innewohnenden Kraft, die an der magischen Wirkungsmächtigkeit des Porträtierten partizipiert. In diesem Fall nimmt die Verlebendigung jene Metapher wörtlich, nach der der Dargestellte ins Bild eingeht. Und was einst Eingang ins Bild gefunden hat, das – so kann man schlußfolgern – kann auch wieder aus dem Bild heraustreten. Ein anderes Beispiel für die filmische Umsetzung der Idee einer autonomen Bilderwelt liefert Dario Argentos The Stendhal Syndrome (Das Stendhal-Syndrom, I 1996), in dem die Protagonistin von Gemälden angezogen wird, bis sie schließlich selbst in ein Bild Pieter Breughels d. Ä. eintaucht – in die Fluten eines gemalten Meeres aus Landschaft mit dem Sturz des Ikarus (1558, Musées Royaux des Beaux-Arts de Belgique, Brüssel). Eine Wandlerin zwischen den Welten ist wiederum die Zahnarzthelferin aus Susan Seidelmanns Film The Dutch Master (Der Flämische Meister, D/I 1994). Sie verliebt sich in einen Mann aus einem flämischen Genrebild, das sie bald betreten kann und schließlich dort verbleibt. Tomie, die diese doppelte Bewegung in das Bildnis hinein und aus ihm heraus gleicherweise vollzieht, zwängt sich aus dem Verpakkungspapier und durch die Schnüre, die es zusammenhalten, sichtbar mühevoll heraus. Ihr Weg nach draußen erinnert an eine Passage, die sie durch das eigene Bildnis hindurch nimmt (vgl. Aumont 2002: 97-114) – ihr Gesicht trägt Spuren dieser ›Überführung‹, markiert als rote und braune Farbschlieren, die an eine Geburt wie auch an Tomies Blut erinnern, das das Bildnis in der Anfangssequenz besudelte. Das Gesicht des Porträts gebiert neue Gesichter. Das Porträt ist somit mehr als bloße Repräsentation von lebenden oder ehemals lebenden Personen. Und so ist auch die Protagonistin des Films weder ein Mensch noch eine Tote, wie man sie aus alten Legenden von Wiedergängern und Geistern kennt. Sie ist eine, in der japanischen Kultur mit einer größeren Bedeutung bedachte Figur des Dämons in menschlicher Gestalt. Ihr Wesen ist das eines Drachens oder einer Echse – kaltblütig und unzugänglich. Diese Verwandtschaft macht der Film an den wenigen Stellen explizit, an denen Tomies Augen entmenschlicht sind: Sie werden zu Reptilienaugen, kugeligen Formen mit einer aufgeworfenen Pupille, deren Iris gelb ist. Personen mit

2005-09-05 10-32-47 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 149-160) T01_11b konterfei.p 93904542982

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Reptilienaugen sind nicht nur keine Menschen, sie sind vor allem seelenlos und damit gefühllos. Mit dieser allgemeingültigen Annahme arbeitet der Horrorfilm, um dem Zuschauer die emotionale Entlastung zu ermöglichen, deren er bedarf, um sich ungeniert an den Splattereffekten, den Morden und Zerstückelungen des Körpers erfreuen zu können. Tomie, das suggeriert der Film, ist keine junge Frau, die von ihren Freunden umgebracht wird. Ihr schönes, lächelndes Gesicht soll täuschen, und den Dämon – die kaltblütige ›Eidechse‹ – in ihr verstecken. Angesichts eines solchen Monsters ist das Mitleid des Zuschauers vergeudet. Aber, so läßt sich fragen, ist damit wirklich alles gelöst? Kann man sich einem Gesicht – erst recht in einer Großaufnahme – und seiner Semantik wirklich so einfach entziehen? ›Das Gesicht ist eine Horrorgeschichte‹, haben Gilles Deleuze und Félix Guattari konstatiert. Es ist das System, das man nicht verlassen kann, weil es die universellen Züge der europäischen Kultur-, Kultund schließlich auch Kolonialgeschichte trägt. Begründet sich sein Horror nicht aber genau darin, daß das Gesicht immer schon ein Bildgewordenes ist, bevor es überhaupt als Gesicht erkannt werden kann? Denn nehmen wir nicht erst dann ein Gesicht als das wahr, was es für uns ist, nämlich als eine Kommunikationsfläche, wenn es uns bereits bildhaft erscheint? Daß es dazu nicht per se eines klassischen Bildträgers bedarf, liegt auf der Hand. Hingegen erfordert es offenbar immer der Arretierung: Gesichter in Bewegung sind nicht faßbar, nicht memorierbar, sie verlieren ihre individuellen Merkmale; sie sind das Gesicht des Jedermanns, an dessen charakteristische Züge man sich nicht mehr erinnert, oder diese sogar grundsätzlich in Frage stellt. Gerade der Close-up verdeutlicht die Disziplinierung der visuellen Kommunikation auf eine facial gesteuerte Wahrnehmung hin, die ihren Ausgangspunkt in der Porträtmalerei hat. Was die Malerei als Vorläuferin ›zweiten Grades‹ (das heißt: noch vor der Fotografie) dem Film liefert, ist nicht bloß die Trennung des Kopfes vom Rumpf, sondern zuallererst die Medialisierung der gesamten Person zu einer zweidimensionalen, bedeutungsgenerierenden Fläche. Hier tritt das Bild an die Stelle des Körpers: »Körper und Bild stehen in einem Verhältnis der Analogie, an der sich der Wechsel des Körperbegriffs ablesen läßt, wie umgekehrt der Wandel des Körperbegriffs einen Wandel des Bildbegriffs nach sich gezogen hat« (Belting 2001: 129). Damit fungiert das Porträt als Spiegelbild der Person, genauso wie umgekehrt die Person zum Spiegel des Porträts werden kann. In bezug auf die Kommunikation zwischen Bildnis und Betrachter spricht Hans Belting von einer »Art Benutzer-Oberfläche […], um mit einer anderen, abwesenden Person einen medialen Kontakt zu halten« (ebd.: 129). Auf diese Verbindung zwischen ›Benutzer‹ und ›Oberfläche‹ baut Tomie: Re-birth, wenn auch mit einer gravierenden Verschiebung der Kommunikationsparameter, denn hier sind die Verhältnisse von Benutzer und Oberfläche durchlässig, bisweilen sogar

➞ [ Lächeln ]

➞ [ Jedermann ]

2005-09-05 10-32-47 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 149-160) T01_11b konterfei.p 93904542982

158 | [ Joanna Barck ]

➞ [ Double ]

gänzlich aufgehoben. Das filmische Konterfei bestimmt das Geschehen mit Blick sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die Zukunft. Der Film beginnt mit dem klassischen Porträt, das der junge Maler von seiner Geliebten anfertigt, und installiert schließlich das gemalte Gesicht der schönen Frau als ein Erinnerungsbild, das sich bald zu einem präsentischen, zu einem ›besessenen‹ Bild entwickelt. Umgemalt zu einem seltsam verstörenden und verstörten Doppelbildnis nimmt es im Laufe des Films die Rolle eines beseelten Objekts an, das scheinbar die Grenze zwischen Realität und Imagination überschreiten kann, um von nun an immer wieder in die Handlung – und damit in das Schicksal der Protagonisten – einzugreifen. Die Doppelgesichtigkeit der gemalten Person verweist auf eine geheimnisvolle, noch in der Zukunft liegende Tat. Am Ende des Films steht das leere Porträt – die gemalte Frau ist zu einem lebenden Bildnis geworden, zu einem horror picturae, vor dem es kein Entkommen gibt, da das, was ein Gemälde hervorbringen kann, bereits nicht mehr von dieser Welt ist. Die Vorstellung, daß Gemälde und insbesondere Porträts monsterhafte Wiedergänger gebieren, ist kein ausschließliches Thema der ostasiatischen Kultur, man denke beispielsweise an Ghostbusters II (Ghostbusters II, USA 1989, Ivan Reitman), wo ein dämonischer Fürst seine ›Wiedergeburt‹ mit Hilfe eines restaurierten Porträts vorbereitet. Sucht man an der Porträtthematik von Tomie: Re-birth das spezifisch Japanische, so könnte man die dämonische Erscheinung der Frau benennen, die in der japanischen Kultur bereits in den frühen Sagen eine große Rolle spielt. Die Frau, die zum Dämon wird, ist häufig die eifersüchtige, von ihrem Geliebten betrogene oder verlassene Ehefrau, die sich an den Schuldigen rächen will. Diese Furien sind nicht selten als Doppelwesen angelegt, wobei aus der realen Frau ihre übernatürliche Doppelgängerin erwächst, die an ihrer Statt – und an einem völlig anderen Ort – Rache übt. Eine solche Dopplung zitiert auch Tomie: Re-birth, dabei wird der Zuschauer lange im unklaren darüber gelassen, wer die gedoppelte Frau sein soll. Erst am Ende des Films, wenn das Porträt ›leer‹ geworden ist, treten die beiden Protagonistinnen sich gegenüber, und man beginnt zu ahnen, daß diejenige, die vom Porträt hervorgebracht wurde, die Furie der anderen ist. »Sie ist ich«, sagt Tomie und weist dabei auf Hitomi, die ihre Identität verloren und der Porträtierten immer ähnlicher wurde. »Sie ist meine kleine Schwester«, ergänzt sie und schließt damit den Kreis, an dessen Anfang das blutkontaminierte Porträt und der rote Lippenstift standen, mit dem die ahnungslose Hitomi eine Verbindung zu dem Bildnis herstellte, indem sie sich die Lippen bemalte. Tomie, die eifersüchtig auf die Fotografien wurde, auf denen Hitomi zu sehen war, und Hitomi, die eifersüchtig auf Tomie war, als sie den Lippenstift in der Tasche ihres Freundes fand – sie beide, so sugge-

2005-09-05 10-32-47 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 149-160) T01_11b konterfei.p 93904542982

[ Konterfei ] | 159

riert der Film, sind ein und die selbe Person: Der Schrecken, der in uns selbst liegt, ist der größte Horror von allem. Indem der Regisseur Takashi Shimizu sich des Porträts als eines Protagonisten bedient, stellt er seinen Film in eine Bildtradition, die konträr zu modernen Kunsttheorien steht, denen zufolge das Bild vor allem als Artefakt zu betrachten ist. Hingegen knüpft die in Tomie: Re-birth proklamierte Präsenz der Porträtierten wie des Bildnisses selbst an die Idee des kultischen Bildes als eines ›nicht-von-Menschenhand-gemachten‹ an. In diesem Sinne ist das Konterfei möglicherweise dem französischen contrefaire – ›gegen-das-Gemachtsein‹ – verwandt. Der Film steht mit seinem Bildverständnis für eine autonome Bilderwelt ein, für ein ›Jenseits‹ des Bildes – für das Bild als Effigie. So ist die sich immer wieder aufs neue erschaffende Figur Tomie vielleicht kein Geisterwesen im üblichen Verständnis, sondern vielmehr eine ›Untote‹ aus dem Reich der Bilder: eines der Schattenwesen, wie sie das Kino unaufhörlich auf die Leinwand projiziert. [ Joanna Barck ]

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2005-09-05 10-32-48 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 149-160) T01_11b konterfei.p 93904542982

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2005-09-05 10-32-48 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 161

) T01_12a L.p 93904542990

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[ Lächeln ] | 163

[ Lächeln ]

Sekunden vorher hat die Frau neben anderen Bäuerinnen und Bauern noch auf einer Holzbank vor einer Hütte gesessen, durch ein Gruppenbild eingebunden in ihren sozialen Kontext. Dann diese Großaufnahme: allein diese Frau, allein dieses Gesicht. Zu Beginn ist der Mund noch geschlossen. Langsam öffnet er sich, als setze er an zur Rede. Doch an die Stelle der Rede tritt ein Lächeln, das sich sukzessive entfaltet. Das Lächeln ist stumm und doch zugleich höchst beredt. Herausgerissen aus jeder narrativen Logik zeigt es sich uns, lächelt es uns an. Ein Lächeln, das in seiner Entfaltung suggeriert, es sei ausgelöst durch den Anblick von etwas, durch den Blick auf etwas. Gleichwohl adressiert der Blick dieser Frau, dieses Lächeln niemanden im Film. Dieser Blick ist nicht eingebunden in die vertraute narrative Logik von Blicken und Erblickt-Werden, von BlickSubjekt und Blick-Objekt. Abgekoppelt von jedem Handlungszusammenhang gewinnt dieser Blick, dieses Lächeln, eine unerwartete Autonomie und zugleich etwas Rätselhaftes: So wie diese Frau lächelt, lächelt man nicht für sich, zumindest dann nicht, wenn das Lächeln begleitet wird von einem so explizit adressierenden Blick. Und da dieser Blick direkt die Kamera adressiert, können wir vermuten, daß dieses Lächeln dem Zuschauer gilt, das heißt zunächst ein-

➞ [ Blick ]

2005-09-05 10-32-50 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 163-173) T01_12b laecheln.p 93904543046

164 | [ Wolfgang Beilenhoff ]

➞ [ Träne ]

➞ [ Grimasse ]

mal den Zuschauern, die lebten, als dieses Lächeln sich vor der Kamera entfaltete. Und vielleicht auch uns, den heutigen Zuschauern. Es handelt sich um das Lächeln der Protagonistin aus Sergej . Ejzensˇtejns General’naja Linija (Die Generallinie, UdSSR 1926-29), um das Lächeln eines emblematischen Gesichts, vergleichbar dem Gesicht der Falconetti in Carl Theodor Dreyers La Passion de Jeanne d’Arc (Jeanne d’Arcs Leiden und Tod/Die Passion der Jeanne d’Arc, F 1928) oder dem der Garbo am Ende von Rouben Mamoulians Queen Christina (Königin Christine, USA 1933). General’naja Linija, so der ursprüngliche Titel des später in die rhetorische Formel Staroe i novoe (Das Alte und das Neue) gebrachten Films, war gedacht als filmische Flankierung der im Dezember 1925 vom XVI. Parteitag der Kommunistischen Partei beschlossenen »Generallinie« für die soziale Umgestaltung des Dorfes. Es ist ein Film der Gegensätze: das Heilige steht gegen das Profane, das Neue gegen das Alte. Zu Anfang des Films machen zwei Brüder sich daran, den Hof der Eltern aufzuteilen, indem sie die Wiesen und Äcker durch Zäune parzellieren und das gemeinsam ererbte Haus in gleich große Stücke zersägen. Gegen dieses Alte steht der utopische Entwurf eines Neuen, die Utopie einer Versöhnung von Mensch und Natur, von Natur und Technik. Eine Utopie, der in diesem Film zugleich auch ein ästhetisches Programm entspricht: nicht Transformation, sondern . Exaltation. Oder wie Ejzensˇtejn selbst das damit verbundene Ziel einer ästhetischen Überschreitung auch typographisch herauszustellen versuchte: Ek-stasis, Heraus-treten. Ein Ziel, das im vorliegenden Film seine exemplarische Einlösung in jener Sequenz mit der Milch. zentrifuge findet, die Ejzensˇtejn immer wieder als Referenzgröße für seine Theorie des Pathos und der Ekstase herangezogen hat (Eisenstein 1984; vgl. Beilenhoff/Hesse 2005). In vergleichbarer Form tritt nun auch das Lächeln der Frau aus dem Kontext der vielen anderen Gesichter dieses Films heraus. Wie kein zweiter Film dieses Jahrzehnts ist General’naja Linija zugleich auch ein Film über Gesichter, ein Film, in dem jeder »[…] Körper in einem unvermeidlichen Prozeß zum Gesicht wird« (Deleuze/Guattari 1980/1992: 233). Wie kein zweiter Film dieser Epoche ist dies ein Film, indem das Gesicht zu einem Medium expliziter Gesichter-Politik wird, in dem der kulturelle und soziale Status des Gesichts als bedeutungsvolle Leinwand in Szene gesetzt wird. Was all diese vielfältigen Gesichter verbindet, ist die Absage an Vorstellungen des Gesichts als Ausweis des Individuellen. Die daraus entspringende soziale Semiotik zeigt eine auffällige Funktionalisierung des Gesichts und steuert das Vermögen des Betrachters, zu assoziieren und zu klassifizieren. Dabei ergeben sich ganze Reihen von Gesichter-Klassen und GesichterTypen. Realistische, quasi-dokumentarische Gesichter, die Exponenten des Gesellschaftsprozesses sind: die Gesichter der Bauern und Arbeiter; Gesichter im Stil einer Buffonade, verzerrt ins Karikatureske,

2005-09-05 10-32-51 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 163-173) T01_12b laecheln.p 93904543046

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die Exponenten des Alten sind: die Großgrundbesitzer und Popen; schließlich die grimassierenden, süffisanten Gesichter der neuen Bürokratie: das Gesicht des Buchhalters, dem eine Lenin-Briefmarke auf der Zunge klebt, oder das Profilgesicht der Sekretärin, aufgebläht . ins Monströse durch das für Ejzensˇtejn so wichtige 28mm-Objektiv, das diese Gesichter gleichsam in physiognomische Etüden verwandelt. . Welche Bedeutung Ejzensˇtejn – und mit ihm das sowjetische Kino jener Jahre – dem physiognomischen Diskurs mit seiner Suggestion des Gesichts als Manifestation eines sozialen Typs beimaß, zeigt sich vielleicht nirgendwo so deutlich wie im expliziten Rückgriff auf tierphysignomische Traditionen in General’naja Linija. Der Vergleich zwischen einem menschlichen Typus und einem Tier ist ein seit der Antike praktiziertes und im 16. Jahrhundert durch della Porta systematisiertes Verfahren einer Gesichter-Politik. Es geht dabei um eine elementare Beweisführung: Ein menschliches Gesicht kann bisweilen auf verblüffende Weise ›wie‹ ein Schaf, ein menschlicher Nacken oder eine Fettwulst ›wie‹ ein Ochsenrücken aussehen – Analogisierungen, die in General’naja Linija mit einem geradezu avantgardistischen Gestus durch Verzerrungen, Übertreibungen, Disproportionen oder extreme Lichtverteilung erzielt werden. Was sich hier in dieser exzessiven Lesbarmachung des Gesichts zeigt, ist eine tiefe Skepsis gegenüber dem Gesicht als Ausweis von Individualität. Wie Jahrzehnte später Gilles Deleuze und Félix Guattari . verfolgt auch Ejzensˇtejn eine Abkehr vom Gesicht als Träger von Individualität oder als Spiegel der Innenwelt. Was ihn dafür fasziniert, ist das Gesicht als Maske, als expressives Detail, als skulpturales Phänomen, vor allem aber als Reflexion des Sozialen. Gebrochen in seiner Einzigartigkeit, ausgestellt in seiner plastischen und sozialen Dimension, wird das Gesicht frei für einen ›dritten Weg‹: Die »Lücke […] zwischen radikalen Versionen der Subjektivität als Einzigartigkeit […] und dem Wissen, Teil der Menge, eines vergrößerten sozialen Systems zu sein« (Koch 1995: 289) – diese Lücke wird nun auf andere Weise gefüllt durch das Typage-Gesicht. Die Theorie der Typage ist der Kulminationspunkt der im 18. Jahrhundert einsetzenden Versuche, die Sprache des Körpers zu verstehen. Eine Theorie, die das Subjekt als soziales Subjekt anvisiert und zugleich das Gesicht als skulpturales, absolut passives Ding angeht: als Spiegel sozialer Tatsachen, jenseits allen eigenen Ausdrucks. Die so modellierten Gesichter sind Zeichen-Gesichter, singuläre Signifikanten, und doch zugleich lesbar hin auf ein generalisierbares Signifikat, auf einen bestimmten sozialen Typus. An die Stelle individueller, biografisch aufgeladener, in der Zeit sich verändernder Gesichter tritt eine zeit. entbundene Typologie, eine buchstäblich faciale »Tonleiter« (Ejzenˇstejn). Welcher Stellenwert diesem Moment an Serialisierung, dieser

➞ [ Rasur ]

➞ [ Vorspann ]

➞ [ Ikone ]

➞ [ Narbe ]

➞ [ Jedermann ]

2005-09-05 10-32-52 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 163-173) T01_12b laecheln.p 93904543046

166 | [ Wolfgang Beilenhoff ]

➞ [ Auge ]

➞ [ Casting ]

Multiplikation des Gesichts zukommt, dokumentiert nichts deutlicher . als jene Gesichter-Serie, die Ejzensˇtejn 1930 in der surrealistischen Zeitschrift documents veröffentlicht. Multiplikation, De-Figuration, Exaltation des Gesichts – all dies traf sich ja in vielen Punkten mit den Interessen der Surrealisten selbst. Es verwundert daher nicht, . daß gerade Georges Bataille es war, der Ejzensˇtejn vorschlug, Fotogramme seines Films in eine Art fotografischer Gesichter-Montage zu bündeln und eine Foto-Film-Version seines Films zu erstellen. Und so . arrangierte Ejzensˇtejn auf den ihm verfügbaren zwei Seiten – gleichsam im Vorgriff auf Andy Warhols spätere Gesichter-Serien – insgesamt 24 Gesichter, darunter auch zwei der angesprochenen Tierphysiogomien. Besonderes Gewicht verlieh er hierbei den Gesichtern der Bittprozession, mit der die Exponenten des Alten in einer Art magischem Ritual himmlischen Regen herbeizuzaubern versuchen und in der die Religion sich als pathetische Geste offenbart. Wir sehen das schräg zum Himmel hoch blinzelnde Auge eines Popen, Gesichter in Ekstase, die Köpfe nach hinten gekippt, den Mund halbgeöffnet, das Auge halbgeschlossen. Es ist eine Serie, in der das Gesicht, fokussiert durch die Großaufnahme und abgekoppelt von jeder Verankerung in einem Subjekt, mit jener Intensität und Reflexivität aufgeladen wird, die die beiden Pole des Deleuzeschen Affektgesichts bilden und die uns dazu veranlassen, dieses Gesicht mit der Frage zu adressieren »Was ist denn in dich gefahren?«, während jenes Gesicht Anlaß gibt zu der Frage »Woran denkst du?« (Deleuze 1984/1989: 125). In diesen Diskurs einer Physiognomisierung, Maskierung und schließlich Serialisierung des Gesichts als einer gegen traditionelle Vorstellungen von Individualität und Subjektivität sich richtenden subversiven Strategie schreibt sich nun ein auffällig anderes Gesicht ein, das eingangs angesprochene, zu einem Lächeln sich ausfächernde Gesicht einer Frau. Es ist das einzige Gesicht des Films, das mit einem Eigennamen versehen und über einen entsprechenden Zwischentitel eingeführt wird: »Marfa Lapkina – Eine von vielen«. Marfa Lapkina, im weiteren M.L. genannt, Bäuerin aus dem Rjazaner Gouvernement, ist das Zufallsgeschenk eines denkwürdigen Castings: »Nach Sichtung der ersten dreitausend Frauen (im Arbeitsamt, in Übernachtungsheimen und auf Bauernversammlungen) hatten wir endgültig unsere Vorstellungen vom gewünschten Typ verloren und verfielen so in einer Art Kollektivpsychose auf irgendeine Frauenperson aus dem Moskauer Arbeitsamt, die freilich ihrem äußeren Erscheinungsbild nach ausgesprochen fotogen war. Doch gleich bei den ersten mißlungenen Aufnahmen beschlichen uns schreckliche Zweifel, und ich ließ sie für alle Fälle mit dem Rücken zur Kamera hin filmen. […] Und als dann schließlich sämtliche Möglichkeiten von Rückenaufnahmen ausgeschöpft waren, schickte uns ›das Schicksal‹ zwei Tage vor unserer Abfahrt […] die Lapkina. Fedora Stepanova,

2005-09-05 10-32-53 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 163-173) T01_12b laecheln.p 93904543046

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unsere erste ›Heldin‹, war in nicht gerade nüchternem Zustand und konnte daher der Kamera noch nicht einmal ihren Rücken bieten. […] Augenblicklich wurde nunmehr unter den gerade pausierenden Zuchtgut-Arbeiterinnen ein erstbester Rücken gewählt. Ja, und mit diesem Rücken kam nun Marfa Lapkina – unser Dorf-›Star‹ – zum Film« (Eisenstein 1984a: 134f.). . Auch wenn Ejzensˇtejn mit diesem ›Star‹ zum ersten Mal eine Hauptfigur einsetzt, ist damit doch keineswegs die Hinwendung zu einem individualpsychologisch motivierten Charakter verbunden. Was ihn an dieser der damaligen sowjetischen Realität entlehnten Figur, dieser »keineswegs schönen Frau« (Schklowski 1986: 233), fasziniert, ist die Möglichkeit, den Lebensweg einer individuellen Figur als Abfolge sozialer Situationen zu zeichnen. M.L. demonstriert in diesem . »Nichtspielfilm« (Ejzensˇtejn) daher Grundsituationen ihres eigenen Lebens. Auf Situation A folgt – ohne jede narrative Kontinuität und ohne jede dramaturgisch-psychologische Motivation – Situation B. Und so wird M.L. zu jenem ›Medium‹, das Grundsituationen des aktuellen Gesellschaftsprozesses auf die Leinwand bringt: die Sorge um die Viehzucht, der Kampf für die Einrichtung einer Kolchose, die Auseinandersetzung mit der Bürokratie, die Anschaffung einer Milchzentrifuge, der Erwerb eines Traktors. Dergestalt werden die Situationen als Stationen von M.L.s sozialer ›Story‹ lesbar. M.L. wird zu einem historischen Akteur, zu einer Exponentin des ökonomischen und sozialen Fortschritts, zur Protagonistin des für die damalige Zeit maßgeblichen Narrativs eines Erziehungsromans. Damit steht auch sie zunächst in der Linie der Typage, jener filmischen Figur, deren Gesten und Ausdrucksbewegungen Einsichten in geschichtliche Zusammenhänge ermöglichen sollen. Zugleich jedoch zeigt sie eine deutliche Differenz zum Typage-Konzept. M.L. besitzt nicht nur eine ungewöhnlich hohe textuelle Präsenz, sondern sie bewegt sich zugleich in Handlungskontexten, die, so der Kampf um die Gemeinschaftskasse oder die mit konstruktivistischem Pathos grundierte Reparatur des Traktors, eine starke emotionale Auf. ladung besitzen. In M.L., die Ejzensˇtejn später einmal den »Embryo« seiner zukünftigen Filmfiguren nennen wird, kompliziert sich die Praxis des bisherigen Typage-Konzepts. Zur beibehaltenen Dominante äußerer, auf überindividuelle Zusammenhänge verweisender Merk. male gesellen sich nunmehr »Obertöne« (Ejzensˇtejn) eines relativ schlüssigen ›Charakters‹. Sie ist eine Figur des ›dritten Weges‹, eine Figur des Dazwischen: zwischen dem ins Groteske verzeichneten Gegner und der Menge undifferenzierter Typagen. Sie ist die einzige . Figur in den frühen Filmen Ejzensˇtejns, die frei ist von der Anonymität der für das Kino dieses Jahrzehnts so maßgeblichen Kulesˇovschen Konstruktion eines abstrakten Ganzen aus einzelnen (Körper-)Teilen: Händen, Gesichtern, Großaufnahmen mechanischer Aktionen. Auch . sehen wir bei Ejzensˇtejn hier zum einzigen Mal, daß diese exzeptio-

2005-09-05 10-32-53 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 163-173) T01_12b laecheln.p 93904543046

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nelle Funktion dem Körper einer Frau zugeschrieben wird, die das Ideal einer neuen, paradoxen, das Individuelle mit dem Massenhaften verbindenden Subjektivität verkörpert. Besonderes Gewicht kommt hierbei nun Marfas Gesicht zu. Es ist ihr Gesicht, das, in Form einer alle nur erdenkliche Aufmerksamkeit schenkenden Großaufnahme, im Zentrum der eingangs angesprochenen Szene steht, die man in Anlehnung an neuere kognitivistische Ansätze als »Szene der Empathie« bezeichnen könnte, als eine Szene, in der wir »das Gesicht der Figur […] in Großaufnahme […] als einzelne Einstellung […] (sehen)« (Plantinga 1999/2004: 7). »Szene der Empathie« ist die vorliegende Großaufnahme zunächst aufgrund ihrer exponierten textuellen Markierung. Eingeleitet wird sie über den angesprochenen harten Schnitt. In Großaufnahme gesetzt und schlagartig dekontextualisiert blickt Marfa uns für einige Sekunden frontal an. Die Szene dauert länger als eine gewöhnliche Großaufnahme. Sie dauert so lange, wie ein Lächeln braucht, um sich entfalten zu können. Sobald es sich ganz entfaltet hat, kommt es zu einer weiteren auffälligen Markierung. Die Szene endet keineswegs so, wie sie begonnen hat, nämlich mit einem zu erwartenden zweiten Schnitt, sondern mit einer Abblende, die sich langsam über dem Gesicht schließt, als wolle der Film sich selbst über dem Gesicht schließen und dieses Lächeln in sich aufnehmen. Konstitutiv dafür, daß diese Szene zu einer »Szene der Empathie« wird, ist vor allem jedoch der Blick, der sich auf uns richtet. Die Szene ist ja in hohem Grade paradox: Wir haben eine Einstellung vor uns, die uns ein Gesicht zeigt, das sich zu einem Lächeln formt. Was wir jedoch nicht haben, ist jene Einstellung, die uns zeigen würde, was Auslöser dieses Lächelns sein könnte, was uns eine Antwort geben könnte auf Fragen wie »Was ist denn in dich gefahren?« oder »Woran denkst du?«. Wir sehen, daß ein Lächeln ausgelöst wird durch etwas; doch was dieses Etwas ist, das sehen wir nicht. Beides, die textuelle Markierung ebenso wie die asymmetrische Blickstruktur, sind basale Voraussetzungen jener »Gefühlsansteckung«, die für Plantinga Ziel und Effekt einer solchen »Szene der Empathie« ist. Damit eine solche Gefühlsansteckung eintreten kann, ist über diese Einstellung hinaus die kontextuelle Semantisierung entscheidend. Die Figur Marfa hat zu diesem Zeitpunkt bereits eine deutliche narrative Aufladung erfahren. Sie hat mehrere Prüfungen hinter sich, ihre bisherige Biographie ist geprägt von Armut und Rückständigkeit. Doch zugleich hat sie eine Vision, den Aufbau einer Kolchose. Gegenwärtig ist uns auch der Handlungskontext, in dem diese Einstellung auftaucht: das sozialistische Narrativ der Transformation traditioneller Landwirtschaft. Somit verschaltet sich die visuelle Interaktion mit Marfas Gesicht mit Gefühlsprozessen, die bereits im Gang sind. Es gibt zum Zeitpunkt dieser Einstellung – zumindest ansatz-

2005-09-05 10-32-53 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 163-173) T01_12b laecheln.p 93904543046

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weise – bereits eine affektive Kongruenz zwischen Zuschauer und Figur. Und dennoch erschließt diese textuelle und kontextuelle Ausrichtung, diese Lesart der Einstellung als »Szene der Empathie« nicht das Rätsel dieses Lächelns. Es liegt, wie mir scheint, in dem Blick, der hier mit einem naiven und zugleich professionellen Gestus in die Kamera gerichtet wird. Marfa Lapkina, ›filmische Analphabetin‹, »arbeitete gleich von der ersten Probe an. Und zwar mit einer einmaligen Fähigkeit, sich auf ihre Aufgaben zu konzentrieren […]. Bei all ihrer außergewöhnlichen Konzentration auf die jeweilige psychologische Aufgabe verliert sie niemals die Orientierung auf die Apparatur – ein Schema der räumlichen Aufgabe – und reagiert sogar noch, ohne ihr Spiel zu unterbrechen, auf unerwartete Anweisungen während der Dreharbeiten selbst. Überhaupt – sie ist einfach wunderbar« (Eisenstein 1984a: 133). Eine solche Anweisung mag auch den hier so auffälligen Blick in die Kamera angeleitet haben. Der Blick ist möglicherweise auch als Reaktion des Akteurs auf die Kameraapparatur zu verstehen. Regelmäßig zu beobachten sind solche Reaktionen beim ›Gaffer‹, dieser signifikanten Verkörperung medialer Adressierung. Während bei diesem jedoch das positive Erkennen der Apparatur dadurch gekennzeichnet ist, daß der Blick fast immer flüchtig, beiläufig, verstohlen ist, haben wir hier einen Blick, der andauert, und der uns mit zunehmender Dauer immer deutlicher die Frage nach seiner Ursache und seinem Adressaten stellt. Anders als die sprachlichen Adressierungen ist die Adressierung durch den Blick »reflexiv« (Metz 1997: 31): »Wie die steigende Flut im Mündungstrichter eines Flusses, der sich ins Meer ergießt, wie ein Blick, den der Spiegel auffängt und mir zurückwirft, ist der Blickstrahl aus den Augen der Figur gegenläufig zum gewöhnlichen Fluß aus dem Projektionsapparat (er hält ihn auf) und auch zu dem auf die Leinwand gerichteten Augen des Betrachters: ein Stillstellen, das ein wenig dem prekären Schwebezustand einer Wippe vergleichbar ist, deren beide Sitze auf halber Höhe in der Luft stehen« (ebd.). Wen schaut sie an? Wen lächelt sie an? Ihr Publikum? Das ›Publikum‹ vor Ort während der Dreharbeiten? Das Publikum im Saal? Oder die Kamera? Wir haben es hier daher mit einer klassischen vis-à-vis-Situation zu tun: »Die fundamentale Erfahrung des Anderen ist die von Angesicht zu Angesicht. Die vis-à-vis-Situation ist der Prototyp aller gesellschaftlichen Interaktion« (Berger/Luckmann 1971: 31). Allerdings wird diese Situation nun herbeigeführt durch ein Dispositiv, durch eine filmische Situation, die beide Instanzen, Schauspieler wie Zuschauer, gleichstellt und sie über den Blick miteinander verschweißt. Und so ist auch nicht entscheidbar, wem dieses Lächeln gilt oder

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2005-09-05 10-32-54 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 163-173) T01_12b laecheln.p 93904543046

170 | [ Wolfgang Beilenhoff ]

wodurch es ausgelöst wird. Durch die Interaktion mit der Kamera, ein ethnographisches Lächeln, das auf die Magie der Kamera reagiert – oder durch das Publikum, durch das Wissen, daß sie, M.L., ganz Bild gewordenes Gesicht, bald von der Leinwand herab das Filmpublikum anblicken und mit ihm durch ein Lächeln in Kontakt treten wird. Diese Uneindeutigkeit verdankt das Lächeln dem Medium Film. Erst das Medium Film schafft die Bedingungen, die ein solches Lächeln überhaupt hervortreten lassen. Festhalten kann man aber, daß dieses Lächeln Zeit braucht, um sich zu einem solchen zu entfalten. Würde man es stillstellen und in einem einzelnen Kader isolieren, so würde es gefrieren zu bloßer Pose, zu jenem auf Ewigkeit abgestellten Lächeln, das sich im »keep smiling« der facialen Werbeflächen behauptet. Dieses aus dem Medium Film geborene Lächeln der M.L. steht im sowjetischen Kino jener Zeit singulär. Eine zweite Großaufnahme, ein zweites filmisches Lächeln dieser Art wird man im sowjetischen Film der 1920er und 1930er Jahre nicht finden. Was man aber findet, ist ein weites Spektrum filmischen Lachens. Das Lachen erfährt in den beiden Jahrzehnten eine vielfältige genremäßige Umsetzung. Als Satire, so in Aleksandr Medvedkins 1935 gedrehtem (und immer noch stummem) Film Scˇast’e (Das Glück, UdSSR 1935), ein Film, der die weit zurückreichende russische Tradition des Satirischen aufgreift und uns einen Traktor zeigt, der, wie in mechanischer Volltrunkenheit, Kreise um eine leere Wodkaflasche dreht; oder als Komödie, so . in Sergej Komarovs Poceluj Meri Pikforda (Der Kuß der Mary Pickford, UdSSR 1927), einer Komödie über die sowjetischen Filmfans von Mary Pickford und Douglas Fairbanks, durchsetzt mit Filmmaterial, das während des Besuchs der beiden Filmstars 1926 in Moskau aufgenommen wurde. Bemerkenswert ist, welche besondere Rolle dem Lachen – nicht dem Lächeln – in dem auf M.L.s Lächeln folgenden Jahrzehnt zukommt. Gleichsam als Gegenpol zu Michail Bachtins Auffassung eines karnevalesken Lachens wird das Lachen nun als Ausdruck von Zuversicht und Frohsinn von Staats wegen geradezu anbefohlen und die damit verbundenen Emotionen auf diese Weise zugleich diszipliniert. »Es lebt sich jetzt besser, Genossen. Es lebt sich jetzt froher«, verkündet Stalin vor Stachanov-Aktivisten 1935 (Stalin 1976: 38). ˇ umjackij, der nach einer Parteikarriere in den 1930er Jahren Boris S die zentralisierte staatliche Filmindustrie leitete, stellt in seinem Buch mit dem programmatischen Titel Kinematografija millionov (Kinematographie für die Millionen) die Komödie explizit in den Dienst der Kultivierung dieses angeblich neuen Lebensgefühls: »In einem Land, das den Sozialismus aufbaut, wo es kein Privateigentum und keine Ausbeutung gibt, wo die dem Proletariat feindlichen Klassen liquidiert worden sind, wo die Arbeiter vereint sind durch ihre bewußte Teilnahme am Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft […] – in diesem

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Land hat die Komödie, außer der Aufgabe der Entlarvung, noch eine andere, viel wichtigere und verantwortungsvollere Aufgabe: die Schafˇ umjackij 1935: 247; fung eines frohen und munteren Schauspiels« (S vgl. Taylor 1988: 368). Lachen, heißt es bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno im Kulturindustrie-Kapitel der Dialektik der Aufklärung, »zeigt Befreiung an, sei es aus leiblicher Gefahr, sei es aus den Fängen der Logik. Das versöhnte Lachen ertönt als Echo des Entronnenseins aus der Macht, das schlechte bewältigt die Furcht, indem es zu den Instanzen überläuft, die zu fürchten sind. Es ist das Echo der Macht als unentrinnbarer« (Horkheimer/Adorno 1987: 166). Was das sowjetische Kino der 1930er Jahre propagiert, ist nun nicht das »versöhnte Lachen«, sondern das Lachen, das aus Furcht »zu den Instanzen überläuft«. Von einer solchen »erpreßten Versöhnung« . (Adorno) ist Ejzensˇtejns General’naja Linija jedoch weit entfernt. Das ˇ umjackij als die dem Sozialis»frohe und muntere Schauspiel«, das S . mus angemessene Form der Filmkomödie einfordert, ist für Ejzenˇstejn im Gegenteil nur als Satire denkbar. In einem Essay über die sowjetische Komödie schreibt er: »The time has not yet come for us to indulge in carefree laughter: socialism has not yet been built. So there is no call for light heartedness« (zit. in Horton 1993: 10). Auch General’naja Linija ist ein in hohem Grade satirischer Film, der dem Zuschauer die Schwierigkeiten der Maschinisierung und des sozialistischen Umbaus der Landwirtschaft zum Teil als »derbe[ n ] erotische[ n ] Slapstick« (Bulgakowa 1997: 93) vor Augen führt. Gegen diese ›Generallinie‹ des Films wäre das Lächeln der Marfa Lapkina demgegenüber weder affirmativ im Sinne der stalinistischen Staatskunst noch satirisch zu nennen. Dieses Lächeln, von dem man nicht genau sagen kann, wem es gilt oder wodurch es hervorgerufen wird, hat andererseits jedoch eine explizite ästhetisch und mediale Adresse. Denn nur wenig später sehen wir eine Postkarte mit der Reproduktion einer anderen M.L. Beiläufig, ja geradezu achtlos liegt zwischen Haushaltsgegenständen in einer russischen Bauernhütte eine Reproduktion des vielleicht berühmtesten Gemäldes der westli. chen Malerei: La Gioconda. Ejzensˇtejns ästhetisches wie theoretisches Interesse an Leonardo da Vinci ist bekannt. Dem Lächeln der . Mona Lisa, so suggeriert diese Mise-en-scène, stellt Ejzensˇtejn ganz bewußt das Lächeln der Marfa Lapkina gegenüber. Leonardos Mona Lisa findet sich dergestalt in eine filmische M.L. transkribiert. Gernot Böhme hat darauf hingewiesen, daß der außerordentliche Stellenwert der Mona Lisa weniger von der Darstellung einer »idealen Frauengestalt« herrühre, als vielmehr daher, daß dieses Bild eine besondere Weise des Blickens provoziere. Die Mona Lisa vermittle eine höchst eigentümliche Seherfahrung, die sich darin zeige, daß der Betrachter das Gefühl habe, nicht er blicke die Mona Lisa an, sondern diese ihn (vgl. Böhme 1999: 38). Genau hier, an dieser Akti. vierung und Adressierung des Betrachters, setzt Ejzensˇtejns filmi-

➞ [ Konterfei ]

2005-09-05 10-32-55 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 163-173) T01_12b laecheln.p 93904543046

172 | [ Wolfgang Beilenhoff ]

➞ [ Star ]

scher Epilog auf Leonardos malerischen Prolog an. Wir haben in Marfas Lächeln eine Argumentationsfigur, die nach dem Zusammenhang von Film und Malerei fragt und jene Utopie eines Gesichts und eines Lächelns sondiert, das allein der Film realisieren kann. Marfas Lächeln scheint zu sagen, daß wir hier, um Deleuze abzuwandeln, keineswegs allein ein ›Bewegungs-Lächeln‹ vor uns haben, sondern auch ein Lächeln, das in auffälligem Gegensatz zum Lächeln der Mona Lisa zugleich von geschichtlichen Zusammenhängen geprägt ist. Die Bilderkultur des 20. Jahrhunderts – auch die sowjetische – favorisierte ganz andere Gesichter: leuchtende, glamouröse, zeitentbundene Gesichter wie das der Ljubov Petrovna Orlova. Sie besaß die ideale Schönheit des transzendenten Stars, dem das Publikum allzugern nacheifert. Dagegen stellt das lächelnde Gesicht der Marfa Lapkina – erleuchtet nicht von elektrischen Scheinwerfern, sondern vom Sonnenlicht – die Schönheit des Alltäglichen aus, die Welt vor dem Film, die Welt der Geschichte, die zu reflektieren das Kino sich immer wieder erneut anschickt. Es ist ein von der Geschichte geprägtes, auf die Geschichte antwortendes Lächeln, ein Lächeln, auf das daher . auch zutrifft, was Ejzensˇtejn als Impuls seiner Autobiographie versteht: »Ich möchte aufschreiben, wie ein Durchschnittsmensch als ein ganz und gar nicht erwarteter Kontrapunkt durch eine große Zeit geht« (Eisenstein 1984b: 38). für Max

[ Wolfgang Beilenhoff ]

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2005-09-05 10-32-56 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 163-173) T01_12b laecheln.p 93904543046

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[ Make-up ]

In der Schlußsequenz von David Cronenbergs M. Butterfly (M. Butterfly, USA 1993) wohnen wir einem als Performance inszenierten Schminkakt bei. René Gallimard (Jeremy Irons), wegen Spionage inhaftierter Protagonist des Films, gibt seinen Mithäftlingen eine Vorstellung: Zu den vom Kassettenrekorder kommenden Klängen der Arie Un bel dí aus Giacomo Puccinis Madame Butterfly legt Gallimard Make-up auf, zuvor hatte er bereits sein kimonoähnliches Gewand mit einer Schärpe zusammengebunden. Er zieht sich seine Brauen nach, schminkt den Bereich um beide Augen tiefrot, das Gesicht kalkweiß und malt sich, nachdem er auch noch eine schwarze Perükke aufgesetzt hat, einen kleinen, herzförmigen, intensiv roten Mund. Während er sich vor den Augen seiner intradiegetischen Zuschauer, den ihn beobachtenden Gefangenen, und denen der extradiegetischen (Film-)Zuschauer dergestalt verwandelt, monologisiert der Performer: »I have a vision. Of the Orient. That, deep within her almond eyes, there are still women. Women willing to sacrifice themselves for the love of a man. Even a man whose love is completely without worth. […] At last, in a prison far from China I have found her. My name is René Gallimard – also known as Madame Butterfly.« Daß der Protagonist René Gallimard auf der Bühne des Gefängnisinnen-

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➞ [ Frisur ]

➞ [ Queer ]

hofes die Rolle der Butterfly nicht nur ›spielt‹, sondern zu Butterfly ›wird‹, macht das Ende seiner Aufführung eindrücklich deutlich: Gallimard stellt den Tod von Giacomo Puccinis Bühnenfigur nicht ›bloß‹ schauspielerisch nach, er schneidet sich mit dem kleinen Kosmetikspiegel, mit dessen Hilfe er sein Make-up auflegte, ›wirklich‹ die Kehle durch – und verläßt dadurch den Raum des Theatralen. Während das Theatrale dadurch gekennzeichnet ist, daß es auf der Differenz zwischen Darsteller und Rolle beharrt, stellt die Performance – neben anderen hat das Erika Fischer-Lichte (2004) herausgearbeitet – ein Ereignis dar, das in seinem Vollzug (der Aufführung also) die tradierten ästhetischen Relationen von Subjekt und Objekt, von Material und Zeichenstatus außer Kraft setzt. Die Performance zielt nicht darauf, ein ›Werk‹ hervorzubringen, sondern hebt die Trennung von Kunst und Leben auf. Performance-Zuschauer sind – anders als beim theatralischen Ereignis – nicht auf die Bedeutung des zeichenhaft in Szene Gesetzten verwiesen, sondern auf dessen ›Materialität‹ und ›Momentanität‹. Gallimard nun macht zum Inhalt dieser Performance eine Praxis performativer Weiblichkeitskonstruktion par excellence: das Make-up-Auflegen, das als wesentlicher Teil von ›Weiblichkeitsmaskeraden‹ gelten kann. Solche Maskerade-Konzepte spielen seit der bürgerlichen Moderne, deren Beginn sich für die Mitte des 18. Jahrhunderts ansetzen läßt, im literarisch und philosophisch geführten Geschlechterdiskurs eine prononcierte Rolle. Bei Jean-Jacques Rousseau wie (sehr viel später) bei Friedrich Nietzsche und Otto Weininger, aber auch bei Georg Simmel (um nur wenige zentrale Autoren zu nennen) ist nachzulesen, daß – so wird es besonders prägnant in Weiningers Geschlecht und Charakter von 1903 formuliert – Weiblichkeit und Maskerade sich insofern aufeinander bezögen, als das Weib Lüge und Fälschung sei, ganz der Immanenz verfallen, ohne Bezug zur Wahrheit. Entwickelt wird mithin ein Zuschreibungssystem, in dem ›der Mann‹ für Eigentlichkeit, Wahrheit und Transzendenz, ›die Frau‹ für Uneigentlichkeit, Lüge und Immanenz einsteht. Letztere ›maskiere‹ sich im ganz literalen Sinne des Wortes durch Schminke, durch Mode, durch (Ver–) Kleidung; sie reduziere sich mithin auf eine ›leere Hülle‹, setze auf bloßen Schein, auf Spiel und Koketterie. Die Gender Studies der 1990er Jahre rekurrierten auf dieses Konzept der Maskerade und machten es zu einem zentralen theoretischen Paradigma. Sie rekonstruierten sein gender-spezifiziertes Zuschreibungssystem und stellten den anti-essentialistischen Impetus der MaskeradeKonzeption heraus, die auf die Ebene der Repräsentation, auf den kulturellen Akt der Herstellung und Darstellung von Gender verweise. Entscheidend beeinflußt wurde der Rekurs auf die überkommene Maskerade-Konzeption durch die Wiederentdeckung eines 1929 im International Journal of Psychoanalysis veröffentlichten Aufsatzes der englischen Psychoanalytikerin Joan Riviere, der den Titel trägt: »Wo-

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manliness as a Masquerade«. In diesem Text stellt Riviere eine ihrer Patientinnen vor, die, obgleich beruflich sehr erfolgreich und im Licht der Öffentlichkeit stehend, dem Zwang unterliegt, mit Männern flirten und kokettes Verhalten an den Tag legen zu müssen (als unbewußten Versuch, den Zorn der Männer zu besänftigen, die sie durch ihre ›Phallizität‹, ihre Usurpation des Phallus, bedroht zu haben glaubte). Riviere folgert: »Weiblichkeit [ die kokette, weibchenhaftes Verhalten inszenierende Strategie ] war daher etwas, das sie vortäuschen und wie eine Maske tragen konnte, sowohl um den Besitz von Männlichkeit zu verbergen, als auch um der Vergeltung zu entgehen, die sie nach der Entdeckung erwartete […]. Der Leser mag sich nun fragen, wie ich Weiblichkeit definiere und wo ich die Grenze zwischen echter Weiblichkeit und der ›Maskerade‹ ziehe. Ich behaupte gar nicht, daß es diesen Unterschied gibt; ob natürlich oder aufgesetzt, eigentlich handelt es sich um dasselbe« (Riviere 1929/1994: 38f.). Riviere verabschiedet in ihrem Text, der Lacans Theorie des Phallus entscheidend inspirierte (wenn nicht vorwegnahm), Zentralaxiome der Freudschen Psychoanalyse, wie das von der Schicksalhaftigkeit der Anatomie, aber auch das vom ›Rätsel Weiblichkeit‹; sie sucht Weiblichkeit nicht hinter Make-up, Maske oder Verhüllung, sondern findet sie in derselben. Damit entnaturalisiert und entessentialisiert sie die Position ›Weiblichkeit‹, erklärt ›Weiblichkeit‹ zu einer Performanz, in der die Positionen von ›Natur‹ und ›Spiel‹ ununterscheidbar geworden sind. Unter anderem im Anschluß an Riviere argumentieren die Gender Studies also, daß Geschlecht nicht etwas sei, was man habe, sondern was man tue – durch performative Akte, Kleidung, Gesten – oder was man herstelle – zum Beispiel durch Make-up. Cronenbergs Film verweist selbstreflexiv auf den inszenatorischen und den performativen Aspekt von Gender – und stellt doing gender als unhintergehbare Voraussetzung der medialen Praxis aus. Gallimards ›devenir femme‹ qua Make-up und Verkleidung schließt also einerseits an performative Konzeptualisierungen von Weiblichkeit an, wie schon Simone de Beauvoir sie formuliert hat: man wird nicht als Frau geboren, sondern zur Frau gemacht (und man macht sich, nicht zuletzt im Rückgriff auf dekorative Kosmetik, ›zur Frau‹). Überdies verweist seine Performance darauf, daß es im Bereich des Theaters, der Oper, des Films keine ›natürlichen‹ Körper gibt, sondern ausschließlich Repräsentationen der Geschlechter. Sowohl Theater und Oper als auch Film sind auf die ›Maske‹, das Make-up-Department, verwiesen; allerdings sind die Mittel und Strategien, die Gesichter ›herstellen‹, auf der Bühne und im Film unterschiedliche. Während erstere auf ›gröbere‹ (auch in den letzten Reihen noch sichtbare) Schminkeffekte setzen muß, richtet der Film ›seine Gesichter‹ – möglichst ›perfekte‹ Gesichter – für die Kamera her. Von dieser in den Blick genommen werden konnte das ›makellose‹ Gesicht seit Beginn der 1920er Jahre – seit der Entwicklung einer Grundierung durch den

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180 | [ Claudia Liebrand ]

➞ [ Photogénie ]

amerikanischen Drogisten und Friseur Max Factor, »die auch bei Nahaufnahmen des Gesichts keine Risse zeigte. Was als Produkt für die Filmindustrie begonnen hatte, wurde bald zum gefragten Luxusartikel. Factor entwickelte ein ›Society-Make-up‹, elegant verpackte kosmetische Massenware, die jeder Amerikanerin versprach, so auszusehen wie die Hollywood-Stars« (Ankum 2000: 182; vgl. Peiss 1996/2003; Castelbajac 1995) – jedenfalls jeder ›weißen‹ Amerikanerin. (Die Kosmetikindustrie konzentrierte sich lange darauf, Makeups und Grundierungen für ›weiße‹ Gesichter zu entwerfen – und auch die Make-up-Departments des Hollywood-Films befaßten sich bis in die jüngste Zeit kaum mit der Entwicklung von Make-up-Knowhow für andere Hauttypen, etwa für African Americans.) Ein attraktives Äußeres, ›ansprechende Weiblichkeit‹ – diesen Glaubenssatz predigte die Kosmetikindustrie schon zu Factors Zeiten und sie predigt ihn noch heute – ist eine Frage des richtigen Make-ups. Cronenbergs Film nun läßt uns gerade nicht der Herstellung des ›perfekten‹, des ›makellosen‹ weiblichen Gesichts beiwohnen, vielmehr rekurriert in der besprochenen Schlußsequenz das filmische Medium auf ein anderes Medium – die Oper, auf die sich Gallimard in seiner Performance bezieht. Gallimard stellt in seiner Madame-Butterfly-Performance aber nicht die Schminktechniken des ›älteren‹ Mediums präzise nach. Mit dem Auflegen der Maske der Madame Butterfly zelebriert der Protagonist einen Akt öffentlich, der in der bürgerlichen Gesellschaft in der Regel ein nicht-öffentlicher ist; in Gallimards Aufführung wird die Herrichtung von Geschlecht selbst zur Performance – zu einer Performance, die alltägliche Schminkaktionen nachstellt. Das Make-up, das Gallimard aufträgt, ist allerdings noch ›unnaturalistischer‹, noch ›gröber‹, noch demonstrativer, als es die Schminkregeln für die Bühne vorgeben. Zitiert werden so zwar Madame-Butterfly-Inszenierungen, die die Titelheldin nach Vorgaben traditioneller japanischer Schminktechniken herrichten (auch Gallimard weißt sein Gesicht, malt sich einen Mund von der Größe und der Farbe einer Kirsche), die Farben sind aber so ungenau ›verstrichen‹, daß Gallimard nicht wirklich ›wie eine Japanerin‹ aussieht. Es geht in der diskutierten Szene nicht so sehr um das Nachstellen, um die Mimikry von Weiblichkeit, sondern um das parodistische, fast clownesk wirkende Ausstellen von Verrichtungen, die Weiblichkeit – in diesem Fall: japanisch markierte Weiblichkeit – generieren. Gallimards Schminkaktion setzt Zeichen, die ihren Zeichencharakter nicht verleugnen: die Performance verweist demonstrativ auf Weiblichkeitsmaskeraden, ein ›Natürlichkeitseffekt‹ stellt sich aber eben gerade nicht ein. Gallimards kosmetische Verrichtungen wollen sich nicht ›unsichtbar‹ machen; das Make-up-Auftragen will nicht qua Kunstfertigkeit den Eindruck des Ungeschminkten erzielen. Damit handelt er einer kosmetischen Grundregel zuwider, nach der die Schminke durch das

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[ Make-up ] | 181

Schminken möglichst unsichtbar gemacht werden soll: Kosmetikkonzerne werben bis heute (man denke nur an den Slogan: »Maybe she’s born with it, maybe it’s Maybelline!«) mit diesem Axiom, an das sich gerade ›anständige‹ Frauen halten (Castelbajac 1995: 7, 62ff.). Der (dezent geschminkten) ›anständigen‹ Frau entgegengestellt wurde und wird im gesellschaftlichen Diskurs über Kosmetik häufig die Prostituierte, die sich auf eine Weise herrichte, die die Schminke verrate und nicht verstecke. Gegen den ›Natürlichkeitseffekt‹ des Schminkens hat bereits im 19. Jahrhundert Charles Baudelaire polemisiert. In Der Maler des modernen Lebens schreibt er im Kapitel »Lobrede auf das Schminken«: »So darf […] das Bemalen des Gesichts nicht der gewöhnlichen, uneingestandenen Absicht dienen, die schöne Natur nachzuahmen und mit der Jugend zu wetteifern. […] Wer wollte der Kunst die unfruchtbare Aufgabe zuweisen, die Natur nachzuahmen? Die Schminke braucht sich nicht zu verstecken; es schadet nichts, wenn man sie errät. Im Gegenteil, sie darf sich, wenn auch nicht aufdringlich, so doch wenigstens mit einem gewissen Freimut darbieten« (Baudelaire 1863/1989: 250). Auf diesen »Freimut« setzt die Kosmetikindustrie allerdings allenfalls halbherzig; sie verhandelt immer auch die Aporie, daß die ›natürliche‹ Schönheit durch Make-up hervorgebracht, ›unterstrichen‹ werden soll. (Wenn Frauen sich allerdings auf diese Art und Weise verschönern müssen – so die implizite Botschaft –, kann es mit der ›natürlichen‹ Schönheit nicht so weit her sein.) Das Medium Film nun hat es nur mit Gesichtern zu tun, die – seien sie als ›natürliche‹ markiert oder auch nicht – immer durch eine aufwendige Maske präparierte sind. Gender-indifferent ist es dabei deshalb, weil die Notwendigkeit der Maske sowohl für weibliche als auch für männliche Filmschauspieler gleichermaßen außer Frage steht. Während das Auftragen dekorativer Kosmetik, etwa mit Kajaloder Lippenstift, trotz des boomenden Marktes für ›pflegende‹ Männerkosmetik in der Regel Frauen und Mädchen vorbehalten ist (bewegt man sich nicht in spezifischen Subkulturen, etwa der homosexuellen Szene, oder in kulturellen Räumen wie dem Karneval oder dem Zirkus), schminkt das Medium Film seine Frauen wie seine Männer von Beginn an – nicht als Caprice, sondern aufgrund der beleuchtungs- und aufnahmetechnischen Voraussetzungen. Schminke ist immer schon ein filmtechnisches Dispositiv. In der Stummfilmzeit mußten die Augen schwarz umrandet werden, da die Intensität der Scheinwerfer und die Lichtempfindlichkeit des Filmmaterials sonst nicht ausreichten, um die Gesichtskonturen im Studio deutlich darzustellen: Rudolfo Valentinos Glutaugen, in die sich Zuschauerinnen (und Zuschauer) der 1920er Jahre reihenweise ›verguckten‹, sind also auch ein Effekt der filmtechnischen Voraussetzungen. Wegen des orthocromatischen Filmmaterials, das vor allem gegen Rot- und Hauttöne unempfindlich war, und der verwendeten

➞ [ Casting ]

➞ [ Auge ]

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182 | [ Claudia Liebrand ]

Beleuchtung (Kohlebogenlampen) war es für die Make-up-Departments in Filmen insbesondere der 1910er und 1920er Jahre schwierig, eine ›natürlich‹ wirkende Hautfarbe zu erzielen. Man experimentierte mit grau getöntem Make-up sowie mit Licht von hinten, um ›authentische‹ Gesichtsfarben zu erzielen. Sollten Gesichter besonders blaß sein, griff man gelegentlich zu Grün: im Schwarz-Weiß-Film Frankenstein (Frankenstein, USA 1931) war das die Farbe der Wahl, um das Gesicht des von Boris Karloff gespielten Monsters besonders fahl wirken zu lassen. Make-up dient aber nicht nur der ›Herrichtung‹, der medialen ›Einrichtung‹ des Gesichts für die Kamera, und der ›Verschönerung‹ (und ist selbstverständlich nicht die einzige ›Technik‹, die gewünschte ›Verschönerung‹ zu erreichen: spätestens seit den 1950er Jahren greifen Hollywoodstars auf Schönheitsoperationen zurück, mittels derer ein perfektes Gesicht und ein perfekter Körper hergestellt werden sollen). Make-up ist auch bis heute, trotz des zunehmenden Einsatzes von computergenerierten Effekten, ein wichtiger ›Special Effect‹ – gerade was die Repräsentationen von (häufig mutierten oder mutilierten) Körpern in Cronenbergs Filmen angeht, ist die Maske von großer Bedeutung. Eine Hauptrolle spielt das Make-up – die Maske nicht nur des Gesichts, sondern des ganzen Körpers – etwa in Cronenbergs frühen Horrorfilmen (in Shivers [ Parasiten-Mörder, CAN 1975 ], auch unter den Titeln The Parasite Murders oder They Came from Within bekannt; in Rabid [ Rabid – Der brüllende Tod, CAN 1977 ]; in The Brood [ Die Brut, CAN 1979 ] oder in Scanners [ Scanners – ihre Gedanken können töten, CAN 1981 ]), aber auch in den drogeninduzierten Szenen der Verfilmung von William S. Burroughs’ Naked Lunch (Naked Lunch [ Naked Lunch – Nackter Rausch, CAN 1991 ]). In Cronenbergs erstem kommerziellen Spielfilm Shivers (zuvor arbeitete der Regisseur zehn Jahre lang als ›Underground-Filmer‹) geht es etwa um wurmartige Parasiten, die Menschen zu sexhungrigen Zombies machen, die beim Geschlechtsverkehr die Parasiten weitergeben. In Rabid wächst einer Frau nach einer Hauttransplantation ein Stachel in der Achsel, mit dem sie vampirartig ihre Opfer aussaugt. In The Brood gebiert eine Frau unter dem Einfluß einer neuartigen psychoanalytischen Behandlung (genannt psychoplasmics) mißgestaltete Babys. Und in Scanners können Telepathen nicht nur Gedanken lesen, sondern – in einer der meistgerühmten Special-Effects-Szenen der 1980er Jahre – gleich die Köpfe ihrer Opfer explodieren lassen. Das von Chris Walas und Stephen Dupuis gestaltete Make-up in Cronenbergs The Fly (Die Fliege, USA 1986), einem Remake von Kurt Neumanns gleichnamigem Film aus dem Jahr 1958, wurde sogar mit einem Oscar ausgezeichnet. Gelegentlich lassen sich Hollywoodstars fast bis zur Unkenntlichkeit schminken – etwa im Rahmen eines Cameos (wie etwa Marlene Dietrich als Zigeunerin/Wahrsagerin in Touch of Evil [ Im Zeichen des

2005-09-05 13-44-19 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93916070718|(S. 177-185) T01_13b make-up.p - Seite 182 93916070766

[ Make-up ] | 183

Bösen, USA 1958, Orson Welles ]). Nicht selten werden solche ›verhäßlichenden‹ Make-ups der schauspielerischen Leistung gutgeschrieben – und manchmal gar mit einem Adacemy Award belohnt. Ein Beispiel wäre etwa der Oscar für Charlize Therons Figurendarstellung (respektive ›Mut zur Häßlichkeit‹) in Monster (Monster, USA 2003, Patty Jenkins). Theron ließ sich für ihre Rolle in Monster nicht nur ›häßlich schminken‹, sie legte auch an Gewicht zu. Auf dieses Verfahren, das nicht nur das Gesicht, sondern den ganzen Körper der Rolle anzupassen versucht, setzen vor allem (aber nicht nur) Method Actors. So nahm Robert de Niro in der Rolle des Boxers Jake la Motta während der Dreharbeiten zu Raging Bull (Wie ein wilder Stier, USA 1980, Martin Scorsese) 60 (amerikanische) Pfund zu. Ähnliche diätetische Leistungen gelangen Tom Hanks in Cast Away (Cast Away – Verschollen, USA 2000, Robert Zemeckis) oder Renée Zellwegger für die beiden Bridget-Jones-Filme (Bridget Jones’s Diary [ Bridget Jones – Schokolade zum Frühstück, UK/F 2001, Sharon Maguire ]; Bridget Jones: The Edge of Reason [ Bridget Jones – Am Rande des Wahnsinns, UK/F/D/I/USA 2004, Beeban Kidron ]). Qua Make-up unkenntlich gemacht wurden die Darsteller in der Comic-Verfilmung Dick Tracy (Dick Tracy, USA 1990, Warren Beatty), in der beispielsweise Al Pacino und Dustin Hoffman unter ihrem Make-up kaum zu erkennen sind. Dieses ›Verstecken‹ von Gesichtern unter Make-up, wie es in Dick Tracy praktiziert wird, ist allerdings ein eher unübliches Verfahren; sollen Stars in der Regel doch schon allein aus marketingstrategischen Gründen ausgestellt und ins rechte Licht gerückt werden. Wenn Jeremy Irons in der besprochenen Schlußsequenz von Cronenbergs M. Butterfly als René Gallimard Make-up auflegt, sein Gesicht durch Übermalung unkenntlich macht und durch die Maske einer japanischen Frau ersetzt, heißt das nicht, ein ungeschminktes Gesicht würde übermalt. Irons überschminkt vielmehr ein Gesicht (das Gallimards), das bereits durch in diesem Fall unauffälliges, als solches nicht unbedingt erkennbares Film-Make-up hergerichtet ist, mit Theater-, mit Opern-Make-up. Die M. Butterfly abschließende Schmink-Sequenz verweist mithin auf die unterschiedlichen medialen Bedingungsgefüge, die auf der Bühne und im Film für die ›Aufmachung‹ von Gesichtern gelten. Zu Gallimards Performance, mit der Cronenbergs Film endet, gehört nicht nur die kosmetische Transformation in die liebeskranke japanische Butterfly. ›Abgeschlossen‹ wird Gallimards ›devenir femme‹ mit dem Suizid. Der Protagonist richtet in seiner ›Aufführung‹ seinen Körper zunächst als weiblichen her, um diesen Körper dann zu töten – und radikalisiert damit geläufige Performance-Konzepte. Anders als etwa im Wiener Aktionismus eines Hermann Nitsch präsentiert er seinen Körper nicht nur als verstümmelt und blutüberströmt, er bleibt nicht dabei stehen, sich wie Gina Pane selbst zu verletzen, er treibt die Performance bis an die Grenze des Vorstellba-

➞ [ Narbe ]

➞ [ Vorspann ] ➞ [ Star ]

2005-09-05 13-44-20 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93916070718|(S. 177-185) T01_13b make-up.p - Seite 183 93916070806

184 | [ Claudia Liebrand ]

➞ [ Konterfei ]

➞ [ Oberfläche ]

ren: der Selbsttötung während der Aufführung. Sein Suizid, der dem selbstgewählten Madame-Butterfly-Skript folgt, kann dabei auch als radikales Weiter-, als Zu-Ende-Führen des Schminkaktes gelesen werden, ist doch jeder Akt kosmetischer Zurichtung und Herrichtung – bereits Simone de Beauvoir (1949/1988: 190) hat darauf hingewiesen – auch ein Akt der Petrifikation, der Artifizialisierung und der Idolisierung: der Überführung ›lebendiger‹ Weiblichkeit in ›tote‹ ästhetische Gestalt. Elisabeth Bronfen führte in Nur über ihre Leiche (1992/1994) aus, daß Tod im abendländischen kulturellen Repräsentationssystem auf Weiblichkeit bezogen ist. Sie beschreibt die Tötung des Weiblichen, die Konstituierung der symbolischen, der kulturellen Ordnung durch den Ausschluß der (lebendigen) Frau. Schöne Frauen – so ihre These – würden getötet, um ein Kunstwerk hervorzubringen, die weibliche Leiche werde in der kulturellen Narration als Kunstwerk behandelt. In dieser Perspektive ist erst der tote Transvestit wirklich eine Frau: Gallimards ›devenir femme‹ wird erst durch den Tod endgültig vollzogen. So gesehen läßt sich die Kulturtechnik ›Schminken‹ auf den Vorgang der Bildherstellung, auf Fotografie, auf Film beziehen, denn auch diese Medien machen aus dem lebendigen Modell ein ›totes‹ Abbild. Der Prozeß der Bildproduktion hat etwas mit Überführung in unbelebte ästhetische Gestalt zu tun, er ist gekennzeichnet durch »a fundamentally temporal character inevitably implying a pastness, a past lost despite the presence of the image« (Lant 1997: 71). Insofern ist jeder Kinobesuch eine Reflexion über den Status und die Funktionsweisen von Abbildung (und eine Begegnung mit dem Tod). [ Claudia Liebrand ]

Literatur Ankum, Katharina von (2000): »Karriere – Konsum – Kosmetik. Zur

Ästhetik des weiblichen Gesichts«. In: Claudia Schmölders/Sander L. Gilman (Hg.): Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte, Köln: DuMont, S. 175-190. Baudelaire, Charles (1863/1989): »Der Maler des modernen Lebens«. In: ders.: Sämtliche Werke/Briefe in acht Bänden, hrsg. v. Friedhelm Kemp u. Claude Pichois, Bd. 5: Aufsätze zur Literatur und Kunst. 1857-1860, München/Wien: Hanser, S. 213-258. Beauvoir, Simone de (1949/1988): The Second Sex, London: Picador. Bronfen, Elisabeth (1992/1994): Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, München: Goldmann. Castelbajac, Kate De (1995): The Face of the Century. 100 Years of Makeup and Style, New York: Rizzoli.

