Zwang und Anerkennung: Sozialanthropologische Herausforderungen und theologisch-ethische Implikationen im Umgang mit psychischer Devianz. Dissertationsschrift 9783161551987, 3161551982

Anerkennung gilt als einer der Schlüsselbegriffe für eine tragfähige Beschreibung menschlicher Lebensvollzüge. Antworten

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Zwang und Anerkennung: Sozialanthropologische Herausforderungen und theologisch-ethische Implikationen im Umgang mit psychischer Devianz. Dissertationsschrift
 9783161551987, 3161551982

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Methodisch-konzeptionelle Verortungen
1. Einleitung
2. Methodologische Verortung
3. Die Herausforderungen der Anwendung von Zwang
In prekären Verhältnissen
4. Anerkennungsräume als Voraussetzung eines Selbstbezugs
5. Herausforderungen eines Modells intersubjektiver Anerkennung
6. Eine Theorie responsiver intersubjektiver Anerkennung
7. Konsequenzen und Herausforderungen
Gestaltungslinien im Umgang mit Zwang
8. Psychische Devianz: Zwischen Kreativität und Pathologie
9. Rechtliche Herausforderungen im Umgang mit Zwang in psychiatrischen Kontexten
10. Ethische Perspektiven im Umgang mit Zwang angesichts einer Theorie responsiv-intersubjektiver Anerkennung leiblicher Selbstb
Literatur
Sachregister
Namensregister

Citation preview

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Perspektiven der Ethik herausgegeben von Reiner Anselm, Thomas Gutmann und Corinna Mieth

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II

III

Matthias Braun

Zwang und Anerkennung Sozialanthropologische Herausforderungen und theologisch-ethische Implikationen im Umgang mit psychischer Devianz

Mohr Siebeck

IV Matthias Braun, geboren 1984; Studium der Biologie und Ev. Theologie; 2016 Promotion; derzeit Akademischer Rat am Lehrstuhl für Systematische Theologie II an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

ISBN 978-3-16-155198-7 ISSN 2198-3933 (Perspektiven der Ethik) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb. dnb.de abrufbar. © 2017 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. D Buch wurde von Computersatz Staiger in Rottenburg a.N. gesetzt, von Laupp & Göbel Das in Gomaringen auf alterungbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden.

V

Vorwort Die vorliegende Studie wurde im Sommersemester 2016 vom Fachbereich Theologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg als Dissertation angenommen. Am 15.07.2016 wurde die zugehörige Disputation abgehalten. Das Manuskript wurde für die Drucklegung geringfügig überarbeitet und um die aktuelle Literatur ergänzt. Der Abschluss dieses Forschungsvorhabens bringt mit der Freude auch ein kurzes Innehalten und dankbares Zurückblicken mit sich. Der größte Dank gebührt meinem Doktorvater Prof. Dr. Peter Dabrock, dem ich für das gemeinsame Nachdenken, die voranbringenden und präzisen Ratschläge und nicht zuletzt – da zeigt sich vermutlich die gemeinsame Verwurzelung im Ruhrgebiet – für seinen nicht zu erschütternden Optimismus, dass man mit harter Arbeit auch übermächtig erscheinende Hürden überspringen kann, danke. Es ist ein großes Vorrecht, dass er meine Arbeiten stets mit einem großen Vertrauensvorschuss bedacht hat und mir viel Freiraum gegeben hat, meinen eigenen Weg in der Wissenschaft zu finden. Seine Emphase, die eigenen Ergebnisse und Theorien immer wieder an neuen Ansätzen zu spiegeln und so zugleich einer (selbst-) kritischen Überprüfung zu unterziehen, bot mir ein hervorragendes Umfeld, um (nicht nur, aber auch) wissenschaftlich erwachsen zu werden. Es war ungemein hilfreich, seine eigenen Gedanken an einem so profilierten und zugleich zugewandten Denker schärfen zu dürfen. Prof. Dr. Hans Ulrich danke ich für seine Kritik und Förderung ebenso wie für die Übernahme des Zweitgutachtens. Für die unkomplizierte Aufnahme in die Reihe „Perspektiven der Ethik“ sowie die hilfreichen und schärfenden Kommentare und Impulse bei der Überarbeitung des Manuskripts danke ich sehr herzlich Prof. Dr. Anselm, Prof. Dr. Thomas Gutmann und Prof. Dr. Corinna Mieth. Prof. Dr. Günter Thomas habe ich sehr herzlich dafür zu danken, dass er als einer der ersten den Wunsch bestärkte, in der Wissenschaft zu bleiben. Nicht zuletzt von der Zeit als studen­ tischer Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl habe ich sehr profitieren dürfen. Der Druck der Studie ist dankenswerterweise großzügig von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (GZ: BR 5669/1-1) unterstützt worden. Neben den wertvollen Gesprächen mit Dr. Jan Heilmann und Dr. Tobias Sarx, von deren Sachverstand und Freude am Querdenken ich sehr profitiere, waren es vor allem Hannah Bleher, Johanna Jäckl, Constanze Lörner, Dr. Jens Ried, Hannah Schickl, Max Tretter und Lone Wulff, die mit ihren Kommentaren und Rück-

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Vorwort

fragen nicht zurückgehalten haben und gerade dadurch eine unglaublich wertvolle Hilfe waren. Für das hervorragende Lektorat und die Betreuung bei der Finalisierung des druckreifen Manuskripts gebührt Dr. Stephanie Warnke-De Nobili und Frau Dominika Zgolik herzlicher Dank. Diese Studie ist meiner Familie gewidmet, die hinter mir stand, mir den ­Rücken gestärkt, mich immer wieder gelehrt hat, dass die Dinge selten so sind, wie es auf den ersten Blick scheint, und wir gemeinsam lernen durften, dass Glaube zwar nicht immer Berge versetzt, aber sich gemeinsam doch immer wieder eine Route über die Gipfel findet. Erlangen im März 2017

Matthias Braun

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Inhaltsverzeichnis I. Teil:  Methodisch-konzeptionelle Verortungen

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1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Das Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Ziele der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Der Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Methodologische Verortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Abgrenzung von Bottom-up- und Top-down-Ansätzen . . . . . . . . . . . 2.2. Die sogenannte Prinzipienethik als Ausweg? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Zum Verhältnis von Ethik und Empirie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

  16   20   28   38

3. Die Herausforderungen der Anwendung von Zwang . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Psychische Pathologien und die Anwendung von Zwang . . . . . . . . . . 3.2 Ist die Anwendung von Zwang alternativlos? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Die Anwendung von Zwang als Brennlinse leiblicher Selbstbezüglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Teil:  In prekären Verhältnissen

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4. Anerkennungsräume als Voraussetzung eines Selbstbezugs . . . . . . . . . . . . 4.1 Hegelsche Spuren: Die Bildung von Selbstbewusstsein . . . . . . . . . . . . 4.2 Zwischen Moral und praktischer Sittlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3. Sittlichkeit als Eröffnung von individuellen Möglichkeitsräumen . .

  63   63   73   77

5. Herausforderungen eines Modells intersubjektiver Anerkennung . . . . . . 5.1 Anerkennung als fundierender Möglichkeitsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Zwischen Erkennen und An-Erkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Die doppelte Ambiguität der Subjektivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 100  100  108  110  123

6. Eine Theorie responsiver intersubjektiver Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 In den Fängen von Da-Sein und Mit-Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Prekärer Selbstbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Selbstbezug als Antwort auf ein In-Anspruch-genommen-Sein . . . . 6.4 Leibliche Verstrickungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 132  132  143  151  164

VIII

Inhaltsverzeichnis

6.5 Gewürdigte Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  172 6.6 Selbst-Bezeugung zwischen Zeugnis und Bekenntnis . . . . . . . . . . . .  177

  7. Konsequenzen und Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Gestiftete Bezeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Stellvertretende Bezeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Fürsorgende Bezeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Teil:  Gestaltungslinien im Umgang mit Zwang . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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  8. Psychische Devianz: Zwischen Kreativität und Pathologie . . . . . . . . . . . . 8.1 In den Fängen des Wahnsinns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Die Freiheit zur Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Ein theologischer Seitenblick: Markus 5, 1–20 .. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 259  259  267  274

  9. Rechtliche Herausforderungen im Umgang mit Zwang in psychiatrischen Kontexten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Der rechtliche Rahmen der Unterbringung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Rechtliche Regelung der Zwangsbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Bleibende Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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10. Ethische Perspektiven im Umgang mit Zwang angesichts einer Theorie responsiv-intersubjektiver Anerkennung leiblicher Selbstbezüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Zusammenfassung des Argumentationsgangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Die Anwendung von Zwang im Umgang mit psychischer Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Ausblick: Zum Verhältnis von Anerkennung und Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Literatur

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Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Teil

Methodisch-konzeptionelle Verortungen 1. Einleitung 1.1 Das Problem „Selbstbestimmung ist ein Menschenrecht: Jeder Mensch hat das Recht, über seine Lebensführung und damit auch über Maßnahmen, die seine Gesundheit betreffen, selbst zu bestimmen.“1 Mit diesem Satz eröffnet die Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) das Nachdenken über die Legitimation von Zwang in psychiatrischen Kontexten. Bereits der zweite Satz dieser Erklärung deutet zugleich ein tiefer liegendes Problem an: „Die selbstbestimmte Entscheidung des Patienten ist dementsprechend eine Grundvoraussetzung für eine gute medizinische Behandlung.“2 Wie verhält es sich mit der Selbstbestimmung eines Menschen, wenn er psychisch erkrankt: Ist er dann (immer noch) in der Lage, selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen? Und wenn ein Mensch dies nicht vermag, wenn er in dem Gewirr an Stimmen nicht mehr die ‚guten‘ von den ‚schlechten‘ zu unterscheiden vermag, wenn die Trauer über einen Verlust ihm über den Kopf wächst und beginnt, ein ‚Eigenleben‘ zu führen, und nicht zuletzt, wenn jemand sich stückweise oder gar vollständig verloren hat, heißt dies dann, dass er sein Anrecht auf eine ‚gute Behandlung‘ verloren hat? Die sich anschließenden Fragen werden noch komplizierter. So erscheint bei näherer Betrachtung unklar, was überhaupt als eine Abweichung von einem ‚normalen Grad‘ an Selbstbestimmung verstanden werden kann. Welche Abweichungen können nicht nur als tolerabel im Sinne einer durchaus bunten Vielfalt menschlicher Lebensführung, sondern müssen als notwendig erachtet werden, um überhaupt Orte kreativer Selbstverwirklichung zu eröffnen? Offenbar gilt in vielen Bereichen ein recht hohes Maß an Abweichung nicht nur als hinnehmbar, sondern auch als erwünscht. Ermöglichen doch oftmals 1 DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie und Nervenheilkunde) (2014): Achtung der Selbstbestimmung und Anwendung von Zwang bei der Behandlung von psychisch erkrankten Menschen. Eine ethische Stellungnahme der DGPPN. 2 DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie und Nervenheilkunde) (2014): Achtung der Selbstbestimmung und Anwendung von Zwang bei der Behandlung von psychisch erkrankten Menschen. Eine ethische Stellungnahme der DGPPN.

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I. Teil: Methodisch-konzeptionelle Verortungen

die Abweichungen und mit ihren manchmal kleinen, aber gewichtigen Nuancen Spielräume des Kreativen, lassen sich darin neue Lösungswege finden, die dann mitunter nach einiger Zeit wiederum als Standard anerkannt werden. Und doch: Kann man eine Person auch dann sich selbst überlassen, wenn die Art und Weise, wie sich eine Person praktisch verwirklicht, ihr selbst oder Anderen Schaden zufügt? In der Entscheidung darüber, wann ein selbst- und wann ein fremdgefährdendes Verhalten vorliegt, scheinen sich zunächst die klassischen (medizin-)ethischen Prinzipien wie die der Autonomie, des Nicht-Schadens, des Handelns zum Wohl des Patienten oder der Fürsorge anzubieten. Das Argument würde dann lauten, dass im Falle eines Verlustes von Autonomie, zur Vermeidung weiteren Schadens und zum Wohl des Betroffenen fürsorglich eingegriffen wird, um das Wohl des Betroffenen zu erhalten.3 Ob und inwiefern auch ein medizinischer Eingriff gegen den Willen eines Betroffenen mit den klassischen Kriterien der Medizinethik ethisch und rechtlich gerechtfertigt werden kann, ist jedoch höchst kontrovers. Fraglich ist nicht nur, wie sich die einzelnen ethischen Prinzipien zueinander verhalten, sondern ebenso, welcher normative und orientierende Gehalt mit welchem der Prinzipien verbunden werden kann. Insofern steht zur Debatte, wie in einem solch hochgradig vulnerablen Feld wie der Anwendung von Zwang in psychiatrischen Kontexten, bei der normativen Abwägung mit den teilweise nicht auflösbaren Konflikten umzugehen ist. Welche Orientierung kann aus ethischer Perspektive ausgehend von welchem theoretischen Begründungsrahmen angeboten werden? An dieser Stelle seien zunächst vier Beobachtungen konstatiert. Erstens: Aus juristischer Perspektive stellt jede medizinische Behandlung ohne die Einwilligung der betroffenen Person einen schweren Eingriff in die Grundrechte dieser Person dar. Zugleich gilt in den juristischen und medizinischen Diskursen die Anwendung von Zwang als möglich, wenn bei einer Person, bedingt durch das Vorliegen einer psychischen Krankheit, die Einsichtsfähigkeit generell fraglich scheint und eine Gefährdung für die Person selbst oder, bedingt durch ihr Handeln, für Dritte besteht. Zweitens: Die Anwendung von Zwang ist in psychiatrischen Einrichtungen kein marginales Phänomen. Diese Einschätzung liegt zumindest nahe, wenn man den Anstieg bei den freiheitsentziehenden Unterbringungen psychisch Kranker in den Blick nimmt. Diese sind nach den rechtlichen Vorgaben die Voraussetzung für die Anwendung von Zwangsmaßnahmen und -behandlungen.4 Ihre Zahl hat in den letzten zehn Jahren relativ stark zugenommen: Lag die Rate für eine zwangsweise Unterbringung über eine betreuungsrechtliche 3 

Vgl. Kapitel 2.2. einer Zwangsmaßnahme versteht man eine Maßnahme, die als primäres Ziel die Sicherung verfolgt. Unter einer Zwangsbehandlung versteht man eine Maßnahme, die ein therapeutisches Ziel verfolgt. Siehe zur Definition und Diskussion auch Kapitel 3.1, Kapitel 9.1 & 9.2. 4  Unter

1. Einleitung

3

Regelung im Jahr 2004 bei 46.381 Personen, so stieg diese innerhalb der letzten zehn Jahre auf 55.292 Personen im Jahr 2014.5 Im Rahmen einer zwangsweisen Unterbringung über eine öffentlich-rechtliche Regelung gemäß den jeweiligen Psychisch-Kranken-Gesetzen (­PsychKG) bzw. Unterbringungsgesetzen (UBG) der Länder stieg sie von 62.981 Personen im Jahr 2004 auf 83.034 Personen im Jahr 2014.6 Drittens: Die Anwendung von Zwang erweist sich als höchst riskant und folgenreich: Die vorliegenden empirischen Daten indizieren, dass die Anwendung von Zwang von einem großen Teil der Patienteninnen und Patienten7 als Grausamkeit erlebt wird. Knapp die Hälfte der Patienten betrachtet die Anwendung von Zwang auch im Nachhinein als illegitim, die andere Hälfte sieht sie im Nachhinein zwar als rechtfertigbar an, hat aber mitunter massive Schwierigkeiten, das Erlebte zu verarbeiten. Zudem zeigt sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Anwendung von Zwang und der Wahrscheinlichkeit einer weiteren psychiatrischen Behandlung.8 Viertens: Nicht zuletzt ist zu beachten, dass laut den Ergebnissen aktueller empirischer Studien in Deutschland gut knapp ein Drittel der Bevölkerung innerhalb der letzten zwölf Monate an einer psychischen Krankheit litt.9 Auch wenn solche Zahlen immer behutsam interpretiert werden müssen, deuten sie zumindest an, wie dünn der Boden ist, auf dem ein vermeintlich stabiles Selbstverhältnis steht. Die grundsätzliche Frage nach der Legitimation der Anwendung von Zwang im Umgang mit psychischer Krankheit spiegelt sich in den zahlreichen öffentlich-medialen Debatten wider, die sich mit der Thematik beschäftigen.10 Die existenziale Angst, was in dem verschlossenen Raum der Psychiatrie mit den Menschen passiert, welche Macht die Ärzte im Moment der Einlieferung haben oder im Verborgenen weiter ausüben, und mitunter auch die Furcht, selbst unberechtigterweise an diesen Ort zu gelangen, all dies sind Aspekte, die of 5  Vgl. Bundesamt für Justiz (2017): Betreuungsverfahren – Zusammenstellung der Bundesergebnisse für die Jahre 1992 bis 2015, Stand 02.12.2015.  6  Vgl. Die Bundesregierung (2012a): Antwort der Bundesregierung Drucksache 17/10712, 3f, Bundesamt für Justiz (2016): Zusammenstellung der Geschäftsübersichten der Amtsgerichte 1995 bis 2015.  7  An den Stellen, wo aus stilistischen Gründen nur ein bestimmtes Genus genannt wird, muss das jeweils andere in gleicher Weise mitgedacht werden.  8  Vgl. zur Bewertung von Zwangsmaßnahmen exemplarisch: Priebe, et al. (2010): Patients’ views of involuntary hospital admission after 1 and 3 months: prospective study in 11 European countries. Zur Bewertung von Zwangsbehandlungen vgl. exemplarisch: Finzen, et al. (1993): Hilfe wider Willen. Zwangsmedikation im psychiatrischen Alltag & Veitkamp, et al. (2008): Patients’ preferences for seclusion or forced medication in acute psychiatric emergency in the Netherlands. Zur ausführlichen Diskussion siehe auch Kapitel 3.2.  9  Vgl. Kapitel 3.1. 10  Vgl. Grefe & Albrecht (2012): Behandeln oder fixieren, Malachowski (2013): Zwangsbehandlungen als letztes Mittel.

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I. Teil: Methodisch-konzeptionelle Verortungen

fen ausgesprochen werden oder aber latent ihre Wirkung entfalten, wenn die Psychiatrie, die Psychiater oder gar die psychische Krankheit11 selbst Gegenstand der Diskussion werden.12 Eine weitere Zuspitzung erhält diese Diskussion dadurch, dass die Frage nach der Rechtmäßigkeit von Zwangsunterbringungen und damit eng verbunden von Zwangsbehandlungen in den vergangenen drei Jahren Gegenstand zahlreicher juristischer Debatten und Gerichtsentscheide war.13 Als wesentliche Triebfedern haben dabei die Vorgaben der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen gewirkt,14 zu deren Umsetzung sich Deutschland mit dem Abschluss des Ratifikationsprozesses im Jahre 2008 verpflichtet hat.15 So kam es seit dem Jahre 2011 zu teilweise massiven Verschiebungen in der Rechtsprechung vor allem hinsichtlich der Zulässigkeit einer genuinen Verknüpfung von Zwangsunterbringung und Zwangsbehandlung.16 Dabei werden 11 

Wenn in diesen einleitenden Zeilen von ‚psychischer Krankheit‘ die Rede ist, dann dient dies zunächst der vorsichtigen (alltagssprachlichen) Annäherung an ein Problem, welches im weiteren Verlauf noch weiter zu betrachten ist. Welche Schwierigkeiten und Herausforderungen sich hinter dem Begriff der psychischen Krankheit verbergen, der sich aber zugleich im Modus des Betrachtens als stetig weitertransformierender Widerspruch des Wahnsinns zeigt, ist spätestens seit Foucaults Studien angezeigt und wird an späterer Stelle in Kapitel 8.1 eingehender betrachtet. Siehe: Foucault (2007): Die Anormalen: Vorlesungen am Collège de France (1974–1975), Foucault (1968): Psychologie und Geisteskrankheit, Foucault (1973): Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. 12  Vgl. Schulze (2004): Psychisch Kranke im Spiegel der öffentlichen Meinung; Schomerus & Angermeyer (2011): Psychiatrie – endlich entstigmatisiert? Einstellungen der Öffentlichkeit zur psychiatrischen Versorgung 1990 – 2 011. 13  Vgl. Kapitel 9.2. Zur kurzen Orientierung: Eine Unterbringung ist die Voraussetzung für die Anwendung von Zwang, sei es als Zwangsmaßnahme (eine Maßnahme mit dem Ziel der Sicherung) oder als Zwangsbehandlung (eine Maßnahme mit dem Ziel der Therapie). Erfolgt die Unterbringung gegen den Willen des Patienten, spricht man von einer Zwangsunterbringung. 14 Vgl. Marschner (2011): Auswirkungen der UN-Behindertenrechtskonvention auf das Recht der Unterbringung und Zwangsbehandlung; DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie und Nervenheilkunde) (2009): Die Auswirkungen der UN-Behindertenrechtskonvention auf die Unterbringung und Zwangsbehandlung nach § 1906 BGB und §§ 10 ff. ­PsychKG NRW. Vgl. hierzu auch Kapitel 9.2. 15  Vgl. Der Bundestag (2008): Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie zu dem Fakultativprotokoll vom 13. Dezember 2006 zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. 16  Vgl. Bundesverfassungsgericht (2011a): Beschluss des Zweiten Senats vom 12. Oktober 2011 – 2 BvR 633/11, Bundesverfassungsgericht (2011b): Beschluss des Zweiten Senats vom 23. März 2011 – 2 BvR 882/09, Bundesgerichtshof (2012c): Beschluss vom 20. Juni 2012 – XII ZB 99/12, Bundesgerichtshof (2012d): Beschluss vom 20. Juni 2012 – XII ZB 130/12. Die Diskussion über eine Verschiebung der jeweils leitenden Rechtsmotive erfolgt in Kapitel 9.2. An dieser Stelle sei bereits verwiesen auf: Schmidt-Recla & Diener (2013): Betreuungsrechtliche Denkfiguren auf dem Prüfstand der Zwangsbehandlung. Zur Frage, inwieweit es durch die Revisionen der Rechtsprechung im Bereich von Zwangsbehandlungen zu einem – wenn auch zeitlich befristeten – Raum der Rechtsunsicherheit kam, der eventuell sogar mit einer ver-

1. Einleitung

5

in der aktuellen Rechtsprechung die Durchführung einer Zwangsmaßnahme, mit dem Ziel einer Sicherung, und einer Zwangsbehandlung, mit dem Ziel einer therapeutischen Besserung, nur dann als legitim angesehen, wenn die betroffene Person auch untergebracht ist. Mit der Änderung der Unterbringungsmöglichkeiten im Rahmen des Zivilrechts durch eine Revision von § 1906 BGB am 18.01.2013 wurde ein erster wichtiger Meilenstein einer kohärenteren Regelung der Handlungsvollzüge erreicht,17 was jedoch nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass weitere massive Revisionen – vor allem im Bereich der öffentlich-rechtlichen Unterbringung – notwendig sein werden und sich aktuell in der Diskussion befinden.18 Für die jeweils betroffenen Patienten stellt die Anwendung von Zwang einen Eingriff in die körperliche Integrität und damit einhergehend einen massiven Eingriff in das jeweilige Selbstkonzept einer Person dar. Das mit diesem Eingriff verfolgte Ziel, sie wieder zu einer praktischen Selbstbestimmung zu befähigen, ist nicht zuletzt dadurch massiv infrage gestellt, dass mit dem Eingriff die Widerfahrnis von Ohnmacht, Hilflosigkeit und Demütigung verbunden sein kann. Zugleich gilt aber auch: Dem Risiko eines solchen Eingriffs steht das Risiko entgegen, dass die Unterlassung einer Intervention – für die Betroffenen oder ihre Umgebung – ebenso schädlich sein kann. Die jeweiligen Ärzte, Richter, Betreuer und Angehörigen stehen so vor der nicht ohne Weiteres zu treffenden Abwägung zwischen der Achtung des Selbstbestimmungsrechtes der Patienten (1), der Verpflichtung gegenüber dem Wohl des Patienten und der damit (möglicherweise) verbundenen Aufrechterhaltung von Selbstbestimmung (2) sowie gegebenenfalls dem Schutz Dritter (3).19

mehrten Anwendung von Zwang verbunden ist, siehe: Müller, et al. (2012): Zwangsbehandlungen unter Rechtsunsicherheit. 17  Vgl. Bundesgesetzblatt (2013): Teil I 2013/9. Zur genaueren Darstellung der erfolgten wie vorgeschlagenen, im Zuge der Entscheidungsfindung dann aber verworfenen Änderungen siehe: Mittag (2014): Die betreuungsrechtliche Zwangsbehandlung im Lichte ihrer Neuregelung. 18  Vgl. Kapitel 9.2. Diskutiert wird seit dem Urteilsentscheid des BGH vom 01.07.2015 (vgl. Bundesgerichtshof (2015a): Beschluss vom 01. Juli 2015 – XII ZB 89/15) auch wieder darüber, inwiefern eine Unterbringung auch bei solchen Patienten Voraussetzung sein muss, die gar nicht mehr bewegungsfähig sind, also sich von sich aus gar nicht mehr aus einer Einrichtung entfernen können. Gegenüber einer solchen Praxis hat der BGH Zweifel angemeldet und um Klärung durch das BVerfG gebeten. 19  Genau diesen Punkt markiert auch die Stellungnahme der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer mit großer Klarheit: Die Achtung der Patientenautonomie kann mitunter zu einer komplizierten Verstrickung von Intervention und Nicht-Intervention führen. Vgl. Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (2013): Stellungnahme der Zentralen Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten (Zentrale Ethikkommission) bei der Bundesärztekammer: Zwangsbehandlung bei psychischen Erkrankungen, A1336.

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I. Teil: Methodisch-konzeptionelle Verortungen

Aus dieser dreifachen Abwägungsproblematik folgt erstens, dass in der psychiatrischen Praxis unklar wird, welche Handlung welcher Prämisse folgt – etwa dergestalt, ob eine Intervention genuin als fürsorglich und die Nicht-Intervention als Achtung vor der Patientenautonomie zu verstehen ist oder gerade die Nicht-Intervention auch ein Zeichen der Orientierung an der Fürsorge sein kann. Zweitens ist zu klären, wie sich der normative Gehalt ethischer Prämissen wie der Selbstbestimmung und/oder der Fürsorge entfalten lässt. Es ist gerade in einer solch vulnerablen Situation wie der einer Behandlung gegen den Willen einer Person nur schwer zu bestimmen, welche Handlungskonsequenzen aus den jeweiligen normativen Bestimmungsgehalten in den Konzepten von Selbstbestimmung und Fürsorge oder anders gesprochen Fremdbestimmung zu ziehen sind. 20 Mit der konstatierten Unklarheit in den Handlungskonsequenzen ist aber zugleich eine konzeptionelle Unklarheit verbunden. So zeigt sich, dass ein Verständnis der Termini von Selbstbestimmung und Fürsorge als für sich klar konturierte Prinzipien 21 in solch vulnerablen Situationen, in denen Zwang als grausam erlebt wird, keine hinreichende Orientierung bieten kann. Vielmehr stellt die Anwendung von Zwang konzeptionell infrage, was eigentlich gemeint ist, wenn von ‚Selbst-Bestimmung‘ oder ‚Für-Sorge‘ die Rede ist. Die Herausforderung besteht drittens gerade darin, auf der Suche nach einem präziseren Verständnis von Selbstbestimmung und Fürsorge auf die jeweiligen Bestimmungsmomente des Einen im jeweils Anderen zu achten, ohne dass die Begriffe dabei unscharf werden: Endet Selbstbestimmung mit dem Eintreten einer psychischen Degeneration, einer Entfremdung von dem je eigenen Selbstkonzept einer Person oder aber einem konflikthaften Verhältnisses eines Selbstkonzepts einer Person zu ihrem Körper? Oder noch grundlegender gefragt: Kann sich Selbstbestimmung je ohne Elemente der Für-sorge, sei es eines Selbst für sich selbst, eines Selbst für einen Anderen oder eines Anderen für ein Selbst, konkretisieren? Ist vielleicht eine (für-)sorgende Gabe des Anderen, die, um es 20  Dabei erkennt man schon bei einer sehr oberflächlichen Recherche, dass es nicht an Studien mangelt, die sich mit Autonomie oder Fürsorge auseinandersetzen. Diese Studien gehen zumeist jedoch davon aus, dass in einem Vorverständnis bereits ‚klar‘ ist, was in den jeweiligen Fällen unter Autonomie und Fürsorge zu verstehen ist. Das Feld der Zwangsbehandlungen entlarvt eine solche klare Unterscheidbarkeit jedoch relativ schnell als vermeintliche und fokussiert noch einmal in besonderem Maße auf die wechselseitigen Verwebungen – die das jeweilige Verständnis wiederum elementar modifizieren – zwischen den einzelnen Relata. Siehe zum Beispiel: Raz (1986): The Morality of Freedom, Taylor (1992b): Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus siehe vor allem: Taylor (1992a): Der Irrtum der negativen Freiheit. Zum Umriss der aktuellen Debatte: Esser (2011): Schwerpunkt: Autonomie und Selbstbestimmung, Schramme (2011): Selbstbestimmung zwischen Perfektionismus und Voluntarismus, Seidel (2011): Personale Autonomie als praktische Autorität. 21  So paradigmatisch bei: Beauchamp & Childress (2009): Principles of Biomedical Ethics, Hildt (2005): Vom Miteinander und Gegeneinander der Beauchamp-Childress-Prinzipien, Rauprich & Steger (2005): Prinzipienethik in der Biomedizin. Moralphilosophie und medizinische Praxis. Siehe hierzu auch Kapitel 2.2.

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mit den Worten von Judith Butler zu formulieren, immer ein konstituierendes, ein das Selbst als Selbst setzendes Element enthält, 22 vielmehr als ein notwendiger Entfaltungsvektor der Selbstbestimmung zu verstehen? Wenn dem aber so ist, dann stellt sich sogleich die Frage nach den (notwendigen) Begrenzungen eines solchen Verständnisses. Anders gesagt: Eine fürsorgende Gabe kann weder einfach Beherrschung des Selbstbezugs einer Person sein noch einfach Erzeugung eines Selbstbezugs. Vielmehr bezeichnet eine solche fürsorgende Gabe „eine gewisse Beschränkung in der Erzeugung, eine Restriktion, ohne die das Subjekt gar nicht hervorgebracht werden kann, eine Restriktion, durch welche sich die Hervorbringung erst vollzieht.“23 Wenn Selbstbestimmung und Fürsorge in einer solchen Verhältnisbestimmung viertens nicht als voneinander strikt trennbare Kategorien konzipiert werden können, sondern vielmehr als ein in gesellschaftlich-geschichtliche Prozesse verwobenes Konstituierungsnetz zwischen Selbst und Anderem, zwischen Eigenem und Fremden zu denken sind, richtet sich der Blick auf Prozesse intersubjektiver Anerkennung und ihre jeweiligen Konstituierungs- und Begrenzungsleistungen. Dabei bietet sich die Möglichkeit, den Bedeutungsgehalt wie auch die konzeptionelle Belastbarkeit des Verhältnisses von Selbstbestimmung und Fürsorge in unterschiedlichen Handlungskontexten wiederum von mitunter konfligierenden Identifizierungs- und Anerkennungsmustern unterschiedlicher Selbstbezüge abhängig zu denken. Als Konsequenz eines solchen Ansatzes wird sich zeigen, dass die Vulnerabilität des Selbst nicht erst als ein Grenzfall von Selbstbestimmung bei einer psychischen Erkrankung betrachtet werden kann. Vielmehr sind Phänomene von Vulnerabilität wie auch der Unabgeschlossenheit wie Unabschließbarkeit von Identitätskonstruktionen unabdingbare Herausforderungsmarker eines Verständnisses von Selbstbestimmung überhaupt. Erweisen sich diese Beobachtungen als zutreffend, so hat dies zur Folge, dass Selbstbestimmung in sich ein relationales wie gleichermaßen ambigues Konzept ist. Ein solch relationales Verständnis von Selbstbestimmung wird einerseits durch Elemente der Gabe von Fürsorge konstituiert. Zugleich wird Selbstbestimmung jedoch andererseits gerade durch diesen Konstituierungszusammenhang infrage gestellt, insofern eine fürsorgende Gabe zwar Anknüpfungsmöglichkeiten für einen Selbstbezug stiftet, zugleich aber offen bleibt, inwiefern es einem Selbst gelingt, im Anschluss an ein solches Stiftungsereignis einen Selbstbezug praktisch zu bezeugen.

22 

Vgl. Butler (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, 82.

23 Butler

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I. Teil: Methodisch-konzeptionelle Verortungen

1.2 Ziele der Studie Es zeigt sich bereits in diesen ersten Problemannäherungen, dass die prak­tische Herausforderung, wie mit der Anwendung von Zwang in psychiatrischen Kontexten umgegangen werden kann, sowohl zahlreiche sozial-anthropologische als auch theologisch-ethische Fragen aufwirft, die im Folgenden erörtert werden sollen. Frei nach Judith Butler erfordert die Erfahrung von Zwang ein Ineinander von ausdauerndem Nachdenken und daraus abgeleiteten Folgerungen für die Gestaltung der Erfahrungsräume von Vulnerabilität. 24 Konzeptionell drängt sich in dem Nachdenken über den Zwang erstens die Frage auf, was wir eigentlich meinen, wenn wir davon reden, dass ein Wesen sich selbst bestimmt. Die Konstituierungen eines solchen Selbst werden im Rahmen dieser Studie daraufhin befragt, inwiefern es als ein leibliches Selbst verstanden werden kann und welche Konsequenzen sich daraus für die Anwendung von Zwang in psychiatrischen Kontexten ergeben. Ein leibliches Selbst, so die zugrunde liegende Hypothese, zeigt sich dabei nicht als ein in sich bereits konsistentes Ganzes, sondern ist durchzogen von Verdopplungs- und Spaltungsbewegungen. Ein Selbst ‚hat‘ sich nicht einfach selbst, ist nicht einfach selbstbezüglich, sondern findet sich immer schon als von einem Fremdbezug her eröffnet vor. Vom Menschen als einem leiblichen Selbst zu sprechen verweist darauf, dass ein Mensch seinen Anfang nie ganz bei sich selbst hat und sich ob eines solch unsicheren Stands als äußerst affin für die Machenschaften von Grausamkeit erweist. An dieser Stelle tritt die vorliegende Studie ein in das Gespräch mit theologischen und philosophischen Arbeiten darüber, wie ein leibliches Selbst als an Fremdes anknüpfend gedacht werden kann. Ziel ist es, die bisher vorrangig von einem phänomenologischen Ansatz aus operierenden Arbeiten zum leiblichen Selbst auf ihre konzeptionelle Orientierung im Umgang mit Zwang zu befragen. Zweitens vollziehen sich leibliche Selbstbezüge nicht in einem luftleeren Raum, sondern sind abhängig von Gestaltungsräumen, in denen sich Selbstbezüge praktisch verwirklichen und auch selbst bestimmen können. Konkret: Wer oder was ein Selbst ist, hängt ab von Aushandlungsprozessen intersubjektiver Anerkennung. Dabei kommt dem Recht die wichtige Funktion zu, einen de facto normativ wirkenden Geltungs- und Gestaltungsrahmen für die Aushandlung von Ansprüchen auf Anerkennung und damit auch der Rahmenbedingungen sozialen Zusammenlebens zu gewährleisten. Indem die Überlegungen zur Leiblichkeit eines Selbst mit der Abhängigkeit solcher Selbstbezüge von den normativ wirkenden Gestaltungsräumen intersubjektiver Anerkennung zusammengedacht werden, zielt diese Studie darauf ab zu zeigen, dass sich die fundamentale Verletzbarkeit responsiv25 anerkannter leiblicher Selbstbezüge nicht einfach aus der Aushandlung von Geltungsansprüchen ausklammern lässt. 24 

25 

Vgl. Butler (2012b): Gefährdetes Leben. Politische Essays, 7. Vgl. Kapitel 7.3 & 7.4.

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Ein leiblicher Selbstbezug ist deswegen ein fundamental verletzbarer, insofern er in seinem Selbstbezug ebenso wie in den Modi seiner Selbstverwirklichung grundlegend auf die Anerkennung von Anderen angewiesen ist. Die so umfänglich verstandene Anerkennung muss daher begriffen werden aus dem Ineinander von fundierend-asymmetrischer Responsivität und dem Anspruch auf eine symmetrische Aushandlung von Geltungsansprüchen. Die Notwendigkeit eines solchen Ineinanders konkretisiert sich dann in der These, dass ein in den Räumen einer responsiv fundierten intersubjektiven Anerkennung entstandener leiblicher Selbstbezug sich einerseits zwischen Vertrauen und Verdacht angesiedelt vorfindet und insofern andererseits darauf angewiesen bleibt, dass er bezeugt wird und sich selbst als jemand erweist, der sein Wort hält. Dass sich ein in Vollzügen responsiv fundierter intersubjektiver Anerkennung eingelassener leiblicher Selbstbezug seinerseits mit der von Bonhoeffer in seinen Arbeiten entwickelten Figur der Wegbereitung als konkrete Gestaltung der Spannung von Letztem und Vorletztem produktiv erschließen lässt, demon­ striert, warum und wie das Thema von Anfang an eine zutiefst theologische Bedeutung besitzt. Diese Einsicht mündet in die für die Theologische wie für die Allgemeine Ethik herausfordernde These, dass sich eine so verstandene Wegbereitung bewährt, indem sie imstande ist, Vulnerabilität nicht alleine in prinzipiellen Gleichheitsansprüchen auszugrenzen, sondern gerade die Stimmen der besonders Vulnerablen praktisch hörbar und sagbar zu machen und halten. Auf welche Weise der Prekarität menschlicher Vollzüge stellvertretend eine Stimme gegeben werden kann, wird dann in einem dritten Schritt untersucht. Dementsprechend ist zu klären, welche Konsequenzen sich aus den konzeptionellen Überlegungen für den Umgang mit Zwang in psychiatrischen Kontexten ergeben. Die Erörterungen folgen dabei der These, dass es in den Debatten um die Anwendung von Zwang nicht um eine möglichst ausgefeilte ethische Rechtfertigung von Zwang gehen kann. Vielmehr ist es das Ziel – und damit erfolgt eine dezidierte Abgrenzung gegen solche Ansätze und Überlegungen, die primär danach fragen, unter welchen Voraussetzungen die Anwendung von Zwang ethisch legitimiert werden kann –, die Umgangsweisen mit psychischer Krankheit daraufhin zu befragen, wie aktiv Anerkennungsräume geschaffen und gestaltet werden können, um wiederholte Erfahrung von Grausamkeit zu vermeiden.