2005-09-05 13-44-20 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93916070718|(S. 177-185) T01_13b make-up.p - Seite 184 93916071182

[ Make-up ] | 185 Fischer-Lichte, Erika (2004): Ästhetik des Performativen, Frankfurt

a.M.: Suhrkamp. Lant, Antonia (1997): »The Curse of the Pharaoh, or How Cinema

Attracted Egyptomania«. In: Matthew Bernstein/Gaylyn Studlar (Hg.): Visions of the East. Orientalism in Film, London: Tauris, S. 69-98. Peiss, Kathy (1996/2003): »Making Up, Making Over: Cosmetics, Consumer Culture, and Women’s Identity«. In: Victoria de Grazia/ Ellen Furlough (Hg.): The Sex of Things. Gender and Consumption in Historical Perspective, Berkeley: University of California Press, S. 311-336. Riviere, Joan (1929/1986): »Womanliness as a Masquerade«. In: Victor Burgin/James Donald/Cora Kaplan (Hg.): Formations of Fantasy, London: Methuen, S. 35-44; dt. Fassung: »Weiblichkeit als Maskerade«. In: Liliane Weissberg (Hg.): Weiblichkeit als Maskerade, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 34-47.

2005-09-05 13-44-20 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93916070718|(S. 177-185) T01_13b make-up.p - Seite 185 93916071342

2005-09-05 10-33-04 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 186

) T01_13c vakat.p 93904543118

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) T01_14a N.p 93904543142

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) T01_14a vakat.p 93904543166

[ Narbe ] | 189

[ Narbe ]

Zunächst sind nur zwei Männer im Streitgespräch zu sehen – ein serviler Restaurantleiter und ein hochmütiger Bourgeoiser. Dann plötzlich der Auftritt einer Frau im Raumhintergrund. Ihr schummerig beleuchteter Körper wirft harte Schatten an die Wand. Mit jedem Stück, das die Frau aus der Tiefe des Raums vordringt, kommt der Zuschauer ihrem Gesicht näher, bis es in halbseitiger Ausleuchtung leinwandfüllend ist. Die Frau hält den Kopf zur Seite und beläßt so ihre rechte Gesichtshälfte im Halbdunkel. Es handelt sich zunächst um eine Profildarstellung, die für die Geschichte der Porträtmalerei nichts Ungewöhnliches darstellt, für die filmische Großaufnahme hingegen kein übliches Binnenformat der Gesichtspräsentation ist. Die Hand eines Mannes greift nach dem Kinn der Frau und dreht ihren Kopf in die frontale Stellung zurück, so als ob die Kamera selbst nach der anderen, der versteckten Seite hin drängen würde, und legt das bis dahin Verhüllte bloß: eine große Narbe, die die abgewandte Gesichtshälfte entstellt. In George Cukors A Woman’s Face (Die Frau mit der Narbe, USA 1941; Remake von Gustaf Molanders En kvinnas ansikte, S 1939) verharrt die Kamera, anders als in der Entstehungszeit des Films normalerweise üblich, in dieser Einstellung, ohne sich von der Verun-

➞ [ Umriß ]

➞ [ Konterfei ]

2005-09-05 10-33-33 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 189-200) T01_14b narbe.p 93904543174

190 | [ Joanna Barck ]

➞ [ Exzeß ]

➞ [ Frisur ]

➞ [ Hand ]

➞ [ Xenos ]

staltung abzuwenden. Sie erinnert damit mehr an die Verfahrensweisen des Horror- oder Splattergenres, das der Verunstaltung in Großoder Detailaufnahmen explizit bedarf, um den von den Zuschauern erhofften thrill zu erzielen (vgl. Köhne/Kuschke/Meteling 2005). Mit einer solchen Aufnahme und ihrer relativen Dauer wird dem Zuschauer aber nicht nur der eigene Widerwille gegen eine solche Verletzung des Gesichts vorgespiegelt. Ganz im Gegenteil, in seiner Beharrlichkeit legt das Filmbild neben der diegetischen Funktion – des beherrschten Kalküls des Protagonisten (oder seiner Perversion) – auch etwas von der medialen Schonungslosigkeit einer Großaufnahme offen. Altbewährt und weniger kaltblütig verfährt dagegen ein Film von Billy Wilder, der weniger an der Schonungslosigkeit einer beobachtenden Kamera interessiert ist. Die Rede ist von Witness for the Prosecution (Zeugin der Anklage, USA 1957), wo die Reaktion zweier Rechtsanwälte gezeigt wird, als sie bei ihren Ermittlungen die Narbe im Gesicht einer vermeintlichen Zeugin (Marlene Dietrich) zu sehen bekommen. Anders als bei Cukor ist es hier die Frau selbst, die ihre Narbe den Blicken – der Männer, der Kamera, des Zuschauers – bereitwillig anbietet. Mit einer entschiedenen Geste der flachen Hand lüftet sie ihre Haare wie einen Schleier und löst damit einen Widerwillen bei den Betrachtern aus: Die anfängliche Lust am Schaurigen, die den Ausdruck in den Gesichtern der Männer zunächst dominierte, schlägt in Ablehnung um. Angesichts der Narbe, die so nah an ihre eigenen Gesichter herangeführt wird, kommt es zu einer ›natürlichen‹ Abwehrreaktion, einer Bewegung rückwärts, die die beiden Anwälte vollführen, so als ob sie sich vor einer möglichen Ansteckung schützen wollten. Auch die Kamera geht auf Distanz und ist offenbar mehr an der Reaktion der Rechtsanwälte interessiert als an der unmittelbaren Darstellung der Narbe, die nur kurz im Filmbild zu sehen ist. Daß die Narbe aber nicht gänzlich aus dem (diegetischen) Bewußtsein der Anwälte wie dem realen Bewußtsein der Zuschauer getilgt ist, zeigt sich an einer späteren Szene, in der allein die Handgeste, mit der die Protagonistin ihre Haare aus dem Gesicht streicht – nun ohne daß dabei eine Narbe sichtbar wird – genügt, um sie wieder imaginieren zu können. Die Narbe kehrt als das Ausgeschlossene wieder zurück und materialisiert sich im angewiderten Gesichtsausdruck der Rechtsanwälte. In beiden Filmen fungiert die Narbe als eine Dissonanz und eine Störung, in der sowohl Ekel als auch Begehren mitschwingt. Es ist der Ekel vor dem Fremden und die Lust an der zerstörerischen Fremdheit, die sich darin manifestiert. In dieser Dichotomie zweier an- und abstoßender Bewegungen entfaltet die Narbe ihre psychologische Funktion, die in der Sichtbarmachung von etwas liegt, das ich in Anlehnung an Julia Kristevas Untersuchungen in Mächte des Grauens als Abjekt bezeichnen möchte (vgl. Kristeva 1988/1990). Zu-

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sammengesetzt aus dem lateinischen abicere, »wegwerfen«, »fallenlassen«, und aus dem französischen abjection oder abject, »Abscheu«, »ekelhaft«, »niederträchtig«, bezeichnet Abjekt »ein unfaßbares Etwas, das sich gleichzeitig mit der Entwicklung des Ichs herausbildet, dessen dunkler Schatten« (Suchsland 1992: 123). Dieses Etwas ist das Fremde am Menschen selbst, das von ihm ausgeschieden und auf etwas außerhalb seiner selbst Stehendes projiziert wird. Als Abtrennung vom eigenen Selbstbild existiert dieses vermeintlich Fremde immer nur in Abhängigkeit von dieser Verdrängungsleistung. Die Narbe im Gesicht ist insofern ein Abjekt, als sie eine Fremdheit vor dem eigenen Selbst provoziert und die scheinbare Integrität des Ichs ins Wanken bringt. Obwohl selbst eine Hervorbringung des Ichs oder des eigenen Körpers, ist die Narbe für das eigene Selbstverständnis nicht akzeptabel – sie bleibt immer eine exterritoriale Erscheinung, die die imaginäre Grenze zwischen Innen und Außen markiert. Anders als Wunden, die den gewaltsamen Akt des Eindringens hervorheben, ist der Narbe eine Dialektik eigen, die zwischen Versöhnung und Entfremdung changiert. Die Narbe verweist auf einen vorangegangenen körperlichen Akt der Gewalt oder Selbstzerstörung, womit sie zugleich ein Davor und ein Danach anzeigt. Dazwischen liegt das Ereignis als ein Ein-Schnitt. Mit der Narbe wird die Unversehrtheit einer Fläche demontiert, die für Schönheit und Normalität gleichermaßen einsteht, indem die Möglichkeit einer totalen Identitäts(zer)störung vor Augen geführt wird. An der Stelle, an der die Narbe steht, hat zuvor etwas stattgefunden, das gegen den Träger des Gesichts als auch gegen das Gesicht selbst in seiner symbolischen Funktion gerichtet war. So ist die Narbe eine Brandmarkung, in der sich die Gewalt eines Angriffs auf die Individualität und Identität eingeschrieben hat. Als eine solche Einschreibung zeugt die Narbe unauslöschbar von einer fremden Handschrift, durch die sich das Andere in den eigenen Körper eingetragen hat. Und dies geschieht hier nicht an irgendeiner beliebigen Körperstelle, sondern betrifft den exponiertesten Ort des Humanen. Denn das Gesicht ist vor allem ein kulturell und psychologisch determinierter Ort, an dem der Mensch gleichzeitig bei sich und außer sich ist, womit die von Helmut Plessner beschriebene »exzentrische Position« des Menschen noch einmal am Menschen selbst sichtbar wird (vgl. Plessner 1928/1975). Durch das Gesicht definiert der Mensch sich nach außen als Persona, als ein spezifisches Individuum in der Gesellschaft, das unverwechselbar und mit Anspruch auf Einmaligkeit ausgestattet ist. So wie das Individuum mit dem Blick auf sein Spiegelbild sich seiner selbst vergewissert, so ist das Gesicht ein Grenzbereich des Körpers, an dem sowohl das Außen – die Blicke der anderen – als auch das Innen, die Psyche des Menschen, sein emotionales wie geistiges Innenleben kulminieren. Im Gesicht liegt sowohl das verbale als auch das nonverbale, das mimische Zentrum

➞ [ Oberfläche ]

➞ [ Yentl ]

➞ [ Blick ]

2005-09-05 10-33-34 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 189-200) T01_14b narbe.p 93904543174

192 | [ Joanna Barck ]

➞ [ Double ]

der Kommunikation, bei dem der empfangene wie auch der ausgesendete Blick eine besondere Rolle spielt. Die Narbe hingegen verschiebt die normierenden Parameter der visuellen Kommunikation, indem sie die Aufmerksamkeit absorbiert, das heißt, sie vom Gesicht abzieht. Ein auf diese Weise ›überzeichnetes‹ Gesicht existiert nur vermittels der Narbe, wie man am Beispiel von Marlene Dietrich als Zeugin in Witness for the Prosecution oder Joan Crawford als Anna Holm in A Woman’s Face nachvollziehen kann. Die einmal gesehene Narbe okkupiert das Gesicht wie ein Territorium, das sich von diesem Moment an primär durch die Narbe artikulieren muß. Wie stark die Okkupation und die damit einhergehende Austilgung des Gesichts in seiner gesellschaftlichen Funktion gehen kann, thematisieren Filme wie Vanilla Sky (Vanilla Sky, USA 2001, Cameron Crowe; ein Remake von Abre los ojos, E/F/I 1997, Alejandro Amenábar), Les yeux sans visage (Augen ohne Gesicht, F/I 1960, Georges Franju) oder Tanin no kao (Das Gesicht des Fremden, J 1966, Hiroshi Teshigahara), in denen die durch Auto- oder Arbeitsunfälle vernarbten Gesichter hinter einer möglichst natürlich wirkenden Maske verschwinden sollen, um auf diese Weise eine faciale Kommunikation wieder zu ermöglichen. In diesen Filmen liegt das Problem der Protagonisten nur sekundär in der zerstörten Schönheit des jeweiligen Gesichts – primär handelt es sich hier um den Versuch, die Einheit des Gesichts wiederzuerlangen, die ein ausbalanciertes Verhältnis zwischen der Gesellschaft und dem Individuum verspricht. Das Gesicht kann für diese Kommunikation nur dann einstehen, wenn es als ein in sich geschlossenes Ganzes, und genauer: als ein individuelles Ganzes funktioniert, das das Individuum erst konstituiert. Vanilla Sky und mehr noch Abre los ojos entlarven das Gesicht als das kulturelle Leitbild einer unversehrten Oberfläche, indem sie das Wechselverhältnis von Maske, Gesicht und Narbe exponieren. Doch ist nicht nur die Vorstellung von einer Ursprünglichkeit des Gesichts als unversehrte Fläche trügerisch, sondern gleicherweise die gegenteilige Annahme, der Mensch sei mehr als eine Gesichtsoberfläche. Dort wo Gesichter hinter Bandagen und Narben verschwinden, wie in Les yeux sans visage und Tanin no kao, ist bezeichnenderweise der gesamte Mensch in Frage gestellt. Die Antwort auf das Phantasma der facialen Einheit liefert die plastische Gesichtschirurgie: In Les yeux sans visage wartet die junge Frau auf eine Hauttransplantation, damit ihr durch Narben verunstaltetes Gesicht sich gleichsam wieder zu einer (schönen) Einheit mit der psychischen Seite zusammenschließen kann – der Protagonist in Tanin no kao sucht hingegen gleich ein fremdes Gesicht, das ihm ein neues ›Zuhause‹ und eine neue Identität liefern soll. All diese Filmbeispiele führen das verunstaltete Gesicht als nicht akzeptabel vor Augen – mehr noch: das narbige Gesicht ist allen Protagonisten fremd. Bezeichnenderweise verzichtet keiner der Filme auf Spiegelsze-

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[ Narbe ] | 193

nen, in denen ein Befremden gegenüber dem eigenen Gesicht thematisiert wird. Vordergründig ist die Angst vor dem Blick auf das eigene Spiegelbild durch die Verdrängung der Situation motiviert, die zu der Verunstaltung des Gesichts geführt hat. Die tiefere Dimension der Angst liegt in der ›Fremd-Begegnung‹ im eigenen Antlitz, denn das vernarbte Gesicht wird als etwas empfunden, das sich anstelle des vermeintlich wahren Gesichts gesetzt hat. Vanilla Sky und Les yeux sans visage sind Beispiele für eine deutliche Spaltung zwischen dem äußeren Erscheinungsbild und der inneren Befindlichkeit der Protagonisten. In Witness for the Prosecution scheint die Narbe in einem Wechselverhältnis zu der Liederlichkeit der Heldin zu stehen: ihre Verderbtheit ist entweder ein Ergebnis der Narbe oder umgekehrt: die Narbe ist der Effekt der Verderbtheit. Das gleiche Verhältnis läßt sich auch in A Woman’s Face ausmachen. Warum ruft die Narbe, die der Staranwalt Sir Wilfrid Robarts (Charles Laughton) in Witness for the Prosecution im Gesicht der falschen Zeugin erblickt, zwei so differente Gefühle wie das der Anziehung und des Ekels gleichermaßen hervor? Sein Ekel gilt offenbar dem Häßlichen, das die Narbe in einem weiblichen Gesicht bedeutet, denn das Gesicht der Frau – zumal eines Filmstars wie Marlene Dietrich – hat zuallererst schön zu sein. Die Neugierde, etwas zu sehen, was diese Frau bisher im Verborgenen gehalten hat, läßt den Anwalt ganz nah an ihr Gesicht heranrücken. So dicht davor wird er angesichts dieser Enthüllung von Ekel ergriffen, der ihn unmittelbar packt, denn das Häßliche scheint selbst aufdringlich zurückzustarren (vgl. Lacan 1964/1987: 97-111). Es ist die Präsenz der Narbe, die zum Zurückblicken befähigt. Für das schnelle Wechselbad der Gefühle ist also die Idee eines schönen Antlitzes verantwortlich, das durch einen Angriff und die darauffolgende Einschreibung des Fremden verunstaltet wird. In Filmen wie A Woman’s Face und Witness for the Prosecution sind es bezeichnenderweise Frauen, die durch eine Narbe gekennzeichnet sind, ja buchstäblich eine Narbe tragen. Meine Filmauswahl ist in diesem Punkt nicht zufällig, sondern reagiert auf die Beobachtung, daß Narben im Gesicht ansonsten ein gewisses Privileg der männlichen Filmrollen darstellen. Von hier aus betrachtet, erfüllen die (wenigen und seltenen) Narben in weiblichen Filmgesichtern eine besondere Funktion. An erster Stelle fällt auf, daß narbige Gesichter von männlichen Akteuren durchaus keine Seltenheit darstellen. Sie sind uns aus Western, Action- und Gangster-Filmen bekannt, wie sie beispielsweise in den vielen als »Scarface« betitelten Filmen zum Einsatz kommen (z.B. Scarface, Narbengesicht, USA 1932; Young Scarface, Finstere Gassen, UK 1947, John Boulting; Captain Scarface, USA 1953, Paul Guilfoyle; Scarface, Toni – Das Narbengesicht, USA 1983, Brian De Palma). Mit der Interpretation dieser narbigen Gesichter hat der Zuschauer gewöhnlich kein Problem, denn im allgemeinen führt die Narbe zu einer

➞ [ Widescreen ]

2005-09-05 10-33-34 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 189-200) T01_14b narbe.p 93904543174

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besonderen Kennzeichnung der Hauptfigur; sie steigert deren Männlichkeit und formt somit den äußeren Ausdruck ihres Charakters. Damit ist sie, auch wenn die Figur selbst einen bad guy verkörpert, im wesentlichen positiv konnotiert. Anders verhält es sich hingegen mit der ›schönen Häßlichkeit‹, wenn sie im weiblichen Gesicht vorkommt, denn der Frau bleibt der positive Nebeneffekt einer solchen Narbe gänzlich verwehrt. Verweist die Narbe beim Mann häufig auf eine Auseinandersetzung, in der er sich als Subjekt der Handlung bewiesen hat, wirkt sie bei der Frau wie eine Brandmarkung (Witness for the Prosecution) oder ein Spiegelbild der seelischen Disposition (A Woman’s Face). Der Charakter der Frau soll hier ganz und gar dem vernarbten Gesicht entsprechen: Er wird als durch und durch schlecht und damit genauso häßlich wie die Narbe selbst inszeniert. Aber was wäre eine solche filmische Exponierung der gestörten Einheit des Gesichts – zumal bei Stars wie Joan Crawford, Marlene Dietrich oder Ingrid Bergman (im Originalfilm zum Remake A Woman’s Face) –, wenn es nicht gleichzeitig eine andere, der Narbe komplementäre Seite gäbe? Diese Seite ist die Schönheit selbst. Sosehr diese Polarisierung wie ein Gemeinplatz anmutet, so wenig handelt es sich hierbei um ein echtes Differentialverhältnis zweier voneinander getrennten Pole. Denn das Häßliche ist nicht die Folge fehlender oder fehlerhafter Schönheit, sondern muß vielmehr als deren Ursprung betrachtet werden: »Nicht ist Schönheit der platonisch reine Beginn, sondern geworden in der Absage an das einst Gefürchtete, das erst retrospektiv, von seinem Telos aus, mit jener Absage zum Häßlichen wird, gleichsam entspringt«, so Adorno in der Ästhetischen Theorie (Adorno 1989: 77). Interessant im Kontext des Films ist seine Ausführung, der zufolge »die Vieldeutigkeit des Häßlichen daher [ stammt ], daß das Subjekt unter seiner abstrakten und formalen Kategorie alles subsumiert, worüber in der Kunst sein Verdikt erging, das sexuell Polymorphe ebenso wie das von Gewalt Verunstaltete und Tödliche« (ebd.). Häßlich wirkt die Narbe im Gesicht von Anna Holm in A Woman’s Face nicht nur im Vergleich zu den sie umgebenden, im konventionellen Sinne schönen Frauen – sie ist vor allem häßlich, weil ihr unmittelbar eine schöne Seite desselben Gesichts beigegeben ist, die sie scheinbar spaltet. Der Bruch oder die damit zum Ausdruck gebrachte Dualität charakterisiert die gesamte filmische Person. Auf der diegetischen Ebene wird sie durch den Widerspruch charakterisiert, der zwischen ihrem Bestreben, der Öffentlichkeit nur ihre vorteilhafte, heile Gesichtshälfte zu zeigen, und ihrer kalten und berechnenden Handlungen (Erpressungen) besteht. Annas Narbe erinnert an die doppelte Gewalt, die ihr angetan worden ist: zunächst durch das Feuer, das ihr betrunkener Vater entfachte, und später durch die Menschen, die sie wegen ihrer Verunstaltung aus der Gemeinschaft

2005-09-05 10-33-35 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 189-200) T01_14b narbe.p 93904543174

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ausgestoßen haben. Als Einschreibung des Fremden übt die Narbe gleichwohl auch eine tiefenpsychologische Wirkung aus, so daß Anna als Anführerin einer Erpresserbande sich eine häßliche Seele aneignen muß, um so den Riß zu kitten, der durch ihr Gesicht geht. Die Einheit soll wenigstens ex negativo hergestellt werden. Hierin bleibt die Hollywoodproduktion ganz dem vormodernen Physiognomiediskurs verhaftet, in dem das Verhältnis von Innen und Außen am Gesicht als lesbar postuliert wurde. So folgen Häßlichkeit, Verletzung und schließlich Vernarbung in ihrer filmischen Inszenierung der Vorstellung vom Gesicht als einer adäquaten Spiegelfläche innerer Zustände. Auch wenn in A Woman’s Face der Versuch unternommen wird, Annas gute Seite hervorzuheben, und das gegen die Annahme, die häßliche Narbe sei der Ausdruck ihrer dunklen Seele, so ist dies doch nur ein halbherziger Versuch. Denn Annas Anlagen zum guten Menschen sind nicht ungeachtet der Narbe, sondern trotz der Narbe vorhanden; sie werden gewissermaßen von ihrer schönen, ›guten‹ Gesichtshälfte gespeist. Die Narbe im Sinne einer schöpferischen Dissonanz zu begreifen, würde bedeuten, die Dichotomie von Gut und Böse in ihren vermeintlich natürlichen Grenzen aufzuheben. Eine solche Betrachtungsweise – erst recht, wenn sie ein schönes Stargesicht betrifft – ist dem klassischen Hollywoodfilm nicht möglich, insofern seine Ästhetik auf einer konventionellen Vorstellung von Schönheit basiert. Schöpferische Dissonanz, wie Adorno sie in der Narbe oder in den Wundmalen sieht, ermöglicht jedoch, das Besondere selbst noch im Normierten wahrzunehmen. Die Schönheit einer Landschaft, oder die der Naturphänomene (die Naturschönheit) allgemein, gründet zunächst auf der Ausgrenzung der Störung als dem Häßlichen. Dabei ist es, wie Adorno darlegt, gerade die Störung – eine dampfende Lokomotive oder eine Eisenbahnbrücke in einer lieblichen Landschaft (wie so häufig bei den Impressionisten) –, die die Schönheit im Verständnis der Moderne erst hervorbringt: »Die Schocks der Farbenkombination, die sich heute noch mit der ganzen Kraft ihres Zum ersten Male fühlen lassen, drücken den Schock aus, der um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts von den Gesichtern der Kokotten ausgehen mußte, die Manets Modelle waren: daß Schönheit bestehen kann in der paradoxen Einheit des Unzerstörten und des Zerstörenden« (Adorno 1967: 45; vgl. auch Baudelaire 1857/1997 als Theoretiker und Verfechter der häßlichen Schönheit z.B. in Les Fleurs du Mal). Die Schneise durch die Landschaft und die Narbe, die die Industrie darin hinterläßt, sind dauerhafte Einschreibungen in das ästhetische Bewußtsein des modernen Betrachters. Was zuerst als Wunde geschlagen worden ist, entwickelt seine konstruktive Fähigkeit, indem es extrapoliert, ohne zu versöhnen. Damit ist der Einschnitt in

➞ [ Grimasse ]

➞ [ Jedermann ]

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196 | [ Joanna Barck ]

➞ [ Star ]

➞ [ Photogénie ]

die normative Sicht gemeint, der Schock also, mit dem das Schöne hervorgebracht wird, dann nämlich, wenn »die grauen Dinge ihre bunten Schatten haben« (Adorno 1967: 43). Die Schönheit, die aus der Störung hervorgegangen ist, ist keine wohlgefällige mehr, sondern eine temporäre, wie sie beispielsweise in den Porträts von Pablo Picasso sichtbar wird, das heißt eine Schönheit vor und nach der Narbe. Eine negative Ästhetik, die dem Einbruch des Häßlichen in das Bild zu einer Aufklärung über das Wesen der Schönheit verhilft, ist aber nicht möglich in einem Kino, das bestrebt ist, in der Schönheit des Gesichts den moralischen ›Urzustand‹ auszustellen, dem zufolge nur das, was schön ist, auch gut sein kann. Es ist sicherlich kein Zufall, daß es gerade die besonders attraktiven Schauspielerinnen und Schauspieler sind – Crawford, Bergman, Cruise, Dietrich –, deren Gesichter mit verunstaltenden Narben versehen wurden, denn um wieviel mehr erscheint dem Zuschauer gerade das in Schönheit verehrte Stargesicht als das ursprüngliche, das er im Film wiederhergestellt sehen will. Daß der filmische Kampf gegen das Häßliche, gegen die Narbe, nicht an der ›Wurzel des Übels‹ ausgefochten wird – denn schließlich interessiert sich in A Woman’s Face niemand dafür, warum Anna böse geworden ist –, verwundert wenig, wenn man bedenkt, daß die filmischen Gesichter ungeachtet ihrer jeweiligen narrativen Funktionen bereits als mediale Oberflächen fungieren. Darin sind das Gesicht und das Filmbild gleichermaßen Leinwände für Projektionswünsche. Was zur Folge hat, daß das Häßliche schließlich aus dem Filmbild und insbesondere aus dem Gesicht verbannt werden muß, um die glatte Projektionsfläche des Mediums wieder herzustellen. Die Störung wird eliminiert, damit der Zuschauer aufs neue seine Subjektivität darin einschreiben kann. In diesem Sinne ist die Narbe in Annas Gesicht eine (Erinnerungs-)Spur, die von der Gefahr, von dem Fremden und möglicherweise auch von dem Bösen spricht, und mit ihrer dauerhaften Anwesenheit die ›Moral‹ des Films selbst befallen kann. Gegen die Gewalt des Häßlichen läßt sich am besten mit Gegengewalt reagieren: Im Fall von A Woman’s Face kommt dafür nur eine Schönheitsoperation in Frage. Nur sie kann offenbar den tiefen Riß, der durch das Gesicht der Protagonistin geht, annullieren, um der restriktiven Vorstellung von Schönheit, die von ihrem Ursprungsort im Häßlichen nichts zu wissen vermag, zu entsprechen. Nach der Operation erstrahlt Annas Gesicht in einer wunderbaren Glätte – es ist die mediale Oberfläche, die endlich von der Narbe als einer visuellen Störung befreit worden ist. Keine Schatten verstellen mehr den Blick des Zuschauers auf die wiederhergestellte Schönheit, und an die Stelle der Dunkelheit, die bisher symbolträchtig die eine Gesichtshälfte okkupierte, tritt nun die totale Ausleuchtung des Gesichts. Anna ist von nun an in ein weiches Licht getaucht, das ihr schönes Antlitz zum Leuchten bringen soll. Auf der Ebene der filmischen Inszenierung

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betrachtet, verläuft dieser Prozeß allerdings in genau entgegengesetzter Richtung: hier wird die Narbe auf das Gesicht der Schauspielerin appliziert – das ›ursprünglich‹ glatte Gesicht wird erst durch Schminke ›verunstaltet‹. Witness for the Prosecution deutet diesen Produktionsprozeß immerhin an, wenn die Narbe, die das Gesicht von Christine Vole alias Marlene Dietrich entstellt, sich als eine geschminkte ›Attrappe‹ entpuppt, ein fake also, um den Rechtsanwalt auf eine falsche Fährte zu führen. Auch hier verschwindet die Narbe plötzlich, um das schöne Gesicht der Schauspielerin offenzulegen. Zwar spaltet die Narbe nicht das Gesicht der obskuren Protagonistin, wie es noch in A Woman’s Face der Fall war, sondern verweist statt dessen auf eine Duplizierung der Person. War die schöne Mrs. Vole eine böse, da eine nicht liebende Ehefrau des Angeklagten, so ist wiederum die häßliche Mrs. Vole, die sich mit Hilfe der Narbe als ›Zeugin‹ verkleidet hat, eine überaus liebende und dadurch ›gute‹ Ehefrau, da sie durch diesen Betrug ihren Ehemann zu entlasten versucht hat. Erst als die schöne/ böse Mrs. Vole die Handgeste wiederholt, mit der sie als ›Zeugin‹ dem Anwalt die fingierte Narbe hinter der Frisur offengelegt hat, schreibt sich die abwesende Narbe symbolisch in das schöne Gesicht der Ehefrau ein. In diesem Moment erst fallen beide Personen in eine zusammen. Genauer betrachtet müßte man hier von drei Personen sprechen, denn in dem makellosen Gesicht von Mrs. Vole ist auch der attraktive Filmstar Marlene Dietrich zu sehen, den der Zuschauer am Ende des Films als filmische Ikone der Schönheit wiederhergestellt sehen will. Mit dem Abschminken oder Wegoperieren der Narbe ändert sich zwar das Gesicht in seinem äußeren Erscheinungsbild, aber das ausgeschlossene Häßliche ist damit offenbar noch nicht überwunden. Ganz im Gegenteil, so scheint es, wächst die Gefahr der Täuschung, wie der Schönheitschirurg in A Woman’s Face konstatiert, denn er muß befürchten, mit der operierten Anna Holm ein Monster geschaffen zu haben. Monströs an der von ihm neu erschaffenen Frau ist demnach die Diskrepanz zwischen ihrer blendenden Oberfläche und der ›tiefschwarzen‹ Seele, die ihr böses Werk dank dem ›engelhaften‹ Äußeren um so besser verrichten kann. Die Narbe wirkt hier noch nach, oder anders ausgedrückt: sie ist von der Oberfläche ins Innere, gewissermaßen in die Tiefen der Seele abgesunken. Konsequenterweise hätte der Film die Schönheit als eine bloße Fassade entlarven müssen – doch dieser Ansatz ist nicht weiter verfolgt worden. Von der operativen Veränderung her betrachtet, eröffnet sich nämlich, jenseits der propagierten Entsprechung von Innerlichkeit und Äußerlichkeit, eine andere Deutungsperspektive. Annas Erscheinungsbild, das ursprünglich durch die häßliche Narbe gebrandmarkt war, entsprach in diesem Zustand noch gänzlich ihrem bösen Cha-

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➞ [ Ikone ]

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➞ [ Zensur ]

rakter. Jetzt, da ihr Äußeres schön geworden ist, bleibt Anna dennoch grundsätzlich schlecht. Wiederum handelt es sich hier um eine Aufspaltung, parallel zur ursprünglichen Teilung des Gesichts in eine häßliche und eine schöne Seite. Die Narbe hat sich offenbar nach innen verlagert, ihr Ausschluß kann nur dann gelingen, wenn jene Spaltung auch im Innern endgültig überschrieben ist. Auf der Handlungsebene bietet der Film hierfür einige Ansätze. Zunächst ist da Annas Versuch, ihren Namen zu ändern, um damit der anderen, der schönen Person in ihr zum vollkommenen Durchbruch zu verhelfen. Anna wird Ingrid Paulson und vollzieht damit eine der Gesichtsoperation durchaus adäquate Handlung: sie tauft sich neu. Betrachtet man sowohl die Schönheitsoperation als auch das Abschminken der aufgemalten Narbe in Witness for the Prosecution ungeachtet der filmischen Diegese, so begegnet man einer weiteren, sowohl der Psychologie als auch der Filmwissenschaft bekannten Figur, nämlich der Naht bzw. Suture (wörtlich »Nähung«, »Vernähung«). Der Begriff geht auf Jacques Lacan zurück und bezeichnet hier das Verhältnis zwischen der Struktur eines Signifikanten und dem Subjekt des Signifikanten (vgl. Miller 1966: 37-49). Was damit gemeint ist, macht Slavoj Zˇizˇek in Die Furcht vor echten Tränen am Beispiel innergesellschaftlicher Unterschiede anschaulich (vgl. Zˇizˇek 2001: 11ff.): Demnach besteht die Hegemonie einer Gesellschaft wesentlich in der Ausschließung ihrer als nicht dazugehörig erkannten Teile, der »Nicht-Gesellschaft«, die als Bedrohung der Hegemonie verstanden wird. Eine solche Verbannung vollzieht sich mittels einer Grenzziehung, die jedoch notwendig die geschaffene Differenz abbilden muß. Auf diese Weise wird die Absenz dieser »Nicht-Gesellschaft« in die Gesellschaft wieder eingeschrieben: »›Naht‹ bezeichnet nun den Punkt, an dem die Einschreibung erfolgt« (ebd.: 11). Damit hat die ›Naht‹ die Funktion, das Abwesende mit dem Anwesenden zu vernähen und damit die Differenz bzw. die Lücke wieder zu schließen oder zu verdrängen. Die Filmtheorie hat – hier voran Jean-Pierre Oudart (1969), Stephen Heath (1977-78), Daniel Dayan (1992) und Kaja Silverman (1992) –, die ›Naht‹ in den Zusammenhang zweier komplementärer Einstellungen gestellt. Der Zuschauer sieht zunächst eine Aufnahme, die ihn im besten Fall fesselt – es ist, nehmen wir an, die beschriebene Aufnahme des vernarbten Gesichts von Anna Holm in A Woman’s Face. Er glaubt, eine ›objektive‹ Sicht auf das Gesicht dieser Frau zu haben. Die darauffolgende Einstellung zeigt ihm einen männlichen Protagonisten. Das heißt, in der Wahrnehmung entsteht eine Lücke zwischen den beiden nicht homologen Filmeinstellungen, die mit Hilfe der ›Naht‹ geschlossen wird: Es wird angenommen, daß das erste Filmbild – das Gesicht der Frau – die subjektive Sicht des Mannes darstellt. Die Besonderheit der ›Naht‹ liegt dabei in der Verlagerung der äußeren Differenz zwischen den Bildern auf die Innenseite,

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wie Zˇizˇek es formuliert. Ausgeschlossen – oder eben ›vernäht‹ – werden soll die Tatsache, daß die erste Einstellung kein Subjekt (keinen Signifikanten) ihrer Entstehung hat, denn man könnte durchaus die Frage stellen, wer dieses Bild der Frau ›produziert‹, ohne zwangsläufig auf den Mann als einzige Antwort zu kommen. Denn es wäre ja durchaus möglich, die Aufnahme selbst als Subjekt der visuellen Kommunikation zu betrachten. Eine solche Erfahrung der Subjektverschiebung – nicht ich schaue das Bild an, sondern werde von dem Bild angeschaut – hat vermutlich jeder Zuschauer schon einmal gemacht, etwa bei Großaufnahmen, die ihn selbst ganz gezielt zum Objekt der Betrachtung machen. Hier verläuft die ›Naht‹, wenn man so will, nicht mehr zwischen zwei Filmeinstellungen, sondern zwischen mir als Zuschauer und dem Filmbild selbst. Eine solche ›Naht‹ wird treffend von der Narbe in den Gesichtern beider Protagonistinnen von A Woman’s Face und Witness for the Prosecution symbolisiert. In diesem Sinne wäre die Narbe buchstäblich als eine ›Naht‹ zu betrachten, die sich im Bild konstituiert und hier das Abwesende mit dem Anwesenden zusammenbindet. Auf der Ebene der Diegese markiert die Narbe die Differenz zwischen dem Schönen und dem Häßlichen, zwischen dem Guten und dem Bösen, zwischen Wahrheit und Lüge, die das Gesicht verkörpert. Die Naht/Narbe kann das Andere, das sich in der jeweiligen Person eingenistet hat, nur in der Utopie einer Operation oder durch Schminke auslöschen. Die symbolische Größe der Narbe als Störung ist durch beide um so deutlicher hervorgehoben, denn erst die gestörte Subjektivität macht das Subjekt sichtbar (vgl. Deleuze 1988/1996; Zˇizˇek 2001: 36). [ Joanna Barck ]

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In: Gerald Mast u.a. (Hg.): Film Theory and Criticism, Oxford: Oxford University Press, S. 179-191 Deleuze, Gilles (1988/1996): Die Falte. Leibnitz und der Barock, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Heath, Stephen (1977-78): »Notes on Suture«. In: Screen 18/4 (1977-78), S. 48-76.

2005-09-05 10-33-37 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 189-200) T01_14b narbe.p 93904543174

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Movies. Essays zum modernen Horrorfilm, Berlin: Bertz + Fischer. Kristeva, Julia (1988): Mächte des Grauens. Ein Versuch über den

Abscheu (Ästhetica), Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Kristeva, Julia (1988/1990): Fremde sind wir uns selbst, Frankfurt

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) T01_15a O.p 93904543182

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) T01_15a vakat.p 93904543190

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[ Oberfläche ]

Ein Tatort: Batou, der Cyborg-Ermittler mit den blicklos mechanischen Augen, nähert sich einer verdächtigen Figur an einer Wand. Es handelt sich um eine junge Frau mit einem sehr weißen, sehr starren Gesicht, sie ist mit einem vorne nicht ganz geschlossenen Kimono bekleidet. Er zielt mit der Waffe auf sie, sie bleibt stumm. In einer Einstellung von der Seite ist zu beobachten, wie ihr Kopf in ein konvulsivisches Rütteln gerät, gleich darauf eine Großaufnahme ihres Gesichts, ihr Kopf ist unnatürlich weit zur Seite geneigt, ihr Körper scheint für einen Moment zu schweben. Darauf der subjektive Blick Batous, frontal auf die Frau. Sie greift sich mit beiden Händen ans Brustbein, als wolle sie sich selbst die Haut abziehen. Im nächsten Moment reißt sie sich tatsächlich die Haut zu beiden Seiten weg. Darauf geht ihr Torso in Fetzen, Einzelteile springen aus dem Körper. Eine Großaufnahme ihres Gesichts, puppenhaft, weiß, starr. Im nächsten Moment defiguriert sich dieses Gesicht. Das mechanische Innere ist freigelegt: künstliche Augen, das aufgerissene Gebiß, Einzelteile aus Metall. Dann eine Explosion, ein Lichtblitz, Schwarzblende. Es beginnt die Titelsequenz von Kôkaku Kidôtai 2: Inosensu (Ghost in the Shell 2: Innocence, J 2003) von Mamoru Oshî. Nichts, sollte man meinen, interessiert am Anime weniger als die

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➞ [ Träne ]

Gesichter der Figuren. So sehr, nicht zuletzt durch den Einsatz von Computern zur Animation oder zur Berechnung der Bewegungsübergänge, die Hintergründe immer detaillierter und überwältigender ausgearbeitet werden können – man denke an Rintaros Metoroporisu (Robotic Angel, J 2001) oder Mamoru Oshîs Kôkaku Kidôtai 2 -, so sehr bleibt zugleich die Zeichnung der Figuren und ihrer Gesichter nach wie vor stereotyp. Vergleicht man etwa die stilbildenden Anime-Produktionen der 1960er und 1970er Jahre – zum Beispiel die für den Westen entstandene Serie Heidi nach den Romanen von Johanna Spyri –, mit Serien und Filmen der 1990er Jahre, wird man Kontinuitäten vor allem in der Zeichnung der Körper und der Gesichter entdecken. Der Grundzug der Darstellung ist einer der Verallgemeinerung, die so stark ist, daß die Gesichter ethnisch nicht mehr zugeordnet werden können: die großen, runden Augen, der modellierbare Mund – die Typisierung ist erkennbar auch und gerade in den Verfahren der Individualisierung. Denn unterscheidbar sind die Figuren in ihren Gesichtern an wenigen, deutlichen Merkmalen. Sie erscheinen in ihrer Expressivität außerordentlich eingeschränkt, reduziert auf eine basale Lexik der Ausdrücke: das Schwimmen des Auges, die Träne; der grimmig entschlossen verzogene Mund, das Zittern vor einem Ausbruch der Wut, der Trauer; das Staunen, das Lachen in ihren sofort entzifferbaren, immer diskreten Formen – ein Lexikon der Ausdrucksformen im animierten Gesicht ließe sich rasch erstellen. Die Typisierung sorgt für eindeutige und unproblematische Lesbarkeit der Gesichter. In einer Welt der diskreten Zustände ist auch der Übergang zwischen belebt und unbelebt nicht kontinuierlich, sondern abrupt. Wie die Welt als Hintergrund des Bildes kennt das Gesicht einen unbewegten Grundzustand. In diesen Momenten liegt es tendenziell in der Fläche des graphischen Bildes – und ist eher eine Leerstelle als ein Attraktionspunkt. Ruckartig kommt es dann zur Belebung der Figur, Animation wird im Umschlag von belebt zu unbelebt sichtbar als immer künstliche Belebung eines eigentümlich Unbelebten. Das gilt für die Veränderung der Gesichtszüge, das Aufreißen von Auge oder Mund, das Hochziehen der Augenbrauen, aber auch für die Bewegung (des Bildes, des Körpers) allgemein. Hierin liegt eine entscheidende Differenz zwischen Manga und Anime. Während sich im Manga (und im Comic allgemein) die Bewegungsillusion durch die Phantasietätigkeit, deren Platzhalter (und zugleich Allegorie) der PanelZwischenraum ist, einstellt, wird sie im bewegten Bildmedium Film (Anime) im Sprung vom Unbewegten zum Bewegten im Bild als Anstrengung der Belebung lesbar. Die Differenz zwischen (asiatischem) Manga und (westlichem) Comic liegt traditionell in der unterschiedlichen Aufteilung der Bewegung auf mehrere Panels. Sehr vereinfachend gesagt, teilt vor allem der Action-Manga den Ablauf der Bewegung in sehr viel näher beieinanderliegende Schritte auf und nähert

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sich so im unbewegten Medium über – bildlich gesprochen – kleinere Panel-Zwischenräume hinweg einem kontinuierlichen Bewegungsablauf, den erst der Film als Medium bewegter Bilder erreichen kann. So wird der durchschnittliche Manga, der zumeist nur wenig und dann vor allem lautmalenden Text aufweist, auch sehr viel schneller und buchstäblich flüssiger gelesen als der durchschnittliche Comic. Umgekehrt läßt sich sagen, daß der amerikanische Zeichentrickstil sehr viel mehr auf Dynamik, flüssige Mimik und Detailbewegtheit setzt als der japanische – auch wenn hier die Anime-Einflüsse inzwischen deutlich spürbar sind. Die einst sehr klaren Trennungslinien lösen sich unter dem vor allem in den letzten zehn Jahren stark gewachsenen Einfluß von Manga und Anime auf den westlichen Comic und Zeichentrickfilm zusehends auf. Im Verhältnis zwischen Manga und Anime liegt ein Paradox: Während im Manga ein Medium unbewegter Bilder als eines der Bewegung sichtbar wird, erweist sich der Film im Anime als Medium einer Bewegungs- und Belebungsanstrengung, die aber selbst immer wieder ins statische Bild und damit ins Unbewegte und Unbelebte als eine Art Grundzustand zurückzufallen scheint. Dies ist einerseits sicherlich dem Arbeitsaufwand geschuldet, der bei der klassischen Cell-Animation mit jeder Veränderung des Bildes und jeder Bewegung im Bild verbunden ist. Andererseits ist diese Form der Reduktion sehr schnell jedoch auch zu einem ästhetischen Merkmal der Darstellung im Anime geworden. Mehrere historische Kontinuitäten sind dafür mitverantwortlich. So sind zum einen der Heidi-Macher Isao Takahata und der damals in untergeordneter Funktion arbeitende Hayao Miyazaki mit der Gründung von Studio Ghibli zu den bedeutendsten Anime-Produzenten aufgestiegen. Miyazakis Filme waren in den letzten Jahren ungeheure Kassenerfolge in Asien. Auch im Westen werden die im Studio Ghibli entstandenen Animes inzwischen als Meisterwerke anerkannt: Die begeisterten Kritiken zu Takahatas Kriegsfilm Hotaru no Haka (Die letzten Glühwürmchen, J 1988) und die Auszeichnungen mit dem Goldene Bär und dem Oscar für Miyazakis Sen to Chihiro no Kamikakushi (Chihiros Reise ins Zauberland, J 2001) bezeugen das. Eine ästhetische Revolution jedoch liegt diesen Reputationshinzugewinnen nicht zugrunde: Von der Stupsnase über die Kulleraugen bis zum flächigen, breiten Gesicht: Sen/Chihiro aus Sen to Chihiro no Kamikakushi oder Setsuko aus Hotaru no Haka sehen der in Europa vertrauten Heidi aus der 1974 entstandenen Serie geradezu gespenstisch ähnlich. Zum anderen ist im Anime stärker noch als im längst außerordentlich differenzierten Feld der Manga-Produktion der ungeheure Einfluß des in seiner Bedeutung am ehesten mit Walt Disney zu vergleichenden Ozamu Tezuka bis heute zu spüren. Tezuka hat, anders als der geniale Produzent Disney, vor allem als Zeichner und Autor den Manga als populäre Kunstform seit den 1950er Jahren

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geprägt. Die erste Anime-TV-Serie Astroboy wurde seit 1963 nach seiner Manga-Vorlage und unter seiner Aufsicht entwickelt. Als eine der teuersten und aufsehenerregendsten Produktionen entstand im Jahr 2001 unter der Regie von Rintaro – der unter seinem eigentlichen Namen Shigeyuki Hayashi bereits an der Astroboy-TV-Serie mitgearbeitet hatte – die Ozuka-Verfilmung Metoroporisu, die ebenfalls auf einem Manga beruht. Dieser wurde – so die von Ozamu Tezuka verbreitete Legende – von den Plakaten zu Fritz Langs gleichnamigem Film (Metropolis, D 1926) inspiriert, den der Autor allerdings nie gesehen hatte. Rintaros Film ist im übrigen eines der eindrucksvollsten Beispiele für die Entwicklung, die der Anime dank Computereinsatz genommen hat. Ungeheure Sorgfalt wurde in die Produktion der Hintergründe gesteckt, die Animation ist bis ins letzte Detail einfallsreich, man kann sich im optischen Stadt-Universum, das hier geschaffen wurde, immer wieder aufs neue verlieren. Der Detaillierung der Hintergründe steht das Festhalten an einer konventionellen Figurengestaltung allerdings schroff gegenüber. Es kommt so zu einem doppelten Riß: weder passen der der kindlichen Figurendarstellung stets verbundene Tezuka-Stil und der apokalyptische Ausmaße annehmende Mahlstrom zueinander, zu dem sich die von Katsuhiro Otomo geschriebene Geschichte dann auch optisch entwickelt, noch verschmelzen die so unterschiedlichen Darstellungskonventionen von Figur einerseits und Hintergrund andererseits zu einem überzeugenden Ganzen. Nach diesen eher historisch orientierten Vorbemerkungen werde ich mich nun der Frage nach den thematischen Implikationen des Gesichts zuwenden, das als ein ›Zwischending‹ zwischen belebt/unbelebt, bewegt/unbewegt und zugleich als Interface zwischen humaner Figuration und posthumaner Defiguration aufgefaßt werden kann. Ich werde mich dabei vor allem auf das Werk des neben Hayao Miyazaki wohl bekanntesten Anime-Regisseurs Mamoru Oshî und darin vor allem auf die beiden Kôkaku Kidôtai-Filme konzentrieren, die nach der gleichnamigen Manga-Vorlage von Masumune Shirow entstanden sind. Diese Fokussierung liegt aus mehreren Gründen nahe. Zum einen ist Oshî, neben Miyazaki, im Westen als der bedeutendste Regisseur des Animes bekannt; im Jahr 2004 wurde sein Film Kôkaku Kidôtai 2: Inosensu im Wettbewerb des Filmfestivals von Cannes gezeigt, viele seiner Filme sind auf Video und DVD problemlos erhältlich. Zum anderen leisten die Kôkaku Kidôtai-Filme selbst einen Kommentar zu Innen-Außen-Darstellungsverhältnissen, also zur Problematik von (seelischer) Tiefe und (visueller) Oberfläche. In Oshîs vergleichsweise konventionellen Patlabor-Filmen (Kidô keisatsu patorebâ: The Movie, J 1990 und Kidô keisatsu patorebâ: The Movie 2, J 1993) geht es noch um große Kampf- und Arbeitsroboter, in deren Innerem Menschen wie in einem Panzer sitzen und die Maschinen von unsichtbarer Hand steuern. Was in diesen Filmen noch

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als grobe Differenz vorgeführt wird – ein menschlicher ›Geist‹ in einer apparativen ›Schale‹ –, wird in den auch visuell erheblich verfeinerten Kôkaku Kidôtai-Filmen dann an das Verhältnis zwischen Innen und Außen beim Menschen selbst geknüpft. Der Titel gibt die Metapher vor: Die Differenz zwischen dem ›Geist‹ und der ›Schale‹ löst sich im Cyborg-Körper zusehends auf, dessen Geist über den Humanstatus der eigenen ›Schale‹ zu reflektieren beginnt – darin vermischen sich die von Philip K. Dicks Roman Blade Runner und dessen Verfilmung (Blade Runner, USA 1982, Ridley Scott) herkommende Cyperpunk-Tradition und die Cyborg-Theorien von Donna Haraway, der mit dem Auftritt eines Wissenschaftler-Androiden namens Haraway in Kôkaku Kidôtai 2 eine Hommage gewidmet ist. Thematisiert wird das im Medium des Anime an den Gesichtern. Am Ende der mehrere Minuten dauernden Episode mit der Wissenschaftlerin Haraway, in der diese an der Unterscheidbarkeit von humanen und künstlichen Emotionen zweifelt, wird sie einen Teil ihres bis dahin maskenhaften, aber dem Schein nach unversehrten Gesichts hochklappen, wodurch ihr maschinenförmiges Inneres sichtbar wird. Die Transformation von Gesichtern, das Spiel mit dem Schockmoment, in dem ein scheinbar menschliches Gesicht sich verformt, öffnet, aufplatzt, um ein unter seiner Oberfläche liegendes mechanisches bzw. artifizielles Inneres freizugeben, sind Leitmotive von Kôkaku Kidôtai 2. Der Plot beider Teile besteht, ohne daß diese Genre-Zuordnung sich in den Vordergrund drängt, in einer Kriminalstory. Kôkaku Kidôtai (Ghost in the Shell, J 1995) spielt im Jahr 2029, die physische Welt der Körper und die virtuelle Welt des ›Netzes‹ sind eng miteinander verbunden. Das Netz ist ein Informationssystem, ähnlich wie in den Cyberpunk-Romanen seit William Gibsons Neuromancer. Einem Hakker mit dem Namen »Puppet Master« ist es gelungen, in hochgesicherte Rechner einzudringen und tödliche Manipulationen vorzunehmen. Im Zentrum des Geschehens stehen die beiden Ermittler, die Detektivin Major Kusanagi, deren Körper bereits in weiten Teilen mechanisch optimiert ist, und ihr Partner Batou, ein Cyborg mit künstlichen weißen Augen, dessen ohnehin starres Gesicht durch die gleichsam blicklosen Augen vollends unlesbar wird. Kôkaku Kidôtai endet mit einer Transformation, die letztlich eine Auflösung ist: Major Kusanagi verläßt über das im Nacken angebrachte Mensch-Maschine-Interface ihren Körper und defiguriert sich im gestaltlosen, posthumanen Netz jenseits von Raum und Zeit. (Der letzte Satz des Films lautet: »Das Netz ist unermeßlich groß.«) Sehr konsequent geht Kôkaku Kidôtai den Weg des defacement seiner Hauptfigur. In einer früheren Szene sieht man sie im Wasser treibend, sich verlierend in einer Ersatz-Plazenta, deren Sicherheit allerdings trügerisch ist: Ohne künstlichen Auftrieb müßte sie – so erfahren wir – wegen der schweren mechanischen Körperteile sinken wie ein Stein. Beim Auftauchen sieht man eines der immer wieder-

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208 | [ Ekkehard Knörer ]

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➞ [ Star ]

➞ [ Blick ]

kehrenden Bilder bei Oshî: Kusanagi taucht an die Oberfläche des Flusses, die wie ein Spiegel das Bild des schwimmenden Körpers verdoppelt und die zwei Körper bis zur Berührung aufeinander zutreiben läßt. Im Moment der Berührung erst löst der zweite Körper sich auf, stellt sich eine vorläufige Identität wieder her. Auf dem Boot, vor einer Hochhaussilhouette, grübelt Kusanagi über ihre Individualität, den Zusammenhang von Identifizierbarkeit, Erinnerungen und der subjektiven Wahrnehmung von Personen: »Ich habe ein Gesicht und eine Stimme: damit unterscheide ich mich von den anderen«, sagt sie, aber gerade diese Gewißheit wird in ihren folgenden Äußerungen sogleich wieder in Frage gestellt. Der zusammengesetzte Körper findet auch im starren Gesicht nicht zur Selbstgewißheit, das Antlitz ist in einer Welt, in der keine ›Schale‹ für einen dahinterliegenden ›Geist‹ bürgen kann, nichts weiter als ein nicht mehr eindeutig lesbarer ›Screen‹, eine Leinwand, die ein Dahinter simulieren kann, ohne daß sich diese Simulation als gesicherte Individualität oder Identität jemals verifizieren ließe. Eine ähnliche Konstellation verfolgt die vierteilige Fernsehserie Serial Experiments: Lain (J 1998, Ryutaro Nakamura), allerdings mit einer deutlich anderen Ästhetik. Im Zentrum steht die 13jährige Lain Ikawura, die nach dem Selbstmord einer Mitschülerin immer stärker in die Welt des Virtuellen (»The Wired«) hineingezogen wird: Die Tote verschickt E-Mails, und Lain begibt sich in ihre Welt. Auch hier geht es um den Übergang zwischen dem Realen und dem Virtuellen – um Realitätsebenen also, die bald nicht mehr klar voneinander zu unterscheiden sind. Von »Layer« zu »Layer« (wie die Kapitel hier bezeichnenderweise heißen) verschwimmen die Differenzen immer mehr: Lain eilt in der virtuellen Welt ein Ruf voraus, in dem sie sich selbst nicht wiedererkennt. Sie ist dort – als eine andere, sich selbst Fremde – ein Star. Ja, sie wird im »Wired« als Messias begrüßt und zugleich in der sich auflösenden Welt des Realen zum Computer-Geek. Die Figurendarstellung unterscheidet sich in Lain wenig von der im herkömmlichen Anime, das Kindergesicht der Protagonistin ist ganz und gar generisch. Das Verschwimmen der Grenze zwischen den beiden Welten, die Übergängigkeit, inszeniert der Regisseur Ryutaro Nakamura jedoch unkonventionell. Der Aufbau eines vegetativ anmutenden Computerparks im Kinderzimmer und das Auftauchen sich jeder realistischen Zuordnung entziehender Bild-Einsprengsel spielen bereits ins Surreale. Ungewöhnlicher noch ist die Ambiguisierung von Raum und Ort durch die Kadrierung des kaum bewegten Gesichts von Lain. Immer wieder konzentriert sich das Bild auf Ausschnitte: auf die Augenpartie, auf den Mund und schließlich auf bloße Farbflächen. Es handelt sich dabei keineswegs um einen zerstükkelnden Blick auf das Mädchen/die Frau, sondern um eine Entortung, eine Aufhebungsanstrengung. Jeder einzelne Gesichtsausschnitt ist hier eine Abstraktion und

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[ Oberfläche ] | 209

leistet somit darstellungsästhetisch den Übergang, der im Plot als Cyberpunk-Fabel Thema ist. Die Fläche des Gesichts in seinen Fragmenten ist Nicht-Raum und zugleich Zwischenraum, in dessen wiederholter Großaufnahme die üblichen Parameter einer Repräsentation in Raum und Zeit auf Null gesetzt werden. Der Umschlag zwischen dem Realen und dem Virtuellen ereignet sich in genau diesem Ausschnitt, der das Gesicht seiner Geschlossenheit beraubt, der den Bildschirm mit Farbe und grafischer Abstraktion füllt, nicht aber mit Affektkonfigurationen, anhand deren wir das Gesicht im Film zu ›lesen‹ gewohnt sind. Die Abstraktion des Close-up fungiert hier deshalb nicht als ›Vergrößerung‹ einer darüber hinaus stabilbleibenden Grundfigur; es ist vielmehr die Flächigkeit und Ausschnitthaftigkeit selbst, die hier zur defigurierenden und defigurierten Figur wird – und sich damit verselbständigt. Was hier entsteht, ist nicht wie in der klassischen, vor allem aus dem Melodrama bekannten Großaufnahme ein Stimmungsraum, der den Betrachter auf die im Close-up weniger erzeugte denn als ›greifbar‹ markierte Emotion ›einstimmen‹ will. Gewöhnlich fungiert die Großaufnahme als leinwandfüllende, dabei vermeintlich ›leere‹ Leinwand und Projektionsfläche für den Betrachter. In Lain ist das nicht der Fall. Die ästhetischen Parameter legen eine andere Bedeutung nahe. Das Gesicht wird zur Farbe, zum grafischen Muster und damit zum shifter im Spiel der ineinander übergehenden Verweisungsräume. Das Gesicht als Ausschnitt re-präsentiert genauso wenig wie es zur empathischen Einstimmung auf ein Gefühl einlädt. Es präsentiert einen eigenen Ort, einen eigenen Raum, der die Diffusion der Realitäten wenn nicht logisch, so doch in der Form der Darstellung nachvollziehbar macht. In Lain bleibt der Realitätsstatus vieler Einstellungen unbestimmt. Die räumlichen und visuellen Kontexte verweigern eine eindeutige Zuordnung zum Realen oder Virtuellen – eine Strategie, die auf die Ununterscheidbarkeit der beiden Welten zuläuft. Die Totalisierung des einzelnen Gesichtsausschnitts durch die leinwandfüllende Großaufnahme – das sekundenlange Verharren auf der Augenpartie, dem Mund etc. – bedeutet einen radikalen Kontextausschluß. In diesen Einstellungen ist Lain weder hier noch da, der filmische Realitätsstatus der Szene bleibt aufgeschoben bis zum nächsten Bild, das erst eine eindeutige Zuordnung erlaubt – oder auch nicht. Zurück zu Kôkaku Kidôtai 2: Im vom ersten Film weitgehend unabhängigen Sequel wird der Bereich zwischen Belebtem und Unbelebtem weiter aufgefächert. Stärker als im ersten Teil wird die Darstellung des Gesichts von Mensch-Cyborg-Android-Tier zum Schauplatz der Verunsicherung klarer Unterscheidbarkeiten. Es geht nicht in erster Linie um die Cyberpunk-Differenz von real und virtuell, sondern um die Belebtheit verschiedener Körper, deren Gesichter als Interfaces der Lesbarkeit gänzlich unzuverlässig geworden sind. So ist die

➞ [ Grimasse ]

➞ [ Ikone ] ➞ [ Konterfei ]

➞ [ Exzeß ]

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210 | [ Ekkehard Knörer ]

➞ [ Rasur ]

➞ [ Make-up ] ➞ [ Photogénie ]

Verweigerung üblicher Lektürezugriffe auf das menschliche Antlitz dem nun zur Zentralfigur werdenden Cyborg Batou an den Augen abzulesen: An ihrer Stelle befinden sich milchig opake Scheiben. Der Zugang zur affektiven Lesbarkeit ist versperrt, das Auge wird sekundär lesbar nur als ›Kälte‹ oder Verweigerung von Lesbarkeit. Wie besonders das mehrfach gezeigte Einsetzen des künstlichen Auges in die Puppe verdeutlicht, schließt Mamoru Oshî hier an Motive des romantischen Puppendiskurses an, wie sie exemplarisch in E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann zu finden sind. Das Unheimliche, das Sigmund Freud an Hoffmanns Erzählung hervorgehoben hat, lösen auch die am Übergang zwischen Belebtem und Unbelebtem angesiedelten Puppen bei Mamoru Oshî aus (vgl. Freud 1919/1999). Die zum Schein belebten infantilen Körper und Gesichter des Anime kehren in diesem Film darüber hinaus allegorisch als philosophischer Diskurs über Puppenhaftigkeit wieder. Der Kriminalfall, in dem Batou ermittelt, dreht sich um Sex-Puppen, die ein Eigenleben zu entwickeln beginnen – indem sie ihre menschlichen Besitzer ermorden. Gefertigt werden diese Puppen in einer gleichsam post-virtuellen, futuristischen Zone, die visuell an das Modell Metoroporisu und ebenso an Langs Metropolis erinnert und in deren Straßen ein computeranimierter Karnevalsumzug von Fabelwesen unterwegs ist. Die Teilnehmer dieses Zuges sind maskiert und nicht ohne weiteres als Tiere, Menschen oder Artefakte zu erkennen. Dasselbe gilt für die freilich nicht karnevalesk grotesken, sondern äußerlich zunächst ganz perfekt und makellos scheinenden Puppenkörper. Die Sequenzen, die deren künstliche Geburt (in dieses Oxymoron faßt der Film ihre Entstehung) zeigen, sind computeranimiert, das heißt, statt der üblichen schlichten Anime-Graphik sind die Körper und Gesichtszüge dreidimensional und scheinbar lebensecht gezeichnet. Sie sind jedoch weiß, schön, maskenhaft und leer. Kein Innenleben ist ihnen an ihrer Oberfläche abzulesen. Aber schon diese Geburt weist eine Deformation auf. Die noch nicht zum ganzen Körper zusammengefügten Puppen haben eine frappante – später durch einen Verweis explizit gemachte – Ähnlichkeit mit den Puppenkörpern des Künstlers Hans Bellmer mit ihren gewaltsam verdrehten Gliedern und auseinandergerissenen Leibern. Die Gestalt des Körpers ist so in doppelter Weise un-natürlich: Sie entsteht aus verdrehten Einzelteilen und Gliedern und bleibt dauerhaft gespalten in die Differenz von äußerlich perfekter Mimesis ans Menschliche und elektronisch-maschinellem Innenleben. Die ihnen bei ihrer Entstehung zugefügte, im scheinbar makellosen Äußeren aber zunächst verdeckte Spaltung wird als Gewaltakt offenkundig: Die als passives Sex-Spielzeug entworfenen Puppen töten ihre Besitzer und zerstören sich dann selbst. Bereits in der am Anfang beschriebenen Sequenz aus den ersten Minuten des Films sieht man eine von ihnen in einem solchen Akt der Selbstzerstörung, der gleich-

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[ Oberfläche ] | 211

zeitig als ein Akt der Deformation des menschlichen Körpermodells zu verstehen ist. Die Puppe reißt sich mit beiden Händen vom Brustbein her die künstliche Haut vom Leib, darunter erscheint ein maschinelles Gerippe. Das Gesicht verwandelt und deformiert sich in eine grotesk zerplatzte Ungestalt disparater Einzelteile. Der von den Großaufnahmen starrer bzw. explodierter Gesichter geschaffene Stimmungsraum ist, ganz anders als in Lain, keiner der raum-zeitlichen Entleerung und der daraus hervorgehenden Übergängigkeit, sondern steht vielmehr in der Tradition von Horror und Splatter, deren Unheimlichkeit sich aus der Auflösung von Körpergrenzen herrührt. Innen ist der Körper nicht das, was er äußerlich zu sein scheint. Die sich die ›Haut‹ vom Leib fetzende Puppe offenbart in dieser Geste ihre Nicht-Humanität. Das Gesicht defiguriert sich aber nicht in der Fragmente des Gesichts zu abstrakten grafischen Flächen totalisierenden Großaufnahme (wie in Lain), sondern in der Aufsprengung geschlossener, als ganze ins Bild gerückter Gesichter und Körper. Das Gesicht wird also defiguriert, könnte man kontrastierend sagen, nicht zu totalisierten Teilen, sondern zu Resten. Der Schein von Leben ist diesen Resten nur in einer als künstlich markierten Anstrengung wieder zu erstatten. Noch deutlicher wird dies an einer weiteren Figur in Kôkaku Kidôtai 2. Auch in dieser Fortsetzung des Films gibt es einen »Puppet Master«, einen Hacker, der in die Rechner des Puppenproduzenten einzudringen versucht. In einer ausgedehnten Sequenz sehen sich Batou und sein menschlicher Kollege mehrfach – sie geraten in eine vorprogrammierte Wiederholungsschleife – mit der Figur dieses Hackers konfrontiert, der selbst eine Puppe ist. So liegt er zunächst ›wie tot‹ in einem Sessel. Erst indem Batou diese Puppe zu Boden wirft, kann er sie ›beleben‹. Aber das Gesicht des Hackers bleibt das Gesicht eines leblosen Androiden, dessen Menschenförmigkeit dabei ist, sich aufzulösen. Als sich die Hacker-Puppe wenig später aufrichtet, zappelt sie wie eine Marionette an schlauchartigen ›Fäden‹, so wie andererseits auch die menschenähnlichen Cyborgs im Nacken ein Interface haben, in das sich Dateien einlesen und an dem sich Programmstörungen beheben lassen. Nostalgisch konterkariert wird Mamoru Oshîs Defiguration des Humanen durch die auffällige Präsenz von Tieren in seinen Filmen. In Kôkaku Kidôtai 2 zum Beispiel spielt Batous Hund, ein Bassett, eine wichtige Rolle. Es ist auffällig, daß gerade dieser Hund über das ausdrucksstärkste und detailreichste Gesicht von allen Figuren verfügt. Vom frühen experimentellen Film Tenshi no Tamago (Angel’s Egg, J 1985) bis zu Avalon (Avalon, J 2001), dem Realfilm, der in vielen Zügen den Animes des Regisseurs gleicht, erscheinen Tiere – als Schatten durch das Bild fliegende, nicht zu erjagende große Fische in Tenshi no Tamago, wiederum ein Bassett in Avalon – als meist flüchtige, sich entziehende, noch im Entzug jedoch insistente Restbestände einer

➞ [ Narbe ]

➞ [ Vorspann ]

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212 | [ Ekkehard Knörer ]

prähumanen Welt. Oshî hat sich im Interview selbst dazu geäußert: »Wenn zwei Personen miteinander sprechen, wird wahrscheinlich ein Vogel über ihre Köpfe hinwegziehen, wird ein Fisch in einem Teich zu sehen sein. Die Augen der Tiere sind immer in meinem Bewußtsein« (Oshî 1993). Die Augen der Menschen sind starr – wie exemplarisch an Batou und im Zoom auf das Auge einer Puppe zu sehen, deren ›Geburt‹ der Vorspann zeigt –, ihr Blick scheint tot. Die Gesichter selbst befinden sich in Kôkaku Kidôtai 2 im ständigen Übergang zwischen verschiedenen Zuständen. Im puppenhaft Starren, das sie durchweg auszeichnet, sind sie die Figur gewordene Ästhetik des Anime-Stils. Beleben und Erstarren als charakteristische Tropen des Anime werden auch im philosophischen Diskurs um die Ununterscheidbarkeit von human und posthuman ins Thematische gewendet. Am eindrucksvollsten geschieht dies in der eigentümlich erstarrten, wie von einer weißen Eisschicht überzogenen Szene, in der die Androiden-›Ärztin‹ Haraway und Batous Partner im Angesicht der im selben Raum befindlichen äußerlich makellosen, aber starren Puppen über die Emergenz einer Puppenseele sprechen. Die Animation wirkt auf das Ensemble der starren Figuren (Haraway, Batou, die Puppen) unterschiedslos ›kristallisierend‹, nicht belebend: Die Differenz zwischen belebt und unbelebt scheint in der Darstellung getilgt. Sicherlich entspricht das Werk Oshîs in seiner Radikalität nicht dem Mainstream der für das Fernsehen und den Videomarkt gedrehten Animes. Diese setzen sehr viel stärker auf Action und Bewegung, ohne jedoch das Spannungsverhältnis zwischen Manga und Anime auflösen zu können. Die unbewegte Form bei Oshî zeigt aber in der kleinteiligen Auflösung komplexer Bewegungsabläufe die größere Dynamik. Die Belebungsanstrengung der Animation bleibt den Gesichtern im Anime abzulesen: im Extrem als explosive Defiguration. [ Ekkehard Knörer ]

Literatur Freud, Sigmund (1919/1999): »Das Unheimliche«. In: Gesammelte

Werke, Bd. XII, Frankfurt a.M.: S. Fischer, S. 227-278. Oshî, Mamoru/Miyazaki, Hayao (1993): »Around the movie PATLA-

BOR 2: To put an end to the Era. Dialog: Mamoru Oshî versus Hayao Miyazaki«. In: Animage, vol. 184 (Meine Übersetzung nach der englischen Übersetzung von Ryoko Toyama. Online unter: http://www.nausicaa.net/miyazaki/interviews/m_Oshî_patlabor2. html [30.03.2005]).

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[ Photogénie ] | 215

[ Photogénie ]

Das Gesicht der jungen Frau ist stark beleuchtet, auf ihrer linken Wange und Schulter liegt ein Schlagschatten. In diesem Standbild ist es oberhalb der Augen abgeschnitten. Auch die Haare sind nur zu erahnen: sie verschmelzen mit dem Dunkel des Hintergrundes. Dagegen sieht man deutlich die makellose Haut von Gesicht, Hals und Schulter. Diese Haut reflektiert auf perfekte Weise das Licht, das auf sie fällt und zugleich markante Schatten wirft. Sie ist hell, mehr noch: das Gesicht erscheint geradezu erschreckend blaß und dadurch zugleich äußerst flächig. Diese Nahaufnahme eines nackten weiblichen Oberkörpers ist um einen intimen Moment zentriert. Sie faßt den vorangegangenen Liebesakt zwischen Tony (Tony Ray) und Lelia (Lelia Goldoni) in einer einzigen Einstellung zusammen: in einen Moment der Enttäuschung und Verlorenheit, der durch die Schönheit des nackten weiblichen Körpers nur um so schmerzlicher erscheint. Dieser kurze Moment mündet in eine charakteristische Geste der Selbstbewahrung: Die junge Frau umarmt sich selbst, als würde sie einen Kokon um sich spinnen wollen. Dieser Körper, der so eindringlich aus der Tiefe des dunklen Raums heraustritt, und die extrem reflektierende Oberfläche der hellen Haut sind von einer Aura der Unberührbarkeit umgeben. Diese

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216 | [ Petra Löffler ]

➞ [ Double ]

➞ [ Ikone ]

➞ [ Yentl ]

Unberührbarkeit wird in John Cassavetes’ Filmdebüt Shadows (Schatten, USA 1959) gleichermaßen zum Signum der labilen Identität der Figuren wie zur Reflexionsfigur der filmischen Exposition des Körpers. Sie gibt eine existentielle Distanz der Figuren zueinander zu erkennen: die Unmöglichkeit von körperlicher Nähe und Intimität. Diese Distanz sucht die Kamera mit zum Teil extremen Großaufnahmen von Gesichtern ein ums andere Mal zu durchbrechen. Die Haut markiert dabei jedoch eine absolute Grenze. Sie erscheint als eine undurchdringliche Oberfläche, die sich selbst unsichtbar macht, nichts preisgibt, um desto besser als Projektionsfläche fungieren zu können. Als diese undurchdringliche Fläche konspiriert sie mit der filmischen Apparatur: Sie wird zur reflektierenden Leinwand, auf der sich kulturell geprägte Vorstellungen von ›Schönheit‹ und ›Rasse‹ mühelos einschreiben können. Die Haut zeichnet sich hier zugleich durch eine spezifisch filmische Qualität aus, sie hat, was in der frühen französischen Filmtheorie als photogénie (vgl. Delluc 1920; Fahle 2000) bezeichnet wurde und was verkürzt gesagt bedeutet: sie ist in besonderer Weise der filmischen Exposition affin. Cassavetes taucht in Shadows die Gesichter oft in ein stark fokussierendes Licht von der Seite, das ihnen ihre Weichheit und Dignität nimmt, starke Schatten wirft und sie von ihrer Umgebung separiert. In seinem späteren, ebenfalls in Schwarz-Weiß gedrehten Film Faces (Gesichter, USA 1963-68) hat er diese Entwertung des Gesichts – im Doppelsinn des Filmtitels – bis zur Grimasse getrieben. Der achromatische Film wirkt selbst dem Naturalismus der Haut, seinem ›natürlichen‹ Inkarnat entgegen und macht sie als Projektions- und Reflexionsfläche des Lichts verfügbar. Die Schatten, die die Gesichter dabei auf sich selbst werfen, markieren zugleich eine unüberwindbare Distanz, denn sie resultieren aus einem irreduziblen Abstand, dem sie ihre Existenz verdanken. Die Lichter und Schatten, die in Shadows immer wieder über die glatte Oberfläche der Haut gleiten und dem Gesicht eine andere Form, einen anderen Ausdruck zu geben scheinen, diese flüchtigen Schatten, die die definitive Unterscheidung zwischen Hell und Dunkel, Schwarz und Weiß generell in Frage stellen, sie als bohrende Frage stellen, verleihen dem Filmtitel eine implizit politische Dimension und erinnern zugleich daran, »daß das Kino ein Licht ist, das ständig den Schatten durchquert« (Aumont 1998: 40). Man kann also nicht von der Photogénie der Haut als filmischem Phänomen sprechen, ohne gleichzeitig die der Hautfarbe inhärente Bildpolitik zur Kenntnis zu nehmen. Als ein filmisches Experiment ist Cassavetes’ erster Film, den er mit einer geborgten Ausrüstung auf 16mm-Material gedreht hat, oft gewürdigt worden. Gar als Beginn des amerikanischen Independentfilms wurde Shadows fälschlicherweise bezeichnet (vgl. Carney 2003: 94). Insbesondere seine workshopartige Konzeption, sein Verzicht auf ein ausgearbeitetes Drehbuch und seine Vorliebe für Improvisa-

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[ Photogénie ] | 217

tionen haben dem Regisseur viel Lob von Gleichgesinnten eingebracht. Vor allem motivierte ihn seine Ablehnung des beherrschenden, von Lee Strasberg propagierten Method Acting, eine Geschichte aus den körperlichen Verhaltensweisen seiner Figuren heraus zu entwickeln (vgl. ebd.: 82ff.). Dies war gemessen an den Standards des amerikanischen Filmsystems Provokation genug: »Die Größe von Cassavetes’ Werk besteht gerade darin, daß es die Geschichte, die Intrige oder Handlung, ja sogar den Raum hinter sich läßt, um zu Verhaltensweisen im Sinne von Kategorien vorzudringen, die die Zeit in den Körper ebenso wie das Denken in das Leben hineinversetzen« (Deleuze 1985/1997: 248). Wichtiger als eine kohärente Story waren dem Regisseur eine unverwechselbare Handbewegung und Körperhaltung oder ein eigentümlicher Gang – kurz: der besondere, letztlich soziale Gestus der Figuren. Darin knüpfte er an Brechtsche Schauspielmaximen an, ohne jedoch damit ein explizit politisches Anliegen zu verfolgen. Bei Cassavetes verkörpern die Schauspieler die Geschichte, die der Film erzählt, die Figuren, die sie spielen, tragen ihre Namen. Weil die Schauspieler ihre Figuren von Szene zu Szene, von Geste zu Geste verwirklichen, fällt deren Dauer genau mit der des Films zusammen (vgl. Comolli 1968: 38). Der soziale Gestus berührt sich in Shadows mit der Frage nach der Hautfarbe, dem »Rassenproblem«, wie Lelias Bruder Hugh (Hugh Hurd) es nennt. Hughs Haut ist im Gegensatz zu der seiner Geschwister Lelia und Ben (Ben Carruthers) dunkel. Diese beiden können daher, wie man bezeichnenderweise sagt, als Weiße ›durchgehen‹. Hughs dunkle Haut ist in vielerlei Hinsicht anders als die Lelias und Bens: nicht nur großporiger, was ihre Funktion als permeable Membran sichtbar macht, sondern auch in der Regel weniger reflektierend. Gleichzeitig treten bei ihm die vermeintlichen physiognomischen Kennzeichen des Afroamerikaners in Erscheinung: die Fleischlichkeit von Nase und Haut, die Weichheit ihres Gewebes, die wulstigen Lippen. Diese rassistische Physiognomik entfaltet ihr ideologisches Potential jedoch erst vollends in Relation zu Gesichtsbildung und Haut des ›weißen Negers‹. Denn das ist das Dilemma, in dem Ben und Lelia stecken und das sie nie zu einer stabilen Identität gelangen läßt: »Ausgehend von den Verhaltensweisen der Schwarzen und der Weißen arbeitet Shadows den sozialen Gestus heraus, der sich am Verhalten des weißen Negers festmacht, der, geworfen in die Unmöglichkeit der Wahl, einsam ist bis an die Grenze der Selbstauflösung« (Deleuze 1985/1997: 248). Diese Unmöglichkeit einer Wahl exerziert der Film vorrangig als ein existentielles Problem, denn »Rasse war für Cassavetes weniger eine biologische Tatsache als eine imaginierte Haltung« (Carney 2003: 92). Die Unentscheidbarkeit der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft entfaltet Shadows im Paradox des ›weißen Negers‹. Ihr aporetischer Modus ist das Weder-Noch: »In einer rassistischen Ge-

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218 | [ Petra Löffler ]

➞ [ Queer ]

sellschaft sind Lelia und Ben zu einer Wahl gezwungen, die sie nicht treffen können, da sie weder schwarz noch weiß sind« (Streiter 1995: 30). Dieser Entscheidungsnotstand steht exemplarisch für die existentiellen Nöte der amerikanischen Jugend Ende der 1950er Jahre, namentlich des sogenannten Hipsters, man denke nur an Rebel without a Cause (…denn sie wissen nicht, was sie tun, USA 1955, Nicholas Ray). Diese Unentscheidbarkeit impliziert jedoch auch eine prinzipielle Offenheit der Wahl. Ihr eignet ein Moment von Freiheit. Das macht die Konstellation des ›Familienromans‹ in Cassavetes Shadows deutlich, in dem (im Unterschied zu Rays Film) der Platz einer prägenden Mutter- oder Vaterfigur leer und daher auch ihre Herkunft unklar bleibt. Die Gemeinschaft, in der sie leben, existiert ohne ethnische Genealogie. Sie definiert sich ausschließlich über ihre Zugehörigkeit zum avantgardistischen, etwas oberflächlichen Milieu der Bohème, das durch lose Beziehungen gekennzeichnet ist und in dem man sich vorwiegend bei Partys und in Cafés trifft – unabhängig von Hautfarbe und ethnischer Identität. Während jedoch Hugh, ein mittelmäßiger Sänger, der durch drittklassige Nachklubs tingelt, eindeutig als Farbiger identifiziert und damit gleichzeitig unterschwellig diskriminiert wird, distanziert sich Ben, der sich als Jazztrompeter ausgibt, immer wieder von den schwarzen Freunden seiner Geschwister. Er gibt sich nur mit Weißen ab, zieht mit seinen Freunden durch Bars und Straßen, immer auf der Suche nach einem Abenteuer oder einer provokanten Geste der Männlichkeit. Die Einsamkeit, die Ben trotz aller Unrast umhüllt, findet in der begleitenden Jazz-Musik von Bassist Charles Mingus und Saxophonist Shafi Hadi eine akustische Entsprechung. Bereits im Vorspann hat Cassavetes Musik leitmotivisch eingesetzt. Dort schweift die Kamera über die Tanzenden einer Rock’n’Roll-Party und fokussiert einzelne Köpfe, die sich rhythmisch zur Musik bewegen. Einzig der ›weiße Neger‹ Ben ist nicht Teil dieser ausgelassenen Gemeinschaft; er zieht sich in eine Ecke zurück und betrachtet distanziert die tanzende Menge. Der Rock’n’Roll wird in Shadows als gemeinschaftsstiftende Musik der Weißen gegen den Jazz als vereinzelnde Musik der Schwarzen gesetzt: »Der Jazz verbindet sich unauflöslich mit der Haltung Bens zu einem Stil, einem Lebensgefühl, das nicht von Verschmelzung und Aufgehen in der Menge, sondern von Ausschluß, Einsamkeit und Anspannung bestimmt ist« (Streiter 1995: 29). Am auffälligsten ist die Ablehnung körperlicher Nähe bei Ben und Lelia, ihre Sensibilität wird ganz wörtlich als »Dünnhäutigkeit« genommen (Jansen/Schütte 1983: 62). Die Haut verwehrt bei ihnen daher als absolute Grenze den Zugang zum Eigensten, das gegen Zudringlichkeiten verteidigt wird. Einerseits erscheinen Ben und Lelia daher als unberührbar. Andererseits ist es aber die Haut, die eigene Erfahrungen macht, »weil es die Sprache der Körper ist, die physische

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Präsenz der Personen und der Bilder, aus denen erst das Wort erwächst, das nur ausspricht, was die Haut schon lange weiß« (ebd.). Als ›weiße Neger‹ tragen Ben und Lelia ein Wissen, ein unbewußtes Körpergedächtnis um den Symbolwert der Hautfarbe und die rassistische Disziplinierung der Sinne in sich. Im Paradox des ›weißen Negers‹, das die übliche Gleichsetzung von Rasse und Hautfarbe, Innerem und Äußerem provoziert, lassen sich all jene kulturellen, moralischen und ästhetischen Unterscheidungen kritisch befragen, die seit der Antike dem Kontrast zwischen Schwarz und Weiß anhaften. Der strikte Konnex zwischen heller Hautfarbe, moralischer Reinheit und ästhetischer Schönheit führt zu Diskriminierung und Ausschließung jeglicher Andersheit und setzt ein verklärendes und daher letztlich unerreichbares Ideal, als deren einzige Verkörperung mythologische Frauengestalten wie die sagenhaft schöne Kleopatra oder Emanationen des Göttlichen wie Jesus und Maria gelten konnten (vgl. Dyer 1997). Die Annäherung an dieses Ideal der innerlichen wie äußerlichen Weißhäutigkeit wird nicht selten, wie bereits das Beispiel der ägyptischen Königin belegt, durch kosmetische Hilfsmittel wie Cremes oder Puder betrieben. Entscheidend ist jedoch, daß sich die Zuschreibung einer weißen Hautfarbe nur vor der Folie einer negativ gesetzten schwarzen Hautfarbe stabilisieren kann und wie Unterscheidungen nach Geschlecht, sozialem Status und Rasse daran geknüpft werden. Dies ist historisch gesehen zunehmend seit der Eroberung des amerikanischen Kontinents und der Kolonialisierung Afrikas der Fall. Die weiße Hautfarbe als Rassenkennzeichen wird, wie Richard Dyer berichtet, erstmals 1604 in der Übersetzung eines Traktats über die Bevölkerung der sogenannten westindischen Kolonien verwendet (Dyer 1997: 66). Erst auf der Basis dieser Zuschreibung konnten Menschen nach ihrer Hautfarbe unterschieden werden und das Paradox des ›weißen Negers‹ überhaupt auftreten. Die folgende Darstellung verdient zitiert zu werden, weil sie selbst in dessen heller Haut Anzeichen der Degeneration zu finden meint und an ihr rassistische Parameter der Unterscheidung einführt: »Les nègres blancs d’Afrique ont des cheveux blonds, le visage et le corps si blancs qu’on les prendrait pour des Anglais ou des Hollandais, mais à mesure qu’on s’en approche, on s’aperçoit de la différence. Ce n’est pas une blancheur vive et naturelle que celle de leur teint, c’est celle d’un lépreux ou d’un corps mort« (Dapper 1686: 332). Dapper erscheint hier nur die helle Haut des Europäers »lebendig und natürlich«, während die ebenso helle Haut des ›weißen Negers‹ die Blässe eines Aussätzigen bzw. eines Leichnams aufweise. Das Phänomen des ›weißen Negers‹ zwingt also den europäischen Betrachter nur dazu, die Haut genauer zu betrachten, um endlich doch Zeichen ihrer Unnatur, Krankheit und Leblosigkeit aufzufinden – Zeichen, die sie angeblich selbst verrät. Mit dieser Problematik beschäftigt sich ausführlich Maupertuis in seiner Disser-

➞ [ Make-up ]

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220 | [ Petra Löffler ]

➞ [ Konterfei ]

➞ [ Xenos ]

tation physique à l’occasion du Nègre blanc von 1744. Auch Buffon setzt die weiße Haut als »anthropologische Grundfarbe« (Blankenburg 1996: 143) und benennt verschiedene Grade der Degeneration. Im Diskurs der Aufklärung fungiert die ›weiße‹ Haut dann im Kontrast zur »Negerschwärze« als eine »Art farbneutrale Leinwand« (Benthien 2001: 174), auf der sich Affekte und Gefühle vermeintlich unmittelbar zeigen – Menschlichkeit wird hier an der Fähigkeit zu erröten gemessen. Die Haut wird darüber hinaus in Diderots Versuch über die Malerei von 1765 nicht nur als hochgradig sensible, sondern auch als durchlässige Leinwand beschrieben: »[…] die Freude dringt durch die Poren meiner Haut, die kleinsten Blutgefäße werden erschüttert, der unmerkliche Farbton der Flüssigkeit, die daraus entflohen ist, hat von allen Seiten Inkarnat und Leben verströmt« (zit. in Fend 2004: 208). Die Haut erscheint hier in der vermittelnden Funktion eines Kanals für die Affektbewegungen eines homogenen Organismus, der dadurch durchschaubar wird. Der Ausweis »eines höchst lebendigen Sinnesorgans« erhält sie jedoch nur, wie Mechthild Fend argumentiert, in männlichen Porträts der Zeit, zumal wenn sie ungeschminkt und ungepudert ist (ebd.: 209). Im weiblichen Porträt dominiert hingegen die helle, glatte und geschminkte Haut als Schönheitsideal und ideale Projektionsfläche. Noch Goethe vermutet 1808 in seiner Farbenlehre, daß der »weiße Mensch, […] dessen Oberfläche am gleichgültigsten erscheint, am wenigsten sich zu irgend etwas Besondrem hinneigt, der schönste sei« (Goethe 1808/1988: 472). Kleists Erzählung Die Verlobung in St. Domingo von 1811 greift die Frage nach der Lesbarkeit der Hautfarbe als zuverlässiges Rassemerkmal auf und führt die katastrophalen Konsequenzen einer Fehllektüre vor Augen. Seine Rede von »Gesichtsfarbe« impliziert, daß er die Tönung der Haut generell als unsicheres physiognomisches Zeichen auffaßt, das zum Beispiel durch Wechsel oder Intensivierung der Beleuchtung bzw. – nicht weniger fatal – durch emotionale Investitionen zu falschen Deutungen verleitet (vgl. Benthien 2001: 185f.). Bei den beiden zentralen weiblichen Figuren findet die Unsicherheit bezüglich ihrer ethnischen Herkunft zusätzlich Nahrung durch ihre Verstellungskunst, die letztlich zum tödlichen Konflikt führt. Das Etikett ›white negro‹ zeigte deshalb auch – unabhängig von der Hautfarbe – einen moralisch-sittlichen Verfall an. Es konnte auch Weißen der Unterschicht in den westindischen Kolonien angeheftet werden, bei denen »the demoralizing influence of slavery upon their characters and habits« zutage trat (Carmichael 1833/1969: 59). Besonders die Tatsache, daß sie mit schwarzen Sklavinnen zusammenlebten, machte sie zu, »as the expression is, almost a white negro« (ebd.). Der Ausdruck ›weißer Neger‹ enthüllt hier eine grundsätzliche Angst vor dem Fremden: Zwischen schwarzer Hautfarbe und Degeneriertheit

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wird in der Vorstellung ein so festes Band geknüpft, daß angeblich allein der Kontakt mit ihr auf den Charakter abfärbt. Diese kulturellen Zuschreibungen an Hautfarbe und Rasse spielt der Film von Anbeginn auf verschiedenen Ebenen durch. Farbige Darsteller verkörpern im frühen Film ausschließlich soziale Unterschichten und werden in komischen Rollen besetzt, wobei sie oftmals Körperverrenkungen und Grimassen als Attraktion vollführen. Richard Dyer hat zudem herausgearbeitet, daß die Lichtregie im Hollywoodfilm für gewöhnlich die weiße Hautfarbe zur Norm erhebt und die Ausleuchtung von Gesichtern stark hierarchisiert (vgl. Dyer 1997: 82-102). Das System Hollywood trägt also zur Bestätigung rassistischer Vorurteile bei, zu denen auch die Wahrnehmung des Jazz als ›Negermusik‹ zählt. Bis heute erleichtert eine helle Haut und eine am Schönheitsideal der ›weißen‹ Frau gemessene Gesichtsbildung farbigen Schauspielerinnen die Karriere. Charaktere mit dunkler Hautfarbe sind außerdem oftmals weniger individualisiert als Charaktere mit weißer Hautfarbe (vgl. ebd.: 99). Das trifft auch auf die Rollen Sidney Poitiers zu, der als erster afroamerikanischer Filmstar gilt und 1963 einen Oscar für Lilies in the Fields (Lilien auf dem Felde, USA 1963, Ralph Nelson) bekam. Bereits 1939 hatte Hattie McDaniel einen Oscar als beste weibliche Nebendarstellerin in Gone with the Wind (Vom Winde verweht, USA 1939, Victor Fleming) erhalten – bezeichnenderweise für die Rolle einer farbigen Amme. Seit den 1950er Jahren erreichten ethnische Konflikte, begünstigt durch die Bürgerrechtsbewegung, verstärkt gesellschaftspolitische Aufmerksamkeit. Auch der Begriff des ›weißen Negers‹ rückte dabei erneut in den Fokus: Er wurde nicht zuletzt durch einen Essay Norman Mailers von 1957 popularisiert (vgl. Marx 2005), in dem er eine Parallele zwischen der psychopathischen Begehrensstruktur des Hipsters, der als ›white negro‹ bezeichnet wird, dem philosophischen Existentialismus, dem Jazz und den Existenzbedingungen der Afroamerikaner zieht (vgl. Mailer 1957) – im selben Jahr hat Cassavetes Shadows gedreht. Lelias eingangs beschriebene Distanzierung von ihrem Lover Tony und ihr Widerwille, sich von ihm berühren zu lassen, können vor diesem Hintergrund noch einmal genauer verortet werden. Die Distanzierung ist mehr als die plötzlich eingetretene Erkenntnis und schmerzlich empfundene Trauer über enttäuschte Erwartungen, sondern eine existentielle Geste des Selbstschutzes. Diese Geste dient der Restitution einer Maske, die für Lelia zur Lebensform geworden ist. Denn ihre helle, so makellose Haut, die keine Poren oder Unreinheiten aufweist, stellt einen perfekten Schild dar, der die Mimikry an eine von rassistischen Vorurteilen geprägte Umgebung ermöglicht: sie ist schlicht eine lichtreflektierende Oberfläche. Was diese Konzeption der Haut in Cassavetes’ Film übergeht, ist

➞ [ Grimasse ]

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➞ [ Narbe ]

die Porigkeit der Haut, ihre besondere Textur und Medialität, zu der ihr Schwitzen wie ihre Rötung, Blessuren oder Verletzungen ebenso gehören wie ihre kulturelle Besetzung durch Hygiene, Kosmetik oder Schönheitschirurgie und ihre magische Funktion als Schreibfläche bei der Tätowierung. Aus filmischer Perspektive steigert die schwitzende Haut die Reflexivität enorm. Sie ist jedoch nicht nur in der Kosmetik verpönt, entspricht sie doch nicht den gängigen Schönheitsvorstellungen. Zu einer besonderen filmischen Karriere ist dagegen die kranke Haut gelangt. Die auf der Haut durch Pusteln, Beulen, Schorf oder Läsionen sichtbar werdende Krankheit oder abnorme Körperbildung konnte, solange körperliche Verunstaltungen als Zeichen von Degeneration verstanden wurden, nur unter dem Gewand des Monströsen gezeigt werden. Der durch Wucherungen insbesondere am Kopf karnevalesk wirkende Körper des sogenannten Elefantenmenschen John Merrick etwa wurde auf Jahrmärkten als Attraktion vorgeführt. Die zahlreichen Monster der Filmgeschichte haben diese Tradition beerbt und feiern im Science-fiction- und Horrorfilm fröhliche Wiederkehr, wo Haut als Spezialeffekt eingesetzt wird (vgl. Stauff 2004). David Lynchs The Elephant Man (Der Elefantenmensch, UK/USA 1980) erzählt dagegen die gelungene Vermenschlichung des vermeintlichen Monsters, die jedoch durch das Schwarz-Weiß des Films zugleich in weite Ferne gerückt wird. Doch auch hier bewahrheitet sich einmal mehr, daß der entstellte Körper, die mißgebildete Haut die Folie ist, von der sich der schöne Körper, die glatte, reine und weiße Haut, die das Porträt von Merricks angeblicher Mutter zu sehen gibt, nur um so besser abhebt. In ähnlicher Weise verfährt Philadelphia (Philadelphia, USA 1993, Jonathan Demme), wo die Aidserkrankung dem Protagonisten am Anfang des Films deutlich ins Gesicht geschrieben steht, um ihn am Ende wie einen Märtyrer aussehen zu lassen, der sein körperliches Leiden und dessen Anzeichen von Entstellung hinter sich gelassen hat. Beide Figuren werden in ein intaktes soziales Umfeld versetzt, das ihre körperliche Abweichung im doppelten Wortsinn aufhebt. Diese wird dadurch, daß sie die Gemeinschaft als ihr exkludiertes Anderes permanent zur Reflexion über sich selbst zwingt, zu einer Maske des Sozialen. Die kranke Haut – wie übrigens auch die alternde mit ihren Falten und Pigmentflecken – ist, so scheint es zumindest, nur so lange interessant, wie sie die filmische Narration stabilisiert. An zwei Stellen verweist Shadows explizit auf die Problematik der Maske als Ausdruck der Alterität: in der eingangs beschriebenen Szene, in der die Kamera, bevor sie auf Lelias äußerst nahegerücktem Gesicht verweilt, über eine geschnitzte Maske schwenkt, sowie in der Szene, als Ben mit seinen Freunden durch den Skulpturenpark des MoMA streift und vor einer großen afrikanischen Maske verweilt. Auch die helle Haut Bens und Lelias wird immer im öffentlichen

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Raum und in der Begegnung mit anderen zu einer Maske. Ihre weiße Haut verbirgt eine Unsicherheit, die daraus resultiert, daß sich beide keiner Person außerhalb ihrer Familie, keiner Gemeinschaft oder ›Rasse‹ zugehörig fühlen. Diese Szenen deuten die katalytische Funktion des maskenhaften Gesichts an, das in unterschiedlichen Spielformen zum Einsatz kommt. Dies bekräftigt Ray Carney: »[…] kein Begriff ist in Shadows wichtiger als der der Maske […], der fundamentale Konflikt aller Hauptfiguren liegt an einem bestimmten Punkt innerhalb des Films im Umgang mit der Maske, die er oder sie trägt« (Carney 2003: 84). Diese Beschreibung trifft auch auf einen aktuellen Film wie The Human Stain (Der menschliche Makel, USA/D/F 2003, Robert Benton) zu, in dem die zentrale Figur, ein hellhäutiger Collegeprofessor afroamerikanischer Herkunft, seine Haut wie eine Maske trägt, die ihn vor Ressentiments und Benachteiligungen schützen soll. In Shadows betrifft der »Umgang mit der Maske« nicht nur Ben und Lelia und die besondere Problematik des ›weißen Negers‹, sondern in nur wenig abgeschwächter Form auch die anderen Figuren: Sichtbar wird das etwa in Hughs aufgesetzter Pose eines erfolgreichen Sängers oder in Davids Maske vermeintlicher Selbstsicherheit, die er in dem Moment abstreift, als er Lelia an Tony verliert. Lelias Dilemma wird erst deutlich, als sie sich in Tony verliebt und mit seinen rassistischen Ressentiments konfrontiert wird. Denn Tony wendet sich von ihr ab, als er ihrem dunkelhäutigen Bruder Hugh begegnet und erkennen muß, daß auch Lelia ›schwarzes Blut‹ in sich hat. In dieser Situation verliert er seine Selbstkontrolle, die auf der Maske des einfühlsamen Romantikers beruht. In der offenen Konfrontation mit Hugh, der Lelia mehr oder weniger hilflos zuschaut, kann er seine unbewußte körperliche Aversion nicht verbergen. Diese Konfrontation zeigt die Einstellung als elementaren Machtkampf physischer Kräfte: Tony und Hugh stehen sich exakt auf der Wohnungsschwelle gegenüber, mehr oder weniger eingeklemmt durch den Türrahmen; ihre Körper berühren sich dabei fast. Auf so engen Raum zusammengedrängt, zeigt die Aufnahme die sich steigernde Erregung der drei Akteure in einer Großaufnahme ihrer flächig gestaffelten Gesichter: Hughs und Tonys Kopf im Profil und dazwischen Lelias Gesicht in Frontalansicht. Solche ausgefeilten Kompositionen von drei, zum Teil angeschnittenen Köpfen in extremer Großaufnahme, kehren auch in anderen Szenen wieder: Hugh mit seinem Manager Rupert und Ben, mit Rupert und einem Pianisten. Anja Streiter hat die Bedeutung dieser besonderen Einstellungen treffend analysiert: »Eine fokussierte Lichtquelle schräg links neben der Kamera überstrahlt die Gesichter, die sich von einem planen Hintergrund abheben. Durch diese Ausleuchtung gewinnen vor allem die vorderen Gesichter eine ungewöhnliche Plastizität. Sie wirken wie appliziert auf eine Fläche. […] Die Kamera fragmentiert hier nicht die Figuren, sondern schichtet sie in

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➞ [ Oberfläche ]

Form einer Collage in verschiedenen Ebenen des Bildes. Die Beziehung wird über den Kameraausschnitt, nicht über die Montage hergestellt« (Streiter 1995: 46). Die Einstellung irritiert aber auch deshalb, weil sie die Figuren aus dem diegetischen Raum der Handlung katapultiert und das Gesicht zu einer Attraktion macht. In dieser Hinsicht erinnert Shadows an die Rolle der Großaufnahme im frühen Film. Die Bewegungen der Köpfe, die stets eine sehr lebhafte Mimik aufweisen, zeigen mehr als nur wechselnde Figurenkonstellationen oder das ständige Hin und Her der Rede an. Parallel dazu wird ein körperlicher Modus der Interaktion sichtbar, der seine eigenen Regeln setzt. In Shadows gibt es sehr viele Gesprächssituationen, in die mehrere Personen oftmals lautstark involviert sind: In Cafés, auf Partys oder Bars wird ausgiebig über Literatur, Musik und Kunst, über Existentialismus, Freundschaft und Liebe diskutiert. Es scheint fast, als hätte Cassavetes’ Film weniger das Rauschen der Diskurse als die verschiedenen Ausprägungen des sozialen Gestus der Rede aufzeigen wollen. Die Posen und Attitüden, die die Redenden dabei einnehmen, sind nicht von den Figuren ablösbar. Die Pose ist wie das Weiße der Haut ein Mimikry-Zeichen, das jedoch gleichzeitig die gängige Zuordnung von Hautfarbe und Rasse erschüttert. Besonders bei Lelia ist dieses Weiß weniger eine Farbe als ein Projektionsgrund für das Kameraspiel mit Lichtreflexen ebenso wie für die Wünsche ihrer männlichen Verehrer. Die extra für die zweite und einzig überlieferte Fassung des Films gedrehte Liebesszene zwischen Tony und Lelia ist dafür ein gutes Beispiel: Sie sticht wegen ihrer melodramatischen Färbung und ihrer Lichtregie heraus, die vor allem Lelias Gesicht in immer neuen Facetten modelliert. Diese Filmfigur strebt geradezu nach dem Licht, das ihr die Aufnahme schenkt, nur um sich desto besser der Durchleuchtung durch die Kamera und den Blicken anderer entziehen zu können. Cassavetes’ Kameramann, der Dokumentarfilmer Erich Kollmar, stand dem Regisseur in wichtigen filmpraktischen Fragen zur Seite. Er vor allem hat es verstanden, die blasse Gesichtshaut Lelias mit Oberflächenreizen auszustatten und sie damit dem Star-Image Hollywoods anzunähern. Auf ihrem Gesicht wird der Wechsel zwischen Licht und Schatten besonders ausgestellt, etwa wenn sie nachts über den Broadway schlendert und ihr Gesicht vom Lichtermeer der Großstadt angestrahlt wird oder wenn sie aus dem dunklen Treppenhaus kommend in Tonys Apartment eintritt. Diese Szene verrät, in welcher Weise die Wirkungen des Lichts kalkuliert wurden: Die Kamera ist in Tonys Rücken postiert, der bereits das Apartment betreten hat, sich Lelia zuwendet und ihr Eintreten erwartet. Zuerst wird ihr Gesicht von einer Lichtquelle im Treppenhaus grell beleuchtet, die es aus dem Dunkel reißt und es wie eine körperlose Maske wirken läßt – besonders gegenüber den massiv ins Bild gesetzten Rücken und Hinterkopf Tonys, der den Kader fast zur Hälfte ausfüllt. Dann geht sie weiter auf

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ihn zu, tritt aus dem Lichtkegel heraus und ist für einen Moment nur schemenhaft sichtbar, bis sie die Schwelle überschreitet, Tony für einen Moment ansieht und dann die Augen niederschlägt. In diesem kurzen Moment des Blicks, der aus dem Dunkel selbst zu kommen scheint, blitzt in ihrem noch verschatteten Gesicht etwas auf, eine Ahnung des Kommenden, das zugleich eine besondere Affinität von reflektierender Haut und fokussierendem Licht deutlich werden läßt, die der Szene ihre Spannung verleiht. »Dieses Gesicht bei diesem Licht! Das ist eine Geschichte«, läßt Jean-Luc Godard in Passion (Passion, F/CH 1982) den Filmregisseur Jerzy ausrufen – und kommentiert damit zugleich den Licht-Kult des film noir. Auch Lelias Gesicht weist hier ohne Zweifel eine Qualität auf, die bereits frühe Filmtheoretiker wie Louis Delluc oder Jean Epstein als ›Photogénie‹ bezeichnet haben: Mit diesem schwer definierbaren Begriff wird ein besonderer filmischer Effekt benannt, der sich durch Plötzlichkeit und Flüchtigkeit auszeichnet (vgl. Kessler 1996). Jean Epstein hat unterstrichen, daß vor allem die mobilen und eigentümlich filmischen Facetten von Gegenständen und in bevorzugter Weise das Gesicht Photogénie beanspruchen können: »seuls des aspect mobiles et personnels des choses, des êtres et des âmes peuvent être photogéniques […]« (zit. in ebd.: 519). Diese Eigenschaften machen sie zu einer Erscheinungsform der Melancholie in der Moderne, denn auch ›Photogénie‹ bezeichnet einen flüchtig aufblitzenden Moment, den kurzen Schauer der Erkenntnis, den Augenblick, den man vergeblich festhalten will. Charles Baudelaire hat dieser Verlusterfahrung in seinem berühmten Gedicht A une passante eine bezeichnende, rein typographische Prägung gegeben: »Un éclair… puis la nuit!« (Baudelaire 1861/1975: 244). Photogénie haftet dagegen für Louis Delluc den Dingen selbst an – vor allem jenen, die wie Stoffe, Möbel und Landschaften oder auch Gesichter eine bestimmte Textur aufweisen und vor allem gute Reflektoren bzw. Filter des Lichts sind (vgl. Kessler 1996: 522f.). Photogénie besitzt also etwas, das eine Oberfläche aufweist, die wie die helle Haut Lelias im Licht ›epiphanisch‹ oder besser: zu einer Erscheinung ihrer selbst wird. Damit erweist sich die Photogénie für Epstein als ein reines visuelles Phänomen, »l’expression la plus pure du cinéma« (zit. in ebd.: 520). In diesem Zusammenhang diskutiert Frank Kessler auch Roland Barthes’ Konzeption des stumpfen Sinns (vgl. ebd.: 530), der sich der Ebene der Kommunikation sowie der Ebene der Bedeutung – in Barthes’ Terminologie: dem entgegenkommenden Sinn – gleichermaßen entzieht (vgl. Barthes 1982/1990: 47-66). Die störende Kraft dieses »dritten Sinns« liegt darin, daß er diesen Ebenen eine völlig andere Richtung geben kann, ohne sie auszulöschen. Er stellt für Barthes einen autonomen visuellen Sinn dar, der »nichts nachbildet«, sondern das bezeichnet, »was im Bild nichts als Bild« ist (ebd.: 60). Der stump-

➞ [ Blick ]

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fe Sinn ist also ein Zusatz, eine luxuriöse, nicht objektivierbare, also im Grunde überflüssige Betonung, die gegen die Narration opponiert, zugleich kontrapunktisch, entlarvend, aleatorisch, ebenso flüchtig wie schillernd ist. Darin trifft er sich mit der Photogénie. Die Gesten und Posen der Interaktion wie des Selbstschutzes in Cassavetes’ Film geben den Akteuren einen Spielraum, in dem sich der stumpfe Sinn einnisten kann. Sie entwickeln ihre eigene visuelle Dynamik jenseits der filmischen Narration und der symbolischen Zeichenordnung. Das heißt, sie gehen nicht auf in der Nacherzählung von Handlungen und Ereignissen oder der Analyse der kulturellen Bedeutung von Hautfarbe. Der Subdiskurs über das Gesicht als Bild, den Shadows dezent über die zahlreichen Porträts und Plakate ausbreitet, die verstreut an den Wänden hängen und immer wieder in den Fokus der Kamera geraten, läßt sich ebenfalls unter der Perspektive dieses stumpfen Sinns betrachten. Auch die bei Cassavetes häufig beklagten falschen Anschlüsse dürfen daher nicht als Dilettantismus gewertet, sondern können als Öffnung des filmischen Raums auf den stumpfen Sinn hin verstanden werden. Die ›Stumpfheit‹ der Filmbilder zeigt sich so gesehen in den Passagen, in denen – um noch einmal mit Jacques Aumont zu sprechen – »das Licht den Schatten durchquert«, in den Momenten der Selbstvergessenheit oder des Innehaltens der Figuren wie in der eingangs beschriebenen Szene, das heißt in Bildpassagen, die die Grenze zwischen Schwarz und Weiß, Handeln und Nichthandeln, Aktion und Passion permanent verunsichern. [ Petra Löffler ]

Literatur Aumont, Jacques (1998): »Schönheit, verhängnisvolle Sorge«. In:

Astrid Ofner (Hg.): Jean-Luc Godard. Retrospektive der Viennale 1998 in Zusammenarbeit mit dem Österreichischen Filmmuseum, 1. bis 31. Oktober 1998, Wien: Viennale, Vienna International Film Festival, S. 38-43. Barthes, Roland (1982/1990): Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Baudelaire, Charles (1861/1975): Sämtliche Werke/Briefe in acht Bänden, hrsg. v. Friedhelm Kemp u. Claude Pichois in Zusammenarbeit mit Wolfgang Drost, Bd. 3: Les Fleurs du Mal. Die Blumen des Bösen, München/Wien: Hanser. Benthien, Claudia (1999/2001): Haut. Literaturgeschichte – Körperbilder – Grenzdiskurse, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Blankenburg, Martin (1996): »Rassistische Physiognomik. Beiträge zu ihrer Geschichte und Struktur«. In: Claudia Schmölders (Hg.):

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Der exzentrische Blick. Gespräch über Physiognomik, Berlin: Akademie-Verlag, S. 133-161. Carmichael, A. C. (1833/1969): Domestic Manners and Social Condition of the White, Coloured, and Negro Population of the West Indies, New York (Reprint): Negro University Press. Carney, Ray (Hg.) (2003): John Cassavetes über Cassavetes, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren. Comolli, Jean Louis (1968): »Deux visage de ›Faces‹«. In: Cahiers du Cinema, Nr. 205 (Oktober), S. 38. Dapper, Olfert (1686): Description de l’Afrique, Amsterdam: Wolfgang, Waesberge, Boom & van Someren. Deleuze, Gilles (1985/1997): Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Delluc, Louis (1920): Photogénie, Paris: Brunoff. Dyer, Richard (1997): White, London/New York: Routledge. Fahle, Oliver (2000): Jenseits des Bildes. Poetik des französischen Films der zwanziger Jahre, Mainz: Bender 2000. Fend, Mechthild (2004): »Touche nerveuse. Fragonard trifft Diderot«. In: Konkursbuch 41: Haut, hrsg. v. Christine Hanke u. Regina Nössler, Tübingen: Konkursbuchverlag, S. 204-214. Goethe, Johann Wolfgang von (1808/1988): »Zur Farbenlehre«. In: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 13, München: dtv, S. 314-536. Jansen, Peter W./Schütte, Wolfram (Hg.) (1983): John Cassavetes, München/Wien: Hanser (Reihe Film 29). Kessler, Frank (1996): »Photogénie und Physiognomie«. In: Rüdiger Campe/Manfred Schneider (Hg.): Geschichten der Physiognomik: Text, Bild, Wissen, Freiburg i.Br.: Rombach, S. 515-534. Mailer, Norman: »The White Negro: Superficial Reflections on the Hipster«. In: Dissent, Vol. IV, Nr. 3 (Summer 1957), S. 276-293. Marx, Gary C. (2005): The White Negro and the Negro White. Online unter: http://web.mit.edu/ gtmarx/www/whitenegro.html [17.02. 2005]. Stauff, Markus (2004): »Die Haut als Special Effect«. In: Konkursbuch 41: Haut, hrsg. v. Christine Hanke u. Regina Nössler, Tübingen: Konkursbuchverlag, S. 96-103. Streiter, Anja (1995): Unmögliche Leben. Filme von John Cassavetes, Berlin: Vorwerk 8.

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Q

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[ Queer ] | 231

[ Queer ]

Das schweißbedeckte Gesicht des Mannes, der vornübergebeugt auf einem Tisch liegt, ragt diagonal ins Bild. Er ist dem Betrachter zugewandt, ohne ihn anzuschauen. Der Mann sieht nach rechts aus dem Bild heraus. Seine Schultern und Arme sind unbedeckt, aber er ist nicht gänzlich nackt, denn die Träger seines weißen Unterhemds sind noch zu sehen. Sein Kopf bedeckt eine Matrosenmütze, auf der ein roter Püschel sitzt. Mit seinen Händen klammert er sich an einer Lampe und der Tischplatte fest. Seine muskulösen Arme sind angespannt, ebenso wie das Gesicht (›das immer nackt ist‹). Die Szene ist in ein gelblich schimmerndes Kunstlicht getaucht, das von der hellen Haut und der weißen Kleidung widergespiegelt wird, so als sollte hier nichts im Verborgenen bleiben. Dunkel ist im Bildhintergrund die Gestalt eines zweiten Mannes zu sehen. Die Szene stammt aus Rainer Werner Fassbinders letztem Film Querelle – ein Pakt mit dem Teufel (BRD/F 1982), einer Verfilmung des gleichnamigen Romans von Jean Genet, die erst nach Fassbinders Tod uraufgeführt wurde. Mehrfach, wie auch in dem hier beschriebenen Filmausschnitt, sehen wir darin zwei Männern beim Sex zu. Die Szene ist nicht nur in ästhetischer Hinsicht erstaunlich, weil hier offensichtlich eine Grenze überschritten wird – davor und danach ist außerhalb der Subkultur schwuler Sex kaum wieder so direkt gezeigt worden –, sondern zugleich auch in politischer und moralischer Hinsicht: denn seitdem Aids als eine tödliche Krankheit bekannt wurde, gilt ungeschützter Analverkehr zwischen Männern als ein absolutes

2005-09-05 10-34-03 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 231-243) T01_17b queer.p 93904543254

232 | [ Peter Rehberg ]

➞ [ Auge ]

Tabu. Querelle zeigt barebacking avant la lettre. Der Film bietet Anlaß zu Fragen, die sich sonst kaum stellen lassen: Wie fotografiert oder filmt man eine schwule Sexszene? Welche Konventionen werden dabei bedient oder bedroht? Die Möglichkeit, das Schauspiel der Schwulen unter dem Stichwort queer zu lesen – das heißt unter einem Ansatz, der vorschlägt, Gender und Sexualität nicht-essentialistisch zu sehen –, bietet sich anagrammatisch schon im Namen des Helden, des Matrosen Querelle, an. Doch auf welche Weise erlaubt Querelles Gesicht die Anwendung einer ›queeren Logik‹, die sexuelle Identität vor allem performativ zu denken vorschlägt? Die Frage nach ›queer‹ speziell in bezug auf das Gesicht zu stellen, riskiert zunächst, sich genau jenen Strategien zu fügen, die die Queer Theory gerade unterlaufen möchte. Denn das Gesicht gilt zunächst als Ausdruck von Persönlichkeit und Identität, die darin gespiegelt wird. So schreibt Susan Sontag über die Porträtfotografie: »Im üblichen Sprachstil des Fotoporträts bedeutet der Blick in die Kamera Feierlichkeit, Offenheit, Enthüllung der wahren Natur des Modells« (im Original: »the subject’s essence«; Sontag 1977/1990: 37-38). Trotz der medialen Differenz von Foto und Film – auch das einzelne Filmbild gewinnt seine Bedeutung im Kontext filmischer Narration – kann diese Ausdruckslogik auch für das einzelne Filmbild in Anspruch genommen werden. Ein Gesicht, das tatsächlich queer wäre, müßte die von Sontag beschriebene Annahme einer essentiellen Identität, die an der Gesichtsoberfläche ablesbar geworden ist, verunsichern. Dies gilt insbesondere für die Augen bzw. den Blick, der, insoweit er als Medium gedacht wird, in dem sich das Innere zeigt, dem Betrachter Einblick in die Geheimnisse der Persönlichkeit verspricht. Insoweit mit dem räumlichen Modell von Oberfläche und Tiefe auch die semantische Stabilität des Gesichts als ein Ort bezeichnet ist, an dem die Persönlichkeit lesbar wird, ist zunächst noch nicht auszumachen, in welcher Hinsicht man von einem Gesicht als queer sprechen könnte. Der Ausdruck ›queer‹ ist aus dem Englischen ins Deutsche übernommen worden. Im angloamerikanischen Sprachgebrauch wurde ›queer‹ zunächst in diskriminierender Absicht zur Bezeichnung gesellschaftlicher, insbesondere sexueller Abweichungen gebraucht, die als »ungewöhnlich«, »sonderbar«, »eigenartig« oder »verdächtig« klassifiziert wurden. Ähnlich wie beim deutschen Wort »schwul« wurde die damit ursprünglich indizierte Stigmatisierung in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre jedoch emanzipatorisch umgewertet. Auf diese Weise gewann ›queer‹ eine politische Bedeutung, die insbesondere innerhalb der US-amerikanischen Hochschulen schließlich disziplinbildend wurde. Dabei erfüllte der Begriff vor allem zwei Funktionen: Konfrontiert mit der Aids-Epidemie und dem politischen Versagen angesichts dieser Katastrophe, sollte ›queer‹ unterschiedslos Lesben

2005-09-05 10-34-03 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 231-243) T01_17b queer.p 93904543254

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und Schwule und all jene, die sich mit ihnen gegen homophobe Ausschlußmechanismen zur Wehr setzten, bezeichnen. Im Unterschied zu den separatistischen Kategorien gay und lesbian hatte der Begriff den zusätzlichen Vorteil, tendenziell statische Identitätsentwürfe zu unterlaufen, indem er Sexualitäten jenseits der Dichotomie von homo und hetero benennen konnte sowie andere Kategorien wie zum Beispiel ›race‹ in das Denken von Geschlecht und Sexualität mit einbezog. Der Ausdruck ›queer‹ stellte einen Begriff für diverse Subjektpositionen im Feld von Gender/Sexuality/Race zur Verfügung, der vorhandene Differenzen in diesem Feld nicht sogleich wieder vereinheitlicht. In diesem Sinne ist ›queer‹ stets von einer positiven begrifflichen Unschärfe gezeichnet, die dazu drängt, immer neu zu beschreiben, was jeweils ›queer‹ heißen soll. Der inzwischen klassischen Ikonographie eines Gesichts, das sich als queer zu erkennen gibt, insofern es seine geschlechtliche oder sexuelle Ambiguität vorführt, entspräche die ›Tunte‹ oder die ›Transe‹, der ›Tomboy‹ oder der ›Drag-King‹. In jedem Fall handelt es sich hierbei um Maskeraden, die zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit oszillieren und damit die ihnen zugrunde liegende heteronormative Ordnung auf eine offensichtliche Weise hinterfragen. Mit dem Vorschlag, das Gesicht von Brad Davis in der Rolle von Querelle als queer zu lesen, wird jedoch eine andere Strategie verfolgt, die die ›queerness‹ dem Blick weniger deutlich anbietet. Gerade der exemplarische Status mehr oder weniger greller Maskeraden, die die Ordnung der Geschlechter und des Begehrens in Bewegung zu versetzen scheinen, zeigt seine Problematik, wenn das Nichtnormative an Subjektivitäten delegiert wird, die ihre Wünsche dermaßen offen zur Schau stellen müssen, weil der Raum dafür ansonsten nicht gegeben ist. Eine solche Offensichtlichkeit von ›queerness‹ läuft jedoch dem zuwider, was jeweils als queer gelten könnte, insofern die damit hervorgebrachte Mobilität der Geschlechterzuschreibungen und ihrer Rollen aufgegeben worden wäre. Eines der Probleme von Queer Studies ist nämlich, daß ›queer‹ selbst immerzu Gefahr läuft, identifikatorisch gedacht zu werden. Umgekehrt läßt sich fragen, wie sich eine nichtnormative geschlechtliche oder sexuelle Position unter den Bedingungen von Zwangsheterosexualität überhaupt kundtun kann. Würde man sich in dem Moment, wo Differenz nicht mehr offen zur Schau gestellt wäre, nicht gleichzeitig am Ort des polizeilichen Blicks befinden, der sich auf die Suche nach latent physiognomischen Zeichen begibt, um sie schließlich im Namen der abweichenden sexuellen Identität zu stigmatisieren? Michel Foucault hat diesen Zusammenhang von Subjektivität und Macht am Beispiel der Konstruktion von Homosexualität in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschrieben (vgl. Foucault 1983). Paradoxerweise war die Idee einer homosexuellen Identität diskursgeschichtlich erst möglich geworden, nachdem man sie im

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➞ [ Star ]

➞ [ Photogénie ]

gerichtsmedizinischen und sexualpathologischen Zusammenhang konstruierte. Für die Sexualwissenschaftler war Homosexualität nicht länger eine Frage des Handelns, sondern der ›Natur‹ – der Homosexuelle wurde zur Spezies. Dieses fragwürdige Erbe ist auch innerhalb der Psychoanalyse, wenn auch auf eine widersprüchliche Weise, wirksam gewesen. Um so mehr stellt sich die Frage nach einem Gesicht, das queer genannt werden könnte, ohne dem identitätspolitischen Register und seinem ›Double-Bind‹ von Exhibitionismus und Denunziation zu genügen. Auf den ersten Blick scheint alles an Fassbinders Film queer zu sein – außer Querelle selbst. Die gesamte Filmszenerie ist wechselweise in orange-gelbes oder blaues Licht getaucht und damit einer Künstlichkeit übergeben, die nicht nur innerhalb der Räume der »Feria«, dem Schauplatz der eingangs beschrieben Filmszene, herrscht, sondern auch außerhalb des Hafenbordells im kulissenhaften »Brest«. Von dieser künstlichen Ästhetik des Schauplatzes hebt sich zunächst Querelles Gesicht ab, das scheinbar nicht artifiziell inszeniert ist. Antithetisch ist hingegen Jeanne Moreau in der Rolle der Bordellbesitzerein Lysiane inszeniert, deren Gesicht wiederum als ›queer‹ gelesen werden kann, weil es mit seiner offensichtlichen Maskerade nicht nur zur Imitation durch Drag-Queens einlädt (so wie die Hollywood-Diven Joan Crawford und Betty Davis), sondern ihrerseits wie eine solche wirkt. Bei Querelle ist es die ›ungeschminkte‹ Haut und vor allem der Schweiß, der auffällig sein Gesicht bedeckt, die sich als ›ikonische‹ Zeichen zur Lektüre anbieten. Im Kontrast zum Universum der manieristischen Szenerie der Hafenstadt ist Querelles Gesicht als ›natürlich‹ inszeniert und gibt damit zunächst keine Hinweise auf eine mögliche Lesart jenseits des hetero-normativen Paradigmas. Querelles Männlichkeit selbst – verbürgt durch seine physische Präsenz, die Authentizität verspricht – gibt vor, sich jenseits einer Ökonomie der Maskierung zu bewegen, indem sein Gesicht von einem Schweißfilm überzogen ist. Gleich im Anschluß an die Begegnung zwischen Nono (Günther Kaufmann) und Querelle wird eine Szene gezeigt, in der Querelle am ganzen Körper mit Kohlenstaub bedeckt ist. Dieses Motiv in der Inszenierung von Männergesichtern steht symbolisch für den gesamten Film, denn mit dem Kohlenstaub wird nicht nur die Frage der ›Rasse‹ parodistisch-subversiv ins Spiel gebracht – Nono, Lysianes Mann und Querelles Partner in dieser Szene, ist ein ›Schwarzer‹, Querelle ist nun ›schwarz‹ geworden. Schmutz und Schweiß, zuallererst Effekte körperlicher Arbeit, sind hier zum Make-up des Mannes stilisiert. In diesem Sinne ist Querelles Gesicht durchaus geschminkt. Joan Riviere hatte die Idee der Maskerade in ihrer Rezeption von Freuds Fetischismus-Aufsatz ins Spiel gebracht, ein Motiv, das später von Jacques Lacan weiterentwickelt worden ist (vgl. Riviere 1929/

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1994; Lacan 1991). Queer ist die Maskerade in ihrer konstitutiven Funktion, denn bei Riviere ist es nicht die (konkrete) Frau, die sich maskiert, sondern es ist die Weiblichkeit selbst, die im Modus der Maskerade entsteht. Lacan überträgt diesen Gedanken später auf die Funktion von Männlichkeit. Trotz des inszenierten Charakters, der folglich für beide Geschlechterpositionen gilt, sind die jeweiligen performativen Geschlechtsidentitäten allerdings asymmetrisch organisiert. Die Asymmetrie der Geschlechter besteht darin, daß ›die Frau‹, anders als ›der Mann‹, für ihren Subjektstatus auf die Maske angewiesen zu sein scheint. Wenn Querelle also diese Maskerade nicht braucht, wo läßt sich dann die ›queerness‹ an seinem Körper ablesen? Fassbinders Querelle thematisiert das Ausstellen männlicher Schönheit und ihrer Effekte an vielen Stellen: »Aber sie sehen schön aus so«, kommentiert Leutnant Seblon, Querelles Vorgesetzter, einer derjenigen, die ihm körperlich verfallen sind, dem von der Arbeit auf dem Schiff verschmutzten Matrosen (Fassbinder 1982: 26). In dem Maße wie Autorschaft auch eine Frage von Gender ist, kommt die Beschreibung männlicher Schönheit üblicherweise schwulen Autoren zu. Richard Dyer hat im Hinblick auf Genets eigenen, mit Unterstützung von Jean Cocteau gedrehten Film Un chant d’Amour (F 1950) darauf hingewiesen, daß bei Genet »rough masculinity« zum Schönheitsideal aufgewertet ist (vgl. Dyer 1990). Ein Ideal, das übrigens politisch stets unter Verdacht stand (vgl. Hewitt 1996). Der Film präsentiert einen ganzen Katalog trivialer Mythen der Männlichkeit, neben Matrosen auch Bauarbeiter, Polizisten und Motorradfahrer, inklusive ihrer Accessoires, wie sie seit den 1950er Jahren zum Repertoire schwuler Subkultur und ihrem sexuellen Imaginären gehören. Obwohl mit dem Begriff ›camp‹ in erster Linie ein Verhältnis beschreiben wird, bei dem die Positionen der Geschlechter dem Austausch unterworfen sind (die Drag-Queen als Parodie von Weiblichkeit), so kann auch ein ›Stil‹, der die Künstlichkeit von Männlichkeit als Maskerade, als Make-up oder als Kostüm in seinen denaturalisierenden Effekten hervorhebt, durchaus diese Bezeichnung tragen. In Querelle (oder auch in Rap-Videoclips) tragen die Männer als Zeichen ihrer Macht nicht nur Uniformen, sondern auch Orden und Ringe. Hypermännlichkeit schlägt hier – interessanterweise – um in Weiblichkeit, denn die Hervorhebung der konstitutiven Funktion von ›Stil‹ für das Geschlechterbild ist strukturell weiblich bestimmt. Es ist eine Weiblichkeit, die in Querelle auch den männlichen Körper affiziert. So bemerkt Lysiane über ihren Mann: »Siehst du, manchmal entströmt Nono eine Art Weiblichkeit und zeichnet sich in einer albernen zarten Bewegung ab« (Fassbinder 1982: 27). Eine exzessiv inszenierte Männlichkeit, die genau darin droht, weiblich zu werden, zeigt sich in der filmischen Inszenierung auf das plakativste, wenn die Türme von Brests Hafenmauern in Form von

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Phalli zu sehen sind. Doch ist es weniger diese aufdringliche und schließlich kollabierende Phallizität, die Querelle in erster Linie queer macht. Es ist auch nicht das Netz des Begehrens, in dem jede Position letztendlich als schwul markiert ist, woran kein Zweifel mehr besteht, wenn der Polizist Mario über Madame Lysiane und ihren Liebhaber schließlich sagen kann: »Aber wenn sie sich lieben, ist es wie bei den Schwulen« (Fassbinder 1982: 44). Im Universum dieser Zwangshomosexualität, die die Heterosexualität nur als Vorwand kennt und damit immerhin im Genre der Literaturverfilmung eine schwule Pornophantasie verwirklicht, zeigt sich ›queerness‹ im Gesicht Querelles jenseits der Ökonomie der Maskerade. Das Auffälligste an diesem Gesicht ist zunächst, daß nicht klar ist, was es zeigt. Eine Eigenschaft, die im Kontext der Filmhandlung in die Rätselhaftigkeit des Charakters Querelle übersetzt wird, einem homme fatale. Ein filmisch inszeniertes Gesicht ›queer‹ zu nennen, bedeutet vor dem Hintergrund der bisher skizzierten Problematik, daß dieses Film-Bild einer Rezeptionshaltung bedarf, die über ein Bewußtsein für sexuelle und geschlechtliche Differenzen verfügt. ›Queerness‹ kann immer übersehen werden, oder seine anfängliche Bedeutung droht reaktiviert zu werden, und was queer ist, erscheint dann lediglich im diffusen Sinne als eigenartig. Einem Bild die Qualität ›queer‹ attestieren heißt also, seine drohende Nichtintelligibilität zum Ausgangspunkt der Betrachtung zu wählen. Eine solche Geste folgt der stets heiklen rhetorischen Operation einer Minderheitenpolitik, die sich mit dem, was sie bekämpft, gleichschaltet, wobei der Mangel an kohärenter Repräsentationslogik in bezug auf Bilder von Minderheiten in erster Linie auch für diese selbst gilt. Wer sich als queer identifiziert, eine Identifikation, wie deutlich geworden sein sollte, die keine sein kann, unterliegt zunächst denselben Mechanismen, wie eine Position, die keinen Blick dafür hat, was queer ist. Querelles Gesicht ist verzerrt, die Stirn liegt in Falten – jenseits des Kontextes der Filmszene ist dieser Ausdruck mehrdeutig. Innerhalb des Männlichkeitsparadigmas, das sich in der Inszenierung des Gesichts über Schweiß und Schmutz ankündigt, verweist das Gesicht auf körperliche Anstrengung, deren Charakter jedoch nicht gleich erkennbar ist: Diese Szene zeigt Querelle und Nono, den Mann der Bordellbesitzerein Lysiane, beim Sex. Querelle ist der passive Partner – eine Klassifizierung, die sofort die Frage aufwirft, ob schwuler Sex nichtschwulen Sex imitiert oder parodiert oder in welchem Verhältnis sie sich zueinander befinden. Lee Edelman hat auf die epistemologischen Konsequenzen des coitus a tergo hingewiesen, wie er der Freudschen Urszene eingetragen ist (vgl. Edelman 1994: 173-191). Nicht die Obszönität dieses Moments interessiert hier, sondern die Sexszene in ihrer epistemologischen Relevanz, genauer, die Frage, wie das Gesicht des passiven Partners beim schwulen Sex Bedeutung und damit vielleicht eine andere Art von Obszönität gewinnt.

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Was an diesem Gesicht queer ist, ist ihr Zeigen der männlichen Lust selbst. Fassbinders Inszenierung läßt daran keinen Zweifel. Von beiden, Querelle und Nono, sind beim Sex nur Nahaufnahmen der Gesichter zu sehen, dazwischen montiert sind fragmentierende Aufnahmen von Querelles Körper. Durch diese fetischisierende ›Körperzerstückelung‹ droht die Szene aus dem narrativen Rahmen des Films herauszufallen. Auch wenn diese Darstellungsform der Absicht geschuldet bleibt, mit Querelle keine Pornographie produzieren zu wollen und deshalb das Geschlecht nicht zu zeigen – es gibt keinen cum shot wie im Pornofilm, statt dessen brechen die Männerkörper am Ende der Szene einfach übereinander zusammen –, so bezieht sich der Film in dieser Sequenz doch auf eine andere Konvention. Die Logik der Pornographie sieht bezüglich der Darstellung von Lust bei Mann und Frau unterschiedliche Formen der Repräsentation vor. Während beim Mann das Geschlecht die Darstellung der Lust monopolisiert, gibt es bei der weiblichen Repräsentation von Lust eine Verschiebung von Geschlecht zum Gesicht. Eine daraus erwachsende Konsequenzen ist, daß sich Lust, die sich im Gesicht widerspiegelt, analog zur Frage von Maskerade und ›Stil‹ strukturell weiblich konnotiert wird. Im Gesicht der Frau zeigt sich also eine Lust, die nicht die Lust des Mannes ist. Sie ist seit Freud weniger als eine andere denn als ein Fehlen von Lust oder als Rätselhaftigkeit der weiblichen Lust gedacht worden. Wie die Psychoanalyse symptomatisch anzeigt, droht eine Lust, die nicht phallisch ist, gar nicht wahrgenommen zu werden. Mit dem Darstellungsdefizit einer weiblichen Lust korrespondiert auf der anderen Seite allerdings zugleich die Vorstellung, diese unfaßbare Lust wäre nicht ein Weniger, sondern ein Mehr. Die Rätselhaftigkeit einer nicht männlichen Lust potenziert sich noch einmal und stellt damit die ihr bereits inhärente ›queerness‹ um so deutlicher heraus, wenn sie sich explizit im Gesicht des Mannes abspielt. Was bedeutet es, wenn das Gesicht des Mannes, das vermeintlich nicht ›dafür da ist‹, Lust zeigt? Ausgehend vom hetero-normativen Paradigma der Geschlechterdarstellung im Film läßt sich zunächst behaupten, eine solche ›Vergesichtlichung‹ der Lust bedeute auf der anderen Seite eine Verweiblichung des Mannes. So sagt Genet, Schwule müßten die Frau erfinden – und nimmt damit Judith Butlers Thesen zur Performativität des Geschlechts vorweg –, insofern die bloße Inszenierung des Geschlechtsunterschieds die Bedeutung des Unterschieds zugleich bestätigt und in Frage stellt (vgl. Butler 2003: 155-168). Geschlechtspolitisch liegt darin die Ambivalenz jeder ›Drag-Performance‹, die den Geltungsbereich heterosexueller Geschlechterrollen ausweitet, während sie deren Verankerung in Frage stellt – oder wie könnte man sonst die Komik der Travestie auslegen? Genets Universum, zumindest in Fassbinders filmischer Interpre-

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tation, setzt allerdings weniger auf die offene Parodie geschlechtlicher Verwechslungen, sondern präsentiert Männlichkeit trotz Maskeraden mit todbringendem Ernst (vgl. Bersani 1995). In der Welt von Querelle gibt es nur eine Frau, die Bordellbesitzerin Lysiane. Unter den sie umgebenden Männern werden Geschlechtsunterschiede – da es sie sonst nicht gibt – und die damit zusammenhängenden Herrschaftsverhältnisse im Modus von Gewalt und Verbrechen hergestellt. Drogenhandel und Mord bilden den Hintergrund, vor dem sich Komplizenschaft unter den Männern und die Machtfrage ergeben, wer über wen herrschen kann. Keine Sexszene, in der nicht zuerst die Messer oder Pistolen gezückt werden. Geschlechterdifferenz wird damit in ein deutliches Machtverhältnis übersetzt, oder anders ausgedrückt: das dem Geschlechterverhältnis inhärente Machtverhältnis tritt hier überaus deutlich hervor (vgl. Millett 1971). Männer, die Sex mit Männern haben, so wie in Querelle, müssen dazu gezwungen werden, oder sie müssen so tun, als ab man sie dazu zwingen müßte. Querelle hat beim Würfelspiel absichtlich verloren, weil er sein Begehren sonst nicht hätte äußern können, was, wenn auch auf eine andere Weise, ebenso für Nono gilt. Nicht nur die Möglichkeit schwuler Liebe – einer Liebe, die lange Zeit nicht benannt werden konnte –, sondern auch ihre Konstellation, wer ›top‹ und wer ›bottom‹ ist, wird hier scheinbar dem Zufall, der Zahl der Augen des Würfelspiels, überlassen. Genets Konzeption von schwuler Liebe in einer Epoche, in der es noch keine gay identity gab, kann allerdings auch anders gelesen werden. Querelles und Nonos Würfelspiel allegorisiert das von Butler bestimmte Verhältnis zwischen dem spielerischen Charakter der Geschlechterinszenierung einerseits und der Ernsthaftigkeit ihrer Folgen andererseits. Die Sprachlosigkeit des homosexuellen Begehrens in Querelle und in Genets Roman – der sich dem Denken von ›homoness‹ über den Topos des Doppelgängers, insbesondere der Bruderliebe, annähert – parallelisiert an dieser Stelle das Fehlen einer adäquaten Bildsprache. Was könnte ein ›schwules Bild‹ sein? Und auf welche Weise könnte ein solches Bild ›queer‹ sein? Fassbinder und Genet geht es zunächst also um die Umbesetzung der Rollen heterosexueller Pornographie, womit es zu einer Überhöhung und Stilisierung des Verbrechers als eines Heroen kommt. Hingegen wollen gay identity politics dieses kriminal- und medizingeschichtlich bedingte Paradigma der Definition von Homosex zwischen Pathologie und Kriminalität und die stereotype Darstellung von Schwulen im Kino hinter sich lassen (vgl. Russo 1981). Mit dieser Kritik sollte der Boden für positive Identitätsentwürfe bereitet werden. Was hier auf dem Spiel steht, in Analogie zur Problematik von weiblicher Subjektivität, ist schließlich der Subjektstatus von ›gay‹ bzw. ›queer‹ – ein Unterschied, der sich an dieser Stelle tatsächlich

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besser über die englische Sprache ausdrücken läßt. Während gay eine unkomplizierte Subjektposition euphorisch anzunehmen versucht, affirmiert queer gerade jene Komplikationen, die sich am Ort sexueller Identifikationen ergeben. Das bedeutet, daß jenseits einer normativen Perspektive Homosexualität kein ›komisches‹ Nachstellen von Heterosexualität ist, sondern eine Sexualität, die möglicherweise gar keine Identität oder wenigstens mehr als eine produziert. Eine Sexualität also, in der die Subjektivität, die ihre sexuelle Orientierung als ein zu gestehendes Geheimnis bewahrt, an ihre Grenzen geführt wird. Auf diese Weise versuchen Queer Studies, die historisch bedingten Komplikationen in der Konzeption von lesbischer oder schwuler Sexualität produktiv zu machen und die jeweiligen sexuellen Positionen nicht länger imaginären Festlegungen und Effekten der Gewalt, die diese bewirken, zu überlassen. Homosexualität ist also queer, wenn sie als eine Erfahrung verstanden wird, die nicht Subjektivität produziert, sondern selbst in der Subjektivität verfällt, das heißt, diese destabilisiert. Sie eröffnet einen Raum, in dem sich der regressiv-konservative Blick auf Identität und Begehren auflöst und dadurch das Benennen anderer Sexualitäten und Identitäten ermöglicht. Auf diese Weise greifen Queer Studies den emphatischen Gestus der Schwulenbewegung der 1970er Jahre auf, die in ihrer Analyse der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts davon ausging, daß es einen intimen Zusammenhang zwischen Sexualität und Politik gibt, und sexuelle Alternativen als gesellschaftliche Befreiung zu denken versuchte. Einer subjektzentrierten, genitalen Sexualität stellt Leo Bersani, der Genet für die Queer Studies wiederentdeckte, in seiner GenetLektüre hingegen eine anale gegenüber (vgl. Bersani 1995): Vielfach kreist die Rede in Fassbinders Querelle-Film und Genets Roman in einer Art Umbesetzung heterosexueller Paranoia beschwörend um diesen Ort. Der Text beschreibt die Sexszene zwischen Nono und Querelle auch als rituelle Opferung, als eine Form der Hinrichtung. Als in den 1980er Jahren die metaphorische Sprechweise vom Tod des Subjekts, das im Freudschen Diskurs auch als nicht-genitale Position zu verstehen ist, durch Aids eine tödliche Buchstäblichkeit verliehen bekam, wurde gleichzeitig klar, daß Identitätspolitik zum gesellschaftlichen Überleben notwendig ist. Spätestens seit Aids sind schwule Identitäten deshalb strategisch zu denken. Auch in diesem Sinne ist ›queer‹ als eine Kategorie entscheidend, die identitätspolitische Verwirrung stiftet. Die Kategorie ›queer‹ schlägt weniger eine Unterschiedslosigkeit vor als vielmehr ein Denken von Identitäten und Sexualitäten, die nicht nur zeitlich im Sinne des ›Werdens‹ oder ›Nichtseins‹ konzipiert sind, sondern vor allem auch der dichotomischen Unterscheidung von Homo und Hetero entkommen wollen. Daß queer wiederum nicht zwangsläufig als eine neue Utopie aufzufassen ist, hat Fassbinder mehrfach deutlich gemacht.