1.3 Der Gang der Untersuchung Der Gedankengang der vorliegenden Studie gliedert sich in drei Teile. Im ersten Kapitel werden die verwendeten Definitionen und die zugrunde gelegten Vorannahmen dargestellt und kritisch reflektiert. Im zweiten Kapitel werden dann die mit der Anwendung von Zwang verbundenen theoretischen Fragen bearbeitet, um diese im dritten Kapitel auf die konkreten Orientierungsleistungen

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I. Teil: Methodisch-konzeptionelle Verortungen

für den Umgang mit Zwang in psychiatrischen Kontexten auszuwerten und anzuwenden. Im Einzelnen: Weil die Frage nach Zwang eine zutiefst ethisch und rechtlich relevante ist und weil die Einleitung schon auf den intensiven Zusammenhang von fundamentalethischen und rechtlichen Fragen aufmerksam macht, ist es notwendig, die Untersuchung mit einer Reflexion über die methodologischen Vorannahmen zu beginnen. Den Ausgangspunkt der Überlegungen bilden zunächst methodologische Überlegungen zur Definition und Aufgabe der Ethik, die für theologische wie nicht-theologische Ethik zutreffen. Demzufolge verortet sich der Gedankengang dieser Studie in Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Ludwig Siep und Peter Dabrock als Ansatz einer konkreten Ethik in theologischer Perspektive. Konkret ist eine solche Ethik erstens, indem sie nach den konzeptionellen Theorien fragt, die dem Umgang mit Zwang in psychiatrischen Kontexten zugrunde liegen. Zweitens weiß sie um ihre bleibende Eingebundenheit in partikulare, gehaltvolle Vorstellungen des guten Lebens und reflektiert drittens deren Orientierungsleistung für die Bearbeitung der ethisch wie rechtlich relevanten Herausforderungen (Kapitel 2). Eine so bestimmte konkrete Ethik muss zunächst deutlich machen, wie sich ein solcher Ansatz von sogenannten Top-down- und Bottom-up-Ansätzen in der biomedizinischen Ethik abgrenzt (Kapitel 2.1). Im Anschluss wird gezeigt, warum Fragen der Anwendung von Zwang nicht mit einem ‚rein‘ prinzipienbasierten Ansatz bearbeitet werden können (Kapitel 2.2). Der methodologische Teil wird durch Reflexionen darüber abgeschlossen, in welchem Verhältnis der konturierte Ansatz theologischer Ethik zur Empirie steht: Demgemäß wird die eminente Bedeutung der empirischen Fundierung ethischer Urteilsbildung betont, da es nur so möglich ist, die notwendige Sachadäquanz, wie beispielsweise die Perspektiven der betroffenen Patienten auf die Anwendung von Zwang oder die rechtlichen Differenzierungen in dem ethischen Urteil abzubilden. Ebenso wird aufgezeigt, wo die Fallstricke einer vermeintlich rein deskriptiven Ethik liegen. Diese Untersuchungen produktiv weiterführend wird erörtert, wie die Integration empirischer Daten in die ethische Reflexion erfolgen kann, ohne dass damit einem reinen Empirismus aufgesessen wird (Kapitel 2.3). Das erste Kapitel schließt mit einer Analyse der aktuellen Herausforderungen im Umgang mit Zwang in psychiatrischen Kontexten. Dies kann nicht die in Kapitel 3.9–11 vorgenommenen Detailanalysen ersetzen, sondern zielt darauf ab, den Problemaufriss und die unterschiedlichen Dimensionen der Anwendung von Zwang herauszuarbeiten. Dazu wird in einem ersten Schritt den Inzidenzen und Prävalenzen psychischer Erkrankungen nachgegangen (Kapitel 3.1). In einem zweiten Schritt werden neben den empirischen Daten zur Häufigkeit der Anwendung von Zwang in psychiatrischen Kontexten vor allem die empirischen Daten zum Erleben von Zwang aus der Sicht der Betroffenen dargestellt. Der Analyse dieser Daten kommt deswegen eine große Bedeutung zu, als sich

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zum einen zeigt, dass sich aus den empirischen Daten nicht ableiten lässt, dass die betroffenen Patienten Zwangsmaßnahmen grundsätzlich als weniger invasiv empfinden als Zwangsbehandlungen. Mit genau dieser Annahme argumentieren aber sowohl Urteilssprüche vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) und Bundesgerichshof (BGH) als auch ein Großteil der ethischen Stellungnahmen. 26 Zum anderen zeigt sich, dass die Anwendung von Zwang kurzzeitig durchaus Wirksamkeit zeigen, retrospektiv aber als sehr belastend empfunden werden kann. Nicht zuletzt scheint die Anwendung von Zwang ein Indikator für eine mehrmalige psychiatrische Unterbringung zu sein. Drittens ist die ärztliche Einstellung zur Anwendung von Zwang wesentlich abhängig vom kulturellen Hintergrund, von eigenen Erfahrungen mit der Anwendung von Zwang im näheren Umfeld und der individuellen Werthaltung, sprich der jeweiligen Vorstellung vom guten Leben (Kapitel 3.2). Der Blick in die empirischen Daten zur psychiatrischen Praxis macht deutlich, wie vulnerabel leibliche Selbstbezüge sind und in welch hohem Maße sie auf Anerkennungsrelationen angewiesen sind, in denen der Anspruch eines Selbstbezugs, nicht verletzt zu werden, gehört und hörbar gemacht wird (Kapitel 3.3). Den konzeptionellen Herausforderungen der fundamentalen Verletzbarkeit responsiv anerkannter leiblicher Selbstbezüge wird in einem ersten Schritt nachgegangen, indem das Gespräch mit einem der Gründerväter anerkennungstheoretischer Überlegungen gesucht wird (Kapitel 4). Zu diesem Zweck wird zunächst untersucht, wie bei Hegel das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem, zwischen Einzelnem und Allgemeinem entfaltet wird. Dies ist insofern entscheidend, als sich hier wichtige Anforderungen für die Bestimmung der Kopplungen zwischen Selbstbestimmung und Fürsorge zeigen. Als grundlegend erweist sich in den Erörterungen, dass sich die Möglichkeit eines Selbstbezugs von den Räumen der Sittlichkeit her eröffnet. Der Gedanke, der in den Auseinandersetzungen mit Georg Wilhelm Friedrich Hegel gewonnen wird, ist der, dass Anerkennung als ein intersubjektives Ereignis zu denken ist, in welchem Selbst und Anderes miteinander darum ringen, wer als Jemand anerkannt wird. Diesem Grundgedanken wird im Verlauf der Studie weiter nachgegangen, aber in den Ausführungen Hegels zeigt sich zugleich der potenzielle Fallstrick eines Ansatzes, der Selbstbezüge von den Prozessen intersubjektiver Anerkennung her denkt: Das Selbst bleibt bei Hegel trotz aller Betonung von intersubjektiven Wechselwirkungen immer Herr im eigenen Haus. Es kann sich verstricken, aber nicht verlieren und denkt den Anderen doch immer noch als den ausgegrenzten oder zumindest ausgrenzbaren Teil des eigenen Selbstkonzepts (Kapitel 4.1). Axel Honneth hat an die Arbeiten Hegels angeknüpft und 26 

Vgl. exemplarisch: Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (2013): Stellungnahme der Zentralen Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten (Zentrale Ethikkommission) bei der Bundesärztekammer: Zwangsbehandlung bei psychischen Erkrankungen.

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I. Teil: Methodisch-konzeptionelle Verortungen

den Gedanken weiterentwickelt, dass die grundsätzliche Möglichkeit individueller Selbstbezüge von ihrer sittlichen Einheit her zu denken ist: Nicht die isolierten Handlungsvollzüge eines Selbst konstituieren die Grundlage von Sittlichkeit, sondern vielmehr die elementaren Formen des Zusammenlebens, in denen sich dann Handlungsräume für individuelle Handlungsvollzüge des Selbst eröffnen. Die sich andeutende konstitutive Reziprozität von Selbst und Anderem ist dann – ebenso wie bei Hegel – nicht die Folge von rationalen Deliberationen atomarer Subjekte, sondern notwendigerweise ihre ermöglichende Voraussetzung (Kapitel 4.2). Als wesentliches Ergebnis der Auseinandersetzung mit den Arbeiten Honneths kann festgehalten werden, dass die Konstituierung eines individuellen Selbstbezugs in Prozessen intersubjektiver Anerkennung erfolgt. Wie nun darzulegen sein wird, entfalten sich die Prozesse intersubjektiver Anerkennung nach Honneth in den Formen von Liebe, Recht und Solidarität. In diesen drei Sphären konstituiert sich insofern für Honneth Sozialität, weil die einzelnen Selbstbezüge in einen Aushandlungsprozess ihrer jeweiligen Ansprüche eintreten (Kapitel 4.3). Aber gelingt es Honneth, trotz der großen Erschließungskraft seines Modells intersubjektiver Anerkennung, die Fragilität menschlicher Vollzüge angemessen zu denken? Der weitere Überlegungsgang zeigt auf, warum bei Honneth dies nur bedingt der Fall ist (Kapitel 5). Als eines der Hauptprobleme zeigt sich, dass Honneth nicht – wie es sich auch im weiteren Verlauf der Untersuchung von der Sache geboten als notwendig erweist – radikal genug mit dem hegelschen Ganzheitspathos bricht. So stellt sich heraus, dass auch Honneth in der Idee verhaftet bleibt, dass den Anerkennungsprozessen ein bestimmtes Telos zugrunde liegt und das Selbst bei einem rechten Umgang mit den widerfahrenden Missachtungen doch wieder zu sich selbst zurückkehren könne. Die Aufgabe dieser Überlegungen besteht darin, in kritischer Auseinandersetzung mit Honneth zu eruieren, welche Modifikationen nötig sind, um erstens eine intersubjektive Theorie der Anerkennung als fundierender Möglichkeitsraum von Selbstbezüglichkeit zu denken (Kapitel 5.1) und zweitens zu prüfen, wie sich das Verhältnis von Erkennen und Anerkennen denken lässt (Kapitel 5.2). In einem dritten Schritt wird in Anknüpfung an das bei Honneth erreichte Problematisierungsniveau gewissermaßen noch einmal eine Neujustierung einer Theorie intersubjektiver Anerkennung vorgenommen. In Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Judith Butler, Michel Foucault, Emmanuel Lévinas, Judith N. Shklar und Jessica Benjamin wird eruiert, inwiefern es vielversprechend sein könnte, die Selbstbezüglichkeit des Selbst und seine Einbettung in Möglichkeitsräume von Sozialität nicht nur von dem Theorem der Anerkennung, sondern auch von der bereits bei Hegel angedeuteten Begierde her zu denken. Als Ergebnis wird die These begründet, dass sich in den Vollzügen der Aushandlung von Geltungsansprüchen praktisch bezeugen muss, dass sich in einem jeden Menschen, unabhängig von seiner biologischen oder sozialen Verfasstheit, ein Anspruch artikuliert, als ein Mensch

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gehört und behandelt zu werden. Damit kommt der Frage eine entscheidende Bedeutung zu, wer grundlegend als vernehmbar und damit als sichtbar verstanden und anerkannt wird. Eine Missachtung der fundamentalen Ansprüche eines Selbstbezugs auf Anerkennung – so wird sich zeigen – ist durchaus als ein Akt der Grausamkeit zu verstehen. Das Prekäre, ja wenn man so will Beunruhigende an der Grausamkeit ist, dass sie sich nicht einfach verhindern lässt und dass sich mitunter in manchen Modi der Grausamkeit allererste Anknüpfungsmöglichkeiten für einen Selbstbezug eröffnen (Kapitel 5.3). Die gewonnenen Einsichten werden in einem vierten Schritt auf ihren bisherigen Ertrag für die Frage zugespitzt, wie eine Theorie intersubjektiver Anerkennung ausgestaltet werden kann, die ein Selbst nicht als ein in sich kohärentes Ganzes, sondern als ein leibliches Selbst denkt. Dies geschieht in Auseinandersetzungen mit den Arbeiten von Thomas Bedorf. Dabei wird die Idee konturiert, dass einer jeden Anerkennung immer auch ein Element der Verkennung zugrunde liegt. Ein solches Element der Verkennung verweist darauf, dass nicht einfach eine Person da ist und nur noch anerkannt werden muss, sondern immer jemand als Jemand anerkannt wird. In kritischer Lektüre der Arbeiten Thomas Bedorfs werden drei wesentliche Herausforderungen von Elementen der Verkennung – erstens als Stiftungsparadox, zweitens als Ursprungskontingenz und drittens als die bleibende Vulnerabilität eines jeden Selbstbezugs – in den Prozessen intersubjektiver Anerkennung herausgearbeitet und diskutiert (Kapitel 5.4). Ausgehend von den Überlegungen, inwiefern eine Theorie intersubjektiver Anerkennung es erlaubt, einen Selbstbezug ohne ein teleologisches Ganzheitspathos zu denken, offen zu sein für Elemente der Erfahrung von Andersheit und nicht zuletzt sensibel zu sein für die in die Anerkennungsprozesse eingeschriebenen Ambivalenzen, wird dann die Frage in den Fokus gerückt, was eigentlich genau mit der Rede von einem Selbstbezug gemeint sein kann. Die Erörterungen zu dieser Frage beginnen gewissermaßen mit einer Warnung: Der Umgang mit den Fragilitäten eines Selbstbezugs und seiner Angewiesenheit auf die Gestaltungsräume des Sozialen kann weder in die Richtung einer Verabsolutierung des Selbst noch der Verabsolutierung des Sozialen erfolgen. In einer Untersuchung der Arbeiten Jean-Luc Nancys zeigt sich, wie sich genau solche vermeintlichen Bewältigungsstrategien der Verabsolutierung des Einen oder des Anderen in die Debatten um das Verhältnis von Selbstbezug und Sittlichkeit einschleichen (Kapitel 6.1). Anschließend an eine solche Dekonstruktion jeglicher Ganzheitsansprüche wird in kritischer Auseinandersetzung mit Nancy herausgestellt, dass die Intransparenz eines Selbst, sein unsicherer Stand, sein Beginn nicht bei sich selbst gerade nicht ein zu überwindender Mangel sind, sondern einen Resonanzraum bilden, von dem her die Prekarität eines Selbstbezugs gestaltet werden kann (Kapitel 6.2). Einer der wesentlichen Kritikpunkte an den Arbeiten Nancys ist, dass Nancy zwar aufzeigt, wie schnell die Rede vom Selbst ebenso wie die Rede von Sozialität bestimmten Ordnungsmustern

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aufsitzt, ohne dass deren Konsequenzen hinreichend bedacht werden. Zugleich zeigt sich in der Untersuchung, inwiefern Nancy von der Annahme ausgeht, auf jegliche Ordnungsmuster zur Gestaltung des Verhältnisses von Selbst und Gesellschaft verzichten zu können. Damit erliegt er aber sogleich dem Trugschluss, dass ausgegrenzte Ordnungsschemata ohne Weiteres ausgegrenzt bleiben. Vielmehr, so zeigt sich dann in Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Bernhard Waldenfels, vollzieht sich die Gestaltung eines Selbstbezugs in den ambivalenten Wechselspielen des Antwortens auf fremde Ansprüche. Im kritischen Gespräch mit Waldenfels wird die These vertreten, dass bereits in dem Vernehmen und Wahrnehmen eines ein Selbst erst ermöglichenden Anspruchs eines Anderen eine erste Form der Anerkennung liegt. Eine solche – im Folgenden ‚fundierend‘ genannte – Form der Anerkennung, die Identitätsbildungsprozesse ebenso wie das Einklagen von und das Eintreten für Geltungsansprüche aller erst ermöglicht, ist weder – dies in rückbezüglicher Kritik an Hegel – zu erkämpfen, noch kann sie einfach – dies in Kritik an Honneth – verrechtlicht werden (Kapitel 6.3). Ausgehend von einer solchen fundierenden Form intersubjektiver Anerkennung wird in Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Bernhard Waldenfels und Emmanuel Lévinas aufgezeigt, dass es sich bei dem Selbst nicht um eine abstrakte Größe, sondern um einen leiblich verfassten Selbstbezug handelt. Möglichkeitsräume eines Selbst in und von einer Figur responsiver Leiblichkeit her zu denken, verweist erstens auf die Notwendigkeit, genauer in den Blick zu nehmen, was es mit der Rede von einem Selbst als leiblichem Selbst auf sich haben könnte (Kapitel 6.4). Zweitens zeigt sich, dass mit einer responsiv-leiblich fundierten Form intersubjektiver Anerkennung ein inkludierender Anspruch verbunden ist, der sich mit den Worten von Burkhard Liebsch folgendermaßen formulieren lässt: „[W]as immer Du zu sagen hast, ich akzeptiere, es zu hören und im gleichen Zug zu bestätigen, dass du existierst als jemand, der oder die etwas zu sagen hat – auch dann, wenn du scheinbar nichts zu sagen hast – das heißt, wenn du abweichst von jeweiligen Regelungen einer Redepraxis, die mehr oder weniger festlegt, wer wie unter welchen Umständen gehört werden soll.“27 Diesen Gedanken aufnehmend, muss eine solche erste Form der Anerkennung insofern als fundierend verstanden werden, als ohne die Bezeugung eines Selbst als ein Gastliches Geltungsansprüche nur mittels Gewalt zur Geltung kommen könnten (Kapitel 6.5). Die Bezeugung einer responsiven Grunddifferenz als Voraussetzung für eine weitere Gestaltung der Geltungsräume unterschiedlicher Ansprüche zu verstehen, wird dann in Anschluss an Paul Ricœur und Burkhard Liebsch in dreifacher Perspektive vorgenommen. Erstens wird bezeugt, dass es unmöglich ist, den Anspruch eines Anderen nicht zu vernehmen, so sich ein Selbst als Selbst bezeugen will. Bezeugung verweist darauf, dass einer 27 Liebsch

(2012): Prekäre Selbstbezeugung, 285.

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jeden Gestaltung symmetrischer Anerkennungsräume, wie beispielsweise vertraglichen Bindungen oder in bestimmten Kontexten zugesprochenen Rechten, die Zumutung vorausgeht, sein Wort zu geben. Zweitens ist aber offen, ob und wenn ja auf welche Art und Weise ein leibliches Selbst Zeugnis gibt, wie es sich somit zu dem es ereilenden Anspruch verhält. Offen bleibt damit, ob ein Selbst einen Anspruch überhört oder ihm auf diese oder jene Weise antwortet (Kapitel 6.6). Zugleich wäre aber nicht viel gewonnen, gelänge es nicht, die Figur der Selbstbezeugung so zu modellieren, dass Bezeugung und Zeugnis nicht einfach ineinanderfallen, sondern sich bedingen und mitunter gegenseitig infrage stellen. Diese Beobachtung führt dann zu einer den Gedankengang um das Verhältnis von intersubjektiver Anerkennung und leiblichen Selbstbezügen abschließenden These: Intersubjektive Anerkennungsprozesse können nicht nur als Orte der Aushandlung von verschiedensten Geltungsansprüchen verstanden werden, in denen entschieden wird, wer unter welchen Umständen was zu sagen hat, sondern es wird zugleich entschieden, wessen Stimme überhaupt gehört wird und damit auch, inwiefern die fundamentale Verletzlichkeit eines jeden Wesens als zu überwindender Makel oder als Grundmoment leiblichen Seins verstanden wird. Doch welche Konsequenz ergibt sich daraus, dass ein in den Räumen einer responsiv fundierten intersubjektiven Anerkennung entstandener leiblicher Selbstbezug sich zwischen Vertrauen und Verdacht angesiedelt vorfindet, für die theologisch-ethischen Überlegungen zur Anwendung von Zwang in psychiatrischen Kontexten? Diese Frage wird bearbeitet, indem die bis dahin entwickelten Gedanken zu einem Modell intersubjektiver Anerkennung in ein Gespräch mit den theologisch-philosophischen Arbeiten zu den Theoremen der Gabe als asymmetrischem Stiftungsgeschehen (Kapitel 7.1), der Stellvertretung als ambivalentem Ineinander von Selbstverdopplung und Verabsolutierung des Anderen (Kapitel 7.2) und der daraus resultierenden Verhältnisbestimmung von Autonomie und Fürsorge (Kapitel 7.3) gebracht werden. Die systematische Übertragung der konzeptionellen Überlegungen auf die Fragen der Anwendung von Zwang erfolgt dann, indem in einem ersten Schritt untersucht wird, inwiefern die Widerfahrnis von Wahnsinn – und damit soll zunächst einmal eine Abweichung in Denk- und Verhaltensmustern von einer sozial kodierten Norm bezeichnet sein – jeden leiblichen Selbstbezug durchzieht. Das bedeutet nicht, dass es nicht bestimmte Widerfahrnisse von Wahnsinn gibt, die mit guten Gründen als pathologisch zu bezeichnen sind. Aber erst von dem Eingeständnis her, wie tief greifend Erfahrungen von Wahnsinn mit den Möglichkeiten eines leiblichen Selbstbezugs verstrickt sind, lässt sich das Phänomen der psychischen Krankheit in den Blick nehmen (Kapitel 8.1). Die möglichst genaue Kartierung der psychischen Krankheit ist auch deswegen von großer Bedeutung, da sich die auf den ersten Blick irritierende Frage stellt, ob ein leiblicher Selbstbezug nicht die grundsätzliche Freiheit hat, die Art und Weise sei-

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nes Umgangs mit Phänomenen psychischer Devianz selbst zu gestalten. Dies wird erörtert, indem der in den juristischen Debatten installierte Begriff einer sogenannten Freiheit zur Krankheit einer theologisch-ethischen Untersuchung unterzogen (Kapitel 8.2) und in einem kurzen theologischen Seitenblick auf eine biblische Narration problematisiert wird (Kapitel 8.3). In einem zweiten Schritt wird der rechtliche Diskurs zur Anwendung von Zwang in psychiatrischen Kontexten aufgearbeitet. Hier ist zu unterscheiden zwischen den Vorgaben zu einer zwanghaften Unterbringung als Voraussetzung von Zwangsmaßnahmen einerseits und Zwangsbehandlungen in psychiatrischen Kontexten andererseits. Zunächst erfolgt die Analyse der rechtlichen Rahmenbedingungen zur Unterbringung (Kapitel 9.1), um dann den Blick auf die materialen und prozeduralen Vorgaben zur Durchführung von Maßnahmen und Behandlungen gegen den Willen einer betroffenen Person zu richten (Kapitel 9.2). Diese Analysen werden abgeschlossen, indem die offenen rechtlichen Herausforderungen im Umgang mit Zwang eruiert werden (Kapitel 9.3). Die vorliegende Studie schließt mit einer systematischen Zusammenfassung (Kapitel 10.1), die schließlich in einer Beurteilung der Anwendung von Zwang in psychiatrischen Kontexten mündet (Kapitel 10.2) und mit einem Ausblick zum Verhältnis von Anerkennung und Rechtfertigung angesichts der Herausforderung psychischer Devianz (Kapitel 10.3) abgeschlossen wird.

2. Methodologische Verortung Im Mittelpunkt der Studie steht die Bewertung von Zwang. Handlungen, die erkennbar die Selbstbestimmung eines Menschen angreifen, sind nicht nur rechtlich, sondern auch moralisch strittig, sodass eine ethische Reflexion naheliegt. Konzepte und Methoden der Ethik sind keineswegs selbstverständlich, daher ist es notwendig, am Anfang der Überlegungen Rechenschaft über die Voraussetzungen des eigenen ethischen Ansatzes abzulegen. Im Rahmen dieser Untersuchung wird Moral als die Gesamtheit sittlicher Handlungen verstanden, während Ethik die kritische Reflexion über Moral bezeichnet. Eine weitere Ausdifferenzierungsmöglichkeit wäre die von Habermas und Dworkin getroffene Unterscheidung zwischen der Moraltheorie als Reflexion des Richtigen und der Ethik als der Reflexion des Guten. Hinsichtlich des Richtigen liegt der Fokus vor allem auf moralischen Regeln, die – bei aller Unterschiedlichkeit von Individuen – für alle Mitglieder einer Gemeinschaft gelten sollen. Hinsichtlich des Guten liegt er auf der Frage, was ein Individuum oder eine Gemeinschaft für sich selbst als ein gelingendes und in diesem Sinne gutes Leben erachten. Vor diesem Hintergrund postuliert Dworkin insofern einen Vorrang der Moral vor der Ethik, als sich die Gestaltung und Umsetzung der eigenen Vorstellungen des guten Lebens an der wechselseitigen Wahrnehmung

2. Methodologische Verortung

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und Anerkennung von Vorstellungen und Werthaltungen anderer messen lassen muss. Insofern ist das ‚Was‘ sittlicher Lebensorientierung nicht nur untrennbar mit dem ‚Wie‘ verbunden, sondern ebenso ist das ‚Wie‘ der Konstitutionsrahmen des ‚Was‘: „Ein ethisches Urteil ist eine Aussage darüber, was Menschen tun sollten, um ein gelungenes Leben zu führen, oder anders ausgedrückt, was sie im Rahmen ihres Lebens zu sein und zu erreichen anstreben sollten. Ein moralisches Urteil hingegen sagt etwas darüber aus, wie man andere behandeln sollte.“28 Mit einer solchen Verhältnisbestimmung von Richtigem und Gutem sind jedoch weitreichende Konsequenzen verbunden, wie Rahel Jaeggi zu Recht anmerkt. Das betrifft vorrangig die Frage, inwieweit es eine von Habermas und Rawls postulierte Neutralität des Richtigen gegenüber partikularen Aspekten des guten Lebens überhaupt geben kann und, falls möglich, inwiefern die Behauptung einer solchen überhaupt ein sinnvolles Unterfangen darstellt. Vielmehr verschleiert der Verzicht auf streitbare und bewertbare Modi des Richtigen auf der Ebene des individuell Guten, solange dieses den gesellschaftlichen Maßstäben nicht fundamental zuwiderläuft, dass gerade in der modernen Gesellschaft und ihren öffentlichen Diskursarenen über das private Glück sehr wohl immer auch öffentlich entschieden wird. 29 Das bedeutet keineswegs, dass es nicht sehr wohl individuelle und private Bereiche des guten Lebens gibt. Aber solche individuellen Werthaltungen und -entscheidungen vollziehen sich zugleich immer schon in Auswahlsettings gesellschaftlicher Wertentscheidungen, die als historische und tradierte Formierungen auch darüber entscheiden, welche genealogischen Kompartimente des Guten zur ‚universalen‘ Geltung gelangen und welche nicht.30 Es handelt sich bei den Vorstellungen des Guten um voraussetzungsreiche Konzepte, die individuelle wie gesellschaftliche Entscheidungen maßgeblich beeinflussen, wie auch in den Aushandlungen des moralisch Richtigen abgewogen wird, welche partikularen Elemente des Guten als besonders wertig und in diesem Sinne möglichst weitreichend gültig verstanden werden sollen. Daher ist in den Prozessen ethischer Urteilsbildung sehr genau zu untersuchen, an welchen Stellen gehaltvolle Vorstellungen des Guten welchen Einfluss auf die gesellschaftliche Konzeption des Richtigen nehmen und 28 Dworkin

(2012): Gerechtigkeit für Igel, 49. Jaeggi (2014): Kritik von Lebensformen, 30 ff. Judith Butler hat in ihrem neusten Werk betont, dass es zunächst einmal die (individuellen) Körper sind, die für sich bereits auf Anerkennung drängen, noch bevor überhaupt eine Meinung geäußert werden kann. Insofern betont sie, dass jedem Plädoyer für individuelle Meinungsfreiheit bereits die Notwendigkeit der Versammlungsfreiheit eingeschrieben ist. Vgl.: Butler (2016): Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung, 7–36. 30  Vgl. Jaeggi (2014): Kritik von Lebensformen, 40. In einem solchen Argument gegen die Habermas-Schule brechen sich paradigmatisch Foucaults Einsichten Bahn, da es ja gerade die Funktion von solchen Diskursen ist, „den Dingen einen Namen zuzuteilen und ihre Existenz in diesem Namen zu benennen.“ Foucault (2003a): Die Ordnung der Dinge: eine Archäologie der Humanwissenschaften, 164. 29  Vgl.

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ebenso, an welchen Stellen es zu Verwebungen und Kreuzungen kommt, die dann ihrerseits wiederum diskursprägend sind.31 Mit anderen Worten: Auch kantisch oder diskurstheoretisch begründete Diskursnormen sind abhängig von Werten und individuellen Vorstellungen des Guten.32 Eine solche Verankerung in gehaltvollen Vorstellungen des Guten gilt dann gleichermaßen auch für theologisch-ethische Überlegungen: „Eine Säkularisierung, die nicht vernichtet, vollzieht sich im Modus der Übersetzung.“33 So hat Jürgen Habermas die Anforderung beschrieben, die theologische Vorstellungen des Guten erfüllen müssen, damit ihre Argumentationen für eine säkulare Öffentlichkeit nachvollziehbar und fruchtbar sind. Die innerhalb der theologischen Ethik geführte Debatte, ob es überhaupt möglich ist, die christlichen Glaubensüberzeugungen in Begründungsschemata zu überführen, erfüllt insofern eine wichtige kritische Funktion, als sie beständig die Frage offen hält, was sich in den Begründungs- und Übersetzungsfiguren an tatsächlichen Glaubenszeugnissen bezeugt.34 Im Umkehrschluss heißt das aber auch, dass eine theologische Ethik, die von sich aus meint, auf die Übersetzung der in ihr bezeugten Glaubensinhalte verzichten zu können, nicht nur ihre Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb des öffentlichen Diskurses aufgibt, sondern ebenso verkennt, dass sie sich ihren Auftrag, die ihr zugrunde liegenden Glaubensinhalte zu bezeugen, nicht selbst ausgesucht hat. Dies hat Peter Dabrock in fundamentaltheologischer Hinsicht ausbuchstabiert, indem er die vorrangige Aufgabe theologischer Ethik, ausgehend von 1. Petr. 3,15 („Seid allezeit bereit zur Verantwortung vor 31  Insofern wird im Rahmen dieser Arbeit der Terminus des ‚Diskurses‘ auch nicht vorrangig als gesellschaftlicher Kommunikationsbegriff verwendet. Vgl. Habermas (1995a): Theorie des kommunikativen Handelns. Band 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung; Habermas (1995b): Theorie des kommunikativen Handelns. Band 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. Vielmehr wird unter ‚Diskurs‘ ein Zusammenhangskonstrukt von Sprachformen und Denkmustern verstanden. ‚Diskurs‘ steht dann für dynamische, zugleich geronnene und stets mitlaufende Elemente des Tradierten enthaltende Bildung von Wahrheitsansprüchen, die sich innerhalb von Denksystemen in der Geschichte formieren. Insofern sind ‚Diskurse‘ als „Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen.“ Foucault (1995): Archäologie des Wissens, 74. Für die Analyse solcher Diskurse ist dann ebenso auf das Wechselspiel und die Interferenzen zwischen den Diskursen zu achten sowie auf die Manifestationen solcher Diskurse in Institutionen und Praktiken (Dispositive). 32  Vgl. auch: Putnam (2001): Werte und Normen. Putnam weist darauf hin, dass es gerade die menschliche Vielfalt unterschiedlicher Vorstellungen des guten Lebens ist, die zuallererst die Artikulation von moralisch Richtigem ermöglicht. Habermas selbst hat auf die bleibend wichtige Rolle von individuellen Vorstellungen guten Lebens in seinen späteren Arbeiten hingewiesen, daraus allerdings keine weitergehenden Konsequenzen gezogen. Vgl. Habermas (2005b): Zwischen Naturalismus und Religion: Philosophische Aufsätze, 258–278, 279–323. 33  Vgl. Habermas (2001): Glaube und Wissen, 7. 34  Vgl. Fischer (2002): Theologische Ethik. Grundwissen und Orientierung. Siehe auch: Fischer (2011): Verstehen statt Begründen. Warum es in der Ethik um mehr als nur um Handlungen geht.

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jedermann, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in euch ist“), darin bestimmt sieht, die christlichen Vorstellungen des guten Lebens, die in sich wiederum plural sind, transpartikular in den öffentlichen Vernunftgebrauch einzubringen.35 Die Aufgabe theologischer Ethik in diesem Sinne als – wie es Dabrock nennt – transpartikular zu verstehen, bedeutet dann, dass die Glaubensinhalte theologischer Ethik nicht in den Übersetzungsleistungen aufgehen können, sondern gerade in ihrer auf Verallgemeinerung setzenden Form als partikulare erkennbar gehalten werden. Theologische Ethik trägt so nicht nur wesentlich zum deliberativen Diskurs über bestimmte ethische Begründungsmuster bei, sondern kann zugleich Imaginationsräume schaffen, von denen her bestehende Geltungsmuster kritisch hinterfragt werden können (und am Ende entweder bestätigt oder abgelehnt werden können). So verstanden fordern die konkreten Fragen für den Umgang mit psychischer Devianz die sozialanthropologischen Konzeptionen wie etwa der Anerkennung,36 der Rede vom Selbst,37 oder der Stellvertretung38 ebenso heraus wie theologisch-ethische Denkfiguren wie etwa die der Rechtfertigung39 sich neu in ihrer Orientierungsleistung für die konkreten Herausforderungen bewähren müssen. Ausgehend von einer solchen Verhältnisbestimmung von (theologischer) Ethik und Moral folgt diese Studie dem Ansatz einer konkreten Ethik. Mit Ludwig Siep zeichnet sich eine solche ‚Programmatik‘ durch drei Aspekte aus:40 So vollzieht sich eine konkrete Ethik erstens als ein Prozess der Konkretion, indem allgemeine Kriterien, fundiert in Konzeptionen des guten Lebens, systematisch und sukzessive auf bestehende moralische Konflikte heruntergebrochen werden. Zweitens sind die Bezugspunkte eines solchen Prozesses Gegenstände und Ereignisse der Erfahrung41 und nicht apriorische, ideale Begriffe oder Werte42 . Ausgehend von diesen beiden Aufgaben werden dann die konkreten Fragen und Probleme perspektiviert und vor diesem Hintergrund erörtert, welche gesellschaftlichen und individuellen Handlungsvollzüge „zu einem gerechtfertigten Konsens über die gute Welt passen.“43 Methodisch werden somit durch einen 35 

Vgl. Dabrock (2009a): ›Was heißt die Wahrheit sagen‹ in fundamentaltheologischer Perspektive? 36  Vgl. Kapitel 4.1–5.4. 37  Vgl. Kapitel 6.1–6.6. 38  Vgl. Kapitel 7.2. 39  Vgl. Kapitel 7.1 & 10.3. 40 Siep (2003): Konkrete Ethik – Grundlagen der Natur- und Kulturethik, 20 f. 41  Mit Peter Dabrock (vgl. Dabrock (2012): Befähigungsgerechtigkeit. Ein Grundkonzept konkreter Ethik in fundamentaltheologischer Perspektive, 27) ist darauf zu verweisen, dass der Terminus ‚Erfahrung‘ gleichermaßen die Erfahrungswissenschaften als systematische Betrachtungs- und Beobachtungsperspektive der lebensweltlichen Vollzüge bezeichnet wie auch die Erfahrung im Umgang mit Werten. Vgl. Siep (2003): Konkrete Ethik – Grundlagen der Natur- und Kulturethik, 9. 42  Vgl. Siep (2003): Konkrete Ethik – Grundlagen der Natur- und Kulturethik, 20. 43 Siep (2003): Konkrete Ethik – Grundlagen der Natur- und Kulturethik, 20.

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systematischen Rekurs auf die der Untersuchung zugrunde liegenden Normen und Werte sowie die diese wiederum fundierenden Menschen- und Gesellschaftsbilder die unterschiedlichen Problemfelder der angewandten Ethik bearbeitet. Gleichermaßen liegt ein besonderer Fokus auf den Wechselwirkungen zwischen den methodischen Schritten einerseits und den Transformationen der theoretischen Prämissen durch die konkreten Herausforderungen andererseits. Ein solches Reflexionsgleichgewicht zwischen theoretischen Prämissen und konkreten Anwendungsfragen konstatiert zum einen die Unmöglichkeit völlig apriorischer Begründungsformationen, wie es gleichermaßen keine prinzipienlose Urteilsfindung geben kann.44 Es gibt, so kann man summarisch formulieren, keine vollkommene Kohärenz, auch wenn diese, gerade vor dem Hintergrund des Eingeständnisses der methodologischen Begrenzungen, ein wichtiges Gütekriterium darstellt.45

2.1. Abgrenzung von Bottom-up- und Top-down-Ansätzen Von streng induktiv, hier ‚bottom-up‘ genannt, arbeitenden Urteilsschemata, wie dem Partikularismus in der allgemeinen und der Kasuistik in der angewandten Ethik, grenzt Siep eine konkrete Ethik ab, wobei er auf die Notwendigkeit eines Referenzrahmens für die vergleichende Beobachtung verweist. Beide Schemata ethischer Urteilsbildung sind zwar in dem Sinne ‚konkret‘, als sie davon ausgehen, dass die unterschiedlichen Anwendungskontexte wie die in diesen getroffenen ethischen Entscheidungen gleichermaßen Vergleichsmöglichkeiten wie Kontinuitätsnotwendigkeiten für aktuelle und/oder zukünftige Entscheidungen bieten. Folglich besteht eine gewisse Nähe zwischen dem Ansatz einer konkreten Ethik und der Kasuistik darin, dass sie ausgehend von den fallbezogenen Urteilen in einem konkreten Kontext nach Linien notwendiger Kohärenz für die Urteilsfindung eines anderen moralischen Konflikts fragen. Exemplarisch kann der methodische Ansatz der Kasuistik an den Arbeiten von Albert Jonsen nachvollzogen werden, der für die kasuistische Deliberation drei methodische Schritte unterscheidet.46 So hat die ethische Urteilsbildung nach 44 

Vgl. Siep (2013): Konkrete Ethik – zwischen Metaethik und Ethik-Kommissionen, 182. Dabrock (2012): Befähigungsgerechtigkeit. Ein Grundkonzept konkreter Ethik in fundamentaltheologischer Perspektive, 23–27. 46  Vgl. Jonsen (1991): Casuistry as Methodology in Clinical Ethics, 301 f. Die Auseinandersetzung mit solchen Bottom-up-Ansätzen erfolgt im Rahmen dieser Arbeit zugestandenermaßen eher schematisch und auch vorrangig in Auseinandersetzung mit der Kasuistik. Für eine ausführlichere Auseinandersetzung mit dem Partikularismus vgl. u.a.: Dancy (1993): Moral Reasons. Dancy wehrt sich dabei vehement gegen den Vorwurf, dass einem Verzicht auf Prinzipien für die ethische Urteilsbildung ein grundlegender moralischer Skeptizismus zugrunde liege. Vielmehr versteht Dancy Moralsysteme als in sich bereits so stark differenziert, dass eine ‚Ergänzung‘ um Prinzipien nicht nur überflüssig, sondern mitunter auch irreführend sei: „Particularists, if they are anything like myself, think that morality is in perfectly good shape and functioning quite happily, and that abandoning the mistaken link between 45  Vgl.

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Jonsen zunächst die Morphologie eines klinischen Konflikts zu untersuchen, indem sie die Grundstrukturen eines Falles in seinen faktischen und moralischen Eigenheiten zu erfassen versucht. Eine solche kritische Evaluation umfasst die – vielleicht wichtigste – Aufgabe, zu klären, ob und inwiefern überhaupt ein ethisches Problem vorliegt.47 Ist dieses geklärt, so folgt der zweite Schritt der Taxonomie, also einer Klärung, inwieweit der aktuelle Fall Kontinuitäten oder Diskontinuitäten zu bereits bearbeiteten Fällen aufweist. Die Einordnung des zu begutachtenden Falles in die Ordnungs- und Entscheidungsschemata bereits abgeschlossener Fallbegutachtungen leitet dann, in einem dritten Schritt, zur Kinetik über, in der die Vergleichspunkte zwischen dem aktuellen Fall und den als Komparationspunkten identifizierten vorherigen Fällen noch einmal mit den Besonderheiten und Spezifika des aktuellen moralischen Konfliktes gespiegelt werden. Am Ende eines solchen Prozesses steht dann mitunter kein abgeschlossenes Urteil, sondern gewissermaßen eine Urteilsmatrix, mittels derer sich unterschiedliche Grade an Sicherheit und Unsicherheit bezüglich der Eindeutigkeit der Urteilsfindung sowie der Triftigkeit der vorgeschlagenen Entscheidung abbilden lassen. In der Weiterentwicklung seines Ansatzes überprüft Jonsen die drei methodischen Schritte noch einmal an vier thematischen Dimensionen, die eine „essential structure“48 für die Modellierung klinischer Fälle bilden. So geht Jonmorality and principles is if anything a defence of morality rather than an attack on it.“ Dancy (2004): Ethics without Principles, 1 f. Gleichwohl sehen solche Ansätze keine Notwendigkeit, Prinzipien vollkommen zu negieren, sondern verstehen diese beispielsweise als ‚heuristic devices‘, die gewissermaßen einen Möglichkeitsraum abstecken und so die Aufmerksamkeit auf Entscheidungspfade lenken oder aber von diesen weglenken. Mit anderen Worten: Prinzipien an sich geben noch keine Orientierung, sondern werden als ‚rules of thumb‘ verstanden. Vgl. Linden (2013): Principles as „Rules Of Thumb“: A Particularist Approach to Codes of Ethics and an Analysis of the Dutch Banking Code. So zutreffend eine solche Kritik auch ist, verlagert sie aber das Problem lediglich dadurch, dass gleichermaßen fraglich wird, welche Begründungsschemata sich wiederum hinter dem Terminus der Regel verbergen. 47  Siehe hierzu auch die von Luhmann eingeworfene Aufgabenbeschreibung der Ethik: „Angesichts dieser Sachlage ist es die vielleicht vordringlichste Aufgabe der Ethik, vor Moral zu warnen.“ Luhmann (1990): Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral, 41. Unverkennbar sind die Parallelen zum Modell ethischer Urteilsbildung, wie Heinz Eduard Tödt es entwickelt hat: Vgl. Tödt (1988): Versuch einer ethischen Theorie sittlicher Urteilsfindung. Beide Modelle stärken zunächst den kritischen Blick, inwieweit es sich bei dem fraglichen Problem überhaupt um einen moralischen Konflikt handelt, und folgen damit gewissermaßen dem luhmannschen Diktum, demzufolge die erste Aufgabe der Ethik die Warnung vor Moral ist. Dieser Hinweis kann bei aller polemischen Zuspitzung und Verkürzung gleichsam nicht ernst genug genommen werden, ist doch gerade in klinischen Konfliktfällen sehr sorgsam auf die Bruchstellen zu achten, wo medizinische Konflikte unter dem Deckmantel ethischer Konflikte verschleiert oder gar unnötigerweise verkompliziert werden. Zugestanden ist dabei sofort, dass es Interferenzen und Überschneidungen zwischen den einzelnen Ebenen gibt, aber diese sind für die jeweilige Urteilsfindung zunächst sehr sauber voneinander zu trennen. 48 Jonsen, et al. (2010): Clinical Ethics. A Practical Approach to Ethical Decisions in Clinical Medicine, 3.