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So zum Beispiel in dem Film In einem Jahr mit 13 Monden (BRD 1978), der mehr als eine Bestätigung von Homosexualität oder Heterosexualität ist. Neben Querelle, Die bitteren Tränen der Petra von Kant (BRD 1972) oder Faustrecht der Freiheit (BRD 1975) ist 13 Monde ein Film, der die Unmöglichkeit von Heterosexualität, Homosexualität und Transsexualität vorführt. Fassbinder wurde von der westdeutschen gay community der 1970er Jahre stets vorgeworfen, daß er Homosexualität nicht als einen Ort inszeniere, an dem das Feiern von Sexualität überhaupt stattfände, sondern als einen Schauplatz, der das Scheitern aller Sexualität und der Liebe zeigt. »Each man kills the thing he loves« – die simple Logik dieses Oscar-Wilde-Zitats sucht wiederholt auch den Film Querelle heim. Keine von Querelles Begegnungen wird am Ende mit einer Version von romantischer Liebe belohnt. Im Gegenteil, gerade wenn die Liebe sich zu entwickeln ›droht‹, wie zwischen Querelle und Gil, muß der Geliebte verraten werden: Querelle liefert Gil der Polizei aus. Aber das Scheitern von Sexualität in Querelle muß nicht zwangsläufig in Richtung des pessimistischen Masochismus wie in Fassbinders 13 Monden gedacht werden. In der gewaltsamen Zerschlagung eines verläßlichen Zusammenhangs zwischen Sexualität und Subjektivität steckt auch die Möglichkeit einer Befreiung, als einer Bewegung, die weniger sagen kann oder will, worauf sie hinarbeitet, als vielmehr, welchen Ort sie damit hinter sich läßt. Dieser Moment ist auch dem Liebesakt zwischen Nono und Querelle eingeschrieben. Symptomatisch hierfür ist das Fehlen von Blickbegegnung beim Sex zwischen Nono und Querelle. Die Bedeutung dieses ausbleibenden Blickwechsels wird im 1982 von Andy Warhol entworfenen Filmplakat zu Querelle deutlich: In Warhols emblematisch auf die Leinwand gebrachter Konstellation von schwulem Sex sieht man die beiden Männer im Profil hintereinander stehen. Die fehlende Begegnung der Blicke, die die Profilaufnahmen bei Fassbinder noch offen halten, wirkt der Annahme entgegen, Sex sei der Ort, an dem die körperliche Begegnung zugleich Intimität auf eine andere Art bedeute: »Wir werden uns nicht küssen«, sagt Querelle zu Nono (Fassbinder 1982: 24). Ohne die Begegnung der Blicke gelingt die gegenseitige Bespiegelung zweier Subjekte nicht mehr. Der homosexuelle Akt, der als gegenseitige narzißtische Spiegelung auch jenseits der Geschlechterdifferenz – so wie der heterosexuelle – der Selbstbehauptung dienen kann, erfüllt bei Fassbinder und Genet diese Funktion nicht mehr. In Genets Roman Das Totenfest (Pompes Funèbres) heißt es: »Eric und Riton liebten sich nicht einer im anderen, sondern sie sprangen aus sich heraus« (Genet 1986: 234). Und weiter: »Hätten die beiden stehenden Männer sich angeblickt, ihre Wollust wäre eine andere gewesen« (ebd.: 234). Das Spiel der Positionen im Sichtbaren wird auch in Querelle nicht zu einem Spiegelkabinett, obwohl Fassbinder, von Douglas Sirk beeinflußt, die Spiegelmetapher zur Proble-

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matisierung von Subjektivität in seinen Filmen exzessiv einsetzt. Querelle läßt sich treffender mit einer anderen Textstelle aus Genets Das Totenfest beschreiben: »Mund an Mund, Brust an Brust, […] hätten sie sich in einer Trunkenheit miteinander verschlungen, […] während in der von ihnen gebildeten Galionsfigur die Körper in die Nacht blickten, wie man in die Zukunft schaut« (ebd. 1986: 234). Ihre Blicke gehen »in die Nacht«, in einen visuell nicht begrenzbaren Raum also, in dem sich jede Idee von Subjektivität verliert. In schwulen Texten ist diese Erfahrung des Ich-Verlustes beim Sex traditionell sowohl als Ekstase wie auch als drastische Geste homophober Gewalt verstanden worden. Leo Bersani versteht »die Nacht« auch als Metapher einer unbekannten Zukunft, die nichts mehr benennen kann, als die Möglichkeit dieser Zukunft selbst – als ›Zukünftigkeit‹. Das Ausbleiben eines imaginären Selbstentwurfes beim Sex ermöglicht eine Selbstauslöschung, an dessen Ende eine Unwissenheit liegt, die gegenüber einer imaginären Festschreibung von Subjektivitäten als Moment von Freiheit begriffen werden kann. Und genau an diesem Punkt läßt sich die Bedeutung des Blicks von Querelle bzw. Brad Davis im eingangs beschriebenen Filmausschnitt festmachen. Es ist nicht der typische männliche Blick, wie ihn die feministische Filmtheorie gedacht hat, nämlich als eine phallische Instanz, die hier – unvermutet – von der Leinwand zurückgespiegelt wird. Es ist auch kein ›blinder‹ weiblicher Blick, der blickt/nicht blickt, um bloß angeblickt zu werden, weil die Frau (vermeintlich) weiß, daß darin die größte Chance ihrer Subjektivität liegt. Noch ist es der Blick, von dem Susan Sontag in bezug auf die Porträtfotografie spricht, und über den das Wesen der Persönlichkeit zum Ausdruck kommen sollte. Querelles Blick aber hat mit all dem nichts mehr zu tun. Denn es ist ein Blick, der ins Nichts geht und als Zeuge seiner eigenen Vernichtung auftritt: »Das ist die Todesstrafe«, sagt Querelle vor dem Sex mit Nono (Fassbinder 1982: 24). Im Fall von Querelle führt dieser Moment allerdings weniger zu einer radikalen Aufgabe der Subjektbilder als vielmehr zu einer ausufernden ›Bildergalerie‹. So ist Querelle, der Matrose, einer Reihe von Metamorphosen unterworfen, die ihn dazu zwingen, für jede neue Begegnung eine adäquate Sprache und entsprechende Bilder zu erfinden. Auch in diesem Sinne ist das Bild von Brad Davis als Querelle queer. Anders als bei der Darstellung der Frau im Pornofilm ist ein (Film-)Bild, das die Lust des Mannes im Gesicht verortet, niemals stabil: Im schwulen Pornofilm tauschen die Männer die Positionen – sie können den Ort des Fetischs gleichermaßen besetzen. Schon die Tatsache, daß nicht nur Querelles, sondern auch Nonos Lust am Gesicht abzulesen ist, droht die strenge Unterscheidung zwischen ›top‹ und ›bottom‹ zu unterlaufen. Dieser Rollentausch unterscheidet sich von einem heterosexuellen dadurch, daß seine Umkehrung als solche nicht zu identifizieren ist, insofern sie auf kein

➞ [ Double ]

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›Originalbild‹ verweisen kann. Die fehlende Stabilität des ›queeren‹ Bildes als Fetisch bedeutet darüber hinaus auch immer, daß dort etwas zum Vorschein kommen kann, was der Fetisch verdecken soll, nämlich die Kastration. Queer ist das Bild von Querelle, dessen Lust oder Schmerz beim Sex mit Nono sich im Gesicht zeigt, auch deshalb, weil es die Kastration nicht lediglich als Mangel, sondern als die Ankündigung einer unbestimmten Utopie zeigen kann: als Blick »in die Nacht«. Wir seien noch nicht kastriert genug, meint in diesem Zusammenhang, Foucault folgend, Leo Bersani. »Noch-nicht-kastriertgenug-sein« bedeutet in der Ästhetik von Genet und Fassbinder weniger das Zusteuern auf einen Bilderverbot als vielmehr eine Exzessivität der Bilder. Damit setzt sich Fassbinder von der Bilderpolitik früher feministischer Filmtheorien ab und plädiert statt dessen für eine dem Melodrama verwandte Strategie des Überflusses. Querelle wird immer wieder ein anderer sein – die Leere seines Gesichts ist damit zugleich die Bedingung seiner Überdeterminiertheit. [ Peter Rehberg ]

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) T01_17c vakat.p 93904543262

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[ Rasur ] | 247

[ Rasur ]

Ein angestrengter, ein erwachender, ein prüfender Blick in einen Spiegel, der gehalten wird von einem neugierig beobachtenden Dritten. Der, der blickt, doppelt sich im Spiegel, doppelt sich auch, weil er im Begriff ist, eine Grenze zu überschreiten. Kurz zuvor hat er ein erstes, ein menschliches Wort gesprochen. Bevor der Blick in den Spiegel fiel, hatte der Sprechende sich rasiert. Der, der beobachtet, ist Wissenschaftler, Zeuge und Auslöser einer Überschreitung, einer Weiterentwicklung – er beobachtet Evolution und Sozialisation in einem Moment. Kurz zuvor hatte der Beobachter das Wort zur Nachahmung angeboten, hatte er Sprache und Rasur unterrichtet. Das Standbild stammt aus der Schlüsselsequenz einer der vielen Verfilmungen des Tarzanstoffes (Edgar Rice Burroughs Tarzan bei den Affen [1912]): Greystoke – Legend of Tarzan: Lord of the Apes (Greystoke – die Legende von Tarzan, Herr der Affen, GB 1984, Hugh Hudson). Es handelt sich bei dieser Bearbeitung um eine eher untypische, weil werkgetreue Verfilmung, die entgegen der genrebildenden Weissmüller-Tarzans (die ihren Protagonisten zumeist als Halbwilden belassen) ihren Schwerpunkt auf die Entwicklung vom unter Tieren aufgewachsenen Findelkind zum blaublütigen Engländer legt. Die Sequenz beginnt, als das von Affen adoptierte und in die Meute integrierte enfant sauvage Tarzan den schwer verwundeten

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französischen Forscher Capitaine D’Arnot pflegt. Dieser wird während seiner Rekonvaleszenz als Beobachter des Gruppen- und Sozialverhaltens des Affenmenschen Tarzan innerhalb von dessen Affenmeute inszeniert. Eine erste kommunikative Brücke entsteht über ein durch D’Arnot gesummtes Lied, das Tarzan intuitiv nachsummt. Dieses Nachsummen fungiert als Startpunkt einer Interaktion zwischen dem Affenmenschen Tarzan (der in der vorangegangenen Sequenz im Zweikampf unter Zuhilfenahme eines Messers seine Rudelführerschaft verteidigt, indem er seinen äffischen Antipoden Kerchak getötet hat) und dem Menschenrepräsentanten D’Arnot. Diese Interaktion erfolgt an einem Punkt der Weiterentwicklung Tarzans, an dem dieser jede qua Natur definierte Aufgabe (Überleben, Rudelmitgliedschaft und -führerschaft, Werkzeuggebrauch, Selbsterkenntnis im Spiegeltest) hinter sich gebracht hat. Die Frage nach der Kommunikationsfähigkeit wird in der Szene als Sozialisationstest inszeniert, das Bestehen des Tests führt zur jubilatorischen Bestätigung – angesichts der gelungenen Kontaktaufnahme klatscht und tanzt Tarzan wie ein Kind. Eine Ähnlichkeit mit dem Pygmalionmotiv und speziell der Musical- bzw. Filmumsetzung von My Fair Lady (My Fair Lady, USA 1964, George Cukor) ist augenfällig: »By George – she’s got it!« Im folgenden schreitet innerhalb der Sequenz die Sprach- und Subjektfindung Tarzans rasch voran. Nach dem Nachsummen des Liedes ist es dann ein Rasiermesser, welches in der Nachahmung zum Objekt des Begehrens wird. Dem Blick auf das Rasiermesser folgt der erkennende Blick in den Spiegel, das Überschreiten der Grenze vom Affenmenschen zum Menschen, und über den Spiegel der Blick auf das neuentdeckte eigene Gesicht (D’Arnot: »Spiegel …. Spiegel«). Dieses ›verstehende Sehen‹ verdichtet sich in einem deutlich ausgestellten Blickwechsel zwischen Tarzan und D’Arnot, einem ›schnellentwickelten‹ Tarzan, der innerhalb weniger Minuten zum Lord Greystoke ›evolutioniert‹. Nur folgerichtig, daß die nächste Sequenz bereits den Aufbruch Richtung Zivilisation zeigt, während D’Arnot im Off resümiert: »John ist ein unheimlich guter Nachahmer. Wörter hatten für ihn eine magische Bedeutung. Und nach sechs Monaten war es mir gelungen, ihm die Rudimente der Sprache begreiflich zu machen. Doch nun mußte ich ihm klarmachen, wer er ist – ja sogar, was er ist.« Die Sprachfindung Tarzans fungiert hier als ein maßgeblicher Ort der Veränderung, der Weiterentwicklung. Allerdings wartet der Stoff in dieser Sequenz auch noch mit einer verdeckteren, wenngleich dichteren Variante des Diskurses der Menschwerdung auf: der Rasur. Das Gesicht wird hier zum wortwörtlichen Beginn – wir fragen: Rasiert sich Tarzan? Der Tarzan Edgar Rice Burroughs rasiert sich täglich: »Fast täglich wetzte er sein scharfes Messer und schabte und schnitzelte an seinem jungen Bart herum, um dieses entwürdigende Merkmal des Affentums zu beseitigen. So lernte er sich zu rasieren,

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zwar grob und mit Schmerzen, aber doch wirkungsvoll« (Burroughs 1912/1999: 144). Demgegenüber inszeniert sich der juvenile Filmtarzan – defizitär – in der Spiegelung der Wasseroberfläche als haarloser Affe. Er vergleicht den Widerschein seines Gesichts mit dem des äffischen Anderen neben sich und durchlebt so sein verspätetes Spiegelstadium. Der junge Affenmensch erkennt seinen Mangel (im Sinne des Lacanschen Dramas des Spiegelstadiums), verunklart sein Gesicht durch das Aufschmieren von Schlamm und muß von seiner Adoptivmutter getröstet werden (beispielsweise in Disneys Tarzan, USA 1999, Chris Buck/Kevin Lima). In Greystoke ist die Rasur (des an und für sich haarlos inszenierten) Tarzans alias Christopher Lambert ein zentrales Moment der Sequenz, in der Selbsterkenntnis (Spiegelblick), Werkzeuggebrauch (Messer) und Spracherwerb kulminieren. Die Transgression vom Affen zum Menschen ist hier konnotiert mit der ersten Rasur – Sozialisation als gleichzeitige Evolution und Initiation. Rasieren ist eine Geste an einer Grenze zwischen Subjekt und Welt, da die Haut als die absolute Subjektgrenze fungiert (vgl. Flusser 1991; Callois 1987). Rasieren ist verbunden mit dem Spiegel, also auch mit dem bereits durchlebten Erfahren der Subjektspaltung in je und moi im Spiegelstadium. Die Fähigkeit zur Rasur setzt die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis voraus. Rasieren ist ein privates Moment des Subjekts; eng auf den Spiegelblick als Selbstversenkung bezogen, ist es der Moment des Innehaltens, des Erkennens. Und vor allem ist Rasieren eine Geste am Gesicht – wer rasiert, hat nicht nur ein Gesicht, er wird sich dessen auch bewußt und inszeniert es entsprechend (vgl. NollBrinckmann 2000). Die Rasursequenz ist damit in simpelster Form bereits eine (wie noch zu zeigen sein wird: sekundäre) Inszenierung von Facialität – sie bezieht sich auf das Übergangsmoment vom Tier zum Menschen. Hierin kulminiert eine Analyse des Gesichts des »Herren des Dschungels«. Darüber hinaus kommt es im Moment der Rasur zu einer Parallelisierung zweier abbildender und reflektierender Systeme. Die Haut ist nicht nur Subjektgrenze, sondern auch Metapher von Gesicht und Leinwand. Nicht nur wird Tarzan in der Rasur zum Menschen; Rasur (also Ent-Haarung und Ent-Tierung) wird auf der ›Haut‹ der Leinwand zu einer Geste der Beruhigung und Kompensation, die als Differenz lesbar wird. Ein Gesicht ist etwas Hergestelltes und das (Film-)Bild ist ein Produktionsmittel dieser Herstellung, der Tradierung und Konturierung des Gemachten. Das Kino inszeniert dieses Hergestellte. Vom Gesicht im Kino als einer (sekundären) Inszenierung zu sprechen, verbirgt somit einerseits die Tatsache, daß das Zeichenregime des technischen Bildes gehalten ist, sein eigenes Zeichensystem mit zu erzeugen und zu stabilisieren. Andererseits wird in dieser Oszillation

➞ [ Photogénie ]

➞ [ Yentl ]

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➞ [ Ikone ]

➞ [ Grimasse ]

von Zeichenerzeugung und Zeicheninszenierung auch der ›Maschinencharakter‹ des Kinos deutlich. Es ist nicht das singuläre Gesicht Tarzans, das uns im Kino ansieht, sondern ein gemachtes und inszeniertes symbolisches System. Ein solches Kinogesicht nach seiner Gemachtheit zu befragen, heißt, seine Inszenierung zu beleuchten. Ein Gesicht nach seinen Einschreibungen zu betrachten, heißt, nach den sich in ihm bündelnden Semantiken und Diskursen zu fahnden. Unsere Skizze galt Tarzan, dem enfant sauvage, dem König des Dschungels, dem sprechenden und grimassierenden Tier, dem fremdsprachengebildeten Aristokraten, einem Gesicht zwischen Taylorismus und Rousseauismus – und entscheidend für diese Ausführungen: dem missing link zwischen Affe und Mensch, Zivilisation und Natur, Inszenierung und Signifikation, Einschreibung und Herstellung. Das Gesicht Tarzans verändert sich innerhalb der Narration, auf der Leinwand und innerhalb einer Evolution als Sozialisation, wenn aus einem ›Menschenaffen‹ der ›Affen-Mensch‹ wird, wenn er uns zum ersten Mal durch den Blick auf sich selbst anblickt, spricht, sich rasiert. Diese Lesart des medialen Phänomens Tarzan will zeigen, wie diese Positionen immer wieder als Muster in den unterschiedlichen Verhandlungen des »Typus Tarzan« (Reiff 1975) wiederkehren. Bestimmte Tarzanfilme formulieren auf verschiedene Weise hierarchische und auf den ersten Blick strikt getrennt wirkende Systeme, die aber oftmals durch narrative und inszenatorische Überschreitungen in Form von Begehrensformulierungen, Blicken oder (zivilisationskritischen) Kompensationen unterlaufen werden. Die Dynamik der Entwicklung ist dabei immer eng gekoppelt an die Frage der Höherentwicklung, der Evolution oder der Sozialisation im Sinne von Binarismen. Ob es nun die Konstruktion der ›Menschwerdung als Vervollkommnung‹ innerhalb der Individualentwicklung Tarzans ist, die wiederkehrend formulierte Position des Menschen als ›Krone der Schöpfung‹ oder aber die (weitaus seltener) propagierte misanthrope Zivilisationskritik – die argumentativen Linien zielen immer auf zuordnende und vordergründige Abgrenzungen des Menschen (vom Tier), der Natur (von der Kultur), des Mannes (von der Frau) und des Tieres (vom Menschen). Ein grundsätzliches Deutungsmuster für den Typus Tarzan scheint also die Normalisierung bzw. Disziplinierung des wilden Körpers für die Leinwand zu sein. Tarzan kann somit verallgemeinernd gelesen werden als Austragungskörper entweder einer ›Supersozialisation‹ oder einer Evolution. Ein antreibendes Prinzip scheint in ihm zu wirken, seinen Körper, sein Gesicht zu verändern und sich zum Subjekt zu entwickeln. Die Geschichte des Tarzanstoffes ist die des unter Tieren aufwachsenden Menschen, der ohne einen äußeren Impuls Tier bleibt (wenn auch das intelligenteste und stärkste unter den Tieren) und erst im Moment des Kontaktes mit Menschen eine

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Initialzündung zu erleben scheint, die ihn mit einem Schlag vermenschlicht. Diese Höherentwicklung als Überschreitung (oder präziser: als Transgression) kann verstanden werden als individuelle Sozialisation oder als herkunftsbedingte Evolution. Das Evolutionäre bildet den Rahmen dieser Betrachtung von Tarzans Gesicht. Dieser Blickwinkel sichtet das Tarzan-Œuvre unter der Prämisse, daß jeder Tarzanfilm nicht zuletzt durch Aneignungen der Evolutionstheorie mitgelesen wird. Dabei meint das Evolutionäre hierbei keineswegs eine variable Lesart des Darwinismus. Es geht vielmehr darum, die Tarzangeschichte als einen Archetypus von Entwicklung lesen zu können, der das Narrativ der Entwicklungsgeschichte im doppelten Sinne durchspielt. Entwicklung präsentiert sich in einem solchen Narrativ als eine Dynamik jenseits des linearen Fortschreitens. Die Entwicklung und die Überschreitung von Artengrenzen kann damit auch gelesen werden als ein Effekt der Beobachtung des dynamischen (Kino-)Objekts und des stillgestellten (Kino-) Zuschauers. Tarzan ›entwickelt sich‹ vor unseren Augen auf der Leinwand und ›entwickelt‹ eine Position, innerhalb deren er von der Leinwand aus zurückblicken kann. Im Beispiel ist es die Figur des D’Arnot, die die Stellvertreterfunktion für den stillgestellten Betrachter übernimmt und durch das Blickverhältnis mit dem sprachmächtig gewordenen Tarzan auch ein anblickbares und zurückblickendes Gesicht etabliert. Tarzans Gesicht verdichtet sich somit zu einem Zugriffsobjekt der Analyse. Auffällig ist hier vor allem die bereits angedeutete Verhandlung von Segregation respektive Transgression von binären Differenzsystemen wie beispielsweise Mensch-Tier, schwarz-weiß, EuropaAfrika oder Aristokratie-Bürgertum. Diese Binarismen sind zunächst unterkomplex gedacht: Reif spricht beispielsweise von einer »Deszendenz vom Animalischen zum Übermenschlich-Animalischen« und analysiert das Beziehungsverhältnis Mensch-Tier als dialektisches Ineinandertranszendieren (Reif 1975: 149). Die vereinfachende Analyse des bipolaren Differenzbegriffs bleibt daher eher der unterstellten Lesart des Materials verhaftet. Innerhalb dieses Prozesses der medialen Herstellung von Anderem und Eigenem nimmt das Gesicht (wie auch der Körper) Tarzans einen herausgehobenen Platz ein. Nicht nur diese Konstruktion von bipolaren Rastern oder die Produktökonomie stereotypischer Muster im Film, auch Marginalien wie die kulissenhafte Natur der Tarzanfilme verweisen auf den Aspekt der Herstellung, des Gemachten und Manufakturierten. In diesem Sinne läßt sich auch das Gesicht Tarzans als ein solchermaßen Hergestelltes beschreiben: Die Facialisierung vom Tier zum Menschen und die Verhandlung des Blickes Tarzans auf sich selbst bzw. der Blicke der anderen auf Tarzan sind Momente, in denen das Gesicht gemacht wird. Das evolvierte bzw. sozialisierte Menschen-Ge-

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➞ [ Jedermann ]

sicht Tarzan ist ebenso hergestellt wie sein Status als Teil von Natur respektive Kultur. Das Gesicht scheint eine von außen herangetragene, durch das Filmische selbst beförderte, brüchige Setzung zu sein. Im Sinne der Dramaturgie der Weiterentwicklung des Protagonisten ist diese Herstellung archetypisch. Entwicklung heißt in der Dramaturgie immer Höherentwicklung; wer zum Menschen werden soll, muß also zunächst Tier sein. Speziell im Kino kommt nun noch die Präsenz dieses produzierten Gesichts hinzu. Tarzans Gesicht auf der Leinwand ist gleichermaßen Austragungsort innerdiegetischer Verhandlungen wie auch extradiegetischer Herantragungen von Blicken und Zuschreibungen im Rezeptionsprozeß des Dispositivs Kino. In bezug auf die Herstellung filmischer Facialität als Inszenierung ließe sich dieser Deutungsansatz präzisieren in der Fragestellung, wie das Gesicht Tarzans vom Tiergesicht (der Leinwand) zu einem kultivierten Gesicht (der Leinwand) normalisiert wird. Innerhalb der filmisch variierten Narration Tarzan vollzieht sich eine Höherentwicklung Tarzans vom Tier zum Menschen über das Zwischenstadium des missing links. Im Moment des Übergangs setzt am Körper des Affenmenschen Tarzan eine Veränderung ein, die maßgeblich als Facialisierung beschrieben werden kann. Diese Facialisierung findet im Ort des Kinos statt und entwickelt daher vor allem eine Dynamik der Zeichenhaftigkeit, die man als die sekundäre Inszenierung bezeichnen kann. Diese Gesichtsproduktion als Zeichenoperation ist dabei sinnfällig an die Sprache und die Sprachfindung gekoppelt. So folgt die Annahme, daß die sekundäre Inszenierung eines Gesichts vorrangig seine Semantisierung voraussetzt und von der Einschreibung des Evolutionären in das Gesicht Tarzans getragen wird. Über die Figuren der Anthropomorphisierung (die zu einem der Standards der Tarzanfilme gehört; erinnert sei nur an die notorische Figur des Schimpansen Cheeta) ist also schon zu erahnen, daß die Wandlung Tarzans vom Tier zum Menschen ein eher transgressives denn segregatives Moment darstellt. Er wird vom ›Tiermenschen‹ zum ›Menschentier‹: das ist eine Entwicklung der Verschiebung und nicht der Entwicklungssprung. Der Blick auf das Tier, wie auch auf Tarzan, ist also zunächst ein empathischer Blick auf das grundsätzlich Menschliche, das lediglich zum Ausbruch kommen muß, sich ausdrücken muß. Über diese angedeutete grundsätzliche Ebene des Blickes auf das Tier soll aber hier die eigentliche Kommunikation in den Vordergrund der Analyse gestellt werden. Exemplarisch hierfür ist die Kommunikation zwischen Mensch und Tier, oder spezieller, die zwischen Tarzan und Jane. Die These ist, daß Tarzan im Moment der Sprachfindung eine Überschreitung, also eine Transgression im Wortsinne (dem Auftreten eines Genotypus, der in seiner Leistungsfähigkeit die Eltern- wie Tochtergeneration bei weitem überschreitet),

2005-09-05 10-34-15 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 247-257) T01_18b rasur.p 93904543326

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vollführt, das heißt die Grenze zwischen Natur und Kultur, zwischen Mensch und Tier, zwischen Mann und Frau transzendiert. Nullpunkt einer solchen Grenzüberschreitung ist sicherlich die (filmisch immer wiederkehrende) und zum kulturellen Stereotyp geronnene Kommunikationssequenz zwischen Tarzan und Jane. Erstmalig in Tarzan the Ape Man (Tarzan, der Affenmensch, USA 1932, Woodbridge S. Van Dyke) inszeniert, bricht die Kommunikation zwischen Affenmann und Unschuldsfrau sich hier ihren Weg: Die frisch von Tarzan von der Seite ihres Vaters und Verlobten entführte Jane Parker erwacht in einer Art Baumnest. Ein Affe des Tarzanrudels berührt sie, Jane erwacht schreiend. Der herbeieilende Tarzan beruhigt sie, und Jane versucht den Kontakt mit Tarzan über die sprachliche Adressierung herzustellen: Jane: »Danke, daß du mich beschützt hast!« – Tarzan (deutet auf sich selbst): »Mich?« Jane (deutet auf sich): »Nein! Mich. Mich – das bin ich nur für mich selbst.« Der Aufbau der kommunikativen Brücke erfolgt über die Hände am Gesicht des anderen und kulminiert in der ultimativen Parodie der Selbstkonstitution durch das Konzept des anderen: »Tarzan! – Jane!«. Bezeichnenderweise aber eben keineswegs »Ich Tarzan – du Jane«; diese Zeilen sind nie in einem Tarzanfilm gesprochen worden. Auffällig ist, daß die Kommonsensualisierung des Zitats exakt die Differenzfigur des »Ich/ Du«, die in der Schlüsselstelle angelegt ist, noch verstärkt. Die Geste und die Sprache, die hier nicht nur die Mensch-Tier-Grenze, sondern auch die Geschlechtergrenze thematisieren, sind im erwähnten Schlüsselmoment Wiederaufnahmen der äffischen Gesten; nur wenige Einstellungen zuvor rufen ähnliche Kontaktaufnahmen des äffischen Rudels bei Jane hysterische Bögen (im Sinne von Charcots »arc de cercle«) hervor. Die Geste, von Tarzan übernommen, überformt und als Ausdruck einer Urzelle von Sprache definiert, erlaubt jetzt dagegen die Geste des »Ich-Du« und die Artikulation des Konzepts des anderen, was hierbei eben nicht nur in einer sprachlichen Figur ausgedrückt wird, sondern durch Gestik und Mimik auch zu einem Erkennen und Variieren des Gesichts Tarzans gerinnt. Der Affenmensch Tarzan berührt ein Gesicht und seine Brust, artikuliert eine Selbst- und eine Fremderkenntnis – und eine kulturelle Sprechweise ist geboren. Vom Affen kommend, wird hier Tarzan nicht nur durch eine kontextuelle Verschiebung oder durch sein Begehren zum Menschen, er wird es auch und vor allem durch die Entdeckung der Sprache über die Gestik und Mimik, die hier vom (Menschen-)Affen über den Affenmenschen zu Mann (und Frau) Grenzen überschreitet. Die Urszene des Tarzandialoges ist gleichzeitig die Urszene des hier unterstellten ›Tarzanepistems‹: Die Herstellung von Subjekterkenntnis und Differenz, also der Segregation einerseits (vorgenommen über den Sprechakt) geht andererseits einher mit der Transgression (hergestellt über die nachahmende Gestik und den begeh-

➞ [ Hand ]

➞ [ Make-up ]

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renden Blick). Interessanterweise ist eine der wenigen Tarzanversionen, die der Geste nicht die Sprache nachfolgen läßt, die Softsexvariante Tarzan, The Apeman (Tarzan, Herr des Urwalds, USA 1982, John Derek). Hier wird die Sprache ausgespart, Tarzan bleibt sprachlos. Allerdings könnte postuliert werden, daß es nicht im Interesse dieses speziellen Narrativs liegt, Tarzan zum Menschen zu evolvieren – er bleibt vielmehr das animalische Spielzeug einer Frau (Bo Derek), die selbst auf der Leinwand wiederum der Dominanz eines männlichen Zuschauerblicks ausgesetzt ist. Daß Sprache für das Evolutionsdenken unabdingbar ist, ist augenfällig. Spracherwerb und ›Menschwerdung‹ fallen zusammen, Sprache ist eines der zentralen Differenzkriterien zwischen Mensch und Tier. Interessant ist aber die Betrachtung, wie die Sprache zu Tarzan gelangt. In der literarischen Vorlage ist die Sprache dem Menschen inhärent gegeben – Tarzan lernt bzw. entdeckt seine Fähigkeit zu sprechen, schreiben und lesen lediglich durch ein gefundenes Buch, während die filmische Version Sprache zum Produkt eines sozialen Kontextes macht. Somit ist durch diese Unterscheidung auch eine erste wichtige Kommentierung des Evolutionären gegeben. Die filmische Version der Subjektwerdung als Höherentwicklung durch Sprache koppelt sich an die Herstellung von Kommunikabilität und die Etablierung eines rudimentären Gesellschaftsvertrags. Somit wird aber auch noch einmal die entscheidende Differenz zwischen Buch und Filmversionen offenbar. Im Originaltext ist Burroughs’ Tarzan ein polyglotter Autodidakt, der die Sprache (genetisch) gegeben in sich trägt; seine Sprachfertigkeit ist ein per se überbrükkendes und zugleich hierarchisierendes Moment zwischen Tier und Mensch. Im Film wird aus ihm das stammelnde enfant sauvage, befähigt nur zur Kommunikation mit dem Tier. Hier wird Sprache und Spracherwerb zum Differenzkriterium und zum sozial-kontextuellen Produkt. Sprache wird Tarzan gegeben (wie in der eingangs besprochenen Greystoke-Sequenz); es ist seine Nachahmungsfähigkeit und nicht seine Spezieszugehörigkeit, die als Auslösemoment des Sprechens dient. Die Sprachfindung Tarzans ist eben nicht nur ein Entwicklungsmoment einer Figur in einem Film, sondern essentiell eine Geste der (anti-darwinistischen) Subjektwerdung innerhalb des Kinos. Der Blick auf das ›Tier‹ Tarzan ist ein anderer als der Blick auf den ›Menschen‹ Tarzan. Dieser Unterschied läßt sich am besten entlang der Argumentation John Bergers verdeutlichen, der das Blickverhältnis von Mensch und Tier als ein Kompensationsverhältnis begreift (vgl. Berger 1981). Die Absenz der gemeinsamen Sprache ist dabei das grundlegende Paradigma, das aus der menschlichen Perspektive die Verhältnismäßigkeit zwischen Mensch und Tier über die Vermittlung des gänzlich Geschiedenen definiert. Somit ist die Beziehung zwischen Tarzan und Tier in der Betrachtung des Filmischen ambivalent; kaum verwunder-

2005-09-05 10-34-15 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 247-257) T01_18b rasur.p 93904543326

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lich also, daß die Metapher des Tieres, zum Beispiel als anthropomorphisierte Gestalt, dem Menschen im Rahmen des kinematographischen Systems näher scheint als das Tier selbst. Berger weiter folgend, kann dann auch mit der Cartesischen Wende eine Verlagerung des Dualismus Mensch-Tier in den Menschen selbst (im Sinne der Leib-Seele-Differenz) konstatiert werden; das Tier sinkt zum Modell der Maschine herab, in der industriellen Revolution schließlich zur Maschine selbst, zu einer Ressource. Insgesamt wird das Tier zunehmend der Beobachtung des Menschen ausgesetzt – die Beobachtung des Menschen durch das Tier hingegen verliert an Wichtigkeit (vgl. Berger 1981: 17ff.). Und am Ende dieser Entwicklung findet man das Blickregime der Tarzanfilme, die fast durchgängig das Tier als kontrastive Setzung für die sich entwickelnde Tarzanfigur formalisieren und das Tier selbst durchwegs blicklos belassen. Hier fokussiert sich auch die Zuschreibung dessen, was die Wandlungsfunktion Tarzans ausmacht: eben nicht ein Umschwung der Betrachtung von einem Tiergesicht zu einem Menschengesicht, sondern ein Umschwung der Zuschreibung von Artikulationsfähigkeiten innerhalb eines metaphorisierten Zeichensystems Gesicht. Somit wird aus der Sprachartikulation Tarzans auch die Artikulation eines Adressierungssystems – welches sich für das Kinematographische maßgeblich im Gesicht manifestiert. Ausgehend von diesem Schlüsselmoment stellt sich nun die Frage, wie die Facialität Tarzans als Übergang vom Tier zum Menschengesicht (und in einigen wenigen Filmen auch als kulturkritisch intendierte Regression vom aristokratischen Blaublütler zurück zum Tier) in einen Zusammenhang mit der Herstellung oder Produktion von Facialität gebracht werden kann. Dabei sind aber weniger die Fragen nach der Strategie des Kinos, der Großaufnahme und die Überformung des Schauspielergesichts zum Figurengesicht wichtig. Es soll vielmehr um die tatsächliche evolutionäre Herstellung von Menschengesichtern gehen, also um die Frage, ob die filmische Erzählung des ›transgressiv-segregativen‹ Tarzans als Superevolution dennoch eine Widerspiegelung im theoretischen Paradigma der Evolutionstheorie finden kann. Giorgio Agamben hat die eigentliche Problematik in der Rückbindung des Menschengesichts an das affektive Tiergesicht herausgestellt (vgl. Agamben 2002). Er verweist auf die Idee des enfant sauvage als Paradigma des Inhumanen. Gerade die hierarchische Herausstellung des homo sapiens (betrieben durch die Naturforschung seit Linné) steht für das wilde, dezivilisierte, unsozialisierte und regressive Kind als Abbild für das innerhalb der Ordnung Deklassifizierte ein. Das Wilde und Unsozialisierte wird zur Signifikation des Kulturlosen und damit bezeichnenderweise auch zum »Gesichtlosen« (ders.: 40f.). Somit wird – zumindest für das Kino – das Gesicht Tarzans als ein hergestelltes, ein ideologisches (eben: sekundäres) Zeichenre-

➞ [ Oberfläche ]

2005-09-05 10-34-15 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 247-257) T01_18b rasur.p 93904543326

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➞ [ Star ]

gime erkennbar, das als permanenten Triumph die Abkehr vom Inhumanen zugleich feiert und kompensiert. Das Gesicht wird zum nobilitierten Stellvertreter nicht nur des Körpers, sondern auch des Diskurses selbst, es wird zum Eintragungsort eines genealogischen und archäologischen Feldes widerstreitender und dennoch kommonsensualisierter Bedeutungen. Es ist nicht nur eine Inszenierung innerhalb des Filmnarrativs oder des ideologischen Zeichensystems Kino, sondern gleichsam Verdichtung und Verfestigung eines ganzen kulturellen Bedeutungssystems. Die Inszenierung der ›superhumanen‹ Facialität Tarzans kann somit – auch – gelesen werden als ein Kompensieren der Entfremdung von der Natur, dem Tier, der Geschichte. Die Herstellung von Zeichenregimes ist hier also eine doppelte: die der Evolution eines angeblickten anthropomorphisierten ›Pseudo-Tiers‹ zu einem zurückblickenden Menschen und die Artikulation der Kinomaschine aus dem Denken des Evolutionären heraus. Und so fällt auch die zunächst funktional wichtige Unterscheidung von Rollengesicht und Schauspielgesicht – oder präziser: die extra- und die innerdiegetische Wirklichkeit des Kinos an einem solchen Ort, dem Ort des Signifikanten – zusammen. Das Gesicht Tarzans ist das Gesicht Christopher Lamberts, Johnny Weissmüllers, Lex Barkers, Gordon Scotts oder einer der über 20 anderen offiziellen Darsteller der Tarzanfigur – darüber hinaus ist das Gesicht Tarzans jedoch auch das Gesicht der Evolution als Sozialisation und unserer Verhandlung von (pastoraler) Natur und (warenkapitalistischer) Kultur. Dabei muß natürlich klar bleiben, daß sich rein kinematographisch die Figur Tarzans mehr als ein Körperbild denn als Gesichtsbild definiert. Es gibt in diesem Sinne kein distinktes Tarzangesicht, nur einen vagen Tarzankörper, ergänzt durch eine rudimentäre Stimme bzw. einen Schrei. Die filmischen Körper Tarzans sind lediglich unterschiedliche Signifikanten des Typus Tarzan. Der jeweilige Sportler-, Model- oder Feuerwehrmannkörper wird als Star in den Film implementiert und nicht vom Film zum Star gemacht. Die Absenz der Sprache beziehungsweise ihre rudimentäre Ausprägung scheinen dieser Strategie Rechnung zu tragen. Aber es sind im Sinne der hier vertretenen These nicht das Kino und seine Inszenierungsstrategien allein, die den ›Tarzan machen‹. Vielmehr verweist der Blick in Tarzans Gesicht, wie der Film ihn konstruiert, auch auf das Defizit der Kinomaschine und der durch sie hergestellten Körper. Der Blick in Tarzans Gesicht läßt uns auch der Evolution – zumindest einer zeitgenössischen Vorstellung der Evolution – bei der Arbeit zusehen. Die Kinomaschine wird zum Hilfswerkzeug der Höherentwicklungsmaschine. [ Rolf F. Nohr ]

2005-09-05 10-34-16 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 247-257) T01_18b rasur.p 93904543326

[ Rasur ] | 257

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[ Star ] | 261

[ Star ]

Das für die deutsche Fassung von Max Ophüls’ Lola Montès (Lola Montez, D/F 1955) produzierte Filmplakat ist ein seltsam hybrides Konstrukt, das Gemälde und Fotografie miteinander verbindet. Es zeigt eine komplexe Konstellation. Im Vordergrund, mehr als die Hälfte der Breite und über zwei Drittel der Höhe einnehmend, bietet sich dem Betrachter ein gemaltes Porträt von Martine Carol dar, dem Star des Films in Verkörperung der Titelrolle der skandalträchtigen spanischen Tänzerin. Das Filmplakat gibt weitere deutliche Hinweise auf diese Verkörperung: Die als Blondine berühmt gewordene Martine Carol wird hier als Schwarzhaarige mit leicht gebräuntem Teint dargestellt, von dem sich lebhaft die Rötung der Wangen absetzt. Auch der weiße Schleier mit der geschlängelten schwarzen Bordüre fungiert als untrügliches Zeichen von Hispanizität. Der anonyme Plakatkünstler hat für die Darstellung ein Brustbild gewählt, das den Akzent auf die Ausstellung des Dekolletés legt, was durch das wie ein Pfeil auf den Brustansatz zielende Herz der Hals-

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262 | [ Michael Cuntz ]

➞ [ Blick ]

➞ [ Vorspann ]

kette ebenso unterstrichen wird wie durch die gigantische Blüte, die in Herznähe unter der linken Brust prangt. Trotz dieser äußerst expliziten Ausstellung ist es das Gesicht von Carol/Montez, auf das der Blick zuerst fällt. Es steht im Zentrum der Komposition und zieht um so mehr die Aufmerksamkeit auf sich, als die Dargestellte schräg von links in den Bildausschnitt hineinragt und mit ihrem Blick und einem diskret-vielsagenden Lächeln den Betrachter adressiert. Als ob die zweifache Rahmung durch schwarzes Haar und weißen Schleier nicht zur weiteren Hervorhebung ihres Gesichts ausreichte, schweben in fünf goldumrandeten Medaillons die in Farbe fotografierten Köpfe der männlichen Stars des Films – ebenfalls in Verkörperung ihrer Rollen als Liebhaber von Lola Montez – rund um ihren Kopf wie ein Halo oder eine Krone. Drei dieser Männer (die von Wohlbrück, Quadflieg, Werner gespielten Liebhaber) blicken ebenfalls in die Kamera, während Ivan Desnys und Peter Ustinovs Blicke sich im Unbestimmten verlieren. Erst nach näherem Hinsehen nimmt man wahr, daß das Frauengesicht in eine ebenfalls gerahmte Montage aus Szenen des Films hineinragt, die, obwohl er auf dem Plakat ausdrücklich als Farbfilm beworben wird, in Schwarzweiß gehalten sind. Neben einigen ihrer Filmpartner erkennt man in jeder der in Totale oder Halbtotale gefilmten Szenen Carol/Montez. Nicht zuletzt weil die montierten Aufnahmen schwarzweiß sind, ist die Beziehung zwischen dem gemalten Porträt im Vordergrund und den Szenen im Hintergrund zweideutig: Einerseits entsteht ein deiktischer Effekt, denn Carol/Montez deutet wie ein Pfeil auf den Rahmen hin, andererseits aber verbirgt die Figur nicht nur ein Viertel der Fläche, sondern überstrahlt zugleich die farblosen Bilder. In dieser Darstellung haben wir es mit einem komplexen Beziehungsgeflecht zu tun, das über die Gestaltung des Plakats hinausweist: Geht es um die Relation zwischen Star und Betrachter, so kommt dabei auch die Verteilung ihrer Genderrollen ins Spiel; dies gilt auch für das Verhältnis der Stars untereinander. Nicht allein im Verhältnis zwischen Star und Betrachter, sondern auch in der Überlagerung von Star und Filmfigur geht es zudem um die Überschreitung der Grenze, die den Film als Medium und den darin entworfenen diegetischen Raum vom extradiegetischen Raum und den darin existierenden Medien abtrennt. (Und insofern ist es bezeichnend, daß die Gesichter der männlichen Stars in einem seltsam unbestimmten Zwischenraum schweben, weder außerhalb noch innerhalb des Bilderrahmens.) Im Zentrum dieser Beziehungen steht als Bindeglied das Stargesicht, dessen Paradoxie das Plakat auf den Punkt bringt: Obwohl das weibliche (Star-)Gesicht das Objekt ist, das als erstes unsere Aufmerksamkeit erregt, erscheint es gleichzeitig als das am wenigsten auffällige oder merkwürdige Element des Plakats. Dem Gesicht, genauer dem Stargesicht, insbesondere dem weiblichen Stargesicht, kommt im Kino eine zentrale Funktion zu, die seine

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[ Star ] | 263

Erscheinung selbstverständlich wirken läßt, ihr eine fraglose Evidenz verleiht. Nur dort, wo die Verfahren seiner Herstellung thematisiert werden, wird diese Evidenz gestört. Das wichtigste dieser Verfahren im Film ist die Verwendung von Einstellungen, die den Betrachter dem Gesicht annähern (vgl. Morin 1972/1984: 126), insbesondere die Großaufnahme (Aumont 1992: 77ff.), welche das dem Betrachter zugewandte Gesicht vom Körper abtrennt, so daß es die ganze Leinwand füllt. Aumont weist darauf hin, daß allein die Tatsache, daß in der Großaufnahme kein Ensemble gezeigt wird, sondern ein Ganzes, das eine Einheit bildet, Einfachheit und Evidenz suggeriert (vgl. ebd. 92f.). Es gibt traditionell privilegierte Gegenstände, die diesen Effekt unterstützen: vor allem das weibliche Stargesicht, das den bevorzugten Gegenstand des Close-up abgibt, bei dem selbst wiederum Schönheit als ›natürliche‹ Eigenschaft vorausgesetzt wird. Explizit wird dies in einem Zitat von Godard, das Laura Mulvey anführt: »A beautiful face, as La Bruyère wrote, is the most beautiful of sights. There is a famous legend which has it that Griffith, moved by the beauty of his leading lady, invented the close-up in order to capture it in great detail. Paradoxically, therefore, the simplest close-up is also the most moving. Here our art reveals its transcendence most strongly, making the beauty of the object signified burst forth in the sign. With these huge eyes half-closing in discretion and desire, with these blenching lips, all we see in their anguish is the dark design they imply […]« (Mulvey 1996: 40). Die Großaufnahme und ihr Gegenstand, in dieser mythischen Geburtsszene untrennbar miteinander verbunden, werden in Termini der rhetorischen evidentia beschrieben. Ist Evidenz anthropomorph (vgl. Haverkamp 2004: 91), so scheint auf der Leinwand nichts mit solcher Prägnanz und Präsenz vor Augen zu stehen wie das Gesicht des weiblichen Idols. Die oben erwähnte Gleichung hat eine lange Geschichte, sie findet sich bereits bei Béla Balázs, für den die Großaufnahme gar die Essenz der Kinokunst ausmacht und bei dem die platonischen Implikationen und der Glaube an die Naturgegebenheit von Schönheit noch deutlicher hervortreten: »Ein Filmstar hat schön zu sein«, schreibt Balázs, auch wenn er noch im gleichen Abschnitt konzedieren muß, daß ausgerechnet seine persönliche Favoritin, Asta Nielsen, gar nicht eigentlich schön genannt werden kann (Balázs 1924/2001: 40f.). Nicht präskriptiv, sondern deskriptiv geht auch Edgar Morin davon aus, daß das Geschlecht des Stargesichts weiblich ist. Tatsächlich war der erste Star, der noch auf der Schwelle zwischen der bis dahin herrschenden Anonymität der Filmschauspieler und der Etablierung des Eigennamens als Label steht, eine Frau, das »Biograph Girl« Florence Lawrence (vgl. Aumont 1992: 62; Dyer 1998: 9f.; Abb. in Donald 1999: 34). Es ist also nur folgerichtig, wenn Laura Mulvey einen Nexus zwi-

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schen weiblichem Stargesicht und Großaufnahme herstellt und diesen in den Kontext des industriellen Kinobetriebs und der Produktion von natürlich wirkenden Konventionen stellt (Mulvey 1996: 40). Eine andere Frage ist, ob die Skopophilie, als deren extremen Ausdruck sie die Großaufnahme ansieht, als solche notwendigerweise einen männlichen Blick impliziert, zumal die letztlich moralische Abwertung der Schaulust bei Mulvey um den Preis der Affirmation der Ökonomie der Narration erkauft ist, die von der in dieser Hinsicht funktionslosen Ausstellung des Stargesichts als bloßer erotischer Schauwert unterbrochen werde (vgl. Mulvey 1989: 19ff.). In dieser Kritik verrät sich eine ikonoklastische Einstellung, der jede Geste als Idolatrie verdächtig ist, die sich zu lange mit einem (bildlichen) Gegenstand aufhält. Demgegenüber wurde auf die Ambivalenz zwischen Begehren und Identifikation hingewiesen, die Aumont unter anderem mit den Hilfsverben ›haben‹ und ›sein‹ unterscheidet (vgl. Aumont 2002: 176ff.; Morin 1972/1984: 107ff.), was zumindest eine Erklärung dafür liefert, warum auch weibliche Zuschauer weibliche Stars bevorzugen. Richard Dyer, der den Nexus zwischen Skopophilie und männlichem Blick in Zweifel zieht, hat die Möglichkeit der homosexuellen Umcodierung von Blick und Begehren innerhalb der heterosexuellen Matrix behauptet. Dyer und Andrea Weiß haben dies an Stargesichtern par excellence, Greta Garbo, Marlene Dietrich und Judy Garland gezeigt, die von weiblichen Betrachterinnen sehr wohl im Modus des Habens betrachtet werden (vgl. McDonald 1998: 192). Wenn das Begehren für den Anblick des Stargesichts zentral ist, wird um so deutlicher, warum es ohne Großaufnahme nicht existieren kann. Es ist vor allem die räumliche Nähe zwischen Star und Betrachter, die Intimität suggeriert. Wenn Godard in seiner Wortwahl – »bewegend« – die Affekte anspricht, so ist die rhetorische Figur der evidentia an ihrem Platz, denn sie gehört der Affektstufe des Pathos an. Das in der Großaufnahme gezeigte Gesicht ermöglicht diese höchste Affektstufe, physische und affektive Nähe fallen in eins. Diese Relation übersteigt eine rein visuelle Wahrnehmung und provoziert synästhetische Phantasmen vornehmlich taktiler Natur (vgl. Aumont 1992: 99). Nicht nur die Schönheit bricht hervor, sondern das Stargesicht in Großaufnahme verheißt eine Metalepse, die Sprengung der Grenze zwischen Leinwand und Zuschauerraum – daran ändert auch die Tatsache nichts, daß der Zuschauer rational um diese Grenze weiß. Die historische Entwicklung des Stargesichts hat diesen Mechanismus noch gefördert. Auf die erste Phase des Starsystems in den 1920er Jahren, in denen das Publikum mit unnahbaren, gottgleichen Stars konfrontiert war, folgt in den 1930er Jahren eine Annäherung von Stargesicht und Starimage an gewöhnliche Menschen. Die Entwicklung geht vom Idealen zum Typischen (vgl. Morin 1972/1984: 112f.; Dyer 1998: 21ff.). Die so ermöglichte Dialektik der Un/Nah-

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barkeit produziert noch mehr Begehren nach Intimität, weil es seine Erfüllung realistischer erscheinen läßt. Analog zum Roman wird Liebe zum genreübergreifend präsenten Thema des Films. In dem Maße, wie die Distanz zwischen Stars und Zuschauern gemindert wird, trägt das Stargesicht auch über die Leinwand hinaus zur Veränderung des Konzepts der Liebe bei. Morin hat sogar behauptet, das Stargesicht und der Leinwandkuß setzten die Erotisierung des Gesichts und die Gesichtszentriertheit der Liebe erst allgemein durch (vgl. Morin 1972/1984: 170). Ein weiterer Umstand nährt die Illusion und den Wunsch nach Überschreitung dieser Grenze: Die Produktion des Stargesichts beginnt und endet nicht auf der Leinwand. Das Stargesicht ist niemals ausschließlich ein ›reines‹ Filmgesicht. Filmdistribution funktioniert mittels weiterer Bildmedien, die in einem paratextuellen Verhältnis zum Film stehen – auch daher wurde hier ein Plakat als Ausgangspunkt gewählt. Interessanterweise hat für die Darstellung von Carol/ Montez auf diesem Plakat ein anderes dieser Medien als direkte Vorlage gedient, das ebenfalls zur Bewerbung des Films bestimmt war: Auf einer Set-Fotografie (vgl. Müller/Dütsch 2002: 124) sieht Carol, fast völlig identisch gekleidet, aus der geöffneten Tür einer Kutsche heraus. Hier richtet sich ihr Blick allerdings nicht auf den Betrachter, sondern leicht nach oben, so daß sie gleichermaßen in unbestimmte Ferne wie in ihr Inneres zu blicken scheint. Einerseits werden so die Grenzen des Raums der Diegese respektiert, Carol spielt Montez. Doch obwohl der Film in Farbe gedreht ist, handelt es sich um eine Schwarzweißfotografie. Diese zeigt Carols tatsächlich sehr weißen Teint als homogene Fläche, zu der die dunklen Augen und der dunkelrot geschminkte Mund starke punktuelle Kontraste bilden. Gerade diese Homogenität des Gesichts produziert die Verbindung zwischen Maskenhaftigkeit und Individualität, die das Stargesicht auszeichnet (vgl. Barthes 1957/1970; Morin 1972/1984: 56ff.) und die für Aumont genealogisch unmittelbar an die schwarzweiße Glamourfotografie gebunden ist (vgl. Aumont 1992: 62). Dies verdeutlicht auch, daß es gerade nicht die Erfassung von Details ist, wie Godard schreibt, die für das Stargesicht charakteristisch ist: »Die Anatomie des Gesichts ist so leuchtend, daß seine Physiognomie fast unsichtbar wird. Es schleppt seine Schönheit wie eine harte Maske« (Balázs 1924/2001: 40). Das konstruierte Stargesicht ist ebensowenig wie das Star-Image identisch mit der Person, die zum Star gemacht wird und sich selbst zum Star macht – es interferiert stets mit den Figuren, die von Stars verkörpert werden. Tatsächlich sind Haltung und Gesichtsausdruck, die Martine Carol auf der Fotografie einnimmt, fester Bestandteil ihrer Star-Ikonographie. Sie stehen also in einer intertextuellen Relation zu anderen Bildern Martine Carols, die nichts mit ihrer Verkörperung von Lola Montez in Ophüls’ Film zu tun haben, die etwa in Magazinen veröffentlicht wurden oder in Form von

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266 | [ Michael Cuntz ]

➞ [ Casting ]

➞ [ Oberfläche ]

➞ [ Widescreen ]

➞ [ Frisur ]

Starpostkarten massenhaft zirkulierten. Bei Setfotografie wie Filmplakat handelt sich um Collagen von standardisierten Gesichtsausdrücken, mit denen Carol sich um die Konstruktion eines kohärenten Stargesichts als zentralem Bestandteil ihres Images bemüht. Schließlich ist von Bedeutung, daß der Star auf vielen dieser Postkarten direkt in die Kamera schaut, also den Blick des Betrachters zu erwidern scheint – eben jenes Versprechen der Reziprozität und des direkten Kontakts, das auch für das Plakat gegeben wurde. Das Stargesicht zirkuliert nicht nur außerhalb des Films, gerade in den Zeiten des Starsystems im klassischen Hollywoodkino, in dem praktisch alle Informationen über die Stars zentralistisch produziert, distribuiert und kontrolliert wurden, wurde es auch zuerst in anderen Medien lanciert, bevor es die Leinwand erreichte. Zentrales Instrument waren die schwarzweißen Glamourfotografien. Damit erreicht am Stargesicht seinen Höhepunkt, was Oliver Wendell Holmes Mitte des 19. Jahrhunderts von der Fotografie generell erwartete und begeistert begrüßte: die Ablösung der Bilder von den Dingen, der Form von der Materie, und ihre massenhafte Zirkulation als Währung (vgl. Holmes 1859/1980: 80f.). Mit dem Unterschied, daß es nicht um eine allgemeine Währung geht, der alle Bilder aller Modelle und Gegenstände unterschiedslos angehören würden. Vielmehr muß der Star, um zu reüssieren, sein Gesicht als eigene Währung und gleichzeitig als Markenzeichen und Ware etablieren, deren Ausstellung ausreichend Begehren hervorruft, um es anschließend gewinnbringend in die Leinwandproduktion investieren zu können – Warhols Siebdruckverfahren fand also in Marilyn Monroes Stargesicht nicht zufällig sein idealtypisches Objekt. Nach gut drei Jahrzehnten gerät dieses System Ende der 1940er Jahre in die Krise. Die Zuschauerzahlen gehen zurück. Außerdem etabliert sich vor allem mit dem Neorealismus ein anderes Filmgesicht, in dem die Überlagerung zwischen (Laien-)Darsteller und Figur auf das Porträt der tatsächlichen Person abzielt (vgl. Aumont 1992: 117f.). Auf diesen Verfall der Währung ›Star‹ und ›Stargesicht‹ muß mit neuen Attraktionen reagiert werden, die Lola Montès verheißt: Farbe, Breitleinwandformat, Ausgreifen in Raum und Zeit, Ausstellung des weiblichen Körpers. Es entsteht eine neue Kategorie des Stars, zu der auch Martine Carol gehört: Die Sexgöttin, die den für das Begehren so produktiven Widerspruch zwischen Unerreichbarkeit und dem Versprechen körperlicher Nähe neu dramatisiert und akzentuiert. Busen und Beine scheinen das Stargesicht nachrangig werden zu lassen. Daß es seine zentrale Funktion aber keineswegs verliert, zeigt sich genau dort, wo seine Nähe verweigert wird. Wo dies geschieht, droht der Unterschied zwischen Star und anonym-gesichtlosem Sexobjekt verloren zu gehen: Ohne den Close-up bleibt nur ein Pin-up oder eine Puppe – nur die ans Gesicht geknüpfte, ein besonderes Individuum suggerierende

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Identität und der Ruhm des Stars machen den Mehrwert aus, der ihn aus der Menge verfügbarer Schönheit heraushebt. Nicht zufällig wird in dieser Zeit der Starkrise auch das Verhältnis zwischen Star und Rolle thematisiert. In Lola Montès spielt Martine Carol ihre eigene historische Vorläuferin, den sündigen Star, eine Sexgöttin des 19. Jahrhunderts, bei der ihre Tätigkeit als Tänzerin und ihr Privatleben verschmelzen. In der Rahmenhandlung muß die Gräfin, deren Stern sinkt, ihr Leben in einer kruden Zirkusshow vor Schaulustigen darstellen. Bereits ein Jahr zuvor hatte Joseph L. Mankiewicz in The Barefoot Contessa (Die barfüßige Gräfin, USA 1954) eine ganz ähnliche Konstellation inszeniert, in der Ava Gardner ebenfalls eine spanische Tänzerin spielt, die von einer Gruppe amerikanischer Financiers und Filmemacher für den Film ›entdeckt‹ und zum Star aufgebaut wird. In diesem Kontext muß natürlich auch Sunset Boulevard (Boulevard der Dämmerung, USA 1950, Billy Wilder) genannt werden, in dem Gloria Swanson mit dem alternden Stummfilmstar Norma Desmond eine Variation ihrer selbst spielt. Die Ausstellung der Interferenzen zwischen Star und Filmfigur stört dabei die Nutzung des Starkapitals für den Film. In allen drei Filmen finden wir eine implizite oder explizite Reflexion über das Stargesicht und die Verfahren seiner Produktion, Konstruktion und seines Konsums durch den Zuschauer. Relativ dezent geht dabei Mankiewicz vor. Die Ironie der Handlungskonstruktion liegt darin, daß zwar die Transformation der jungen Maria Vargas (deren Nachname schon die Buchstaben von Ava Gardners Vornamen enthält) in einen Star und die Mechanismen der Starfilmproduktion beständig thematisiert werden, die filmischen Darbietungen – Dreharbeiten wie Produkte – aber für den Zuschauer unsichtbar bleiben. Statt dessen wird aus der Retrospektive das unglückliche Starleben der Hauptfigur erzählt. Entgegen den Erwartungen hat diese trotz der Partizipation am Leben des Jet-sets keine Liebhaber. Sie spart sich für ihre große Liebe auf, die daran scheitert, daß ihr Märchenprinz – ein italienischer Graf – impotent ist. Mehr noch: Sein Körper ist vom Krieg versehrt, nur sein Gesicht und – wie er nicht müde wird zu betonen – sein Herz blieben intakt. Maria will ihn mit einem Kind beglücken, das seine Dynastie rettet, und läßt sich von einem Bediensteten schwängern. Der Graf tötet beide aus Eifersucht. Die Handlung dieses Melodramas liest sich natürlich zunächst äußerst konventionell. Die Reinheit des Stars – auch dies ein geläufiger Topos – dauert bis in den Tod. Es gibt aber auch eine andere Lesart: Die Unerfülltheit der Liebe Marias geht so weit, daß es im gesamten Film keine echte Liebesszene und deshalb auch keine wirkliche Großaufnahme gibt. In der Darstellung von Ava Gardner wie in den Szenen mit dem von Humphrey Bogart gespielten Mentor und dem Grafen gibt es nur Nahaufnahmen, keine Großaufnahmen. Die weitestgehende Annäherung der Kamera an die Gesichter erfolgt in

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der Hochzeitsnacht – es ist die Szene eines nicht zustande kommenden Kusses zwischen den Eheleuten, eines Scheiterns, dem das Eingeständnis der Impotenz folgt. So wird gleichermaßen der intime Zusammenhang zwischen Großaufnahme und Liebesszene in deren Absenz herausgestellt wie – in der Figur des impotenten Grafen – der metonymische Charakter der Kußszene, in der der Kontakt der Münder für den Geschlechtsverkehr steht – den der Graf nicht mit Maria vollziehen kann. Als Gegenprobe mag die Kußszene zwischen Cary Grant und Grace Kelly aus To Catch a Thief (Über den Dächern von Nizza, USA 1954, Alfred Hitchcock) dienen: Diese kulminiert pflichtschuldig im Close-up, und die Bedeutung des parallel montierten Feuerwerks dürfte sich leicht erschließen. Ist neben dem Gesicht des Grafen, seinen Augen, mit denen er Maria verzehrt, sein Herz der einzige unversehrte Teil seines Körpers, so stimmen die Organe, auf die seine entkörperlichte Liebe zu Maria reduziert ist, mit denen überein, die dem Zuschauer für die Stillung seines Begehrens nach Ava Gardner zur Verfügung stehen. Der Graf, der denjenigen, der die körperliche Liebe mit seiner Frau vollziehen kann, aus Neid und Ohnmacht ebenso umbringt wie das Objekt seiner unerfüllbaren Begierde, wäre dann eine Allegorie des Zuschauers, dessen Verehrung und gleichfalls unerfülltes Begehren immer auch in Haß umschlagen können. Der ikonoklastische Reflex gegen das Idol findet sich also immer schon auf seiten des Zuschauers, und der Tod der weiblichen Hauptfigur ist seine logische Konsequenz. Während diese allegorische Lesart nie die melodramatische Rezeption des Films stört, geht Max Ophüls bei der Bloßlegung der Mechanismen des Stargesichts in Lola Montès weitaus radikaler vor. Ophüls entscheidet sich dafür, die Gesichter seiner Hauptdarsteller von der Annäherung an den Zuschauer und dessen Adressierung auszunehmen. Er stellt das Stargesicht im buchstäblichen Sinn in den Hintergrund. Mit einer einzigen Ausnahme enthält der Film keine Großaufnahmen. Konsequent verzichtet Ophüls auch auf die SchußGegenschuß-Technik, die man gerade bei der Geschichte einer Frau mit wechselnden Liebhabern und entsprechendem Leidenschaftspotential, in das der Zuschauer einbezogen werden könnte, in großer Zahl erwartet hätte. Diese Verweigerung einer Hauptattraktion, der Koppelung und Ausstellung von Stargesicht und Liebeshandlung, läßt sich auf den Begriff des Entzugs des Gesichts bringen. Daß diese Adressierung und das Zeigen des begehrten und/oder zur Identifikation einladenden, vom Körper abgeschnittenen Stargesichts die große Erwartung des zahlenden Zuschauers war (und ist), war Ophüls bewußt: Bereits bei der Bezahlung, durch die sich die Zirkuszuschauer die Beantwortung ihrer schamlosen Fragen durch die Gräfin erkaufen, sammeln die gesichtslosen roten Pagen das Geld der Zuschauer in Tonköpfen, die Lola Montez’ Effigie darstellen. Ophüls sabotiert die Inszenierung des begehrten Stargesichts und dessen intime Annähe-

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rung, welche die Illusion nährt, diesem Gesicht zum Greifen nah zu kommen. Tatsächlich geht die Annäherung nie über Nahaufnahmen hinaus, und selbst diese sind eher selten. Mit großer Insistenz wählt Ophüls Halbnahe, Halbtotale und Totale und rückt vor allem Martine Carol gerade dort ganz in den Hintergrund, wo der Zuschauer sich nach Großaufnahmen sehnt. Ein Beispiel dafür ist die Kußszene zwischen dem Leutnant (Ivan Desny) und der jungen Lola. Lola durchquert eine Halle und läuft aus dieser heraus in den Hintergrund, wohin der Offizier ihr folgt. Dort, ganz im Hintergrund, küssen sie sich, während die Kamera zurückbleibt. Ebenso läuft die Szene von Lolas Audienz beim König den Erwartungen des Zuschauers zuwider. Versucht Lola Montez darin, dank ihres Charmes – und das bedeutet dank ihrer mimischen Expressivität – die Gunst oder genauer das Herz des Königs zu gewinnen, wäre dies in einer konventionellen filmischen Bearbeitung eine weitere Gelegenheit für den Star Martine Carol, zugleich das Herz der Zuschauer zu gewinnen. Ophüls zeigt die bei dieser Gelegenheit tatsächlich mimisch äußerst expressive Carol aber die meiste Zeit nur in einer Halbtotale und zudem lediglich im Profil. Häufig finden wir bei Ophüls sogar eine Abschirmung der Gesichter vom Zuschauer (vgl. Truffaut 1956/2002: 17). An unzähligen Stellen schieben sich Objekte vorübergehend zwischen den Betrachter und die Akteure. Gravierender dürfte sein, daß auch die raren Liebesszenen, die nicht im Hintergrund stattfinden, niemals direkt dem Blick des Zuschauers zugänglich sind. In auffälliger Weise gilt dies für die Liebesszene zwischen Quadflieg und Carol, die ihren endgültigen Abschied in der Herberge markiert. Dramaturgisch läßt diese Szene die höchste affektive Aufladung erwarten, und auch in der gesamten Anlage, der Haltung der Körper etc. werden die entsprechenden Muster aufgerufen. Doch bekommt der Zuschauer diese Szene nur durch ein Gitter hindurch zu sehen. Stets sieht er sich auf die Rolle eines Voyeurs zurückgeworfen, der nicht zu sehen bekommt, was er am meisten begehrt. Auch in Sunset Boulevard hat die Problematisierung der Großaufnahme einen zentralen Stellenwert. Der Close-up des – ohnehin gealterten – Stargesichts von Gloria Swanson wird bis ins letzte Drittel des Films verweigert. Diese Verweigerung wird noch kontrastiv hervorgehoben durch die private Filmvorführung, in der Norma und Joe einen Ausschnitt aus einem alten Film von Gloria Swanson sehen. Auf der kleinen intradiegetischen Leinwand sehen auch die Betrachter von Wilders Film die junge Swanson in einer extremen Großaufnahme, in der ihr ebenmäßiges Gesicht in den warmen Glanz, den Glamour von Kerzenlicht gehüllt und gleichzeitig entrückt ist – ein Stargesicht der Götterperiode. Dem antwortet das berühmte Ende des Films mit Swansons/Desmonds Satz: »Right Mr. DeMille, I’m ready for my close-up.« Wenn im Zoom Swansons Kopf verschwimmt

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➞ [ Ikone ]

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➞ [ Photogénie ]

und die Großaufnahme nie zustande kommt, so liegt dies an der massiven Übertreibung eines Effekts, dem leichten Verwischen der Konturen, der gerade für die Konstruktion des zeitlosen Glamourgesichts vor 1930 konstitutiv ist (vgl. Aumont 1992: 63). Geht es beim Entzug darum, dem Zuschauer das Ideal des Stargesichts vorzuenthalten, kommt es auch zur (Zer-)Störung dieses Ideals. Als direkter Angriff auf seine Ökonomie erfolgt die Dekomposition und Defiguration. Das erfolgreich komponierte Stargesicht hält die Balance zwischen idealisierter Maskenhaftigkeit und der Individualität generierenden Expressivität, zwischen homogener Flächigkeit und strukturierender, an den kommunikativen Zentren Augen und Mund ausgerichteten Hervorhebung. Ophüls und Wilder zerstören diese labile Balance zu beiden Extremen hin: Häufig wird in Lola Montès das völlig ausdruckslose, apathische Gesicht gezeigt, das die Erwartungen an die Expressivität nicht einlöst. Dies gilt insbesondere für die Einführung der Person der Lola Montez in der Zirkus-Rahmenhandlung, aber beispielsweise auch für die zweite Kutschfahrt Lolas mit dem Studenten (Oskar Werner), der sie zu einem neuen Leben überreden will. Lola erwidert weder seinen Blick noch den Ausdruck seines Gesichts: Ihr Gesicht bleibt eine starre, weiße Maske. Ein aktuelleres Beispiel für die Auflösung des weiblichen Stargesichts in Flächigkeit und Maskenhaftigkeit ist die Behandlung der Gesichter von Naomi Watts und Laura Elena Harring in David Lynchs Mulholland Dr. (Mulholland Drive. Straße der Finsternis, USA 2001). Der gegenteilige Effekt besteht in der grotesken Überzeichnung von Expressivität. In Sunset Boulevard erscheint Gloria Swansons Gesicht, als Joe (William Holden) sie verlassen will, in einer der wenigen Großaufnahmen gleichsam zur Maske einer Überexpressivität verzerrt, die die extreme Annäherung der Kamera nicht aushält und, auf Gesichter des frühen Kinos verweisend, in ihrem Anachronismus das vermeintlich zeitlose Ideal unterläuft. Zudem ist Swansons Gesicht ungeschminkt und zeigt schonungslos ihr Alter. Die Ausleuchtung schafft keinen Glanz, der ihr Gesicht als Ganzes einhüllt, sondern markiert jene Stellen des Gesichts, die das Alter verraten: die Partie zwischen den Augenbrauen, die Tränensäcke und die Partie zwischen Mund und Nase. Die Betonung dieser Zwischenräume, die eigentlich die expressiven Zentren des Gesichts verbinden und in harmonischer Flächigkeit vereinen sollen, dekomponiert das Stargesicht. Hierin kommt bereits ein weiteres Mittel der Infragestellung des Stargesichts zum Tragen: die explizite Thematisierung der Verfahren seiner Konstruktion und Inszenierung. Seine Produktion vor und in der Aufnahme wird in die Performance eingeschrieben und ausgestellt (vgl. Dyer 1998: 9ff./132ff.; Donald 1999: 34ff.), anstatt unsichtbar deren Perfektion zu ermöglichen. Ophüls wie Wilder bauen Schmink- und Kosmetikszenen in ihre Filme ein, in denen diese

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[ Star ] | 271

Produktionsarbeit gezeigt und damit gegen das Gebot der absoluten Perfektion des Stargesichts verstoßen wird, an dem Krankheit, Erschöpfung und Alter spurlos vorübergehen müssen. Im Fall von Lola Montès lenkt dies zudem die Aufmerksamkeit darauf, daß auch das fertige Make-up der Schauspieler keineswegs den Erwartungen entspricht, welche Filmplakat und Setfotografie schüren. Vielmehr bieten auch und gerade die Stars, allen voran Martine Carol selbst, dem Blick Gesichter dar, die häufig ungesund glänzen, deren Teint fahl, häufig grau ist. In den Zirkusszenen kommt noch das grellbunte Licht hinzu, in das die Gesichter getaucht werden und das ihre Züge verzerrt und entstellt. Beinahe noch schonungsloser führt dies Wilder in der Abfolge von kosmetischen Prozeduren vor, die Norma Desmond über sich ergehen läßt und die als gewaltsamer Versuch der Restauration des zeitlosen Stargesichts wirken. Der Star erscheint hier als Patientin, die den quälenden Manipulationen an ihrem Gesicht ebenso hilflos ausgeliefert ist wie der unerbittlichen Kamera, die es dabei in Großaufnahmen zeigt. So bedeckt eine groteske, an afrikanische Fetische gemahnende Ledermaske ihr Gesicht. Als die Maske abgenommen wird, erscheint das Gesicht durch eine Perspektive von oben verfremdet und wird sofort zum Objekt der Manipulationen einer Kosmetikerin. Die nächste Einstellung zeigt Swanson/Desmond unter einer anderen Maske, die diesmal, dünn und weiß, eng anliegt und die Konturen ihres Gesichts nachvollzieht, während sie nur ihre Augen, Nase und Mund freiläßt. Interessanterweise sieht das Gesicht gerade unter dieser Maske am jüngsten aus, so daß die Alterung der Zwischenräume zwischen den expressiven Zentren als eigentlicher Verfall des Stargesichts ausgestellt wird. Abschließend sehen wir Swansons leidendes und ausgeliefertes Gesicht, dessen rechte Augenpartie zudem mit einer Lupe teilweise vergrößert und mit einer kleinen Taschenlampe in grelles Licht getaucht wird. Indem die Lupe die Großaufnahme ins Groteske überzieht, tut sie ein übriges, um die Einstellung selbst zu denaturalisieren. In Lola Montès hingegen wird die Defiguration des Stargesichts als krankes Gesicht forciert. Ihren Höhepunkt findet diese Darstellung, als Lola am Ende des Films in das Dach der Zirkuskuppel steigt, um zum Sprung in die Tiefe anzusetzen. An keiner Stelle kommt es zu einer größeren Annäherung an Martine Carols Gesicht, hier wechseln zwei, allerdings extrem kurze, nur wenige Sekunden dauernde Großaufnahmen mit längeren Nahaufnahmen. Das Gesicht, das so eingefangen wird, ist aber vollständig defiguriert, was durch das fahle, dunkelblaue Licht dieser Szene verstärkt wird. In der ersten, acht Sekunden dauernden Großaufnahme bleiben Martine Carols Augen die meiste Zeit geschlossen. Dafür öffnet und schließt sich ihr Mund ständig krampfartig im Ringen nach Luft, so als sei das Gesicht von den Atmungsorganen des Körpers abgetrennt worden. In der folgen-

➞ [ Make-up ]

➞ [ Grimasse ]

➞ [ Auge ]

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272 | [ Michael Cuntz ]

den Nahaufnahme verstärkt sich die Konvulsion der Gesichtszüge weiter, und Carols Blick bleibt zunächst starr, um dann auf der Suche nach einem Ausweg ziellos umherzuirren. In der Logik der Geschichte ist dieses Verhalten auf den Gesundheitszustand und die Todesangst der Protagonistin zurückzuführen, die fürchtet, daß der Sturz in die Tiefe ihren Tod bedeuten könnte. Doch nicht nur die Narration koppelt diese Szene an Beklemmung und Tod. Es ist die Einstellung selbst, die beides suggeriert. Gerade in dieser Serie von Groß- und Nahaufnahmen ist der Eindruck eines unnatürlich abgeschnittenen, vom Rumpf abgetrennten Kopfes äußerst stark. Die Isolation des Gesichts durch seine Abtrennung vom Körper wird noch intensiviert durch mehrere sich überlagernde Rahmungen dieses Gesichts, welche nun nicht, wie auf dem Plakat, als dessen Hervorhebung, sondern als dessen Bedrohung erscheinen – der optische Effekt erinnert an eine Folterkammer, deren Wände so eng zusammenrücken, daß die Eingeschlossene von ihnen zerquetscht wird. In der abschließenden Großaufnahme rahmt Martine Carol ihr Gesicht mit ihren eigenen erhobenen Armen ein. Zuvor gerät bereits die Kamera ins Taumeln, kippt das Bild ein Stück auf die Seite, während auch der Kopf der Schauspielerin immer stärker zu taumeln beginnt. Martine Carol/Lola Montez verhält sich, als wolle sie etwas abschütteln, einer Kraft ausweichen, die ihr den Atem und die Lebensenergie raubt. Es ist die Einstellung selbst, die sie ›einfängt‹, und es sind die gierigen Blicke der Zuschauer, die sich an ihr ›festgesaugt‹ haben. Die Kinozuschauer sind Carol/Montez im Augenblick ihrer Todesgefahr näher als je zuvor im Film. In ihrer Sensationslust, so suggeriert Ophüls, begehren sie gleichzeitig den taktilen, berührenden Blick aus nächster Nähe und den Todessprung, der das Idol zerschmettern würde. Dieser Blick, der hier mit dem Tod des so angeblickten Subjekts in Verbindung gebracht wird, wird als eine mise-à-mort inszeniert. Doch die Erwartung, daß ihr Sprung tödlich verlaufe, wird jedoch enttäuscht. In der nächsten Einstellung steht Lola Montez in einem Gitterwagen, um das entwürdigende Spektakel des körperlichen Kontakts der Menge mit ihren Händen über sich ergehen zu lassen. Lola Montez’ resignativer Schlußsatz: »Das Leben geht weiter«, verweist auf den endlosen Kreislauf zwischen der Annäherung an das Stargesicht im Begehren, es zu berühren und der enttäuscht-sadistischen Lust an der Zerstörung des Idols. [ Michael Cuntz ]

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[ Star ] | 273

Literatur Aumont, Jacques (1992): Du visage au cinéma, Paris: Cahiers du

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[ Träne ] | 277

[ Träne ]

Die Kamera schwenkt durch einen großen Kirchenraum wie ein beteiligter Beobachter, vorbei an den Köpfen der Prälaten, Mönche und Soldaten, die den Prozeßbeginn erwarten, einen Ankläger verfolgend, bis sie den vorsitzenden Richter und Bischof in einer Nahaufnahme fokussiert. Der nun folgende Schnitt nimmt dessen Blick auf. Die nächste Einstellung zeigt einen jungen Priester, der die Angeklagte in den Saal führt. Eine gewisse nervöse Unruhe herrscht dort – eine Unruhe, die durch die Einzelbewegungen der zahlreichen Akteure und Statisten choreographiert wird. Die Logik dieser zumeist gegenläufigen Bewegungen strukturiert den gesamten Bildraum. Die dynamische Kamera und der Filmschnitt steigern noch diesen Eindruck der Bewegtheit und Aufgeregtheit; sie repräsentieren gleichsam die innere Bewegtheit der Akteure. Es handelt sich um die Eingangsszene eines der berühmtesten Melodramen der Filmgeschichte – Carl Theodor Dreyers La Passion de Jeanne d’Arc (Jeanne d’Arcs Leiden und Tod, F 1927) –, das den Inquisitionsprozeß gegen die französische Nationalheldin zu einem Psychodrama der Affekte formt. Der erste Auftritt der von Renée Falconetti verkörperten Heldin wird als Orchester der Blicke inszeniert: Neugierige, hämische, nachdenkliche, dünkelhafte und überhebliche Blicke treffen sie, als die

➞ [ Blick ]

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278 | [ Petra Löffler ]

➞ [ Widescreen ]

➞ [ Oberfläche ]

➞ [ Auge ]

Anklage verlesen wird, sie in Fußketten vor den Richter tritt und auf die Bibel schwört, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen. Ihr ebenfalls in Großaufnahme gezeigtes Gesicht reagiert auf diese Blicke. Das Drehbuch von Joseph Delteil und Carl-Theodor Dreyer betont den Kontrast zwischen der naiven Heldin und dem »unvergleichlichen Apparat von Intelligenz und Tod«, der vor allem in den psychologisch lesbaren Blicken zum Ausdruck kommt: »Alle Gesichter wenden sich zum Eingang. Alle sehen sie die Jungfrau zum ersten Mal. […] Sie fühlt die Blicke, die auf sie gerichtet sind; sie fühlt, daß sie hart, kalt, entschlossen sind« (Farin 1996: 40). Béla Balázs hat den Film daher als ›Duell der Blicke‹ gedeutet (vgl. 1930/1972: 14). Bereits die Fragen zur Person, mit denen dieser Prozeß eröffnet wird, lassen die Gesinnung der Richter und die angespannte Atmosphäre erkennen. Nach der scheinbar harmlosen Frage, wer ihr das Vaterunser beigebracht habe, schlägt die Angeklagte die Augen nieder, schließt sie für einen Moment der Erinnerung an die Mutter, und als sie sie wieder öffnet, löst sich langsam eine Träne und fließt über die Wange herab. Mit einer kurzen Geste wischt sich Jeanne diese erste vergossene Träne ab, der noch viele folgen werden, als schämte sie sich vor den Anwesenden ihrer Gefühlsregung. Dreyer zeigt auch diesen Vorgang als Close-up, Falconettis Gesicht in Frontalansicht. Dieses Gesicht, den Blick leicht aufwärts gerichtet, erinnert an Madonnenstatuen, die auf wundersame Weise zu weinen anfangen. Wie diese Träne aus dem Auge hervorquillt und die glatte Wange hinab gleitet, erfaßt die Großaufnahme mit großer Präzision. Das nahezu bewegungslose Gesicht und die glatte, undurchdringliche Oberfläche der Haut bilden einen starken Kontrast zur fluiden Stofflichkeit der Träne, wodurch die Oberfläche der Haut einen monumentalen Charakter bekommt. Diese Szene greift dem Verlauf des Films in emblematischer Weise vor, der die Geschichte von Jeanne d’Arc als Stufenfolge des Leidens erzählt. Denn im gesamten Film gibt es kaum eine Szene, in der Jeannes Augen nicht tränengefüllt sind und in deren Schmelz glänzen, sie nicht weint und allein schon deshalb das Mitleid des Publikums gewinnt. Die tränenvergießende Jeanne kann deshalb als optisches Leitmotiv von Dreyers Filmepos angesehen werden, und die geschilderte Eingangsszene stellt so gesehen einen symbolisch verdichteten Auftakt für ein Martyrium der Tränen, der Konversion und Kommunion dar, das auf die Beteiligten und Zuschauer des Prozesses und nicht zuletzt auf den Zuschauer im Kinosaal übergreift. Vor diese Eingangsszene ist eine Art Prolog geschaltet, in dem der Regisseur gewissermaßen aus dem Off auf die historisch verbürgten Quellen seines Films verweist. Im ersten Zwischentitel des 1985 von der Cinémathèque Française rekonstruierten Films, von dem es mehrere abweichende Versionen gibt, und dessen vermeintliches

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Originalnegativ erst 1981 entdeckt wurde (vgl. Bordwell 1981: 216), wird auf die gut erhaltene Prozeßmitschrift hingewiesen, die sich in der Pariser Bibliothèque de la Chambre des Députés befinde, die gewissermaßen das historische Gewissen der französischen Demokratie enthält. Der Zwischentitel betont, daß diese Mitschriften eines der »documents les plus extraordinaires de l’histoire du monde« seien und versichert weiter, daß die Fragen der Richter und Jeannes Antworten mit »grande exactitude« aufgezeichnet worden wären. Dieses einzigartige historische Dokument wird nun dem Filmzuschauer eigens präsentiert. Eine Person, von der nicht mehr als ihre Hände und Jackettärmel zu sehen sind, die aber damit hinreichend als zeitgenössischer Chronist gekennzeichnet ist, blättert in den historischen Akten – diese Authentifizierungsstrategie hatte Dreyer bereits in Praesidenten (Der Präsident, DK 1919) und Blade af Satans Bog (Blätter aus dem Buche Satans, DK 1919) erprobt. Ein weiterer Zwischentitel gibt zu verstehen, durch die Lektüre dieser verbürgten Mitschriften lasse sich eine Jeanne entdecken, »wie sie war«, ohne Rüstung, »mais simple et humaine«. Er spricht dies in der Form eines das Publikum direkt adressierenden »Wir« aus. Die ›wahre‹ Jeanne kommt, so möchten die Zwischentitel den Filmzuschauer glauben machen, in ihren dokumentierten Antworten zum Vorschein. An dieser Wahrheit sucht auch Dreyers Film zu partizipieren: auch er will das Publikum davon überzeugen, Jeannes Martyrium mit der dem Film zu Gebote stehenden Wahrhaftigkeit rekonstruieren, ihren aktenkundigen Worten und Handlungen also Leben einhauchen zu können. Diese Wahrhaftigkeit ist eine zutiefst emotionale, eine der einfachen, menschlichen (»simple et humaine«) Gefühle einer jungen, ungebildeten Frau, die jeder nachempfinden und teilen kann – La Passion de Jeanne d’Arc ist also auch ein Lehrstück in Sachen Empathie und das filmische Melodrama exakt der Ort, an dem das moderne bürgerliche Publikum seine Empathie bekunden und ausleben kann (vgl. Kappelhoff 2004). Auch der folgende Zwischentitel spricht im Namen eines unbestimmten, aber gleichwohl umfassend inkludierenden »Wir«. Er stimmt das Publikum auf ein beispielloses Drama ein: »[…] et nous sommes témoins d’un drame impressionnant – une jeune femme croyante, confrontée à une cohorte de théologiens aveuglés et de juristes chevronnés.« Nahtlos geht der Film von diesem programmatischen Prolog zur historischen Spielhandlung über. Er gibt vor, sehen zu machen, wofür andere – namentlich Jeannes Ankläger – blind waren: für die Authentizität ihres Glaubens und ihres Leidens, das Dreyer vor allem durch reichliche Tränen als menschliches Drama sichtbar und nachvollziehbar macht. Das Filmdrama gibt sich als Medium der Vergegenwärtigung und Enthüllung einer Wahrheit aus, die das zeigt, was die schriftlich fixierte Gerichtsverhandlung als juridische Textform ausläßt. Es interpretiert diese Wahrheit bewußt mit den Mitteln des

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280 | [ Petra Löffler ]

➞ [ Ikone ]

Films, in dessen Zentrum die Tränen als sichtbares Anzeichen eines Martyriums des Körpers und der Seele stehen, das durch die hinterhältigen Zweifel an Jeannes naivem Glauben an ihren göttlichen Auftrag und die teuflischen Ränke des Richterkollegiums ausgelöst wird. Die Tränen bilden so gesehen eine Art Subtext, eine sich immer wieder erneuernde Offenbarung, der die kirchliche Macht und die juridische Autorität untergräbt. Der Prolog erfüllt insofern auch eine extradiegetische Funktion: Er weist auf die bildrhetorischen Potentiale des Mediums Film hin, etwas Abwesendes und längst Vergangenes mit großer Wahrhaftigkeit vor Augen führen zu können. Der melodramatische Film hat sich, filmgeschichtlich gesehen, schon früh der Märtyrergeschichten des Christentums angenommen – man denke nur an die zahlreichen Verfilmungen der Passion Christi, angefangen bei From the Manger to the Cross (USA 1912, Sidney Olcott) über Il vangelo secondo Matteo (Das erste Evangelium – Matthäus, I 1964, Pier Paolo Pasolini) bis hin zu Mel Gibson aktueller Version The Passion of Christ (Die Passion Christi, USA 2003). Ihnen allen ist gemeinsam, daß sie einem legendären Ereignis mit den Mitteln des Films zu optischer Evidenz verhelfen wollen. Auch der Historienfilm weist immer dann deutliche Parallelen zum Melodrama auf, wenn er, wie bereits David W. Griffith mit Birth of a Nation und Intolerance (Geburt einer Nation, USA 1915; Tragödie der Menschheit, USA 1916) oder Abel Gance mit Napoléon (Napoleon, F 1927), Geschichte durch die Darstellung von Einzelschicksalen zu rekonstruieren sucht. In dieser Perspektive wird der Film als Phantasiemaschine begriffen, der vom Kinosessel aus Reisen in fremde Zeiten und Räume gestattet. Bereits 1916 hat Hugo Münsterberg in seiner wegweisenden psychologischen Studie The Photoplay den »zusätzlichen Gefühlsausdruck« hervorgehoben, den der »Kinokünstler« durch das »Medium der szenischen Umgebung, durch Hintergrund und Bühnenbild, durch Linien und Formen und Bewegungen« erzielen könne (Münsterberg 1916/1996: 67) – man erinnere sich, wie Dreyer die erregte Stimmung im Gerichtssaal durch eine räumlich gestaffelte Bewegungschoreographie gestaltet hat. Hierbei fällt besonders ins Gewicht, daß der Film »von einem Augenblick zum anderen«, »mit jedem Lächeln und jedem Stirnrunzeln« (ebd.) den Schauplatz und die historische Zeit verändern kann, so wie La Passion de Jeanne d’Arc ohne Umschweife vom Aktenstudium zum historischen Geschehen gesprungen ist: »Nicht mehr als eine Sechzehntelsekunde ist notwendig, um uns von einer Ecke der Welt zur anderen zu versetzen, von einem glückstrahlenden Schauplatz zu einer Trauerszene« (ebd.). Diese Faszination für die ›Realfiktion‹ ist ungebrochen, wie das Beispiel von Gibsons The Passion of Christ belegt. Diese Filme leben von den Realitätseffekten der filmischen Fiktion ebenso wie von der Empathie des Publikums. Empathie erzeugt der Film vor allem durch

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den Nachvollzug von Emotionen, zu deren Schauplatz bevorzugt das Gesicht des Filmschauspielers wird. Auf seinem Gesicht sollen sich die Affekte und Gefühle abzeichnen, die seine Figur bewegen. Um die Aufmerksamkeit des Publikums auf dieses faciale Schauspiel der Emotionen zu lenken, setzt der Film die Großaufnahme ein und versetzt durch Point-of-View-Shots den Zuschauer direkt in die dramatische Situation hinein. Er wird so »beständig dazu gebracht, mit den Augen eines Anderen zu sehen und zu sehen, wie die Protagonisten sich wechselseitig sehen. […] Mit der Kamera setzt sich der Zuschauer an die Stelle einer Figur und kann so deren emotionale Situation nachvollziehen« (Koch 2004: 568). Dadurch wird er zugleich befähigt, die psychologische Wahrhaftigkeit der Affektdarstellung des Schauspielers und deren Angemessenheit innerhalb einer dramatischen Situation zu bewerten. Deshalb spielen auch Genrekonventionen und Rezeptionserwartungen eine entscheidende Rolle für den emotionalen Pakt mit dem Publikum. Insbesondere der melodramatische Film bedient sich dabei mit Vorliebe der Tränen. Sie stellen scheinbar untrügliche Zeichen starker Affekte dar, die deren ›Wahrheit‹ beglaubigen können. Er operationalisiert die anthropologische Überzeugung, daß das Weinen ein reflektorischer Vorgang sei, der nicht beeinflußt und nur von Schauspielern und Simulanten willkürlich hervorgebracht werden könne, und begibt sich damit gleichzeitig in die Nähe des bekannten Paradoxons des Schauspielers: Muß der Schauspieler die Emotionen seiner Figur auch tatsächlich empfinden, um sie glaubhaft verkörpern bzw. darstellen zu können? Auf diese Frage gibt es bekanntermaßen zwei sich ausschließende Antworten. Dénis Diderot hat die Gefühlskälte zur Voraussetzung des schauspielerischen Rollenspiels erklärt, während die Einfühlung in die Rolle in Schauspieltheorien von Rémond de Sainte-Albine bis zum Method Acting propagiert wird (vgl. Löffler 2004: 51-58). So überrascht es nicht, daß die italienische Schauspielerin Eleonora Duse im Milieu des Naturalismus dadurch Aufsehen erregen konnte, daß sie auf der Bühne »wirkliche Tränen vergoß« (Bloem 1922: 79). In dieses Szenario der empathieerzeugenden Tränen reiht sich auch Dreyers La Passion de Jeanne d’Arc ein. Das weinende Gesicht der Jeanne-Darstellerin Renée Falconetti, das durch einen neutralen Hintergrund vom filmischen Raum isoliert und in Großaufnahme exponiert wird, ist längst über den Film hinaus zu einer modernen Ikone geworden. Jean-Luc Godard hat denn auch in Vivre sa vie (Die Geschichte der Nana S., F 1962) seine Hauptdarstellerin Anna Karina als moderne Jeanne entworfen, deren Tränen sich während einer Vorführung von Dreyers Film in denen des Vorbildes spiegeln. Wenn – wie anhand der Szene des Prozeßauftakts beschrieben – die Rede vom filmisch inszenierten Tränenfluß ist, dann kann eigentlich nicht von der Träne im Singular gesprochen werden, denn im Film fließen

➞ [ Exzeß ]

➞ [ Double ]

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282 | [ Petra Löffler ]

Tränen – Tränen der Angst, der höchsten Verzweiflung, aber auch der Freude und Hoffnung. Daß sie im Film, einerlei ob echte oder falsche, tatsächlich fließen – dieser Übergang von der einen, einzigartigen Träne zum wiederholten Tränenfluß –, ist ein entscheidendes Merkmal des Films von epistemologischer Tragweite, die man ermessen kann, wenn man einen Vergleich zu fotografischen Darstellungen von Tränen zieht. Im Unterschied zu Dreyers Film inszeniert etwa die künstlerische Fotografie der Zeit das Pathos der einzelnen unbeweglichen Träne, denkt man zum Beispiel an Man Rays hochgradig artifizielle Fotografien von lacrimae decorae (Larmes 1930). Hier wird der Tränenfluß stillgestellt und in ein ästhetisch aufgeladenes Affekttableau überführt. Der Film führt hingegen das Weinen explizit als psychophysischen Prozeß vor, auch wenn Dreyer die Konvulsionen des Körpers zugunsten des Gesichts und des sublimierten Tränenflusses zurückstellt: Die Bewegung der Träne, bzw. genauer: der Tränen, konspiriert hier mit der Bewegung des Filmbildes. So ist auch die Grenze zwischen ›wahren‹ und ›falschen‹ Tränen, die seit jeher Menschenbeobachter aller Couleur interessiert hat, zwischen einem reflektorischen und einem simulierten Weinen im Film nicht mit Sicherheit auszumachen. Das hängt mir der besonderen Affinität von Affektbewegung und filmischer Bewegungsillusion zusammen: Im filmischen Bewegungs-Bild (Gilles Deleuze) werden Tränen zuerst dadurch, daß sie sich bewegen, authentifiziert. Sie müssen fließen, allein schon das macht sie glaubwürdig. Während eine einzelne Träne aufgrund ihrer Singularität zu einer anbetungswürdigen Ikone werden kann, bewegt der Tränenfluß aufgrund eines Empathiepotentials, das der Naturalisierung der Träne zugrunde liegt. Der Schriftsteller Walter Bloem beklagt 1922 in seiner Schrift Die Seele des Lichtspiels, daß der melodramatische Film diese vermeintliche Redlichkeit des Tränenflusses bewußt ausnutze: »Hier werden einzelne Großaufnahmen nur darum gemacht, damit die in den Augen aufsteigenden Tränen nur ja recht sichtbar und deutlich werden. So entsteht eine sehr gewollte und keineswegs immer seelisch bedingte Rührungszeremonie, die unter allen Umständen schon dadurch kitschig sein muß, daß man einen solchen Reflex überhaupt zur Wirkung auf die Zuschauer verwendet« (ebd.: 79f.). Für Bloem ist der Tränenfluß zunächst einmal ganz im Sinne der anthropologischen Grundannahme ein natürlicher reflektorischer Vorgang. Er spricht jedoch das wirkungsästhetische Interesse des Films und die Formalisierung, die filmisch exponierte Tränen erfahren, offen an: Sie sollen in erster Linie das Publikum affizieren und sind erst sekundär durch die Handlung motiviert. Außerdem benennt er mit dem Geschmacksurteil, der fingierte Tränenfluß sei kitschig, ein Rezeptionsphänomen: Im gehäuften Einsatz von Tränen sieht er

2005-09-05 10-34-30 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 277-287) T01_20b traene.p 93904543534

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die ästhetischen Gebote des filmischen Illusionismus und den emotionalen Pakt mit dem Publikum gebrochen. Gleichzeitig deutet Bloem jedoch an, daß der Schauspieler aufgrund der speziellen Aufnahmebedingungen im Filmatelier nur schwer in der Lage sei, sich in starke Affekte oder Gefühle hineinzuspielen. Filmtheoretiker der ersten Stunde wie Rudolf Leonhard haben wiederholt darauf hingewiesen, daß das Spiel vor der Kamera den Filmschauspieler zu prompter Darstellung von Emotionen zwinge, seine bevorzugte Methode daher die Improvisation sei (vgl. Löffler 2004: 72). Auch das hat Bloem wie viele seiner Zeitgenossen erkannt: »Dabei werden die Filmtränen wohl nur recht selten durch die Gemütserschütterung des Darstellers, ob gewollt oder gewährt, hervorgerufen« (Bloem 1922: 80). Dies hat in erster Linie pragmatische Gründe: Die einzelnen Szenen werden zumeist ohne dramaturgischen Zusammenhang gemäß ökonomischer Erfordernisse gedreht; aufwendige Proben, in denen die Schauspieler psychologisch in die Rolle eindringen können, gibt es in der Regel nicht. Das ist auch nicht erforderlich, denn vor allem durch Einstellung, Schnitt und Montage erhält eine Filmhandlung ihre Dramatik. Gleichwohl darf man – daran erinnert eine Anekdote, die Bloem erzählt – die Publikumserwartung nach wahrhaftigen Emotionen nicht unterschätzen: »So tobte einmal in den Zeitungen ein heftiger Filmkrieg, weil einer von der großen Asta geplaudert hatte, daß sie ihre Tränenfluten mit – Glyzerin erzeuge« (ebd.: 80). Gemeint ist hier die dänische Schauspielerin Asta Nielsen, die nicht umsonst den Titel einer »Duse des Films« trug. Mittels Glyzerin konnten nicht nur Tränen auf Abruf produziert, sondern auch der Tränenfluß kontrolliert und besser gefilmt werden. Aber auch zu anderen Mitteln wurde gegriffen: Durch Bella Donna, das aus dem Saft der Tollkirsche gewonnen wird, erweitern sich die Pupillen, Kampfer und andere Gase reizen die Augen. Das grenzt für Walter Bloem schon an Tortur: »Andere Darsteller, denen die Tränen nicht locker genug sitzen, mißhandeln ihre Augen mit Kampferdünsten« (ebd.). Das Wissen um die Künstlichkeit der Tränen sollte aus verständlichen Gründen nicht an die Öffentlichkeit gelangen, liefen die Filmproduzenten doch Gefahr, das Empathieverlangen des Publikums zu verletzen. Diesen Zusammenhang hat wohl kein anderer Filmtheoretiker seiner Zeit so klar erkannt wie Hugo Münsterberg. Für ihn besteht die überlegene Modernität des Films darin, daß er die »psychischen Aktivitäten und Erregungen der Zuschauer in die Filmbilder« hineinprojizieren könne (Münsterberg 1916/1996: 68; Hervorh. P.L.). Münsterberg unterscheidet zwischen Emotionen, »die sich aus der Übertragung von Gefühlen der Figuren des Spiels in unsere Seele herleiten« und Emotionen, »mit denen wir auf die Szenen des Spiels reagieren« (ebd.). Die einen entstünden durch Nachahmung, die anderen

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284 | [ Petra Löffler ]

➞ [ Make-up ]

stellten selbständige Reaktionen dar. Die erste Gruppe überwiege deutlich, weil bei ihr »das Verhältnis der Bilder zu den Gefühlen der Personen im Spiel und zu den Gefühlen des Zuschauers übereinstimmt« (ebd.), während die zweite Gruppe bisher nur wenig erschlossen sei und nicht über »vorsichtige Andeutungen« hinausgehe: »Der Enthusiasmus, das Mißfallen oder die Empörung des Zuschauers sind manchmal in die Lichter und Schatten und in die Gestalt der Landschaft übertragen« (ebd.: 69). Dreyer bedient sich einer Vielzahl solcher Mittel, um das Publikum zu affizieren. Vor allem arbeitet er ausgiebig mit den expressiven Möglichkeiten des Gesichts, dessen jeweilige Ausleuchtung seine auratische Wirkung steigert. Zudem tragen seine Darsteller kein Make-up. Auch verwendet er, statt des üblichen orthochromatischen, panchromatisches Filmmaterial, um mimische Details mit »remarkable clarity« (Bordwell 1981: 212) registrieren zu können. Daneben spielen die Atmosphäre einer Situation oder Landschaft und sprechende Requisiten eine wichtige Rolle. Die bedrohliche Atmosphäre im Gerichtssaal stellt Dreyers Kameramann Rudolf Maté durch die Gegenüberstellung der massenhaften Ansammlung von Anklägern, Mönchen und Besatzern und der optischen Vereinzelung der Angeklagten her. Die Fußketten, die Folterwerkzeuge oder die Dornenkrone aus Stroh, mit der die Bewacher Jeanne hänseln, sind sprechende Requisiten, die das Publikum für die Gepeinigte Partei ergreifen lassen. Außerdem führen extreme Aufnahmewinkel bzw. Kadrierung und Kameraführung, die die Personen und ihre Aktionen mit Vorliebe an den Rand des filmischen Off drängen und ihre Verortung unmöglich machen, sowie der Filmschnitt, der plausible Anschlüsse vermeidet, zu einer Desorientierung des Publikums. David Bordwell hat in seiner Analyse von La Passion de Jeanne d’Arc herausgearbeitet, wie grundsätzlich Dreyers Film narratologische Prinzipien insbesondere auf denjenigen Ebenen der filmischen Darstellung erschüttert, die gewöhnlich einen kontinuierlichen narrativen Raum etablieren (vgl. Bordwell 1981: 66-92). Statt dessen sehen wir »[ f ]lat areas, figures which float in a vacuum, characters hovering at various points around the frame, a weightless camera, inconsistent figure positions, movements and glances« (ebd.: 80) sowie eine provozierende Aneinanderreihung von extremen Großaufnahmen. Auf diese Weise soll das Publikum, wie Dreyer selbst betont hat, irritiert und zugleich affiziert werden: Close-ups »are very useful not only because they made it possible for me to bring the audience very near to the physical and mental torture that Jeanne suffered but also because they showed how her judges and tormentors reacted to her tears« (zit. in ebd.: 235). Jeannes Martyrium der Tränen soll sich nicht zuletzt auch in den mimischen Reaktionen ihrer Gegenüber spiegeln und das Publikum so zu Sympathiegefühlen provozieren. Skepsis oder gar Ablehnung hat der melodramatische Film im-

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[ Träne ] | 285

mer wieder mit dem Argument provoziert, er könne seine Aufgabe, »das Publikum nicht nur zum Mitfühlen, sondern zum Begreifen und Erkennen zu veranlassen«, nur bedingt lösen (Richter 1976: 127). Der Filmemacher und -theoretiker Hans Richter hat dementsprechend vermutet: »Denn je größer das Pathos ist, um so geringer wird die Möglichkeit, auch das Denken in Bewegung zu versetzen« (ebd.). Zudem hat er das Melodrama in der Tradition der aristotelischen Poetik als Stillage mit klar definierten Gegenständen bestimmt: »Je weniger der Stoff Widerspruch zuläßt, um so eher ist er für die pathetische Form geeignet, ja um so mehr verlangt er sie. Nur Unbezweifelbares kann den Inhalt für eine pathetische Form abgeben. Sagenhafte und geschichtliche Stoffe, Walten des Fatums und der Weltgeschichte – das ist der eigentliche Stoff dieses Stils« (ebd.). Folgt man Richters Maxime, so hat Dreyer mit der historisch verbürgten und dokumentierten Leidensgeschichte Jeanne d’Arcs einen melodramatischen Stoff par excellence gewählt. Ein besonderer Umstand erhöht zusätzlich das Empathiepotential dieses Stoffes. Erst 1920 war Jeanne von derselben Kirche, die sie einst zum Tode verurteilt hatte, heiliggesprochen worden. Das geschah nicht von ungefähr kurz nach dem verlustreichen Ersten Weltkrieg, zu einer Zeit also, als die französische Nation nach neuen Idolen suchte. Der Film schließt anspielungsreich mit den von Pathos getragenen Worten: »Jeanne dont le cœur est devenu le cœur de la France […] Jeanne dont la mémoire sera honorée en tout temps par le peuple français«. Eine filmische Adaption des Stoffes konnte aufgrund dieser aktuellen politischen Umstände mit großer Aufmerksamkeit rechnen. Auch das zieht Dreyer ins Kalkül. Gleichzeitig drehte übrigens auch Marco de Gastyne eine Version der Geschichte: La Merveilleuse vie de Jeanne d’Arc (F 1927). Dreyers Meisterschaft im melodramatischen Genre liegt darin, daß Jeannes Tränen nicht nur den Filmzuschauer rühren sollen, sondern auf der Ebene der Diegesis auch die Wandlung der Richter von unmenschlichen Dogmatikern zu Mitleidenden begleiten. Die Tränen haben somit einen kathartischen Effekt auch innerhalb der filmischen Fiktion selbst: Einem der unerbittlichsten Eiferer treten Tränen in die Augen, als Jeanne ihr Geständnis widerruft und sich zu ihrem Martyrium bekennt. Auf diese Weise spiegelt der Film das emphatische Verhalten des Publikums noch einmal auf der Handlungsebene: Auch viele Teilnehmer am Tribunal können sich der Tränen nicht erwehren, sie leiden mit. Diese Tränen erfüllen dabei die Aufgabe der Sympathielenkung. Dies ist dramaturgisch von großer Wichtigkeit. Denn die Tränen des Mitleids vereinen am Ende des Films nicht nur die Figuren, die ihre Sympathie für Jeanne offen bekunden und deren Unrechtsbewußtsein sie zum Aufstand gegen die englischen Besatzer treibt, sondern sollen auch das Publikum von Jeannes historischer Aufgabe überzeugen. Die Tränen stehen deshalb auch im Dienst

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286 | [ Petra Löffler ]

➞ [ Queer ]

eines Erkenntnisprozesses, setzen also – in den Worten Hans Richters – das Denken in Gang. Insofern verfügt La Passion de Jeanne d’Arc über eine deutliche Botschaft: Jeanne soll im Gedächtnis des französischen Volks als Symbol des Widerstands und der moralischen Stärke verankert werden. Dreyers Melodrama erscheint daher als Prototyp eines Kinos der Überwältigung, das Hollywood zuletzt mit Filmen wie Philadelphia (Philadelphia, USA 1993), Leaving Las Vegas (Leaving Las Vegas, USA 1995) oder Titanic (Titanic, USA 1997) perfektioniert hat. Hier ist die Träne nicht länger eine Domäne weiblicher Verausgabung. Im Spiel mit den kulturellen Geschlechterkodes wird für Gertrud Koch zugleich »das konservierte und aufgehobene Bild der männlichen Träne […] zur Ikone des Kinos, das den Fluss der Träne, ihren liquiden und temporären Charakter, in jene Zeit des Kinos holt, die dauert und besteht« (2004: 573). Zu einer Ikone des Kinos wird die konservierte Träne jedoch bereits in der Eingangsszene von Dreyers La Passion de Jeanne d’Arc. Diese Wirkungsstrategie geht auf einen poetologischen Grundgedanken zurück, den Hans Richter folgendermaßen formuliert: »Man kann natürlich einem Menschen auf dem Wege der Erschütterung eher etwas einprägen, als wenn man ihm die Dinge sachlich, als Dokument – oder satirisch, ironisch, gleichnishaft –, als Denkaufgabe übermittelt; Furcht und Schrecken gehören zu den elementarsten Regungen, denen der Mensch unterliegt« (Richter 1976: 128). Das Erbgut der aristotelischen Poetik, das sowohl in der Pädagogik wie auf der Bühne des bürgerlichen Trauerspiels zur Blüte gelangte, lebt in der Psychologie der Überwältigung und der Physiologie der Affekte weiter. Auch deshalb bietet sich für Richter der Film als Propagandainstrument an: »Die pathetische Form ist daher dort besonders beliebt, wo der Film als offizielles Instrument der Massenbeeinflussung verwendet wird, denn sie ist am geeignetsten, auf dem Wege der Erschütterung auch zu Folgerungen zu führen, die bei weniger gehobener Tonart sich in ganz anderer Richtung einstellen könnten« (ebd.). Dreyers Melodrama hat sich im Unterschied dazu seiner Forderung gestellt, das empathisch erregte Mitgefühl müsse in Erkenntnis münden, um sich vor Vereinnahmung zu schützen. Richter selbst hat zugestanden, La Passion de Jeanne d’Arc stelle »echte seelische Probleme« dar (ebd.: 101). Das individuelle Seelendrama steht bei ihm – ganz im Sinne der bürgerlichen Kultur der Einfühlung – im Vordergrund; es wird geradezu verklärt. Deshalb ist der melodramatische Film auch keine Anleitung zum Massenaufstand, sondern schärft allenfalls das politische Gewissen. . Auch Sergej Ejzensˇtejn appellierte mit seinem Film Bronenosec Potemkin (Panzerkreuzer Potemkin, RUS 1926) in erster Linie an die Menschlichkeit, indem er die Unmenschlichkeit des zaristischen . Regimes entlarvte. Diese Unmenschlichkeit ließ auch Ejzensˇtejn

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[ Träne ] | 287

immer wieder in Gesichtern von Leidenden aufscheinen. Auf ihn ebenso wie auf Dreyer trifft zu, was Béla Balázs über den Naturalismus der Großaufnahme notiert hat: »Bei Filmen mit vielen Großaufnahmen hat man oft den Eindruck, daß es nicht Beobachtungen des guten Auges, sondern des guten Herzens sind« (Balázs 1924: 75). Die Tränen, die in La Passion de Jeanne d’Arc und anderswo vergossen werden, appellieren vor allen Dingen an das Mitgefühl und die Menschlichkeit des Filmzuschauers. [ Petra Löffler ]

Literatur Balázs, Béla (1924): Der sichtbare Mensch oder Die Kultur des

Films, Wien/Leipzig: Deutsch-Österreichischer Verlag. Balázs, Béla (1930/1972): Der Geist des Films, mit einer Einleitung

v. Hartmut Bitomsky, Frankfurt a.M.: makol verlag. Bloem, Walter (1922): Die Seele des Lichtspiels. Ein Bekenntnis

zum Film, Leipzig/Zürich: Grethlein & Co. Bordwell, David (1981): The Films of Carl-Theodor Dreyer, Berkeley/

Los Angeles: University of California Press. Farin, Michael u.a. (1996): Carl Th. Dreyers Jeanne d’Arc, München:

Institut Française de Munich/CICIM. Münsterberg, Hugo (1916/1996): Das Lichtspiel. Eine psychologi-

sche Studie und andere Schriften zum Film, hrsg. v. Jörg Schweinitz, Wien: Synema. Kappelhoff, Hermann (2004): Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit, Berlin: Vorwerk 8. Koch, Gertrud (2004): »Zu Tränen gerührt – Zur Erschütterung im Kino«. In: Klaus Herding/Bernhard Stumpfhaus (Hg.): Pathos, Affekt, Gefühl. Die Emotionen in den Künsten, Berlin: Walter de Gruyter, S. 562-574. Löffler, Petra (2004): Affektbilder. Eine Mediengeschichte der Mimik, Bielefeld: transcript. Richter, Hans (1976): Der Kampf um den Film, hrsg. v. Jürgen Römhild, Frankfurt a.M.: Hanser.

2005-09-05 10-34-31 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 277-287) T01_20b traene.p 93904543534

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[ Umriß ] | 291

[ Umriß ]

Am Endpunkt einer langen, elegant komponierten Kamerafahrt erscheint die Silhouette des Gesichtes eines Mannes im Profil auf dem weißlichen Grund einer Milchglasscheibe; für Momente wird sie als schwarzer Schatten auf der hellen Fläche bildhaft eingefroren. ›Hinter der Leinwand‹ der mattierten Scheibe erklingt zaghaft, sanft und leise, die zu diesem Gesichts-Umriß gehörende Stimme und weist sich aus als »Schubert, Franz, Aushilfslehrer und Kompositeur«. Damit ist das Bild signiert, und zwar auf doppelte Weise: Intradiegetisch weist sich ein reichlich verlegener, armer Schlucker aus, der »den [ Miet- ] Zins« und die Kosten für »die Wäsch« nur aufbringen kann, indem er seine Gitarre im Pfandleihhaus »Schönbrunn« versetzt; zugleich aber meldet sich – für den, der ihn noch nicht erkannt hat – der angeblich wienerischste aller österreichischen Komponisten mit jenem vertraulichen Namen Schubert-Franzl zu Wort, den ihm das populärkulturelle Gedächtnis posthum verliehen hat. Beides zusammen, die aktuelle Misere und der späte, allzu späte Ruhm ergeben das, was das Schubert-Profil (bei dem es sich um das – täuschend ›echte‹ – Profil des Darstellers Hans Jaray handelt) bezeichnet: das Profil einer in der romantischen Künstlermythologie und ihren popu-

2005-09-05 10-34-35 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 291-303) T01_21b umriss.p 93904543566

292 | [ Ines Steiner ]

➞ [ Yentl ]

➞ [ Vorspann ]

lärkulturellen Varianten unverzichtbaren Figuration – des verkannten Genies. Für Umriß, Silhouette, Schattenriß gibt es eine Vielzahl filmischer Gebrauchsweisen, vor allem im Gothic Film und seinen Nachbargenres. In dieser phantastischen und phantasmatischen Funktion ist das Spiel mit Schatten spätestens im deutschen expressionistischen Film prominent geworden und in Film noir, klassischem Thriller und neueren Horrorfilmen unvermindert beliebt. Über seine diegetische Funktion hinaus kann der Schattenriß als spannungserzeugendes und -vertiefendes Moment dienen, weil er auf denkbar prägnante Weise Anwesenheit und Abwesenheit zugleich ›verkörpert‹: Auf der Projektionsfläche der Kinoleinwand wird eine solche gleichsam noch einmal errichtet: eine ›Leinwand‹, die einerseits unvollkommen bleibt, weil sie statt des differenzierten Bildes nur einen Umriß liefert, die andererseits aber eben deshalb unerhört geheimnisvoll wirkt, weil die Transparenz der Fläche auf ein Dahinterliegendes verweist. Filmische Schattenspiele können so, darin liegt ihr besonderer Reiz, intradiegetische Durchblicke auf die Gleichnishaftigkeit der medial konstituierten Wirklichkeit liefern und das Kontinuum der Illusion für einen Moment als brüchig erscheinen lassen, indem sie es bis zum Äußersten steigern. Um dergleichen Silhouetten soll es hier allerdings nicht gehen. Das oben beschriebene Beispiel stammt aus der Exposition des von Willi Forst gedrehten österreichischen Spielfilms Leise flehen meine Lieder (AU 1933), der film- und musikwissenschaftlich in den letzten Jahren dank der Arbeit des Filmarchivs Austria wiederentdeckt wurde (vgl. exemplarisch Loacker 2003; Riemer 2004: 301-340). Meine Überlegungen gelten einer auf den ersten Blick beinahe trivialen, bei näherem Hinsehen aber erstaunlich komplexen und kulturgeschichtlich reichen Spielart der Silhouette. Mit der Vorstellung seines Helden im Umriß löst der Film zunächst, den Konventionen des Künstler-Biopic entsprechend, lediglich ein, was er dem Zuschauer bereits in einem in die Credits integrierten Insert versprochen hat: »Dieser Film erzählt die merkwürdige Geschichte der H-Moll-Symphonie von Franz Schubert, die in der Musikgeschichte unter dem Namen ›Die Unvollendete‹ Unsterblichkeit erlangte.« Diese nach bewährtem Rezept verfertigte Künstlerlegende ist tatsächlich vor allem eine Legende; die Behauptung, die beiden ›fehlenden‹ Sätze der Unvollendeten seien vom Komponisten aus enttäuschter Liebe zu seiner Schülerin, der Comtesse Caroline von Esterhazy, vernichtet worden, ist historisch keineswegs gesichert. Die Exposition, semantisch der bei weitem komplexeste Abschnitt des Films, macht allerdings genau dies – die Verfertigung des Genie-Mythos – bereits zu seinem Thema, fällt dabei allerdings nicht mit der Tür ins Haus, sondern sucht im Gegenteil einen höchst instruktiven Umweg. Im Vorspann werden die Credits mit einem Stich aus dem frühen

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19. Jahrhundert unterlegt, der eine Vedute Wiens mit dem Stephansdom im Zentrum zeigt. Diese erstarrte historische Ansicht der Stadt verweist an Stelle eines panoramatischen Establishing Shot zuallererst auf den Raum, Wien, und die Zeit, den Biedermeier, in dem das nachfolgende Geschehen spielt. Passend dazu sind die Credits in Handschriftlichkeit imitierender, nostalgisierender Schriftgrafik gestaltet, und auf der Tonspur erklingt wie in einer Ouvertüre zunächst der Beginn des 1. Satzes der Unvollendeten und dann (instrumental) das Ständchen, dessen erstem Vers der Filmtitel entnommen ist. Daran anschließend wird leinwandfüllend eine gemalte Ansicht des Wiener Stadtzentrums präsentiert, die einer filmischen Totalen ähnelt und nicht sofort als Gemälde erkennbar ist. Ein vergleichsweise realistisches, illusionserzeugendes Ölgemälde ersetzt so die im abstrakteren Medium des Kupferstiches gezeigte Stadtansicht des Vorspanns, wodurch der palimpsestartige Effekt einer Überlagerung des einen Wien-Bildes durch ein anderes entsteht. Die verschiedenen Schichten der vielfach vermittelten Wien-Ikonographie werden so gleichsam aufgeblättert, und es wird vorgeführt, aus welchen Referenzen dieser historisierende Wienfilm seinen Schauplatz, ja seine ›Realität‹ erzeugt. Dies wird erst recht deutlich, sobald sich ganz unverhofft zeigt, daß sich das Ölgemälde – nicht das auf dem Bild Gezeigte! – bewegt: Eine langsame Kamerafahrt verfolgt den mühsamen Gang eines Statisten, der das schwere Gemälde im prunkvoll verschnörkelten Goldrahmen als lebende Staffelei auf seinem Rücken transportiert und schließlich im Pfandleihhaus »Schönbrunn« verschwindet. (Auf der Tonspur erklingt, ironisch, zum schleppenden ›Gang‹ des Gemäldes das marschartige Thema der Ballett-Musik Nr. 2 aus Schuberts Rosamunde.) Insgesamt verweist der Film durch dieses Spiel mit den Repräsentationen seines Schauplatzes auf die vielfache Vermitteltheit der im frühen 20. Jahrhundert zirkulierenden Bilder vom vorindustriellen Wien der ›guten alten Zeit‹. Und zugleich lernt hier, ganz buchstäblich, ein Bild laufen – mit dieser Pointe reiht sich der Historienfilm selbst in die Reihe der Medien ein, die derlei Gedächtnisbilder produzieren. Beim Betreten des Pfandleihhauses wird eine in Großaufnahme gezeigte Glocke angeschlagen und so das Überschreiten der Grenze vom Außen- in den Innenraum des Versatzamtes ostentativ hervorgehoben. (Das Läuten der Glocken weist zudem voraus auf jene großformatig ins Bild gesetzten Kirchenglocken, die in der Apotheose am Ende des Films ertönen; so wird eine Kreisstruktur etabliert, welche die Geschlossenheit der Fiktion einerseits prononciert und sie andererseits, durch die offensichtliche Ironie der Parallele, in Anführungszeichen setzt.) Indem der Lastträger seinen Zylinder ablegt und sich von dem schweren Gestell befreit, stützt er sich erschöpft auf dem Rahmen ab und erstarrt geradezu in seiner Pose. An diesem Punkt setzt nun die Kamerafahrt ein, die im Blick auf das Künstlerprofil

2005-09-05 10-34-36 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 291-303) T01_21b umriss.p 93904543566

294 | [ Ines Steiner ]

➞ [ Hand ]

➞ [ Lächeln ]

➞ [ Queer ]

endet: Durch einen Schwenk nach links nimmt der Kameramann Franz Planer eine Reihe weiterer am Schalter wartender Kunden in den Blick, die allesamt zu Skulpturen eingefroren scheinen. Ein altes Ehepaar hält neben einer Tischuhr (dem modernen Stundenglas) einen Kerzenleuchter in Händen; die Kerze war ein notwendiges Instrument bei der professionellen Verfertigung von Schattenrissen, das hier zugleich die Lichtmetaphorik am Ende des Films vorwegnimmt, welche die Unsterblichkeit des Genies symbolisiert. Spätestens mit dem Blick auf das wie in einem Andachtsbild erstarrte Paar wird das Pfandleihhaus als ein allegorischer Ort exponiert, an dem die in Wartestand versetzten Figuren zu Sinnbildern werden. So weist der von einem Jungen gehaltene Singvogel im Bauer voraus auf den erotischen Diskurs des Films, in dem der Musiklehrer Schubert der ›Naturstimme‹ der kapriziösen ungarischen Comtesse Caroline von Esterhazy (gespielt von der Operettendiva Marta Eggerth) verfällt und den ›goldenen Käfig‹ verkennt, in dem die schöne Adlige gehalten wird. Eine alte Witwe, die eine gipserne NapoleonBüste zu versetzen hat, verweist auf die Vergänglichkeit irdischen Glücks. Am Ende der ungeschnittenen Sequenz fährt die Kamera auf den Schalter zu; hinter der Milchglasscheibe sitzt das ›süße Mädel‹ Emmi (Luise Ullrich), die Pfandleihertochter, die routiniert die eingehende Ware prüft und ihren Wert schätzt. Der Napoleon aus Gips ist seit der Schlacht bei Aspern im Jahr 1809 (der Film spielt in den frühen 1820er Jahren) um 15 Kreuzer im Wert gesunken, was der Witwe als »Majestätsbeleidigung« erscheint. (In der großen Marseillaise-Szene in Abel Gances Heldenporträt Napoléon [ Napoleon, F 1925-27 ] wird der von Albert Dieudonné verkörperte Napoleon ebenfalls als Silhouette ins Bild gesetzt, um ihn als ›Erben der Revolution‹ zu beglaubigen.) Nun endlich sieht man die Hände des noch anonymen Schubert. Sie legen mit behutsamer Geste eine Gitarre auf den Tresen, die wie ein Liebesunterpfand mit einer Schleife verziert ist. Es setzt Musik ein, das lyrische Thema des langsamen Satzes aus der H-Moll-Symphonie erklingt zunächst in Moll, um die nachfolgende Liebesszene einzuleiten. Mit einer Hand streicht der Unbekannte nochmals zärtlich über die Saiten des Instruments; das Gesicht Emmis (in Großaufnahme) antwortet auf die liebevolle Geste mit einem Lächeln, woraufhin das lyrische Thema nochmals in Dur erklingt. Auf die Frage nach dem Namen des Kunden fährt die Kamera, dem Blick des Mädchens folgend, mit einem langsamen Schwenk nach oben und fängt den flächigen, schwarzen, dank der Ausleuchtung scharf umrissenen Profilschatten des für einige Sekunden unbewegten Komponisten-Gesichtes ein. Die Milchglasscheibe wird so zur ›vorfilmischen‹ Projektionsfläche, auf der die filmtechnisch erzeugte Silhouette erscheint. Raumkonstruktion, Lichtkonstellation und – allerdings in Verkehrung der Gender-Positionen – auch die Blickkonfiguration des Schal-

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[ Umriß ] | 295

terraumes korrespondieren jenem Apparat, der in den Zeiten der »physiognomischen Raserey« zur Erzeugung von Silhouetten diente, wie er etwa auf einem Kupferstich von Thomas Holloway unter anderem als Illustration zur 1792 erschienenen englischen Ausgabe von Johann Caspar Lavaters Essays on Physiognomy zu sehen ist: »Das – weibliche – Modell sitzt auf einem besonders ausgestatteten Stuhl, der mit einem auf eine Staffelei montierten Schirm verbunden ist. Auf der anderen Seite des Schirms steht derjenige, der den Umriß festhält, den das Modell dank einer nahen Kerze auf den Schirm projiziert. Soll die Operation gelingen, dann muß das Modell reglos bleiben und sich nicht vom Schirm entfernen. Das Verfahren zielt, wie man sieht, darauf ab, das Negativ-Bild des Profils so getreu wie möglich zu fixieren, weshalb es auch sehr oft als ein direkter Vorläufer der Photographie betrachtet wurde« (Stoichita 1999: 154f.; Abb.: 154). Victor Stoichita stellt diese »Maschine zum Zeichnen von Silhouetten« in Kontrast zu zeitgenössischen Illustrationen der Dibutades-Fabel (Abb. vgl. ebd.: 152) und zeigt, daß sich das »plinianische Ursprungsszenario in eine echte Modellsitzung mit dem Ziel der mechanischen Wiedergabe des Profils verwandelt hat« (ebd.: 154). Der Mythos erzählt von der Tochter des Töpfers Butades (oder Dibutades) aus Korinth, die das Profil ihres schlafenden Geliebten auf der Wand nachzeichnet, bevor dieser in den Krieg zieht. Das ›Skiagramm‹ wird so zum Substitut des abwesenden Geliebten und zur Projektionsfläche der Sehnsucht. In der neuzeitlichen Physiognomik ist »der allegorische Dekor […] verschwunden, die Rolle der Geschlechter hat sich umgekehrt« (ebd.: 154). Die ›Liebe auf den ersten Blick‹, die Emmi beim Anblick von Schuberts Profil ergreift, illustriert nicht zuletzt eine vormoderne Rohrpost, ein barocker Amor mit dem Pfeil, der durch eine Art Seilbahn bewegt wird und als mechanischer Bote die Verleihzettel zu Emmis Vater (Hans Moser) an der Kassa befördert. Durch den ostentativ in Szene gesetzten Putto wird das »plinianische Ursprungsszenario« (ebd.) zwar nicht reinstalliert, da die Kamera als technisches Medium die Silhouette hervorbringt und nicht die den Zeichenstift liebevoll bewegende Hand des Mädchens. Es wird gleichwohl ironisch alludiert; die Konstellation Tochter – besorgter Vater – Silhouette des (zukünftigen) Geliebten, der sie im Verlauf des Films verlassen wird, ist der Konstellation des Mythos jedenfalls nicht unähnlich. Es folgt die oben beschriebene Vorstellung des Genies, die nicht zuletzt auch im Zusammenhang des 1933 noch relativ neuen Tonfilms zu begreifen ist: Die Silhouette spricht! Zwar wurden bereits vor dem Medienumbruch vom Stumm-zum Tonfilm in Österreich Schubertfilme als Komponistenporträts produziert. (Die populäre Operette Das Dreimäderlhaus von Heinrich Berté wurde von der Sascha-Meßter Produktion bereits 1916 verfilmt; im Schubertjahr 1928 wurden in der ›Schubert-Vorstadt‹ Lichtental die Stummfilme Franz Schuberts

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296 | [ Ines Steiner ]

➞ [ Konterfei ] ➞ [ Ikone ]

letzte Liebe und Der Schulmeister von Lichtental/Unser Schubert inszeniert.) Erst in Leise flehen meine Lieder jedoch kann Willi Forst Komponisten-Biopic und Sängerfilm zusammenführen und so das Genre Wienfilm als Musik-, Gesangs- und Tanzfilm remodellieren. Bringt allerdings im Tonfilm die Kombination von Gesicht und Stimme gemeinhin eine Kompositgestalt hervor, so wird in der Exposition des Films das kombinatorische Verfahren explizit ausgestellt. Die leise Stimme, mit welcher der für den Zuschauer nur als Umriß sichtbare Schubert schüchtern seinen Namen nennt, wirkt wie eine Stimme aus dem ›Schattenreich‹. Die Figur Schubert wird damit explizit als artifizielle Konstruktion aus einem Jenseits der Bilder herbeizitiert. Durch diese ungewöhnliche Kombination vom medientechnisch verfertigtem Simulacrum des Gesichts und der Stimme ›hinter dem Vorhang‹ inszeniert der Film zugleich the miracle of sound; die Silhouette des Genies spricht hier direkt aus der großen Vergangenheit der Stadt Wien zum zeitgenössischen Publikum. Dann erst lüftet die Kamera den ›Schleier‹, indem sie sich durch einen Perspektivwechsel hinter die Milchglasscheibe als Projektionsfläche des Idealbildes bewegt. Die Figur wird derart aus dem starren Abbild, dem idealisierten zweidimensionalen Umriß ihres Profils, ihrem Schattenbild heraus ins Leben der bewegten Bilder versetzt, das artifizielle Simulacrum zum ›lebenden‹ Akteur transformiert, der in seiner Schüchternheit rasch das ›goldene Wienerherz‹ der schönen Pfandleihertochter gewinnt und einen dringend benötigten Gulden extra ausgezahlt erhält. Die Konstruktion dieses Effektes der Verlebendigung einer Figur aus dem Reich der Schatten verdankt sich einer Idee des Drehbuchautors Walter Reisch. Dem zur Silhouette erstarrten Gesicht des Anfangs korrespondiert die Apotheose am Ende des Films, in der Schubert wieder zur Ikone, ja geradezu zum Stadtheiligen Wiens eingefroren wird. Mittels einer Reihe hagiographisch verklärender Großaufnahmen, die den von der irdischen Liebe enttäuschten Schubert vor dem Marterl einer Maria Immaculata zeigen, wird die Figur wieder ins ›Jenseits‹, nun jedoch tatsächlich in ›himmlische Sphären‹ entrückt. Von der hölzernen Madonna, die ihm die abwesende Geliebte ersetzen muß, zur Komposition seines Ave Maria inspiriert, verschwindet der ›wirkliche‹ Schubert wieder in der musikhistorischen Ewigkeit, der er zu Anfang auf heitere Weise entlockt worden war. Eine Klimax sich eröffnender sakraler Räume, in denen das Ave Maria vokal und instrumental erklingt, wechselt mit im Weichzeichner verklärten Großaufnahmen des Gesichtes. Die Reihe der Räume – in denen die sich entzündenden Kerzen immer größer und die Marienstatuen immer ›glamouröser‹ werden – endet im Dom, wo Kleriker im Ornat die am Ende der Stufen einer hohen Treppe plazierte Madonna weihrauchschwenkend verherrlichen. Der Komponist, dem von den Frauenfiguren im Verlauf des Films zweimal Unsterblichkeit zuge-

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sprochen wird, entzündet durch sein Werk metaphorisch das ewig leuchtende Licht seines Genies – und erstarrt in der sistierten Großaufnahme seines Gesichts zur Ikone. Man darf diese Apotheose im Hinblick auf ihre Gender-Semantik als problematisch kritisieren, doch wer in ihr nichts weiter als den Katholizismus des austrofaschistischen Ständestaates manifestiert sieht (vgl. Szabo-Knotig 2002: 382-384), verkennt die auch hier vorherrschende Selbstbezüglichkeit der Inszenierung, die nicht zuletzt Madonnenbild und Gips-Napoleon in einen bezeichnenden Zusammenhang rückt. Mit Blick auf den Diskurs der Silhouette erscheint diese Kreisstruktur des Films, von der Ikone zur Illustration des Künstlermythos und zurück zur Ikone, besonders signifikant. Die aus ihrem Abbild als Schattenriß zu Beginn hervortretende Figur korrespondiert als Ikone der zur Lichtgestalt transformierten Figur am Ende des Films. Leise flehen meine Lieder entfaltet einen hochreflektierten ›Medien in Medien‹-Diskurs. So operiert die Exposition gezielt mit Artefakten ›vorfilmischer‹ Bild-Medien des 19. Jahrhunderts: der Radierung, dem Ölgemälde und vor allem mit der die Verfahren des Scherenschnitts zitierenden, filmtechnisch erzeugten Silhouette sowie darüber hinaus mit der Gipsbüste. Und wenn die Filmhandlung auch in der ungarischen Provinz endet, so steht der Schubert des Forstschen Films doch gleichwohl in so enger metonymischer Beziehung zu Alt-Wien, daß diese beiden Orte austauschbar erscheinen. Dieses Alt-Wien, ›die Stadt, die niemals war‹, ist von Beginn des Films an genauso wirklich und über-wirklich wie die Figur, die sich in ihr bewegt. In diesem Sinn könnte man das Pfandleihhaus »Schönbrunn« als den zutiefst melancholisch grundierten Mittelpunkt der Sinnproduktion in Leise flehen meine Lieder bezeichnen. Die im idealisierenden Abbild, in der Silhouette seines Profils gleichsam gefangene Figur des »Schubert-Franz« kann nur aus dem mortifizierenden Schattenbild und Simulacrum heraus und ›ins Leben‹ der bewegten Bilder treten, wenn sie durch den allegorischen Wartesaal zur Ewigkeit hindurchgeht, und dessen trostlose Traurigkeit stellt die genaue Entsprechung zur sakralisierenden Apotheose im Ewigkeits-Raum des Stephansdomes dar. Einen ›echten‹ Schubert mit einer ›wirklichen‹ Geschichte im ›tatsächlichen‹ Wien des Biedermeier kann es auf dieser Stufe der Reflexion nicht geben. Was bleibt, ist strenggenommen nur mehr eine Ikonographie, die zur Mythographie einlädt. Schuberts Silhouette, die im Gedächtnisdiskurs als populäres Requisit des Gedenkens an ein 19. Jahrhundert fungiert, in dem sogar die Armut noch idyllisch gewesen sei, schreibt sich ihre Geschichte, indem sie die Mnemotopoi der ›guten alten Zeit‹ noch einmal aus der Rumpelkammer holt und aus frei verfügbaren, längst entwerteten Versatzstücken eine re-kombinierte Komposition im modernen Medium der bewegten Bilder generiert. Versetzt werden die einschlägigen Artefakte im doppelten Sinne: zum einen versetzt der Film die erstarrten Bilder in Bewegung, zum