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sen davon aus, dass jedes klinische Problem zunächst durch eine oder mehrere – sich optimalerweise ergänzende – medizinische Indikationen gekennzeichnet ist (Medical Indication), für die es unterschiedlich klar artikulierte Präferenzhaltungen vonseiten der Patienten gibt (Patient Preferences). Sowohl die Indikation als auch die in Betracht gezogenen Behandlungsoptionen vollziehen sich aber nicht in einem ‚luftleeren‘ Raum, sondern müssen gewissen Qualitätskriterien und Entscheidungsschemata folgen (Quality of Life) und sind in einen (klinischen) Kontext eingebunden (Contextual Features). Diese vier Dimensionen lassen sich nun, so die Annahme, in jedem klinischen Fall in unterschiedlicher Intensität und Bedeutung identifizieren. Damit wird von Jonsen ein methodologischer Rahmen aufgespannt, innerhalb dessen die einzelnen Fälle miteinander auf ihre wechselseitige Orientierung für die ethische Urteilsbildung geprüft werden. Moralische Handlungsorientierungen, so kann man zusammenfassen, lassen sich hernach als ein Wechselspiel zwischen Verfestigung und Verflüssigung normativer Vorstellungen und Gehalte verstehen. Solche Vorstellungen sind gewissermaßen provisorisch und müssen durch den beständigen Abgleich mit anderen Fallkonstellationen verworfen, modifiziert oder bestätigt werden.49 Dieser Bottom-up-Ansatz ist vielfach kritisiert worden. Paradigmatisch lassen sich drei Kritikpunkte hinsichtlich der Methodik (1), der Begründung (2) und der Reichweite (3) benennen: (1) Strittig ist erstens, ob sich der postulierte Verzicht auf Prinzipien im Rahmen des Bottom-up-Ansatzes methodisch wirklich durchhalten lässt. So muss auch in einer solchen ‚Case-Law‘-Logik erörtert werden, welche – aus den Fällen als Vergleichspunkte herausgearbeiteten – Regeln in welchen Fällen relevant sind und inwiefern die jeweiligen Regeln auch tatsächlich befolgt wurden bzw. die Möglichkeit zur Einhaltung bestand. Bottom-up-Ansätze stehen folglich in der Gefahr, die Kriterien für die Entscheidung, inwiefern eine Handlung mo49  Der Neutestamentler Peter Wick hat im Jahre 2009 ein Plädoyer für eine stärkere Beachtung kasuistischer Theoriebildung in der theologischen Ethik gewagt. Er verfolgt dabei die These, dass ein Ausgehen von konkreten Einzelfällen und ein Heranziehen und Vergleichen von Entscheidungen in ähnlichen Fällen eine wichtige Perspektive bietet, auf welche Art und Weise Exegese und theologische Ethik gegenseitig in einen Diskurs treten können. In der Kasuistik sieht er dabei eine kritische Kontrastfolie zu aktuellen Tendenzen innerhalb der theologischen Ethik, die Besonderheiten des Einzelfalls nicht aus dem Blick zu verlieren. Insofern stellt die Kasuistik in den Augen von Wick nicht nur eine wichtige Re-Konfiguration evangelischer Ethik dar, sondern überdies, aus exegetischer Perspektive, einen bleibenden, Stachel gegen eine vorschnelle Subsumierung des Besonderen unter das Allgemeine. Johannes Fischer stimmt bei allem bleibenden (und mitunter berechtigten) Dissens diesem grundlegenden Kritikpunkt zu und versucht, diese Linie in seinen Antworten auf Wick weiter zu schärfen. Vgl. Wick (2009a): Evangelische Ethik contra Kasuistik. Evangelische Bio- und Medizinethik in der Sackgasse?; Fischer (2009a): Evangelische Ethik und Kasuistik. Erwiderung auf Peter Wicks Beitrag; Wick (2009b): Kasuistik als evangelische Herausforderung. Reaktion auf Johannes Fischers Erwiderung; Fischer (2009b): Zu Peter Wicks Kritik an den „Verinnerlichungstendenzen“ evangelischer Ethik.

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ralisch besser oder schlechter ist, nicht mehr zu explizieren und damit die Wege der Entscheidungsfindung nicht mehr transparent gestalten zu können.50 So setzt auch jede induktive Beobachtung immer schon Bewertungskriterien voraus, mittels derer entschieden wird, was innerhalb des Beobachtungshorizontes verbleibt und was aufgrund der jeweiligen Betrachtungsweise (notwendigerweise) nicht weiter in den Blick fällt.51 Kasuistische Ansätze wie der von Jonsen oder auch Baruch Brody bestreiten nicht, dass auch eine Ka­suistik gewissen Hintergrundannahmen folgt,52 aber sie insistieren darauf, dass ein solcher Theorierahmen in der konkreten kasuistischen Überlegung keine – systematisch fundierte – Rolle spielt. Die von Brody und anderen als Verteidigung vorgebrachte Beobachtung, dass Menschen in unterschiedlichen Situationen recht sicher – und mitunter intuitiv – zu ethischen Urteilen kommen und sich solche Urteile auch als äußerst persistent erweisen können, ist insofern gerade ein Indiz dafür, dass auch in kasuistischer Urteilsbildung auf unterschiedliche moral-theoretische Vorannahmen zurückgegriffen wird.53 50 

Vgl. Siep (2013): Konkrete Ethik – zwischen Metaethik und Ethik-Kommissionen, 195. Problem einer solchen Perspektive ist dabei nicht, dass sie Ausgrenzungen vornimmt, sondern dass methodisch nicht transparent gemacht werden kann, aus welchen Gründen und mittels welcher Kriterien Unterscheidungen erfolgen. Insofern in einem luhmannschen Sinne ‚beobachten‘ Differenzierung und Differenzierung Anschlussmöglichkeiten eröffnet und verschließt (vgl. Luhmann (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie & Luhmann (1997a): Die Gesellschaft der Gesellschaft, 596 f.), muss natürlich auch eine konkrete Ethik, ebenso wie jeder Urteilstypus, bestimmte Anschlussmöglichkeiten schaffen und sich dadurch von anderen wiederum abgrenzen. Der Unterschied zwischen rein induktiven Verfahren und dem Ansatz einer konkreten Ethik besteht nun darin, dass eine konkrete Ethik die Offenlegung solcher Einschluss- und Ausschlusskriterien systematisch in ihr eigenes Programm zu integrieren versucht. Selbstverständlich kann dieses auch im Rahmen einer induktiven oder kasuistischen Urteilsfindung erfolgen, es ist aber in einem solchem Ansatz auch möglich, auf ein solches Verfahren zu verzichten. 52  Vgl. Brody (2003): Taking Issue: Pluralism and Casuistry in Bioethics. Die Stärke von Brody’s Ansatz liegt darin, dass er konsequent versucht, die Realität von pluralen, mal harmonisierenden, mal konfligierenden moralischen Anschauungen und Theorien in sein Denken zu integrieren. Die unterschiedlichen moralischen Gesichtspunkte sollen dabei im Rahmen der konkreten Entscheidungsfindung berücksichtigt werden, um so zu einem Urteil zu gelangen, welches in dem jeweiligen Fall moralisch angemessen ist. Gegenüber Jonsen weist Brody den Regeln damit nicht nur eine wichtigere Rolle für die ethische Urteilsfindung zu, sondern formuliert auch einen gewichtigen Einwand gegen die Arithmetik der sog. Prinzipienethik: Eine ‚common morality‘, eine gemeinsame, verbindende Moral ist nicht nur – so Brody – faktisch nicht aufweisbar, sondern stellt eine Illusion dar, da sie zwangsläufig davon ausgeht, dass sich alle Spannungen und Ambivalenzen zwischen den unterschiedlichen partikularen Perspektiven zu einer universalen Moralvorstellung synthetisieren lassen. Demgegenüber betont Brody, dass es nicht nur nicht immer möglich, sondern mitunter auch gar nicht sinnvoll ist, solche Ambivalenzen integrativ aufzulösen. Vgl. Brody (1988): Life and Death Decission Making. Nicht zuletzt bleibt aber auch in Brody’s Entwurf ungeklärt, wie der systematische Zusammenhang zwischen solchen partikularen Elementen der Moral und den konkreten ethischen Entscheidungsfindungen erfasst und beschrieben werden kann. 53  Vgl. Steigleder (2003): Kasuistische Ansätze in der Bioethik, 163 f. 51  Das

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(2) Der Einwand hinsichtlich der Begründungsweise wird noch stärker, wenn man die von H. Tristram Engelhardt Jr. und anderen vorgebrachten Zweifel hinzuzieht, inwieweit die in der Entstehungszeit der Kasuistik vorrangige Moralauffassung auch angesichts heutiger pluraler und mitunter konkurrierender Moralauffassungen nicht als Grenzmarkierung verstanden werden muss, die dann auch die methodologischen Anfragen noch einmal zuspitzt.54 Pro bono könnte man natürlich einwenden, dass auch alle anderen ethischen Theorien in bestimmten, zeitlich verorteten, Moralauffassungen zum Stehen kommen. Insofern ist das Problem kasuistischer Urteilsschemata nicht, dass sie einer bestimmten, mitunter traditionsreichen Moralauffassung folgen, sondern dass sie kein methodisches Instrumentarium bereitstellen, diesen notwendigen blinden Fleck systematisch in der Urteilsfindung (mit) zu bearbeiten. Gerade aber solche Hintergrundtheorien wie beispielsweise anthropologische oder gattungstheoretische Vorannahmen ebenso wie kriteriale Voraussetzungen zur prinzipiellen Vergleichbarkeit der Fallstudien transparent zu machen und die Auswirkungen und (impliziten) Orientierungsleistungen solcher Hintergundtheorien im Zuge einer ethischen Urteilsbildung systematisch zu explizieren, macht sich eine konkrete Ethik zur Aufgabe. (3) Drittens lässt sich fragen, ob solche ‚Case-Law‘-Logiken nicht unnötigerweise das Blick- und Aufgabenfeld medizinischer und erst recht bioethischer Urteilsfindung beschränken. So sind die entsprechenden (klinischen) Fälle ja keine kontextlosen Ereignisse, sondern sie haben Rahmenbedingungen, stehen in gewissen genealogischen Zusammenhängen und folgen systemeigenen Rationalitäten. Deshalb können die Handlungsoptionen ebenso wie die tatsächlich getroffenen Entscheidungen nicht ohne die Betrachtung und Untersuchung der jeweiligen systemischen – also kulturellen, sozialen oder professionellen – Kontexte bewertet werden. Fragen wie etwa die nach der Gestaltung des Gesundheitssystems geraten komplett aus dem Fokus einer rein kasuistischen Urteilsbildung, da sie zwar über Analogiebildung auf die Konsequenzen für das Allgemeine zielen, jedoch strikt davon ausgehen, dass sich von jedem Fall direkt auf die allgemeine Ebene schließen lässt. Mit einer solchen Kritik an kasuistischen Ansätzen ist keineswegs intendiert, dass die Berücksichtigung von Kontexten und Hintergründen auf der Ebene des Allgemeinen bereits bestimmte Missstände oder Fehlentscheidungen auf der Ebene des Konkreten hinreichend rechtfertigen kann. Ebenso ist sehr genau darauf zu achten, an welchen Stellen die an sich richtige Beachtung und Bearbeitung von (konzeptionellen) Fragen auf der Ebene des Allgemeinen in eine ethisch illegitime Vernachlässigung der 54  Vgl. Engelhardt Jr. (1996): The Foundations of Bioethics, 3. Engelhardt geht davon aus, dass solche Unterschiede in den Moralauffassungen nicht alleine auf die Eigenheiten weltanschaulich pluralistischer Gesellschaften zurückgeführt werden können, sondern diese alleine schon dadurch bedingt sind, dass unterschiedliche Rangordnungen und Gewichtungen von gesellschaftlich als ‚common‘ geltenden Werten vorgenommen werden.

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dringlichen Besonderheit von Entscheidungsnotwendigkeiten umschlägt. So kann es mitunter wenig zielführend sein, die Bewertung der Legitimität eines Eingriffes gegen den Willen eines Patienten allein anhand eines Vergleiches der Situation von Patient W und den Begründungen von Arzt X mit einer früheren Entscheidung von Arzt Y in der Situation von Patient Z vorzunehmen. Gleichfalls muss es aber Aufgabe ethischer Urteilsbildung sein, kritisch zu beleuchten an welchen Stellen der Urteilsfindung die notwendige Bearbeitung der kontextrelevanten Parameter – wie beispielsweise die Abschätzung der möglichen Folgen der konkreten Entscheidung für das Gesundheitssystem, die Berücksichtigung möglicher Erkenntnisse von Studien zur subjektiven Einschätzung von Zwangsbehandlungen bei bereits erfolgten Eingriffen – zu einer illegitimen Verfälschung in der Bewertung der Legitimität ebenso wie Notwendigkeit eines Eingriffes in die unmittelbaren Freiheitsrechte des Einzelnen führt. Während also kasuistische Ansätze davon ausgehen, dass die Intuitionen und Erfahrungsmomente, die Personen in ihren vielfältigen lebensweltlichen Erfahrungsräumen gewinnen, eine hinreichende Ressource für die Entwicklung und Begründung ethischer Urteile sind, bestreiten deduktive, hier im Weiteren Top-down-Ansätze genannt, diese Prämisse.55 Ihnen zufolge ist von einer allgemeinen Theorie auszugehen, aus der sich dann Normen mit universalem – im Sinne eines für alle vernünftigen Wesen geltenden – Geltungsanspruch begründen sowie die jeweils handlungsbestimmenden Regeln und Urteilssprüche ableiten lassen. So können konkrete Urteile dann durch einen Rekurs auf höherstufige Maximen oder Regeln gerechtfertigt werden, die ihrerseits wiederum in einem moraltheoretischen Rahmen fundiert sind. Methodologisch zeichnen sich solche Ansätze dadurch aus, dass sie gerade die Schwäche kasuistischer Ansätze systematisch zu minimieren versuchen, indem nach streng formallogischen Ableitungen die Konsequenzen für die nächsttiefer gelegene Ebene ausgelotet werden. So kann man aus dem von Habermas in enger Traditionslinie zu Kant entwickelten Moralprinzip des ‚kommunikativen Handelns‘56 folgern, dass beispielsweise die Handlungsmaximen der Aufrichtigkeit, der Wahrhaf55  Zur

weiteren Übersicht vgl. auch: Düwell & Steigleder (2003): Bioethik: eine Einführung, Werner (2006): Diskursethik. 56  Eine solche Theorie ist durch zwei Annahmen gekennzeichnet, nämlich dass a) „die normativen Geltungsansprüche einen kognitiven Sinn haben und wie Wahrheitsansprüche behandelt werden können“ und b) „die Begründung von Normen und Geboten die Durchführung eines realen Diskurses verlangt und letztlich nicht monologisch, in der Form einer im Geiste hypothetisch durchgespielten Argumentation möglich ist.“ Habermas (1999b): Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm, 78. Diese beiden Annahmen stützen dabei den Universalisierungsgrundsatz, nach dem eine Norm nur dann als gerechtfertigt angesehen werden kann, wenn diese für jeden (potentiell) Betroffenen als gleichermaßen gut angesehen werden kann. Vgl. auch Habermas’ Debatte mit Ernst Tugendhat über die Frage, inwiefern Prämisse a) eine notwendige Voraussetzung ist: Tugendhat (2010): Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie.

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tigkeit sowie der Notwendigkeit rational zu rechtfertigen sind.57 Entsprechend scheint bei einigen Maximen von vorneherein klar, dass sie nicht mit dem obersten Moralprinzip vereinbar sind. So wäre die Aussage „Ich werde den Patienten X belügen, wenn es für mich von Nutzen ist“ als Handlungsmaxime ethisch nicht zu rechtfertigen, da sich eine solche Maxime nicht als allgemeines moralisches Gesetz denken ließe und so jede Möglichkeit einer prinzipiellen, rationalen Zustimmung ausschließen würde. Ebenso wäre nach Kant dann die Prämisse „Ich werde einem Menschen, der in Not geraten ist, nicht helfen“ eine Maxime, von der niemand wollen kann, dass sie universale moralische Geltung erlangt.58 Beide Maximen müssen dann als moralisch nicht akzeptabel erachtet werden, da sie bereits die Bedingungen einer rationalen Zustimmung zerstören würden. Die große Stärke solcher Typen ethischer Urteilsbildung ist, dass sie streng systematisch vorgehen und im Gegensatz zu kasuistischen Ansätzen methodologisch klar offengelegt wird, aufgrund welcher Prämissen sich welche Urteilsmöglichkeiten eröffnen oder verschließen. Zugleich ist die große Herausforderung aber ebenso eine methodologische: So gehen Spielformen solcher Topdown-Ansätze59 von formalen Prämissen aus, die notwendigerweise abstrakt sind, da nur so gewährleistet werden kann, dass durch den systematisch-rationalen Rückbezug auf eine solche Prämisse stringenterweise im Konfliktfall eine Lösung herbeigeführt werden kann.60 Eventuelle Unklarheiten über die Legitimität einer Handlung können dann eruiert werden, indem man die zugrunde liegenden Maximen auf ihre Kompatibilität mit dem einen fundierenden Moralprinzip prüft.61 Zugleich ist es aber der Anspruch solcher Ethiktypen, für die konkreten Herausforderungen (bio-)medizinischer Handlungsfelder orientierende Handlungsweisen entwickeln zu können. Daher kommt den Handlungsmaximen einerseits ein universaler Geltungsanspruch zu. Andererseits kann es aber geboten sein, Ausnahmen von den universalen Handlungsmaximen zu formulieren, mit der Bedingung, dass diese gerechtfertigt werden können.62 So ist jede Anwendung von Zwang im Rahmen von medizinischen Behandlungen 57 

Vgl. Habermas (1991): Erläuterungen zur Diskursethik. Kant (2000): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, W Bd. VII, A Bd. IV 1785, 54. 59  Unabhängig davon, ob sie kantischer, utilitaristischer oder kontraktualistischer Fasson sind. 60  Der Verweis auf einen solchen Unterschied zwischen den Verfahrensweisen praktischer und theoretischer Philosophie erfolgt bereits bei Aristoteles und zieht sich dann wie ein roter Faden, mal geradlinig, mal verknäult, durch die Debatten um notwendige Abstraktheit und Konkretheit von ethischen Urteilen. Aristoteles (NE): Nikomachische Ethik, 1094b 11–27. 61  Vgl. hierzu auch die Kritik von Michael Quante und Andreas Vieth: Quante & ­Vieth (2003): Welche Prinzipien braucht die Medizinethik? Zum Ansatz von Beauchamp und ­Childress, 147. 62  Als dezidierte Vertreter eines deduktivistischen Ansatzes in der medizinischen Ethik siehe exemplarisch: Gert, et al. (2006): Bioethics: A Systematic Approach. 58 Vgl.

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verboten. Zugleich kann es aber im Konflikt mit der Maxime, die Voraussetzungen der Freiheit des Einzelnen zu erhalten, zur Notwendigkeit kommen, die Anwendung von Zwang zu rechtfertigen. Die Setzung einer solchen (partikularen) Ausnahme steht dann aber zugleich in der Gefahr, die (universale) Geltung prinzipiell zu unterlaufen. Die Schwierigkeit solcher Top-down-Modelle ethischer Urteilsbildung besteht erstens also gerade darin, dass sie entweder mittels der streng systematischen ‚Ableitung‘ von Handlungsmaximen aus der jeweils fundierenden Moraltheorie keine adäquate Kontextsensitivität erreichen63 können oder aber durch die Setzung von entsprechenden Ausnahmen zur Erreichung einer solchen Sensitivität in der stetigen Gefahr stehen, die systematisch eingeforderte Kohärenz selbst wiederum nicht halten zu können. Zweitens lässt sich fragen, ob nicht auch die Setzung einer prima facie gültigen Moraltheorie wiederum abhängig ist von kulturellen, sozialen und nicht zuletzt anthropologischen Praktiken und Vorannahmen. Alan Gewirth versucht das Problem der mangelnden Kohärenz zwischen universalem Prinzip und kontextueller Sensitivität zu lösen, indem er als oberstes Moralprinzip das „Principle of Generic Consistency“64 (Prinzip der arttypischen Konsistenz) formuliert. Der Terminus ‚Konsistenz‘ verweist auf die Notwendigkeit der formallogischen Nichtwidersprüchlichkeit der internen Begründungsstrukturen.65 Mit diesem formalen Plädoyer für die Wahrung von Kohärenz auf allen Ebenen ist bei Gewirth nun gleichzeitig aber eine inhaltliche Aussage verknüpft, die durch das Adjektiv ‚arttypisch‘ artikuliert wird und auf die konstitutiven Bedingungen intentionalen Handelns verweist.66 Als solche Bedingungen bezeichnet Gewirth ‚Freiheit‘ und ‚Wohlergehen‘. Freiheit und Wohlergehen versteht er einerseits als unhintergehbare Ausgangspunkte einer jeden moralischen Begründung und gleichzeitig als ein unveräußerliches Menschenrecht einer jeden handlungsfähigen Person.67 Argumentativ in 63  Beauchamp und Childress gehen in ihrer Kritik an sog. Top-down-Modellen ethischer Urteilsbildung sogar so weit, dass sie diesen einen unendlichen Regress attestieren. Indem Regeln und Prinzipien lediglich als Ableitungen aus dem obersten Moralprinzip eine orientierende Funktion übernehmen und nie den Status der Selbstrechtfertigung erreichen können, drohen sie als solche inhaltsleer zu bleiben, da sie beständig weiter abgeleitet werden müssen: „Yet, if all standards are unjustified until brought under a justified covering precept, it would appear, on the assumptions of this approach, that there are no justified principles or judgments.“ Beauchamp & Childress (2009): Principles of Biomedical Ethics, 371. Während Beauchamp und Childress die Schärfe ihrer Kritik in der aktuellen siebten Auflage ihres Buches gegenüber den vorherigen Auflagen zurücknehmen, bleibt dieser Kritikpunkt im gleichen Wortlaut bestehen. 64  Vgl. Gewirth (1978): Reason and Morality. 65  Vgl. Steigleder (2006): Moral, Ethik, Medizinethik. 66  Vgl. auch: Hübenthal (2003): Die ethische Theorie von Alan Gewirth und ihre Bedeutung für die Bioethik, 125 f. 67  Gewirth unterscheidet in seinem Ansatz zwischen direkt und indirekt positiven und direkt sowie indirekt negativen Pflichten. Grundlegend gilt, dass sich aus dem Moralprinzip

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Schieflage gerät Gewirth nun aber, wenn er zu begründen versucht, inwiefern auch bei nicht handlungsfähigen Personen das Menschenrechtsprinzip anzuwenden ist und welche Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf Föten, psychisch Kranke oder Komatöse ge- oder verboten sind. Gewirths Vorschlag, möglichst alle Menschen in die Rechtsgemeinschaft einzubeziehen und damit auch nicht handlungsfähige Wesen gleichermaßen als menschliche Akteure zu verstehen, stellt dann de facto einen – wenn auch durchaus nachvollziehbaren, aber methodologisch eben ‚unsauberen‘ – Verstoß gegen das von ihm selbst aufgestellte rigorose Moralprinzip dar.68 Daraus muss keineswegs folgen, dass die Konzeption von Gewirth insgesamt nicht bedenkenswert wäre und wichtige Elemente in die ethische Urteilsbildung einbringt, aber sie kann eben die als notwendig erachteten Ausnahmen nicht innerhalb der aufgestellten übergreifenden Moraltheorie begründen, wodurch sie ihren eigenen Anspruch unterläuft und selbst wiederum im strengen Sinne gegen das aufgestellte Kohärenzprinzip verstößt. Sollten diese Einwände zutreffen und eine von Top-down-Ansätzen vertretene strikte Trennung theoretischer Präsumtionen auf der einen und Praktiken und Intuitionen auf der anderen Seite nicht nur nicht praktikabel sein, sondern methodologisch die geforderte „Systematizität“ notwendigerweise unterlaufen, wäre dieses wiederum ein gleichermaßen notwendiges wie hinreichendes Argument für den Versuch einer Vermittlung zwischen sogenannten Bottom-upund Top-down-Ansätzen. So versucht auch die vorliegende Studie einerseits die Einsicht kasuistischer Theorien ernst zu nehmen, dass den jeweiligen Besonderheiten einer konkreten Urteilssituation mitunter nicht durch die Anwendung strenger Top-down-Verfahren Genüge getan werden kann. Andererseits nimmt sie den Einwand eben solcher deduktiver Theorien ernst, dass ein Ausgehen vom Einzelfall nicht ohne Rückgriff auf systematisierende und in diesem Sinne methodische wie inhaltliche Kohärenz schaffende Theorieelemente auskommen kann.

2.2. Die sogenannte Prinzipienethik als Ausweg? Die sogenannte Prinzipienethik will gewissermaßen einen Mittelweg zwischen Bottom-up- und Top-down-Ansätzen bilden. Dafür steht besonders der von Tom L. Beauchamp und James F. Childress erstmalig im Jahre 1977 vorgestellte eine zwingende Pflicht gegenüber allen handlungsfähigen Personen ergibt. Direkt positive Pflichten ergeben sich dann, wenn ein prinzipiell Handlungsfähiger, der partiell handlungsunfähig ist, in Not geraten ist und diesem ohne großen Aufwand geholfen werden kann. Ist hier der Bezugspunkt das einzelne Individuum, ist mit den indirekt positiven Pflichten die Gesellschaft als Akteur adressiert. Vice versa fordern direkt negative Pflichten vom Individuum, die Freiheit und das Wohlergehen von anderen Handlungsfähigen nicht zu beeinträchtigen, während sich indirekt negative Pflichten auf die Rechtsgemeinschaft insgesamt beziehen. 68  Vgl. Gewirth (1996): The Community of Rigths, 66 f.

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und seitdem stetig weiterentwickelte Ansatz der „Principles of Biomedical Ethics“, u.a. auch von den Autoren selbst als ‚Principlism‘ bezeichnet69. Bei aller möglichen wie nötigen Kritik an diesem Ansatz gibt es in der aktuellen Diskussion wohl kaum ein anderes Werk, das in diesem Maße als ein Kaleidoskop der kontrovers-diskursiven Stränge im Bereich der (medizinischen) Bioethik und ihrer Methodologie verstanden werden kann. Als Prinzipienethik bezeichnen Beauchamp und Childress einen Ansatz, der nicht von einer allgemeinen ethischen Theorie auszugehen beansprucht, sondern auf Prinzipien zurückgreift, die prima facie einzuleuchten scheinen, um konkrete bioethische Fragestellungen und Probleme durch Abwägung und Spezifizierung zu bearbeiten.70 Zu solchen Prima-facie-Pflichten zählen Beauchamp und Childress die vier Prinzipien Nichtschaden (nonmaleficence), Wohltun (beneficence), Respekt vor der Autonomie (respect for autonomy) und Gerechtigkeit (justice).71 Diese vier Prinzipien72 werden als feste Verpflichtungen für das moralische Handeln verstanden, die nur dann aufgehoben werden können, wenn sie mit anderen, von Beauchamp und Childress auf gleicher 69  Beauchamp und Childress haben den von Bernard Gert, Charles M. Culver und K. Danner Clouser als Kampfbegriff gegen ihren Ansatz vorgebrachten Terminus des ‚Principlism‘ (vgl. Gert, et al. (1997): A Critique of Principlism), zunehmend in eine Positivbeschreibung ihres eigenen Ansatzes gedreht. Vgl. auch die Entwicklung zwischen den Ausgaben: Beauchamp & Childress (2009): Principles of Biomedical Ethics, 25 und Beauchamp & Childress (2013): Principles of Biomedical Ethics, 25. 70  Die Prinzipien werden als ein Rahmen von Normen verstanden, die nun abgewogen und spezifiziert werden müssen, um in einem konkreten Kontext Orientierung bieten zu können. Die Prinzipien abzuwägen bedeutet zu fragen, welche Norm in welcher Situation adäquat sein könnte. Vgl. Beauchamp & Childress (2013): Principles of Biomedical Ethics, 19–22. Die Prinzipien zu spezifizieren bedeutet zu fragen, welche Orientierung von dem als adäquat verstandenen Prinzip man für einen konkreten Fall ausgehen könnte. „Specification is a process of reducing the indeterminacy of abstract norms and generating rules with action-guid­ ing content.“ Beauchamp & Childress (2013): Principles of Biomedical Ethics, 17. Ein solcher Prozess der Spezifizierung fügt dabei dem zugrunde liegenden Prinzip weiteren normativen Gehalt zu. So soll beispielsweise das Prinzip des ‚Nichtschadens‘ einen Startpunkt markieren, um über die Möglichkeiten und Grenzen von Sterbehilfe im Falle einer absehbaren infausten Prognose nachzudenken. Dabei wird dem Prinzip des ‚Nichtschadens‘ im Verlaufe des Deliberationsprozesses weiterer normativer Gehalt hinzugefügt. Beauchamp und Childress lassen aber offen, in welchem kriterialen Rahmen dem Prinzip des ‚Nichtschadens‘ weiterer normativer Gehalt zugefügt werden kann. Die Komplexität des Umgangs mit (stellvertretenden) Entscheidungen am Lebensende macht deutlich, dass nicht klar ist, welche normativen Prämissen noch als eine Spezifizierung eines Prinzips des ‚Nichtschadens‘ verstanden werden können und welche den Gehalt des Prinzips selbst zumindest stark ausweiten würden. 71  Vgl. Beauchamp & Childress (2013): Principles of Biomedical Ethics, 13. Siehe auch die Ausführungen in: Beauchamp (2005): Prinzipien oder Regeln?, 116. 72  Auch wenn Beauchamp und Childress generell von vier Prinzipien sprechen, beinhalten diese wiederum unterschiedliche Normen, die sich dann jeweils auf Nichtschaden, Autonomie, Wohltun oder Gerechtigkeit beziehen – für das Prinzip ‚Wohltun‘ ist dies beispielsweise die Regel, die Vor- und Nachteile sowie Wirkungen und Nebenwirkungen einer Handlung abzuwägen. Vgl. Rauprich (2005): Prinzipienethik in der Biomedizin – Zur Einführung.

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Ebene situierten Normen in Konflikt geraten. Ein Prinzip kann also so lange universale Gültigkeit beanspruchen, wie es nicht durch ein oder mehrere Prinzipien außer Kraft gesetzt wird.73 Beauchamp und Childress entwerfen ein theoretisches System, das grundlegend zwischen Pflichten (obligations) und Rechten (rights) unterscheidet: Auf der Ebene der Verpflichtungen werden dann Prinzipien und Regeln lokalisiert. Sie unterscheiden sich dadurch voneinander, dass Prinzipien genereller und umfassender, Regeln dagegen inhaltsspezifischer und reichweiten-beschränkter sind.74 Mit solchen prima facie verpflichtenden Regeln und Prinzipien korrelieren nun einerseits Rechte und andererseits moralische Tugenden, welche die Prinzipien, Regeln und Rechte unterstützen und bereichern sollen.75 Als zentrale Tugend wird innerhalb des Ansatzes die (Für-) Sorge (care) verstanden, die als moralischer Kompass für charakterlich integres Verhalten von Pflegern sowie Ärzten verstanden wird. Eine solche Sorgehaltung drückt sich durch fünf weitere zentrale Tugenden, namentlich Mitgefühl (compassion), Besorgnis (discernment), Wahrhaftigkeit (truthworthyness), Integrität (integrity) sowie Gewissenhaftigkeit (conscientiousness) aus. Auch wenn innerhalb des Ansatzes unklar bleibt, wie die Verhältnisbestimmungen zwischen den Pflichten und Rechten sowie den moralischen Tugenden im Einzelnen genau beschrieben werden können,76 so kann die grundsätzliche Idee des Ansatzes folgendermaßen umrissen werden: Die Akteure handeln dann moralisch richtig, wenn sie die Sorge, präzisiert durch die fünf zentralen Tugenden, als ihr moralisches Leitbild verstehen und vor diesem Hintergrund ihr Handeln durch Abwägung und Spezifizierung der Rechte und Pflichten ausrichten und bewerten. Die vier Prinzipien bilden einen prima facie gültigen Rahmen (framework) für die ethische Urteilsbildung und müssen anschließend für den konkreten Urteilsentscheid abgewogen und spezifiziert werden.77 Während der Prozess des Abwägens (balancing)78 tendenziell als besonders geeignet verstan73  In Anlehnung an William D. Ross unterscheiden Beauchamp und Childress zwischen Prima-facie-Pflichten (conditional duties) und aktuellen Pflichten (actual duties). Dabei verhalten sich die Prima-facie-Verpflichtungen zu den aktuellen Pflichten wie Gründe zu Schlussfolgerungen: Eine Prima-facie-Pflicht spannt gewissermaßen einen Rahmen auf, innerhalb dessen es aufgrund der konkreten Umstände weitere aktuelle Pflichten geben kann, die dann unbedingterweise einzuhalten sind. Vgl. Ross (2002): The Right and the Good, 19 f. 74  Beauchamp & Childress (2013): Principles of Biomedical Ethics, 14. 75  Vgl. Beauchamp & Childress (2013): Principles of Biomedical Ethics, 56. 76  Sehr wohl legen Beauchamp und Childress offen, wie sich das Zusammenspiel zwischen einzelnen Prinzipien und Regeln und einzelnen Tugenden konkret darstellen soll: So korrespondiert beispielsweise mit dem Prinzip des Wohltuns die Tugend der Mildtätigkeit. Allerdings erfolgt keine systematische Zuordnung von Tugenden und Prinzipien. 77  Vgl. hierzu auch: Rauprich (2011): Specification and other methods for determining ­morally relevant facts. 78  Das moralische Abwägen bezieht sich dabei auf alle Normen, die für den jeweiligen Fall als wichtig erachtet werden. Dabei sollen zunächst alle Normen eingebracht werden, die in irgendeiner Weise berührt sein könnten, um diese dann in einem deliberativen Prozess auf

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den wird, um die Anpassung an die jeweiligen Besonderheiten eines ethischen Problems zu gewährleisten, soll durch die Spezifizierung (specification) sichergestellt werden, dass in einer solchen Anpassung eine logische Stringenz zwischen dem Prinzip oder der Regel und der jeweiligen konkreten Anpassung gewährleistet bleibt.79 Der große Vorteil dieses Ansatzes – und sicher auch ein Grund für seine große Verbreitung und Beliebtheit – liegt neben seiner allgemeinen Verständlichkeit und der transparenten Nachvollziehbarkeit der Wege der jeweiligen Entscheidungsfindung in der prinzipiellen Systematizität der Entscheidungsfindung, die vor allem für Fälle mittlerer Komplexität sehr gut geeignet ist. Schwierig wird es jedoch – wie im Folgenden dargelegt werden wird –, wenn man nach der Begründung für die Prima-facie-Gültigkeit eines solchen Ansatzes fragt. Beauchamp und Childress postulieren hier eine sowohl deskriptive wie normative umfassende common morality, deren zentrale normative Gehalte sich in den vier Prinzipien ausdrücken. Da sich daran, ob man diese keineswegs unumstrittene Prämisse teilt, nicht nur entscheidet, inwiefern die Prinzipienethik ihren Anspruch, einen mittleren Weg zwischen Bottom-upund Top-down-Ansätzen zu bieten, einlösen kann, sondern sich ebenso wichtige Linien für das Verhältnis von Ethik und Empirie ziehen lassen, wird die Einbettung in eine common morality, die diesem Ansatz zugrunde liegt, kurz diskutiert. Beauchamp und Childress begründen ihren Ansatz, indem sie zunächst die gängigen ethischen Theorietypen anhand von acht Kriterien analysieren.80 Ihre Intention ist, die Grenzen der unterschiedlichen Theorietypen aufzuzeigen und gleichsam zu eruieren, welchen unverzichtbaren Beitrag diese für ihren eigenen Entwurf einer Prinzipienethik beinhalten.81 Die vorgebrachte Kritik an den jeihren jeweiligen Gehalt zu prüfen. Für ein solches Abwägen der Normen setzen Beauchamp und Childress sechs Kriterien an, die erfüllt sein müssen, damit die Gültigkeit einer Norm abgeändert werden kann: Neben der Angabe von guten Gründen zum Vorrang einer anderen Norm gegenüber der eigentlich geltenden (1) muss das moralische Ziel, aufgrund dessen die geltende Norm übertreten wird, in realistischer Reichweite sein (2), es dürfen keine moralisch zu bevorzugenden alternativen Handlungsmöglichkeiten vorhanden sein (3), im Verhältnis zum angestrebten Ziel muss der geringste Grad an Übertretung gewählt (4), die möglichen negativen Effekte einer Übertretung müssen minimiert (5) und alle beteiligten Parteien möglichst vorurteilsfrei bewertet werden (6). Vgl. Beauchamp & Childress (2013): Principles of Biomedical Ethics, 23. 79  Diese Trennung wird im Verlauf der weiteren Entfaltung der Theorie nur als theoretische weiter aufrechterhalten. 80  Beauchamp und Childress identifizieren die folgenden acht Kriterien für die Begründbarkeit eines ethischen Ansatzes: 1) inhaltliche und sprachliche Klarheit, 2) innere Kohärenz, 3) Umfang, 4) Simplizität, 5) Erschließungskraft, 6) Rechtfertigungskraft, 7) Urteilskraft und 8) praktische Anwendbarkeit. Die Autoren verfolgen nun die Idee, die unterschiedlichen Typen ethischer Urteilsbildung anhand der Liste an Kriterien zu bewerten und nach dem Ertrag für ihren eigenen Theorieentwurf zu fragen. Vgl. Beauchamp & Childress (2013): Principles of Biomedical Ethics, 354. 81  Beauchamp & Childress (2013): Principles of Biomedical Ethics. Eine ähnliche Inten-

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weiligen Theorietypen wird jeweils als ein Versuch verstanden, durch die Auseinandersetzung mit diesen Modellen und durch Offenlegung der jeweiligen Abgrenzungs- und Anschließungspunkte die Linien der eigenen Theorie zu schärfen.82 Auch wenn allen Theorietypen ethischer Urteilsbildung ein konstruktiver Beitrag für die Schärfung des eigenen Ansatzes zugestanden werden kann, wird ein besonderes Augenmerk auf den tugendethischen Ansatz gelegt, der nicht nur im Laufe der unterschiedlichen Auflagen der Principles immer prominenter Position gewinnt, sondern dem auch, im Vergleich mit den anderen bearbeiteten Theorieformen ethischer Urteilsbildung, die größte Anschlussfähigkeit an den eigenen Theorietypus attestiert wird: „Virtue theory is the most venerable type of moral theory, with a beautiful tradition descending from the ancient world to modern times, and it has also been enhanced by some impressive recent theories.“83 Für die Entscheidung darüber, welchen Elementen der klassischen ethischen Theorietypen, Prinzipien und Hintergrundtheorien für die konkrete Entscheidung jeweils Relevanz zugemessen werden soll, schlagen Beauchamp und Childress in Anlehnung an die Arbeiten von John Rawls und Norman Da­niels methodologisch die Herstellung eines Überlegungsgleichgewichts (reflective equilibrium) vor. Durch ein reflexives Gegen-einander-laufen-Lassen der unterschiedlichen Prinzipien, Vorannahmen etc. soll so eine kohärente und adäquate Urteilsbildung herbeigeführt werden. Vollkommen richtig konstatieren die Autoren, dass ein solcher Weg der ethischen Urteilsfindung mitunter konfliktträchtig und mühsam sein kann und nicht immer dazu führt, dass alle Vorstellungen oder die für diese einstehenden Akteure gleichermaßen berücksichtigt werden: „Achieving a state of reflective equilibrium in which all beliefs fit together coherently, with no residual conflicts or incoherence, is an ideal that will not be comprehensively realized. The trimming, repair, and reshaping of beliefs will occur again and again in response to new situations of conflicting norms.“84 Zunächst einmal ist zu konstatieren, dass Beauchamp und Childress tion wie Beauchamp und Childress verfolgt auch Tristram H. Engelhardt Jr., der allerdings zu einer komplett anderen Einschätzung hinsichtlich der normativen und erst recht deskriptiven Aufweisbarkeit einer common morality kommt. So teilt Engelhardt die Einschätzung, dass die klassischen ethischen Theorien es jeweils nicht vermögen, für die Gesamtzahl an moralischen Problemen Lösungsstrategien bereitzustellen, woraus er die Negierbarkeit des Vorhandenseins einer common morality im Sinne einer allgemeinen Moralität folgert. Vgl. Engelhardt Jr. (2006a): Global bioethics: An introduction to the collapse of consensus; Engelhardt Jr. (2006b): The search for a global morality. 82  Ein solcher Vorschlag findet sich gewissermaßen bereits bei Friedrich Schleiermacher, der anmahnt, die Verhältnisse der verschiedenen Grundsätze (Tugendethik, Pflichtenethik und Güterethik) gegeneinander abzuwägen und diese als eher wechselseitige Alternative denn als strikten Gegensatz zu verstehen. Vgl. Schleiermacher (1803): Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre, 37 f. 83  Beauchamp & Childress (2013): Principles of Biomedical Ethics, 383. 84  Beauchamp & Childress (2013): Principles of Biomedical Ethics, 406.