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anderen werden sie in einem Pfandleihhaus versetzt, nach Preislisten bewertet und in Bestandslisten katalogisiert. Daß das Pfandleihhaus »Schönbrunn« in diesem Zusammenhang als Archiv des alten Österreich schlechthin zu interpretieren ist, versteht sich beinahe von selbst. Wie im Depot eines Museums werden Erinnerungszeichen in diesem Pfandleihhaus als Sammelsurium dekontextualisierter Versatzstücke einer toten Geschichte aufbewahrt und dort von ihren Eigentümern oft genug vergessen. Dorthin gehört auch, im doppelten Sinne, die Gitarre des Schubert-Franz, die sich derart veräußert nur mehr zur Devotionalie des Schubert-Kultes eignet und neben anderem angestaubtem Plunder jederzeit wieder ausgelöst werden kann, wenn die entsprechenden Requisiten ins vermeintliche Leben einer populären Erinnerungsveranstaltung zurückgeholt werden sollen. Mit Leise flehen meine Lieder wird der populären Ikone Schubert erstmals im Tonfilm-Format ein ›Denkmal‹ gesetzt, doch die im frühen Tonfilm exzessiv ergriffene Möglichkeit, bewegte Bilder und Töne synchron zu fixieren, wird hier, wie gesehen, keineswegs naiv gebraucht; vielmehr wird die Chance zu einer durchgreifenden Modernisierung des bereits vor dem Medienumbruch zum Tonfilm gängigen Wienfilm-Genres beherzt ergriffen. Man muß sich darum hüten, der nachgerade penetranten Harmlosigkeit der Story und des Helden ohne weiteres auf den Leim zu gehen. Just im liebevoll gepflegten Topos vom ›Naturkind‹ Franzl, dem das Komponieren so selbstverständlich ist wie anderen Leuten das Atemholen, steckt eine sehr spezifische Ideologie, die über den gängigen Genie-Mythos hinausgreift. Weil Schubert Wien und Wien Schubert bedeuten soll, bestätigt sich an ihm der Topos von Wien als der Welthauptstadt der Musik, der vor allen anderen die problematische gedächtnispolitische Konstruktion von der »Kulturnation« Österreich als Selbstbild der Ersten Republik affirmiert. Das nach dem Ersten Weltkrieg territorial minimierte, außenpolitisch nahezu bedeutungslose und innenpolitisch von heftigen ökonomischen Krisen und erbittert ausgetragenen politischen Konflikten erschütterte Land besinnt sich auch in seinen Filmproduktionen auf eine re-inszenierte kulturelle Tradition, die gerade im Genre des Wienfilms zu einem Markenzeichen und zum Exportartikel wird (vgl. Krenn 2005: 235-242; Szabo-Knotig 2002: 365-414). Daß diese Berufung auf die ›Kapitale der Musik‹ überaus fragwürdige Züge trägt, bedarf kaum eines Belegs – stellt sie doch eine leicht durchschaubare Transkription des aus der k.u.k.-Monarchie überkommenen hegemonialen Anspruchs dar, Wien sei materiell und ideell das Zentrum der peripheren Kronländer. Was nach dem ›Untergang‹ des Reiches bleibt, nennt man Kultur. Leise flehen meine Lieder artikuliert auch davon ein genaues Bewußtsein: Der hoffnungslos unpolitische, narzißtisch auf sich selbst (und seine Kunst) fixierte Schubert des Films ist nicht zuletzt als Präformation jener mit Indifferenz hingenommenen politischen Machtlosigkeit

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zu verstehen, die das Kleinbürgertum des zeitgenössischen Österreich kennzeichnet. Und im Zusammenhang der vielfach reflektierten Gedächtniskonstruktion ist es hier wiederum ganz und gar nicht gleichgültig, daß der Film auf die Fabrikation von Silhouetten mittels Schattenriß und Scherenschnitt und damit gezielt auf eine vorfilmische Reproduktions- und Repräsentationstechnik von Gesichtern im Profil zurückgreift. Wenn das Genie zuallererst als Silhouette ins Bild gerückt wird, so wird damit unmißverständlich die im physiognomischen Diskurs seit dem 18. Jahrhundert virulente Semantisierung der Silhouette als des ›reinsten Spiegels der Seele‹ und als ›Urbild des Charakters‹ eines Menschen aufgerufen. Es wird auf vormoderne Medientechniken zurückgegriffen, um – zunächst einmal – ein idealisiertes Bildnis vom ›edlen Antlitz‹ des großen Komponisten vorzuzeigen, an den Schubert-Kult anzuschließen und ihn zu affirmieren. In diesem Kontext ist vor allem an Johann Caspar Lavater und die in seinen Physiognomischen Fragmenten zur Beförderung der Menschenkenntnis und der Menschenliebe praktizierte anthropologische Heuristik des Schattenrisses zu erinnern. Lavater favorisierte die Silhouette, den Umriß des Profils, als Abbild des Gesichtes: »Das Schattenbild von einem Menschen, oder einem menschlichen Gesichte, ist das schwächste, das leerste, aber zugleich, wenn das Licht in gehöriger Entfernung gestanden, wenn das Licht auf eine reine Fläche gefallen – mit dieser Fläche parallel genug gewesen – das wahrste und getreueste Bild, das man von einem Menschen geben kann; das schwächste; denn es ist nichts Positifes; es ist nur was Negatifes – nur die Gränzlinie des halben Gesichts; das getreueste, weil es ein unmittelbarer Abdruck der Natur ist, wie keiner, auch der geschickteste Zeichner, einen nach der Natur von freyer Hand zu machen imstande ist. Was kann weniger ein Bild eines ganz lebendigen Menschen seyn, als ein Schattenriss? Und wieviel sagt er! Wenig Gold, aber das reinste« (Lavater zit. in Stoichita 1999: 155)! Aus der »physiognomischen Raserey« (ebd.) des 18. Jahrhunderts ist aber schon zu Schuberts Zeiten längst die als Gesellschaftsspiel betriebene ›Lektüre‹ von Gesichtern geworden, und aus der Silhouette ein preiswertes Substitut des Porträts für all jene, die sich Malerei nicht leisten können. Vor Erfindung der Fotografie fungieren Schattenrisse als zentrale Requisiten des sentimentalen Erinnerns (und Ersehnens) abwesender Personen, und sie haben sich in dieser Gebrauchsweise noch lange Zeit erhalten. 1933, im Entstehungsjahr von Leise flehen meine Lieder, handelt es sich zwar längst um eine überkommene Praxis, doch der nostalgische Wert des in scharfem Schwarz-Weiß profilierten Umrisses wird dadurch eher noch gesteigert, wird doch die altertümliche Medientechnik selbst zum Simulacrum wohlig erinnerbarer Vergangenheit aufgewertet. Hier zeigt sich wiederum eine signifikante Schnittstelle zu den populärkulturellen

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Praktiken der zeitgenössischen Gedenk- und Festkultur in der Ersten österreichischen Republik. Die Hypostasierung Schuberts, des einzigen gebürtigen Wieners im klassischen Komponistenkanon, zum musikalischen genius loci hat zwar bereits zur Mitte des 19. Jahrhunderts begonnen, ist jedoch erst 1928, zum 100. Todesjahr, vollends ins Stadium moderner populärkultureller Verwertung eingetreten. In der Praxis des Angedenkens wird nun vor allem das Profil des Schubert-Franzl, das im Schattenriß idealisierte Antlitz des großen Komponisten, zur vielfach vermarkteten Popikone: So zirkulieren Schubert-Silhouetten als nostalgisches Dekor auf Gebrauchsgegenständen des Alltags, nicht allein auf Kaffeetassen, und sie werden durch moderne Kommunikationsmedien massenhaft verbreitet, beispielsweise auf Bild-Postkarten, mit denen die Touristen Grüße aus der »Musikhauptstadt im Herzen Europas« in alle Welt schicken. Die Silhouette des Komponisten ziert nicht nur Notenhefte von Schubertliedern, Programme und Plakate von Aufführungen seiner Werke, sondern 1912 auch den Umschlag der Erstausgabe des vielgelesenen Romans über den Schubert-Franzl, Schwammerl von Rudolf Hans Bartsch (den Berté 1916 zur Operette Dreimäderlhaus transkribierte). Seine Silhouette wird in wienerisch-biedermeierlicher Petit-Point-Stickerei als Wandschmuck fabriziert, oder schmückt, liebevoll ausgeschnitten und aufgeklebt, das Sammelalbum eines Fans, das noch heute neben einer Fülle weiterer Devotionalien im Wien Museum aufbewahrt wird. Im Schubertjahr geht die Liebe der Wiener zu ihrem ›Franzl‹ ganz sprichwörtlich auch durch den Magen: Während die Konditoren ihre Mehlspeisen, das Alt-Wiener Spezialitätengebäck, mit Schubert-Silhouetten aus Schokolade verzieren, modelliert ein Metzgermeister gar eine Schubert-Büste aus Schweineschmalz, die er als Blickfang ins Schaufenster stellt. Und nicht zuletzt werden die Schubert-Silhouetten, die auf den Fahnen des Schubertbundes eingestickt sind, anläßlich der Gedenkfeiern zum 100. Todestag beim großen Festzug zum 10. Deutschen Sängerbundfest, an dem 30.000 Sänger mitwirken, einem spektakulären Akt der Selbstinszenierung der Stadt zu Ehren ihres Komponisten, wie die Heiligenbilder in einer Prozession durch die Straßen der Stadt getragen. (vgl. Spring 2005: 151-164; Kos/Rapp 2005: 423-439.) Kurzum, das Gesicht des Genies im Profil ist omnipräsent und dem zeitgenössischen Publikum so wohlbekannt, daß es in Leise flehen meine Lieder der ostentativen Nennung des Namens, die wie eine tönende subscriptio zur pictura der filmisch erzeugten Silhouette wirkt, eigentlich gar nicht bedurft hätte. Wird dadurch die zu Anfang hervorgerufene ironische Distanz zum dann durchaus mit großem Ernst und schließlich mit fragwürdigem Pathos inszenierten Künstlermythos im Hinblick auf die populärkulturelle Vereinnahmung des Schubert-Schattens als einer Ikone noch einmal verständlicher, so hat das Spiel mit der Silhouette in Leise flehen meine Lieder durch zur

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Entstehungszeit beinahe schon absehbare historische Ereignisse eine zusätzliche Dimension gewonnen. Denn implizit referiert der zwischen Genie-Topos und Gesichtsbildung hergestellte Konnex eben auch auf jene Filiationen der anthropologischen Physiognomie, die zur Vereinnahmung durch eine rassistische Ideologie bereitstanden. Die jüdischen Produzenten der Cine-Allianz Tonfilm GmbH, Arnold Pressburger und Gregor Rabinowitsch, konnten Leise flehen meine Lieder von vornherein nur als eine vom Export nach NS-Deutschland unabhängige Produktion realisieren, auch wenn der Verzicht auf diesen Massenmarkt erhebliche finanzielle Einbußen bedeutete. (Im Juni 1934 produzierten sie daher mit denselben Darstellern eine englische Sprachversion, Unfinished Symphony, durch deren Erfolg zahlreiche Mitwirkende auch in den USA bekannt wurden.) Nur in einer unabhängigen Produktion konnte der in Deutschland durch die NSFilmpolitik bereits diffamierte jüdische Drehbuchautor Walter Reisch engagiert werden, und nur so ist die Besetzung der Hauptrollen mit der »Halbjüdin« Marta Eggerth und mit dem jüdischen Schauspieler Hans Jaray, der in NS-Deutschland bereits Auftrittsverbot hatte, zu erklären. Daß ausgerechnet Hans Jaray dem österreichischen Komponisten schlechthin Gesicht, Stimme und Körper lieh, und durch seine Ähnlichkeit mit dem populären Schubert-Bild dem Film einige Authentizität verschaffte, wurde nicht nur von den deutschen Nationalsozialisten, sondern auch von österreichischen Antisemiten im deutschnationalen und austrofaschistischen Lager als ein Affront verstanden. Das breite Publikum hingegen war begeistert und machte Hans Jaray – für eine kurze Zeit – zum Star, er spielte erfolgreich noch einige Rollen in weiteren unabhängigen Produktionen des »unerwünschten Kinos« (vgl. Loacker/Prucha 2000: 105-107). Was von dieser Liebe der Wiener zu ›Hans und Franz‹ zu halten war, hat sich spätestens 1938 in den antisemitischen Pogromen vor Ort gezeigt. Hans Jaray wurde wie zahlreiche andere Mitwirkende an Leise flehen meine Lieder in die Emigration getrieben; in den USA von tiefer Depression überwältigt, konnte er in den Jahren des Exils nicht mehr kontinuierlich arbeiten, die Cine-Allianz wurde auf perfide Weise »arisiert« (vgl. Fuchs 2004: 34-45). 1936 hat Walter Reisch als Autor, Regisseur und Produzent in Personalunion mit dem letzten unabhängigen Wienfilm, Silhouetten (AU 1936), auch seinen eigenen Abschied von Wien inszeniert, bevor er in die USA emigrierte. In diesem Film dreht und bewegt sich alles um die Silhouette. Und das Silhouettentheater, einst sehr modern, nun angestaubt und vergessen auf dem Speicher des Austria-Theaters in der Wiener Vorstadt, dient als Intermedium der Reflexion über das Verhältnis der Bewegungs-Medien Tanz und Film. In der Bühnenchoreographie des Alt-Wiener Schlußbildes tritt die Figur eines Silhouettenschneiders im Wurstelprater auf, die wie ein Wiedergänger des Töpfers Butades/Dibutades erscheint. Die Erweckung der erstarr-

➞ [ Photogénie ]

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ten Simulacren im Bauchladen des Silhouettenschneiders ›zum Leben‹, zu tänzerischer Bewegung, wird ausgelöst durch die zärtliche Geste eines ›süßen Mädels‹, das den absenten Geliebten herbeisehnt und die Kontur seines Abbildes als Silhouette im (Ganzkörper-)Profil nachzeichnet. Doch dieses geliehene Leben dauert, wie in Leise flehen meine Lieder, nicht länger als die Fiktion die Figuren trägt, allenfalls »eine Stunde lang«, für die Dauer eines Liedes oder eines Films. Walter Reisch hat zu dem melancholischen Walzer, den die Schatten tanzen, einen ebenso melancholischen Text geschrieben, der auch die mediale Modernität des im Schubert-Film zitierten Künstler-Mythos prägnant charakterisiert: »Silhouetten, Silhouetten sind wir, / ohne Seele, ohne Herz, nur Papier. / Silhouetten, schwarze Schatten, / scharf geschnitten im Profil, / wie die Schere des Schicksals es will. / Aber manchmal klingt vom Himmel Musik, / da verirrt sich zu uns Schatten das Glück. / Und dann dürfen wir lachen und weinen wie ihr. / Und für Stunden sind wir nicht aus Papier. / Es war einmal eine Stunde, / die war so wunderschön. / Daß ich nur eines ersehnte,/sie möge nie vergeh’n. / Es war die herrlichste Stunde, / die mir mein Lebenslied sang. / doch sie dauerte, / wie alle anderen Stunden, / nur eine Stunde lang. / Silhouetten, Silhouetten sind wir …« (vgl. Steiner 2004: 154-200). [ Ines Steiner ]

Literatur Fuchs, Christoph (2004): »Im Labyrinth der Allianzen. Die Metamor-

phose des Filmlabels ›Cine-Allianz‹«. In: Jan Diestemeyer (Red.): Alliierte für den Film. Arnold Pressburger, Gregor Rabinowitsch und die Cine-Allianz, München: edition text+kritik (hrsg. v. HansMichael Bock/Wolfgang Jacobsen/Jörg Schöning), S. 34-45. Loacker, Armin/Prucha, Martin (Hg.) (2000): Unerwünschtes Kino. Der deutschsprachige Emigrantenfilm 1934-1937, Wien: Filmarchiv Austria. Loacker, Armin (Hg.) (2003): Willi Forst. Ein Filmstil aus Wien, Wien: Filmarchiv Austria. Krenn, Günter (2005): »Im Ballsaal und beim Heurigen. Alt-Wien im österreichischen Spielfilm«. In: Wolfgang Kos/Christian Rapp (Hg.): Alt-Wien. Die Stadt, die niemals war, Wien: Czernin, S. 235-242. Kos, Wolfgang/Rapp, Christian (Hg.) (2005): Alt-Wien. Die Stadt, die niemals war, (Katalog zur gleichnamigen Sonderausstellung im Wienmuseum im Künstlerhaus 2004-2005), Wien: Czernin. Riemer, Willy (2004): »Composers, Celebrity and Cultural memory: Walter Reisch’s Musical Biopics«. In: Günter Krenn (Hg.): Walter Reisch. Film schreiben, Wien: Filmarchiv Austria, S. 301-340.

2005-09-05 10-34-37 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 291-303) T01_21b umriss.p 93904543566

[ Umriß ] | 303 Spring, Ulrike (2005): »Der Himmel über Wien. Franz Schubert, sein

Körper und Alt-Wien«. In: Wolfgang Kos/Christian Rapp (Hg.): AltWien. Die Stadt, die niemals war, Wien: Czernin, S. 151-164. Steiner, Ines (2004): »›Ohne Seele, ohne Herz, nur Papier‹? Intermedialität, Mythologie und Gender-Performanz in Walter Reisch WienFilm Silhouetten«. In: Günter Krenn (Hg.): Walter Reisch. Film schreiben, Wien: Filmarchiv Austria, S. 154-200. Stoichita, Victor I. (1999): Eine kurze Geschichte des Schattens, München: Fink. Szabo-Knotig, Cornelia (2002): »Strategien der Identitätsstiftung im Musikfilm der ersten Republik – am Beispiel von Leise flehen meine Lieder und Opernring«. In: Günter Krenn/Armin Loacker (Hg.): Zauber Der Boheme. Marta Eggerth, Jan Kiepura und der deutschsprachige Musikfilm, Wien: Filmarchiv Austria, S. 363-384.

2005-09-05 10-34-37 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 291-303) T01_21b umriss.p 93904543566

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V

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2005-09-05 10-34-39 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 306

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[ Vorspann ] | 307

[ Vorspann ]

Paulette Goddard sieht uns durch das Gesicht eines Fuchses an. Aber wirklich zu erkennen ist sie noch nicht. Ihre Züge sind noch zu sehr überlagert vom Bild des Fuchses. Nur der Schriftzug mit ihrem Namen läßt keinen Zweifel, daß sie auftauchen wird. Es ist der Moment, in dem die Überblendung den Blick von Fuchs und Schauspielerin verschmelzen läßt. Das oben abgebildete Standbild erlaubt noch mehr: Wir können unseren Blick vom Fuchs zur Schauspielerin und wieder zurück verlagern. Das angehaltene Bild nimmt die Zeit aus dem Spiel und der Überblendung die Richtung (vgl. Bellour 1999). Der Fuchs trägt die Maske der Frau, und die Frau nimmt die Züge des Fuchses an – und das, bevor Paulette Goddard überhaupt durch Augenaufschlag versuchen kann, den Typ »Fuchs« zu verkörpern. Augen, Mund und Schnauze liegen nahezu perfekt übereinander. Doch das Bild liefert noch mehr. Über dem Bild steht der Name der Schauspielerin in Versalien. Unter dem Bild wird – gleichzeitig mit dem Bild der Schauspielerin – der Name der Figur Miriam Aarons, die sie in George Cukors Film The Women (Die Frauen, USA 1939) verkörpern wird, aufgeblendet. Man kann sehen, daß der Übergang noch nicht vollständig ist. Die Schrift ist mit Schatten versehen, um Tiefe zu suggerieren. Doch das gesamte Bild erscheint eher flächig. Das

➞ [ Auge ]

2005-09-05 10-34-48 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 307-319) T01_22b vorspann.p 93904543718

308 | [ Alexander Böhnke ] ➞ [ Oberfläche ]

➞ [ Star ]

➞ [ Casting ]

liegt an der Holzoberfläche, deren Maserungen gut sichtbar sind, und die als Unterlage für das Spiel der Überblendungen dient. Was kommuniziert eine solche Bildkomposition? Wenn man sich das Bild in seiner Struktur vergegenwärtigt, könnte man sich an ein Emblem erinnert fühlen. Die Emblematik geht von einer gegenseitigen Kommentarstruktur aus, die das Emblem kennzeichnet. Das Emblem besteht aus drei Teilen: Pictura (Fuchs/Gesicht), Inscriptio (Paulette Goddard) und Subscriptio (Miriam Aarons). Auch wenn sich dieses Bild wohl nicht bewußt in diese Tradition einschreibt, kann man dennoch von einer gegenseitigen Kommentierung seiner drei Teile ausgehen. Wie hängen die drei Konstituenten zusammen, und worauf verweisen sie? Da das oben gezeigte Bild nicht wie ein Emblem für sich allein steht, sondern nur einen Teil des Vorspanns ausmacht, der wiederum in einer komplexen Verweisstruktur mit dem Film und dessen Kontext verbunden ist, ist es für die Beantwortung dieser Frage notwendig, das Standbild wieder ›in Bewegung‹ zu setzen, es mit den vorhergehenden und nachfolgenden Szenen zu vergleichen und in den allgemeineren Kontext der industriellen Filmproduktion zu stellen – der 1930er Jahre und darüber hinaus. 1939 gehört das Posieren im Filmvorspann bereits nicht mehr ›zum guten Ton‹. Die Produktionen von Warner Bros. zeichnet zwar in den 1930er Jahren aus, daß sie häufig am Ende des Vorspanns den Schauspielernamen mit einem Bild des Schauspielers verknüpfen; für MGM, die The Women produzierte, und den Rest der Filmindustrie kann das aber nicht gelten, wie Deborah Allison ausgeführt hat: »Introducing actors and characters was especially common in the 1930s when it was a standard feature of many Warner Bros. films […]. With the exception of this cycle of Warner films though, the use of photographs or motion portraits of actors is normally limited to one, or a handful, of the main stars, and is generally confined to star vehicles« (Allison 2001: 85). Außerdem besteht ein entscheidender Unterschied in der Form der Präsentation. Es ist zwar so, daß diese Titelsequenzen die Darsteller – meist in Naheinstellung – in charakteristischen Posen zeigen, und auf diese Aufnahmen der jeweilige Rollen- und Schauspielername aufgeblendet wird. Wichtig ist jedoch, daß das Bildmaterial solcher Sequenzen sich nahezu ausschließlich aus Szenen des folgenden Films speist. Es handelt sich also um bebilderte Cast-Listen. Beispiele hierfür wären die folgenden Warner-Bros.Produktionen: One Way Passage (Reise ohne Wiederkehr, USA 1932, Tay Garnett), Dames (Broadway-Show, USA 1934, Busby Berkeley/Ray Enright), Bordertown (Stadt an der Grenze, USA 1935, Archi L. Mayo) und Front Page Woman (Die Frau auf Seite 1, USA 1935, Michael Curtiz). Wenn man diese Präsentationen mit den korrespondierenden Szenen aus dem Film vergleicht, läßt sich feststellen, daß im Vorspann auch Material verwendet wird, das im Film selbst nicht zu sehen ist. So zeigt der Vorspann von Bordertown Margaret Lindsay als

2005-09-05 10-34-49 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 307-319) T01_22b vorspann.p 93904543718

[ Vorspann ] | 309

Dale Elwell, die dreimal kokett zur Kamera aufschaut und ihren Blick wieder senkt. Im Vorspann hat das eine den Zuschauer adressierende Wirkung. Im diegetischen Universum des Films ist diese Szene einer Gerichtsverhandlung zuzuordnen. Dale Elwell ist wegen eines Verkehrsunfalls angeklagt, beschäftigt sich während des Prozesses aber mehr mit der Porträtierung des Anwalts der Gegenseite, den sie dafür mit ihrem Blick fixiert, um dann wieder das Gesehene mit ihrem Bild abzugleichen. Im Film ist also die Szene aus dem Vorspann gar nicht zu finden, sondern nur eine ähnliche Aufnahme. Das zeigt, daß die Vorspannmacher Zugriff auf mehr Material als nur den fertig geschnittenen Film hatten und die Szenen auswählten, die sie für besonders charakteristisch sowohl für die Figur als auch für das Image der Schauspielerin hielten. Anders ist das bei Four Daughters (Vater dirigiert, USA 1938, Michael Curtiz), ebenfalls eine Warner Bros.-Produktion. Der Vorspann zeigt zwar die titelgebenden vier Töchter in charakteristischen Posen, zum Beispiel lesend, strickend oder schminkend, unterscheidet sich aber von den obengenannten Beispielen dadurch, daß diese Bilder nicht direkt mit den entsprechenden Namen respektive Rollennamen verknüpft sind. Sie sind den Titeln des Vorspanns unterlegt. Außerdem sind sie insofern eher früheren Formen der Präsentation verpflichtet, als sie nicht mit Szenen aus dem folgenden Film in Verbindung stehen. Sie sind vermutlich extra für diesen Zweck hergestellt worden. Auch The Women gestattet seinen Schauspielerinnen ein solches Vorzeigen im Vorspann. Aber auch nur mit betont ironischem Unterton – oder genauer gesagt: vermittels der ironischen Überblendung. Eine solche Vorstellung der Schauspieler, die ja auch dazu dient, Rolle und Image miteinander zu verknüpfen, hat eine lange Tradition. Das hängt damit zusammen, daß Schauspieler die wichtigsten Bestandteile des Filmmarketings sind. Die Namen der Schauspieler binden einen Großteil des Filmpublikums. Das war nicht immer so: »Before the rise of the star system, films were perceived and sold by brand name« (Bowser 1990: 103). Doch das währte nicht lange, denn die Studios erkannten das Vermarktungspotential der Schauspieler. Zu den Gründungsmythen der Filmindustrie gehört die Geschichte von Carl Laemmle, dem ›Erfinder‹ des Starsystems. 1910 startete er eine Pressekampagne, die zunächst vom unglücklichen Tod der Florence Lawrence, dem IMP-Girl, berichtete, um kurz darauf die ganze Geschichte zu dementieren. Selten zuvor waren Filmschauspieler so publicityträchtig inszeniert worden. Die historische Rekonstruktion zeigt jedoch, daß die Sache sehr viel komplexer war. Die Produzenten standen der Idee, die Namen ihrer Schauspieler an die Öffentlichkeit zu bringen, zunächst zurückhaltend, teilweise sogar ablehnend gegenüber. Im Falle der Produktionsfirma Biograph, die sich bis 1913 weigerte, Namen von Schauspielern zu veröffentlichen, ging diese

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Politik so weit, daß Biograph-Anzeigen von der Moving Picture World zurückgezogen wurden, weil diese die Namen der Biograph-Schauspieler veröffentlicht hatte (vgl. Bowser 1990: 108f.). Auch schreckten viele Theaterschauspieler davor zurück, mit dem künstlerisch noch kaum etablierten Medium in Verbindung gebracht zu werden. Diese Zurückhaltung verschwand allerdings, als klar wurde, wie gut und regelmäßig eine florierende Filmindustrie zahlt. Ein Grund für die Studios, von der namentlichen Erwähnung der Schauspieler abzusehen, war sicher auch die Angst vor entsprechenden Gehaltsforderungen. Die Firma Edison erweiterte 1911 ihren Vorspann mit einer Tafel, die die Besetzung des Films anzeigt, ein Jahr später wurde auch der Drehbuchautor in den Vorspann integriert: Man erhoffte sich davon, berühmte Autoren zur Mitarbeit am Film bewegen zu können und Plagiaten vorzubeugen. Da nun schon einige Namen genannt wurden, hatte das Folgen für die ästhetische Form des Films: der Vorspann differenzierte sich aus. Dabei wurde eine schon ausgemusterte Form neu belebt: »In the fall of 1911 the ›present method,‹ it was said, was ›to flash upon the screen a full-size portrait of the actor in character and costume.‹ This return to the nondiegetic, or emblematic, introductory shot, used before 1907 and mostly abandoned, may be attributed to the incorporation of the star system into industry practice« (Bowser 1990: 145). Also noch weiter zurück. Die erste emblematische Einstellung stammt vermutlich aus dem Jahr 1901. Charles Musser weist auf Edwin S. Porters Erfahrung als Filmvorführer hin, die ihn dazu veranlaßt haben mag, in Laura Comstock’s Bag-Punching Dog (USA 1901) eine Einstellung mit Comstock und Hund, die auch den Titel vorstellt, der Einstellung des Hundes in Aktion voranzustellen. »In the late 1890s, as we have seen, exhibitors often showed portraits of prominent persons in their programs using lantern slides. Portraits of admirals were followed by their ships« (Musser 1990: 316). Zwei Aspekte sind dabei zu beachten. Einerseits ging es darum, die prominente Person – deren Bekanntheitsgrad sich aber noch nicht dem Medium Kino verdankte – in den Film einzugemeinden und diese Prominenz auszustellen. Andererseits ging es, wie Musser ausführt, auch um Kontrolle. Es ging um die Stipulation einer Kontrolle über den Film, die den Film als eine Einheit präsentieren konnte, auch wenn er im Rahmen eines Programms gezeigt werden sollte. Es ist nur ein scheinbarer Widerspruch, wenn die emblematische Einstellung für Porters The Great Train Robbery (USA 1903) den Vorführern die Wahl ließ, ob sie am Anfang oder am Ende gezeigt werden sollte. Die Funktion der emblematischen Einstellung im frühen Film ist für Noël Burch nicht zuletzt der Rapport von Zuschauer und Schauspieler: »[ The emblematic shot was ] partly determined by the search for character presence and the establishment of eye contact between actors and spectators

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[…]« (Burch 1990: 193). Dieser Blickkontakt ist aber nach der Etablierung des von Burch sogenannten ›Institutional Mode of Representation‹, der den ›Primitive Mode of Representation‹ ablöst, auch nur denkbar an den Rändern des diegetischen Universums, da sonst der fiktionale Pakt mit dem Zuschauer in Gefahr gerät. Der Blick in die Kamera betont auf besondere Weise die supponierte Präsenz des Zuschauers. Daher gilt die Vermeidung des Blicks in die Kamera als eine relativ stabile Konvention im klassischen Kino, deren Verletzung als Tabu (vgl. Casetti 1998: 29). Aber auch schon im frühen Film bildete die direkte Adressierung des Zuschauers durch den Schauspieler ein heterogenes Moment: »In its presentational and often extra-narrative dimension the emblematic shot was still a rejection of closure« (Burch 1990: 196). Zwei einander sich ergänzende Momente können demnach unterschieden werden. Einerseits muß die Großaufnahme noch in die Repräsentationsmaschinerie des Films, die sich zu einem festgefügten Ensemble des diegetischen Universums ausbildet, eingebaut werden – Burch spricht deshalb von »additions« und noch nicht von »inserts« (Burch 1990: 197f.). Das Gesicht gehört für Bowser noch nicht zum festen Bezugssystem des Films: »The actor’s face was not considered a proper subject for close-up until about 1912. In the period before 1908, real close-ups, while not common, are not unusual either« (Bowser 1990: 96). Andererseits ist es wohl kaum ein Zufall, daß die Großaufnahme erst in der Ära der Stars fest etabliert wird – wo »die Prolog-Einstellungen zu Vehikeln der Starpräsentation« werden (Schweinitz 2003: 94). Das Phänomen des Filmstars bringt ein neues nicht-diegetisches Moment in die Rezeption von Filmen, das frühere Formen der Wahrnehmung, wie zum Beispiel das Interesse an der technischen Apparatur, überformt. Innerhalb des Starsystems kommt es Barry King zufolge zu einer Art Enteignung des Schauspielers: »The use of close shooting in the cinema invests greater meaning in the actor as a signifying mass, involving in the process of signification parts of the actor’s body, such as eyes, mouth, and so forth. This means, in effect, that the actor can signify merely because he or she has automatic or physiologically given qualities, e.g. lip shape and movement, facial mass and habitual expressions« (King 1991: 175). Der Schnitt spielt dabei eine wichtige, im buchstäblichen Sinne entscheidende Rolle: »[…] the projection of interiority becomes less and less the provenance of the actor and more and more a property emerging from directorial and editorial decision« (King 1991: 177). Das Gesicht des Stars wird zum Ort, an dem sich verschiedene Projektionen überschneiden. Nicht nur die Vergangenheit seiner Filme als intertextuelle Referenz überlagert die Wahrnehmung, wie Christian Metz herausgestellt hat: »Der bekannte Schauspieler (d.h., und dies betone ich, der von einem anderen Ort/Film her bekannte

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Schauspieler) wird in den Film das Echo der anderen Filme hineintragen, in denen er gespielt hat« (Metz 1997: 74), sondern auch die Vergangenheit des Stars als Person. Genau diese Verschachtelung von Person und Rolle ist kennzeichnend für das Starsystem, wie es in den 1930er Jahren in Hollywood fest etabliert ist. Im Abgleich mit der Wirkung auf das Publikum schaffen die Studios ein Leinwandimage, indem sie ihre angehenden Stars auf bestimmte Rollenmuster festlegen: Tino Balio hat das folgendermaßen beschrieben: »To devise an appropriate screen image for an aspiring star, a studio would cast the player in a number of roles and test audience response to each by consulting fan mail, sneak previews, reviews, exhibitor’s comments, and the box office. In essence, producers attempted to mold their protegés to fit consumer interest. Once the correct formula was found, the ingredients would be inscribed in narratives, publicity, and advertising« (Balio 1993: 164). Dies ist aber nur der erste Schritt. Wichtig ist die Komplementierung dieses Rollenmusters mit der entsprechenden Biographie. Und das überläßt man in Hollywood nicht dem Zufall, sondern dem »studio’s publicity department« (ebd.: 165), das Rolle und Privatleben abgleicht, indem es unter anderem Biographien entwirft. Damit zurück zu The Women. Wie oben gesehen, gibt der Vorspann uns in Form der Überblendung eine Lektüreanweisung, einen »metalinguistischen Kommentar« im Sinne von Metz: »Die Überblendung führt uns – ausführlicher und vollständiger, als Bilder oder das Gegenteil, der Schnitt, dies könnten – die Bewegung als solche vor Augen, die im Film von Bild 1 zu Bild 2 führt. Das Moment des Übergangs ist hier besonders betont und ausgedehnt, es erreicht bereits die Qualität eines metalinguistischen Kommentars« (Metz 2000: 213). Noch bevor das Bild von Paulette Goddard zu sehen ist, steht ihr Name schon da, aber das Bild, das zeitgleich erscheint, zeigt uns einen Fuchs. Goddard ist indes nicht die einzige Schauspielerin, die entsprechend gekennzeichnet wird. Im Anschluß an einen üblichen Vorspann, der eine Auswahl von Namen an der Produktion beteiligter Personen auf den schon angesprochenen Holzhintergrund blendet, wird »Norma Shearer as Mrs. Stephen Haines (Mary)« als Reh vorgestellt. Die Liste der Schauspieler bzw. Figuren und ihrer Charakterisierung liest sich weiter wie folgt: »Joan Crawford as Crystal Allen« als Leopard, »Rosalind Russell as Mrs. Howard Fowler (Sylvia)« als (schwarze) Katze, »Mary Bowland as The Countess de Lave (Flora)« als Affe, »Paulette Goddard as Miriam Aarons« als Fuchs, »Joan Fontaine as Mrs. John Day (Peggy)« als Schaf bzw. Lamm, »Lucile Watson as Mrs. Morehead« als Eule, »Phyllis Povah as Mrs. Phelps Potter (Edith)« als Kuh, »Virginia Weidler as Little Mary« als Reh, »Marjorie Main as Lucy« als Pferd. Alle Aufnahmen zeigen die Schauspielerinnen in rollenkompatibler Aufmachung. Sie bemühen sich für den kurzen Moment, der ihnen zur Verfügung steht, einen besonders

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charakteristischen Ausdruck aufzusetzen, der teilweise recht genau mit dem des jeweils gezeigten Tieres korrespondiert – man hört geradezu die Regieanweisung: »Schau mal wie ein …«. Einige Schauspielerinnen gönnen sich sogar einen Blick in die Kamera, fast so, als könnten sie so das Tier besser zum Ausdruck bringen. Der Film zeigt uns, wie der Titel schon sagt, Frauen, ausschließlich Frauen. Kein einziger Mann tritt während der 132 Filmminuten auf, aber 135 Frauen. Doch der Vorspann macht von Anfang an klar, daß die abwesenden Männer nichtsdestoweniger die Filmerzählung strukturieren. Die Namen der Frauenfiguren verweisen auf die Ehemänner: »Mrs. Stephen Haines« oder »Mrs. John Day«. Der Vorname der Frauen wird nur in Klammern mitgeliefert. Der Name des Gatten zeigt den Besitzstand der Frauen an, den sie mit allen Mitteln zu verteidigen haben. Man könnte von einem Kampf der Frauen um Beute sprechen, die hier inszeniert wird: »From its notorious opening ›menagerie‹ sequence to the last shot of repentant Shearer rushing to surrender herself to domestic bliss, it is a narrative that vigorously sustains the notion that a ›natural‹ enmity exists between women« (Gretton 1992: 71). In Abwandlung eines Aphorismus von Plautus Asinaria, »homo homini lupus«, könnte man folgendes Motto für den Film kreieren: ›Woman is wolf to woman‹. Und genau das ist ja auch eine der Funktionen des Vorspanns. Das betonen Title Designer wie Saul Bass, Maurice Binder, Wayne Fitzgerald oder Kyle Cooper immer wieder in ihren Interviews: Der Vorspann soll eine Art Metapher für den Film entwerfen. Er stellt im Sinne Thierry Kuntzels einen Pool von Figuren auf, die erst im Verlauf des Films genau konfiguriert werden. Die Aufgabe der Diegese ist es dann, »das Tabularische des Anfangs als Vektor auszurichten« (Kuntzel 1999: 45). Das Tabularische sind natürlich auch die Namen der Beteiligten. Aber die Liste der Schauspielerinnen ist nicht ohne weiteres in die Diegese einzubetten, da sie auf ein Jenseits des Films verweist, auf die Produktion des Films, wie es Francesco Casetti beschrieben hat: »[…] the list of names which serve as the film’s ›frame‹ or ›proscenium‹ and which coincide with the beginning and end of the screening, the lowering and raising of the house lights, elicits a reflection on the relation between those who act ›during‹ a text – the subjects of the enunciation whose marks and traces constitute the essential line of force of a developing process – and those who act ›via‹ a text – the empirical subjects who wish to express themselves and to understand, to act and to interact. This list of names incites us to reflect on precisely the links that connect ›roles‹, an enunciator and enunciatee, and the ›bodies‹, a sender and receiver« (Casetti 1998: 40). Wie gelingt es dem filmischen Diskurs, dieses heterogene Moment zu integrieren? Das unter anderem leistet der Diskurs über Stars. Und in The Women kann man sehen, wie er über den Vorspann in den Film hineinwirkt. Die Metapher der Tierwelt spielt hierbei eine

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➞ [ Narbe ]

entscheidende Rolle. Im filmischen Diskurs von The Women wimmelt es nur so von Tieren: Fische, Hunde, Kojoten, Füchse, Ziegen, Pferde, Insekten und mehr. Phyllis Povah (die Kuh im Vorspann) fragt Nancy Blake (Florence Nash, ohne Charakterisierung im Vorspann), die abgebrühte Schriftstellerin: »Was schreibst du als nächstes, Nancy? Tiergeschichten?« Nancy: »Dafür bräuchte ich nicht nach Afrika zu fahren.« Dann gibt es noch »Dschungelrot«, die Farbe eines Lippenstifts, der besonders gefragt ist. Und als die gute Mary Haines (im Vorspann als Reh portraitiert) kurz vor Ende des Films zum Gegenschlag ausholt, sagt sie: »Ich hatte zwei Jahre, um mir Krallen wachsen zu lassen.« Ganz unvorbereitet kommt der Zuschauer aber nicht in die Kinos. Der Werbediskurs hatte den Kampf um die Männer schon vorbereitet und als ›Bestiarium‹ eingeführt: Ein Werbeplakat stellt die Frauen des Films als Katzen vor: »Women … With One Word on Their Lips … ›MEOW‹«. Und Rosalind Russells Charakterisierung als Katze im Vorspann findet sich schließlich auch auf dem Plakat wieder: »slandering society she-cat«. Entscheidend für die Verknüpfung von Rolle und Schauspielerin ist, daß der Kampf auch auf die Dreharbeiten ausgeweitet wird: »In 1939, the movie was promoted as a bitch-bath; throw the girls in together, turn up the heat and watch them fight it out. And they did – on and off the screen« (Winterston 2004). Die Echtheit der Kämpfe muß dementsprechend Spuren hinterlassen: »MGM made much of the fact that no body doubles were used in any of the cat fights between the ›girls,‹ so much so that when Rosalind Russell lunges at Paulette Goddard for stealing her husband, the bite on Goddard’s leg was said to have left a permanent scar« (ebd.). Das ist natürlich übertrieben: »Goddard took the bite only in the long shot of the scene. In the close-up, the leg belongs to actress Mary Beth Hughes, who was chosen because her underpinnings resembled those of Goddard« (Levy 1994: 125). Die Dreharbeiten zu dieser Szene sind legendär, nicht zuletzt weil sie solche Geschichten hervorbrachten, die sich ihrerseits über Jahrzehnte hinweg erhalten haben. »The two women scratched, bit and kicked their way through seven sets, requiring eight changes of costume before the sequence was completed. The fight took three days to shoot. Cukor shot it at the end, so that any black eyes or sprained ankles resulting from the fight would not affect the budget« (ebd.: 125). Daß sich solche Legenden erhalten haben, ist auch ein Indiz für den Stardiskurs, der bewußt Leinwand- und Privatimage vermischt – und diese Mischung macht nicht zuletzt das Phänomen des Stars aus. Es finden sich noch weitere solcher gezielt gestreuter ›Indiskretionen‹, die auf die Rivalität der Frauen anspielen. Der Film kommentiert die Praxis der studioeigenen PR-Abteilungen, Klatschreporterinnen mit Stoff zu versorgen (vgl. Balio 1993: 169), indem Hedda Hop-

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per, eine der führenden Hollywood-Kolumnistinnen, gleich selbst diese Rolle übernimmt. Schon die Besetzung von Norma Shearer und Joan Crawford gab Stoff für die Klatschspalten. Die Beschreibung Emanuel Levy liest sich wie ein Werbetext: »Thalberg [ Gatte Shearers und mächtiger Produzent bei MGM ] and Shearer had always condescended to Crawford, perceiving her as a pushy working-class girl; a duel had been building up for a decade. Now, for the first time, MGMs two queens would be in a film together – cast as rivals« (Levy 1994: 122f.). Der Dialog der beiden Stars bei ihrer ersten Begegnung im Film liest sich wiederum wie ein Kommentar zum Problem der Rollenfestlegung, wie es Balio beschreibt: »The best performers chafed at being stereotyped. [ .. ] The problem became how to extend the life of a star while simultaneously producing sufficient numbers of vehicles to diffuse high salary costs« (Balio 1993: 168). Mary Haines (Norma Shearer): »Sie sind ja noch typischer, als ich gehofft hatte.« Crystal Allen (Joan Crawford): »Das Kompliment gebe ich gerne zurück.« Der symbolische Ort des Kampfes um die Vorherrschaft ist der Vorspann: »Shooting was completed on June 28, 1939, but a new problem emerged: the credits. Shearer demanded that her name appeared above Crawford’s in all the ads. But in having lobbied hard for a role designed to elevate her status, Crawford managed to slip her name above the title, too. The billing was settled to read ›Norma Shearer and Joan Crawford in The Women.‹ Then Russell demanded her name over the title as well. Her strategy was a four-day sick leave from the set. Russell’s ›sickness‹ ended only when MGM moved her name above the tile, albeit in type half as large as that of Shearer and Crawford« (Levy 1994: 127). Auch diese Darstellung scheint mir teilweise ins Reich der Legenden zu gehören. Gesichert ist die Beobachtung, daß Russells Name im Vorspann tatsächlich vor dem Titel genannt wird und die Schriftgröße nur 50 Prozent der beiden anderen beträgt. Ungesichert, wenn nicht falsch, scheint mir jedoch der Teil über die Verhandlungen der Creditierung zu sein. Richtig ist zwar, daß das Billing, also die Credits in Film und Werbung, eine höchst umkämpfte, weil symbolisch aufgeladene Sphäre ist. Nur finden diese Kämpfe nicht unbedingt während der Dreharbeiten statt. Man nehme beispielsweise das Billing Sheet für The Roaring Twenties (USA 1939, Raoul Walsh). Das Billing Sheet schreibt die Reihenfolge und die Größenverhältnisse für die Titelsequenz und die Werbung für Filme fest. Hier ist es so, daß die Namen James Cagney und Priscilla Lane mit 100 Prozent der Größe des Filmtitels auf einer separaten Karte vor dem Titel erscheinen sollen. Nach dem Titel folgen Humphrey Bogart, Gladys George, Jeffrey Lynn, Frank McHugh und Paul Kelly mit 60 Prozent. Diese Reihenfolge wird schon bei Abschluß des Vertrags festgelegt. Von der vertraglich geregelten Reihenfolge

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weicht man nur in den seltensten Fällen ab. In diesem Fall ist es tatsächlich dazu gekommen, wie eine von Steve Trilling verfaßte Inter-office communication (Warner Bros.) vom 12. Juli 1939 belegt: »Under pressure I made Gladys George sign her contract with the following billing clausure: ›Artist is to receive no less than fifth billing on all positive prints and paid publicity within the control of the company with only the names of JAMES CAGNEY, PRISCILLA LANE, HUMPHREY BOGART and JEFFREY LYNN to precede hers, and artist’s name will be in the same size type as BOGART and LYNN.‹« Weiter heißt es, daß George zwar auf dem vierten Platz bestand, Trilling ihr diesen aber nicht versprechen konnte, da er nicht wußte, ob Lynn vor Bogart genannt werden würde. Er verspricht ihr, den vierten Platz für sie zu reservieren, wenn dies möglich ist. So kommt es dann auch. Das zeigt zwar, daß es Raum für Verhandlungen geben kann; der Grund dafür ist, daß nicht alle Verträge gleichzeitig abgeschlossen werden können und es daher im nachhinein zu Verschiebungen kommen kann. Das gilt aber nicht für die ›echten‹ Stars, deren Verträge die ersten sind, die aufgesetzt werden, und an denen sich alle anderen zu orientieren haben. Der Platz vor dem Titel ist bis ins kleinste Detail vertraglich geregelt – gerade auch im Hinblick auf andere Darsteller. Der Stardiskurs lebt von der Verknappung der Ressourcen, und die Studios wachen darüber. Die Grenze, die der Titel zwischen Star und »featured player« markiert, ist deshalb nicht aushandelbar. Nehmen wir ein noch prominenteres Beispiel: Casablanca (Casablanca, USA 1942, Michael Curtiz). In dem Vertrag vom 24. April 1942, den Warner Bros. und die David O. Selznick Productions schließen, heißt es, Ingrid Bergman betreffend, unter Punkt 20: »Artist shall receive co-star billing with Humphrey Bogart and Paul Hendreid. Artist’s name shall appear on the same line as the line on which Humphrey Bogart’s and Paul Hendreid’s names appear, but Artist’s name shall precede the name of Paul Hendreid. No member of the cast shall receive star or co-star billing except Humphrey Bogart, the Artist and Paul Hendreid. Artist’s name shall precede the title and shall appear in type as least as large as the type used to depict Humphrey Bogart’s and Paul Hendreid’s names and at least as large as the type used for the title of said photoplay.« Angesichts solcher detaillierten Vorgaben scheint es mir unmöglich, einen Platz »above the title« nachzuverhandeln. Das heißt nicht, daß es keine Verhandlungen und Kämpfe um die symbolische Repräsentation von Arbeit gegeben hätte (vgl. Clark 1995), nur gestaltet sich dieses Ringen um Anerkennung viel komplizierter und weniger plump, als Levy das andeutet. Das Druckmittel, die Dreharbeiten wegen angeblicher Krankheit hinauszuzögern, ist angesichts des rigiden Studiosystems nahezu unvorstellbar. 1942 zeigt die RKO-Produktion Magnificent Ambersons (Der Glanz

2005-09-05 10-34-52 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 307-319) T01_22b vorspann.p 93904543718

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des Hauses Amberson, USA 1942, Orson Welles) im Abspann vor einem dunklen Hintergrund, aber in rollenkonformer Aufmachung, eine Auswahl der beteiligten Schauspieler, die aus dem Off von Orson Welles vorgestellt werden (vgl. Casetti 1998: 33f.; Moinereau 2003: 177-179). Die technischen Mitarbeiter werden durch Bilder ihrer Apparate repräsentiert. Dies zeigt, daß die Verknüpfung von Name und Gesicht nur im Fokus auf die Darsteller möglich ist. Aus Sicht der Studios geht es natürlich darum, den Vorspann ihren Interessen gemäß zu gestalten, das heißt, den Systemanforderungen Rechnung zu tragen. Gerade die Geschichte der Aussparungen zeigt, wie das System funktioniert. Es gibt nur wenige Versuche, auch die anderen Mitglieder der Crew im Bild vorzustellen. Beispiele dafür sind Männer (BRD 1985, Doris Dörrie) und Lethal Weapon 4 (Lethal Weapon 4 – Zwei Profis räumen auf, USA 1998, Richard Donner), die aber die Beteiligten nur im Abspann zeigen. Was bleibt aber von dieser Praxis der Vorstellung erhalten, wie wir sie in The Women beobachten können? Emblematische Einstellungen im Filmvorspann sind äußerst selten geworden. Ein Beispiel wäre La Princesse de Clèves, (Die Prinzessin von Kleve, F/I 1960, Jean Delannoy). Hollywoodproduktionen lassen gelegentlich das oben genannte Warner-Format aufleben, so zum Beispiel in Never So Few (Wenn das Blut kocht, USA 1959, John Sturges) oder The Sting (Der Clou, USA 1973, George Roy Hill). Im Fernsehen läßt sich das häufiger beobachten. Dabei geht es aber meist weniger um die Vorstellung der Schauspieler als um die Konturierung der Figuren. Dementsprechend können sogar die Namen der Schauspieler wegfallen, wie Norbert Mengel bemerkt hat: »Die Portraits der Serienfiguren beherrschen den Bildschirm völlig, so daß eingeblendete Credits nur störend wirken würden« (Mengel 1995: 21). Auch in The Women stört etwas. Der Film hält ein ungewöhnliches Format bereit. Hier wird der Name gezeigt, bevor das Gesicht der Schauspielerin in den Blick gerät. Das könnte man zwar als Spannungsmoment, das den Auftritt noch effektvoller gestaltet, abtun. Aber da gibt es noch das Tier, das gleichzeitig mit dem Namen erscheint. Es stört den reibungslosen Übergang vom Namen zum Gesicht. Es prägt sich dem Namen ein und überformt das folgende Gesicht. Diese Zurichtung ist auf den ersten Blick komisch und gibt dem Zuschauer einen Hinweis, das Kommende nicht zu ernst zu nehmen. Dem entspricht auch der Blick in die Kamera, den einige der Darstellerinnen wagen: Ein Augenzwinkern wird inszeniert. Der Vorspann ist aber nicht nur außergewöhnlich, weil er Schauspielergesichter Tieren zuordnet, sondern auch, weil er diese Tiere sehr lange zeigt, bis endlich das Gesicht der Schauspielerin erscheint. Wir lesen: »Rosalind Russell as« und sehen eine fauchende schwarze Katze. Erst mit dem Aufblenden des Rollennamens kommt das Gesicht allmählich zum Vorschein. Nun ersetzt das Gesicht aber nicht einfach das Tier-Bild.

➞ [ Yentl ]

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➞ [ Rasur ]

Dieses wird vielmehr durch die Kombination von Gesicht und Rollenname abgelöst. Das Gesicht gehört mithin nicht mehr ganz zum Namen, sondern ist schon Teil der Rolle. Besonders deutlich wir das bei den grotesken Verformungen, die sich ergeben, wenn das Gesicht der Schauspielerin das Tier nachahmt. Durch den Übergang vom Tier zum Gesicht erspart sich der Film die Tautologie, die Namen Russell oder Shearer oder Goddard mit einem Bild der entsprechenden Schauspielerin zu verknüpfen. Eigentlich wäre der Vorspann der ideale Ort für eine solche Verbindung von Name und Gesicht, doch der Film gönnt sich – im Gegensatz zur Filmwerbung – diese Konstellation nicht. Es geht nicht um die Repräsentation eines Selbst. Schauspielerin im Hollywoodfilm sein heißt, das Gesicht für etwas herzugeben. [ Alexander Böhnke ]

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2005-09-05 10-34-54 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 307-319) T01_22b vorspann.p 93904543718

[ Vorspann ] | 319 Mengel, Norbert (1995): »Den Anfang macht die Ouvertüre. Entwick-

lungen von Serienvor- und abspannen: vom ›notwendigen Übel‹ zum kreativen Freiraum – und zurück«. In: Irmela Schneider (Hg.): Serien-Welten. Strukturen US-amerikanischer Serien aus vier Jahrzehnten, Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 19-41. Metz, Christian (1997): Die unpersönliche Enunziation oder der Ort des Films, Münster: Nodus. Metz, Christian (2000): Der imaginäre Signifikant. Psychoanalyse und Kino, Münster: Nodus. Moinereau, Laurence (2003): »Der Nachspann: Strategien der Trauer«. In: montage/av, 12/2/03, S. 169-181. Musser, Charles (1990): The Emergence of Cinema: The American Screen to 1907, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press. Schweinitz, Jörg (2003): »Die rauchende Wanda. Visuelle Prologe im frühen Spielfilm«. In: montage/av, 12/2/03, S. 89-102. Winterson, Jeanette (2004): »Vixens, Vamps and Vultures«. In: The Guardian, Oktober 29. Online unter: http://film.guardian.co.uk/ features/featurepages/0,4120,1338111,00.html [01.04. 2005].

2005-09-05 10-34-54 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 307-319) T01_22b vorspann.p 93904543718

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[ Widescreen ]

Zwei Augen in Detailaufnahme: Das Breitwandformat des Filmbildes zeigt nicht das gesamte Gesicht, es konzentriert sich statt dessen auf die Augen. Dieser intime Bildausschnitt, der an den Rändern gerade noch Nase und Stirnpartie einfängt, fokussiert Anzeichen großer Anspannung: Deutlich zu erkennen sind die hochgezogenen Augenbrauen, die aufgerissenen Augenlieder, die verschwitzten Hautporen, sogar die verengten Pupillen des mexikanischen Banditen Tuco (Eli Wallach). Dieser ist in Sergio Leones Il Buono, il Brutto, il Cattivo (Zwei glorreiche Halunken, I/E 1966) der Dritte in einem Triple Shootout – doch anders als man vermuten würde, blickt er nicht etwa einen seiner beiden Kontrahenten an. Seine Verortung im filmischen Raum durch die vorangegangenen Establishing shots macht deutlich, daß Tuco ins Leere, in den Raum zwischen den beiden anderen Duellanten starrt. Sein Blick zielt mitten durch das Auge der Kamera hindurch; er ist bei diesem Duell weniger Teilnehmer als vielmehr Beobachter: Gemeinsam mit den Zuschauern scheint er sich zu fragen, wer aus diesem Shootout wohl lebend hervorgehen wird. Entgegen des deutschen Verleihtitels »Zwei glorreiche Halunken« sind es gleich drei, zudem wenig glorreiche Kontrahenten, die sich in dieser Schlußsequenz von Sergio Leones drittem und kommerziell erfolgreichsten Western im Duell – man könnte sagen: im ›Triell‹ – gegenüberstehen. Der Showdown, in dem der ›gute‹ Cowboy gegen den ›bösen‹ Outlaw antritt, verweist zwar auf eines der zentralen Mythologeme des amerikanischen Westerngenres. Jedoch handelt es

➞ [ Auge ]

2005-09-05 10-34-58 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 323-333) T01_23b widescreen.p 93904543750

324 | [ Gereon Blaseio ]

➞ [ Vorspann ]

➞ [ Narbe ]

sich bei diesem Film nicht um einen US-Western klassischen Stils, sondern um einen in Italien und Spanien gedrehten ›Spaghetti‹-Western, der entstand, als die Blütezeit des Genres in den USA schon einige Jahre vorbei und die amerikanische Pionierzeit bereits Gegenstand zahlreicher Fernsehformate geworden war. Der Italiener Leone gilt nicht umsonst als Begründer des Subgenres Italowestern: Sein Erstling in diesem Genre Per un pugno di Dollari (Für eine Handvoll Dollar, I/E/BRD 1964) war zwar ein Remake von Akira Kurosawas Yojimbo (J 1961), und sicher nicht der erste italienische – geschweige denn europäische – Western (vgl. Otto 1999). Jedoch zeigte der unerwartete, europaweit große kommerzielle Erfolg dieses Films, der in seiner Überbietungsdramaturgie gleich mehrere Shootout-Sequenzen aneinanderreiht, der italienischen Filmwirtschaft einen Ausweg aus der – durch den Rückzug Hollywoods aus Cinecittà verursachten – finanziellen Krise. Im Zeitraum einer Dekade entstanden so fast 400 Italowestern, und die Detailaufnahme der Augen im WidescreenBildformat gehört zu ihren markantesten Einstellungen; sie wird zu einem häufig zitierten Signature shot des gesamten Genres. Daher soll im folgenden zunächst geklärt werden, welche Funktion diese Einstellung im vorliegenden Film einnimmt, um dann das Problem der Darstellbarkeit von Gesichtern in Widescreen-Bildformaten zu diskutieren. Anhand von Leones drittem Italowestern, Il Buono, il Brutto, il Cattivo, der Geschichte einer Schatzsuche mitten im amerikanischen Bürgerkrieg, kann besonders deutlich gezeigt werden, wie sehr in diesem Subgenre die Vorgaben des US-Westerns ausgestellt, zugleich aber auch umgeschrieben und dabei an differente kulturelle Narrative angepaßt werden. Drei handschriftliche Texteinblendungen über eingefrorenen Standbildern verdeutlichen in den ersten 30 Minuten, welcher Protagonist des Films welche der (originalen) Titelrollen einnimmt – die klischierten, vom Genre vorgesehenen Positionen des »Guten« (Clint Eastwood) und des »Bösen« (Lee van Cleef). Der »Häßliche« Tuco jedoch verkörpert in Leones Western (und nicht nur dort) einen neuartigen Heldentypus: Der Regisseur kreiert damit eine im Western bis dahin unbekannte Figur, die in das Spannungsverhältnis des klassischen Shootouts eintritt. Während der ›gute‹ Blonde, der zu Beginn noch den ›häßlichen‹ Tuco beinahe verdursten läßt, im weiteren Verlauf der Handlung angesichts des Todes zahlreicher Soldaten im Bürgerkrieg deutlich erkennbare Emotionen und moralische Skrupel zeigt, operiert Wallachs Tuco als der spanischen Literaturgeschichte entlehnte pikareske Figur, deren einzige Motivation die Gier nach Gold ist. Zugleich erfahren wir (in der rekonstruierten Filmfassung) von seiner Vergangenheit, vor allem über sein Verhältnis zu seinem Bruder, einem Priester. Anders als beim Blonden oder dem ›bösen‹ Sentenza wird so die Motivation Tucos verständlich gemacht. Die Kamera nimmt durch subjektive Einstellungen immer wieder

2005-09-05 10-34-58 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 323-333) T01_23b widescreen.p 93904543750

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seine Perspektive ein und bringt ihn damit den Zuschauern deutlich näher als Eastwoods Figur, den distanziert bleibenden ›Helden‹ der früheren Italowestern Leones. Gerade die Mise-en-scène des Shootouts, der am Ende des fast dreistündigen epischen Films steht, fügt den klassischen Motiven des US-Westerns eine antike, auf italienische Wurzeln verweisende Note bei: Zu unserer Überraschung finden wir inmitten eines Soldatenfriedhofs, der durch mehrere Totalen aus drei unterschiedlichen Perspektiven von oben eingeführt wird, eine steinerne Arena vor. In den folgenden, nunmehr halbtotalen Einstellungen nehmen die drei Akteure langsam und theatral ihre Positionen in der Arena ein, begleitet von der Mariachiklänge und die Opern Verdis gleichermaßen zitierenden Musik Ennio Morricones – ausbuchstabiert wird hier die amerikanische Redewendung vom Western als »Horse Opera«. Im Übergang zur Halbnahen wird durch Shoulder shots verdeutlicht, in welche Richtung sie einander anblicken – und damit auch: in welche Richtung sie zielen müssen. Zahlreiche, zunächst langsame, dann zunehmend schneller werdende Schnittfolgen im Rhythmus der (bereits vor Beginn der Dreharbeiten aufgenommenen) Musik lassen die Kamera, ohne daß sie mit Zoom oder Dolly-Fahrten (Travelling shots) operiert, den Gesichtern der Protagonisten näherkommen. Dabei bricht die Kamera die 180-Grad-Regel des Hollywood-Kinos nicht, sondern stellt sie durch die ständige Repetition typischer Establishing shots aus unterschiedlichen Kamerahöhen aus. Es dauert insgesamt fast sechs Minuten, bis unmittelbar vor dem Schußwechsel, in einer stakkatoartig geschnittenen ›Arie der Blicke‹ mit der Detailaufnahme der Augen aller drei Protagonisten jene Einstellungen zum Einsatz kommen, die den Regisseur und das von ihm begründete Genre berühmt gemacht haben. In diesen extremen Nahaufnahmen der Augen, die so nur in einem sehr breiten Filmformat aufgenommen werden können, wirkt der ›böse‹ Sentenza unsicher, als wisse er nicht, auf wen er zielen soll; seine hin und her schweifenden Blicke positionieren ihn räumlich zwischen dem »Guten« und dem »Häßlichen«. Der »Gute« hingegen konzentriert seine Blicke auf den »Bösen« und sieht nur gelegentlich zum »Häßlichen« hinüber. Diese im Detail eingefangenen Blickduelle können dem Zuschauer den Ausgang des Shootouts nicht verraten, sie lassen ihn lediglich Vermutungen anstellen (und erzeugen dadurch Spannung). Ebensowenig wie die anderen beiden Duellanten weiß der Zuschauer, daß einer der drei Protagonisten ›mit gezinkten Karten spielt‹. Nur der namenlose Blonde hat in Erfahrung bringen können, in welchem Grab auf diesem riesigen Gelände der Schatz vergraben liegt, und dieses Wissen setzt er gleichsam als Prämie für den Sieger aus. Der Blonde gibt vor, den Namen auf diesem Grab in einen Stein einzuritzen, den er in der Mitte der Arena, genau zwischen den drei Kombattanten, ablegt. Jedoch spielt er da-

➞ [ Blick ]

➞ [ Exzeß ]

2005-09-05 10-34-58 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 323-333) T01_23b widescreen.p 93904543750

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bei gleich doppelt falsch: Zum einen ist der Stein unbeschriftet, denn es handelt sich um das namenlose Grab eines Soldaten, zum anderen weiß er, daß es sich tatsächlich nur um ein Duell (und kein ›Triell‹) handelt, denn er selbst hat Tucos Pistole in der Nacht zuvor entladen. Mit diesem Trick überlistet er den ›bösen‹ Sentenza: Der zieht zwar als erster, blickt sich aber noch beim Zielen nach Tuco um und fällt, von der Kugel des Blonden getroffen, in ein bereits ausgehobenes Grab am Rand der Arena. Der vermeintlich ›Gute‹ ist, zumindest wenn man den Ehrenkodex des klassischen Westernhelden zum Maßstab nimmt, moralisch ebenso fragwürdig wie sein ›böses‹ Gegenüber – ein weiterer Hinweis darauf, wie sehr der italienische Western die klassischen Vorgaben dieses amerikanischen Gründungsgenres umschreibt. Die Etikettierungen, die den Protagonisten durch die handgeschriebenen Texteinblendungen il Buono, il Brutto, il Cattivo zu Beginn zugeordnet werden, verraten uns ebensowenig über die Absichten ihrer Träger wie die ausgeklügelte Blickdramaturgie in der Shootout-Sequenz. Die extreme Nahaufnahme der Augen könnte jedoch bei Leone auch völlig anders motiviert sein, wie es der nicht nur bei Cineasten bekanntere Augenshot aus seinem folgenden Film C’era una volta il West (Spiel mir das Lied vom Tod, I/USA 1968) nahelegt: Dort zoomt während des abschließenden Duells zwischen »Harmonica« – dem fremden Mann mit der Mundharmonika (Charles Bronson) – und Frank (Henry Fonda) die Kamera aus einer halbnahen Position ganz nah an das Gesicht von »Harmonika« heran. Mit einem musikalisch vorweggenommenen Schnitt setzt eine Rückblende ein, in der wir den jungen Frank sehen. Nach einem Schnitt zurück auf »Harmonicas« Gesicht fährt die Kamera noch näher an seine Augen heran, bis diese das gesamte Breitwandbild ausfüllen. Die nun einsetzende Rückblende, in der dieser den von Frank verübten Mord seines Bruders noch einmal erlebt, wird (durch Schnitt-Gegenschnitt auf die Augen Harmonicas) diese Schnittfolge eindeutig als seine Erinnerung ausgewiesen; zugleich liefert sie im nachhinein eine Erklärung für sein bislang eher enigmatisches Verhalten. Im Kontrast dazu machen die entsprechenden Einstellungen in Il Buono, il Brutto, il Cattivo gerade die Unmöglichkeit deutlich, in die Gedankenwelt dieser drei Protagonisten einzudringen. Zwar erlauben sie es den Zuschauern, die Augen der Kontrahenten immer genauer zu beobachten und ihre Blicke nachzuvollziehen: Auf wen werden die Duellanten zielen, die sich im Verlauf der vergangenen zweieinhalb Stunden Spielfilmzeit (und in Monaten erzählter Zeit) bereits unzählige Male gegenseitig betrogen und umzubringen versucht haben? Oder bemühen sie sich mittels ihrer Blicke um eine interne Absprache? Einer Montage der Attraktionen vergleichbar, werden die Detailaufnahmen zur Spannungssteigerung gegengeschnitten mit Detailaufnahmen der zitternden Hände an den Pistolen. Mit dem frühen russischen Montagetheoretiker Lev