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übereinstimmend mit Rawls’ ursprünglicher Argumentationslinie die Frage aufwerfen, inwieweit die Herstellung von Kohärenz innerhalb des reflective equilibriums auch bereits ein Gütekriterium für die Adäquanz der ethischen Urteilsbildung sein kann.85 Ebenso wie Rawls verneinen sie diese Frage und weisen darauf hin, dass es neben dem Kriterium der Kohärenz noch weiterer substanzieller Normen bedarf.86 Anders als bei Rawls sollen diese zusätzlichen substanziellen Normen aber nun in einer universalen common morality begründet werden. Während Rawls eine solche These in enger Anlehnung an Kant dezidiert kritisiert87, spitzen Beauchamp und Childress ihre Ausführungen in der Analyse der anderen ethischen Theorien daraufhin zu, dass alle ethischen Theorien mehr oder minder die gleichen normativen moralischen Standards vertreten, auch wenn die jeweiligen Begründungen mitunter stark differieren. Den Grund für eine solche diagnostizierte Übereinstimmung sehen die Autoren in einer „initial shared database, namely, the norms of the common morality.“88 Noch weitergehend ließen sich, so die These, sogar alle Typen ethischer Urteilsbildung auf eine solche common morality zurückführen: „We can say without exaggeration that the proponents of these theories all accept the prin­­ ciples of common morality before they device their theory.“89 Die Bewertung einer solchen These hängt nun maßgeblich davon ab, für wie gehaltvoll ein solches Konstrukt einer common morality angesehen wird. Versteht man diese im Sinne einer schwachen inhaltlichen Bestimmung als 85  Zugleich deutet sich an, dass Beauchamp und Childress in der inhaltlichen Bestimmung dessen, was unter ‚Kohärenz‘ verstanden werden muss, von Rawls’ Verständnis der Kohärenz innerhalb der ethischen Urteilsbildung abweichen. Rawls’ These ist ja gerade nicht, dass die Einhaltung der Kohärenz an sich neutral und unabhängig von substanziellen Normen sei. So sind ihre „Gerechtigkeitsgrundsätze eindeutig substantiell und repräsentieren weit mehr als bloß prozedurale Werte.“ Rawls (2003): Politischer Liberalismus, 288. Aber, und das ist der entscheidende Differenzpunkt, solche substanziellen Werte entstehen innerhalb der deliberativen Auseinandersetzung und müssen als solche transparent gemacht werden und sind gerade durch das Kohärenzprinzip Teil einer fortlaufenden Wertung und Bewertung. 86  Vgl. Beauchamp & Childress (2013): Principles of Biomedical Ethics, 407. An dieser Stelle bleibt unklar, ob sich diese Diagnose sowohl auf das enge als auch das weite Überlegungsgleichgewicht beziehen soll. Denn, so argumentiert Rawls bekanntermaßen, das weite Überlegungsgleichgewicht zeichnet sich gerade dadurch aus, dass es die Diversität und Pluralität der rational überprüften Alltagsurteile und Intuitionen und bereits entwickelte ethische Urteile abwägt und in einen systematischen Zusammenhang bringt. Vgl. Rawls (2006): Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf, 62. Insofern kann es auch unterhalb eines solchen reflective equilibrium auch keine vorrangigen Prinzipien geben, die fernab jeglicher Möglichkeit zur diskursiven Deliberation Gültigkeit beanspruchen. 87  Gerade darin sieht Rawls, in Aufnahme der kantischen Argumentation, die Abgrenzungslinie zum Utilitarismus: Die These, dass die Menschen eine umfassende gemeinsame Vorstellung vom guten Leben teilen, ist nicht nur argumentativ schwer nachvollziehbar, sondern tendiert auch dazu, den Pluralismus der Vorstellungen des Guten sowie der unterschiedlichen Zwecke und Ziele gewaltsam zu verbinden. 88  Beauchamp & Childress (2013): Principles of Biomedical Ethics, 384. 89  Beauchamp & Childress (2013): Principles of Biomedical Ethics, 384.

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Ausdruck einer notwendigen gemeinsamen sittlichen Basis, die alle Akteure im Feld der deliberativen, moralischen Entscheidungsfindungsprozesse teilen müssen, um zu einem für alle anerkennungsfähigen Urteil zu kommen, so könnte der Verweis auf die notwendige rationale Begründbarkeit ein Marker für eine solche von allen Typen der Urteilsbildung geteilte Gemeinsamkeit sein. Gleichwohl wäre genauer zu eruieren, inwiefern mit dieser terminologischen Übereinstimmung auch eine inhaltliche Kongruenz postuliert werden kann. Während hinsichtlich des Status des Vernunftgebrauchs zwischen deontologischen und kontraktualistischen Ansätzen große Übereinstimmungen bestehen, gibt es im Vergleich mit utilitaristischen Konzeptionen durchaus Diskrepanzen. Wird in den meisten deontologischen und kontraktualistischen Theorietypen beispielsweise die Intelligibilität vor allem als ein Differenzkriterium zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren verstanden, so wird genau die Kritik an einer solchen Dichotomie in einem Großteil utilitaristischer Entwürfe dezidiert als Ankerpunkt der eigenen Theorieentwicklung genommen. Vor diesem Hintergrund können deontologische Ansätze wie utilitaristische Ansätze zwar gleichermaßen von Prinzipien wie denen der Autonomie oder des Nichtschadens sprechen. Was damit aber jeweils gemeint ist, variiert mitunter erheblich. Dass die von Beauchamp und Childress zugrunde gelegte common morality keineswegs nur im Sinne einer schwachen inhaltlichen Bestimmung verstanden werden kann, zeigt sich an der Stelle, wo die zehn Grundgehalte der common morality aufgeführt werden.90 Dass solche Gehalte keineswegs unverbunden nebeneinanderstehen und gerade im Konflikt nach der jeweiligen normativen Gewichtung gefragt werden muss, markieren ja auch Beauchamp und Childress selbst, wenn sie in Bezug auf den Umgang mit Dilemmata summieren, dass es mehr oder weniger kohärente Spezifikationen oder Interpretationen der common morality gebe.91 Gerade damit aber ist in der Begründung der Prinzipien ein Ordnungsprinzip enthalten, welches transparent zu machen Aufgabe ethischer Reflexion wäre. Beließen Beauchamp und Childress es bis zur fünften Auflage zumeist bei losen Verweisen auf die Ableitung der vier Prinzipien aus einer common morality, so wird die common morality in den folgenden Auflagen zu einer eigenen starken inhaltlichen Bestimmung ausgeweitet. Die common morality wird nun als universale Moral verstanden, die unabhängig von unterschiedlichen Kulturen, Individuen, Religionen oder institutionellen Verbindungen gelten 90  Als solche benennen Beauchamp und Childress: (1) Du sollst nicht töten, (2) Du sollst Anderen weder Schmerz noch Leid zufügen, (3) Verhindere das Auftreten von Bösem und Leid, (4) Rette Personen, die in Gefahr sind, (5) Rede die Wahrheit, (6) Pflege die Jungen und Bedürftigen, (7) Halte deine Versprechen, (8) Du sollst nicht stehlen, (9) Bestrafe keine Unschuldigen, (10) Befolge die Gesetze. 91  Beauchamp & Childress (2013): Principles of Biomedical Ethics, 25.

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soll.92 Aus eben dieser nach Beauchamp und Childress universalen moralischen Quelle werden nun die jeweiligen moralischen Theorien und Urteile entwickelt. Die vier Prinzipien werden nicht als identisch mit der common morality verstanden, sondern sind gewissermaßen als ein Kondensat der zentralen normativen Gehalte der common morality zu verstehen.93 Für die Überprüfung ihrer These der Existenz einer solchen common morality werden drei mögliche Methoden vorgeschlagen: die empirische (1), die normative (2) sowie die konzeptuelle (3) Überprüfung.94 Über diesen Dreischritt soll nachgewiesen werden, dass es sich bei dem vorgeschlagenen Konzept der common morality sowohl um ein deskriptives als auch um ein normatives Konzept handelt. Während in der normativen Überprüfung (2) eruiert wird, inwieweit sich in den unterschiedlichen Theorien der Deontologie, des Utilitarismus, des Kontraktualismus und der Tugendethik hinreichende Begründungselemente für die Normen der common morality finden lassen, geht die konzeptuelle Überprüfung (3) davon aus, dass, im Gegensatz zum Ansatz von Gert und Clouser95, sich die common morality zwar nicht in den vier Prinzipien erschöpft, diese aber in der Zusammenstellung ein ‚well suited general framework‘ für die ethische Urteilsfindung bieten. Ein solcher Rahmen, so Beauchamp und Childress, bietet, ungeachtet der Würdigung von partikularen Spezifizierungen, eine grundlegende und beständige universale moralische Orientierung an.96 Hinsichtlich des universalen moralischen Rahmens postulieren die Autoren über die bisherigen Ausführungen hinausgehend, dass sich die universalen und von allen geteilten normativen Gehalte der common morality ebenso empirisch (1) in der Natur aufzeigen lassen.97 Ihre Hypothese lautet: „All persons committed to morality and to impartial moral judgment in their moral assessments accept at least the norms that we have proposed as central to the common morality.“98 Für die empirische Überprüfung dieser Hypothese verirren sich die Autoren aber nun in einen Zirkelschluss, wenn sie ausführen: „The persons to be included in a study […] are (1) persons who pass a rigorous test of whether their beliefs conform to some critical judgment […] and (2) persons who qualify as having the ability to take an impartial moral point of view.“99 Zwar darf fairerweise nicht unerwähnt bleiben, dass die Autoren selbst ausführen, dass ein solches Vorgehen einen Bias in die Untersuchung einträgt, 92 

Vgl. Beauchamp & Childress (2013): Principles of Biomedical Ethics, 394. Vgl. Beauchamp & Childress (2013): Principles of Biomedical Ethics, 416. 94  Zur weiteren Eruierung der Begründungsstränge siehe: Beauchamp & Childress (2013): Principles of Biomedical Ethics, 415–422. 95  Vgl. Gert (2004): Common Morality: Deciding What To Do; Gert (2005): Morality: Its Nature and Justification. 96  Vgl. Beauchamp & Childress (2013): Principles of Biomedical Ethics, 421 f. 97  Diese These unterstützend und weiter ausbauend: Rauprich (2008): Common morality: comment on Beauchamp and Childress. 98  Beauchamp & Childress (2013): Principles of Biomedical Ethics, 416. 99  Beauchamp & Childress (2013): Principles of Biomedical Ethics, 416. 93 

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aber dessen ungeachtet beharren sie auf der prinzipiellen empirischen Überprüfbarkeit ihrer Hypothese. Es bleibt nicht nur unklar, welchen Mehrwert ein solcher empirischer Nachweis gerade auch im Verhältnis zu den normativen und konzeptuellen Prüflogiken erbringen ­könnte,100 sondern ebenso, wie mit einer möglichen empirischen Falsifizierung einer solchen Hypothese umzugehen wäre, die ja ihrerseits auch nicht frei von unterschiedlichen Be­trach­tungs­per­ spektiven und Vorannahmen wäre.101 Eine solche Klärung, inwieweit es sich bei der common morality um ein deskriptives oder ein normatives Konstrukt handelt und – falls beides zugleich behauptet werden soll wie bei Beauchamp und Childress – in welchem Verhältnis Deskription und Normativität zueinander stehen, wäre dringend notwendig. Neben der Kritik an der postulierten empirischen Aufweisbarkeit einer der Prinzipienethik zugrunde liegenden, deskriptiven common morality sind zwei weitere Punkte kritisch zu beleuchten: erstens die Frage nach dem Verhältnis von Universalität und Partikularität oder, wie es in der späteren Terminologie an Hegel anschließend heißen wird,102 von Allgemeinem und Besonderem, sowie zweitens die Frage nach der Möglichkeit dynamischer Prozesse innerhalb einer solchen gehaltvollen Theorie. Mit der Verankerung der Prinzipienethik in einer universalen und unabhängig von geschichtlichen Veränderungsprozessen gültigen common morality verlassen Beauchamp und Childress den selbst artikulierten Anspruch, eine mixed theory als Mittelweg zwischen Bottom-up- und Top-down-Ansätzen zu entwickeln. Angesichts einer Fundierung der Prinzipien in einer ‚starren‘ common morality ist zudem fraglich, inwiefern in einem solchen Ansatz Fortentwicklungen des Universalen durch die Auseinandersetzung und Interaktionen mit dem Partikularen gedacht werden können. Beauchamp und Childress verweisen darauf, dass das fehlende dynamische Element in der Spezifizierung liege. Sie gehen auf der Begründungsebene von einer universalen Moral aus, die als solche unveränderlich ihren Ausdruck eben in den vier basalen Prinzipien findet. Was aber nun in den jeweiligen partikularen Fällen daraus an moralischer Orientierung erfolgt, ist dann wiederum durchaus abhängig von zeitlichen und topografischen Eigenheiten. Dynamische Elemente sind für Beauchamp und Childress folglich lediglich auf partikularer Ebene, nicht aber auf der Ebene des Universalen zu verorten.103 Ob Beauchamp und 100  Vgl. hierzu auch: Herissone-Kelly (2011): Determining the common morality’s norms in the sixth edition of Principles of Biomedical Ethics. 101  Vgl. hierzu auch: Turner (2003): Zones of consensus and zones of conflict: questioning the „common morality“ presumption in bioethics. Vollkommen zu Recht verweist er darauf, dass für eine etwaige empirische Überprüfung dringend auch die entsprechenden historischen Methodiken anzuwenden seien. 102  Vgl. Kapitel 4. 103  Carson Strong setzt an diesem Punkt an und entwickelt ein Plädoyer für ein normatives, nicht deskriptives Verständnis einer common morality, welches zudem keine universale,

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Childress eine solche strikte Trennung in ihrem Ansatz konsequent durchhalten können, lässt sich eruieren, indem man prüft, wie sich das Verhältnis von common morality und geschichtlichen Prozessen gestaltet. Beauchamp und Childress werfen diese Frage selbst auf und beantworten sie zunächst so, dass sie, wie erwartet, von einer prinzipiellen Unveränderlichkeit in den zentralen Gehalten der common morality ausgehen. Was sich mit der Zeit ändert, sind lediglich die Gewichtungen und unterschiedliche Konkretisierungen der festgeschriebenen normativen Gehalte: „Even if abstract norms do not change, the scope of their application does change.“104 Vor diesem Hintergrund wird dann auch festgehalten: „Changes in the way slaves, women, and so forth are regarded seem more to be changes in either particular moralities or in ethical and political theories than in the common morality.“105 Schwierig wird es jedoch, wenn man hinterfragt, was denn nun die Kriterien dafür sind, dass genau diese vier Prinzipien als Basisgehalte der common morality zu verstehen sind.106 Aber selbst wenn man diese vier Prinzipien als vorgegeben ansieht, kommt man nicht umhin einzugestehen, dass sich ihr jeweiliges Gewicht innerhalb des ‚frameworks‘ mitunter sehr stark verändert. Während die Autoren das Prinzip des Nicht-Schadens wählen, um exemplarisch zu zeigen, wie es sich in seiner Grundintention über Jahrhunderte stabil durchhält, ist eine solche These für das Prinzip des Respekts vor der Autonomie nur schwerlich haltbar. Dass Respekt vor der personalen Autonomie ein gleichrangiges oder, je nach Lesart des Ansatzes, sogar vorrangig zu würdigendes Prinzip der common morality sei, kann im Bereich der biomedizinischen Ethik je nach Betrachtung als ein Phänomen der letzten fünfzig bis sechzig Jahre gesehen werden; die Behauptung einer historischen scheint nicht plausibel. Und noch ein weiteres Problem tritt hinzu: Das Postulat, dass es genau der vordergründige Gleichrang dieser vier Prinzipien ist, der universale, prätheoretische Gültigkeit beansprucht, kommt seinerseits nicht ohne die Einschreibung spezifischer (westlicher) Vorannahmen, etwa zum Verhältnis von Individuellem und Sozialem oder von Identität und Alterität, aus. Was Michel Foucault anhand des Verhältnisses von Wahnsinn und Gesellschaft formuliert, lässt sich übertragen auf eine Verabsolutierung einer bestimmten partikularen Vorstellung des Guten: Auch wenn eine bestimmte Figuration der (moralischen) Diskurse als ‚gegeben‘ vorausgesetzt wird, steht diese Figuration ihrerseits in der Gefolgschaft einer dispositionalen Struktur, die mit einer solchen Festsetzung

sondern lediglich eine partikulare, räumlich begrenzte Gültigkeit haben könne. Vgl. Strong (2008): Justifying group-specific common morality. 104  Beauchamp & Childress (2013): Principles of Biomedical Ethics, 408. 105  Beauchamp & Childress (2013): Principles of Biomedical Ethics, 414. 106  Vgl. hierzu auch: Karlsen & Solbakk (2011): A waste of time: the problem of common morality in Principles of Biomedical Ethics.

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I. Teil: Methodisch-konzeptionelle Verortungen

gewissermaßen absolut gesetzt wird.107 Eine solche Festsetzung stellt gewissermaßen den blinden Fleck108 einer jeden ethischen Theorie dar. Problematisch wird eine solche Festsetzung, hier: der common morality, jedoch dadurch, dass sie zwar einerseits Universalität fordert, aber weder Rechenschaft über die ihr zugrunde liegenden Voraussetzungen gibt noch durch ihren postulierten prätheoretischen Charakter und ihre Abkoppelung von den Entwicklungen des Partikularen hinreichende Möglichkeiten zur Korrektur oder Modifikation gibt.109

2.3 Zum Verhältnis von Ethik und Empirie „Far too many moral philosophers have been content to invent the psychology or anthropology on which their theories depend, advancing or disputing empirical claims with little concern for empirical evidence.“110 Mit diesen Worten leiten John M. Doris und Stephen P. Stich ihr Plädoyer für eine stärkere und stringentere Beachtung und Integration empirischer Daten in die ethische Urteilsbildung ein und artikulieren damit ein grundlegendes Diktum der aktuellen Verhältnisbestimmung von empirischen Daten und normativen Prämissen. Dass Ethik im Zuge ihrer Urteilsfindung auf Empirie nicht verzichten kann, wenn sie sicherstellen will, dass sie einerseits ein hinreichendes Maß an Kontextsensitivität gewährleistet und andererseits die Begründung ihrer Urteile auf eine aktuelle und sachlich angemessene Datenlage stellt, ist nicht nur schon früh erkannt worden,111 sondern darf mittlerweile auch als common sense im bioethischen Diskurs angesehen werden.112 Diese Feststellung ist vor dem Hintergrund der Diagnose zu verorten, dass die Bioethik generell ein zu hohes Abstraktionsniveau habe und die Frage des Konkreten und vice versa der Verbindungslinien zum Abstrakten wieder vermehrt gestellt werden muss. 107  Vgl. Foucault (1973): Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, 68 f. 108  Vgl. Kapitel 7.3. 109  Mit einer solchen Kritik an dem Konzept einer universalen common morality ist ausdrücklich nicht gesagt, dass nicht sehr wohl universale Prinzipien, wie zum Bespiel die selbstverständliche Achtung der Menschenrechte, begründet werden können, deren Befolgung unabhängig vom sozialen, kulturellen und geschichtlichen Hintergrund als geboten anzusehen ist. Eine solche Begründung, sei es in einer philosophischen und/oder theologischen Anthropologie, ist dann aber eben eine normative Begründungsleistung, die gerade keine prätheoretische sein kann, sondern sich in den unterschiedlichen Begründungsdiskursen aktualisieren muss. 110  Doris & Stich (2007): As a Matter of Fact: Empirical Perspectives on Ethics, 114 f. Doris und Stich stützen sich auf: Darwall, et al. (1997): Moral Discourse and Practice: Some Philosophical Approaches. 111  Vgl. auch: Birnbacher (1999): Ethics and social science: which kind of cooperation? 112  Vgl. Borry, et al. (2006): Empirical research in bioethical journals. A quantitative analysis; Musschenga (2009): Was ist empirische Ethik?; Musschenga (2010): Empirical Ethics and the Special Status of Practitioners’ Judgements.

2. Methodologische Verortung

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Gewissermaßen in einem deutlichen Gegensatz dazu, die wechselseitigen Verbindungen zwischen deskriptiven und normativen Überlegungen zu betonen, stehen die anfänglichen Forderungen einer stärkeren empirischen Ausrichtung der Ethik. So forderten die ersten Ansätze einer dezidiert ‚deskriptiven Ethik‘, gänzlich auf normative Elemente zu verzichten.113 Unterstellt wird eine Analogie zwischen einer Evidenzbasierung in der Medizin und der Notwendigkeit einer solchen für die Ethik.114 Mit einem solchen Ansatz sind drei Hauptschwierigkeiten verbunden: Erstens stehen solche Ansätze in der Gefahr, Sein-Sollens-Fehlschlüsse zu perpetuieren, indem sie den Übergang zwischen deskriptiven und normativen Aussagen methodologisch nicht reflektieren können. Zweitens unterliegen sie der Illusion, sie könnten alleine durch den Aufweis der Prävalenz partikularer Vorstellungen guten Lebens universale Rückschlüsse auf das gute Leben selbst ziehen. Schließlich ist es solchen Ansätzen drittens nur schwer möglich, eine Differenz zwischen faktischen Beobachtungen und selbstreflexiven Wertungen zu denken.115 Dass ein bestimmter Mensch faktisch Respekt vor der Autonomie zeigen kann, lässt unmittelbar weder die Folgerung zu, dass die Ausübung einer solchen Potenzialität auch einen tatsächlichen Wert für diese Person darstellt, noch dass das jeweilige Gegenüber die 113  Exemplarisch für einen solchen Ansatz siehe: Rydvall, et al. (2014b): Are physicians’ estimations of future events value-impregnated? Cross-sectional study of double intentions when providing treatment that shortens a dying patient’s life & Rydvall, et al. (2014a): To treat or not to treat a newborn child with severe brain damage? A cross-sectional study of phy­ sicians’ and the general population’s perceptions of intentions. Die Autoren zeigen in ihren empirischen Studien völlig nachvollziehbar auf, wie die Bestimmung eines mutmaßlichen Willens eines Patienten maßgeblich mit der Werthaltung eines Arztes korreliert. Dabei kommen die Autoren zu dem Ergebnis, dass zwar im Vergleich zu früheren Studien lediglich eine Korrelation zwischen eigener Werthaltung und Bestimmung des mutmaßlichen Willens, nicht aber die Effektstärke einer solchen Korrelation bestimmt werden kann. Der Aufweis einer solchen Korrelation sei dabei vor allem davon abhängig, wie stark distinguierende ‚buzzwords‘, wie zum Beispiel ‚Euthanasie‘ o.Ä. verwendet werden. Unbestritten ist, dass der Aufweis einer solchen Korrelation ein essenzieller Beitrag ist, um innerhalb der ethischen Urteilsbildung die Aufmerksamkeit für etwaige illegitime Werthaltungsübertragungen zu generieren. Das Problem entsteht aber an der Stelle, wo die Autoren genau diese Konsequenz nicht ziehen, sondern aufgrund ihrer deskriptiven Ergebnisse die Aufgabe des normativen Ideals der Unparteilichkeit folgern. Ein solches Ideal ist gerade nicht dadurch zu widerlegen, dass es faktisch nur schwer realisierbar ist, sondern gerade weil sich zeigt, dass es faktisch Schwierigkeiten in der Abstraktion von der eigenen Werthaltung gibt, postuliert das normative Ideal ja die Pflicht, genau eine solche Abstraktion zur Maxime des eigenen Handels zu setzen. 114  Vgl. Salloch, et al. (2012): Prinzip und Urteilskraft in der Medizinethik, 8. Zu Recht wird darauf verwiesen, dass die Begründung für das Scheitern einer solchen Analogiesetzung bereits in dem Sachgegenstand selbst begründet liegt. Während in medizinischen Kontexten solange aus den empirischen Daten eine hypothetische Handlungsnorm generiert werden kann, wie sich solche Normen innerhalb eines inhärenten medizinischen Handlungszieles bewegen, ist ein solches Handlungsziel in ethischen Urteilen wiederum selbst Gegenstand der Erörterung. 115  Vgl. De Vries & Gordijn (2009): Empirical Ethics and its Alleged Meta-Ethical Fallacies, 197 ff.

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I. Teil: Methodisch-konzeptionelle Verortungen

gewählte Handlung als Ausdruck eines solchen Respekts versteht. Im Brennpunkt der aktuellen Auseinandersetzung um die Verhältnisbestimmung von Empirie und Ethik stehen Vorschläge, die unter dem Terminus empirical ethics diskutiert werden. Auch wenn der Terminus in eine missverständliche Nähe zur deskriptiven Ethik rückt, werden hierunter solche Arbeiten gefasst, die das Grenzfeld zwischen Präskription und Deskription kartieren116 und vorrangig versuchen, einen integrated approach zu begründen, der prinzipiell von einer Wechselseitigkeit deskriptiver und normativer Elemente ausgeht,117 die dann gegeneinander abgewogen werden müssen.118 Bereits die Auseinandersetzung mit der Hypothese der Prinzipienethik, dass die den Ansatz begründende common morality in ihrer Universalität empirisch begründbar sei, hat gezeigt, dass sich dann die Frage darauf zuspitzt, wie die Wechselseitigkeit präskriptiver und deskriptiver Elemente modal zu bestimmen ist. So ist offen, inwiefern einerseits die Begründung von Normen und Werten selbst auf empirische Aussagen zurückgeführt werden kann119 und auf welche Weise und an welcher Stelle andererseits empirische Daten in die ethische Entscheidungsfindung einbezogen werden können. Nicht erst seit der Auseinandersetzung um die kuhnschen Thesen zum Fortschritt in der Wissenschaft120 kann nicht mehr nicht behauptet werden, dass auch vermeintlich rein deskriptive Aussagen zumindest hinsichtlich ihres hypothetischen Startpunktes und ihrer interpretativen Auswertung präskriptive Elemente beinhalten. Für die Ausgestaltung eines solchen integrativen Wechselspiels lassen sich für das Verhältnis von deskriptiven und präskriptiven Prämissen folgende Konkretionen über die Spezifikation präskriptiver Prämissen (1), den Übergang von der Allgemeinen zur Angewandten Ethik und die Formulierung eines konkreten Urteils (2) sowie die Entwicklung von Umsetzungsstrategien zur Anleitung einer konkreten Handlung (3) skizzieren. Erstens wird eine präskriptive Prämisse in dem Fall, dass sie auf eine konkrete Situation bezogen wird, selbst Gegenstand eines notwendigen Spezifikations116 

Vgl. Musschenga (2005): Empirical ethics, context-sensitivity, and contextualism. Molewijk, et al. (2004): Empirical data and moral theory. A plea for integrated empirical ethics. 118  Vgl. Van der Scheer & Widdershoven (2004): Integrated empirical ethics: loss of normativity? 119  Vgl. Dietrich (2009a): Die Kraft der Konkretion oder: Die Rolle deskriptiver Annahmen für die Anwendung und Kon-textsensitivität ethischer Theorie; Van Thiel & Van Delden (2010): Reflective Equilibrium as a Normative Empirical Model. 120  Thomas S. Kuhn zeigt in Auseinandersetzung mit den Werken von I. Newton, dass die jeweiligen Auffassungen über die gültigen Werte und Normen innerhalb einer Forschungsgemeinschaft festlegen, wo die Grenze zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft verläuft. Mit anderen Worten: Welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit ein Ergebnis als ein weiteres Teil der wissenschaftlichen Referenzketten akzeptiert wird, ist abhängig von den innerhalb eines ‚Systems‘ vorherrschenden präskriptiven Prämissen. Vgl. Kuhn (2012): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 115–119. 117  Vgl.

2. Methodologische Verortung

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wie Abwägungsprozesses. Die damit einhergehende Dynamik in der konkreten Konfiguration einer präskriptiven Prämisse bedeutet eine zweifache Herausforderung im Umgang mit den normativen Gehalten: So wird der präskriptiven Prämisse in der Verknüpfung mit empirischen Daten eines Falls ein Konkretionsgrad zugeordnet, der bei der Begründung der präskriptiven Prämisse als solcher nur schwerlich vorhergesehen werden kann.121 Insofern zeigen sich die präskriptiven Prämissen als deutungsoffene, deren konkreter Gehalt dann in den jeweiligen Problemfällen austariert werden muss. Damit aber werden die präskriptiven Prämissen gleichsam um einen Gehalt erweitert, auf den hin sie (neu) abgewogen, konfiguriert und gegebenenfalls spezifiziert werden müssen. Eine solche Spezifikation von allgemeinen präskriptiven Prämissen betrifft dann zweitens das Wechselspiel von Allgemeiner und Angewandter Ethik. Dass es sich hierbei nicht um einen monodirektionalen Übergang handeln kann, wurde bereits in der Auseinandersetzung mit der Theorie der common morality122 sichtbar. Entsprechend konnte gezeigt werden, dass der Verzicht auf reversible Feedbackschleifen zwischen den Beschreibungsebenen des Allgemeinen und des Besonderen zu einer Abschottung und einem Verlust an dynamischer Systematizität führt. Präskriptive Prämissen ‚anzuwenden‘ bedeutet dann auch, „dass die Diskussion aus dem Status des Hypothetischen heraustritt und eine mehr oder minder genau bestimmte Realistik und Zuschreibbarkeit einer Problemlage annimmt“123. Eine solche Erhöhung des Konkretionsgrades abstrakter Prämissen kann beispielsweise von der präskriptiven Prämisse ausgehen, wenn beispielsweise diese in einer Spezifikation geprüft werden soll. Um zu prüfen, inwiefern etwa das Gebot des Nichtschadens das moralische Handeln in einer Situation leiten kann, ist zu untersuchen, in welchem Verhältnis ein Gebot des Nichtschadens zu anderen Normen steht, welche Folgen sich hieraus für die Bewertung des konkreten Falls ergeben und in welchem Verhältnis wiederum die Konkretionen zueinander stehen. Ebenso wirkt eine solche Konkretion aber wiederum auf die präskriptive Prämisse selbst zurück, sodass der Konkretionsgrad auch vice versa erhöht wird. Mit dieser wechselseitigen Erhöhung des Spezifikationsgrades geht dann auch die Formulierung eines konkreten ethischen Urteils einher. Die Herstellung von Kontextsensitivität bedeutet, dass zum einen die für die Begründung eines Urteils notwendigen Handlungsoptionen unter Rückgriff auf die entsprechenden empirischen Daten eruiert werden, und zum anderen, dass mit der beständigen Integration neuer empirischer Daten zugleich der Möglichkeitsraum der Handlungsoptionen entweder prospektiv erweitert oder eventuell sogar eingeschränkt werden muss. 121  Vgl. Dietrich (2009b): Die Kraft der Konkretion oder: Die Rolle deskriptiver Annahmen für die Anwendung und Kontextsensitivität ethischer Theorie, 218 f. 122  Vgl. Kapitel 2.2. 123 Dietrich (2009b): Die Kraft der Konkretion oder: Die Rolle deskriptiver Annahmen für die Anwendung und Kontextsensitivität ethischer Theorie, 219.

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I. Teil: Methodisch-konzeptionelle Verortungen

Mit der Formulierung eines konkreten ethischen Urteils ist die ethische Urteilsbildung keineswegs abgeschlossen. Anknüpfend an Heinz E. Tödt gilt vielmehr: Die Überprüfung der Adäquanz eines ethischen Urteils124 setzt dann drittens voraus, konkrete Realisierungsstrategien des jeweiligen Urteils zu entwickeln. So ist mit der Formulierung eines ethischen Urteils noch nicht geklärt, wie dieses dann auch materialiter in gesellschaftlichen und politischen Prozessen umgesetzt werden kann bzw. soll. Mit Ottfried Höffe lassen sich für einen solchen Umsetzungsprozess vier prozedurale Voraussetzungen benennen, die unbedingt zu berücksichtigen und abzuwägen sind:125 Erstens ist die Art und Weise zu klären, wie sich ein ethisches Urteil im Einzelfall umsetzen lässt. Zweitens geht es um die Bestimmung der möglichen Seiteneffekte, von Höffe Maß genannt: An welcher Stelle kommt es durch die Umsetzung eines ethischen Urteils zu Seiteneffekten oder Komplikationen an vorher nicht erwartbaren Stellen? So zeigt sich gerade bei der ethischen Reflexion über die Behandlung von Patienten gegen ihren Willen, dass hehre Prinzipien und Ziele wie Fürsorge oder Wohltun mitunter zu starken physischen und psychischen Belastungsreaktionen aufseiten der behandelnden Ärzte oder des pflegenden Personals führen.126 Neben der Art und Weise der Umsetzung sowie der notwendigen Bestimmung des Maßes ist drittens die Prioritätensetzung zu beachten: Welche Personen sind bei begrenzten Ressourcen prioritäre Adressaten der Fürsorge? Zunächst erscheint es plausibel, die Notwendigkeit von Fürsorge an einer relationalen Nähe oder Ferne festzumachen. Eine solche Nähe oder Ferne, sei es tatsächlich oder imaginiert, kann ein wichtiger Marker für eine Prioritätensetzung sein, zugleich aber nur ceteris paribus Gültigkeit beanspruchen. Gerade wenn die Umstände aber nicht gleich oder Veränderungen unterworfen sind, entstehen Konfliktlagen, die dann viertens auf den entsprechenden Adressatenbezug der Präskription unter Anerkennung der Unerfüllbarkeit aller möglichen Ansprüche befragt werden müssen.

124  Vgl. Tödt (1988): Versuch einer ethischen Theorie sittlicher Urteilsfindung, 41 f. Mit H.E. Tödt lassen sich sechs Schritte der ethischen Urteilsbildung unterscheiden: Die erste – und in den ethischen Debatten allzu oft vernachlässigte – Frage ist die, ob es sich überhaupt um ein ethisches Problem handelt (1). Ist dieses eruiert, folgen eine Analyse des Sachstandes (2), eine Prüfung der Verhaltensoptionen (3) sowie eine Prüfung insgesamt für relevant erachteter Normen (4). All diese Schritte prozessieren die Urteilsbildung (5), welche dann wiederum beständig auf ihre Adäquatheit zu überprüfen ist (6). 125  Vgl. Höffe (1990): Universalistische Ethik und Urteilskraft. 126  Vgl. Siehe auch Kapitel 3.1 & 3.2.

3. Die Herausforderungen der Anwendung von Zwang

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3. Die Herausforderungen der Anwendung von Zwang Die Interdependenz zwischen theoretischer Reflexion und Anwendungsfragen zeigt sich in besonderem Maße, wenn es um die Legitimität der Anwendung von Zwang in psychiatrischen Kontexten geht. Denn jede Anwendung von Zwang stellt einen massiven Eingriff in die Grundrechte der Patienten dar. Dies hat auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und des Bundesgerichtshof (BGH) in den Jahren 2011 bis 2015 noch einmal ausdrücklich betont. Hat sich die Minimierung von Zwang und Widerfahrnis von Gewalt in den letzten Jahrzehnten bereits zu einem Qualitätskriterium moderner psychiatrischer Praxis entwickelt, hat die Rechtsprechung diese einerseits bestätigt und andererseits entschieden verstärkt. Eine Behandlung gegen den Willen einer betroffenen Person, die im Rahmen einer freiheitsentziehenden Unterbringung erfolgen muss, stellt eine massive Grundrechtsverletzung und eine massive Widerfahrnis von Gewalt dar. Dennoch, so führen die Urteile an, kann eine Behandlung gegen den Willen eines Betroffen gerechtfertigt sein, wenn eine massive Selbstgefährdung oder eine akute Gefährdung Dritter bei gleichzeitiger Einsichtsunfähigkeit aufgrund einer psychischen Störung oder geistigen Behinderung vorliegt. Entsprechend muss zwischen einer zwanghaften Unterbringung, einer Zwangsmaßnahme, und der Behandlung gegen den Willen einer betroffenen Person, einer Zwangsbehandlung, unterschieden werden. Eine Zwangsbehandlung setzt unbedingt das Vorliegen einer stationären Unterbringung voraus. Eine ambulante Zwangsbehandlung ist nach geltender Rechtsprechung also nicht möglich.

3.1 Psychische Pathologien und die Anwendung von Zwang Grundvoraussetzung für die Frage, ob und wenn ja unter welchen Bedingungen die Anwendung von Zwang legal sein kann, ist das Vorliegen einer psychischen Störung, Erkrankung oder einer geistigen Behinderung.127 Von besonderer Bedeutung ist eine psychische Pathologie dann, wenn sie zu einer Einschränkung der Entscheidungs- und Artikulationsfähigkeit führt. Das Verhältnis von psychischer Pathologie und einer Entscheidungs- wie Artikulationsfähigkeit ist ambivalent, weil sich einerseits nur sehr schwer bestimmen lässt, wann eine psychische Pathologie zu einer Entscheidungsunfähigkeit führt. Andererseits zeigt sich auch schon die Beurteilung voraussetzungsreich, unter welchen Umständen eine Entscheidung einer Person als kompetent und gleichzeitig als klar artikuliert gelten kann. Dies hängt damit zusammen, dass eine Person in ihren Vollzügen nicht auf sicherem Boden steht, sondern in ihrer leiblichen Selbst127  Diese trifft sowohl für eine Anwendung von Zwang unter Anwendung des öffentlichen Rechts, des Zivilrechts als auch des Strafrechts zu. Dies wird im Folgenden weiter ausgeführt werden.

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I. Teil: Methodisch-konzeptionelle Verortungen

bezüglichkeit eingebettet und verstrickt ist in Prozesse intersubjektiver Anerkennung.128 Aus einer solchen Verstrickung der Vollzüge einer Person folgen dann auch unmittelbar Konsequenzen für die Bestimmung der Grenzen zwischen der Abweichung von einer Norm als Eröffnung neuer Kreativitätsräume und dem Umschlag einer Abweichung in eine pathologische Verschließung von Gestaltungsräumen eines leiblichen Selbstbezugs. Die Grenzziehung zwischen psychischer Devianz als Kreativität und psychischer Devianz als Pathologie ist auch deswegen so prekär, weil sich psychische Devianz oder, mit Foucault gesprochen: der Wahnsinn,129 nicht einfach ausschließen, nicht einfach ausgrenzen lässt. Es scheint gerade so, als würde die Widerfahrnis von Fremdheit, von Nicht-Integrierbarkeit, von Verkennung als Konkretionen des Wahnsinns so unmittelbar zu der Gestaltung von Selbstbezüglichkeit als Identität gehören, dass mit einer Ausmerzung des Wahnsinns zugleich die Spielräume leiblicher Selbstvollzüge massiv eingeschränkt, wenn nicht gar verschlossen würden. Zugleich bedeutet aber eine komplette Auslieferung an den Wahnsinn den Verlust eines eigenen Selbstbezugs, selbstbestimmter Gestaltungsräume und mitunter auch eine Gefährdung anderer Personen. Aber kann Zwang, kann die Anwendung von Gewalt, ein angemessenes Mittel im Umgang mit der Widerfahrnis von Wahnsinn sein? Nun führt mitnichten jede psychische Störung zu einer Einsichtsunfähigkeit und nicht jede Einsichtsunfähigkeit wirft die Frage auf, ob eine Anwendung von Zwang, sei es für eine Unterbringung oder eine Behandlung gegen den Willen des oder der Betroffenen, legitim oder gar geboten sei. Darauf weist auch die aktuelle Diskussion um die Bedeutungen und Konsequenzen der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) hin. Diese wurde oftmals so interpretiert, dass in ihr generell die Unterscheidung zwischen Einwilligungsfähigkeit und Einwilligungsunfähigkeit negiert worden wäre.130 Eine solche Lesart ignoriert je128  Diese voraussetzungsreiche Begründung wird im weiteren Fortgang der Arbeit ausgeführt. Der eilige Leser sei besonders auf das Kapitel 6 verwiesen. 129  Vgl. Foucault (1973): Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft; Foucault (2007): Die Anormalen: Vorlesungen am Collège de France (1974– 1975). Mit ‚Wahnsinn‘ ist nicht etwa allein eine besonders extreme Form psychischer De­ vianz bezeichnet, sondern zunächst einmal markiert, dass eine sozial-kodierte Abweichung in Denk- und Verhaltensmustern vorliegt, unter denen ganz unterschiedliche Phänomene wie beispielsweise Unvernunft, Melancholie, Manie oder Hysterie versammelt werden können. Was unter den Begriff des Wahnsinns fällt, variiert dabei ganz erheblich mit der Zeit. So zum Beispiel die Frage, welche Zeit nach einem Trauerfall als ‚normal‘ und welche als zu behandelnde Pathologie gilt. Vgl. Frances (2013): Normal. Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen, 67–125. Auch wenn man sicher nicht jeder Schlussfolgerung Frances’ en detail wird folgen können, lässt sich anhand von Frances’ Schilderungen der Entstehung der diagnostischen Leitlinien (DSM III-IV) der American Psychiatric Association sehr gut nachvollziehen, wie die Bewertung der Widerfahrnis von Wahnsinn als pathologisch oder nicht pathologisch zeitlichen Veränderungen unterworfen sind. 130  Vgl. Paritätischer Gesamtverband (2012): Stellungnahme des Paritätischen Gesamtver-

3. Die Herausforderungen der Anwendung von Zwang

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doch, dass die UN-BRK, als völkerrechtliche Vereinbarung für die Gestaltung des nationalen Rechts von großer Bedeutung, zugleich darauf verweist, dass ein jeder Mensch, eine jede Person, unabhängig von einer etwaigen Behinderung das gleiche Recht hat, als Rechtssubjekt anerkannt zu werden.131 Es wäre daher zu kurz gegriffen, die Frage nach einer ethischen Bewertung der Anwendung von Zwang in psychiatrischen Kontexten vorrangig darauf zu beschränken, ob eine Person selbstbestimmungsfähig ist oder nicht. Kriterien wie etwa das Informationsverständnis, das Urteilsvermögen, die Einsichtsfähigkeit oder die Ausdrucksfähigkeit,132 mit denen festgestellt werden soll, ob eine Person zu einer selbstbestimmten Entscheidung in der Lage ist oder nicht, können als wichtige Orientierungshilfen dienen, um Personen nicht vorschnell als umfassend kompetent zu erklären. Die Entscheidung darüber, wann eine Person als potenziell zur selbstbestimmten Entscheidung fähig verstanden werden kann, setzt aber zugleich immer schon die Anerkennung voraus, dass eine Person gerade in ihrer jeweiligen Einschränkung Gehör für ihre Ansprüche und grundlegende Anerkennung fordert. Wird also festgestellt, dass eine Person nicht zu einer autonomen Selbstbestimmung in der Lage ist, so folgt daraus zunächst, dass diese Person mehr Ressourcen benötigt, um zu einer selbstbestimmten Entscheidung kommen zu können. Der Versuch, eine einwilligungsunfähige Person zu einer Zustimmung zu befähigen, stellt dann nicht vorrangig eine lediglich gut gemeinte fürsorgliche Handlung dar, sondern muss in dem Versuch bezeugen, dass die betroffene Person gerade in ihrer Verletzlichkeit als eine gleichberechtigte Person anerkannt und entsprechend behandelt wird. Erschwerend kommt hinzu, dass die Zahl derer, die an einer psychischen Erkrankung leiden, durchaus groß ist. Aktuelle Daten zeigen, dass innerhalb von zwölf Monaten bei einem Drittel der Frauen und bei gut einem Fünftel der Männer im Alter von 18 bis 79 Jahren in Deutschland mindestens eine psychische Störung vorlag, während zugleich die Inzidenzzahlen in den letzten Jahren zu steigen scheinen.133 Will man diese Zahlen richtig einordnen, so ist ersbandes zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Regelung der betreuungsrecht­lichen Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme vom 7. November 2012. Drucksache 17/10492. Siehe ebenso: Graumann (2014): Kann Zwang gerechtfertigt sein? Ethische Überlegungen zu unfreiwilligen psychiatrischen Behandlungen. 131  Vgl. Vereinte Nationen (2008): Die UN-Behindertenrechtskonvention. Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. 132  So zum Beispiel DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie und Nervenheilkunde) (2014): Achtung der Selbstbestimmung und Anwendung von Zwang bei der Behandlung von psychisch erkrankten Menschen. Eine ethische Stellungnahme der DGPPN. Ebenso: Vollmann (2008): Patientenselbstbestimmung und Selbstbestimmungsfähigkeit; Bruns, et al. (2015a): Überlegungen aus klinisch-ethischer Perspektive, 93. 133  Vgl. Jacobi, et al. (2014b): Psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland und ihr Zusatzmodul Psychische Gesundheit (DEGS1–MH); Jacobi, et al. (2014a): 12–month prevalence, comorbidity and correlates of mental disorders in Germany: The mental health module of the German Health Interview

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I. Teil: Methodisch-konzeptionelle Verortungen

tens zu beachten, dass der Klassifizierung nach der ICD-10 ein weiter Begriff der psychischen Krankheit zugrunde liegt, der von Problemen im Umgang mit Suchtmittelkonsum über Anpassungsstörungen bis hin zu dissozialen Persönlichkeitsstörungen reicht.134 Zweitens steigen die Inzidenzzahlen psychischer Erkrankungen zwar insgesamt an, jedoch nicht über alle Formen psychischer Erkrankungen hinweg. So deutet sich in der Auswertung aktueller empirischer Erhebungen an, dass beispielsweise in den letzten fünfzehn Jahren die Häufigkeitsverteilung von Angststörungen eher zugenommen, die Häufigkeitsverteilung affektiver Störungen hingegen tendenziell eher abgenommen hat.135 Drittens entsteht bei solch longitudinalen Vergleichen nicht nur eine erhebliche Inhomogenität in den Untersuchungssettings, sondern es verändert sich innerhalb des Untersuchungszeitraumes zugleich die Sichtweise darauf, was als eine psychische Erkrankung angesehen wird und was nicht. Viertens ist neben den Zahlen zur Inzidenz und Prävalenz psychischer Erkrankungen eine weitere Beobachtung auffällig: Trotz eines Anstiegs der Inzidenzzahlen hat die Nutzung von therapeutischen Maßnahmen nicht zugenommen. Fünftens hängt die Inanspruchnahme einer Therapie sehr stark von der Art der psychischen Erkrankung sowie den Begleiterkrankungen und nicht zuletzt dem sozioökonomischen Status ab.136 In Bezug auf die Punkte vier und fünf wird genau zu beobachten sein, ob sich hier eine Versorgungslücke in dem Sinne anzeigt, dass z.B. Personen mit einer Angststörung ein anders zugeschnittenes therapeutisches Angebot bräuchten,137 die Versorgung effizienter geworden ist oder ob bestimmte psychische Pathologien in der subjektiven Wahrnehmung der betroffenen Patienten nicht als Pathologie oder zumindest nicht als behandlungswürdige oder behandelbare Pathologie angesehen werden. Die Grenzen zwischen Normalität und Wahnsinn, zwischen Kreativität und Pathologie, zwischen der Annahme eines Therapieangebots oder der Verweigerung und nicht zuletzt zwischen dem, dass eine Freiheit zur Krankheit138 geand Examination Survey for Adults (DEGS1–MH). Eine ausführliche Darstellung der Daten sowie eine eingehende Diskussion erfolgt in Kapitel 9.1. 134  Vgl. Steinert (2015): Zwangsmaßnahmen aus der Perspektive der klinischen Psychiatrie: Evidenz und Good Clinical Practice, 12. 135  Vgl. Jacobi, et al. (2014b): Psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland und ihr Zusatzmodul Psychische Gesundheit (DEGS1–MH), 81. 136  Vgl. Mack, et al. (2014): Self-reported utilization of mental health services in the adult German population – evidence for unmet needs? Results of the DEGS1–MentalHealth Module (DEGS1–MH). Zu den Auswertungen zum sozioökonomischen Status siehe ebenso: Lampert, et al. (2013): Messung des sozioökonomischen Status in der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1). Zu beachten ist allerdings, dass diese Daten nicht gesondert auf psychische Erkrankungen zielen. 137  Vgl. Steinhausen, et al. (2016): Family Aggregation and Risk Factors in Phobic Disorders over Three-Generations in a Nation Wide Study. 138  Siehe hierzu die ausführliche Erörterung in Kapitel 9.2.

3. Die Herausforderungen der Anwendung von Zwang

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währt oder eine hilfsbedürftige Person sich selbst überlassen wird, zeigen sich in den meisten Fällen nicht als feste Demarkationslinien, sondern vielmehr als Schwellen:139 Angesichts der Widerfahrnis von Wahnsinn über Normalität zu sprechen, beschreibt eine andere Wirklichkeit, als wenn ein vermeintlich Normaler darüber spricht, was ihm gerade an Wahnsinn widerfahren ist. Je nachdem wie eine Person die Widerfahrnis von Wahnsinn erlebt und bewertet, hat das mitunter massive Konsequenzen für die Gestaltungsmöglichkeiten ihres Selbstbezuges. Zugleich ist eine solche Verortung aber nicht unabhängig von den Ordnungsmustern, in denen der Sprecher, die Sprecherin steht; die individuelle Verortung, ob ein vermeintlich Normaler über den Wahnsinn spricht oder ein Wahnsinniger über die Normalität, ist zudem abhängig von der Anerkennung Anderer. Die jeweilige Selbstverortung kann für andere im näheren oder weiteren Umfeld bereichernd, produktiv, irritierend oder auch gefährdend sein. Wie schwierig die Entscheidung ist, ob eine Situation vorliegt, die ein Eingreifen erfordert, oder ob ein Verhalten zwar von einer bestimmten Erwartungsnorm abweicht, dies aber Ausdruck eines autonomen Selbstbezugs einer Person ist, können die folgenden drei Fallbeispiele illustrieren. 140 Die Eltern eines 19-jährigen jungen Mannes berichteten, dass ihr Sohn sich auffällig verändert habe. Vor einem halben Jahr habe er einen guten Schulabschluss gemacht, sei verschiedenen Freizeitinteressen nachgegangen und habe einen festen Freundeskreis gehabt. Seit einigen Monaten ziehe er sich zunehmend zurück und schließe sich in seinem Zimmer ein. Anfängliche Versuche, eine Ausbildung zu beginnen, habe er eingestellt. Seine früheren Freizeitinteressen habe er aufgegeben. Kontakt mit seinen Freunden pflege er kaum noch. Gegenüber den Eltern sei er auffällig feindselig geworden. Das von der Mutter zubereitete Essen prüfe er misstrauisch, nehme es nur in seinem Zimmer zu sich und habe auch schon einmal Befürchtungen geäußert, dass Essen sei vergiftet. Er habe deutlich an Gewicht verloren, jedoch noch nicht in offensichtlich gesundheitsgefährdendem Ausmaß. Äußerungen über Suizidgedanken oder fremdgefährdende Handlungsweisen wurden nicht berichtet. Für Alkohol- oder Drogenmissbrauch gab es keine Hinweise. Verschiedene Versuche der Eltern, eine Behandlung auf freiwilliger Basis in die Wege zu leiten, waren gescheitert. Eine 33-jährige, ledige Fremdsprachenkorrespondentin erkrankte vor drei Jahren erstmals an einer Schizophrenie und wurde in einer psychiatrischen Klinik behandelt. Unter der Verordnung von neuroleptischen Medikamenten und 139 

Vgl. Kapitel 7.3. Darstellung der folgenden drei Fallbeispiele erfolgt nach: DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie und Nervenheilkunde) (2012): Memorandum der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) zur Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen mit psychischen Störungen sowie nach: Steinert, et al. (2001): Ethische Konflikte bei der Zwangsbehandlung schizophrener Patienten. 140 

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psychologischen Behandlungsmaßnahmen klangen die akuten Krankheitssymptome ab, sie konnte aus der Klinik entlassen werden und zunächst wieder in ihrem Beruf arbeiten. Weil sie sich beschwerdefrei fühlte, setzte sie neun Monate später die zur Rückfallverhütung verordneten Medikamente ab und suchte den behandelnden Arzt nicht weiter auf. Drei Monate später kündigte sie ihre Arbeitsstelle wegen Konflikten am Arbeitsplatz. Sie zog zu ihrer 74-jährigen Mutter, zu der sie zeitlebens ein intensives, aber auch konfliktbelastetes Verhältnis hatte. Im vergangenen Jahr kam es zu zunehmenden Auseinandersetzungen, wobei die Patientin ihre Mutter in unangemessener Weise bevormundete und wiederholt auch schlug. Dem hinzugezogenen Arzt erklärte sie, diese Schläge seien berechtigt, weil ihre Mutter ihr nicht gehorche. Der Arzt stellte fest, dass die Frau erregt wirkte, ihr Denken unzusammenhängend, teilweise kaum nachvollziehbar und von religiösen Wahnvorstellungen durchzogen sei. Sonstige fremdgefährdende oder selbstgefährdende Handlungen wurden nicht berichtet. Die Frau achtete auf gepflegte Kleidung und legte Wert auf Ordnung bei der Gestaltung der Wohnung. Die Einschätzung des Arztes, sie sei wieder erkrankt, wies die Frau als bösartige Unterstellung weit von sich. Sie weigerte sich entschieden, sich in ein Krankenhaus zu begeben oder die früher verordneten Medikamente wieder einzunehmen. Auch Hilfsversuche von anderen Familienmitgliedern sowie dem sozialpsychiatrischen Dienst waren nicht erfolgreich. Die Mutter wirkte verängstigt und hilflos.141 Ein dritter Fall berichtet von einem 64 Jahre alten Mann, von Beruf Bauingenieur der wegen einer rheumatischen Gelenkentzündung einige Wochen mit Cortison behandelt wurde. Im Laufe der Behandlung entwickelte er einen ausgeprägten Verfolgungswahn, infolgedessen er mit stark überhöhter Geschwindigkeit durch ein Wohngebiet fuhr. Als Grund für sein schnelles Fahren gab er an, auf der vermeintlichen Flucht vor Geheimdienstagenten zu sein. In der Notaufnahme eines Allgemeinkrankenhauses wurde dem hoch erregten Patienten versucht zu vermitteln, dass seine Wahrnehmungen aufgrund der Cortison-Behandlung verzerrt seien. Diesen Erläuterungen zeigte er sich jedoch nicht zugänglich und begehrte das Krankenhaus mit seinem Auto sofort zu wieder verlassen, um seinen Verfolgern zu entkommen. Von Seiten der Ärzte wurde diagnostiziert, dass der Patient unter einer cortisoninduzierten Psychose leide, einer möglichen Komplikation einer Cortisonbehandlung, die etwa zwei Prozent der Patienten betrifft. Auch nach Absetzen der Behandlung mit Cortison kann die Symptomatik über mehrere Wochen fortdauern, während sie bei einer adäquaten antipsychotischen Behandlung in der Regel in Stunden bis Tagen wieder abklingt.

141 Steinert, et al. (2001): Ethische Konflikte bei der Zwangsbehandlung schizophrener Patienten.

3. Die Herausforderungen der Anwendung von Zwang

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Ob eine diagnostizierte Pathologie eine konkrete Behandlungsnotwendigkeit erfordert, hängt grundsätzlich davon ab, ob die betroffene Person in der Lage ist, die Folgen und Konsequenzen ihrer Entscheidung für sich und für andere zu beurteilen. Sobald eine Person grundsätzlich als einwilligungsfähig eingeschätzt wird, haben BVerfG und BGH einmütig entschieden, dass sich jegliche Anwendung von Zwang, also sowohl eine Unterbringung142 als erst recht eine Behandlung143 gegen den Willen auch dann verbietet, wenn eine Selbstgefährdung vorliegt.144 Wird hingegen eine Fremdgefährdung konstatiert, kann in solchen Fällen eine Unterbringung145 gegen den eigenen Willen erfolgen. Eine über die Unterbringung hinausreichende (z.B. medikamentöse) Behandlung gegen den Willen einer betroffenen Person im Falle einer Fremdgefährdung, so führen BVerfG und BGH aus, ist generell unzulässig, da das Ziel der Vermeidung eines Schadens für Dritte bereits durch eine Freiheitsentziehung erreicht werden könne. Für den Fall, dass die betroffene Person als nicht einsichtsfähig eingeschätzt wird, kann nicht nur eine freiheitsentziehende Unterbringung, sondern auch eine Behandlung gegen den Willen der betroffenen Person als ultima ratio erfolgen. Da diese Differenzierungen in den gültigen Gesetzestexten nicht abgebildet waren, war von Mitte 2012 bis Anfang 2013 zwar eine Zwangsunterbringung, nicht aber eine Zwangsbehandlung rechtlich möglich. Vor diesem Hintergrund hat der Gesetzgeber für die betreuungsrechtliche146 Unterbringung Anfang 2013 eine neue gesetzliche Grundlage geschaffen. Für die öffentlich-rechtliche Unterbringung steht die Umsetzung der ma142 

Bei der Anwendung von Zwang sind aus juristischer Perspektive drei Ebenen zu unterscheiden. Die erste Ebene ist die Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung. Erfolgt diese gegen den Willen eines Patienten, so spricht man von einer Zwangsunterbringung. Das Vorliegen einer Unterbringung ist Voraussetzung für jede weitere Anwendung von Zwang. Die sog. Zwangsmaßnahmen wie zum Beispiel Isolierungen, Fixierungen oder Sedierungen stellen die zweite Ebene dar. Während mit einer Zwangsmaßname das vorrangige Ziel der Sicherung verbunden ist, zielt eine Zwangsbehandlung, als dritte Ebene, auf eine therapeutische Intervention. 143  Der BGH führt in seinem Urteilsspruch aus, dass unter einer Zwangsbehandlung eine medizinische Behandlung eines Untergebrachten gegen seinen natürlichen Willen zu verstehen ist. Vgl. Bundesgerichtshof (2012c): Beschluss vom 20. Juni 2012 – XII ZB 99/12, Bundesgerichtshof (2012d): Beschluss vom 20. Juni 2012 – XII ZB 130/12 & Bundesgerichtshof (2014): Beschluss vom 04. Juni 2014 – XII ZB 121/14. Zu unterscheiden sei dabei zwischen einem sog. freien Willen und dem natürlichen Willen. Dieser Unterscheidung liegt die Annahme zugrunde, dass der natürliche Wille eine gewisse Persistenz über die Zeit hinweg besitzt. Die freie Willensäußerung stellt dabei jeweils (lediglich) eine Aktualisierung des natürlichen Willens dar. Siehe hierzu auch: Kapitel 9.2. 144  Siehe ausführlich die Erörterungen in Kapitel 9.1 & 9.2. 145 Unter einer zwangsweisen Unterbringung versteht man die Einweisung in eine psychiatrische Einrichtung gegen den Willen eines Betroffen. Siehe hierzu ausführlich: Kapitel 9.1. 146  Eine betreuungsrechtliche Unterbringung setzt die Einrichtung einer Betreuung voraus, während dies bei einer öffentlich-rechtlichen Unterbringung nicht der Fall ist. Die betreuungsrechtliche Unterbringung erfolgt nach den Vorgaben des Bürgerlichen Gesetzbuchs,

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I. Teil: Methodisch-konzeptionelle Verortungen

terialen und prozeduralen Vorgaben durch das BVerfG und den BGH größtenteils noch aus.147 Die Urteile des BVerfG und des BGHs sowie die Konsequenzen für die Überarbeitung der Gesetzesgrundlagen haben und hatten bedeutende Konsequenzen für die psychiatrische Praxis. Wie folgenreich diese Urteile waren, erkennt man, wenn man einen Blick darauf wirft, wie sich die Zahl der zwangsuntergebrachten Personen im Lauf der letzten Jahre entwickelt hat. Generell wird in der Literatur über einen starken Anstieg zwangsweise untergebrachter Personen berichtet.148 Tatsächlich lässt sich ein solcher Anstieg sowohl hinsichtlich der betreuungsrechtlichen, als auch mit Blick auf die öffentlich-rechtlichen Unterbringungen für den Zeitraum von 1995 bis 2015 darstellen. Entwicklung der dokumentierten Unterbringungsverfahren von 1995–2015

2015

2014

2013

2011

2012

2010

2009

2007

2008

2006

2005

2003

2004

2001

2002

1999

2000

1998

1997

1996

1995

90.000 80.000 70.000 60.000 50.000 40.000 30.000 20.000 10.000 0

Unterbringungsverfahren nach betreuungsrechtlichen Reglungen von 1995–2015 Unterbringungsverfahren nach öffentlich-rechtlichen Reglungen von 1995–2015

Abb. 1:  Zahl der in Deutschland in den Jahren 1995 bis 2015 zwangsweise untergebrachten Personen. Die Zahlen für die betreuungsrechtliche Unterbringung basieren auf den Daten des Bundesamts für Justiz vom Dezember 2015 (vgl. (Bundesamt für Justiz 2017)) und die für die öffentlich-rechtlichen Unterbringungen auf den Daten des Bundesamts für Justiz aus dem August 2015 (vgl. (Bundesamt für Justiz 2016)). Für das Jahr 1994 liegen keine vergleichbaren Daten zur öffentlich-rechtlichen Unterbringung vor. Grafik: Eigene Darstellung.

eine öffentlich-rechtliche nach den Vorgaben der Unterbringungsgesetze der Länder. Siehe hierzu ausführlich: Kapitel 9.1 & 9.2. 147  Vgl. hierzu: Kapitel 9.1. 148  So z.B. aktuell: Bruns & Henking (2015): Unterbringungen und Zwangsbehandlungen in Zahlen.

3. Die Herausforderungen der Anwendung von Zwang

51

Blickt man auf die vorliegenden Zahlen, so stieg die Zahl der Unterbringungsverfahren auf betreuungsrechtlicher Basis um ca. 61 Prozent (in absoluten Zahlen: von 35.011 Unterbringungen im Jahre 1995 auf 57.176 im Jahre 2015). Die Zahl der auf öffentlich-rechtlicher Basis Untergebrachten stieg um ca. 66 Prozent (in absoluten Zahlen: von 56.633 im Jahre 1995 auf 84.677 im Jahre 2015). Zu beachten ist jedoch, dass die Zahlen innerhalb der Intervalle sehr stark schwanken. Es handelt sich nicht um einen kontinuierlichen Anstieg der Unterbringungszahlen, sondern vielmehr um eine sehr volatile Entwicklung. Besondere Bedeutung kommt den Unterbringungszahlen der Jahre 2012 und 2013 zu, war doch in diesen Jahren aufgrund der Urteile von BVerfG und BGH keine Zwangsbehandlung möglich.149 Das Verbot einer Zwangsbehandlung bei gleichzeitiger Fortführung von freiheitsentziehenden Unterbringungen hat zur Folge, dass nun erstmals empirische Daten hinsichtlich eines kompletten Verzichts auf Zwangsbehandlungen vorliegen. In einer Studie, an der die sieben psychiatrischen Kliniken in Baden-Württemberg teilnahmen, wurden hierbei die dokumentierten Zahlen der Zwangsmaßnahmen (Fixierungen, Isolierungen, Sedierungen zur Ruhigstellung)150 in den Jahren 2012 und 2013 mit den Zahlen des Jahres davor verglichen. In der Folge zeigte sich, dass der Wegfall der rechtlichen Grundlagen für eine Zwangsbehandlung bei dem Großteil der Untergebrachten dazu führte, dass die Verweildauer in der jeweiligen Einrichtung über alle Patientengruppen lediglich moderat anstieg. Für eine kleinere Gruppe besonders vulnerabler Patienten gab es allerdings eine signifikant längere Verweildauer und zudem eine signifikant höhere Anwendung an Zwangsmaßnahmen.151

3.2 Ist die Anwendung von Zwang alternativlos? Am Universitätsklinikum Basel wurde im Jahre 2014 ein Modellversuch gestartet, komplett auf die Anwendung von Zwang zu verzichten. So wurden zwei bisher geschlossene Stationen geöffnet und gleichzeitig versucht, den Einsatz von Isolierungen zu verringern. Konnte auf den versuchsweise offenen Stationen die Anwendung von Zwang reduziert werden, stiegen zugleich die Aufnahmen auf den verbliebenen geschlossenen Stationen ebenso wie die Zahl der Anwendung von Zwangsmaßnahmen auf den geschlossenen Stationen.152 Auch in den Nie149 

Siehe dazu ausführlich Kapitel 10. Abgrenzung zwischen Zwangsbehandlung und Zwangsmaßnahme siehe auch: Steinert (2013): Was ist eine Zwangsmedikation? Siehe ebenso Kapitel 9.1. 151  Vgl. Flammer & Steinert (2015): Auswirkungen der vorübergehend fehlenden Rechtsgrundlage für Zwangsbehandlungen auf die Häufigkeit aggressiver Vorfälle und freiheitseinschränkender mechanischer Zwangsmaßnahmen bei Patienten mit psychotischen Störungen. 152  Vgl. Jungfer, et al. (2014): Reduction of seclusion on a hospital-wide level: successful implementation of a less restrictive policy. Siehe hierzu auch die Studien, die über die Zeit von 1994 bis 2006 durchgeführt worden sind. In dieser Zeit war eine Zwangsunterbringung 150  Zur

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I. Teil: Methodisch-konzeptionelle Verortungen

derlanden und Großbritannien gibt es bereits mehrjährige Bestrebungen, weitestgehend auf die Anwendung von Fixierungen zu verzichten, allerdings resultierte der Verzicht auf Fixierungen in einem verstärkten Rückgriff auf Isolierungen.153 Bei einem Modellversuch in den Niederlanden, ebenso auf Isolierungen zu verzichten, zeigte sich, dass zeitgleich die Anwendung von Sedierungen anstieg.154 Mit anderen Worten: Auch wenn das Bemühen zu beobachten ist, auf bestimmte Anwendungen von Zwang zu verzichten, legen die empirischen Daten nahe, dass in den meisten Fällen ein zeitgleicher Anstieg einer anderen Anwendung von Zwang beobachtet werden kann. Aus diesen Beobachtungen kann jedoch nicht ohne Weiteres gefolgert werden, dass es keine andere Möglichkeit gäbe, als Zwang anzuwenden.155 Gerade weil sich die Maßnahmen untereinander wechselseitig beeinflussen, greift es erstens zu kurz, Zwangsmaßnahmen und Zwangsbehandlungen gegeneinanderzustellen. So hat dies zum Beispiel die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer mit Blick auf eine Fremdgefährdung vorgeschlagen.156 Das von ihr vorgebrachte Argument, dass eine Zwangsbehandlung eine grundsätzlich massivere Eingriffstiefe als eine auf die Sicherung bedachte Zwangsmaßnahme aufweist und eine Zwangsmaßnahme keinen Eingriff in die körperliche Integrität darstellt, verkennt, welch massiven Eingriff, gerade auch in die körperliche Integrität, eine Zwangsmaßnahme wie beispielsweise Fixierung oder Isolierung bedeutet. Die empirische Beobachtung, dass die Abschaffung einer bestimmten Anwendung von Zwang zu der Intensivierung einer anderen führt, weist zugleich zweitens darauf hin, dass das Personal innerhalb eines psychiatrischen Settings mit bestimmten Routinen arbeitet und in diesen geschult ist. Wenn also der Verzicht auf beispielsweise eine Isolierung zu einem Anstieg der Zahl von Fixierungen oder Sedierungen führt, kann das natürlich auch schlicht daran liegen, dass die entsprechende Maßnahme bei Wegfall der anderen Methode routinemäßig angewendet wird. erlaubt, eine Zwangsbehandlung hingegen verboten. Im Vergleich zu den aktuellen Zahlen scheinen sich die Zeitdauer von Isolierungen sowie das Maß an offenen Aggressionen verringert zu haben. Vgl. Georgieva, et al. (2013): Reducing seclusion through involuntary medication: A randomized clinical trial. 153 Steinert, et al. (2010): Incidence of seclusion and restraint in psychiatric hospitals: a literature review and survey of international trends. 154  Vgl. Vruwink, et al. (2012): The effects of a nationwide program to reduce seclusion in the Netherlands. 155  In diese Richtung deuten auch die Ergebnisse der Evaluation von Stationen, die von einem geschlossenen auf ein Unterbringungskonzept mit offenen Stationstüren übergegangen sind. Vgl. Cibis, et al. (2017): Vergleichende Betrachtung von Aggressivität, Zwangsmedikation und Entweichungsraten zwischen offener und geschlossener Türpolitik auf einer Akutstation. 156  Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (2013): Stellungnahme der Zentralen Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten (Zentrale Ethikkommission) bei der Bundesärztekammer: Zwangsbehandlung bei psychischen Erkrankungen, A1337.

3. Die Herausforderungen der Anwendung von Zwang

53

Die Arbeiten Erving Goffmans machen deutlich,157 dass das psychiatrische Setting nicht nur von den Patienten als eine totale Institution angesehen wird, sondern dies gleichermaßen auch für die ärztlichen und pflegerischen Handlungsroutinen gilt. Angesichts eines solchen Geflechts an Routinen, Gegenroutinen, Maßnahmen und Gegenmaßnahmen muss sehr genau beobachtet werden, an welchen Stellen eine Änderung zum Beispiel im Umgang mit Fixierungen welche Effekte an anderen Stellen bedingt. Dies schließt dann ebenso ein, dass unbedingt zu eruieren ist, welche Auswirkungen der Wegfall einer Methode innerhalb einer solch totalen Institution für die unterschiedlichen Akteure hat. In einer solchen Abwägung darf ebenso wenig ignoriert werden, dass ein Anstieg der Aggression, verbunden damit, dass eine Sedierungsmaßnahme nicht mehr angewendet wird, in einer geschlossenen Einrichtung Auswirkungen sowohl auf die Patienten als auch das behandelnde und pflegende Personal hat.158 Wiederum konkret: Die einzelnen Maßnahmen innerhalb einer ‚totalen Institution‘ sind so eng miteinander verwoben, dass sich Seiteneffekte für alle Akteure innerhalb der Einrichtung ergeben, wenn auf eine bestimmte Maßnahme verzichtet wird. Zeigt sich, dass mit dem Wegfall einer Maßnahme – beispielsweise durch einen Aggressionsanstieg – belastende Auswirkungen auch für das klinische Personal einer Einrichtung entstehen, stellt eine solche Beobachtung für sich noch keine hinreichende Rechtfertigung dafür dar, eine Maßnahme zu erlauben oder zu verbieten, muss aber dringend in die Abwägungen miteinbezogen werden. Die Vermeidung von Zwang in psychiatrischen Kontexten erfordert also folglich eine mehrdimensionale Betrachtung und langfristig angelegte Lösungsstrategien, wie mit den jeweiligen Seiteneffekten einer Maßnahme umgegangen werden kann. Noch grundsätzlicher ist zu eruieren, welche Wirksamkeit Maßnahmen und Behandlungen unter Zwang überhaupt zugesprochen werden kann. Im Rahmen einer Metastudie wurden Daten zu freiwillig und nicht freiwillig untergebrachten Patienten, die an Schizophrenie erkrankt waren, hinsichtlich der Art der Einweisung, des Aufenthalts in der Klinik, der Medikamenteneinnahme, der Entlassung und der Bereitschaft zur Weiterbehandlung verglichen.159 Nicht nur ließen sich kurzfristig keine Unterschiede feststellen, sondern vielmehr besserte sich die Symptomatik zunächst einmal unabhängig davon, ob eine Person freiwillig oder unfreiwillig untergebracht gewesen war. Auf das gleiche Ergebnis wies auch eine europäische Vergleichsstudie zur

157  Vgl. Goffman (1973): Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. 158  Vgl. Nijman, et al. (2005): Fifteen years of research with the Staff Observation Aggression Scale: a review. 159  Vgl. Steinert & Schmid (2004): Freiwilligkeit und Zwang bei der stationären Behandlung von Patienten mit Schizophrenie.

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I. Teil: Methodisch-konzeptionelle Verortungen

Anwendung von Zwang in der Psychiatrie hin.160 Auch mittel- und langfristig zeigten freiwillig behandelte und nicht freiwillig behandelte Patienten die gleiche Compliance: So nehmen nicht freiwillig Behandelte in gleicher Weise die Therapieangebote wahr wie freiwillig Behandelte.161 Allerdings erleben unfreiwillig behandelte Personen die Weiterführung der Therapie oftmals weiterhin als Zwang und haben in der Selbstwahrnehmung den Eindruck, dass sie selbst nicht hinreichend zu dem Therapieerfolg beitragen. Zudem lässt sich beobachten, dass die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Einweisung in die Psychiatrie ebenso wie die Suizidrate bei einer nicht freiwilligen Behandlung erhöht ist.162 Eng verbunden mit Aussagen über die Wirksamkeit von Zwang drängt sich zugleich die Frage auf, wie die Patienten die freiheitsentziehenden Maßnahmen und gegebenenfalls die Zwangsbehandlung subjektiv wahrnehmen. Einen fundierten Einblick gibt eine Studie aus England mit 1570 Patienten aus 22 psychiatrischen Zentren, in der dargestellt wurde, dass die Zustimmung zu einer erlebten zwangsweisen Unterbringung ein Jahr nach der erfolgten Unterbringung bei 40 Prozent lag.163 Diese Ergebnisse sind auch vor dem Hintergrund zu betrachten, dass fünfzehn Prozent der Stichprobe innerhalb eines Jahres mindestens noch ein weiteres Mal zwangsweise untergebracht waren, wobei sich ein signifikanter Zusammenhang mit bestimmten ethnischen Gruppen zeigte.164 Die subjektive Bewertung einer Anwendung von Zwang deutete sich als einer der entscheidenden Faktoren dafür an, ob es zu einer erneuten zwangsweisen Unterbringung kam. In einer europäischen Vergleichsstudie mit 2326 zwangsweise untergebrachten Personen aus elf Ländern der EU165 wurde untersucht, wie die betroffenen Patienten die nicht-freiwillige Unterbringungssituation erlebt haben. Das Ergebnis kann als ambivalent bezeichnet werden: Über alle Teilnehmer der Studie hinweg lag die Zustimmungsrate zu der erfolgten zwangsweisen Unterbringung 160  Vgl. Kallert, et al. (2011): Coerced hospital admission and symptom change – a prospective observational multi-centre study. 161  Vgl. Jaeger, et al. (2013): Long-term effects of involuntary hospitalization on medication adherence, treatment engagement and perception of coercion. 162  Vgl. Kallert, et al. (2008): Involuntary vs. voluntary hospital admission. A systematic literature review on outcome diversity. 163 Vgl. Priebe, et al. (2009): Patients’ views and readmissions 1 year after involuntary hospitalisation. Die Daten der Studie basieren dabei auf der im Jahre 2010 veröffentlichten Basisstudie: Priebe, et al. (2010): Patients’ views of involuntary hospital admission after 1 and 3 months: prospective study in 11 European countries. 164 Vgl. Priebe, et al. (2009): Patients’ views and readmissions 1 year after involuntary hospitalisation. 165  Zu beachten ist in der Interpretation der Ergebnisse, dass die Regelungen der verglichenen EU-Länder zum Teil ganz erheblich variieren. Zudem wurde aus jedem Land lediglich eine Klinik ausgewählt, die dann als exemplarisch für das jeweilige Land betrachtet wurde. Zu den methodischen Limitationen siehe auch: Kallert, et al. (2005): The EUNOMIA project on coercion in psychiatry: study design and preliminary data.

3. Die Herausforderungen der Anwendung von Zwang

55

nach einem Monat bei 55 Prozent und nach drei Monaten bei 63 Prozent.166 Gut die Hälfte der zwangsweise Untergebrachten bewertete nach einem Monat und etwas mehr als die Hälfte nach drei Monaten retrospektiv die erlebte Anwendung von Zwang als richtig. Zugleich muss kritisch in Betracht gezogen werden, dass bestimmte Patientengruppen eine bleibend negative Bewertung der zwangsweisen Unterbringung vornahmen. Zu diesen Patientengruppen zählten vor allem Personen, die alleine lebten, sowie solche, die an Schizophrenie erkrankt waren. Ebenso äußerten sich überwiegend Frauen negativ.167 Zusätzliche qualitative Untersuchungen mit den in die Studie eingebundenen Probanden legten zudem dar, dass die Personen, welche die zwangsweise Unterbringung im Nachhinein als richtig bewerteten, dies damit begründeten, dass so Schaden von ihnen abgewendet wurde. Die Anwendung von Zwang wurde von ihnen im Nachhinein als notwendig erachtet, weil sie sich ansonsten nicht in der Lage gesehen hätten, die Notwendigkeit einer therapeutischen Maßnahme zu erkennen. Die Personen allerdings, die die zwangsweise Unterbringung als falsch bewerteten, empfanden die Unterbringung als eine schwere Verletzung ihrer autonomen Selbstbestimmung.168 Eine dritte Gruppe führte aus, dass sie im Nachhinein die Notwendigkeit einer Behandlung zugestehen könne, die angewendeten Mittel aber als zu massiv empfand. Besonders häufig wurde der Wunsch nach einer kürzeren Verweildauer in der Unterbringungssituation geäußert ebenso wie der Wunsch, am Wohnort mit weniger Zwang behandelt zu werden.169 Studien, die die subjektive Einschätzung von Isolierungen und Fixierungen verglichen, belegten, dass beide Maßnahmen zunächst als gleichermaßen schwerwiegend empfunden wurden. Mit einem Abstand von einem Jahr wurden jedoch Fixierungen im Vergleich zu Isolierungen vor allem hinsichtlich ihrer langfristigen Konsequenzen als belastender empfunden.170 Während die Ergebnisse zur subjektiven Wahrnehmung einer zwangsweisen Unterbringung sowie zum subjektiven Erleben von Zwangsmaßnahmen auf einer zwar dünnen, aber doch soliden Datenbasis stehen, ist die Datenlage bei den Ergebnissen zur subjektiven Wahrnehmung einer Zwangsbehandlung un166  Vgl. Priebe, et al. (2010): Patients’ views of involuntary hospital admission after 1 and 3 months: prospective study in 11 European countries. Zu beachten ist zugleich, dass die Varianz für die Zustimmung nach einem Monat zwischen 39 und 71 Prozent lag und nach drei Monaten zwischen 46 und 86 Prozent. 167  Vgl. hierzu auch die Daten in: McLaughlin, et al. (2016): Use of Coercive Measures dur­ ing Involuntary Psychiatric Admission and Treatment Outcomes: Data from a Prospective Study across 10 European Countries 168  Vgl. mit ähnlichen Ergebnissen: Paksarian, et al. (2014): Perceptions of hospitaliza­ tion-related trauma and treatment participation among individuals with psychotic disorders. 169  Vgl. Katsakou, et al. (2012): Psychiatric Patients’ views on why their involuntary hospi­ talisation was right or wrong: a qualitative study. 170  Vgl. Bergk, et al. (2010): „Coercion Experience Scale“ (CES) – validation of a quest­ ionnaire on coercive measures & Bergk, et al. (2011): A randomized controlled comparison of seclusion and mechanical restraint in inpatient settings.