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Kulesˇov könnte man sagen: In diesem Shootout können Blicke zielsicherer töten als Waffen. Wie gezeigt wurde, steht diese Art der Close-up-Montage ganz verschiedenen Bedeutungszuschreibungen offen. Über den Italowestern hinaus ist sie inzwischen als Verfahren im populären Kino etabliert, wo sie bisweilen als ein Markenzeichen Sergio Leones verwendet wird. Über den Autodidakten Quentin Tarantino wird erzählt, er habe seinen Kameramann bei den Dreharbeiten zu seinem ersten Film Reservoir Dogs (USA 1992) – offenbar in Ermangelung des nötigen Fachvokabulars, einer »extreme Close-up« – angewiesen: »I want a Sergio Leone on this guy!« Und auch Ralph Richardson, der die Kamera bei Tarantinos zweiteiliger Martial-Arts- und Italo-WesternHommage Kill Bill (USA 2003/2004) führte, berichtet in der Fachzeitschrift American Cinematographer: »When he wanted that particular kind of close-up, with a very specific angle and a very specific size, he’d say, ›Give me a Leone,‹ and I knew exactly what he meant« (zit. in Pavlus 2003). Kein Wunder, entwickelte sich doch diese Einstellung, die zuvor im Hollywoodkino völlig unüblich war, vor allem ab den frühen 1980er Jahren zu einem der favorisierten inszenatorischen Mittel. Insbesondere Regisseure wie John Milius, John Carpenter, Richard Donner und James Cameron, die im Kontext des BLAM! (Big Loud Action Movie) arbeiteten, verwendeten Leones Markenzeichen gerne und häufig zur Spannungssteigerung. Dabei ist Tarantino, was das Zitieren filmischer Verfahren betrifft, seinem Vorbild nicht unähnlich – auch Sergio Leone war bekannt für die eklektische Ansammlung ganz verschiedener Einflüsse in seinen Filmen, nicht nur genuin filmischer Art, sondern etwa auch aus der surrealistischen Malerei von Salvador Dalí und Yves Tanguy, die maßgeblichen Einfluß auf die Inszenierung der kargen Wüsten- und Steppenlandschaften in Leones Western genommen haben. Und gilt Tarantino als ein wichtiger Vertreter des postmodernen Kinos der 1990er Jahre, so ist Leone von keinem geringeren als Jean Baudrillard zum Gründervater des postmodernen Films erklärt worden. Wie der Leone-Experte Christopher Frayling, Verfasser eines Standardwerks zum Italo-Western (Frayling 1981) und einer umfangreichen Biographie Sergio Leones (Frayling 2000), im Audiokommentar zur deutschen DVD-Veröffentlichung von C’era una volta il West bemerkt, handelt es sich bei diesem Film Baudrillard zufolge nicht um einen Western, sondern um ein umfassendes Kompendium des gesamten Westerngenres. Dies gilt auch für die anderen Filme Leones: Die in Per un pugno di Dollari berühmt gewordene Gunpoint-Perspektive etwa, die offen gegen die Zensurbestimmungen des 1934 durchgesetzten Production Code Hollywoods verstößt, indem sie das Abfeuern einer Waffe und die Auswirkungen des Schusses gleichzeitig zeigt, übernimmt Leone aus dem Finale des von Samuel Fuller ebenfalls in Breitwand gedrehten B-Westerns Forty Guns (Vierzig Gewehre, USA

2005-09-05 10-34-58 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 323-333) T01_23b widescreen.p 93904543750

328 | [ Gereon Blaseio ]

➞ [ Grimasse ]

1957). Die Detailaufnahme der Augen im Widescreen-Format, die erst in Leones zweitem Italo-Western Per qualche dollaro in più (Für ein paar Dollar mehr, I/E/BRD/MC 1965) ihr Debüt feiert, kann dennoch mit Tarantino als originärer Leone-Shot bezeichnet werden: Leone ist der erste Regisseur, der im Breitwandfilm dem Gesicht wieder derartig nahekommt. Er inszenierte seine Italowestern nicht im klassischen und seit den 1950er Jahren im Mainstreamfilm ausgedienten Bildformat von 1,33:1 bzw. 1,37:1 (die Veränderung wurde durch den Tonfilm bedingt), sondern in Techniscope mit einem Bildverhältnis von 2,35:1. Um die Bedeutung dieses Bildformats für die Inszenierung des Filmgesichts (nicht nur bei Leone) besser beurteilen zu können, zunächst ein kurzer Blick auf die historische Entwicklung und Etablierung der verschiedenen Widescreen-Formate. Schon Thomas Alva Edison, dessen Mitarbeiter das Bildformat von 1,33:1 festlegten, experimentierte mit breiteren Filmmaterialien, unter anderem mit 70mm-Film. Während in Europa verschiedene Breitwandsysteme bereits in der Stummfilmzeit zum Einsatz kamen (etwa Polyvision, die drei nebeneinander projizierten Filmbilder in der letzten Filmrolle von Abel Gances Napoléon [ F 1927 ], mit einem bis heute unerreichten Seitenverhältnis von 4:1), war es in den USA das Major-Studio Fox, das zu Beginn der 1930er Jahre mit dem 70mmVerfahren Grandeur (Seitenverhältnis 2,13:1) antrat. Jedoch blieben diese frühen Versuche, breitere Bildformate zu etablieren, kommerziell zunächst aussichtslos: Wie John Belton in seiner verdienstvollen Pionierstudie Widescreen Cinema (Belton 1992) ausführt, war es schlicht für die meisten Kinos zu früh, um nach der teuren Umrüstung von Stumm- auf Tonfilm weitere technische Umbauten vorzunehmen. In den 1950er Jahren aber erlebte das Kino eine zuvor ungeahnte Konkurrenz: Ließ sich in den 1930er Jahren das Medium Radio noch als Werbeträger für die Filmindustrie nutzen, machte sich der zunehmende Erfolg des Fernsehens verstärkt auch in den immer leerer werdenden Kinokassen bemerkbar. Die Studios bemühten sich mit unterschiedlichen Strategien, die Zuschauer wieder zurück in die Kinosäle zu holen. Neben 3-D, neuartigen Farbverfahren und Stereoton schien aber insbesondere eine Veränderung des Bildformats (bei gleichzeitiger Vergrößerung der Kinoleinwände) erfolgversprechend, konnte so doch die Differenz zu den (im Edison-Format 1,33:1 sendenden) kleinen Fernsehgeräten am deutlichsten demonstriert werden. Immens erfolgreicher Vorreiter war dabei das 1952 erstaufgeführte Breitwandverfahren Cinerama, das mittels dreier Projektoren auf riesigen, um 165 Grad gebogenen Leinwänden mit Bildformaten bis zu 3:1 und unter Einsatz von direktionalem Sechskanalton den Zuschauern das Gefühl vermittelte, ins Geschehen integriert zu sein. Entsprechend waren die frühen Cinerama-Filme auch nicht als Spielfilme konzipiert, sondern entsprachen eher dem Cinema of Attractions der Stummfilmzeit. Das Bemühen richtete sich dabei auf das

2005-09-05 10-34-58 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 323-333) T01_23b widescreen.p 93904543750

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möglichst spektakuläre Ausfüllen des gesamten Bildes. Arbeitet der erste in diesem Format gedrehte Film This is Cinerama (Das ist Cinerama, USA 1952) im Prolog noch mit Großaufnahmen des Moderators – und verwendet dafür das klassische Bildformat 1,37:1 –, so operiert der restliche Film nach der Erweiterung auf die gesamte Cinerama-Leinwand nur noch in der Totalen. Der Erfolg des unabhängig von Hollywood entwickelten Cinerama ließ die Hollywood-Majors nicht ruhen: Trotz der Bemühungen von Fox, mit dem eigenen Verfahren Cinemascope 1953 einen industrieweiten Standard zu schaffen, entwickelten auch andere Studios eigene Breitwandverfahren. Dies führte letztlich zu einer Vielzahl unterschiedlicher Bildformate, von denen bis heute 1,66:1, 1,85:1 und 2,35:1 noch die gebräuchlichsten sind. Einer der Gründe für die gescheiterte Normierung war, daß die anamorphotisch verzerrende Linse, auf der Cinemascope beruhte, bereits in den 1920er Jahren von Henri Chrétien entwickelt worden und mittlerweile nicht länger urheberrechtlich geschützt war. Chrétiens Linse stauchte das Breitwandbild während der Aufnahme auf 35mm-Filmmaterial zusammen; in den Kinos sorgte ein entsprechender Aufsatz wieder für die Entzerrung des Bildes und damit für die Füllung der breiten Leinwand. Gerade wegen der zahlreichen Nachahmer, die sich des gleichen technischen Verfahrens bedienten (u.a. Naturama, Spectrascope und Regalscope, aber auch internationale Kopien wie Franscope, Tohoscope oder Shawscope) wurde Cinemascope mit einem Bildformat von zunächst 2,55:1, später dann aufgrund der Hinzufügung einer zusätzlich Monotonspur von 2,35:1 das international bekannteste Breitwandformat. Die bei diesem Verfahren verwendeten Linsen zeigten aber, gerade in der Frühphase, auch deutliche Nachteile: Neben der erforderlich gewordenen stärkeren Ausleuchtung waren vor allem die seit Citizen Kane (Citizen Kane, USA 1941, Orson Welles) etablierten Verfahren der Schärfentiefe-Fotografie unter Cinemascope-Bedingungen nicht anwendbar. Obwohl räumliche Tiefe zu den beworbenen Eigenschaften gehörte (der Werbespruch »You can see it without glasses!« war zugleich ein deutlicher Seitenhieb auf die Kopfschmerz verursachenden Brillen des anaglyphen 3-D-Bildes), mußte Räumlichkeit über die Mise-en-scène erzielt werden. So marschieren etwa im ersten veröffentlichten Cinemascope-Film The Robe (Das Gewand, USA 1953, Henry Koster) die römischen Legionen diagonal durchs Bild, und etliche Szenen operieren mit betonten Fluchtperspektiven. Der entscheidende Unterschied zu den etablierten Inszenierungsverfahren des klassischen Hollywoodkinos lag aber im veränderten Umgang mit den Kameraeinstellungen: Im frühen Breitwandkino fanden sich so gut wie keine Nahaufnahmen und nur wenige halbnahe Einstellungen. Nicht nur die problematischen anamorphotischen Linsen, auch das technische Dispositiv des doppelt so breiten

➞ [ Frisur ]

2005-09-05 10-34-58 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 323-333) T01_23b widescreen.p 93904543750

330 | [ Gereon Blaseio ]

➞ [ Casting ]

Bildformats machte ein Ausfüllen der Leinwand mit einem vollständig wiedergegebenen Gesicht unmöglich. Eine klassische Großaufnahme tendierte in Breitwand durch den hinzukommenden Hintergrund an den Seiten zu einer Halbnahen, allzu nahe Einstellungen gerieten leicht unscharf. Die zunächst bei Cinemascope vorgeschriebenen riesigen Leinwände ließen es aber zunächst durchaus verzichtbar erscheinen, Gesichter leinwandfüllend zu zeigen. Statt dessen dominierten in The Robe und zahlreichen weiteren Breitwandfilmen der 1950er Jahre Panorama-Einstellungen und Long shots; Gesprächssituationen wurden vorrangig als Medium shot wiedergegeben, wobei freie Bildflächen durch Dekor oder Statisten aufgefüllt wurden. Im zuerst gedrehten, dann aber erst als zweiter Cinemascope-Film veröffentlichten How to marry a millionaire (Wie angelt man sich einen Millionär?, USA 1953, Jean Negulesco) räkeln sich Marilyn Monroe, Lauren Bacall und Betty Grable bevorzugt auf im Raum verteilten Kanapees oder werden einzeln liegend im Bett gezeigt, um die volle Bildbreite ausnutzen zu können – ein Alptraum für die spätere Fernsehbearbeitung, die bei der Umwandlung in ein Fernsehvollbild von 1,33:1 (Pan&Scan genannt) jeweils einen Bildausschnitt privilegieren mußte (und dabei oft versuchte, aus den vorhandenen halbnahen Aufnahmen Großaufnahmen der Stars zu gewinnen). Die Nahaufnahme des Gesichts verschwand ebenfalls bald aus den Kinos, da sie inzwischen zu einem bevorzugten inszenatorischen Mittel des Fernsehens geworden war. Um auf den kleinen Bildschirmen Emotionen vermitteln zu können, wurde der Close-up zur Standardeinstellung nicht allein des frühen Fernsehens. So zelebrierte einer der im Umgang mit Breitwand experimentellsten Filme der 1950er Jahre, A Star is born (Ein neuer Stern am Himmel, USA 1954, George Cukor), genüßlich den Unterschied von Fernsehformat und Cinemascope: Bei einer Preisverleihung werden zwei Drittel des Bildes mit einer Totalen der Bühne ausgefüllt; lediglich ein Drittel füllt eine grobkörnige Großaufnahme von Judy Garlands Gesicht als – noch dazu schwarzweiße – Fernsehübertragung. Die größte Konkurrenz erwuchs Cinemascope im nur ein Jahr später vorgestellten Breitwandverfahren der Paramount: Bei VistaVision lief der 35mm-Filmstreifen horizontal durch die Kamera. Entsprechend waren die – durch geringe Umbaumaßnahmen nutzbaren – Kameras nicht auf die anamorphotischen Linsen, mit denen Cinemascope vor allem zu kämpfen hatte, angewiesen. Durch die Verwendung von sphärischen Linsen (die Linsenachse mußte allerdings zentriert werden) konnten VistaVision-Filme mit einer viel größeren Tiefenschärfe operieren; zudem blieb die vorzuführende Bildbreite variabel und allein von der bei der Vorführung eingesetzten Maske abhängig – eingesetzt wurden Bildverhältnisse zwischen dem Standardformat 1,33:1 bis hin zu 2:1. Allerdings brachte die Vielfalt an möglichen Aufführungs-Bildverhältnissen einige kompositorische

2005-09-05 10-34-58 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 323-333) T01_23b widescreen.p 93904543750

[ Widescreen ] | 331

Einschränkungen mit sich: Regisseur und Kameramann mußten jede einzelne Bildkomposition für unterschiedliche Bildverhältnisse sichern. Deutlich erkennbar sind diese technischen Voraussetzungen gerade im ersten VistaVision-Film, dem Irving-Berlin-Musical White Christmas (Weiße Weihnachten, USA 1954, Michael Curtiz): Die auf der in Deutschland erhältlichen DVD enthaltene Fassung ist im Bildformat 1,78:1 abgetastet (keines der ursprünglichen VistaVision-Formate, sondern eine Anpassung an die moderne Fernsehnorm 16:9). Um auch eine Vorführung in 2:1 gewährleisten zu können, läßt gerade die Komposition der Tanzszenen in diesem Format ungewohnt viel Raum über den Köpfen und unter den Füßen der Tänzer; zumeist wird das Bild durch eine bühnennahe Mise-en-scène nochmals oben und unten gerahmt, wobei diese Rahmung dann in der vollen Breitbildfassung nicht mehr sichtbar ist. Und obwohl VistaVision durch den Wegfall der anamorphotischen Linsen in technischer Hinsicht die Großaufnahme von Gesichtern wieder ermöglichte, hätten Close-ups, die das klassische Bildformat 1,37:1 gefüllt hätten, im breiteren Format die Haare abgeschnitten, während die Komposition von Nahaufnahmen in 2:1 bei der Vorführung im Vollbild durch den hinzukommenden Bildraum verlorengegangen wäre. Vor allem technische Limitationen und kompositorische Bedenken waren es also, die die Großaufnahme auf der Breitleinwand des Hollywoodkinos der 1950er und 1960er Jahre unzweckmäßig erscheinen ließen. Und von technischen Limitationen war auch jenes Breitwandverfahren gekennzeichnet, das Sergio Leone in seinen Italo-Western benutzte: Techniscope, entwickelt vom italienischen Ableger der Firma Technicolor in Rom, galt als preiswerte europäische Alternative zu den kostenintensiven anamorphotischen Verfahren. Belichtet wurden nicht die standardisierten vier Perforationen des 35mm-Filmmaterials, sondern nur noch zwei. Diese Reduktion ging zunächst mit einem sichtbaren Qualitätsverlust einher: Es stand ja nunmehr nur noch die Hälfte an belichtetem Material zur Verfügung, das beim Erstellen der Filmkopien dann auf die volle Bildhöhe ›aufgeblasen‹ und im Kino mit den herkömmlichen anamorphotischen Linsen wieder entzerrt wurde. Ein wichtiger Kostenvorteil aber war die deutliche Verringerung des benötigten Filmmaterials bei den Dreharbeiten. Zudem ermöglichte Techniscope die Aufnahme von Breitwandbildern im Format von 2,35:1 mit herkömmlichen sphärischen Linsen und Kameras, bei denen lediglich der Filmtransport und der Sucher umgestellt werden mußten. So war es Leone in Techniscope möglich, zuvor im Breitwandformat ungesehene Einstellungen zu realisieren: Anamorphotische Verfahren waren, wie oben beschrieben, gar nicht in der Lage, derartig nahe an Gegenstände heranzugehen, wie dies Techniscope ermöglichte. Leone nutzte das Spektrum dieser technischen Möglichkeiten voll aus: Seine Italowestern stellen zahlreiche extreme Weitwinkel-

2005-09-05 10-34-58 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 323-333) T01_23b widescreen.p 93904543750

332 | [ Gereon Blaseio ]

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und Nahaufnahmen, aber ebenso vielfältige Schärfentiefe-Kompositionen aus. Der von Leone verwendete Establishing shot wechselt immer wieder zwischen Panorama- und Nahaufnahme, wobei Nahaufnahmen auch dann sekundenlang auf den Protagonisten verweilen, wenn diese überhaupt keine Regung zeigen. Schon die erste Einstellung von Il Buono, Il Brutto, Il Cattivo scheint in ihrer Komik diese in Leones ersten beiden Italowestern entwickelte Herangehensweise nicht nur auszuschöpfen, sondern zugleich bereits selbstreflexiv zu parodieren. In der Panoramaaufnahme einer Wüstenlandschaft taucht plötzlich das Gesicht eines verdreckten Outlaws in Nahaufnahme auf, ohne daß dies über eine Veränderung der Kameraposition oder einen Schnitt realisiert werden müßte. Dieser blickt sekundenlang in die Kamera, bis durch einen Gegenschnitt die subjektive Position des Outlaws eingenommen wird und wir sehen, daß er eine verlassene Wüstenansiedlung beobachtet. Zugleich setzte sich Leone inhaltlich wie formal über zahlreiche implizite Regeln nicht nur des Genres, sondern auch der inszenatorischen Verfahren des klassischen Hollywoodstils hinweg; den diegetischen Outlaws seiner Filme wird gleichsam der regelverletzende Regisseur als ›Outlaw‹ zur Seite gestellt. Die bereits angemerkten kommentierenden Texteinblendungen, aber auch der direkte Blick Tucos in die Kamera sind nach den Konventionen Hollywoods grundlegende Regelverstöße, durchbrechen sie doch wie im frühen Attraktionskino die Kontinuität der Handlung. Leone richtet seine Kamera mit Vorliebe auf Gesichter, die im Starsystem Hollywoods undenkbar gewesen wären: alle männlichen Figuren der Filme sind unrasiert und wenig ansehnlich. Zahlreiche – auch weibliche – Nebenfiguren verweisen deutlich auf die ausdrucksstarken, oft skurril-häßlichen Gesichter in Federico Fellinis Filmen (vgl. Strich 1986), wobei das von Leone oft eingesetzte chargierende Spiel derartige Gesichtszüge noch unterstreicht. Die verwitterten Gesichter der Protagonisten werden dabei in Detailaufnahmen fragmentiert, die mit dem gleichen Interesse auf Schweißperlen wie auf faltendurchfurchten, regungslosen Augenpartien (oder auch auf Lee van Cleefs fehlender Fingerkuppe) verweilen. Leone erzeugt dadurch scheinbar größtmögliche Intimität, kommentiert diese jedoch zugleich und setzt immer auch ihre Inszeniertheit in Szene – in den Schlußsekunden seines letzten Westerns Giu la testa (Todesmelodie, I 1972) blickt ein, Tuco nicht unähnlich sehender mexikanischer Bandit namens Juan (Rod Steiger) nach dem Tod seines Freundes, des Sprengstoffexperten Sean (James Coburn), direkt in die Kamera und fragt traurig: »Und was ist mit mir?«, nur um mit der Einblendung des Filmtitels eine, wenn auch wenig charmante, Antwort zu erhalten: Die von Leone präferierte englische Übersetzung des Titels lautet ›Duck, you Sucker‹. [ Gereon Blaseio ]

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Die Kamera nimmt in einer statischen Einstellung einen jungen Mann in den Blick. Er hat schwarzes lockiges Haar, dunkle Augen und einen schwarzen Schnurrbart, als Kopfbedeckung trägt er eine flache Kappe, wie es in der Region üblich ist. Sein Gesicht zeichnet sich durch ebenmäßige, klar geschnittene Züge aus, die den alten Ruhm kaukasischer Schönheit begründen. In einer taillierten, mit Stickereien und Perlenschnüren besetzten Tracht kommt die schlanke, hochgewachsene Gestalt zur Geltung. Seine Waffen – Säbel und Schild – sind reich verziert, genauso wie das traditionelle, bis an die Knöchel reichende Gewand, das eine Frau in der vorausgehenden Einstellung trägt, und die über ihr dunkles Haar ein mit Ornamenten geschmücktes Tuch gelegt hat. Vor der überwältigenden Naturkulisse exotischer Gebirgslandschaften entwickeln die fremd anmutenden Gesichter der kaukasischen Bergbewohner eine besondere Faszinationskraft. In einer Serie von Groß- und Nahaufnahmen wird in dem Spielfilm Eliso (UdSSR ˇ engelaja) eine ganze Galerie ethnographischer Typen 1928, Nikolaj S und Physiognomien entfaltet, wobei sich der Kamerablick vor allem auf die Gesichtszüge, Frisuren, Kopfbedeckungen, Kleider und Trachten der Kaukasier richtet (vgl. Radde 1878; Plaetschke 1929). Diese

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Aufnahmen erinnern noch stark an die Tradition früher dokumentarischer Reisefilme, in denen das fremde Gesicht in Großaufnahme jenseits einer erzählten Geschichte als Attraktion eingesetzt wurde, um ein neugieriges Publikum in Staunen zu versetzen. Das zur Schau gestellte Gesicht war hier weniger Träger eines individuellen Ausdrucks, sondern stand vielmehr für einen Typ oder eine Physiognomie des Fremden (vgl. Gunning 1990; Kessler 2002). In Eliso werden im Spannungsfeld zwischen Attraktion und Narration zwei Gesichter durch ihre Namen aus der ethnographischen Galerie herausgehoben. Diese Gesichter sind andeutungsweise mit einer Geschichte verbunden: Es handelt sich dabei um die Liebesgeschichte zwischen der muslimischen Tschetschenin Eliso und dem christlich-georgischen Chevsuren Vazˇia. Mit dem Blick auf die Gesichter dieser Figuren ist noch einmal die Frage aufzugreifen, die bereits Béla Balázs gestellt hat: »Wieviel ist Typus und wieviel ist Individualität, wieviel ist Rasse und wieviel Persönlichkeit im Menschen« (Balázs 1924/2001: 41)? Welcher Status kommt den fremden Gesichtern zu? Bleibt es bei einer ethnographischen Typisierung, die über die physiognomische Klassifikation das Individuelle dem Allgemeinen unterordnet und damit dem Gesicht eine eindeutige Lesbarkeit im Sinne einer Idealtypik der Fremdzuschreibung verleiht? Oder können sich die zunächst als ›typisch‹ gezeigten Gesichter im Prozeß ihrer filmischen Medialisierung zu Spiegeln eines inneren Seelenlebens entwickeln? Findet in der Entfaltung einer zu erzählenden Geschichte ein Prozeß der Individualisierung statt, der sich über das Gesicht manifestiert? Läßt sich eine Subjektivierung der Perspektive beobachten, die ein Wechselspiel zwischen dem Eigenen und dem Fremden bzw. dem Anderen ermöglicht? Bevor ich mich eingehender diesen Fragen zuwende, zunächst einige allgemeinere Überlegungen zur Grenzregion des Kaukasus, die historisch eine wichtige Projektionsfläche für unterschiedliche Vorstellungen des Eigenen und des Fremden darstellt. In der filmischen Inszenierung der kaukasischen Landschaft wirkt – wenn wir die Traditionen genauer betrachten – eine Ästhetik des Erhabenen fort, aus deren Perspektive der Kaukasus seit dem 18. Jahrhundert in der russischen Kultur in Analogie zur Gebirgswelt der Alpen als machtvolle und überwältigende, die Affekte stimulierende Natur wahrgenommen wird. Einen großen Anteil an der Stilisierung des Kaukasus zu einem exotischen Ort der Sehnsucht nach Ursprünglichkeit und Verbundenheit mit der Natur hat die Literatur der russischen Romantik. Aleksandr Pusˇkin oder Michail Lermontov erkannten in den Bergbewohnern, denen sie Schönheit und Freiheitsliebe, aber auch List und Brutalität zuschrieben, die Verkörperung von ›edlen Wilden‹. Seit dem 19. Jahrhundert sieht sich die russisch-christliche Kultur bei der Durchsetzung ihrer hegemonialen Ansprüche im

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Kaukasus als Grenzraum zwischen Europa und Asien mit einer fremden islamischen Kultur konfrontiert. Nach einer im wesentlichen freiwilligen Unterordnung der christlichen Armenier und Georgier strebte Rußland im sogenannten Kaukasischen Krieg (1817-1864) eine Eroberung der Gebirgsregion des Kaukasus an, um die Landverbindung nach Süden zu den annektierten transkaukasischen Gebieten zu sichern. Aus russischer Sicht wurde dieser aus imperialem Expansionsinteresse geführte Kolonialkrieg zu einem Befreiungskrieg gegen das Osmanische Reich im Kampf der christlichen Aufklärung gegen einen rückständigen Islam deklariert. Im Kaukasus entdeckte man im Zuge der Aneignung des westeuropäischen Orientalismusdiskurses (vgl. Said 1978) eine Art »russischen Orient« (vgl. Layton 1994; Frank 1998). Die islamische Kultur galt in diesem Zusammenhang als Inbegriff für das Orientalische, als das Andere der westlichen Zivilisation – einerseits verstanden als die nicht entwickelte Kultur, andererseits aber auch als die unverdorbene und regenerierende Natur. Vor diesem Hintergrund ist das Verhältnis zum Kaukasus und seinen Bewohnern durch eine Ambivalenz aus Faszination und Furcht gekennzeichnet, die das Fremde als etwas Anziehendes und Begehrenswertes, zugleich aber auch Angsterregendes und Barbarisches erscheinen lassen (vgl. Erdheim 1987). Der auf einen historischen Romanstoff zurückgehende Film Eliso ˇ engelaja behandelt mit revolutionärem Pathos im Jahr von Nikolaj S 1928 zum ersten Mal in der Geschichte des sowjetischen Kinos das Thema des russisch-tschetschenischen Konflikts, das unter den gegenwärtigen politischen Bedingungen wieder zu höchster Aktualität gelangt ist. Nach Motiven einer gleichnamigen Erzählung von Aleksandr Kazbegi schrieb der Regisseur gemeinsam mit dem sowjetischen Avantgardeschriftsteller und Dokumentaristen Sergej Tret’jakov das Drehbuch. Der Film beginnt mit einem authentischen Telegramm vom 17. Mai 1864, das Sergej Tret’jakov bei seinen Archivrecherchen vor Ort aufgefunden hat. Der Oberkommandierende der zaristischen Kaukasustruppen, Großfürst Michail Nikolaevicˇ, gibt in diesem Schreiben dem Gebietskommandeur Loris Melikov sein Einverständnis zur Deportation der tschetschenischen Bergbauern islamischen Glaubens aus ihren Aulen in die Türkei. Der in die Tochter des Aul-Ältesten, Eliso, verliebte christlich-georgische Chevsure Vazˇia unterstützt die Tschetschenen in ihrem Widerstand gegen die Aussiedlung. Nach einem tollkühnen Säbelkampf zwingt er den russischen Kommandeur dazu, den Aussiedlungsbeschluß zurückzunehmen. Jedoch werden auf der Seite der zaristischen Armee kämpfende Kosaken als Provokateure eingesetzt, die durch den betrügerischen Trick einer verfälschenden Übersetzung erreichen, daß die analphabetischen Bergbauern einem Bittgesuch zu ihrer Umsiedlung ›aus eigenem Willen‹ zustimmen. Als die Bewohner ihren Aul verlassen müssen, kann der christliche Vazˇia nicht mit

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ihnen ziehen, denn die Liebe zwischen einem Christen und einer Muslimin ist durch religiöse Gesetze tabuisiert. Eliso setzt in ihrer Verzweiflung den Aul in Brand, und in dem zerstörten Bergdorf findet eine Frau den Tod. In dem anschließenden Trauerritual wird die Gemeinschaft des tschetschenischen Auls noch einmal bekräftigt. Eliso ist ein frühes Meisterwerk des georgischen Kinos, das in seiner Anfangszeit von zwei wichtigen Einflüssen bestimmt wurde: von der eigenen literarischen Tradition und von der linken sowjetischen Avantgarde, die an der Herausbildung einer spezifisch filmischen Poetik arbeitete. In Moskau und Tiflis wurden gemeinsame Konferenzen organisiert, an denen viele wichtige Vertreter der sowjetischen Avantgarde teilnahmen, unter anderem Vladimir Majakovskij, ˇ klovskij, Sergej Tret’jakov sowie die Filmemacher Lev Kulesˇov Viktor S . ˇ ub. Es wurden die Möglichkeiten einer neuen künstleriund Esfir’ S schen Sprache des Films diskutiert. Vor allem ging es dabei um eine dokumentarische Annäherung an die reale Faktur von Gesichtern, Körpern und Dingen der umgebenden Wirklichkeit, um die Montage als filmisches Verfahren der Bedeutungsbildung und um den Einsatz der Großaufnahme, die im georgischen Kino zum ersten Mal in den Filmen Giuli (UdSSR 1927) und Eliso Verwendung fand (vgl. Le cinéma géorgien 1988: 36). Während Béla Balázs die Bedeutung der Großaufnahme, die er als »Lupe des Kinematographs« bezeichnet, die »uns wieder Stoff und Substanz des konkreten Lebens fühlen« läßt (Balázs 1924/2001: 49), in einer Sichtbarmachung von Mienenspiel und Ausdrucksbewegung sieht, wird die Großaufnahme von der sowjetischen Filmtheorie in ihrem Wechselverhältnis zu anderen filmischen Verfahren betrachtet. Am Beispiel unterschiedlicher Kontextualisierungen der Großaufnahme eines Gesichts erprobte Lev Kulesˇov das bedeutungsbildende Potential der Montage in einem legendären, in verschiedenen Varianten überlieferten Experiment, das als »Kulesˇov-Effekt« in die Filmgeschichte eingegangen ist. Nach der kanonisch gewordenen Beschreibung seines Schülers Vsevolod Pudovkin verlief das Experiment folgendermaßen: Eine Großaufnahme des bereits aus dem vorrevolutionären russischen Kino bekannten Schauspielers Ivan Mozzˇuchin, die ein ruhiges, ausdrucksloses Gesicht zeigt, wurde mit drei verschiedenen Filmbildern kombiniert – zunächst mit einem Teller Suppe, danach mit einer Frau im Sarg und schließlich mit einem spielenden Mädchen. Das Publikum nahm die Einstellungskombinationen unterschiedlich wahr und las aus dem Gesichtsausdruck Mozzˇuchins jeweils unterschiedliche Bedeutungen heraus: Nachdenklichkeit über einen vergessenen Teller Suppe, Trauer angesichts einer Toten und ein leichtes Lächeln beim Anblick eines Kindes (Pudovkin 1974: 182). Die in Eliso durch Großaufnahmen exponierten Gesichter der kaukasischen Bergbewohner erhalten in der Montage mit weit per-

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spektivierten Einstellungen auf monumentale Gebirgsmassive eine zusätzliche Qualität von ›natürlicher Erhabenheit‹. Die quasi-dokumentarischen Aufnahmen suggerieren einen unverfälschten Zugang zur Wirklichkeit und verleihen dem Anliegen der für ihre Freiheit kämpfenden Kaukasier eine besondere Wahrhaftigkeit. Der Fremde – und hier ist auch ein Moment der Selbstexotisierung im georgischen Kino zu entdecken – erscheint in einer solchen Perspektivierung als Residuum des Authentischen im Gegensatz zu den negativ durch falsche Bärte gekennzeichneten Gesichtern der russischen Offiziere und Kosaken. Durch das Herausstellen der falschen Bärte in der Inszenierung der usurpatorischen Kolonialmacht wird eine um so wirkungsvollere ›Naturalisierung‹ in der Inszenierung der Kaukasier erreicht, und eine mehrfach gestaffelte Fremdheitserfahrung läßt dabei ein komplexes Wechselverhältnis zwischen dem ›Eigenen‹ und dem ›Fremden‹ entstehen. In dieser Gegenüberstellung von Gesichterdarstellungen wird zudem die ästhetische Auseinandersetzung einer neuen avantgardistischen Ästhetik mit einer abgelehnten Theatertradition noch einmal reinszeniert. Lev Kulesˇov polemisiert in seinen theoretischen Schriften gegen die Theatermaske, gegen falsche Bärte und angeklebte Nasen, die er gerade durch die filmische Großaufnahme in ihrer Falschheit, Künstlichkeit und Verstellung entlarvt sieht (Kulesˇov 1987: 179-180). Im Zusammenhang mit der Inszenierung des Trauerrituals der tschetschenischen Gemeinschaft im Schlußteil von Eliso stellt sich die Frage nach der Darstellung des Gesichts in einer noch grundsätzlicheren Weise. Die filmische Großaufnahme, durch die der Kopf vom Körper isoliert wird, führt zu einer Facialisierung der medialen Darstellung, die mit einer Entkörperlichung des Menschen zur Gesichtsfläche verbunden ist. Was bedeutet nun aber die Projektion eines allgemeinen Prinzips von Gesichthaftigkeit auf eine fremde, archaische Kultur? Gilles Deleuze und Félix Guattari gehen davon aus, daß in den Stammesverbänden primitiver Gesellschaften, deren Semiotik »nicht signifikant, nicht subjektiv, sondern wesentlich kollektiv, polyvok und körperlich« sei, das Gesicht nur eine geringe Rolle spiele (Deleuze/ Guattari 1980/1997: 241). Das Prinzip der Gesichthaftigkeit ist nach ihrer Argumentation ein Faktor der kulturgeschichtlichen Durchsetzung von Signifikanz und Subjektivierung. Das System »Weiße Wand – Schwarzes Loch« erscheint als eine abstrakte Maschine zur Erschaffung des Gesichts, die von einem bestimmten Machtgefüge in Gang gesetzt ist (ebd.: 230-231). Aus einer kolonialismuskritischen Perspektive wird von Deleuze und Guattari die alles kodierende Potenz des Gesichts mit dem Programm eines europäischen Rassismus in Verbindung gebracht: »Das Gesicht ist nichts Universelles. Es ist nicht einmal das Gesicht des Weißen Mannes, es ist der Weiße Mann selber mit seinen breiten weißen Wangen und dem schwarzen Loch

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➞ [ Träne ]

➞ [ Frisur ]

➞ [ Widescreen ]

der Augen. Das Gesicht ist Christus. […] Jesus-Christ-Superstar: er erfindet die Vergesichtlichung des ganzen Körpers und überträgt sie auf alles« (ebd.: 242-243). In dieser Hinsicht vollzieht sich durch den projizierenden Blick auf die fremde, archaische Kultur eine Einschreibung des Prinzips der Gesichthaftigkeit in den Kollektivkörper einer Stammesgemeinschaft. Die filmische Umsetzung des Trauerrituals in Eliso, die deutlich von der Inszenierung der Massen durch Sergej . Ejzensˇtejn im sowjetischen Revolutionskino beeinflußt ist (vgl. Beilenhoff 2004), stellt eine Wechselbeziehung zwischen dem Kollektivkörper in seinem raumgreifenden Charakter und einer Serie von einzelnen Gesichtern her, die gewissermaßen auf dessen Oberfläche eingeschrieben sind. Diese Gesichter, die durch die zergliedernde Wirkung der Montage herausgestellt werden, illustrieren durch ihre hohe Expressivität den Affekt der Trauer, dabei erscheinen sie allerdings nicht als Spiegel eines inneren Seelenlebens, sondern dienen vielmehr dazu, die Intensität in der Realisierung des Rituals – etwa des Raufens der Haare – zu steigern. Die in der Trauer vereinte Gemeinschaft des Auls ist noch wesentlich vom Körper bestimmt, über die rituelle Praxis des gemeinsamen Singens und Tanzens wird der einzelne in eine Verbindung zu allen anderen Mitgliedern der Gemeinschaft gebracht, die sich auf diese Weise ihrer selbst vergewissert (vgl. Sasse/Wenner 2002: 9-10). An der Schwelle, wo der Kollektivkörper und das Prinzip der Gesichthaftigkeit sich wechselseitig reflektieren, entsteht allerdings zugleich ein Spannungsverhältnis zwischen dem Ins-Bild-Setzen ethnographischer, den Kollektivkörper orchestrierender Typen und einem – in Eliso noch tragisch scheiternden – Prozeß der Individualisierung einzelner Figuren, der durch eine Subjektivierung der Perspektive eine andere Dimension im Verhältnis zum Fremden eröffnet. Das Gesicht des Fremden verunsichert den vertrauten Antagonismus von ›Freund‹ und ›Feind‹, der Wahres und Falsches, Gutes und Böses, Innen und Außen ohne jeglichen Zweifel trennt. Fremde können beides sein, sie stellen so etwas wie ein ›drittes Element‹ dar: sie können sowohl zum Freund als auch zum Feind werden. Eine Grenzziehung ist dabei nie ganz sicher, eine Grenzüberschreitung sehr wohl möglich. Auf diese Weise wird die Bildung absoluter Gegensätze, die Plausibilität der Dichotomie durch den Fremden hinterfragt (vgl. Bauman 1991: 23-26). Im zeitgenössischen russischen Film haben sich unter dem Eindruck der mit unerbittlicher Gewalt geführten Tschetschenienkriege zwei einander entgegenstehende Einstellungen im Verhältnis zum Fremden herausgebildet: Einerseits wird in dem als fremd inszenierten Gesicht potentiell das menschliche Gesicht eines Freundes erkennbar, andererseits erhält das ›fremde‹ Gesicht durch die Bezugnahme auf physiognomische Stereotypen eine ideologische Lesbarkeit im Kontext eines rassistischen Feindbildes (vgl. Blankenburg

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1996), das den Tschetschenen zum »Schwarzen« (cˇernyj) in der russischen Gesellschaft macht. Unter Rückgriff auf das Motiv des »Gefangenen im Kaukasus«, das in der russischen Literatur seit der Romantik immer wieder behandelt wurde, setzen sich zwei populäre Spielfilme mit dem ersten und zweiten Krieg in Tschetschenien auseinander: Kavkazkij plennik (Gefangen im Kaukasus, RUS 1996) von Sergej Bodrov und Vojna (Krieg, RUS 2002) von Aleksej Balabanov (vgl. Engel 2003). Sergej Bodrov überträgt in seinem Film Lev Tolstojs Erzählung Kavkazkij plennik (»Der Gefangene im Kaukasus«, 1872), die ihrerseits bereits die romantischen Klischees der Kaukasus-Sehnsucht offenlegt und das Kriegsgeschehen des 19. Jahrhunderts jenseits exotischer Faszination mit realistischen Details schildert, in die gesellschaftliche Gegenwart der 1990er Jahre. Die überhöhte, tragisch endende Liebesgeschichte der Romantik findet sich bei Tolstoj in die Entwicklung von Freundschaften zwischen den Kulturen verwandelt, die auf gegenseitiger Sympathie und Anerkennung beruhen. In der Bodrovschen Verfilmung bezieht sich die Möglichkeit zur Annäherung auch auf einen alten, in den muslimischen Traditionen, seinem Familienclan und seiner Sprache verwurzelten Tschetschenen, der zum Geiselnehmer geworden ist, nicht um ein Lösegeld zu erpressen, sondern um im Austausch die Freilassung seines Sohnes aus russischer Gefangenschaft zu erwirken. Die Orientierung an humanistischen Prinzipien wird durch eine Reihe narrativer Momente verstärkt: Beide Seiten – Russen und Tschetschenen – treten in Verhandlungen und Gespräche; sie tauschen sogar kleine Geschenke aus, und der alte Tschetschene verzichtet am Ende auf Blutrache, als sein Sohn von russischen Soldaten umgebracht wird. In unserem Zusammenhang ist aber vor allem von Interesse, welche Rolle die faciale Kommunikation und die filmische Medialisierung des Gesichts im Prozeß eines Sich-Anfreundens mit dem Fremden spielen. Kavkazkij plennik zeichnet sich als Erzählfilm in der Tradition der russischen Literatur durch relativ lange Einstellungen aus. Wenn nun das über die Physiognomie, die Kleidung sowie die umgebende exotische Landschaft als fremd inszenierte Gesicht in einer lang andauernden Großeinstellung gezeigt wird, so gewinnen die mimischen Regungen des Gesichts eine unmittelbare Präsenz, die sich der eindeutigen Lesbarkeit eines ethnographischen Typs entzieht. Jenseits der Beziehungen zwischen den Filmfiguren und einer psychologischen Dramaturgie von Blick und Gegenblick ergibt sich zudem die Möglichkeit der direkten Adressierung des Zuschauers. Dadurch wird eine besondere Erfahrung von Andersheit ermöglicht, die sich im menschlichen Antlitz manifestiert. In der Transzendierung der sichtbaren Oberfläche des Gesichts kann sich ein dynamisches Wechselverhältnis zwischen dem Eigenen und dem Anderen entfalten, das nicht nur durch das Aufbrechen klassifikatorischer Zuord-

➞ [ Photogénie ] ➞ [ Queer ]

➞ [ Blick ]

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➞ [ Yentl ]

nungen einen Überschuß an Bedeutung hervorbringt, sondern auch einen ethischen Appell zur Antwort, zur Verantwortung darstellt: »Die Epiphanie des absolut Anderen ist Antlitz, in dem der Andere mich anruft und mir einen Befehl erteilt, und zwar durch seine Nacktheit, durch sein Entblößtsein. Seine Gegenwart ist eine Aufforderung zu antworten« (Levinas 1989: 43). Der Film als audiovisuelles Medium macht im Vergleich zur Literatur eine größere Sinnlichkeit in der Kommunikation möglich, indem er Auge und Ohr direkt anspricht. Der Einsatz des menschlichen Gesichts in den sogenannten Empathieszenen ist nach Carl Plantinga ein wichtiger Faktor, was die Wirkungsdimension des Films betrifft. In den Szenen der Empathie wird der Erzählfluß zeitweise verlangsamt und die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf das Gesicht einer privilegierten Figur gerichtet, das in der Regel für eine längere Dauer in Großaufnahme zu sehen ist. Dadurch werden über den Gesichtsausdruck nicht nur Emotionen der Figur übermittelt, sondern der Anblick des menschlichen Gesichts soll vielmehr auch im Zuschauer selbst affektive Prozesse – vor allem empathischer Art – auslösen: »Dies ist möglich, weil der Anblick des Gesichts mittels motorischer Nachahmung [ motor mimicry ], mimischem Feedback [ facial feedback ] und Gefühlsansteckung [ emotional contagion ] solche Reaktionen auslösen kann« (Plantinga 2004: 9). In Kavkazkij plennik schafft die eingehende Betrachtung des Gesichts eine Disposition, »zu wissen, zu fühlen und darauf zu reagieren, was in einer anderen Person vorgeht« (ebd.: 15). Auf diese Weise ist eine besondere Voraussetzung für ein Sich-Einlassen auf die Figur des Fremden gegeben. Die Handlungsmotive des tschetschenischen Vaters, der zunächst zum Geiselnehmer geworden ist, dann aber auf Blutrache verzichtet, werden durch die Einsicht in sein Erleben verstehbar und nachvollziehbar. Das Zusammenspiel empathischer Prozesse mit kognitiven Prozessen der Bewertung, die vor allem durch die Narration angeregt werden, erlaubt es dabei dem Zuschauer, sich in einem breiteren Spektrum von emotionalen Haltungen (seien dies Anteilnahme, Mitgefühl oder Bewunderung) in eine Beziehung zum Fremden zu setzen. Im Unterschied zu der differenzierenden Darstellung des ersten Tschetschenienkriegs (1994-1996) in Kavkazkij plennik wird in dem Film mit dem lakonisch-provozierenden Titel Vojna (Krieg) von Aleksej Balabanov der zweite Tschetschenienkrieg (ab 1999) in Analogie zu der offiziellen politischen Position Vladimir Putins als allumfassender Kampf gegen den internationalen Terrorismus inszeniert. In diesem Kampf gibt es keine Nuancen im Verhältnis zum Fremden – Freund und Feind sind eindeutig geschieden, und diese Unterscheidung wird als Letztbegründung des Politischen (vgl. Schmitt 1932/1963) eingesetzt. Vor allem über die Adresse des Gesichts wird der Tschetschene zum absoluten Feind, zum grausamen Barbaren, zur Inkarnation des

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Bösen stilisiert. Dies geschieht in einem neuen, am russischen Publikumsgeschmack orientierten Genrekino nicht zuletzt durch die Adaption global kursierender Darstellungsklischees aus Abenteuerfilm, Western, Mafiathriller oder amerikanischem Actionfilm (z.B. Rambo II, USA 1985, George P. Cosmatos). Im zeitgenössischen Rußland hat die Dämonisierung und Kriminalisierung des Fremden als Feind unter anderem die Funktion, eine allgemeine gesellschaftliche und soziale Verunsicherung nach dem Zerfall der Sowjetunion zu kompensieren und das geschwächte Selbstwertgefühl zu stärken. In Vojna wird nicht mehr – wie bei dem Blick auf den exotischen Fremden in Eliso – die erhabene Landschaft des kaukasischen Gebirges mit Großaufnahmen von Gesichtern ›edler Wilder‹ parallelisiert, die Geschichte des Films erzählt nicht mehr – wie in Kavkazkij plennik – von Verhandlungen oder gar Begegnungen mit dem Anderen, und über das Gesicht des Fremden, der zum Feind erklärt ist, wird nicht mehr das Angebot zur empathischen Einfühlung gemacht. Mit dem tschetschenischen Warlord, der russische und andere ausländische Geiseln in seiner Gewalt hält, wird in einem plakativen, an die Huntingtonsche These vom »Kampf der Kulturen« (Huntington 1996) erinnernden Monolog, lokalisiert in einer Kommandozentrale – umgeben von einer Installation aus Fernsehbildschirm, Videogerät und Computer – ein bedrohliches Szenario ewiger und unüberwindbarer Feindschaft zwischen Tschetschenen und Russen entworfen: »Bei euch ist das weiße Meer, aber wir sind schwarz, und bei uns ist auch das Meer schwarz. […] Man ist entweder Hirte oder Hammel, – wer sich aufschlitzen läßt, der ist der Hammel. […] Ich habe ein Hotel und drei Restaurants in Moskau und Stoßtrupps in Petersburg, Moskau und Samara. […] Das ist mein Land, und ich werde es von euch ungläubigen Hunden säubern. Wir lassen nicht nach, bis in Volgograd kein einziger Russe mehr ist.« Das Gesicht des Tschetschenen, der als absoluter Feind gezeigt wird, ist in der Nahaufnahme durch die Zwischenschaltung anderer medialer Bilder in eine Distanz zum Zuschauer gerückt. Dadurch ist dem Gesicht die Möglichkeit genommen, über mimische Regungen jenseits der sichtbaren Oberfläche auch die unsichtbaren Prozesse eines inneren Seelenlebens zum Ausdruck zu bringen. Dem Feind als radikaler Abspaltung des Fremden wird jegliche Authentizität eines persönlichen Erlebens abgesprochen. Das Gesicht bietet sich nicht zur Spiegelung des Eigenen im Anderen an, es erscheint vielmehr als allgemeines, von konkreten Details der Anschauung entleertes Schema der massenmedialen Kommunikation, als Projektionsfläche für einen ideologischen Text, der mit seiner Rhetorik des Kampfes die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf die Spektakularität körperlicher Aktion umlenkt. Eine rassistische Stereotypenbildung nach dem Schema ›schwarz versus weiß‹ blendet bei der Transformation des Fremden in einen

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Feind alle Mehrdeutigkeiten aus. Daß in der tschetschenischen Bevölkerung durchaus verschiedene ethnische Ausprägungen zu finden sind – neben einem dunklen Typ hat auch ein blonder und hellhäutiger Typ eine nicht geringe Verbreitung (vgl. Plaetschke 1929: 32-36) – wird nicht in die Betrachtung einbezogen. In der Rückführung auf ein dichotomisches Schema der physiognomischen Klassifikation erscheint der Tschetschene als ›Schwarzer‹ der russischen Gesellschaft, der über die narrative Entfaltung der Geschichte zudem mit kriminellen Machenschaften – vor allem Waffen- und Geldgeschäften – und über die Montage mit Einstellungen von religiösen Versammlungen mit einer fundamentalistischen Religionsauffassung in Verbindung gebracht wird. Es werden alle Differenzierungen aufgehoben, so daß schließlich kein Unterschied mehr zwischen Tschetschenen und anderen Personen kaukasischer Herkunft, zwischen Tschetschenen und Banditen, Terroristen oder islamischen Kämpfern besteht (vgl. Ryklin 2003). Negative Konnotationen erhält das Gesicht des Feindes, das unter Bezugnahme auf globale Kolonialisierungsmuster durch das Merkmal ›schwarz‹ gekennzeichnet ist, vor allem auch dadurch, daß es in den Kontext einer hypertrophierten medialen Vermittlung gestellt wird. In Vojna findet eine durchgehende Verdoppelung der Realität durch mediale Bilder statt: Es handelt sich dabei nicht nur um Aufnahmen der tschetschenischen Kämpfer; eine der ausländischen Geiseln dokumentiert aus ihrer Sicht die Ereignisse auf Video, auf einer sekundären filmischen Ebene innerhalb des Films wird die Arbeit von Fernsehjournalisten und Korrespondenten thematisiert. Alle diese ›Bilder im Bild‹ verweisen auf eine umfassende Mediatisierung des Krieges – sei es durch die allgegenwärtigen Nachrichtenbilder, die Bilder der populären Filmkultur oder die private Dokumentation beteiligter Personen, die den Attraktionswert von Darstellungen des Schreckens auf effektvolle Weise nutzen. Für seinen ideologischen Textmonolog unterbricht der tschetschenische Warlord die Sichtung einer Videokassette, auf der exzessive Gewalttaten und grausame Folterungen an Geiseln festgehalten sind, die über eine Internetverbindung weitere Verbreitung finden. Mit solchen den Tschetschenen zugeschriebenen Horrorbildern, die mißhandelte Körper und verunstaltete Gesichter ihrer Opfer zeigen, wird der Fremde schließlich als Feind in einer fernen, unzivilisierten Barbarei verortet. [ Sabine Hänsgen ]

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[ Xenos ] | 347

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[ Yentl ]

Die Kamera nähert sich langsam von hinten, fast zögerlich einer Gestalt, die um ihre ausgebreiteten Arme ein großes weißes Tuch schlingt, auf dem sich ihr Umriß deutlich abzeichnet. Je näher sie ihr jedoch kommt, desto vager werden die Konturen. Einen Moment lang hält die Kamera in ihrer Bewegung inne und verharrt bei dem Anblick des sich auf dem Tuch abzeichnenden, sich ständig verändernden Schattens: Kein Kopf, geschweige denn ein Gesicht, nicht einmal ein Profil ist zu erkennen. Einzig ein diffuser Schatten zeichnet sich in dieser gleichsam eingefrorenen Einstellung auf dem Stoff ab, der das Kerzenlicht wie ein Schirm aufsaugt. Es gibt also etwas, das die Lichtstrahlen nicht durchdringen, etwas, das opak genug ist, um sie zu absorbieren und auf dem Weiß des Stoffes einen dunklen Fleck zu hinterlassen. Was also gibt uns dieses Tuch und sein Schattenbild tatsächlich zu sehen? Nicht mehr als ein schwarzes Loch auf einer weißen Wand. Mit anderen Worten: die Vorstellung eines Gesichts in seiner radikal verkürzten Form, als allgemeinstes Schema der Gesichthaftigkeit, das Gesicht als »ein System Weiße Wand-Schwarzes Loch« (Deleuze/Guattari 1980/1997: 230). Mit diesem System beschreiben Gilles Deleuze und Félix Guattari einen universalen visu-

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➞ [ Star ] ➞ [ Blick ]

➞ [ Umriß ]

ellen Schematismus, der uns eine bestimmte Verteilung von Licht und Schatten als Gesicht erkennen läßt. Verweilen wir noch ein wenig bei dieser Einstellung, insbesondere bei dem oben abgebildeten Standbild, das in der Realzeit des Films, in dem jedes Bild in der Regel nur den 24sten Teil einer Sekunde dauert, kaum derart die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen vermag. Es handelt sich so gesehen um ein marginales Bild, das aus einem Kontinuum fortlaufender Bilder herausgehoben und arretiert wird. Lüften wir jedoch nicht zu schnell den Schleier seiner Marginalität, um seinen konkreten Ort innerhalb des Films zu bestimmen, um von Protagonisten und einer dramatischen Handlung zu berichten. Kehren wir vielmehr noch einmal zu der eingangs gestellten Frage zurück und spitzen sie zu: Gibt uns dieses Einzelbild überhaupt etwas zu sehen? Verweigert es uns nicht gerade das, was wir zu sehen erwarten? Denn das Tuch schirmt ja das, was sich auf ihm abzeichnet, zugleich vor der Kamera ab, die den voyeuristischen Blick des Zuschauers imitiert. Zelebriert diese Einstellung daher nicht vielmehr eine Auslöschung? Ja und nein. Denn wie gesagt: einerseits verbirgt das Tuch eine Gestalt, andererseits gibt es ihren Schatten zu sehen. Es fungiert also als ein Bildschirm, als ein doppelter Rahmen des Films, der etwas zur Ansicht preisgibt und zugleich davon ausschließt, der als »Ort-des-Nicht-Alles-Sehens« (Michel Chion, zit. in Metz 1991/1997: 61) sowohl zeigt wie versteckt. Es bildet, mit anderen Worten, als Element des Systems ›Weiße Wand-Schwarzes Loch‹ »eine Wand, die der Signifikant braucht, um abprallen zu können« (Deleuze/Guattari 1980/1997: 230). Der unförmige Schatten auf dem weißen Stoff ist deshalb das Bild einer zweifachen Auslöschung und einer Setzung: Er verwehrt die Bezeichnung seiner Unförmigkeit als Gesicht bzw. als Profil und läßt den Betrachterblick abprallen. Gleichzeitig eröffnet das Tuch als Bildschirm jedoch die Möglichkeit, in »das schwarze Loch der Subjektivität« einzutauchen, das der diffuse Schatten bildet – und genau das macht die Kamera, »das dritte Auge« (ebd.), indem sie sich ihm nähert. Der Entzug der Sichtbarkeit des Gesichts und die Verweigerung des Blicks sind also in dieser Perspektive notwendig, um es als Schauplatz des Dramas, der Bedeutung und der Subjektivität zu markieren und es gleichzeitig davon zurücktreten zu lassen. Dieser Perspektivwechsel ist in seiner Tragweite nur zu erfassen, wenn man die Bedeutung des Gesichts für die Geschichte des mechanischen Abbildes bedenkt. Denn die Projektion eines Gesicht auf eine Wand und die Fixierung seines Umrisses als Schattenbild gilt als ein Ursprungsmythos des Porträts überhaupt: Plinius der Ältere berichtet von der Töpfertochter Dibutade, daß sie die Züge ihres scheidenden Geliebten auf diese Weise verewigen wollte und dadurch die Zeichnung erfunden hätte – man könnte von der Geburt des Ge-

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sichtsbildes aus dem Geist der Projektion sprechen. Die Auffassung des Gesichts als affektbesetztes Erinnerungsbild und die Geschichte des Abbildes gehören demnach von Anfang an zusammen. Das Schattenbild ist anders als das kultische Bild (das altägyptische Totenporträt, die Ikone oder die Effigie) ein Werkzeug der intimen Erinnerung, ein (verborgen gehaltenes) Objekt individueller Anbetung. So auch in unserem Fall des mysteriösen Schattenbildes, das ungeachtet seiner kurzen filmischen Dauer in das Gedächtnis des Zuschauers eingeht. Es stammt aus dem Film Yentl (Yentl UK/USA/ CSSR 1983, Barbra Streisand). Hier schirmt das Tuch den Betrachter von einem intimen Ritual hinter verschlossenen Türen und Fenstern ab, zu dem sich allein die Kamera Zutritt verschafft hat: dem leidenschaftlichen Gebet einer jungen jüdischen Frau namens Yentl, die in einem kleinen Dorf irgendwo in Osteuropa lebt. Man schreibt, wie der Vorspann verkündet, das Jahr 1904. In der Eingangsszene des Films schwenkt die Kamera über das Treiben auf dem dörflichen Marktplatz. Ein Stimmengewirr ist zu hören: der Klatsch der Marktfrauen, das Eintreffen des Büchermanns, der seine Ware feilbietet, junge Talmudstudenten im Gespräch – aber auch Stimmen, die man nicht eindeutig zuordnen kann. Aus dieser Polyphonie tritt die Titelfigur hervor. Als sie versucht, beim Buchhändler ein religiöses Buch zu erstehen, entspinnt sich zwischen ihnen ein längerer Disput. Sie bekommt das gewünschte Buch nur unter dem Vorwand, es sei für ihren Vater. Die Protagonistin ist äußerst wissensdurstig und fügt sich damit so gar nicht in die Rolle, die Frauen in orthodoxen jüdischen Gemeinschaften zukommt. Deshalb studiert sie zwar unter Anleitung des Vaters, doch verborgen vor den Augen und Ohren der übrigen Dorfbewohner, den Talmud, das große Gesetzes- und Kommentarwerk des Judentums. Die Heldin muß ihren Wissensdurst verheimlichen, denn Frauen ist das Studium des Talmuds verwehrt. Dem Gebet geht noch eine weitere Übertretung voran. Bei dem weißen Tuch, in das sich die junge Frau in der beschriebenen Szene hüllt, handelt es sich um den Gebetsumhang ihres Vaters, den sie heimlich nimmt, als dieser schläft. Diese Geste der Inbesitznahme einer fremden Rolle begleitet sie mit folgenden Worten, die klarmachen, daß es hierbei nicht um eine gewöhnliche Maskerade geht: »Gott, Du barmherziger Vater, ich bin in ein Lichtgewand gehüllt. Gekleidet in Deine Herrlichkeit, die Ihre Flügel über meine Seele breitet. Möge ich Deiner würdig sein.« Das Umschlagen des Tuches bedeutet für die Protagonistin nicht weniger als den Vollzug einer unio mystico. Das Tuch bildet als symbolisches Gewand also eine sowohl schützende als auch beflügelnde Hülle, die zugleich die Intimität einer Zwiesprache mit Gott bewahrt. In dieser filmisch inszenierten Zwiesprache, die der seiner voyeuristischen Position beraubte

➞ [ Konterfei ]

➞ [ Ikone ]

➞ [ Vorspann ]

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354 | [ Petra Löffler ]

➞ [ Träne ]

Zuschauer belauscht, kommt eine Stimme zu Gehör, die von den geheimen Wünschen und Sehnsüchten der Filmheldin spricht – die ›innere‹ Stimme ihres imaginären Selbst. Aus diesem Grund hat die abendländische Metaphysik die Stimme privilegiert: Sie knüpft die unmittelbare Selbstpräsenz des Menschen, seine sich unbewußt verleiblichende Innerlichkeit, an die Präsenz der Stimme. Für Hegel etwa erzeugt die Stimme »eine ideelle, sozusagen unkörperliche Leiblichkeit, […], in welchem die Innerlichkeit des Subjekts durchaus den Charakter der Innerlichkeit behält« (Hegel 1830/1970: 115). In vergleichbarer Weise hat Robert Bresson in seinen Noten zum Kinematographen behauptet, die Stimme könne ein »vollständiges Porträt« eines Menschen liefern: »das äußere wie das innere« (zit. in Aumont 1992/2005: 31). Die Porträthaftigkeit der Stimme ist in dieser Szene aus Yentl so dominant, daß sie das Gesicht ersetzen kann. Das eingangs beschriebene Abschirmen des Gesichts von Betrachter- und Kamerablick ist deshalb geradezu die Voraussetzung dafür, daß die ›innere‹ Stimme – das ›schwarze Loch‹ der sich stets entziehenden Subjektivität – sich zu Wort melden kann. Diese ›innere‹ Stimme verschafft sich in Barbra Streisands Film, die sich die Hauptrolle nach einer Erzählung Isaac Bashevis Singers auf den Leib geschrieben hat, vor allem im Gesang Gehör. Streisands ausdrucksstarke und kraftvolle Gesangsstimme, die in der intimen Szene des Gebets zum ersten Mal ertönt, adressiert das Publikum auf vermeintlich direktere Weise als das Gesicht: Sie soll die Emotionen der Heldin in allgemeinverständlicher Form vermitteln und dadurch die Einfühlung des Publikums in die filmische Narration steigern. Die Filmmusik komponierte der für seine eingängigen Melodien bekannte Michel Legrand – man denke zum Beispiel an das musikalische Leitmotiv von Un homme et une femme (Ein Mann und eine Frau, F 1966, Claude Lelouch). In Yentl entrollt der Gesang geradezu emblematisch das Drama der Filmheldin – ein Drama der Subjektivität und Identität, das jedoch nicht – wie im Melodrama üblich – vorrangig das Gesicht als Schauplatz wählt, sondern ein Drama des Namens und vor allem der Stimme ist. Der Liedtext expliziert dies in der existentiellen Frage nach dem Ort des Subjekts: »Where do I belong?« Entscheidend ist hier, daß ein weibliches Ich spricht bzw. singt und handelt. Damit initiiert diese Szene eine fundamentale Spaltung zwischen dem (weiblichen) Körper als Schreibfläche geschlechtlicher Unterschiede und der (weiblichen) Stimme – genauer: der ›inneren‹ Stimme, die sich im Gesang entäußert – als Kanal geheimer Wünsche und Sehnsüchte. In diese fundamentale Spaltung, die leitmotivisch den gesamten Film prägt, wird auch das Gesicht hineingezogen. Dies wird wenig später auch in einer anderen Einstellung deutlich, in der die Entmachtung des Gesichts in etwas abgemilderter Form noch einmal wiederholt wird. Hier verfolgt die Protagonistin von

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einer Empore aus den jüdischen Gottesdienst. Ihr Blick saugt sich förmlich am Rücken ihres gebrechlichen Vaters fest, der weit weg von ihr bei seinen Glaubensbrüdern sitzt. Yentls Platz als Frau ist am Rand des Geschehens, ihre räumliche Distanz markiert zugleich eine konventionell vorgeschriebene Trennung – das Zelebrieren des Gottesdienstes obliegt den Männern. Das Geländer stellt ein zugleich reales und symbolisches Hindernis für ihren Blick dar. Die Heldin preßt ihr Gesicht gegen seine Pfosten und versucht dadurch, zwischen ihnen hindurch zu spähen. Das Geländer versperrt also ganz real ihren Blick und ist darüber hinaus zugleich ein Bildsymbol für ihren Ausschluß vom religiösen Ritual. Die Kamera nähert sich wiederum langsam dem Gesicht der Protagonistin hinter den Geländerpfosten und fängt in einer langen Großaufnahme ihren begierigen wie besorgten Blick auf den Vater ein. Dabei wird ihr Gesicht durch die Pfosten des Geländers kadriert. Mal verschwindet ihr Mund, mal ein Auge. Die Geländerpfosten zergliedern das Gesicht auf geradezu brutale Weise. Sie lassen lediglich Ausschnitte erkennen, die sich nur schwer zu einer Einheit zusammenfügen lassen. Als die Heldin schließlich bei einem Schwächeanfall ihres Vaters aufspringt und nach ihm ruft, wendet sich dieser zu seiner Tochter um und legt einen Finger auf seinen Mund, um ihr zu bedeuten, daß sie im Gotteshaus zu schweigen hat. Die vom Judentum geprägte Welt in Yentl ist eine Welt der Bücher und des gesprochenen Wortes. Diese Welt ist jedoch selbst in sich gespalten. Sie überträgt ausschließlich Männern die Aufgabe, den Glauben und die heilige Schrift zu bewahren. Im Mittelpunkt des jüdischen Glaubens steht die ›lebendige‹ Interpretation der heiligen Schrift durch das ›lebendige‹ Wort, durch den nicht versiegenden Strom des gesprochenen Kommentars, des Disputs und der Auslegung der heiligen Schrift durch den Talmudlehrer. Das Wissen wird von Generation zu Generation weitergegeben durch das geschriebene oder gesprochene Wort einerseits und durch die gelebte Weisheit andererseits: vom Vater auf den Sohn, vom Rabbi auf seine Schüler. Frauen bleiben davon in doppelter Weise ausgeschlossen: weder dürfen sie die heilige Schrift studieren, noch dürfen sie ihre Stimme erheben, um sie zu kommentieren. Ihnen fällt allein die Aufgabe zu, den Fortbestand der Generationen zu sichern. Die Legitimität dieser strikten Trennung und den Ausschluß der Frau vom Wissen stellt Streisands Film in Frage – am Beispiel des ›Bildungsromans‹ einer Frau, die sich nicht in dieses Schema fügen will und dennoch erkennen muß, daß alle Bücherweisheit nicht durch Lebenserfahrung aufgewogen werden kann. Die Heldin stellt sich also mit ihrem unbändigen Wissensdrang und ihrem Wunsch, den Talmud zu studieren, gegen fundamentale Grundsätze des jüdischen Glaubens. Sie kennt allerdings den Talmud gut genug, um in ihm selbst eine Legitimation für ihr normbrechendes

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356 | [ Petra Löffler ]

➞ [ Frisur ]

Handeln zu finden: Schließlich stehe nirgendwo geschrieben, daß Frauen ihn nicht lesen dürften. Damit macht sie sich im Sinne dieses ungeschriebenen Gesetzes der Häresie schuldig, denn »Häresie ist der Exzeß des Wortes, die Gewalt, die durch das Buch, anläßlich des Buchs entsteht, die Verwirrung des von der Schrift ergriffenen Lebens, des Lebens, das sich von sich selber trennt, sich aufgrund der Schrift gegen sich selber wendet« (Rancière 1994: S. 101f.). Die Übertretung des Verbots, als Frau den Talmud zu lesen, ist die Ursache dafür, daß Yentl keinen Ort und keine Stimme innerhalb der jüdischen Glaubens- und Lebensgemeinschaft ihres Dorfes findet. Deshalb schneidet sie sich nach dem Tod des Vaters ihre langen Haare ab, schlüpft in Männerkleidung, verbirgt ihr Gesicht hinter einer Brille, spricht verstellt mit tiefer Stimme und nennt sich nach ihrem toten Bruder Anshel. Unter dem Deckmantel dieser geborgten Identität bricht sie auf, um Aufnahme in eine Talmudschule zu erlangen. Die Protagonistin maskiert also ihre äußere ›weibliche‹ Erscheinung und versucht, insbesondere ihr Gesicht unattraktiv und damit für den ›männlichen‹ Blick unsichtbar zu machen. Diese Auslöschung ihrer weiblichen Identität stellt im Sinne Jacques Rancières einen häretischen Akt dar, denn Häresie bedeute nichts anderes als Trennung, konkret »vom Körper getrennte Stimme, vom Ort getrennter Körper« (ebd.: 102). Die Heldin wählt die Männerrolle, um die von der Gemeinschaft verordnete, also ›äußere‹ Spaltung zwischen Wissensdrang und Geschlecht aufzuheben. Diese Aufhebung der Trennung bleibt jedoch selbst äußerlich, sie ist erneut trennend, weil sie Körper und Stimme separiert und dem Körper seinen angestammten Ort in der Gemeinschaft entzieht. Dies wird im Verlauf des Films allzu deutlich. Yentls Suche nach ihrem Platz unter den Menschen entwickelt sich entlang einer Dreiecksgeschichte, in der es zu emotionalen Verstrickungen kommt, als sie sich in ihren Studienpartner Avigdor (Mandy Patinkin) verliebt, der sie für einen Mann halten muß (auch wenn das dem Zuschauer zu glauben schwerfällt). Diese melodramatische Zuspitzung des Identitätsproblems ist nicht frei von unfreiwilliger Komik. Man muß dieser Figurenkonstellation und der weiteren Handlung schon mit vorbehaltloser Sympathie folgen, um nicht das Interesse am grundsätzlichen Konflikt zu verlieren, den der Film entfaltet. Die konfliktbeladene Trennung zwischen dem sozial konstruierten Körper und der ›inneren‹ Stimme, dem Körper und seinem Ort in der Gemeinschaft soll deshalb hier im Vordergrund stehen. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die Beziehung zwischen dem unter der Maske der Männlichkeit verborgenen ›weiblichen‹ Gesicht und der ›inneren‹ Stimme gelegt. Michel Chion hat darauf aufmerksam gemacht, daß die Präsenz einer menschlichen Stimme die akustische Wahrnehmung genauso hierarchisiert wie das menschliche Gesicht die visuelle – beide sind