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I. Teil: Methodisch-konzeptionelle Verortungen

sicherer. Dennoch können die Daten einen wichtigen Beitrag dazu leisten, ein schärfer konturiertes Bild der Auswirkungen von Zwang zu zeichnen. Als ein erster kritischer Punkt kristallisiert sich in den vorliegenden Studien die Aufklärung der Patienten zu einer bevorstehenden Zwangsbehandlung heraus. In einer Studie mit Patienten einer Klinik aus Baden-Württemberg gaben 38 Prozent der Befragten an, über den zwangsweisen Eingriff umfassend informiert worden zu sein, während sich 37 Prozent nicht ausreichend und 25 Prozent gar nicht informiert fühlten.171 Das Wissen über die anstehenden Behandlungen sowie die Information über den aktuellen Krankheitsstand wurde jedoch gerade von Patienten mit psychischen Erkrankungen als essenziell und für die Gesundung förderlich angesehen.172 In der Nachbetrachtung sahen 63 Prozent der Patienten die Zwangseinweisung als einen ungerechtfertigten Eingriff in ihre persönlichen Rechte an.173 Mit Blick auf den Genesungsprozess konnotierten 45 Prozent der Befragten positive Folgen mit der Anwendung von Zwang, während 57 Prozent ihr negative Folgen zuschrieben. 28 Prozent der Befragten gaben zudem an, dass durch einen verständnisvolleren Umgang des Klinikpersonals die Anwendung von Zwang hätte vermieden werden können. Noch viel drastischer sind die Ergebnisse einer Studie aus dem Jahre 1993: 44 Prozent der Befragten empfanden die Zwangsbehandlung auch im Nachhinein als sinnlos, 40 Prozent als Demütigung und Kränkung, 33 Prozent führten aus, die Behandlung sei zwar schrecklich, aber eine Erleichterung gewesen, und 20 Prozent konstatierten, die Zwangsbehandlung sei schlimmer gewesen als die vorab erlebte Isolierung.174 Eine Studie mit Patienten aus den Niederlanden ergab, dass die betroffenen Patienten Zwangsunterbringung und Zwangsbehandlung in etwa als gleich belastend und gleichermaßen schwerwiegend empfanden. Während Männer eine Isolierung als schwerwiegender beschrieben, empfanden die befragten Frauen eine Zwangsbehandlung als weniger gravierend.175 Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch eine Studie an drei Berliner Kliniken, wobei sich hier nicht geschlechtsspezifische Wahrnehmungen als entscheidend identifizieren ließen, sondern vielmehr die jeweils vorher gemachten Erfahrungen mit der Anwendung von Zwang.176 In den Auswertungen der sog. EUNOMIA-Studie 171  Vgl. Längle & Bayer (2007): Psychiatrische Zwangsbehandlung und die Sichtweise der Patienten. 172  Vgl. Reichhart, et al. (2008): Patientenbeteiligung in der Psychiatrie – eine kritische Bestandsaufnahme. 173  Vgl. Längle & Bayer (2007): Psychiatrische Zwangsbehandlung und die Sichtweise der Patienten, 205. 174  Vgl. Finzen, et al. (1993): Hilfe wider Willen. Zwangsmedikation im psychiatrischen Alltag. 175  Vgl. Veitkamp, et al. (2008): Patients’ preferences for seclusion or forced medication in acute psychiatric emergency in the Netherlands. 176  Vgl. Mielau, et al. (2016): Subjective experience of coercion in psychiatric care: a study comparing the attitudes of patients and healthy volunteers towards coercive methods and their

3. Die Herausforderungen der Anwendung von Zwang

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hingegen, in welcher Daten zu der subjektiven Sichtweise auf die Anwendung von Zwang in zehn unterschiedlichen Ländern erhoben wurden, deutet sich an, dass tendenziell eine Zwangsbehandlung – wobei hier konkret nach der Gabe von Medikamenten unter Zwang gefragt war – im Vergleich zu Fixierungen oder Isolierungen als massiver empfunden wurde.177 Eine besondere Bedeutung für die Bewertung einer Maßnahme scheint, so zeigen Studien aus England, die erste Erfahrung mit Zwang einzunehmen. Umstritten ist aber, ob die zuerst erlebte Maßnahme dazu führt, dass sie im Vergleich zu anderen Maßnahmen als weniger invasiv oder aber im Gegenteil als besonders massiv erlebt und entsprechend eine eventuell auftretende Wiederholung als besonders schwerwiegend empfunden wird.178 Übereinstimmend kommen die vorliegenden empirischen Studien zu dem Ergebnis, dass die Erfahrungen mit Zwang nicht nur für die Patienten eine massive essenzielle Bedeutung haben, sondern zugleich einen großen Einfluss auf die Angehörigen nehmen,179 wie auch das Entscheidungsverhalten von Ärzten und Pflegern maßgeblich bestimmen.180 Dieser Befund ist auch deswegen von großer Bedeutung, weil bislang nur wenig darüber bekannt ist, nach welchen Kriterien Ärzte entscheiden, wie sie in der psychiatrischen Praxis den vorhandenen rechtlichen Spielraum im Umgang mit Zwang gestalten. Studien zum Entscheidungsverhalten von Ärzten über die Notwendigkeit einer Unterbringung und die wahrgenommene Unausweichlichkeit eines medizinischen Eingriffs gegen den Willen der Patienten wiesen nach, dass Ärzte in vergleichbaren Fallkonstellationen zu völlig unterschiedlichen Entscheidungen kommen.181 justification. Die Daten der Studie betonen noch einmal die auch in anderen Studien immer wieder anzutreffende Beobachtung, dass die Bewertung der Anwendung von Zwang entscheidend davon abhängt, inwiefern die durchgeführte Maßnahme erfolgreich war. Dabei indizieren die Ergebnisse, dass reine Fixierungen ohne weitere therapeutische Zielsetzungen von den befragten Patienten tendenziell negativ bewertet wurden. 177  Vgl. McLaughlin, et al. (2016): Use of Coercive Measures during Involuntary Psychiatric Admission and Treatment Outcomes: Data from a Prospective Study across 10 European Countries. 178  Vgl. hierzu: Bergk, et al. (2008): Feasibility of randomized controlled trials on seclusion and mechanical restraint & Whittington, et al. (2009): Approval ratings of inpatient coercive interventions in a national sample of mental health service users and staff in England. Vgl. ebenso: Dack, et al. (2012): The relationship between attitudes towards different containment measures and their usage in a national sample of psychiatric inpatients. 179  Vgl. Førde, et al. (2016): Next of kin’s experiences of involvement during involuntary hospitalisation and coercion. 180  Zur besonderen Bedeutung von geschlechtsspezifischen Merkmalen in der Entscheidungsfindung zur Anwendung von Zwang vgl. Daffern, et al. (2006): Staff gender ratio and aggression in a forensic psychiatric hospital. 181  Vgl. Steinert (2007): Ethische Einstellungen zu Zwangsunterbringung und −behandlung schizophrener Patienten, Caduff (2007): Die Zwangsunterbringung des Alkoholpatienten & Martin, et al. (2007): Ein Vergleich von Schweizer und deutschen Kliniken in Bezug auf die Anwendung von Fixierung und Isolierung.

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I. Teil: Methodisch-konzeptionelle Verortungen

Als entscheidungsrelevant erwiesen sich vor allem die persönliche Erfahrung und Werthaltung, eine mögliche (frühere) psychische Erkrankung im näheren Umfeld des Arztes sowie der ethnische Hintergrund. Dass in der Bewertung der Anwendung von Zwang mehrere Faktoren eine Rolle spielen, zeigt auch eine Vergleichsstudie zu den drei geschilderten Fällen. In ihr wurden unterschiedliche Entscheidungsträger in der Psychiatrie danach befragt, ob sie in dem jeweiligen Fall eine Zwangsbehandlung indiziert sahen.182 Fall 1

2

3

Art der Maßnahme

Zustimmung in % (D)

Zustimmung in % (GB)

Unterbringung

75,5

88,9

Zwangsbehandlung

62,9

96,3

Unterbringung

92,3

96,3

Zwangsbehandlung

84,6

92,6

Unterbringung

61,6

88,9

Zwangsbehandlung

58,7

92,6

Abb. 2:  Ergebnisse der Zustimmung von Ärzten und Psychiatern zur Zwangseinweisung und Zwangstherapie.183

Auch wenn die Entscheidung für oder gegen eine Zwangsunterbringung bzw. Zwangsbehandlung zum Teil erheblich variierte, erwies sich die Zustimmung zu einer Zwangsbehandlung bei den Psychiatern in Großbritannien in allen drei Fällen größer als in Deutschland. Wurde hierzulande bei Vorliegen einer Selbstgefährdung eine erheblich höhere Tendenz zur Sicherung184 nachgewiesen, so stimmten die Ärzte beider Länder bei Vorliegen einer Fremdgefährdung einer Zwangsbehandlung in einem gleich hohen Maße zu. Eine Ursache könnte sein, dass eine Zwangshandlung bei Fremdgefährdung in Deutschland nach den Urteilssprüchen von BVerfG und BGH nicht mehr möglich ist.185 Dennoch ist es eine wichtige Aussage darüber, wie die durch die rechtlichen Rahmenbedingungen bewusst ermöglichten Handlungsräume in der psychiatrischen Praxis genutzt werden. In einer ähnlichen Untersuchung, die sich ausschließlich auf

182  Vgl. Steinert, et al. (2003): Entscheidungen zur Zwangseinweisung und Zwangsmedikation schizophrener Patienten bei Psychiatern in Deutschland und England. 183  Daten nach: Steinert, et al. (2003): Entscheidungen zur Zwangseinweisung und Zwangsmedikation schizophrener Patienten bei Psychiatern in Deutschland und England. 184 Unter ‚Sicherung‘ wird hier verstanden, dass lediglich eine Zwangsunterbringung, jedoch keine Zwangsbehandlung erfolgt. 185  Siehe hierzu ausführlich Kapitel 9.1 & 9.2.

3. Die Herausforderungen der Anwendung von Zwang

59

Ärzte und Psychiater in Deutschland beschränkte,186 wurde deutlich, dass der größere Teil der Ärzte und Psychiater sowohl einer zwangsweisen Unterbringung als auch einer Zwangsbehandlung in den Fällen eins bis drei zustimmte. Zugleich stieg die Zustimmung zu einer Zwangsbehandlung mit der Dauer, in der die entsprechende Krankheit unbehandelt blieb, stark an. Besonders zurückhaltend gegenüber einer Anwendung von Zwang votierten Ärzte, wenn sich eine psychische Störung erstmalig manifestierte. Den Einstellungen des jeweils behandelnden Personals, aber ebenso denen der Richter, der Betreuer und auch der Angehörigen kommt schon deswegen eine große Bedeutung zu, weil es für die Anwendung von Zwang mitunter nur sehr schwer möglich ist, evidenzbasierte Behandlungsleitlinien zu erstellen. Solche Behandlungsleitlinien operieren mit einer dreifachen Hierarchie: Stehen auf der untersten Stufe Empfehlungen von klinischen Ethikkomitees sowie klinische Erfahrungsberichte, folgen auf der zweiten Stufe nicht randomisierte Studien und quasiexperimentelle Studien sowie rein deskriptive Studien. An oberster Stelle werden randomisierte, kontrollierte Studien verortet.187 Diese Bewertungsmaßstäbe müssen durch einen Beratungsprozess ergänzt werden, an dem sowohl Ärzte unterschiedlicher Disziplinen als auch andere relevante Akteure teilnehmen. Die Schwierigkeit für die psychiatrische Praxis besteht darin, dass randomisierte Studien ethisch oftmals nicht vertretbar sind188 und die Studienlage zu der Wirksamkeit der Maßnahmen eher dünn ist. Nicht zuletzt diese schlechte Evidenzbasierung führt dazu, dass in der Entscheidung über die Anwendung von Zwang in psychiatrischen Kontexten der sorgfältigen Analyse der jeweils zugrunde liegenden normativen Annahmen eine besondere Bedeutung zukommt.189

3.3 Die Anwendung von Zwang als Brennlinse leiblicher Selbstbezüglichkeit Bereits dieser erste Blick auf die Herausforderungen, die sich aus der Anwendung von Zwang in psychiatrischen Kontexten ergeben, legt die Einschätzung nahe, dass eine Behandlung gegen den Willen des Patienten, sowohl von den Patienten als auch den behandelnden Ärzten, als sehr schwerwiegend wahrgenom186  Vgl. Steinert, et al. (2001): Ethische Konflikte bei der Zwangsbehandlung schizophrener Patienten. 187  Vgl. Steinert (2015): Zwangsmaßnahmen aus der Perspektive der klinischen Psychiatrie: Evidenz und Good Clinical Practice. 188  Die Durchführung randomisierter Studien würde voraussetzen, dass zum Beispiel die Frage einer Unterbringung bei Selbst- oder Fremdgefährdung dem Zufall überlassen werden könnte. 189 DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie und Nervenheilkunde) (2014): Achtung der Selbstbestimmung und Anwendung von Zwang bei der Behandlung von psychisch erkrankten Menschen. Eine ethische Stellungnahme der DGPPN.

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I. Teil: Methodisch-konzeptionelle Verortungen

men wird. Für die betroffene Person stellt die Anwendung von Zwang einen Eingriff in die körperliche Integrität und damit einhergehend einen massiven Eingriff in ihre jeweilige Identitätskonzeption dar. Das mit diesem Eingriff verfolgte Ziel, wieder zu einer autonomen Selbstbestimmung zu befähigen, ist nicht zuletzt dadurch massiv in Frage gestellt, da mit dem Eingriff die Widerfahrnis von Ohnmacht, Hilflosigkeit und Demütigung verbunden ist. Dem Risiko eines solchen Eingriffes steht das Risiko entgegen, dass die Unterlassung einer Intervention ebenso riskant ist. Ärzte, Richter, Betreuer und Angehörige stehen so vor der schwierigen Abwägung zwischen der Achtung des Selbstbestimmungsrechtes der Patienten einerseits und der Verpflichtung gegenüber dem Wohl des Patienten und der damit (möglicherweise) verbundenen Aufrechterhaltung der Verwirklichungsbedingungen von Selbstbestimmung andererseits.190 Das bedeutet erstens, dass in den Handlungsherausforderungen der psychiatrischen Praxis unklar wird, welche Handlung welcher Prämisse folgt – etwa der Art, ob eine Intervention genuin als fürsorglich und die Nicht-Intervention als Achtung vor der Patientenautonomie zu verstehen ist oder gerade die Nicht-Intervention auch ein Zeichen der Orientierung an der Fürsorge sein kann. Zweitens ist zu klären, wie sich der normative Gehalt ethischer Prämissen wie der Selbstbestimmung und/oder der Fürsorge entfalten lässt. Es ist gerade in solch vulnerablen Situationen wie denen einer Behandlung gegen den Willen einer Person nicht ohne Weiteres eindeutig bestimmbar, welche Handlungsprämissen aus den jeweiligen normativen Bestimmungsgehalten in den Konzepten von Selbstbestimmung und Fürsorge oder anders gesprochen Fremdbestimmung zu folgern sind. Ungleich schärfer gewendet: Ein Verständnis dieser Termini als in sich klar unterscheidbare Prinzipien191 läuft in einer solch vulnerablen Situation wie der einer Zwangsbehandlung in psychiatrischen Kontexten bereits auf konzeptioneller Ebene ins Leere. Beinahe ebenso unergiebig ist es, solche Konzepte – explizit oder zumeist implizit die Rationalität eines gar dichotomen Distinktionsclusters unterstellend – auf die grundlegende Vorrangigkeit eines Konzeptes, vor allem das der Selbstbestimmung, hin zu verengen. Die Herausforderung besteht drittens gerade darin, auf der Suche nach einem präziseren Verständnis von Selbstbestimmung und Fürsorge nach dem je190  Genau diesen Punkt markiert auch die Stellungnahme der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer mit großer Klarheit: Die Achtung der Patientenautonomie kann mitunter zu einer komplizierten Verstrickung von Intervention und Nicht-Intervention führen. Vgl. Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (2013): Stellungnahme der Zentralen Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten (Zentrale Ethikkommission) bei der Bundesärztekammer: Zwangsbehandlung bei psychischen Erkrankungen, A1336. 191  So paradigmatisch bei: Beauchamp & Childress (2009): Principles of Biomedical Ethics, Hildt (2005): Vom Miteinander und Gegeneinander der Beauchamp-Childress-Prinzipien, Rauprich & Steger (2005): Prinzipienethik in der Biomedizin. Moralphilosophie und medizinische Praxis. Siehe hierzu auch Kapitel 2.2.

3. Die Herausforderungen der Anwendung von Zwang

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weiligen Bestimmungsmoment des einen im jeweils anderen zu suchen, ohne in einer völligen Unschärfe der jeweiligen Konzepte zu landen: Endet Selbstbestimmung beim Eintreten einer psychischen Degeneration, einem Entfremden oder gar in chiastischen192 Verhältnissen von einem Selbstbezug zu seinem Körper? Oder noch grundlegender gefragt: Kann sich Selbstbestimmung je ohne Elemente der Für-sorge, sei es eines Selbst für sich selbst, eines Selbst für einen Anderen oder eines Anderen für ein Selbst konkretisieren? Ist vielleicht die (für-)sorgende Gabe des Anderen, die, um es mit den Worten von Judith Butler zu formulieren, immer ein konstituierendes, ein das Selbst als Selbst setzendes Element der Subjektivation (assujetissement) enthält, vielmehr als ein notwendiger Entfaltungsvektor der Selbstbestimmung zu verstehen? Wenn dem aber so ist, so stellt sich sogleich die Frage nach den (notwendigen) Begrenzungen eines solchen Verständnisses. Anders gesagt: Subjektivation kann weder einfach Beherrschung des Selbst sein noch einfach Erzeugung, sondern bezeichnet vielmehr „eine gewisse Beschränkung in der Erzeugung, eine Restriktion, ohne die das Subjekt gar nicht hervorgebracht werden kann, eine Restriktion, durch welche sich die Hervorbringung erst vollzieht.“193 Wenn Selbstbestimmung und Fürsorge in einer solchen Verhältnisbestimmung viertens nicht als voneinander strikt trennbaren Kategorien konzipiert werden können, sondern vielmehr als ein verwobenes Konstituierungsnetz zwischen Selbst und Anderem, zwischen Eigenem und Fremden zu denken sind, rückt der Blick auf Prozesse intersubjektiver Anerkennung und ihre jeweiligen Konstituierungs- und Subjektivationsleistungen. Das Verhältnis von Selbstbestimmung und Fürsorge ausgehend von einer Analyse von Prozessen intersubjektiver Anerkennung zu betrachten, bietet die Möglichkeit, den Bedeutungsgehalt wie auch die konzeptionelle Belastbarkeit des Verhältnisses von Selbstbestimmung und Fürsorge in unterschiedlichen Handlungskontexten wiederum von mitunter konfligierenden Identifizierungs- und Anerkennungsmustern unterschiedlicher Akteure abhängig zu denken. Diesen Aspekt konzeptionell weiterführend, konzipiert ein solcher Fokus die Vulnerabilität des Selbst nicht erst als einen Grenzfall von Selbstbestimmung bei einer psychischen Erkrankung. Vielmehr sind Phänomene von Vulnerabilität wie auch der bleibenden Unabschließbarkeit von Identitätskonstruktionen notwendige Herausforderungsmarker eines Verständnisses von Selbstbestimmung. Sind diese Beobachtungen zutreffend, so hat dies zur Folge, dass Selbstbestimmung in sich ein relationales wie gleichermaßen ambigues Konzept ist. Ein solch relationales Verständnis von Selbstbestimmung, wird hernach einerseits durch Elemente der Gabe von Fürsorge konstituiert und damit in einen Relationszusammenhang gesetzt. Zugleich wird die Selbst192 

Die Rede von einem Chiasmus bedeutet, dass A und B sich in C überschneiden, wobei entscheidend ist, dass der Kreuzungspunkt weder zu A noch zu B gehört. Vgl. Waldenfels (2000b): Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, 287. 193 Butler (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, 82.

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I. Teil: Methodisch-konzeptionelle Verortungen

bestimmung jedoch andererseits durch gerade diesen Konstituierungszusammenhang in Frage gestellt, insofern die Gabe zwar Anknüpfungsmöglichkeiten stiftet, zugleich aber offen bleibt, ob es einem Selbst gelingt, im Anschluss an ein solches Stiftungsereignis einen Selbstbezug praktisch zu bezeugen.

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II. Teil

In prekären Verhältnissen 4. Anerkennungsräume als Voraussetzung eines Selbstbezugs 4.1 Hegelsche Spuren: Die Bildung von Selbstbewusstsein Es gibt wenige Ideen, die gleichermaßen als so grundlegend wie kritisch, so präsent wie vergessen erachtet werden und dabei dennoch Denkspuren gelegt haben, wo selbst deren schweigende Umgehung einen impliziten oder gar expliziten Bezug konstituiert.1 Als ein solcher Gedanke kann die von Hegel – in kritischer Aufnahme von Arbeiten Fichtes2 wie auch Rousseaus3 – entwickelte Idee wechselseitiger Anerkennung verstanden werden, die ein Grundmuster des Verhältnisses von individuell – oder eben partikular – beschaffenen Konstituierungsprozessen und universal geltenden Normenordnungen für das soziale Zusammenleben darstellt.4 1 Wobei, wie Judith Butler auf die Schriften Hegels bezogen so treffend formulierte, ein solches Umgehen seinen Ursprung auch an der bis zu den Grenzen der Unverständlichkeit verdrillten Sprache und Textstruktur haben könnte: „Moreover, Hegel’s sentence structure seems to defy the laws of grammar and to test the ontological imagination beyond its usual bounds. His sentences begin with subjects that turn out to be interchangeable with their objects or to pivot on verbs that are swiftly negated or inverted in supporting clauses.“ Butler (2012d): Subjects of Desire. Hegelian Reflections in Twentieth-Century France, 17 f. Butler hält natürlich sogleich fest, dass diese komplexe Sprachform die Dialektik und Bewegung der hegelschen Gedanken in angemessener Weise ausdrücken. 2  Vgl. u.a.: Hegel (1986d): Jenaer Schriften 1801–1807, 52 ff. u. 471–475. In Auseinandersetzung mit diesem Konnex und in systematischer Analyse der Bedeutung Fichtes für die Anerkennungslehre Hegels: Siep (1979): Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie: Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes. Dabei ist nicht zu übersehen, wie Hegel sich in seinem Theorieentwurf zustimmend wie kritisch abgrenzend an Fichtes Arbeiten zum Selbstbewusstsein abarbeitet. Zu den Spuren der Intersubjektivität als eines notwendigen Bedingungselements einer gehaltvollen Konzeption von Selbstbewusstsein: Fichte (1971): Grundlage des Naturrrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Auseinandersetzung, ob es sich in einer solchen Konzeption der Intersubjektivität lediglich um eine notwendige Projektion vonseiten des Selbstbewusstseins handelt oder um eine transzendentale Bedingung der dialektischen Konstitution von Selbstbewusstsein. Siehe hierzu auch: Honneth (2003b): Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität, 29. 3  Vgl. Rousseau (1984): Diskurs über die Ungleichheit/Discours sur l’inégalité, 189 ff. 4  Wenn in diesem Kapitel die Herleitung der Figur wechselseitiger Anerkennung bei ­Hegel vorrangig an seiner Phänomenologie des Geistes erfolgt, so nicht etwa, weil der Phä-

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II. Teil: In prekären Verhältnissen

Eine solche wechselseitige, als intersubjektiv verstandene Anerkennung entwickelt Hegel vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit der naturrechtlichen Tradition5, der zufolge er für Formen der Gemeinschaftsbildung von Individuen einen von außen kommenden Veranlassungsgrund als zwingend diagnostiziert. Sittliche Gehalte, im Sinne einer Idee der Freiheit als Konkretion guten Lebens,6 wären demnach erst das Produkt intelligibler Überlegungen im Umgang mit und in der Bändigung von der unsittlichen, im Sinne einer vorrangig auf Einzelinteressen bezogenen Natur des Menschen. Die Grenzen einer solchen Beschreibung der Natur des Menschen liegen für Hegel darin begründet, dass sie in einer bloßen Singularisierung des Menschen aufzugehen droht und das menschliche Sein „in einem absoluten Widerstreite gegeneinander bestimmt zu sein“7 scheint. Wäre die menschliche Natur derart beschaffen, müssten Formen der Gemeinschaftsbildung – oder in Hegels Worten: der absoluten Sittlichkeit – dann als ein Fremdes hinzugefügt werden. Sympathisierend mit dem konkreten Ideal der Polis, wonach die „Mitglieder der Gemeinschaft in den öffentlich praktizierten Sitten zugleich auch einen intersubjektiven Ausdruck ihrer jeweiligen Besonderheit zu erkennen“8 vermochten, geht Hegel hingegen in der Bestimmung zwischen Einzelnem und Allgemeinem von einer wechselseitigen und interdependenten Verwobenheit menschlichen Seins aus. Ein solches wechselseitiges Ineinander9 von Einzelnem, Besonderem und Allgemeinem10 konstatiert für Hegel die Bedingungsnotwendigkeit eines nomenologie des Geistes grundsätzlich der interpretatorische Vorrang vor Hegels früheren Jenaer Schriften wie dem System der Sittlichkeit oder der sog. Jenaer Realphilosophie – so bei Kojève (1975): Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes – gegeben wird, sondern lediglich um eine erste Kartierung des Feldes zu entwickeln. Hegel entwickelt seine Überlegungen zum Konzept der Anerkennung, vor allem in kritischer Auseinandersetzung mit den Arbeiten seiner früheren Jenaer Zeit: Hegel (2002): System der Sittlichkeit [Critik des Fichteschen Naturrechts] und Hegel (1976): Jenaer Systementwürfe III: Naturphilosophie und Philosophie des Geistes. Vorlesungsmanuskript zur Realphilosophie (1805/1806) (AA 8).  5  Vgl. Hegel (1986c): Grundlinien zur Philosophie des Rechts, §41–104 & Hegel (1986a): Geschichte der Philosophie III, 225 ff.  6  Vgl. Hegel (1986c): Grundlinien zur Philosophie des Rechts, §142.  7 Hegel (1986d): Jenaer Schriften 1801–1807, 446 f.  8 Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 23.  9  Damit ist neben der formal-strukturellen Aussage auch eine inhaltliche Bestimmung der Art getroffen, dass das Ineinander der beiden Aspekte weder in einem strikten Sowohlals-Auch noch in einem reinen Weder-Noch aufgeht, sondern gewissermaßen beständig die Distinktionen unterläuft. Neyrat (2011): Das technologisch Unbewusste. Elemente für eine Deprogrammierung, 168. 10  Eines der Kernkonzepte des hegelschen Denkens ist das Selbstbewusstsein. Das Selbstbewusstsein versteht Hegel deshalb als einen reinen Begriff, weil die Struktur des Selbstbewusstseins zugleich analytisch wie synthetisch ist: Das Selbstbewusstsein expliziert sich selbst und bringt dadurch einen neuen, konkreteren Gehalt hervor. Dieser Gehalt wiederum ist ebenso einem Entwicklungsgang unterworfen, in welchem die Gehalte mit immer

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Konzepts von Sittlichkeit, in welchem das gemeinschaftliche Leben nicht als der Einschränkungsraum der Einzelinteressen, sondern gerade als deren Ermög­ lichungsraum verstanden wird.11 Jean-Luc Nancy hat – wie auch schon andere vor ihm – in seinen Arbeiten darauf hingewiesen, dass Hegel hiermit bereits in dem grundlegenden Ansatz seiner Überlegungen konsequent die interdependente Verwebung von Individuellem und Sozialem als konstitutiv denkt.12 Im Folgenden mag die Feststellung Ludwig Sieps bezüglich der Auseinandersetzung mit den hegelschen Gedanken Warnung wie Ansporn sein: Es kann nur darum gehen, Hegels Arbeiten auf eine solche Art und Weise misszuverstehen, dass das Missverstehen ‚wenigstens‘ produktiv ist.13 Die Ausführungen zu größerer Komplexität angereichert werden. Vgl. Hegel (1986h): Wissenschaft der Logik II, 252–254. Das Selbstbewusstsein ist dabei durch die Begriffe Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit bestimmt. Als allgemein kann das Selbstbewusstsein verstanden werden, da es alle Prinzipien seiner inhaltlichen Bestimmung in sich enthält. Ein solch allgemeines Selbstbewusstsein wäre in sich aber kein distinguiertes Phänomen. Um sich selbst bestimmen zu können, muss sich das Allgemeine von sich selbst abgrenzen, mit Hegels Worten: Es muss sich negieren. In einer solchen Negation erweist sich das Selbstbewusstsein als Besonderes. Das Selbstbewusstsein ist also dadurch bestimmt, dass es gleichermaßen durch Allgemeinheit und Besonderheit bestimmt ist. Mit Einzelheit bezeichnet Hegel nun die Tätigkeit des Selbstbewusstseins, die selbst gesetzten Beschränkungen wieder aufzuheben und zu einer Einheit zusammenzusetzen. In seiner Rechtsphilosophie buchstabiert Hegel dieses Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem dann noch einmal an dem Begriff des Willens aus. Vgl. Hegel (1986b): Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, §7. 11  Wird Hegel auf der einen Seite, so unter anderem bei Manfred Frank, eine grundlegende Auflösung von Subjektivität in Intersubjektivität vorgeworfen, so stellen die Ausführungen von Jürgen Habermas gewissermaßen die komplementäre Seite dieses Vorwurfs dar, indem dieser im Gegensatz zu den Auffassungen Hegels in den früheren Jenaer Jahren von einer (unnötigen) Engführung des intersubjektivistischen Ansatzes ausgeht. Vgl. Frank (1991): Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis. Essays zur analytischen Philosophie der Subjektivität, 31; Habermas (1968): Arbeit und Interaktion. Bemerkungen zu Hegels Jenenser ›Philosophie des Geistes‹, 38 f. Zu diesen Zusammenhängen auch: Quante (2011a): Die Wirklichkeit des Geistes. Studien zu Hegel, 233 f. 12 Nancy (2012): singulär plural sein, 27. ‚Les gens sont bizarres‘, die Leute sind sonderbar, auf diesen Satz lässt sich für Nancy das Verhältnis von Selbst und Anderem zuspitzen. ‚Les Gens‘ ist dabei gleichsam eine Aussage der Nähe wie des Abstands. Der Nähe insofern, da der Ausruf ‚die Leute‘ immer auch insofern auf den Sprecher selbst zurückfällt, als er sich damit in eine Beziehung zu dem beobachteten Gegenstand setzt. Auszusagen, dass ‚die Leute sonderbar sind‘, schließt den Sprecher, so Nancy, gewissermaßen in die diagnostizierte Sonderbarkeit mit ein. ‚Les gens‘ drückt gleichermaßen Ferne aus, weil ‚gens‘ nur zahlreich existiert, unterschieden in seiner Allgemeinheit und fassbar nur in einer paradoxen Simultanität der Menge. 13  Siehe hierzu: Siep (2000): Der Weg der Phänomenologie des Geistes. Ein einführender Kommentar zu Hegels „Differenzschrift“ und „Phänomenologie des Geistes“, 9. Zugleich kann darauf insistiert werden, dass entgegen anders lautender Einschätzung den hegelschen Ideen durchaus systematische Kraft zuerkannt wird. So zum Beispiel: Schnädelbach (2000): „Nicht Hegel vergessen, aber sein System historisieren.“ In diesem Sinne wird den hegelschen Spuren nicht einfach kritiklos gefolgt. Zugleich soll die Auseinandersetzung aber so detailliert erfolgen, dass die schon bei Hegel angelegten Spuren für ein gehaltvolles Verständnis

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II. Teil: In prekären Verhältnissen

Hegel erheben dabei weder den Anspruch, den mehr als zahlreichen elaborierten und zum Teil weitverzweigten Hegelinterpretationen einen weiteren oder gar den entscheidenden Interpretationsstrang hinzuzufügen. Vielmehr soll, auf den Spuren eines präzisen Verständnisses von Anerkennungs- und Verkennungsprozessen, die von Hegel gelegte Spur einer intersubjektiven Anerkennung, verstanden als „soziale Konstituiertheit“ eines Selbstbewusstseins, weiterverfolgt werden. Hegels Überlegungen werfen die Frage auf, wer oder was eigentlich gemeint ist, wenn von einem Selbst die Rede ist.14 Seine Grundannahme ist, dass sich diese Frage nur dann sinnvoll beantworten lässt, wenn man zunächst klärt, wie es überhaupt möglich ist, dass sich ein Selbst als Selbst wahrnimmt und damit eine Vorstellung – oder in Hegels Worten: ein Bewusstsein15 – seiner selbst geeines Konzeptes intersubjektiver Anerkennung sichtbar gemacht werden. In ähnlicher systematischer Verortung: Halbig, et al. (2004): Hegels Erbe, 7. 14 Hegel (1986f): Phänomenologie des Geistes, 137 f. 15  In Hegels Ausführungen gilt es, gründlich zwischen der Perspektive des philosophischen Metabeobachters und der Selbsterfahrung des Selbstbewusstseins zu unterscheiden. Vgl. hierzu auch: Quante (2011a): Die Wirklichkeit des Geistes. Studien zu Hegel, 232 f. Aus der Perspektive der Selbsterfahrung nimmt das Bewusstsein in seiner Auseinandersetzung mit einem Gegenstand das Ding zwar als eines wahr, aber als ein Ding von allgemeinen Eigenschaften, die zugleich über den einen Gegenstand hinausweisen und sich als eigentlicher Gegenstand erweisen. Die Wahrnehmung muss sich korrigieren und erfasst den Gegenstand als das „Auch“ seiner Eigenschaften. Das bestimmte Ding ist nicht mehr der Gegenstand selbst, sondern seine Eigenschaften, die sich, wie schon in der theoretischen Beobachtung gesehen, zueinander ein- und ausschließend verhalten können. Damit aber ist der Wahrnehmung ihr Gegenstand gänzlich verloren gegangen: Es bleibt der Wahrnehmung ein großes Rauschen, in der sie nicht mehr die Dinge selbst, sondern nur die Gleichgültigkeits- und Ausschließungskriterien der Eigenschaften betrachten kann. Die Wahrnehmung versucht nun, sich gegen das völlige Entgleiten jeder Distinktionsmöglichkeit zu wehren: „Das Einfache und Wahre, das ich wahrnehme, ist aber hiermit auch nicht ein allgemeines Medium, sondern die einzelne Eigenschaft für sich, die aber so weder Eigenschaft noch ein bestimmtes Sein ist; denn sie ist nun weder an einem Eins, noch in Beziehung auf andere.“ Hegel (1986f): Phänomenologie des Geistes, 98. Ohne die Beziehung zu dem Ding und ohne den (distinguierenden) Bezug zu anderen Eigenschaften ist eine solche singularisierte – und gewissermaßen auch isolierte – Eigenschaft dann aber keine Eigenschaft mehr, sondern lediglich sinnliches Sein. Damit aber ist das Wahrnehmen in seinem Versuch, eine distinguierte Präzisierung von Einzelnem und Vielem vorzunehmen, in zweifacher Weise wieder zum Anfang zurückgeworfen: Es ist in der Auffassung der Dinge wieder in den Modus der sinnlichen Gewissheit gedrängt worden und zugleich ist das Bewusstsein wieder in sich selbst zurückgekehrt, indem es erkennt, dass die Unwahrheit, die in seiner Auffassung der Dinge liegt, in es selbst fällt. Vgl. Hegel (1986f): Phänomenologie des Geistes, 99. Gewonnen hat das Bewusstsein, indem es die Reflexionsprozesse der Wahrnehmung durchläuft, die Möglichkeit, sein Auffassen des Wahren mit der Unwahrheit eines Wahrnehmens abzugleichen. Das Verhalten des Bewusstseins ist also nun so beschaffen, dass es sich seines Setzens der Dinge als etwas bewusst wird und dieses von dem Modus der sinnlichen Auffassung abgrenzen kann. „Dies Ding ist also in der Tat nur weiß an unser Auge gebracht, scharf auch, an unsere Zunge, auch kubisch, an unser Gefühl […].“ Hegel (1986f): Phänomenologie des Geistes, 99. Ein solcher ‚Schachzug‘ des Bewusstseins birgt außerdem das Problem, dass die Eigenschaften nicht mehr an den

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neriert. Um dies zu untersuchen, bestimmt Hegel drei Interaktionsverhältnisse zwischen einem Selbst und seiner Umwelt. Erstens das Verhältnis der Verdoppelung, zweitens die Begierde und drittens die Anerkennung. Als Verdoppelung bezeichnet Hegel den Prozess, in dem das Selbst die Wirklichkeit zwar als Gehalt des eigenen mentalen Zustandes wahrnimmt, dabei jedoch lediglich sich selbst von sich selbst unterscheidet und sich damit endlos verdoppelt. Das Problem einer solchen endlosen Differenzierung besteht für Hegel darin, dass das Bewusstsein sich selbst als Selbst lediglich wahrnehmend, nicht aber als aktiv hervorbringend versteht. Um zu einer aktiven Tätigkeit des Bewusstseins zu gelangen, muss das Selbst zwischen dem Bewusstsein von den mentalen Tätigkeiten über die Wahrnehmung der Wirklichkeit und den menDingen selbst erscheinen, sondern nur noch die Dinge der Wahrnehmung sind. Damit aber sind die Dinge als Dinge nicht mehr voneinander unterscheidbar: Dem Setzen der Dinge als etwas fehlt somit ein Korrektiv, welches das Ding als Ding und nicht bloß als Ding der Wahrnehmung fassbar macht. Auf diese erneute Emergenz des Rauschens reagiert das Bewusstsein aufgrund seiner bisherigen Erfahrungen, indem es das Ding als das Bestehen der vielen und unabhängigen Eigenschaften auffasst: „[E]s ist weiß, auch kubisch, auch scharf […].“ Hegel (1986f): Phänomenologie des Geistes, 101. In diesem Stadium der Wahrnehmung zeichnet sich das Verhältnis von Einzelnem und Vielem durch zwei Aspekte aus: Zum einen wird das Eins des Dings angesichts seiner vielfältigen Allgemeinheit von dem Bewusstsein gesetzt und kann damit nur vermeint, nicht aber an den Dingen von einer anderen Vermeinung unterschieden werden. Zum anderen wird das Ding zum wahrhaften Auch erhoben, zu einer „bloß umschließenden Oberfläche.“ Hegel (1986f): Phänomenologie des Geistes, 101. Das Bewusstsein, so überlegt Hegel nun drittens weiter, setzt abwechselnd das Ding wie auch sich selbst zu einem vielheitslosen Eins, wie auch zu einem sich selbst überlassenen Auch. Das Ding verschwimmt der Wahrnehmung nun gänzlich, indem es sich verdoppelt. Sie setzt das Ding als etwas, versucht weiter zu unterscheiden, verdoppelt dabei jedoch lediglich die Dialektik von Einzelnem und Vielem und potenziert das Ding so bis zu seiner kategorialen Unfassbarkeit. Das Ding ist somit ein einzelnes für sich, insofern es ein einzelnes für ein Anderes ist. Der letzte Versuch der Wahrnehmung, dem Erodieren der Distinktionsmöglichkeiten Einhalt zu gebieten, besteht somit in dem Erfassen via negationis: Das Ding wäre dadurch für sich unterschieden, dass es nicht von sich selbst, sondern nur von dem anderen Ding unterscheidbar ist. Es ist damit für sich, in sich reflektiert, aber dieses Einssein hat es wiederum nur in einem Sein für ein Anderes. Das Ding ist damit aber immer auch ein bedingtes für sich, „neben welchem ein anderes Fürsichsein, die der Einzelheit entgegengesetzte und durch sie bedingte Allgemeinheit, vorkommt.“ Hegel (1986f): Phänomenologie des Geistes, 105. Dadurch aber, dass diese beiden Extreme vereint sind in einem Ding, heben sie sich sogleich wieder auf und sind nicht mehr als die leeren Abstraktionen der Einzelheit und der ihr entgegengesetzten Allgemeinheit. Auch wenn das Bewusstsein versucht, die Einheit aufrechtzuerhalten, gleiten ihm die Dinge nun vollständig ‚aus den Händen‘. Die Wahrnehmung, so resümiert Hegel, versucht, die Wahrheit der Dinge zu erfassen und aufrechtzuerhalten, indem es die Unwahrheit der Dinge auf sich zu nehmen versucht. Damit aber raubt das Bewusstsein, in seinem Versuch, die Distinktionen aufrechtzuerhalten, den Dingen gewissermaßen ihre ‚Natur‘: Selbst das Auf-sich-Nehmen der Unwahrheiten, gewissermaßen als Ausdruck eines starren Festhaltenwollens der Wahrheit der Gegenstände, hebt die Wahrheit der Gegenstände auf. Beinahe sarkastisch summiert Hegel: „Indem er ihnen die Wahrheit dadurch geben will, daß er bald die Unwahrheit derselben auf sich nimmt […] erhält er ihnen nicht ihre Wahrheit, sich aber gibt er die Unwahrheit.“ Hegel (1986f): Phänomenologie des Geistes, 107.

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talen Tätigkeiten selbst unterscheiden.16 Die leere, bloß „gedoppelte Form des Selbstbewusstseins“17 ist für Hegel erst dann aufgehoben, wenn das Bewusstsein als Selbstbewusstsein – und damit die Einsicht in die Abhängigkeit der Dinge von der eigenen Erkenntnis – zu sich selbst kommt: „Das Bewußtsein hat erst in dem Selbstbewußtsein […] seinen Wendepunkt, auf dem es aus dem farbigen Scheine des sinnlichen Diesseits, und aus der leeren Nacht des übersinnlichen Jenseits in den geistigen Tag der Gegenwart einschreitet.“18 Das Bewusstsein durchläuft in der Auseinandersetzung mit den ihm gegenüberstehenden Dingen einen genealogischen Prozess und gelangt so zu einem Bewusstsein seiner selbst. In der Erkenntnis des Wissens von Wissen wird das Bewusstsein in sich zurückgedrängt und zieht wieder aus, um dann schließlich das Erkennen der Wahrheit der Dinge als das Werden einer Erkenntnis seiner selbst zu entdecken. Ein in dieser Weise verdoppeltes Selbstbewusstsein bedarf eines Gegenstandes – oder mit anderen Worten einer Erfahrung –, der dem Selbst verdeutlicht, dass seine Bewusstseinsleistung einen konstituierenden, einen wirklichkeitssetzenden und verändernden Anteil hat: Das Selbstbewusstsein muss als Gegenstand seines Bewusstseins sowohl Reflektierendes als auch Reflektiertes sein, und eben nicht mehr bloß als ein solches erscheinen19 . Als zweite Prozessbeschreibung einer Ausrichtung des Bewusstseins auf einen Gegenstand wählt Hegel den Terminus der Begierde und damit einen Ausdruck, „der nicht auf eine mentale, sondern eine leibliche Aktivität verweist.“20 Ein solches Begehren lässt sich – im Sinne einer genealogischen Steigerung verstanden – in drei unterschiedlichen Dimensionen entfalten. Die Rede von der Begierde bedarf erstens eines Gegenstandes oder eines Wirklichkeitsbereiches, auf den sie sich bezieht. Um zu erklären, warum und inwieweit das Bewusstsein motiviert wird, sich auf einen solchen Wirklichkeitsbereich zur Befriedigung seiner elementaren Bedürfnisse einzulassen, schlägt Hegel zunächst den Begriff des Lebens vor. 21 Die den zusammenhangslos produzierten Gegenständen mittels des Begriffes des Lebens unterstellte Gemeinsamkeit – im Sinne einer zugrunde liegenden Beobachtungskriteriologie – bildet dabei eine neue Stufe der Wahrnehmung der synthetischen Kraft des Bewusstseins und markiert den Wendepunkt, an dem das Individuum beginnt, die Welt als abhängig von den eigenen Erkenntnissen zu begreifen. Eng mit einer solchen Erkenntnis ist verbunden, dass nun das Selbst beginnt, sich selbst in Relation zu seinem 16  Vgl. Hegel (1986e): Jenaer Systementwürfe I, Das System der spekulativen Philosophie. Fragmente aus Vorlesungsmanuskripten zur Philosophie der Natur und des Geistes, 194 f. Siehe dazu auch: Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 59–61. 17 Honneth (2010a): Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie, 20. 18 Hegel (1986f): Phänomenologie des Geistes, 145. 19  Vgl. Hegel (1986f): Phänomenologie des Geistes, 139. 20 Honneth (2010a): Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie, 19. 21  Vgl. Sell (2013): Der lebendige Begriff. Leben und Logik bei G.W.F. Hegel.

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Gegenstand als seinem Wirklichkeitsbereich zu setzen. Erschien das Selbst in dem Prozess der Selbstbeobachtung zunächst als ein „welt- und körperloses, unsituiertes Ich“22, so fängt es nun an, sich selbst als einen Teil der beobachteten Wirklichkeit zu verstehen. In den Auseinandersetzungen mit den Prozessen des Lebendigen erkennt es, dass es selbst Teil des Lebendigen ist, in bestimmten Gattungsschemata steht und Träger eines Bewusstseins ist. 23 Mit anderen Worten: Das Selbst verortet sich, involviert sich und beginnt anhand der von ihm konstruierten Wirklichkeit, die eigene Lebendigkeit zu erkennen. Die (Selbst-) Vergewisserung über die eigene topologische Verortung denkt Hegel dabei so, dass das Selbst versuchen muss, die Gegenstände seiner Umwelt dadurch aufzuheben, dass es diese in sich integriert und sie dadurch negiert. „Der Nichtigkeit dieses Anderen gewiß, setzt es für sich dieselbe als seine Wahrheit, vernichtet den selbständigen Gegenstand und gibt sich dadurch die Gewißheit seiner selbst als wahre Gewißheit, als solche, welche ihm selbst auf gegenständliche Weise geworden ist.“24 Die Begierde bezeichnet für Hegel also den Prozess, indem sich das Selbst seiner selbst (alleine) dadurch gewiss wird, dass es das Andere, welches ihm gegenübersteht, negiert und insofern aufhebt. Das so konstituierte Selbst ist dabei ein sich zugleich innerhalb wie außerhalb des Lebens Befindliches: Es erfährt sich einerseits als Teil des Lebens, setzt sich aber mittels seines Bewusstseins zugleich als Zentrum eines solchen. 25 Drittens macht das Selbst nun aber, indem es begehrt und verzehrt, die Erfahrung, dass es sich täuscht. Es kann die Gegenstände seiner Umwelt nicht ohne Weiteres aufheben, sondern gewahrt, dass sich die Dinge gegen die verzehrende Begierde sperren und der Versuch der Befriedigung der Begierde geradezu eine Selbstständigkeit – gewissermaßen gar eine Widerständigkeit der Gegenstände, der Welt, in der sich das Selbst verortet sieht – hervorruft. Das beständige Einverleibenmüssen 26 oder, anders ausgedrückt, der beständige Versuch, die Dinge unermüdlich unter die eigene Herrschaft zu bekommen, scheint die Gegenstände ins Unermessliche zu vermehren 27: „Das Selbstbewusstsein 22 Honneth

(2010a): Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie, 20. Vgl. Hegel (1986f): Phänomenologie des Geistes, 143. 24 Hegel (1986f): Phänomenologie des Geistes, 143. 25  Eine ähnliche Denkfigur findet sich auch bei Helmuth Plessner. Plessner bezeichnet das Zugleich-innerhalb-wie-außerhalb-der-Natur-Sein als ‚exzentrische Positionalität‘ des Menschen, die ihn von anderen Lebewesen abgrenzt, die in einer solchen Konzeption zwar durchaus eine zentrische, aber eben keine sich zu sich selbst verhaltende Positionalität entfalten können. Vgl. Plessner (1975b): Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, 129 f. 26  Einen solchen Versuch, sich selbst beständig selbst hervorbringen zu müssen, hat Peter Sloterdjik als Anthropotechnik bezeichnet. Es wäre zu untersuchen, ob sich zwischen Sloterdjiks Begriff der Anthropotechnik des Übens und Hegels Rede von der Begierde nicht ertragreiche Parallelen aufzeigen lassen. Siehe exemplarisch: Sloterdijk (2009): Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. 27  Die in der Wortwahl implizierte Nähe zu den Beobachtungen des frühen Bruno Latour 23 

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vermag also durch seine negative Beziehung ihn [den Anderen, MB] nicht aufzuheben; es erzeugt ihn darum vielmehr wieder, so wie die Begierde.“28 Den Prozess der Genese von Selbstbewusstsein beschreibt Hegel an dieser Stelle der Phänomenologie des Geistes so, dass das Selbst an der selbst gesetzten Suggestion seiner eigenen Machtvollkommenheit leidet. Trotz seiner massiven Bemühungen, sich an und in den Dingen zu verzehren, erfährt es sich immer wieder als eingebettet in eine konstituierende Relationalität, wobei ihm zugleich die Suggestion der eigenen Machtvollkommenheit eine Einordnung in einen relationalen Konstituierungszusammenhang verwehrt. Interessanterweise sucht Hegel die Auflösung aus dieser Kreisbewegung der Begierde nun in der Selbstständigkeit der gegenübertretenden Objekte. „Um der Selbstständigkeit des Gegenstandes willen kann es [das Selbst, MB] daher zur Befriedigung nur gelangen, indem dieser [der Gegenstand, MB] selbst die Negation an ihm vollzieht; und er muß diese Negation seiner selbst an sich vollziehen, denn er ist an sich das Negative, und er muß für das Andere sein, was er ist. […] Das Selbstbewußtsein erreicht seine Befriedigung nur in einem anderen Selbstbewußtsein.“29 Begründet in dieser Interdependenz der Selbstbewusstseine liegen für Hegel – als eine dritte Verhältnisbestimmung – sowohl die Ermöglichung wie auch zugleich die Notwendigkeit intersubjektiver Anerkennungsprozesse. Um den Begriff der Anerkennung schärfer konturieren zu können, zielt er dabei, in Anknüpfung an seine frühere Unterscheidung von für sich sein und für andere sein als Ausdruck des Bezugs eines Selbstbewusstseins zu einem anderen Selbstbewusstsein, auf den Unterscheid von an sich sein und für sich sein: „Das Selbstbewusstsein ist an und für sich, indem und dadurch, daß es für ein Anderes an und für sich ist; d.h. es ist nur ein Anerkanntes.“30 Anerkennung wird damit (zunächst) als ein dynamischer, zugleich bewegter wie bewegender Prozess verstanden, in dem sich eine wechselseitige Interaktion zwischen (mindestens) einem Selbstbewusstsein mit einem Anderen als einem anderen Selbstbewusstsein ereignet. Zugleich gerät das Selbst in der Begegnung mit einem anderen Selbstbewusstsein außer sich31 und ist nach der Begegnung mit einem Anderen nicht mehr dasselbe. Das Selbst kann nun nicht mehr umhin, sich in dem Blick des Anderen als ein Anderes wahrzunehmen. Mit diesem macht auf verblüffende Art und Weise die durchaus vorhandenen Parallelen in den Arbeiten von Latour und Hegel deutlich. Umso erstaunlicher ist es von daher, dass Latour Hegel in „Wir sind nie modern gewesen“ weder erwähnt noch auf ihn rekurriert. Es wäre eine eigene Arbeit, diese Verbindungslinien auf ihre weitere Belastbarkeit zu prüfen. Unstrittig erscheint dabei, dass beide Denker ausgehend von dieser gemeinsamen Diagnose völlig unterschiedliche weitere Wege einschlagen. Siehe auch: Latour (2008): Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, 53–60. 28 Hegel (1986f): Phänomenologie des Geistes, 143. 29 Hegel (1986f): Phänomenologie des Geistes, 144. 30 Hegel (1986f): Phänomenologie des Geistes, 145. 31 Hegel (1986f): Phänomenologie des Geistes, 146.

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Doppelsinn von Selbstverlust und Alteritätsgewinn kann das Selbst, so Hegel, nun nur so umgehen, dass es versucht, wieder zu sich selbst zurückzukommen, sich gewissermaßen wieder aus dem Anderen heraus zu isolieren und hierdurch das andere selbstständige Wesen aufzuheben. Zugleich – und damit ist die Ambiguität dieses Prozesses zumindest angedeutet – hebt sich das Selbst aber in der Aufhebung des Anderen selbst auf, „denn dies Andere ist es selbst.“32 Das Selbst, so führt Hegel weiter aus, erfährt auf diese Weise, dass sich seine Begierde nicht mehr auf ein passives Objekt richtet, sondern auf ein anderes Selbstbewusstsein, das in gleicher Weise begehrt. Anders als in seiner Begegnung mit unbelebten Dingen gerät das Selbst angesichts der Selbsttätigkeit des Anderen nun vollständig außer sich: Es erkennt sich als ebenso aufgehoben, wie es selbst Andere und Anderes negiert, und erfährt sich in seiner Freiheit, die es bislang als seine exklusive Eigenschaft erfasst hatte, beschränkt.33 Das Selbst ringt also gegen sich und gegen Andere(s) und in gleicher Weise ringt das andere Selbstbewusstsein gegen sich und gegen das Selbst als Anderes. Hegel bezeichnet diesen Vorgang als doppelte Doppelsinnigkeit von Anerkennungsprozessen.34 Doppelsinnig sind Anerkennungsprozesse laut Hegel insofern, als ihnen sowohl die Dialektik von ‚gegen sich‘ und ‚gegen Andere(s)‘ als auch die Dia­lektik inhärent ist, dass es sich bei den beschriebenen Einschluss- und Ausschlussprozessen sowohl um das Tun des Einen als auch das Tun des Anderen handelt. Zugleich unterlegt Hegel die Anerkennungsprozesse zwischen Selbst und Anderem mit einem Vektor: Der Prozess der doppelten Doppelsinnigkeit beschreibt insofern eine Rückkehr des Selbst in sich selbst, als es in dem Prozess der zweiten Doppelsinnigkeit die Ambiguität der ersten Doppelsinnigkeit aufhebt: Das Selbst gibt dem Anderen sein Selbstbewusstsein wieder frei, „[…] denn es war sich [MB] im Anderen, es hebt dies sein Sein im Anderen auf, entlässt also das Andere wieder frei.“35 Ein solches Handeln gegen sich selbst und gegen den Anderen, verbunden mit dem Ziel, zu einer ausbalancierten Symmetrie der Anerkennungsverhältnisse von Selbst und Anderem zu gelangen, versucht Hegel mit dem Begriff des Kampfes zu fassen. Die miteinander ringenden, sich wechselseitig aufheben wollenden und sich dabei nur umso mehr ineinander verstrickenden Protagonisten setzen sich wechselseitig als Herr und Knecht, unterwerfen sich und ersuchen den Anderen zu unterwerfen. Macht, so lässt sich in Anlehnung an Foucault resümieren, ist dabei zum einen ein (notwendiger) Konstitutionsvektor des Subjektes, setzt das Selbst in einen Zusammenhang, den es sich nicht selbst ausgesucht hat und den es nicht selbst gesetzt hat. 36 Selbst 32 Hegel

(1986f): Phänomenologie des Geistes, 146. Vgl. auch: Kain (2005): Hegel and the Other. A Study of the Phenomenology of Spirit. 34  Vgl. Hegel (1986f): Phänomenologie des Geistes, 145 f. 35 Hegel (1986f): Phänomenologie des Geistes, 146. 36  Vgl. Foucault (2002): Dits et Ecrits 1954–1988. Band II: 1970–1975. So führt Foucault unter anderem aus: „Die Machtbeziehungen bilden nicht den Überbau, der nur eine hem33 

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und Anderer finden sich also in einem fremden Zusammenhang vor und unterwerfen einander: eine Unterwerfung, die einerseits gelingend integriert und gestaltet werden kann, die aber zugleich offen ist für Signaturen der Fra­ rüche aufweist und mitunter nicht integrierbare Ambiguitägilität, die B ten hinterlässt. Gerade weil das Selbst das Fortdauern seiner selbst begehrt, tritt es ein in einen wechselseitigen Prozess von Unterwerfung und Unterwerfen. Anerkennung, so lässt sich vorläufig summieren, bezeichnet eine plurale, intersubjektive Verfasstheit des Selbstbewusstseins, aus der das Selbst erst als Selbst hervortreten muss. Ein solches Selbst hat seinen Ursprung nie ganz bei sich, sondern ist ein angewiesenes, ein dadurch auch fragiles Selbst, das wesentlich durch sein ‚Mit-Sein‘, durch sein ‚Füreinander‘ konstituiert ist und sich im Prozess der Teilhabe an sozialen Praktiken vollzieht. 37 Zugleich bleibt das von Hegel entwickelte Selbst immer eines, welches sein vorauseilendes Ganzheitspathos nie ganz abzustreifen vermag. Es bleibt zumindest strittig, inwiefern das Selbst bei Hegel sich wirklich voll und ganz auf die Verstrickungen des Besonderen einlassen kann. Es scheint vielmehr, als bliebe für Hegel das Selbst vorrangig ein Begehrendes, ein „Subject of Desire“38, das zu seiner ursprünglichen Allgemeinheit zurückkehren muss. Ein Grund für diese Engführung könnte in der von Hegel skeptisch beobachteten abnehmenden Selbstverständlichkeit von Strukturen kosmischer Ordnungsmuster bestehen.39 Umso mehr sieht Hegel eingedenk einer solchen Diagnose die Notwendigkeit, an einem starken Selbsterhaltungstrieb festzuhalten, indem Andere und Anderes nur bedingt als bleibend Fremdes mitgedacht werden können.40 Zugleich, und das wird im weiteren Nachdenken über die Prozesse intersubjektiver Anerkennung weiter zu eruieren sein, unterstellt Hegel eine grundlegende Versöhnbarkeit eines Selbst mit seinen zerrissenen Verhältnissen.41 Versöhnt wird das Selbst mit sich insofern, als es erst in dem Aufgehen im Allgemeinen ein reines Selbst-Sein finden kann. Von der Rede eines Selbst bliebe dann nur mende oder aufrechterhaltende Rolle spielt – wo sie eine Rolle spielen, wirken sie unmittelbar hervorbringend.“ Foucault (1977a): Der Wille zum Wissen (Sexualität und Wahrheit Bd.1), 94. 37  Vgl. Menke (2010): Autonomie und Befreiung, 685. 38  Butler unternimmt in dem gleichnamigen Buch „Subjects of Desire“, in Anknüpfung an Hegels Ausführungen zur Begierde, den Versuch, die konstatierte Spannung zwischen Begierde als dem Synonym für ein affektives Handeln und der (berechtigten) Forderung nach Rationalität als Grundmoment deliberativer Entscheidungsfindung zu versöhnen: „[T]he metaphysical place of the human subject is articulated through the immanent rationality of desire, for desire is at once the fundamental striving of the human subject and the mode through which that subject rediscovers or constitutes its necessary metaphysical place.“ Butler (2012d): Subjects of Desire. Hegelian Reflections in Twentieth-Century France, 5. Zur kritischen Auseinandersetzung siehe Kapitel 5.3. 39  Vgl. Taylor (1983): Hegel, 16 f., 490, 570. 40  Vgl. hierzu auch: Blumenberg (2014): Beschreibungen des Menschen, 121 ff. 41  Dass ein solches Ganzheitspathos des Selbst begründet ist in der Geschichtsphilosophie Hegels, zeigt Koschorke (2015): Hegel und wir, 120–131.

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übrig, was es einmal gesagt hat, denn nur das Gesagte könnte verlässlich erinnert und damit Teil einer allgemeinen Weltgeschichte werden. Durch die Reduktion des Selbst-Seins auf das, was es einmal gesagt und getan hat, würde in der Konsequenz jedoch die Differenz zwischen der Bedeutsamkeit der Rede zu und mit Anderen und der referenziellen Reflexion über die Rede, die immer auch partielle Elemente des Bedeutsamen negieren muss, nivelliert.42 Obwohl die hegelsche Theorie einer intersubjektiv verstandenen Anerkennung in der Gefahr steht, einen Selbstbezug letztlich so denken zu müssen, dass darin der Andere keinen eigenen Platz hat, sondern von dem begehrenden Selbst wieder aus dem Selbstbezug exkludiert werden kann, lässt sich eine Spur des weiteren Nachdenkens über das Konstituierungsnetz zwischen Selbst und Anderem, zwischen einem „Ich, das Wir [ist,] und [einem] Wir, das Ich ist“43 finden. In dem bisherigen Gedankengang hat sich gezeigt, wie Anerkennung als ein wechselseitiger Prozess zwischen Selbst und Anderem gedacht werden könnte, allerdings bisher noch in der Hinsicht, dass dieser antagonistische Wettstreit44 tendenziell in eine Richtung, nämlich der Exkludierung des Anderen aus der Konzeption des Selbstbewusstseins, aufgelöst wird. Die leisen Zweifel, die schon Foucault an einer solchen Auflösung hegt,45 werden nun weiterverfolgt, indem die gelegten Spuren vertieft und kritisch beleuchtet werden. Dafür bieten sich die Arbeiten Axel Honneths besonders an, da der Frankfurter Sozialphilosoph sich nicht nur dezidiert an Hegels Gedankengebäude orientiert und an diesem abarbeitet, sondern seine Erörterungen zum Anerkennungsbegriff für zahlreiche aktuelle Arbeiten – zumeist allerdings lediglich implizit – wichtige Inspirations- wie Abgrenzungsfolie sind.

4.2 Zwischen Moral und praktischer Sittlichkeit Honneth beginnt seine Überlegungen zum Anerkennungsbegriff, indem er an die Sittlichkeitskonzeption Hegels anknüpft und sozialempirische Korrekturen vornimmt, die er in Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Talcott Parsons46 und George Herbert Mead gewinnt.47 Dabei teilen Honneth und 42 

Vgl. ebenso: Liebsch (2012): Prekäre Selbstbezeugung. (1986f): Phänomenologie des Geistes, 145. 44  Der antagonistische Wettkampf als ein wesentliches Signum ist bei Hegel, anders als dann bei A. Honneth, der Bewegung des Anerkennens, als dem Telos der Dynamik des Geistes, untergeordnet. 45  Vgl. exemplarisch: Foucault (2005): Dits et Ecrits 1954–1988. Band IV: 1980–1988, 275. 46  Siehe insbesondere: Parsons (1951): The Social System sowie: Parsons (1979): Sozialstruktur und Persönlichkeit. 47 Vor allem in Auseinandersetzung mit: Mead (1987c): Die soziale Identität, Mead (1987b): Die Definiton des Psychischen, Mead (1987a): Der Mechanismus des sozialen Bewusstseins, Mead (1987d): Soziales Bewusstsein und das Bewusstsein von Bedeutung. In der Entwicklung seiner Anerkennungstheorie bezieht sich Honneth anfänglich noch maßgeblich auf Mead und sieht in dessen Entwurf eine der wesentlichen Brücken zwischen einer hegelschen 43 Hegel

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Hegel48 die Diagnose, dass eine Person als Person nur dann adäquat bestimmt werden kann, wenn man über den methodischen Reduktionismus der kantischen Moral- und Rechtstheorie hinausgeht und Individuen nicht allein als vernünftige Moral- und Rechtspersonen betrachtet, deren sittliche Handlungen dann als das Resultat von Vernunftleistungen anzusehen sind.49 Vielmehr folgt Honneth dem Grundimpuls Hegels, Individuen als von einer sittlichen Einheit aller her bestimmt zu verstehen – einer Einheit, die sich in den öffentlich praktizierten Sitten als intersubjektivem Ausdruck der jeweiligen individuellen Besonderheiten konkretisiert.50 Nicht die isolierten Handlungsvollzüge der Subjekte, so der Ausgangspunkt der Überlegungen Honneths, konstituieren die Grundlage einer Gemeinschaft, sondern die Existenz von elementaren Formen intersubjektiven Zusammenlebens, welche dann ihrerseits die individuellen Handlungsvollzüge der Subjekte ermöglichen.51 Intersubjektiv wird von Honneth dadurch charakterisiert, dass ein Selbst, welches sich durch ein anderes in seiner Besonderheit anerkannt weiß, gleichfalls bereit sein muss, die unverwechselbare Identität des jeweils Anderen als eine besondere zu verstehen. Eine solche Reziprozität, verstanden als eine konstituierende intersubjektive Anerkennung eines Selbst durch einen Anderen, stellt eine erste notwendige Bedingung für die Entwicklung eines gehaltAnerkennungstheorie und seiner dann eigenen Konzeption, distanziert sich aber in seinen später folgenden Schriften wieder von diesem. So hatte er zu Beginn seiner Arbeiten, noch in direktem Gefolge von Mead, wechselseitige Anerkennung als einen Prozess der individuellen Herausbildung eines sozial begründeten ‚me‘ gesehen, welchem in dem ‚I‘ die Quelle einer steten Revolte gegen etablierte Anerkennungsformen entgegensteht. Demgegenüber sieht Honneth dann später die Notwendigkeit einer bewussten Abkehr von Mead, da Mead den Begriff der Anerkennung zu sehr auf den Akt der wechselseitigen Perspektivübernahme beschränke, dabei aber der Perspektive des jeweils Anderen keine konstitutive Affizierung des Selbst zuspreche. Vgl. Honneth (2012b): Der Grund der Anerkennung. Eine Erwiderung auf kritische Rückfragen, 312. 48  Hier vor allem: Hegel (2002): System der Sittlichkeit [Critik des Fichteschen Naturrechts], Hegel (1976): Jenaer Systementwürfe III: Naturphilosophie und Philosophie des Geistes. Vorlesungsmanuskript zur Realphilosophie (1805/1806) (AA 8) sowie Hegel (1986f): Phänomenologie des Geistes. 49  Vgl. auch: Bedorf (2010b): Verkennende Anerkennnung, 45. 50  Vgl. Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 23. Den Gedanken einer solchen sittlichen Einheit entfaltet Honneth dann in seinen jüngsten Monografien in der Figur einer sozialen Freiheit. Vgl. Honneth (2013a): Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit & Honneth (2015a): Die Idee des Sozialismus. Versuch einer Aktualisierung. 51  Vgl. Honneth (2011): Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, 85 f. Zur Kritik an Honneths Engführungen vor allem hinsichtlich seiner Vorstellungen zu den Konstituierungsmomenten von Gemeinschaft siehe: Freyenhagen (2015): Honneth on Social Pathologies: A Critique, McNeill (2015): Social Freedom and Self-Actualization: „Normative Reconstruction‘ as a Theory of Justice & McNay (2015): Social Freedom and Progress in the Family: Reflections on Care, Gender and Inequality. Axel Honneth hat in demselben Special Issue auch eine Erwiderung auf die Kritik formuliert: Honneth (2015b): Rejoinder.

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vollen Konzeptes eines personalen Selbst dar. So führt Honneth aus: „[D]er Umstand, daß die Möglichkeit der positiven Selbstbeziehung allein mit der Erfahrung von Anerkennung gegeben ist, läßt sich als ein Hinweis auf notwendige Bedingungen der individuellen Selbstverwirklichung verstehen.“52 Honneth zielt mit seinen Überlegungen darauf ab, dass ein gehaltvolles Verständnis individueller Selbstbestimmung nur in dem Maße gewonnen werden kann, wie man in deren Entfaltung von den öffentlich praktizierten Sitten ausgeht. Gehaltvoll von personaler Autonomie und autonomer Selbstbestimmung53 zu sprechen, bedeutet für Honneth, den Blick auf die relationalen, und damit topografisch verortbaren Konstituierungsräume zu richten und von diesen her nach den Bedingungsmöglichkeiten partikularer und universaler Ordnungsschemata zu fragen. Die sittlichen Anerkennungsbeziehungen der Individuen untereinander werden als Ausgangspunkt verstanden, von dem aus der Bedeutungsgehalt personaler Autonomie betrachtet, erkannt und konzipiert werden kann. Honneths grundsätzliche Überlegungen hinterfragen zunächst einmal den in weiten Teilen der biomedizinischen Ethik vorherrschenden Primat der Autonomie als geltender universaler Norm. In diesen Ansätzen wird vielfach nicht hinreichend auf konstituierende gesellschaftliche oder gemeinschaftliche Bedingungsfaktoren individueller Selbstverwirklichung geblickt.54 Nicht zuletzt zeigt sich in den virulenten Fragen nach ethischen Kriterien für die Bemessung von Handlungsspielräumen im Umgang mit Zwang in psychiatrischen Kontexten, dass das, was als Artikulation der jeweiligen Selbstverwirklichungsmuster anerkannt werden soll, eben nicht einfach offenkundig, sondern mitunter abhängig von den jeweiligen Mustern sittlicher Praxis ist. Mit anderen Worten: Es geht Honneth darum, den Primat der Moral, hier verstanden als Gesichtspunkt universaler Achtung vor der praktizierten Sittlichkeit, zugunsten eines Primats der Sittlichkeit vor der diese dann erst ermöglichenden Moral aufzurichten. Entsprechend kann Autonomie nur als relationaler Begriff eine tragfähige Begründung haben und insofern gerade als universaler Geltungsanspruch nicht hinter eine solche relationale Verortung zurückfallen.55 52 Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 278. 53  Vgl. zu den Begrifflichkeiten auch Kapitel 7.3. 54  Gewissermaßen paradigmatisch fokussieren Johann S. Ach und Sabine Schicktanz in einem gemeinsam verfassten Artikel zu aktuellen Konzepten sog. relationaler Autonomie diese Problematik. Sie unterscheiden dabei zwischen einem Verständnis von Autonomie als universaler Norm und unterschiedlichen Konzepten relationaler Autonomie. Während sie Erstere als Standardmodell innerhalb der ethischen Theorie bezeichnen, wird Letzteren bestenfalls der Status sinnvoller Ergänzungen des Standardmodells zugesprochen. Dabei ist nicht nur die strikte Zuordnung der betrachteten Konzepte unter die strikte Dichotomisierung von Standard und Nicht-Standard zweifelhaft, sondern ebenso fehlt eine inhaltlich-kriteriale Begründung für den Primat des Einen vor dem Anderen. Vgl. Ach & Schöne-­Seifert (2013): „Relationale Autonomie“ Eine kritische Analyse. 55  Vgl. Honneth (2010a): Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie, 62.

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Zugleich muss sich eine solche Konzeption von in intersubjektiven Anerkennungsprozessen relational verorteter Autonomie daran messen lassen, inwieweit der zugesprochene Schutzstatus personaler Autonomie einer Person in unbedingter Weise zukommt. Die Garantie eines Schutzstatus dabei ist insofern prekär, als schon in der kursorischen Auseinandersetzung mit den Arbeiten Hegels deutlich wurde, dass es ja nicht um die Anerkennung zweier bereits vorab hinreichend konturierter Entitäten gehen kann, die sich gegenseitig lediglich noch bestätigen müssen. Vielmehr generiert sich in den Prozessen intersubjektiver Anerkennung überhaupt erst die Möglichkeit, einen Selbstbezug zur Geltung zu bringen. Ist aber nicht nur der Möglichkeitsraum der Autonomie woanders als in einem solipsistischen Selbst begründet, sondern sind auch die normierenden geltungstheoretischen Gehalte selbst fragil, so spitzt sich die Frage nach der mit einer Konzeption personaler Autonomie verbundenen Geltung noch einmal zu. Honneth versucht, diesen Spagat zu vollziehen, indem er sich einerseits von der kantischen Position absetzt und ihr vorwirft, dass sie den Zweck der Moral nicht noch einmal an den konkreten Zielen menschlicher Subjekte aufweist56 , und zum anderen bestrebt ist, nicht einem (sich in sich verschließenden) Kommunitarismus57 zu verfallen, „indem die Geltung der Moralprinzipien von den historisch sich wandelnden Auffassungen des guten Lebens […] abhängig gemacht wird.“58 Gegenüber diesen beiden ‚Ex-tremen‘ versucht Honneth, eine Zwischenposition zu entwickeln, die einerseits die intersubjektiven Bedingungen praktischer individueller Selbstverwirklichung herausstellt und zugleich die Moral als eine Schutzvorrichtung für die Ermöglichung eines guten Lebens setzt.59 Ebenso soll es sich dabei nicht um eine starke, sondern eine schwach vage Vorstellung des Guten handeln, „die sich [als strukturelles Element, MB] unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der kommunikativen Ermöglichung von Selbstverwirklichung von der Vielfalt aller besonderen Lebensformen normativ abheben […]“60 lässt. Das von Honneth entwickelte Œuvre lässt sich also wie folgt skizzieren: Honneth entwickelt seine Konzeption in56 

Vgl. Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 274. Zur Auseinandersetzung mit dem Moralverständnis Kants vergleiche auch: Honneth (2007b): Pathologien der Vernunft. Geschichte und Gegenwart der Kritischen Theorie und besonders: Honneth (2007a): Die Unhintergehbarkeit des Fortschritts. Kants Bestimmung des Verhältnisses von Moral und Geschichte. 57  Vergleiche hierzu vor allem die Position McIntyres, von der Honneth sich immer wieder – gerade hinsichtlich der engen Verwobenheit von individuellem und sozialem Leben – im- und explizit abzugrenzen versucht. Siehe exemplarisch: McIntyre (1995): Der Verlust der Tugend. 58 Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 276. 59  Für die Explikation der Konsequenzen einer solchen Konzeption siehe: Fraser & Honneth (2003): Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse. 60 Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 276.

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tersubjektiver Anerkennung, indem er zunächst einmal bei den praktizierten Formen der Sittlichkeit beginnt und diese als Möglichkeitsräume für die Entwicklung ebenso wie die Gestaltung von individueller Selbstbestimmung sieht. Damit aber ist die Frage nach den gehaltvollen Geltungselementen der Moral nicht etwa schon beantwortet, wie es in kommunitaristischen Konzeptionen möglich wäre, sondern bedarf vielmehr der weiteren Betrachtung. Sind die Freiheitsräume des Einen also gerade nicht umso größer, je geringer die Einschränkungen vonseiten Anderer sind, so ist umso dringlicher zu elaborieren, wie das Verhältnis einer genealogischen Verankerung von Selbstbezügen in den Prozessen intersubjektiver Anerkennung sich zu einem universalen Geltungsanspruch personaler Autonomie verhält. Um diese Spannungen im Folgenden zu deuten, erfolgt in einem ersten Schritt die Auseinandersetzung mit den praktischen Vollzügen der Sittlichkeit als Möglichkeitsraum von individueller Selbstverwirklichung, um dann vor diesem Hintergrund in einem zweiten Schritt die sich ergebenden Herausforderungen zu bearbeiten.

4.3. Sittlichkeit als Eröffnung von individuellen Möglichkeitsräumen Um die notwendigen Ermöglichungsbedingungen personaler Autonomie zu untersuchen, lenkt Honneth den Blick auf die Anerkennungsbeziehungen, welche individuelle Selbstverwirklichung dadurch ermöglichen, dass sie den konstitutiven Interaktionsraum schaffen, in welchem die Individuen lernen, sich selbst durch den Blick des Anderen61 auf sich selbst zu beziehen. Anerkennung bezeichnet nach Honneth zunächst einen Prozess von sich wechselseitig wiederholenden Interaktionen, wodurch die jeweiligen Vereinseitigungen und Partikularisierungen von individuellen Interessen verringert werden (sollen). Mit anderen Worten: Die Individuen ringen – oder eben mit Honneth gesprochen: kämpfen – miteinander um ein ausgewogenes Verhältnis von gleichzeitigem Anwachsen individueller Freiheit auf der einen und Gemeinschaftsbindung 61  Vgl.

auch: Sartre (2012): Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Honneth verweist in seiner Auseinandersetzung mit den Ausführungen Sartres zum ‚Erblickt-Werden‘ zunächst einmal auf das Ineinander von intersubjektiver Anerkennung, verstanden als grundlegende Ermöglichung individueller Selbstverwirklichung, und den mit solchen Anerkennungskonstellationen möglicherweise gleichermaßen eingeschriebenen Asymmetrien. Honneth verdeutlicht, dass mit dem ‚Erblickt-Werden‘ durch ein oder jemand Anderes immer bereits die Machtfrage mit in den Bereich des zu Verhandelnden eingetreten ist. Einer einseitig negativen Engführung, wie sie Sartre vornimmt, indem er das ‚Erblickt-Werden‘ als eine Vereinnahmung und gewaltvolle Degradierung des Erblickten durch den Erblickenden versteht, widerspricht Honneth, indem er auf die Reziprozität der Prozesse zwischen Erblickendem und Erblicktem verweist. Mit dieser Deutung ist keineswegs behauptet, dass es in einer solchen Reziprozität nicht ebenso zu Einseitigkeiten kommen kann, aber diese sind eben nicht bereits notwendigerweise impliziert, sondern gerade vor dem Hintergrund des Eingeständnisses, dass Anerkennung immer auch Verkennungsmomente beinhaltet, als unrechtmäßig zu thematisieren.

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auf der anderen Seite. In jenem beständigen Changieren zwischen diesen beiden Konstituierungspolen vollzieht sich intersubjektive Anerkennung nach Honneth als ein Durchlaufen von unterschiedlichen Anerkennungsstufen. Jene drei Stufen wechselseitiger Anerkennung, materialisiert in den Interaktionssphären von (i) Liebe, (ii) Recht und (iii) Solidarität, bilden dabei den sittlichen Kontinuitäts- wie Diskontinuitätsrahmen für die intersubjektive Gewinnung praktischer Selbstbeziehung. Honneth entwirft ein normatives Modell der Anerkennung, in dem einzelne Subjekte – wobei zu ergänzen wäre, dass es sich auch um soziale Gruppen handeln kann, auch wenn das im Rahmen der weiteren Überlegungen nicht weiterverfolgt wird – dadurch zu (I) Selbstvertrauen, (II) Selbstachtung und (III) Selbstschätzung gelangen, indem sie ihre Selbstverhältnisse in den wechselseitigen Interaktionssphären von Liebe, Recht und Solidarität ‚erkämpfen‘. Den unterschiedlichen Arten des Selbstbezugs kommt dabei insofern je für sich ein besonderes Potenzial der moralischen Entwicklung zu62, als sich auf jeder dieser Sphären „die primäre Absicht einer bestimmten Affirmierung des Gegenübers spiegelt.“63 Dabei schreibt Honneth den Anerkennungssphären von Liebe, Recht und Solidarität unterschiedliche Funktionen zu. In der Anerkennungssphäre der Liebe sollen die Individuen zu einer emotionalen Bindung befähigt werden, auf der Stufe des Rechts bestimmte Rechte zugewiesen bekommen und auf der Stufe der Solidarität sich an gemeinsam geteilten Werten orientieren.64 Die in den jeweiligen Anerkennungsstufen gewonnenen Selbstverhältnisse bilden zusammengenommen „intersubjektive Schutzvorrichtungen, die jene Bedingungen äußerer und innerer Freiheit sichern, auf die der Prozess einer ungezwungenen Artikulation und Realisierung von individuellen Lebenszielen angewiesen ist […].“65 Was Honneth in dem frühen Stadium seiner Theoriebildung entwickelt, ist ein dynamisches Stufenmodell intersubjektiver Anerkennung. Als dynamisch kann ein solches Konzept insofern verstanden werden, als sich die Subjekte in ihren Selbstverhältnissen durch eine sukzessive Erweiterung wechselseitiger Anerkennung individuieren. Zugleich versieht Honneth diesen Individuationsprozess, den er als eine Erweiterungsbewegung der Anerkennung versteht, mit einem Imperativ, den er im sozialen Lebensprozess verankert sieht. Die sukzessive Erweiterung von anerkannten Selbstverhältnissen soll die Individuen dabei „zu einer schrittweisen Entschränkung des Gehaltes der wechselseitigen Anerkennung nötig[en], weil sie nur dadurch 62  Vgl. Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 152. 63 Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 320. 64  Vgl. Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 152. 65 Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 279.