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gleichermaßen privilegiert (vgl. Chion 1982: 15). Wenn es in Yentl eine Spaltung zwischen dem ›äußeren‹ Körper und der ›inneren‹ Stimme gibt, dann muß genauer nach dem Verhältnis von Gesicht und Stimme gefragt werden – zumal der jüdische Glaube ohnehin die Stimme privilegiert; dem Gesicht kommt also hier nicht jene umfassende Bedeutung zu, die ihm und dem Porträt in der abendländischchristlichen Tradition zugesprochen wird. Zunächst fällt auf, daß die Protagonistin peinlich genau darauf achtet, daß ihr Gesicht die Maskerade nicht verrät. Ihren Körper verbirgt sie leicht unter Männerkleidung. Doch das Gesicht stellt ein besonders rigides Bedeutungsregime dar; es läßt sich nicht mit dem Körper gleichsetzen. Die weiblichen Züge ihres Gesichts und ihre weiche, bartlose Haut lassen sich deshalb ungleich schwerer kaschieren – Brille und kurzgeschnittenes Haar sind eher angehängte Prothesen als eine glaubhafte Maske. Dadurch dementiert das Gesicht der Heldin zugleich die Maskerade, der sie ihre ›männliche‹ Legitimität zuallererst verdankt. Das Gesicht schwankt für den Zuschauer, der ja um ihre ›Verwandlung‹ weiß, permanent zwischen ›Maske‹ und ›Nicht-Maske‹, bleibt also immer in einem Zwischenstadium der Überblendung, in dem sich beide Gesichter wie in einer Kompositfotografie überlagern. Deshalb ist Yentls ›weibliches‹ Gesicht dem Zuschauer auch wie ein Erinnerungsbild stets präsent. Dieses zeichenhaft überdeterminierte und dadurch fast indifferente Gesicht der Figur Yentl/Anshel, das sich den Blicken anderer immer wieder zu entziehen sucht, nicht Körper und nicht Stimme ist, läßt noch in seiner Entmachtung durch die Stimme die Spaltung erkennen. Es bildet gewissermaßen das Substitut dieser Spaltung. In dieser Funktion (einer radikalen Trennung von Körper, Stimme und medialem Gesicht) hat auch Ingmar Bergman die Gesichter seiner beiden Hauptdarstellerinnen in seinem Film Persona (Persona, S 1966) eingesetzt. Vor allem kommt es für die Protagonistin jedoch darauf an, sich nicht durch eine unbedachte Mimik zu verraten. Das fällt ihr besonders schwer, als sie sich verliebt. Gerade die verborgen gehaltene Liebe hat es einer von Sören Kierkegaard als Schattenriß deklarierten Charakterstudie zufolge besonders schwer, sich zu verbergen (vgl. Löffler 2004: 92-115). Geringe Anzeichen wie ein Zucken des Mundwinkels oder ein verstohlener Blick lauern stets darauf, die mit aller Willenskraft aufrechterhaltene Maske der Gleichgültigkeit zu durchbrechen. Auch deshalb gibt sich in Yentl die ›innere‹ Stimme ausschließlich heimlich im Gesang kund. Er ist es vor allem, durch den die Titelfigur des Films die Identität von Körper und Stimme zurückerobert. Wie in einem Musical sind in Yentl die Gesangsstücke bruchlos in die Filmhandlung integriert und nachträglich synchronisiert worden. Sie werden jedoch auf den intimen, privaten Raum beschränkt, in dem die Heldin ihrer selbstgewählten Männerrolle entschlüpft. Mit

➞ [ Make-up ]

➞ [ Queer ]

➞ [ Exzeß ]

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358 | [ Petra Löffler ]

➞ [ Double ]

anderen Worten: Yentls Gesang kennt keine Bühne und keine anderen Zuhörer als sich selbst – ganz anders als etwa die von Judy Garland verkörperte Heldin des Films A Star is Born (Ein neuer Stern am Himmel, USA 1954, Georges Cukor), deren Rolle Barbra Streisand 1976 in einem Remake übernahm. Um sich ihrer selbst zu versichern, tritt die Protagonistin deshalb entkleidet vor den Spiegel und blickt sich an, während sie singt. Denn nur im Gesang soll das Verschwiegene zu Gehör kommen, sich die Stimme selber mitteilen, denn nur dort sei sie nicht länger »das Verschwiegene im Gesagten« (Waldenfels 2000: 384). Aus phänomenologischer Perspektive bildet der Gesang einen narzißtischen Echoraum, ist er der akustische Raum, in dem sich die Stimme selber hört. Die Stimme kann somit zum ›eigentlichen‹ Körper der Frau werden, zu einem Ort der (imaginären) Identität, der ihr den Blicken anderer dargebotenes Bild entmachtet. Auch der Spiegel fungiert in dieser Szene als ein visueller Rahmen, in dem das imaginäre Selbstbild evoziert werden kann. Dementsprechend zeigt sich die Heldin ausschließlich in dieser Szene ›nackt‹ und ihr Gesicht völlig unmaskiert. Einzig das Spiegelbild bringt Körper, Gesicht und Stimme in eine phantasmatische Einheit. Zugleich verräumlicht der Klang den Gesang. Unterstützt wird diese Verräumlichung oftmals durch eine Verlangsamung der Kamerabewegung – die filmische Bewegung gerinnt dabei zu einem Zeitkristall (vgl. Deleuze 1985/1997). Dadurch wird der Gesang selbst – also über die ihn gewöhnlich begleitenden Körperbewegungen hinaus – gestisch, um nicht zu sagen bildhaft. Gestützt auf diese bildlichen Qualitäten des Gesangs erlangt die Stimme eine ›genuine‹ Porträthaftigkeit. Die Stimme als Porträt eines inkommensurablen Selbst kommt im Medium Film zu besonderer Geltung. Nicht nur verschafft ihr der Film vor allem im Gesang einen spezifischen Bildraum, sondern er beerbt auch die Rolle, die der Stimme in der Romantik zugewiesen wurde, wo sie das Imaginäre schlechthin verkörperte, indem er den Übergang von der Schrift zum Körper, genauer: vom Schriftbild zum Körperbild im Bild des Bildklang gewordenen Gesangs selbst vollzieht. Nicht zuletzt die feministische Theorie hat eine enge Verbindung zwischen Stimme und weiblicher Subjektivität hergestellt: »La voix serait un espace de liberté que la femme aurait à reconquérir« (Chion 1982: S. 11). In diesem Sinne stellt zum Beispiel die tiefe, rauhe Off-Stimme Marguerite Duras’, ein charakteristisches Merkmal ihrer Filme, eine »akusmatische« Stimme (ebd.: 12), eine Stimme ohne sichtbaren Körper, doch von ausgeprägter Körnigkeit dar – eine Stimme, die ohne ein Bild der Sprechenden auskommt, das heißt, die die Bildwerdung der Frau verweigert. Deshalb kann man in diesem Fall von einer Befreiung der weiblichen Stimme vom ›männlichen‹ Bild des ›weiblichen‹ Körpers sprechen. Die »akusmatische« Stimme Chions ist insofern mit Roland Barthes’ Formel der »Rauheit der Stim-

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me«, die »eine erotische Mischung aus Timbre und Sprache ist«, verwandt, als diese Rauheit der »Kunst, seinen Körper zu führen«, dient (Barthes 1973/1992: 97). Dieses erotische Potential der Sprache, die »ganze Stereophonie der Sinnlichkeit«, die Sprache »in ihrer ganzen Materialität« also (ebd.: 98), sah Barthes einzig durch den Film verwirklicht. Um dieser Materialität Geltung zu verschafften, haben zum Beispiel Jean-Luc Godard in Passion (Passion, F/CH 1982) oder Hans-Jürgen Syberberg in Parsifal (BRD 1982) Stimme und Körper(bewegung) – das, was man hört und das, was man sieht – asynchron gesetzt. Hier nimmt das Verhältnis von Bild und Ton »die schöpferische Funktion des Mythos an«, weil der sichtbare Körper »nicht mehr die Äußerung der Stimme nachahmt, sondern einen absoluten Empfänger oder Adressaten darstellt« (Deleuze 1985/1997: 429). Von solchen Experimenten, die den Zuschauer von seinem Empathiebedürfnis distanzieren sollen, ist Streisands melodramatischer Film jedoch weit entfernt – sein ästhetischer Konformismus geht mit der Deutlichkeit seiner ›Botschaft‹ einher. In Yentl bilden ›innere‹ Stimme und Gesicht formalästhetisch stets eine homogene Einheit mit deutlicher Hierarchie: Gesang und Mundbewegungen verlaufen für den Zuschauer immer synchron. Die Synchronisierung basiert jedoch auf der Trennung von Körper und Stimme bei der Aufnahme. Synchronizität versucht die fundamentale Spaltung zwischen Körper und Stimme, die den Film als Medium kennzeichnet, nachträglich zu verbergen: »Nichts wird im Film jemals das Stimmbild mit dem Körperbild verbinden, es sei denn ein Akt des Glaubens« (Aumont 1992/ 2005: 29). Die Synchronisierung weist daher der Stimme, indem sie diese mit den Artikulationsbewegungen des Mundes nachträglich homogenisiert, einen phantasmatischen Ort zu (vgl. ebd). Genau das ist die Funktion des Gesangs in Yentl, dem sich das Gesicht als Medium der Expressivität jederzeit untergeordnet. Es ist vielmehr ausschließlich der Gesang, der in Yentls intimer Selbstbespiegelung den Übergang von der Schrift zur Stimme und von der Stimme zum Körper initiiert, dessen Ort allerdings zunächst noch unbestimmt ist – das heißt, der seinen Ort außerhalb dieses Privattheaters des ›Spiegelstadiums‹ erst noch finden muß. An diesem im Wortsinn utopischen Ort ist die Trennung der Geschlechter, der Ausschluß der Frau vom Wissen überwunden. Yentl verkörpert in ihrer Doppelrolle als Anshel eine Utopie, in der männliches Wissen und weibliches Gefühl keine Gegensätze mehr darstellen. Wenn Yentl als Anshel Hadass (Amy Irving) Avigdors frühere, ihm verweigerte Braut heiratet, so vollzieht sich hier nicht nur der absolute Tabubruch einer gleichgeschlechtlichen Ehe. Denn auch Avigdors Wissen weist an entscheidender Stelle einen blinden Fleck auf: Er übersieht, daß Anshel im biologischen Sinn kein Mann ist, daß er sich nicht, wie er glauben möchte, zu einem ›kleinen Bruder‹ hingezogen

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➞ [ Jedermann ]

gefühlt hat, sondern zu einer Frau. Sein Versehen ist aus seiner Sicht nur zu plausibel: Er kann sich einfach nicht vorstellen, daß eine Frau nach der Weisheit des Talmuds strebt. Das ist auch der Grund, warum Yentl und Avigdor auch dann nicht zusammenkommen, als sie ihre wahre Identität lüftet. Die Heldin will sich auch nicht ihm zuliebe in die ihr vorgeschriebene Rolle fügen und das Denken dem Mann überlassen. Auch Haddas fühlt sich zu Anshel/Yentl, der/die ihr angetrauter Mann wird, hingezogen. In der Dreieckskonstellation Avigdor-Yentl/Anshel-Hadass wird der heterosexuelle Geschlechtervertrag für einen utopischen Moment außer Kraft gesetzt. Am Ende finden Stimme, Gesicht und Körper der Heldin wieder zusammen, ihre häretische Spaltung wird überwunden, nachdem die sie ihre wahre Identität enthüllt und ihren eigentlichen Namen wieder angenommen hat. Der Gesang ist nun nicht mehr nur der ›pathetische‹ Ausdrucksmodus der versteckten ›inneren‹ Stimme, die sich nur an intimen Orten entfalten kann. Der Gesang ist nun machtvolle ›Kundgabe‹ eines in Selbstbewußtsein und Lebensklugheit erstarkten Ich, das den Raum öffentlichen Handelns betritt. Und auch die Entmachtung des Gesichts ist damit aufgehoben. Es muß sich nicht länger verleugnen, hinter einer Brille verstecken und den Blicken aus Angst entziehen, seine wahre Identität oder seine Gefühle zu enthüllen. Die Protagonistin verfügt nun über eine Stimme und ein Gesicht, die eine Einheit bilden und die Sphäre der Öffentlichkeit nicht scheuen müssen. Und auch die häretische Trennung vom Körper und seinem Ort in der Gemeinschaft geht ihrer Aufhebung entgegen. Der Film verspricht ihre Versöhnung an einem fernen Ort, an dem sich neue Identitäten schmieden und unterschiedliche kulturelle Prägungen amalgamieren lassen. Am Ende des Films steht deshalb der Aufbruch in eine neue Welt, genauer: in die ›Neue‹ Welt, die für jeden neue Möglichkeiten eröffnen soll. Nicht weniger als die Befreiung des imaginären Ich aus der Umklammerung des symbolischen Körpers der Schrift verspricht dieser Aufbruch, die Identität von ›innerer‹ Stimme, Gesicht, Eigenname und Körper. Es ist insofern ein sehr versöhnliches Ende und als solches ganz nach dem Geschmack Hollywoods. Der Weg in die ›Neue Welt‹ führt über den Ozean – nicht umsonst gilt das Meer als mythische weibliche Stimme schlechthin. Das Deck des Ozeandampfers, der Yentl einer besseren Zukunft entgegenführen soll, ist denn auch der Ort, an dem ihre Stimme nicht länger eine bloß ›innere‹ ist, sondern erstmals frei und ungeniert unter den anderen Passagieren zu hören ist. In ihrer Mitte findet auch die Kamera ihr Gesicht und löst es aus der Menge. Dann singt die Protagonistin in der Form einer Apotheose, die ihren Vater und Gott in eines setzt: »Papa, see me fly«, so als hätten sich ihre Wünsche und Sehnsüchte schon jetzt erfüllt. Spätestens hier entpuppt sich Yentl als ein modernes Kinomärchen, für das gilt: Alle Träume erfüllen sich im ›gelobten‹ Land. Nicht zuletzt

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ist die Entstehung des Films, für den Barbra Streisand zwar zwei Golden Globes, aber keinen Oscar bekam, selbst ein modernes Märchen – fünfzehn Jahre mußte die Regisseurin und Produzentin warten, bis sie ihn realisieren konnte. [ Petra Löffler ]

Literatur Aumont, Jacques (1992/2004): »Der porträtierte Mensch«. In: mon-

tage/av - Das Gesicht im Film (1), 13/1/04, hrsg. v. Joanna Barck/ Wolfgang Beilenhoff, S. 12-49. Barthes, Roland (1973/1992): Die Lust am Text, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Chion, Michel (1982): La voix au cinéma, Paris: Éditions de l’Étoile. Deleuze, Gilles (1985/1997): Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1980/1997): Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1830/1970): Werke in 20 Bänden (=Theorie Werkausgabe), Bd. 10: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Dritter Teil: Die Philosophie des Geistes, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Löffler, Petra (2004): Affektbilder. Eine Mediengeschichte der Mimik, Bielefeld: transcript. Metz, Christian (1991/1997): Die unpersönliche Enunziation oder der Ort des Films, Münster: Nodus. Rancière, Jacques (1992/1994): Die Namen der Geschichte. Versuch einer Poetik des Wissens, Frankfurt a.M.: S. Fischer. Waldenfels, Bernhard (2000): Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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[ Zensur ] | 365

[ Zensur ]

Die Komposition des Standbildes aus der nach Stalins Tod zensierten Fassung von Michail Romms Lenin v oktjabre (Lenin im Oktober, UdSSR 1937) wirkt merkwürdig disproportioniert, betrachtet man insbesondere das Verhältnis der Positionierung der Figuren im Raum zu ihrer Blick- und Handgestik. Diese Unverhältnismäßigkeit im Bildaufbau ist auf einen zensorischen Eingriff ins Bild zurückzuführen und ist deshalb besonders auffällig, weil der ursprünglichen Mise-enscène eine ausgearbeitete, an den Traditionen der bildenden Kunst orientierte Bildkomposition zugrunde lag. Wir sehen in einer halbnahen Aufnahme eine politische Versammlung, es handelt sich dabei um eine Sitzung des ZK. In der Mitte einer Personengruppe steht Lenin, der auf den ersten Blick an seinem markanten Profil und der ikonographisch vorgeprägten Pose zu erkennen ist. Zwei Personen rechts hinter ihm, der eine sitzt an einem Tisch, der andere hat sich halb erhoben, wenden den Blick nach vorn, so als ob sie damit jemand Besonderen adressieren würden, und Lenin selbst scheint sich ebenfalls im Gespräch an jemanden vor ihm zu wenden. Die Geste seiner Hand, mit der er seine Rede unterstützt, wie auch die Blicke seiner Begleiter gehen in dieser zensierten Fassung jedoch ins Leere. An wen sie sich richten, ist nicht

➞ [ Blick ] ➞ [ Hand ]

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auszumachen, denn die linke Bildhälfte ist durch einen der Logik der ursprünglichen Komposition zuwiderlaufenden und überproportional großen Hinterkopf verdeckt. In der Originalfassung wurde durch die Ausrichtung der Blickkonstellationen eine Spannung erzeugt, die – vermittelt über Lenin – die Aufmerksamkeit des Zuschauers schließlich auf die frontal zur Kamera plazierte, alles überblickende Figur Stalins im linken Bildhintergrund lenken sollte. Die dezente seitliche Rahmung der Komposition durch schattenhafte Umrisse von Rückenfiguren ist in der zensierten Fassung zu einer Blockade des Blicks geworden: In dem Moment, in dem Stalin ins Bild kommt, erhebt sich im Vordergrund eine männliche Figur, die nicht nur ihn, sondern noch eine weitere, vorne links am Tisch sitzende und schreibende Figur verdeckt. Wenn man allerdings genauer hinschaut, erkennt man, daß die Figur Stalins nicht vollkommen verschwunden ist: Ein Hosenbein und ein Ärmel bleiben noch zu sehen, aber das Gesicht, über das die Identität Stalins unzweifelhaft zu bestimmen wäre, ist durch den mächtigen dunklen Hinterkopf ausgelöscht. In dieser Einstellung erfolgt die Zensur des ehemals als gottgleich verehrten Sowjetführers über ein filmisches Trickverfahren, bei dem die nachgedrehte Szene, in der sich eine männliche Figur in den Bildvordergrund drängt, mit der ursprünglichen Aufnahme zu einem neuen Bild synthetisiert wird. Bei der Umarbeitung seiner Lenin-Dilogie verwendet Michail Romm neben dem direkten Eingriff durch Wegschneiden bzw. Ausblenden jener Sequenzen, in denen Stalin in Erscheinung tritt, verschiedene filmische Trickverfahren, um ihn durch Statisten, Gegenstände wie vorzugsweise Lampenschirme oder einfach in einer bildlichen Leere zum Verschwinden zu bringen. Nach Stalins Tod, im Zuge der politischen Auseinandersetzung mit dessen Terrorherrschaft, entfernt der Regiseur auf diese Weise jene Figur aus seinen Filmen, die er einst selbst zur Kultfigur aufgebaut hatte. In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre war es Michail Romm, der mit seinen Filmen Lenin v oktjabre und Lenin v 1918 godu (Lenin im Jahre 1918, UdSSR 1939) den Stalinkult über den Leninkult im sowjetischen Kino begründete. Durch eine Uminterpretation der Geschichte wird Stalin in Romms filmischen Erzählungen als ›treuester Freund‹ und ›Mitstreiter‹ in unmittelbare Nähe zu Lenin gerückt; ihm wird – entgegen den historischen Fakten – sogar eine führende Rolle während der Revolutionsereignisse zugeschrieben. In Romms Lenin-Filmen ist nicht nur die Bildkomposition auf Stalin ausgerichtet, in ihm findet auch die dramaturgische Entwicklung ihre Vollendung. Als Kehrseite einer solchen personellen Aufmerksamkeitskonzentration läßt sich zur Zeit des großen Terrors, während der sogenannten Säuberungen, durch die die innerparteiliche Opposition liquidiert wurde, eine Tendenz beobachten, die Anzahl der politischen Figuren, die offiziell – gemäß einer kanonisierten Geschichtsschreibung – im Kino

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gezeigt werden durften, auf ein Minimum zu beschränken. So bleibt beispielsweise Lev Trockij in Romms Filmen notorisch ausgeblendet, an seiner Stelle gewinnt Stalin den Bürgerkrieg. Kamenev und Zinov’ev werden als Verräter denunziert, und das Sujet von Lenin v 1918 godu enthält Hinweise auf Bucharin als Anstifter eines Attentats auf Lenin, womit der Film die fiktive Anklage des Generalstaatsanwalts Andrej Vysˇinskij während der Moskauer Schauprozesse fatalerweise bestätigt (vgl. Bulgakowa 1994; Turovskaja 2001: 204-209; Hülbusch 2001: 78-85, 106-114). In einer inneren Anpassung an den offiziellen stalinistischen Geschichtskanon hat Michail Romm bei der Inszenierung seiner Lenin-Dilogie eine Art Selbstzensur geübt, indem er erst gar nicht zeigte, was nicht gezeigt werden sollte. In anderen Fällen wurden die aufgrund einer Veränderung der politischen Situation in Ungnade gefallenen Personen nachträglich aus dem fertigen Filmmaterial wieder herausgeschnitten oder Szenen nachgedreht und neu ein. montiert. Dies war zum Beispiel der Fall bei Sergej Ejzensˇtejns Film Oktjabr’ (Oktober, UdSSR 1927/28), der als Auftragsarbeit zum zehnten Jahrestag der Revolution entstanden war und aus dem auf persönliche Anweisung Stalins die Figur Lev Trockijs entfernt werden mußte. Grigorij Aleksandrov schreibt in seinen Memoiren von einem Besuch Stalins im Schneideraum am 7. November, dem Revolutionsfeiertag, um vier Uhr morgens: »Er begrüßte uns, als ob wir uns nicht das erste Mal sahen, und fragte: ›Kommt Trockij in Ihrem Film vor?‹ ›Ja‹, antwortete Sergej Michajlovicˇ. ›Zeigen Sie mir diese Teile.‹ Stalin betrat ernst, nachdenklich und nicht zum Reden aufgelegt den Raum. Es war kein Filmvorführer da, und ich ging selbst in die Kabine und . zeigte die Rollen mit Trockij. Ejzensˇtejn saß neben Stalin. Nach der Vorführung berichtete uns Stalin von einem öffentlichen Auftritt der trotzkistischen Opposition, der in einen offenen Kampf gegen die Sowjetmacht, die bolschewistische Partei und die Diktatur des Proletariats übergegangen sei. Dann kam er zu dem Schluß: ›Einen Film mit Trockij kann man heute nicht mehr zeigen‹« (Aleksandrov 1976: 104-105). Bei der Eliminierung unliebsamer Personen ist das Gesicht – gerade in der Fotografie – einem breiten Spektrum von unterschiedlichen Zensurtechniken unterworfen. Neben der filmischen Trick- und Montagetechnik – computergestützte Bildbearbeitungsprogramme stehen noch nicht zur Verfügung – wird insbesondere mit Verfahren der Retusche gearbeitet, um einen zensorischen Eingriff möglichst zu verschleiern und ihn nahezu unsichtbar für den Betrachter zu realisieren. In der Fotografie versteht man unter Retusche verschiedene Verfahren der nachträglichen Veränderung von Bildern: Dabei wurden nicht nur – etwa durch Mehrfachbelichtung – Bilder ineinanderkopiert und Bildausschnitte durch eine andere Kadrierung abgewandelt. Mit Hilfe des Skalpells griff man auch direkt in die Materialschicht der

➞ [ Exzeß ]

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➞ [ Auge ]

Fotografie ein oder verwendete bei der Retusche malerische Mittel wie Pinsel und Farbe. Auf diese Weise ließen sich bei der Nachbearbeitung von Fotografien entscheidende Korrekturen durchführen: so wurden einerseits Gesichter zum Verschwinden gebracht, andererseits konnten aber auch bestimmte Personen an Orten erscheinen, an denen sie nie gewesen waren. Das Ziel solcher Bildmanipulationen bestand während der Stalinherrschaft vor allem in einer Legitimation von Machtpositionen über die Verdrängung von personae non gratae aus dem gesellschaftlichen Bewußtsein. Durch Retusche wurden auf dem Höhepunkt des Stalinkults nicht nur die häßlichen Pockennarben auf dem Gesicht des Staats- und Parteiführers entfernt; mit demselben Verfahren ließ man auch Hunderte von in Ungnade gefallenen Parteifunktionären aus dem sowjetischen Bilderkosmos verschwinden. Wie zur Kompensation wurde dafür wiederum das Gesicht Stalins in Fotografien, Filmbilder und andere Bildzusammenhänge einkopiert, um so zu suggerieren, daß er praktisch an allen bedeutsamen historischen Ereignissen teilgenommen habe. Bei der Schaffung von Mythen und Legenden war es gerade die vermeintliche Beweiskraft des fotografischen und des filmischen Bildes, die Eingriffe dieser Art motivierte. Neben den technisch versierten Retusche begegnen einem in diesem Kontext mitunter auch ganz archaische Verfahren wie das Schwärzen von Gesichtern, das heißt die Vernichtung eines Gesichts durch das Übermalen mit schwarzer Tusche oder Tinte, das Ausschneiden oder Zerstören einzelner Gesichtsteile – etwa das Ausstechen der Augen – oder die mutwillige Attacke auf Gesichter mit Schere und Messer. Eingriffe dieser zerstörerischen Art, die häufig zugleich mit einem Ausstreichen des Namens verbunden sind, verweisen interessanterweise auf ein magisches Bildverständnis, welches – konzentriert vor allem auf das Gesicht – ein Bild mit der auf dem Bild dargestellten Person gleichsetzt. Eine zentrale Zielscheibe einer solchen Politik der Auslöschung von Personen über ihr Gesicht war (im Bereich der Fotografie) Lev Trockij. Eines der bekanntesten Beispiele hierfür bildet eine Aufnahme G.P. Goldsteins, die Lenin in seiner typischen Rednerpose zeigt, wie er 1920 von einer Holztribüne vor dem Moskauer Bol’sˇoj-Theater zu Einheiten der Roten Armee spricht. Auf der Originalaufnahme stehen Trockij und Kamenev auf einer Treppe, die zur Tribüne hinaufführt. Diese Fotografie erreichte zu Lenins Lebzeiten internationale Berühmtheit. Wenige Augenblicke später als Goldstein hat ein unbekannter Fotograf eine weitere Aufnahme des Leninschen Redeauftritts gemacht, diesmal sind Trockij und Kamenev im Profil zu sehen. Auch diese Aufnahme fand eine massenhafte Verbreitung und diente zum Beispiel als Vorlage für eine avantgardistische Postkarte. Nach dem Ausschluß Trockijs aus dem ZK der Kommunistischen Partei im November 1927 werden beide Fotografien nur noch in einer zensier-

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ten Fassung veröffentlicht. Die Aufnahme Goldsteins, die den sozialistisch-realistischen Maler Isaak Brodskij zu einem Großgemälde inspirierte, auf dem er Trockij und Kamenev durch zwei Reporter austauschte, erschien später lediglich in einer beschnittenen Form. Die zweite Fotografie wurde in einer technisch vollendeten Retusche reproduziert: Trockij und Kamenev sind hier durch fünf Holzstufen ersetzt! Stalins strategische Absicht bei der Zensur bestand darin, die Erinnerung an seinen politischen Konkurrenten Trockij und dessen Erfolge während der Revolution zu tilgen, um auf diese Weise selbst dessen Platz in der Geschichte zu usurpieren und sich zum legitimen Nachfolger Lenins zu stilisieren (vgl. Jaubert 1989; King 1997). Auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 hielt Nikita Chrusˇcˇev eine Geheimrede, in der er mit dem Personenkult, dem Massenterror und der Verfälschung der Geschichte im Stalinismus abrechnete. Durch diese Rede wurde in der Sowjetunion ein Prozeß der Entstalinisierung eingeleitet, eine gesellschaftliche Erneuerungsbewegung, die auch unter der – auf den Roman Ottepel’ (1954-56) . von Il’ja Erenburg zurückgehenden – Bezeichnung »Tauwetter« bekannt geworden ist (vgl. Crusius/Wilke 1977). In der Zeit des Tauwetters wurde Stalin nun selbst zum prominentesten Opfer jener facialen Zensurpolitik, die er während seiner Herrschaft exzessiv betrieben hatte. Nach seinem Tod im März 1953 wurde auch sein öffentliches Bild, und das heißt vor allem: sein Gesicht, ausgelöscht. Darstellungen, auf denen Stalin zu sehen war, verschwanden aus der Öffentlichkeit, sie wurden retuschiert, übermalt oder umgearbeitet. Auch seinen Leichnam entfernte man aus dem Mausoleum. Städte und Fabriken, die seinen Namen trugen, wurden umbenannt, und seine Texte, die vorher in Massenauflagen erschienen waren, wurden vernichtet. Bei dieser Ausstreichung der Erinnerung an einen der Diktatur bezichtigten Herrscher aus dem kollektiven Gedächtnis handelt es sich um die moderne Version einer alten Tradition der »damnatio memoriae«, die bereits in der römischen Gesellschaft praktiziert wurde (vgl. Haus der Geschichte der BRD 2000: 30-33). Über die politische Zielsetzung hinaus gewinnt der ›Bildersturm‹ zur Zeit des Tauwetters zugleich Züge eines Ikonoklasmus, der sich gegen eine quasi-sakrale Kultästhetik im Zentrum des stalinistischen Bilderkanons richtet, die auf ihrer Kehrseite zu einem Ausschluß verbotener, tabuisierter und verdrängter Bilder geführt hat. Die Frage, wie die Zirkulation der Bilder in der sowjetischen Kultur – im Spannungsfeld zwischen Kult und Zensur – reguliert wurde, soll im folgenden eingehender am Beispiel des Kinos in der Stalinzeit behandelt werden. Die Kanonisierung des sozialistischen Realismus hatte in den 1930er Jahren eine erzwungene Vereinheitlichung des sowjetischen

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➞ [ Ikone ]

Kulturraums zur Folge. Auf dem 1. Schriftstellerkongreß 1934 in Moskau wurden die grundlegenden ideologischen Prinzipien des sozialistischen Realismus definiert und im folgenden Jahr auf dem Allunionskongreß der Filmschaffenden für den Bereich des Kinos adaptiert: Parteilichkeit, allgemeine Verständlichkeit, Optimismus und Heroik waren die zentralen Postulate des neuen ästhetischen Dogmas. Literatur, Film und Kunst wurden in diesem Zusammenhang auf eine machtstützende Funktion verpflichtet und die mediale Repräsentation der Wirklichkeit einer umfassenden Kontrolle durch die staatliche Zensur unterworfen (vgl. Schmitt/Schramm 1974; Za bol’aoe kinoiskusstvo 1935). Die Zensur erstreckte sich dabei nicht nur auf die fertigen Filme, sondern auch auf Exposés, Drehbücher und verschiedene audiovisuellen Verfahren des Films. In jährlichen Themenplänen wurde festgeschrieben, welche Inhalte von welchen Regisseuren in welchen Filmen behandelt werden sollten. In dem Maße, wie sich der Staats- und Parteiapparat zum alleinigen Filmproduzenten in der Sowjetunion entwickelte, entstand durch Zensur auch eine spezifische Verleihpolitik: durch eine geringe Kopienzahl konnte ein Film geradezu vollständig unterdrückt werden, eine hohe Kopienzahl dagegen förderte die Popularität eines Films und trug wesentlich zur Durchsetzung bestimmter Normvorstellungen bei. An der Spitze des Zensursystems im Kino stand Stalin selbst, der eine besondere Vorliebe für das Medium Film hegte. Er studierte Drehbücher, schaute im Kreml im Kreis seiner engsten Vertrauten Filme an und stand persönlich in Kontakt mit den Filmschaffenden (vgl. Mar’jamov 1992; Bulgakowa 1994; Laurent 2000). Auf diese Weise wurde im Kino der Stalinzeit ein kanonisches, hierarchisch gestaffeltes System geschaffen, das in einer Reihe von Spielfilmen, den sogenannten Kultfilmen gipfelte, in denen Stalin nach einer streng geregelten Ikonographie dargestellt und als gottgleiche Führerfigur ins Zentrum gerückt wurde. In jenen Filmen, in denen der Stalinkult vor allem unter Rückgriff auf den christlichen Bilderkult in Szene gesetzt wurde, erfährt eine bereits mit Lenin einsetzende Kultästhetik ihre Vollendung. Es findet eine Quasi-Sakralisierung des Filmbildes statt, die den Film zu einer Art »kinetischer Ikone« (Michelson 2003) werden läßt. In ihrer Analyse von Dziga Vertovs Tri pesni o Lenine (Drei Lieder über Lenin, UdSSR 1934) beschreibt Annette Michelson, wie der Film selbst einer Ikone ähnlich werden kann: Auf der Grundlage dokumentarischen Materials zeichnet der Film Tri pesni o Lenine, der anläßlich des 10. Todestages Lenins entstand, verschiedene Stationen in der politischen Karriere Lenins nach, wobei im Mittelpunkt des filmischen Triptychons die Feierlichkeiten zu seinem Begräbnis stehen. In den Vertovschen Filmbildern entdeckt Michelson entscheidende Merkmale der byzantinischen Ikonenästhetik, die ihrerseits auf spätantike und ägyptische

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Totenporträts zurückgeht. Aus ihrer Sicht handelt es sich auch bei Vertov um die Darstellung einer heiligen Person, die für den gläubigen Betrachter an der Heiligkeit des Dargestellten teilhat. Die formalen Eigenschaften der Ikone, die sie herausarbeitet, betreffen insbesondere die Idealisierung der Leninschen Gesichtszüge – das Glanzlicht in der Pupille –, den feierlichen Ernst in der Darstellung von Szenen aus seinem Leben sowie die Beschriftung des Filmbildes durch Name und Titel des Dargestellten: Lenin als Bringer des Lichts im Prozeß der Elektrifizierung der Sowjetunion. Bei der medialen Transformation der christlichen Heiligenthematik in eine Leninsche Ikonographie kommt es schließlich zu einer Gleichsetzung oder Parallelisierung von Ikone und Film, und zwar gerade zwischen der Ikone mit dem höchsten Status, des Acheiropoieton, als des ›nicht-von-Menschenhand-geschaffenen‹ Bildes (russisch: nerukotvornyj), das durch einen physischen Abdruck oder eine Emanation der heiligen Person entstanden sein soll, mit dem vom ›pencil of nature‹ fotografisch bzw. später auch filmisch produzierten Bild, das ebenfalls als Spur des Realen ohne eine Vermittlung von Menschenhand durch die Aufzeichnung von Licht hervorgebracht wird. Ausgehend von einem besonderen Exemplar des Acheiropoieton, dem Turiner Grabtuch, formulierte André Bazin seine Ontologie des fotographischen bzw. filmischen Bildes. Bazin hat bereits 1950 darauf hingewiesen, daß dem Stalinmythos im Film, auch wenn die Sowjetmacht selbst einen aggressiven Atheismus propagierte, die Tradition der christlichen Ikonographie zugrunde lag. An Michail Cˇiaurelis Film Kljatva (Der Schwur, UdSSR 1946), dem wahrscheinlich wichtigsten Kultfilm, der kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entstand, konnte er zeigen, wie schon zu Lebzeiten Stalins dessen Biographie mit der Geschichte identifiziert wurde. Der allwissende und unfehlbare Stalin wird von Cˇiaureli als eine Verkörperung des Transzendenten inszeniert, wobei er das Gesicht (russisch: lico) in der Tradition der Ikone zum Antlitz (russisch: lik) überhöht, auf dem eine unsichtbare Welt in der sichtbaren Welt zur Erscheinung gebracht wird (vgl. Florenskij 1990: 58): »Es gibt, zu Beginn von Der Schwur, eine höchst bezeichnende Szene, die man Weihe durch die Geschichte nennen könnte. Lenin ist gestorben, und Stalin geht allein durch den Schnee, nachdenklich pilgert er zu dem Ort ihrer letzten Gespräche. Dort, nahe der Bank, wo der Schatten Lenins in den Schnee eingeschrieben zu sein scheint, spricht der Tote als innere Stimme zu Stalin. Aber aus Furcht, daß die Metapher der mystischen Krönung und der Gesetzestafeln noch nicht genug sein könnte, hebt Stalin die Augen zum Himmel. Zwischen den Tannenzweigen bricht ein Sonnenstrahl durch, der den neuen Moses auf die Stirn trifft. Wie man sieht, es ist alles da, bis hin zu den Feuerhörnern. Das Licht kommt von oben. […] Wir sehen ihn zurückkehren […]

➞ [ Konterfei ]

➞ [ Photogénie ]

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er zeichnet sich künftig nicht nur durch seine Wissenschaft und sein Genie aus, vielmehr ist der Gott der Geschichte in ihm gegenwärtig geworden« (Bazin 1950/1969: 86). Die große Verehrung, die dem Bild im Zentrum der stalinistischen Kultästhetik entgegengebracht wurde, rief andererseits eine große Angst vor der Wirkung des Bildes hervor. Dies ist der Hintergrund für eine extreme, sich ins Absurde steigernde Verschärfung der Zensur im Hochstalinismus der Nachkriegszeit, die man nicht allein aus einem politischen Machtkalkül erklären kann. In der sogenannten »Zeit der wenigen Filme« (malokartin’e), die unter der Stalinschen Weisung »Man soll weniger Filme drehen, aber dafür muß jeder Film ein Meisterwerk sein!« stand, war die Zahl der produzierten Filme auf ein Minimum reduziert: Im Jahr 1948 wurden von den 40 im Themenplan für die Produktion vorgesehenen Spielfilmen lediglich 17 (einschließlich der abgefilmten Theateraufführungen) realisiert, im Jahr 1949 waren es 16, 1950 dann 15 und 1951 schließlich nur noch 9 (vgl. Mar’jamov 1992: 41). Die Zensur ist in diesem Zusammenhang allerdings nicht nur als ein Instrument des Ausschlusses zu verstehen – über das Verbot unerwünschter Filme hinaus trägt sie auch dazu bei, den besonderen Status der kanonischen Kultfilme zu bewahren. Abschließend sollen zwei berühmte Beispiele der stalinistischen Filmzensur genauer betrachtet werden: Bezˇin lug (Die Bezˇin-Wiese, UdSSR 1935-37) und Ivan Groznyj (Ivan der Schreckliche, UdSSR . 1943-46) von Sergej Ejzensˇtejn. Wie funktioniert diese Zensur? Worauf bezieht sie sich im einzelnen? Spielt der Aspekt der Facialität dabei eine Rolle? . Ejzensˇtejns Filmprojekt Bezˇin lug, mit dem an Ivan Turgenevs Aufzeichnungen eines Jägers erinnernden Titel, fiel der Zensur im . Jahr 1937 zum Opfer, und Ejzensˇtejn war sogar gezwungen, öffentlich Selbstkritik zu üben. Auf Anweisung der staatlichen Leitung der sowjetischen Filmwirtschaft mußten die Dreharbeiten abgebrochen werden, und der unvollendete Film wurde vernichtet. Auf der Grundlage einzelner Filmbilder, die von der Cutterin des Films, Esfir’ Tobak, gerettet wurden, konnten Naum Klejman und Sergej Jutkevicˇ im Jahr 1971 Bezˇin lug als Fotofilm rekonstruieren. Das ursprüngliche Drehbuch von Aleksandr Rzˇesˇevskij geht auf eine authentische Geschichte zurück: Der Pionier Pavlik Morozov hatte seinen Vater, einen Kulakenknecht, denunziert und war daraufhin von seinen Verwandten umgebracht worden. Diese Geschichte wurde zu einem sowjetischen Märtyrermythos stilisiert und war ein zentraler Bestandteil des stalinistischen Kanons. Warum aber sollte nun ein Film, der sich einem solch offiziellen Stoff zuwandte, verboten werden? Anstatt eine propagandistisch wirksame Geschichte über den Klassenkampf bei der Kollektivierung der sowjetischen Landwirtschaft zu erzählen, legte . Ejzensˇtejn seinen Film, indem er den Konflikt zu einer Ermordung des

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Sohns durch den Vater zuspitzte, als eine Art biblisches Gleichnis an, als eine Vater-Sohn-Geschichte nach dem Vorbild von Abraham und Isaak. Wenn in den stalinistischen Kanonfilmen – bei gleichzeitigem Kampf gegen die Religion – die christliche Ikonographie auf verdeckte Weise für eine möglichst wirkungsvolle Inszenierung eines sowjeti. schen Führermythos angeeignet wurde, so machte Ejzensˇtejn diesen Widerspruch explizit: in Bezˇin lug bildet die Zerstörung einer Kirche durch eine Meute randalierender Kolchosbauern, die als biblische und mythologische Figuren gezeichnet sind, einen der Höhepunkte des Films. Diese Reflexion über Funktionsmechanismen des sowjetischen Bilderkosmos mag ein Grund für das Verbot des Films gewesen sein. Besonders interessant liest sich die Kritik, die der Leiter der staatliˇ umjackij übte und dabei nicht nur an chen Filmorganisation Boris S dem übertriebenen Herausstellen der filmischen Ausdrucksmittel, sondern insbesondere an der Darstellung der Gesichter nach dem Vorbild der Ikonen Anstoß nahm. In der anläßlich des Filmverbots . erschienenen Broschüre Über den Film Bezˇin lug von S. Ejzensˇtejn. . Gegen den Formalismus in der Filmkunst schreibt er: »Ejzensˇtejn stellt den Chef der Politabteilung als einen Menschen mit unbewegtem Gesicht dar, mit einem riesigen Bart und den Handlungen eines biblischen Gerechten. Das Gesicht des Vaters des Pioniers Stepok, des Kulakenknechts und wütenden Klassenfeinds hat er nicht mit den Zügen eines realen Feinds, sondern mit des Zügen eines mythologischen Pans wie von den Leinwänden des symbolistischen Künstlers Vrubel’ ausgestattet. Den Haupthelden des Films – Stepok, den . seiner Heimat ergebenen Pionier – zeigt Ejzensˇtejn in blaß-hellen Tönen, mit dem Gesicht eines ›dem Untergang geweihten heiligen Knaben‹. In der Charakteristik des Bildes greift er auf ein Verfahren zurück, das den ›jenseitigen‹ Charakter der Figur unterstreicht. In einigen Einstellungen etwa ist die Lichtquelle so hinter dem Rücken Stepoks plaziert, daß dieses blonde Kind im weißen Hemd in einem hellen Glanz erstrahlt« (O fil’me ›Bezˇin lug‹ 1937: 7-8). . Auch mit seinem letzten Film, Ivan Groznyj, geriet Ejzensˇtejn mit der Zensur in Konflikt. Das Drehbuch und der erste, 1944 gedrehte . Teil von Ivan Groznyj stießen bei Stalin auf großen Beifall (Ejzensˇtejn . erhielt dafür den Stalinpreis). Der zweite Teil, den Ejzensˇtejn Anfang 1946 fertigstellte, wurde dagegen im Parteierlaß über den Film Bol’sˇaja ˇzizn’ (Das große Leben, UdSSR 1946, Leonid Lukov) einer scharfen Kritik unterzogen und mit einem Verbot belegt. Den Auftrag zu dem Film über Ivan IV., genannt der Schreckliche, der im 16. Jahrhundert in einem Kampf gegen innere und äußere Feinde das Groß. russische Reich begründete, erhielt Ejzensˇtejn von Stalin persönlich. Für Stalin war Ivan IV. eine wichtige historische Identifikationsfigur, als Schöpfer eines einheitlichen und starken Staats stellte er für ihn eine Legitimation seiner eigenen Herrschaftsvorstellungen dar.

➞ [ Xenos ]

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374 | [ Sabine Hänsgen ]

➞ [ Make-up ]

➞ [ Grimasse ]

➞ [ Oberfläche ]

. Ejzensˇtejn ging zunächst auf den politischen Auftrag ein, jedoch kamen im Laufe der Arbeit zunehmend Ambivalenzen in der Gestaltung der Zarenfigur zum Vorschein. Die Glorifizierung eines mächtigen Autokraten gewann zugleich Züge einer exzentrischen Tragödie über einen vereinsamten und von Selbstzweifeln gequälten Tyrannen. Diese Widersprüchlichkeit von sich wechselseitig ausschließenden Eigenschaften wird auch in der Inszenierung des Gesichts sehr deutlich. Abrupte Wechsel der Beleuchtung führen zu dramatischen Veränderungen. Das Gesicht Ivans kann dabei ganz unterschiedliche Ausdrucksformen annehmen. Ähnelt es zunächst – vor allem durch die Kadrierung, die Form der Augen und die Lichtpunkte auf den Pupillen – einem ikonenhaft stilisierten Antlitz Christi, so läßt eine plötzliche Kopfbewegung einen völlig anderen, beunruhigenden Anblick entstehen. Der Lichtstrahl trifft nun das Gesicht von unten, was zu einer starken Schattenbildung führt und dämonische Assoziationen weckt. Diese werden zusätzlich durch das Make-up unterstützt: die Linien der Augenbrauen gleichen denen von Mephistopheles. Mit Hilfe des Maskenbildners V.V. Gorjunov und des Kameramanns . Andrej Moskvin gelingt es Ejzensˇtejn, das Gesicht Ivans in eine kaleidoskopartige Vielzahl von flüchtigen Ansichten zu verwandeln (vgl. Eisenstein 1980: 83-85; Tsivian 2002: 37-43). . Ejzensˇtejn und der Darsteller Ivans, Nikolaj Cˇerkasov, wurden Anfang 1947 zu einer Unterredung mit Stalin, bei der auch Zˇdanov und Molotov anwesend waren, eingeladen, um über Änderungen am Film zu beraten. Stalin zeigte sich höchst unzufrieden mit der Darstellung seines von Widersprüchen zerrissenen Doppelgängers, der ihn allzusehr an den zaudernden, entscheidungsunfähigen Hamlet erinnerte. In seiner Kritik richtete er die Aufmerksamkeit insbesondere auf das Gesicht. Das ideale Bild eines Herrschers sah Stalin durch den überlangen Bart Ivans gefährdet. Tatsächlich stellt der in grotesker Weise aus dem Gesicht herausragende Spitzbart eine Störung der wohlproportionierten, in sich geschlossenen Projektionsfläche dar, auf die sich die klassischen Vorstellungen von Individualität und Souveränität beziehen. Mit der materiellen Verselbständigung des Barts (als eines Körperteils) wird grundsätzlich das abstrakte Prinzip der Gesichthaftigkeit, das eine wesentliche Voraussetzung für die Repräsentation von Macht ist, in Frage gestellt. Dies konnte Stalin, der den Film Ivan Groznyj zur Legitimation seiner Herrschaft geplant hatte, nicht zulas. sen. Im Gedächtnisprotokoll des Gesprächs, das Ejzensˇtejn und Cˇerkasov angefertigt haben, sind seine kritischen Äußerungen nachzulesen: »Gen. Stalin sagt, daß Eisenstein sich zu sehr von Schatten hinreißen lasse, daß er den Zuschauer auch durch den Bart Iwans des Schrecklichen von der Handlung ablenke. Dieser hebe zu oft den Kopf, damit man den Bart sehen kann. Eisenstein verspricht, Iwans Bart zu kürzen« (Herausforderung Eisenstein 1989: 69).

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Die Umarbeitung des zweiten Teils und die weiteren Dreharbeiten . zum dritten Teil konnte Ejzensˇtejn nicht mehr realisieren. Er starb 1948, ein Jahr, nachdem er einen schweren Herzinfarkt erlitten hatte, kurz nach seinem fünfzigsten Geburtstag. [ Sabine Hänsgen ]

Literatur .

Aleksandrov, Grigorij (1976): Epocha i kino, Moskva: Izd. Polit. Lit. Bazin, André (1950/1969): Le mythe de Staline dans le cinéma

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376 | [ Sabine Hänsgen ]

Groys/Max Hollein (Hg.): Traumfabrik Kommunismus. Die visuelle Kultur der Stalinzeit, Ostfildern: Hatje Cantz, S. 280-303. . O fil’me ›Bezˇin lug‹ S. Ejzens ˇtejna. Protiv formalizma v kinoiskusstve . [ Über den Film »Bezˇin-Wiese von S. Ejzensˇtejn. Gegen den Formalismus in der Filmkunst ] (1937), Moskva: Iskusstvo. Schmitt, Hans-Jürgen/Schramm, Godehard (1974) (Hg.): Sozialistische Realismuskonzeptionen. Dokumente zum 1. Allunionskongreß der Sowjetschriftsteller, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Turovskaja, Majja (2001): «Mosfil’m – 1937». In: Kinovedc ˇeskie zapiski, 50/2001, S.198-218. Tsivian, Yuri (2002): Ivan the Terrible (Ivan Groznyj), London: BFI Classics. Za bol’sˇoe kinoiskusstvo [ Für eine große Filmkunst ] (1935), Moskva: Kinofotoizdat. [Alle französisch- und russischsprachigen Zitate des Textes wurden von der Autorin (S.H.) übersetzt.]

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[Anhang]

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[ Autorinnen und Autoren ] | 379

[ Autorinnen und Autoren ]

Joanna Barck, Dr. des., ist Kunsthistorikerin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg (SFB/FK 427) Medien und kulturelle Kommunikation der Universitäten Köln, Bonn, Bochum und Aachen. Ihre wissenschaftlichen Arbeitsschwerpunkte sind Bildwissenschaften (Kunst und Film), Gesichtertheorien des Films, Interaktionen zw. Malerei und Film, philosophische Ästhetik und Phänomenologie. Letzte Veröffentlichungen: Das Gesicht im Film (I u. II), montage/ av 13/1/04 u. 13/2/04 (gemeinsam mit Wolfgang Beilenhoff); Im Blick des Porträts. Von den ›Zurichtungen‹ des Gesichts im Film, in: Petra Löffler/Leander Scholz (Hg.): Das Gesicht ist eine starke Organisation (DuMont 2004); in Vorbereitung: Fragile Evidenzkörper und wirksame Gemälde: Wie Spielfilme Historizität simulieren, in: Michael Cuntz u.a. (Hg.): Die Listen der Evidenz (DuMont 2006); Hin zum Film – Zurück zu den Bildern. Über Lebende Bilder bei Antamoro, Korda, Visconti und Pasolini (2006). Wolfgang Beilenhoff, Professor für Filmtheorie und Filmästhetik am

Institut für Medienwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Seit Januar 2005 Leiter des Teilprojekts »Gesichter-Politiken« am Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg (SFB/FK 427) Medien und kulturelle Kommunikation der Universitäten Köln, Bonn, Bochum und Aachen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Massenmedien und Massenkultur, Sowjetisches Kino, Experimentalfilm. Letzte Veröffentlichungen: Licht-Bild-Gedächtnis, in: Marion Strunk (Hg.): Bildergedächtnis/Gedächtnisbilder (Konkursbuch 1998); A film by Robert Frank, in: Ute Eskildsen (Hg.): HOLD STILL – Keep Go-

2005-09-05 10-35-35 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 379-383) T01_27c autorinnen.p 93904543878

380 | [ Gesichter des Films ]

ing (Scalo 2001); Herausgabe von Poetika Kino – Filmtheorie und Filmpraxis der russischen Formalisten (Suhrkamp 2005); im Druck: Iconoclash – Passagen zwischen Denkmal und Film II; Drucken, was nicht zu schreiben ist. Zum konstruktivistischen Plakat; Empathie mit dem Ding: Zu einem Fall von Ekstase in Eisensteins Generallinie. Gereon Blaseio, M.A., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut

für Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft an der Universität zu Köln. Zuvor arbeitete er am Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg (SFB/FK 427) Medien und kulturelle Kommunikation der Universitäten Köln, Bonn, Bochum und Aachen zu Gender-Aspekten der Filmsynchronisation. Letzte Veröffentlichungen: zusammen mit Hedwig Pompe und Jens Ruchatz (Hg.): Popularisierung und Popularität (DuMont 2005); Genre und Gender: Zur Interdependenz zweier Leitkonzepte der Filmwissenschaft und Heaven and Earth. Vietnamfilm zwischen Male Melodrama und Women’s Film, in: Claudia Liebrand/Ines Steiner (Hg.): Hollywood hybrid. Genre und Gender im zeitgenössischen Mainstream-Film (Schüren 2003); Gendered voices in der Filmsynchronisation. First Blood versus Rambo, in: Cornelia Epping-Jäger/ Erika Linz (Hg.): Medien/Stimmen (DuMont 2003). Alexander Böhnke, Dr. phil., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt »Formen des Vorspanns im Hollywoodfilm und im westeuropäischen Autorenfilm seit 1950« am Forschungskolleg Medienumbrüche der Universität Siegen. Letzte Veröffentlichungen: zusammen mit Jens Schröter (Hg.): Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum? Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung (transcript 2004). Seine Dissertation Paratexte des Films. Verhandlungen des diegetischen Raums wird demnächst erscheinen. Michael Cuntz, Dr. phil., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kul-

turwissenschaftlichen Forschungskolleg (SFB/FK 427) Medien und kulturelle Kommunikation der Universitäten Köln, Bonn, Bochum und Aachen. Seine Arbeitsgebiete sind romanische Literaturwissenschaft und Medienwissenschaft mit den historischen Schwerpunkten Mittelalter und Frühe Neuzeit sowie 20. und 21. Jahrhundert. Letzte Veröffentlichungen: Der göttliche Autor. Zu Apologie, Prophetie und Simulation in Texten Pascals (Steiner 2004); zusammen mit Jan Söffner: Einige Betrachtungen zur Poetik der mittelalterlichen Personifikation, in: Maria Moog-Grünewald/Franz Penzenstadler (Hg.): Retorica. Ordnungen und Brüche (Gunter Narr 2005); als Herausgeber (u.a.): Die Listen der Evidenz (DuMont 2006); als Übersetzer: Jacques Aumont: »Der porträtierte Mensch«, in: montage/av, 13/1/04 (mit einer Vorbemerkung).

2005-09-05 10-35-35 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 379-383) T01_27c autorinnen.p 93904543878

[ Autorinnen und Autoren ] | 381 Sabine Hänsgen, Dr. phil., ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am

Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg (SFB/FK 427) Medien und kulturelle Kommunikation der Universitäten Köln, Bonn, Bochum und Aachen. Ihre Arbeitsgebiete sind russisch-sowjetische Mediengeschichte, intermediale Ästhetik, Avantgarde/Postavantgarde. Letzte Veröffentlichungen: zusammen mit Günter Hirt (Hg.) (unter dem Pseudonym Sascha Wonders): Präprintium. Moskauer Bücher aus dem Samizdat. Mit Multimedia CD (Edition Temmen 1998); zusammen mit Hans Günther (Hg.): Sovetskaja vlast’ i media [Sowjetmacht und Medien] (St. Petersburg 2005). Ekkehard Knörer, Post-Doc am Graduiertenkolleg Figur des Dritten

in Konstanz. Promotion zum Thema »Ingenium in Rhetorik und Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts«. Weitere Schwerpunkte: Original und Kopie, deutsche Literatur um 1800, europäischer und asiatischer Film, Comic, Kriminalliteratur. Letzte Veröffentlichungen: Ästhetische Evidenz: Alexander Gottlieb Baumgartens Begriff des phaenomenon, in: Sibylle Peters/Martin Schäfer (Hg.): Evidenz in den Kulturwissenschaften (Bielefeld 2005); Gesichter geben, Geschichte schreiben. Geschichtsschreibung in Comics von Art Spiegelman und Enki Bilal, in: Stefanie Diekmann/Matthias Schneider (Hg.): Szenarien des Comic (SuKuLTur 2005); The Spectator’s Spectacle: Tod Browning’s Theatre (mit Stefanie Diekmann), in: Bernd Herzogenrath (Hg.): The Cinema of Tod Browning (Black Dog 2005). Claudia Liebrand ist Professorin für Allgemeine Literaturwissen-

schaft/Medientheorie am Institut für deutsche Sprache und Literatur der Universität Köln. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen auf den Gebieten Gender Studies, Mainstream Film, Literatur des 19. Jahrhunderts und der Klassischen Moderne – mit einem Schwerpunkt auf dem Feld kultureller Negotiationen und medialer Transfers. Letzte Veröffentlichungen: zusammen mit Franziska Schößler (Hg.): Textverkehr. Kafka und die Tradition (Königshausen und Neumann 2004); zusammen mit Ines Steiner (Hg.): Hollywood hybrid. Genre und Gender im zeitgenössischen Mainstream-Film (Schüren 2004); Gender-Topographien. Kulturwissenschaftliche Lektüren von Hollywoodfilmen der Jahrhundertwende (Mediologie, Bd. 8, DuMont 2003). Petra Löffler, Dr. phil., ist Kultur- und Medienwissenschaftlerin und

war 1999 bis 2004 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg (SFB/FK 427) Medien und kulturelle Kommunikation der Universitäten Köln, Bonn, Bochum und Aachen. Sie arbeitet derzeit am Institut für Informations-, Medien-

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382 | [ Gesichter des Films ]

und Kulturwissenschaft der Universität Regensburg. Sie arbeitet zur Theoriegeschichte des Dokuments und über das Gesicht im Film. Letzte Veröffentlichungen: Affektbilder. Eine Mediengeschichte der Mimik (transcript 2004); gemeinsam mit Leander Scholz (Hg.): Das Gesicht ist eine starke Organisation (DuMont 2004); gemeinsam mit Albert Kümmel (Hg.): Medientheorie 1888-1933. Texte und Kommentare (Suhrkamp 2002). F. T. Meyer, Dr. phil., ist Filmwissenschaftler und war 2001 bis 2004 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg (SFB/FK 427) Medien und kulturelle Kommunikation der Universitäten Köln, Bonn, Bochum und Aachen. Derzeit lehrt er zur Medialität des Gesichts im Film an den Universitäten Köln und Bochum. Seine Forschungsschwerpunkte sind der Dokumentar-, Avantgarde- und Industriefilm sowie die Darstellung des Körpers im Film. Letzte Veröffentlichungen: Filme über sich selbst. Strategien der Selbstreflexion im dokumentarischen Film (transcript 2005). Rolf F. Nohr ist Juniorprofessur für Medienkultur an der HBK Braunschweig. Seine Arbeitsgebiete sind Medienwissenschaft mit dem Schwerpunkt auf Evidenzforschung, Game Studies und instanate Bildgebung. Letzte Veröffentlichungen als Herausgeber: Evidenz – das sieht man doch (LIT 2004); See? I’m real! Multidisziplinäre Zugänge zum Computerspiel (LIT 2005); Polaroid als Geste – über die Gebrauchsweisen einer fotografischen Praktik (Hatje&Cantz 2005). Peter Rehberg, Dr. phil., lebt nach zehn Jahren Auslandsaufendhalt in den USA als Schriftsteller, wissenschaftlicher und journalistischer Publizist (»taz«, »Freitag«) in Köln und Berlin. Zur Zeit unterrichtet er als Visiting Assistant Professor für deutsche Studien Queer Studies am Germanistischen Seminar der Universität Bonn. Neben Aufsatzpublikationen zu Jean Genet und Alfred Hitchcock sowie zahlreichen Artikeln zu schwulenpolitischen Themen ist zuletzt sein Roman Fag Love bei MännerschwarmSkript (2005) erschienen. Leander Scholz, Dr. phil., ist Schriftsteller und Wissenschaftlicher

Mitarbeiter am Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg (SFB/FK 427) Medien und kulturelle Kommunikation der Universitäten Köln, Bonn, Bochum und Aachen. Seine wissenschaftlichen Arbeitsschwerpunkte sind die Theorie und Geschichte der Medien, Philosophische Ästhetik und Politische Philosophie. Letzte Veröffentlichungen: Simulation und Buchdruck, in: Jürgen Fohrmann (Hg.): Gelehrte Kommunikation. Wissenschaft und Medium zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert (Böhlau 2005); zusammen mit Petra Löffler (Hg.): Das Gesicht ist eine starke Organisation (Du-

2005-09-05 10-35-35 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 379-383) T01_27c autorinnen.p 93904543878

[ Autorinnen und Autoren ] | 383

Mont, 2004); zusammen mit Albert Kümmel und Eckhard Schumacher (Hg.): Einführung in die Geschichte der Medien (UTB, 2004); Das Archiv der Klugheit. Strategien des Wissens um 1700 (Niemeyer, 2002). Ines Steiner, Dr. phil., ist Film- und Kulturwissenschaftlerin. Ab

Herbst 2000 bis 2004 arbeitete sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg (SFB/FK 427) Medien und kulturelle Kommunikation der Universitäten Köln, Bonn, Bochum und Aachen. Ihr Forschungsprojekt und Arbeitsschwerpunkt war »Gender und Genre: Die amerikanische Filmkomödie im Prozeß ihrer Ausdifferenzierung«. Weitere Schwerpunkte: Gender-Konfigurationen und -Performanzen in slapstick-, romantic-, musical- und screwball comedy. Letzte Veröffentlichungen: zusammen mit Claudia Liebrand (Hg.): Hollywood hybrid. Genre und Gender im zeitgenössischen Mainstream-Film (Schüren 2003); zusammen mit Armin Loacker (Hg.): Imaginierte Antike. Österreichische Monumental-Stummfilme (Filmarchiv Austria 2002).

2005-09-05 10-35-36 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 379-383) T01_27c autorinnen.p 93904543878

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) T01_27d vakat.p 93904543886

[ Bildnachweise ] | 385

[ Bildnachweise ]

Auge: Kaderausbelichtung aus der Exposition von Trois couleurs: Bleu

(Drei Farben: Blau, PL/F/CH/UK 1993, Krzysztof Kie´slowski). Blick: Kaderausbelichtung aus der Exposition von Sans Soleil (Sans

Soleil – Unsichtbare Sonne, F 1983, Chris Marker). Casting: Kaderausbelichtung aus der Exposition von A Face in the

Crowd (Das Gesicht in der Menge, USA 1957, Elia Kazan). Double: Kaderausbelichtung aus der Exposition von Face/off (USA

1997, John Woo). Exzeß: Kaderausbelichtung aus der Exposition von Mughal-e-Azam

(Der große Moghul, IND 1960, Karim Asif). Frisur: Kaderausbelichtung aus der Exposition von Le Mepris (Die

Verachtung, F/I 1963, Jean-Luc Godard) Grimasse: Kaderausbelichtung aus der Exposition von The Laughing

Gas (USA 1907, Edwin S. Porter). Hand: Kaderausbelichtung aus der Exposition von Triumph des Willens

(D 1935, Leni Riefenstahl). Ikone: Kaderausbelichtung aus der Exposition von Il vangelo secondo

Matteo (Das erste Evangelium - Matthäus, I/F 1964, Pier Paolo Pasolini). Jedermann: Kaderausbelichtung aus der Exposition von Primary (Vorwahlkampf USA 1960, Robert Drew, Terence Macartney-Filgate, Don Allan Pennebaker, Albert Maysles, Richard Leacock). Konterfei: Kaderausbelichtung aus der Exposition von Tomie: Re-birth (Tomie: Re-birth, J 2001, Takashi Shimizu). Lächeln: Kaderausbelichtung aus der Exposition von General’naja . Linija (Die Generallinie, UdSSR 1926-29, Sergej Ejzensˇtejn).

2005-09-05 10-35-37 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 385-386) T01_27e bildnachweise.p 93904543894

386 | [ Gesichter des Films ] Make-up: Kaderausbelichtung aus der Exposition von M. Butterfly (M.

Butterfly, USA 1993, David Cronenberg). Narbe: Kaderausbelichtung aus der Exposition von A Woman’s Face

(Die Frau mit der Narbe, USA 1941, George Cukor). Oberfläche: Kaderausbelichtung aus der Exposition von Kôkaku

Kidôtai 2: Inosensu (Ghost in the Shell 2: Innocence, J 2003, Mamoru Oshî). Photogénie: Kaderausbelichtung aus der Exposition von Shadows (Schatten, USA 1959, John Cassavetes). Queer: Kaderausbelichtung aus der Exposition von Querelle – ein Pakt mit dem Teufel (BRD/F 1982, Rainer Werner Fassbinder). Rasur: Kaderausbelichtung aus der Exposition von Greystoke – Legend of Tarzan: Lord of the Apes (Greystoke – Die Legende von Tarzan, Herr der Affen, GB 1984, Hugh Hudson). Star: Kaderausbelichtung aus der Exposition von Lola Montès (Lola Montez, D/F 1955, Max Ophüls). Träne: Kaderausbelichtung aus der Exposition von La Passion de Jeanne d’Arc (Jeanne d’Arcs Leiden und Tod, F 1927, Carl Theodor Dreyer). Umriß: Kaderausbelichtung aus der Exposition von Leise flehen meine Lieder (AU 1933, R: Willi Forst). Rechte: Filmarchiv Austria, Wien. Vorspann: Kaderausbelichtung aus der Exposition von The Women (Die Frauen, USA 1939, George Cukor). Widescreen: Kaderausbelichtung aus der Exposition von Il Buono, il Brutto, il Cattivo (Zwei glorreiche Halunken, I/E 1966, Sergio Leone). Xenos: Kaderausbelichtung aus der Exposition von Eliso (UdSSR ˇengelaja). 1928, Nikolaj S Yentl: Kaderausbelichtung aus der Exposition von Yentl (Yentl UK/ USA/CSSR 1983, Barbra Streisand). Zensur: Kaderausbelichtung aus der Exposition von Lenin v oktjabre (Lenin im Oktober, UdSSR 1937, Michail Romm).

2005-09-05 10-35-38 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93904539478|(S. 385-386) T01_27e bildnachweise.p 93904543894

Weitere Titel zum Film:

Henry Keazor, Thorsten Wübbena Video Thrills the Radio Star Musikvideos: Geschichte, Themen, Analysen

Nicola Glaubitz, Andreas Käuser, Hyunseon Lee (Hg.) Akira Kurosawa und seine Zeit

Oktober 2005, ca. 500 Seiten, kart., ca. 250 Abb., ca. 31,80 €, ISBN: 3-89942-383-6

März 2005, 314 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-341-0

Joanna Barck, Petra Löffler Gesichter des Films

Michael Lommel, Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka, Volker Roloff (Hg.) Französische Theaterfilme – zwischen Surrealismus und Existentialismus

September 2005, 388 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN: 3-89942-416-6

Horst Fleig Wim Wenders Hermetische Filmsprache und Fortschreiben antiker Mythologie August 2005, 304 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb. , 27,80 €, ISBN: 3-89942-385-2

Trias-Afroditi Kolokitha Im Rahmen Zwischenräume, Übergänge und die Kinematographie Jean-Luc Godards Mai 2005, 254 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-342-9

2004, 334 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-279-1

Matthias Uhl, Keval J. Kumar Indischer Film Eine Einführung 2004, 174 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN: 3-89942-183-3

Manfred Riepe Intensivstation Sehnsucht Blühende Geheimnisse im Kino Pedro Almodóvars. Psychoanalytische Streifzüge am Rande des Nervenzusammenbruchs 2004, 260 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN: 3-89942-269-4

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

2005-09-05 11-59-30 --- Projekt: T416.kumedi.barck-löffler.gesichter / Dokument: FAX ID 022c93909778126|(S. 387-388) anzeige film september 05.p 93909778270

Weitere Titel zum Film: Andreas Becker Perspektiven einer anderen Natur Zur Geschichte und Theorie der filmischen Zeitraffung und Zeitdehnung 2004, 370 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN: 3-89942-239-2

Michael Lommel, Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka (Hg.) Theater und Schaulust im aktuellen Film 2004, 172 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN: 3-89942-181-7

Wolfgang Kabatek Imagerie des Anderen im Weimarer Kino 2003, 226 Seiten, kart., zahlr. SW-Abb., 25,80 €, ISBN: 3-89942-116-7

Manfred Riepe Bildgeschwüre Körper und Fremdkörper im Kino David Cronenbergs. Psychoanalytische Filmlektüren nach Freud und Lacan 2002, 224 Seiten, kart., zahlr. SW-Abb., 24,80 €, ISBN: 3-89942-104-3

Kerstin Kratochwill, Almut Steinlein (Hg.) Kino der Lüge 2004, 196 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 3-89942-180-9

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