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den stets nachwachsenden Ansprüchen ihrer Subjektivität gesellschaftlich Ausdruck zu verleihen mögen.“66 Der Gehalt der Sittlichkeit wird dadurch angereichert, dass beständig neu ausgehandelt werden muss, wer unter welchen Voraussetzungen als jemand anerkannt werden kann. Darin, dass die Selbstbezüge eine (niedrigere) Stufe der Anerkennungsbeziehung verlassen und eine höhere anzielen, verortet Honneth zugleich eine Anreicherung der Sittlichkeit.67 Getrieben werden die Subjekte von einem Bestreben, mehr über sich selbst zu erfahren, denn mit der positiven Erfahrung einer bestimmten Form von Anerkennung, so Honneth, geht die Eröffnung neuer Identitätsmöglichkeiten und -spielräume einher. In den Modi intersubjektiver Anerkennungsverhältnisse können die Individuen somit ihre Gestaltungs- wie Selbsterfahrungsmöglichkeiten erweitern und „kämpfen“68 wiederum um die Anerkennung von neu gewonnenen Formen der Selbstverhältnisse. Die Anerkennungsformen von Liebe, Recht und Solidarität konstituieren somit den Bedingungsrahmen, unter dem Individuen zu einem positiven Selbstbezug gelangen können. Den Erfahrungen von Missachtung stellt Honneth dabei die Annahme entgegen, dass die reziproke Bejahung unbedingte Voraussetzung für die Eröffnung von jeglichen sozialen wie individuellen Handlungsräumen darstellt. Das in solchen Handlungsräumen gewonnene Selbstvertrauen, die Selbstachtung und die Selbstschätzung sind dann die Expressionsformen eines individuellen Selbst, welches sich mit seinen Zielen und Wünschen zu identifizieren lernt.69 Dabei denkt Honneth die Dynamik der Identifizierungsprozesse in zweifacher Weise als einen Kampf um Anerkennung. Einerseits versteht Honneth den Prozess der Anerkennung an sich als einen Kampf und andererseits muss der Kampf um Anerkennung aber zugleich als eine Reaktion auf sich entwickelnde Einseitigkeiten oder Unvollständigkeiten von Anerkennungsprozessen verstanden werden. Entsprechend zu den positiven Interaktionsformen benennt Honneth Formen der Missachtung, die er als entscheidende Triebfedern für die Generierung eines individuellen Selbstverhältnisses sieht. Ein solcher Akt der Missachtung kann sich ebenso als ein Angriff auf die körperliche Integrität äußern wie auch als Erleben eines Entzuges der fundamentalen Bejahung und damit Angst vor einem drohenden Entgleiten der eigenen Existenzgrundlage. Analog zu Liebe, Recht und Solidarität beschreibt Honneth Vergewaltigung, Entrechtung und 66 Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 148 f. 67  Vgl. Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 31. 68  Zur Frage, wie viel ‚Kampf‘ es wirklich in Honneths Konzept eines Kampfes um Anerkennung gibt und ob Honneth nicht dazu neigt, Machtbeziehungen mit einem Konzept eines Kampfes um Anerkennung nur unzureichend abbilden zu können siehe: Allen (2014): Herrschaft begreifen: Anerkennung und Macht in Axel Honneths kritischer Theorie. 69  Vgl. Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 271.

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Entwürdigung als komplementäre Formen,70 die via negationis bewirken, dass die jeweiligen Anerkennungsverhältnisse auf ein höheres (moralisches) Niveau gehoben werden und zugleich den motivationalen Antrieb für einen sogenannten ‚Kampf um Anerkennung‘ bilden: „Nur weil menschliche Subjekte auf soziale Kränkungen […] nicht gefühlsneutral reagieren können, haben die normativen Muster der wechselseitigen Anerkennung innerhalb der sozialen Lebenswelt überhaupt eine gewisse Verwirklichungschance.“71 Anlass für eine solche Kränkungserfahrung kann dabei entweder das Scheitern einer Handlungsabsicht an einem unvorhergesehenen Widerstand sein oder aber ein grundlegender moralischer Konflikt, der dazu führt, dass eine Handlungsabsicht nicht mit einer als gültig unterstellten Norm vereinbar scheint. Unter Konflikten versteht Honneth zunächst einmal eine Verletzung von Ansprüchen auf Respekt und Anerkennung.72 Wird ein Anspruch eines Individuums verletzt, so sieht Honneth darin eine Quelle der Motivation, um die zukünftige Anerkennung eines Selbst seinem Anspruch gemäß zu kämpfen und damit zugleich zu vermeiden, dass das Individuum erneut verletzt wird. Problematisch an einer derartigen Verortung von Missachtungserfahrungen ist einerseits – wie Honneth selbst reflektiert, nicht systematisch integriert –, dass der Eindruck entstehen könnte, dass das Erleben von Missachtung an sich etwas moralisch Gutes und Erstrebenswertes sei. Zum anderen bleibt offen, inwieweit eine singuläre Erfahrung von Missachtung sowohl in Bezug auf den einzelnen verletzten Anspruch als auch die einzelne verletzende Handlung ernst genommen werden kann, ohne unter dem generellen Terminus der Missachtung unsichtbar zu werden. Dem ersten Problem versucht Honneth zu entkommen, indem er die Erfahrung von Missachtung als ambivalente Motivationsquelle zu denken versucht. Einer solchen „fehlt jeder normative Richtungsindex, der festlegen würde, auf welchen Wegen gegen die Erfahrung von Mißachtung und Demütigung angekämpft werden soll.“73 Zugleich – und hier kommt die zweite Problematik ins Spiel – muss Honneth aber voraussetzen, dass die Individuen bereit sein müssen, ihre Missachtungserfahrungen so in die Anerkennungsprozesse einzubringen, dass diese zu einem moralischen Fortschritt der Sittlichkeit beitragen können. Mit dieser Unterstellung setzt Honneth voraus, dass die Individuen bereit sind, ihre Missachtungserfahrungen offen und transparent zu artikulieren, statt sich in Gegenkulturen des Rückzugs, der Sprachunfähigkeit oder gar der Gewalt zurückzuziehen. Mit solchen Rückzugsreaktionen wären die Um70  Vgl. Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 212. 71 Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 224. 72  Vgl. Honneth (2013a): Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, 39. 73 Honneth (2012c): Die soziale Dynamik von Mißachtung, 108.

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gangsweisen mit Missachtung aber gerade nicht den Individuen selbst überlassen, sondern eben doch mit einem normativen Richtungsvektor unterlegt. Zugleich tritt mit dem von Honneth vorgebrachten Deutungsangebot ein weiteres Problem hinzu: Eine Pflicht zur transparenten und produktiven Artikulation von Missachtungserfahrungen ist insofern kritisch zu hinterfragen, als auch die als offen und transparent geltenden Artikulationsweisen von Missachtungserfahrungen wechselseitigen Anerkennungsprozessen unterliegen. Wie voraussetzungsreich es bereits ist, Missachtungserfahrungen überhaupt zu artikulieren, zeigt sich nicht zuletzt in den subjektiven Schilderungen zwangsuntergebrachter und zwangsbehandelter Patienten, die ihrerseits sehr eindrücklich schildern, wie schwierig ihnen die Artikulation der als Gewalt empfundenen Behandlungen fällt und wie oft der innerliche Rückzug oder die Gewalt gegen den eigenen Körper eine Reaktion auf die erlebte Sprachunfähigkeit war.74 Mit Blick auf die Beobachtung von Missachtungserfahrungen, für die sich zahlreiche weitere Beispiele im sozialen wie politischen Geschehen finden, ist sehr genau darauf zu achten, wo sich Missachtungen derart perfide und/oder systematisch vollziehen, dass sie von den Betroffenen selbst gar nicht mehr zur Sprache gebracht werden können. Die positive Konstitutionsleistung von Anerkennung besteht laut Honneth auf ihrer ersten Stufe in der Liebe als Stadium primärer Intersubjektivität, in der sich das Selbst auf elementare Weise angenommen fühlt und so, durch die konkrete Zuwendung von Eltern und/oder Familie, in Liebesbeziehungen und/ oder Freundschaften, die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und diesen zu vertrauen lernt. In einer solchen (primären) Form der Anerkennung vollzieht sich dabei ein Interaktionsverhältnis zwischen Selbst und Anderem, das mittels eines besonderen Musters der reziproken Anerkennung operiert: Die Interaktionspartner erfahren sich in der fundamentalen Zuneigung eines anderen Interaktionspartners als ein personales Gegenüber.75 Eine solche fundamentale Wertschätzung ist dabei auf eine prekäre und vulnerable Balance zwischen Selbstständigkeit und Bindung angewiesen. Damit in der Liebe ein Verhältnis gegenseitiger Anerkennung wachsen kann, muss die ursprüngliche Symbiose zwischen Selbst und Anderem – konkret hat Honneth hier das Verhältnis zwischen Mutter und Kind im Blick – gewissermaßen gebrochen werden und es müssen beide Interaktionsformen je für sich (wieder) Unabhängigkeit erlangen. Unter Rückgriff auf

74  Siehe vor allem die immer noch paradigmatische Studie von Längle & Bayer (2007): Psychiatrische Zwangsbehandlung und die Sichtweise der Patienten. Zu einem ambivalenteren Ergebnis kommen: Katsakou, et al. (2012): Psychiatric patients’ views on why their involuntary hospitalisation was right or wrong: a qualitative study & Patterson, et al. (2011): Compulsory community treatment and patients’ perception of recovery in schizophrenia. 75  Vgl. Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 64.

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D. Winnicotts Objekttheorie76 beschreibt Honneth die Liebe als das beständige Aushandeln von Ansprüchen der eigenen Bedürfnisbefriedigung sowie der eigenen Angewiesenheit auf die Zuwendung des Anderen.77 In genau diesen Aushandlungsprozessen sieht Honneth dann eine erste inhaltliche Bestimmung eines Kampfes um Anerkennung: Die Individuen beziehen sich zunächst symbiotisch aufeinander und gewinnen dann neue Gestaltungsräume, ebenso wie sie sich wieder voneinander abwenden und so eine produktive Balance zwischen Abgrenzung und Entgrenzung bilden. Pathologisch wird eine solche Interaktion dann, wenn sich „eines der beteiligten Subjekte […] entweder aus dem Zustand der ichzentrierten Selbstständigkeit oder aus dem der symbiotischen Abhängigkeit nicht mehr zu lösen vermag.“78 Gelingt 76  Honneth beruft sich besonders auf: Winnicott (2002): Reifungsprozesse und Fördernde Umwelt & Winnicott (2012): Vom Spiel zur Kreativität. Honneths Interpretation der psychoanalytischen Objekttheorie ist selbst wiederum Gegenstand der Kritik geworden. Vgl. Whitebook (2001): Wechselseitige Anerkennung und die Arbeit des Negativen, 780 ff. Honneth selbst hat auf diese Kritik wiederum geantwortet und seinen Ansatz verteidigt: Honneth (2001a): Facetten des Vorsozialen Selbst. Eine Erwiderung auf Joel Whitebook. 77  Dabei scheint Honneth jedoch eigentümlicherweise von einer symmetrischen Beziehung zwischen Mutter und Kind auszugehen. So skizziert er eine solche Beziehung als wechselseitig, ohne auf die Frage nach Machtasymmetrien innerhalb einer solchen Beziehung einzugehen. Vgl. hierzu: McNay (2008): Against Recognition. So weist Iris M. Young zu Recht darauf hin, dass Mutter und Kind nicht gleichermaßen abhängig voneinander sind. Auch wenn die Symbiose zwischen Mutter und Kind ein komplexer Interaktionsmechanismus ist und das Kind mit seiner Präsenz und seinem Wesen die Mutter mitunter sehr einnehmen kann, kann sich die Mutter doch auf eine andere Art und Weise zu dem Kind verhalten als das Kind zu der Mutter: Sie kann sich aussuchen, ob sie Liebe und Fürsorge vorenthält, in Maßen oder gar reichlich gibt. Insofern ist das Kind auf eine kriterial andere Weise von der Mutter abhängig, als die wiederum von ihrem Kind. Young (2005): Anerkennung von Liebesmühe. Zu Axel Honneths Feminismus, 429. 78 Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 171. Während Honneth ein Modell vorschwebt, in dem solche Einseitigkeiten in dem Durchschreiten der einzelnen Formen der Anerkennung schrittweise beseitigt werden, bezweifelt Jean-Paul Sartre die Möglichkeit einer solchen Beseitigung. Vielmehr sieht er in der intersubjektiven Aushandlung zwischen Selbst und Anderem eine immer schon vorausgehende gegenseitige Vereinseitigung. Der Andere setzt das Selbst mit seinem Anblick bereits in ein Verhältnis der Subjekt-Objekt-Beziehung, aus der beide dann hernach auch nicht wieder ausbrechen können. Vielmehr handelt es sich bei der Interaktion zwischen Selbst und Anderem um eine Art der ‚Pseudokommunikation‘, in welcher beide – besessen von der je eigenen Ichzentriertheit – narzisstisch auf sich bezogen bleiben. Der Blick des Anderen ist dann nicht – wie hier bei Honneth angelegt – der Ermöglichungsraum meiner eigenen Selbstverwirklichung, sondern eben gerade dessen Begrenzung, die sich bereits im Erblicktwerden meiner selbst durch den Anderen zeigt. Dieser Frage wird an der Stelle weiter nachgegangen, an der es um eine kritische Reflexion der von Honneth vorgeschlagenen Anerkennungskonzeption anhand der von Thomas Bedorf entworfenen Figur einer Anerkennung als notwendigerweise Verkennende geht. Vgl. hierzu grundsätzlich Sartre (2012): Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie; zur Auseinandersetzung Honneths mit Sartre siehe exemplarisch: Honneth (1999): Kampf um Anerkennung. Zu Sartres Theorie der Intersubjektivtät.

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entgegen diesen Pathologien die Gestaltung eines solchen Anerkennungsverhältnisses, ist dies die Grundvoraussetzung für die Bildung eines elementaren Selbstvertrauens, das jeder folgenden Form intersubjektiver Anerkennung genealogisch vorausgeht. Die im Anerkennungsverhältnis der Liebe – im besten Fall – erworbene emotionale Sicherheit umfasst dabei sowohl das Affiziertwerden als auch die Artikulation von je eigenen Bedürfnissen und Empfindungen, die ihrerseits nach Honneth wiederum normative Voraussetzung für die selbstbestimmte Teilnahme am öffentlichen Leben sind. Im Gefolge von Hegel bestimmt Honneth die Liebe insofern auch als den Kern aller Sittlichkeit, auch wenn ihr stets ein notwendiges Element des moralischen Partikularismus innewohnt.79 In dem Erleben solcher intersubjektiver Sozialbeziehungen sieht Honneth einen der wesentlichen Eckpfeiler für das Entstehen einer grundlegenden Sittlichkeit, aus der dann die Stufen des Rechts und der Solidarität nicht den Individuen external aufgezwängt werden, sondern sich aus den so fundierten Anerkennungsverhältnissen der Individuen heraus entwickeln und damit in dem Erfahren basaler intersubjektiver Anerkennung (als höherer Stufe von Anerkennung) internal begründen lassen. Das im intersubjektiven Anerkennungsverhältnis der Liebe erlangte Selbstvertrauen verweist auf eine notwendige reziproke Bejahung der Individuen als Voraussetzung für jegliches – dann auch rechtlich und solidarisch anerkanntes – Miteinander. „Liebende“, so lässt sich das Fazit von Paul Ricœur in seiner Auseinandersetzung mit der honnethschen Konzeption zusammenfassen, „[…] erkennen einander an, indem sich jeder von ihnen in Identifikationsmodellen wiedererkennt, die als gemeinsame erkannt werden können.“80 Auch wenn alle drei Interaktionssphären der Anerkennung auf das gleiche Muster reziproker Anerkennung zurückweisen, so unterscheiden sich die folgenden Formen des Rechts und der Solidarität doch fundamental von dem der Liebe. Dieser Unterschied liegt vor allem darin begründet, dass im Modus des Rechts der Andere nicht mehr unbedingterweise ein konkreter Anderer sein 79 

Vgl. Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 174. So auch: Delaney (2008): Romantische Liebe und Verpflichtungen aus Liebe: Die Artikulierung eines modernen Ideals & Delaney (2010): What Romance Could Not Be. Delaney versteht Liebe dabei als eine zeitlich verfestigte Form moralischer Anerkennung, die in sich eine teleologische Struktur aufweist. Liebe, so Delaney, erschöpft sich nicht in der emotionalen und affektiven Anteilnahme an einem oder einer anderen, sondern zielt auf das Interesse und das Engagement einer geliebten Person für die eigenen Ziele und Interessen. Zu einer soziologischen Analyse der unterschiedlichen Verschleierungsformen siehe: Illouz (2012): Warum Liebe weh tut. Eine soziologische Erklärung. Illouz verfolgt dabei die These, dass eine von Delaney postulierte Teleologie der Liebe selbst beständig transformiert wird. Was das Interesse der eigenen Person im Verhältnis zu dem der geliebten anderen Person ist, ändert sich selbst wiederum – nicht zuletzt im Zusammenspiel unterschiedlicher institutionell verfasster Erfahrungsräume – beständig. 80 Ricœur (2006): Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, 238.

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muss, sondern dem Selbst zugleich als abstrakter Anderer gegenübertreten kann: „Erst aus der normativen Perspektive eines generalisierten Anderen, der uns die anderen Mitglieder des Gemeinwesens bereits als Träger von Rechten anzuerkennen lehrt, können wir uns selber auch als Rechtspersonen in dem Sinne verstehen, daß wir uns der sozialen Erfüllung bestimmter unserer Ansprüche sicher sein dürfen.“81 Der in der Figur des generalisierten Anderen elementar ausgedrückte Tatbestand, dass einem menschlichen Subjekt das elementare Recht zukommt, als Mitglied eines Gemeinwesens – und damit als Träger von Rechten – anerkannt zu werden, stellt für Honneth – wiederum in Anknüpfung an Mead – jedoch lediglich die Bestimmung eines Mindeststandards dar. Ein solcher Mindeststandard ist inhaltlich dadurch bestimmt, dass eine Person hinsichtlich ihrer Freiheit, ihres Lebens und ihres Eigentums vor dem Übergriff durch Andere geschützt sein muss.82 Eine positive – und in diesem Sinne gehaltvolle – Bestimmung des Rechts sieht Honneth erst dann gegeben, wenn das Selbstverhältnis eines Einzelnen einem besonderen Modus reziproker Anerkennung geschuldet und in diesem verankert ist: „[D]ie Rechtssubjekte erkennen sich dadurch, daß sie dem gleichen Gesetz gehorchen, wechselseitig als Personen an, die in individueller Autonomie über moralische Normen vernünftig zu entscheiden vermögen.“83 Zudem müssen sich die jeweiligen Normen von der selbstverständlichen Autorität sittlicher Traditionen, in denen sie ihren Ursprung besitzen, gelöst haben und auf ein deliberatives und universalistisches Begründungsprinzip umgestellt worden sein. War der Kampf um Anerkennung auf der ersten Anerkennungsstufe der Liebe noch ein individuelles und affektiv gesteuertes Aushandeln zwischen symbiotischen Nutzenrelationen und notwendigen Abgrenzungsbewegungen,84 so handelt es sich in seiner rechtlichen Verfasstheit nun um ein Aushandeln zwischen Erweiterungsansprüchen und Begrenzungsnotwendigkeiten der materiellen wie sozialen Reichweiten von als Rechtspersonen anerkannten Individuen.85 Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass das Recht nicht nur vor illegitimen Eingriffen in die individuellen Freiheitsrechte bewahrt, sondern zugleich die faktische Möglichkeit der Auslebung individueller Interessen wie die tatsächliche Partizipationsmöglichkeit an öffentlicher Entscheidungsfindung bewahrt und gestaltet werden kann. 81 Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 174. 82  Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Ricœur: Ricœur (2006): Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, 250. 83 Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 176. 84  Vgl. Honneth (2008): Liebe. Einführung, 56. 85  Vgl. Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 191.

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Indem einem Selbst die gleichen Freiheitsrechte wie all den anderen Mitgliedern der Gemeinschaft zuerkannt werden, erlebt es sich als in die Lage versetzt, sich als ein Subjekt zu achten, das selbstständig urteilen kann und sich von den anderen Mitgliedern der Gemeinschaft als Person anerkannt weiß.86 Eine solche Anerkennung – oder besser gesagt: ein solcher Anspruch auf Anerkennung als Person – wäre nun falsch verstanden, wenn sie als eine rein objektiv-faktische verstanden würde. Vielmehr will Honneth darauf hinaus, dass selbst für den Fall, dass jemand faktisch nicht als Person anerkannt wird, er auf der Anerkennungsstufe des Rechts dennoch zunächst einmal davon ausgehen kann, darf, ja muss, dass er einen Anspruch auf eine Anerkennung als eben diese hat und diese auch rechtlich einfordern kann.87 Rechtliche Anerkennung lässt sich dann auf das normative Postulat zuspitzen, eine Person als Person anzuerkennen, indem man ihr gegenüber in der Art und Weise handelt, „zu der uns die Eigenschaften einer Person moralisch verpflichten.“88 Damit ist aber noch nicht viel gewonnen, solange nicht geklärt ist, wie denn nun die normativ verpflichtenden Eigenschaften einer Person bestimmt werden können.89 Honneth führt hierzu aus, dass für eine gehaltvolle Konzeption rechtlicher Anerkennung ein moralisches Wissen über die Verpflichtungen vorauszusetzen ist, die autonomen Personen gegenüber einzuhalten sind. Zu fragen ist also, „auf welchen Kreis von mensch-

86  Die zugrunde liegende Unterscheidung von negativen, positiven und sozialen Wohlfahrtsrechten wird bei Honneth dann auch vorrangig auf die Frage nach einer Zuweisung gleicher Rechte bei gleichzeitiger ungleicher Verteilung der Güter zugespitzt. An dieser Stelle bleibt diese Konzeption jedoch auch in ihren späteren Weiterentwicklungen recht unkonkret. So wird zwar schlüssig und nachvollziehbar der Primat der Anerkennung vor einer möglichen Umverteilung begründet: Fraser & Honneth (2003): Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse. Allerdings wird letztlich nicht geklärt, welche materialen Konsequenzen hieraus vor allem unter den aktuellen Bedingungen einer ausdifferenzierten Gesellschaft zu folgen haben. Vgl. Honneth (2011): Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit. 87  So auch Alan Gewirth, der noch einmal auf die Doppelsinnigkeit des Anspruchs verweist: So wird einerseits ausgesagt, dass jemandem etwas zukommt, und andererseits eine Forderung ausgedrückt. Vgl. Gewirth (1978): Reason and Morality, 65. 88 Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 182. 89  Vgl. hierzu auch: Birnbacher (2013): Der Personenbegriff in der Bioethik. Hilfe oder Hindernis? sowie Sturma (2013): Akteur und Anerkennung. „Person“ als Grundbegriff der theoretischen und praktischen Philosophie. Während weitestgehend alle philosophischen Positionen, die sich mit dem Personenbegriff beschäftigen, an einer engen Kopplung des Personenstatus an (einem zu bestimmenden Maß von) Vernunftfähigkeit festhalten, gibt es große Unterschiede hinsichtlich der Frage, ob eine solche Vernunftfähigkeit ausschließlich kognitiv oder (und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen) auch moralisch bestimmt ist. Während Dieter Sturma an dieser Stelle entsprechend seinem Ansatz auf eine stärkere begriffliche Profilierung des Begriffs drängt, spitzt Dieter Birnbacher noch einmal zu, dass der Personenbegriff aufgrund seiner oszillierenden Bedeutungsaufladung prinzipiell nicht in der Lage ist, die ihm zugewiesene Begründungslast zu tragen.

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lichen Subjekten es [das Recht, MB] deswegen Anwendung finden soll, weil sie zur Klasse der moralisch zurechnungsfähigen Personen gehören.“90 Mit einer solchen Argumentation begeht Honneth jedoch eine petitio prin­ cipii, da durch die Gleichsetzung von Menschen und Personen sowie die fehlende Präzisierung der für die Zuschreibung von Personalität notwendigen Eigenschaften der Geltungsbereich des Rechts unnötigerweise vorschnell eingeengt wird.91 Nun ist es aber für den einzelnen Anspruchsträger mitunter sehr folgenreich, ob er grundlegend – in den Worten Kants gesprochen: transzendental – als Jemand und damit als Person oder nur als etwas und damit nicht als Person anerkannt wird.92 Während es verboten ist, nicht-personale Wesen zu quälen,93 verbindet sich mit der Zuschreibung ‚Person‘ zwar auch das Verbot zu quälen, aber darüber hinaus die Forderung, eine Person nicht zu entwürdigen.94 90 Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 182. 91  In Anlehnung an Niklas Luhmanns Ausführungen zur Bedeutung von Zirkeln für die argumentative Logik ist allerdings Vorsicht geboten, den Begriff Zirkelargument sogleich als eine qualitative Abwertung eines Arguments zu verstehen. Vor dem Hintergrund von Luhmanns Ausführungen in der „Kunst der Gesellschaft“ (vgl. Luhmann (1997b): Die Kunst der Gesellschaft, 63) kann man gar nicht anders als zirkulär zu argumentieren, da es nur so möglich ist, systemische Kopplungen herzustellen. In freier Anlehnung an Peter Dabrock lässt sich diese Erkenntnis in dem schönen Satz formulieren: Es kommt nicht darauf an, wie man aus dem Zirkel herauskommt, sondern auf welche Art und Weise man in diesen hineinkommt. 92  Vgl. Schürrmann (2014): Leibhaftige Personen – Antastbare Würde. 93  Wofür man dann wiederum unterschiedliche Gründe angeben kann. Sei es aus Pietätsgründen (vgl. Kant (1977): Die Metaphysik der Sitten, W VIII, AA Bd. VI 1797, §16 f.), sei es, weil man die Fähigkeit der Schmerzempfindlichkeit als moralisches Kriterium setzt (vgl. Singer (2014): Ethik und Tiere. Eine Ausweitung der Ethik über unsere eigene Spezies hinaus) oder weil man diese als Mitbürger mit entsprechenden Rechten betrachtet. Vgl. Donaldson & Kymlicka (2013): Zoopolis – Eine politische Theorie der Tierrechte. 94  Vgl. Habermas (2005a): Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, 62. So führt Habermas zu Recht an, dass Menschenwürde sowohl hinsichtlich ihrer rechtlichen als auch ihrer moralischen Begründungstragfähigkeit auf symme­ trische Beziehungen angelegt ist. Auch wenn Habermas anders als Honneth von moralischen Pflichten gegenüber nicht personalen Wesen spricht, setzt er im gleichen Atemzug voraus, dass „sie [die Tiere, MB] nicht zum Universum der Mitglieder [gehören], die intersubjektiv anerkannte Gebote und Verbote aneinander adressieren“ (Habermas (2005a): Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, 62). Die Rede von symmetrischen Beziehungen als Bedingung für die Rede von Menschenwürde ist dabei aber zugleich riskant. So führt Habermas an, dass der Mensch als unfertiger geboren wird und erst durch einen Akt der Aufnahme in einen öffentlichen Interaktionszusammenhang zu einer Person wird. (So auch das Argument von Hannah Arendt. Vgl. Arendt (2007b): Vita activa oder vom tätigen Leben, 15 f.) Erst in der Öffentlichkeit einer Sprachgemeinschaft, so Habermas, „bildet sich das Naturwesen zugleich zum Individuum und zur vernunftbegabten Person.“ Habermas (2005a): Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, 65. An dieser Stelle zeigt sich jedoch ein ähnliches Problem wie in der Argumentation von Axel Honneth: Mit welcher Begründung ist der Kreis der Personen dann auf die Gattung Homo sapiens festgelegt? Sowohl bei Arendt als auch bei Habermas bleibt dies eine unbefriedigende Leerstelle.

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Honneths Ansatz, Anerkennung ausgehend von Strukturelementen der Sittlichkeit her zu entfalten, kann man zunächst einmal als Abgrenzung zu solchen Ansätzen lesen, die Personalität primär an den Eigenschaften eines Individuums aufzuweisen suchen95 und nicht von den jeweiligen sozialen Vollzügen her begründen. Personen wären dann „diejenigen sozialen Akteure, die fraglos als Würdige gelten, was schon vorausgesetzt sein muss, um darüber streiten zu können, ob wir jemand würdig oder unwürdig behandeln.“96 Ob jemandem der Status der Würde zugesprochen wird oder nicht, entscheidet nach Honneth dann darüber, welcher Schutzstatus ihm unbedingterweise zukommen muss. Damit wäre aber die Praxis, wer oder was mit welchen Argumenten als eine Person anerkannt wird, nicht unmittelbar aus den Eigenschaften eines Individuums abzuleiten. Vielmehr handelt es sich um eine aktive Identifizierungsund Zuschreibungsleistung (eine schon immer getätigte Praxis) von Wesen, die sich selbst als Personen verstehen und rekonstruktionshermeneutisch darüber entscheiden, aufgrund der Zuschreibung welcher biologischer Identifikatoren wer als Jemand und was als etwas anerkannt wird.97 Kontingent ist eine solche Anerkennungspraxis insofern, als es durchaus geschichtliche Zeitpunkte gab, an denen nicht alle Menschen als Personen anerkannt worden sind. Ebenso kann es in Zukunft gute Gründe geben, dass wir uns entscheiden, bestimmte Tiere oder mitunter auch intelligente Maschinen als Personen anzuerkennen.98 Neben der unhintergehbaren Tatsache, dass es eben menschliche Personen sind, die darüber verhandeln, wer aktuell oder zukünftig als Person anerkannt werden soll, kommt darüber hinaus der geschichtlichen Verfasstheit von Menschen als anerkennenden und anerkannten Personen eine beweislasttragende Funktion zu. Diese kann man – jedenfalls in hegelscher Traditionslinie – nicht nur als eine reine Normativität des Faktischen bezeichnen: Eben weil uns die Geschichte – und ganz konkret: die Geschichte von fehlgeschlagenen Anerkennungsbeziehungen – lehrt, was passiert, wenn nicht alle Menschen als Personen anerkannt werden, liegt die Begründungslast auf der Seite derer, die eine Abweichung von dieser über die normative Verarbeitung vieler Unrechtsgeschichten stabilisierte Anerkennungspraxis aus welchen Gründen auch immer fordern. Aufgabe der rechtlichen Anerkennung ist es, die Regularien und Verfahrensweisen zur Ver-

95  Vgl. paradigmatisch für eine solche Position: Sturma (2001): Person: Philosophiegeschichte – Theoretische Philosophie – Praktische Philosophie & Sturma (2013): Akteur und Anerkennung. „Person“ als Grundbegriff der theoretischen und praktischen Philosophie. 96 Schürrmann (2014): Leibhaftige Personen – Antastbare Würde, 386. 97  Vgl. zu diesem Gedanken auch: Schürrmann (2014): Leibhaftige Personen – Antastbare Würde, 388–390. 98  Es lässt sich jedoch nicht der Umkehrschluss ableiten, wie ihn etwa Peter Singer vornimmt, dass deshalb bestimmte Menschen nicht mehr als Personen zählen. Gerade Honneths Versuch, Transzendentalität und Empirizität von Anerkennung in eins zu setzen, weist auf diese Falle hin.

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fügung zu stellen, um genau diese fundierenden Anerkennungsmöglichkeiten immer wieder zur Geltung zu bringen.99 Honneth selbst folgt dieser Linie zunächst, indem er darauf aufmerksam macht, dass die Zuschreibung von festen kognitiven oder moralischen Eigenschaften als Voraussetzung für die Anerkennung von Personalität gleichermaßen kontingent wie irreführend ist. Entsprechend führt er aus: „Die Festlegung der Fähigkeiten, die den Menschen konstitutiv als Person auszeichnen, ist daher abhängig von Hintergrundannahmen darüber, welche subjektiven Eigenschaften zur Teilnahme an einer rationalen Willensbildung befähigen […].“100 Gerade solche Hintergrundannahmen sind aber nun ihrerseits wiederum nicht unabhängig von intersubjektiven Anerkennungsprozessen vorzustellen, sondern bilden gleichermaßen den Ermöglichungsgrund von Anerkennung und werden selbst in Anerkennungsprozessen ausgehandelt, modifiziert und neu justiert. So verändern sich auch die jeweils als notwendig angesehenen Eigenschaften von Personalität selbst wiederum mit der Zeit. Noch einmal in den Worten Honneths: „Was es also heißen kann, daß ein Subjekt dazu befähigt ist, autonom aus vernünftiger Einsicht zu handeln, ist vielmehr nur relativ zu einer Bestimmung dessen zu beantworten, was mit einem Verfahren der rationalen Übereinkunft gemeint ist: denn je nachdem, wie jene legitimierende Basisprozedur vorgestellt wird, haben sich auch die Eigenschaften zu ändern, die einer Person zugeschrieben werden müssen, wenn sie an ihr gleichberechtigt soll teilnehmen können.“101 So richtig Honneths Hinweis ist, dass ein Reden von und über Personalität immer schon bestimmte Vorannahmen setzt, so unplausibel bleibt, warum er ein direktes Kopplungsverhältnis von personaler Autonomie und kognitiven Fähigkeiten vornimmt. So führt er nämlich aus, dass ein Wesen, das als Person anerkannt werden soll, fähig sein muss, über moralische Fragen vernünftig zu entscheiden.102 Damit aber wird dem vorher als offen dargestellten Prozess der Kriterienfestlegung für eine Anerkennung als Person ein ontologisches Argument mit hoch normativen Konsequenzen untergeschoben. Denn, so führt Honneth weiter aus, nur solche Wesen kommen überhaupt als Träger von Personalität in Betracht, die in der Lage sind, sich auf eine rechtliche Ordnung zu einigen.103 Der Grund für die von ihm vorgenom 99  Diese Ambivalenz schlägt sich bekanntermaßen auch in der Formulierung von Art. 1, Abs. 1 des Grundgesetzes nieder. 100 Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 185. 101 Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 185. 102  Vgl. Honneth (2013a): Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, 193 f. 103  Vgl. Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 184. Honneth führt diesen Gedanken an späterer Stelle seiner Arbeiten noch einmal weiter. Eine personale Agentenschaft kann solchen Wesen zugeschrieben werden, die in

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mene Zuspitzung bleibt aber eine Leerstelle. Waren die natürlichen Eigenschaften eines Individuums bislang lediglich als Identifikatoren für den Zuspruch von Personalität verstanden worden, so fungieren diese nun als Voraussetzung der Voraussetzung von rechtlicher Anerkennung und exkludieren so all diejenigen aus dem Bereich des Rechts, die zwar unter Umständen nicht aktiv als Rechtsgeber fungieren, durchaus aber als potenzielle Rechtsträger nach rechtlicher Anerkennung streben könnten. Honneth begründet diese Zuspitzung nur indirekt, wenn er beispielsweise die Bedeutung von zwischenmenschlicher Affektivität für die Ausbildung von Person-zu-Person-Beziehungen anführt.104 Dass zu einer solch innigen und engen Affektivität Wesen der Gattung Homo sapiens durchaus in besonderer Weise in der Lage sind, muss gar nicht bestritten werden, um dennoch zu fragen, mit welchem Recht man anderen Wesen die Fähigkeit zu dauerhaft und freiwillig affektiv vermittelten Beziehungen absprechen muss.105 Die Befähigung zur konkreten Ausübung individueller Rechte rückt damit als ein zentrales Thema, sowohl der Rechtsstaatlichkeit als auch, bedingt durch die Verankerung einer solchen Konzeption in einer intersubjektiven Konzeption der Sittlichkeit, als ein Thema ethischer Deliberationen auf die Agenda. Fraglich ist dabei, inwiefern für die Verwirklichung der je eigenen Lebensziele auch deren konkrete Artikulationsfähigkeit unabdingbar ist. Oder zugespitzter: Welcher rechtliche Anerkennungsanspruch ergibt sich für ein Individuum in einer solchen Konzeption noch, wenn ein Selbst in seinem Selbstbezug nicht (mehr) in der Lage ist, die notwendige Artikulationsleistung zu erbringen? Auch wenn Honneth bei der Beantwortung dieser Frage einerseits auf die irreduzible Bedeutung der individuellen Stimme eines Selbst rekurriert, setzt er, wie aufgezeigt, gleichzeitig implizite Geltungskriterien voraus, ohne dass diese noch einmal an die bleibenden Differenzen im Verhältnis von Selbst und Anderem gekoppelt werden. Burkhard Liebsch verweist darauf, dass sich eine Theorie der Anerkennung nur dann potenziell als gewaltfrei erweisen kann, sofern neben den Anerkennungsstufen von Liebe, rechtlicher Anerkennung und Solidarität noch eine vorgelagerte Form des Hörens auf Andere bedacht wird. Eine solche Form der Anerkennung würde aussagen: Wenn das Recht einerseits die Berechtigung einräumt, sich Gehör zu verschaffen, bleibt die Frage, ob ‚meine‘ der Lage sind, das Handlungsschema eines kommunikativen Autors mit universalistischen Handlungsorientierungen einzunehmen (vgl. Honneth (2013a): Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, 196 ff.). Damit stellt sich aber umso elementarer die Frage, welche Modi der Sprachfähigkeit mit welchen Gründen als aktive Autorenschaft gewertet werden können. Vgl. hierzu auch: Brand (2013): Die Narration der Narration – Eine Kritk in drei Akten. 104  Vgl. Honneth & Rössler (2008): Von Person zu Person. Zur Moralität persönlicher Beziehungen, 11. 105  Vgl. Honneth & Rössler (2008): Von Person zu Person. Zur Moralität persönlicher Beziehungen, 22 f.

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Stimme gehört wird, andererseits daran zurückgebunden, ob sich andere auf mich einlassen.106 Zugleich gilt aber faktisch auch: Wenn ein solches Einlassen bereits an eine bestimmte Stimmfarbe gekoppelt wird, kann ein so sprechendes Selbst weder um Liebe noch um rechtliche Anerkennung noch um Wertschätzung ‚kämpfen‘.107 Während jedoch in Anerkennungskonzeptionen, die mit ähnlichen Terminologien arbeiten108, dezidierte Ausführungen darüber folgen, wie beispielsweise mit Widerfahrnissen des Verlustes von rationaler Artikulationsfähigkeit umzugehen ist und an welchen Stellen sich aus einer Notwendigkeit der Befähigung zur selbstbestimmten Entscheidungsfindung die Verpflichtung einer Schaffung von – modal ausdifferenzierten – Artikulationsräumen nicht nur als moralisch, sondern gerade auch als rechtliche Bürde ergibt, bleibt Honneths Konzeption jedoch weitestgehend stumm.109 Zu fragen wäre zum 106  So führt Burkhard Liebsch aus: „[W]as immer du zu sagen hast, ich akzeptiere, es zu hören und im gleichen Zug zu bestätigen, dass du existierst, als jemand, der oder die etwas zu sagen hat – auch wenn du scheinbar nichts zu sagen hast – das heißt, wenn du abweichst von jeweiligen Regelungen einer Redepraxis, die mehr oder weniger festlegt, wer und welchen Gegebenheiten gehört werden soll.“ Liebsch (2012): Prekäre Selbstbezeugung, 285. In all den Fällen, wo diese Mindestbedingung in und von Anerkennungsprozessen nicht eingehalten wird, schlägt die Herausforderung zum Kampf um Anerkennung in Gewalt um. Damit wäre aber zugleich die Idee eines Kampfes um Anerkennung als Geltendmachung von unterschiedlichen individuellen wie gemeinschaftlichen Ansprüchen an sich in eine totalitäre Idee umgeschlagen. Vgl. auch: Lévinas (2008a): Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, 23. 107  Eine solche Problematisierung findet sich auch bereits in den Studien von Jürgen Habermas zur grundlegenden Bedeutung von Alterität für die Gestaltung von Anerkennungsprozessen, etwa wenn Habermas auf die Bedeutung einer Sensibilität für den „Anderen in seiner Andersheit“ verweist. Vgl. Habermas (1999a): Die Einbeziehung des Anderen: Studien zur politischen Theorie. 108  Martha Nussbaum hat dies beispielsweise in einer dezidierten Kritik an den sog. Ra­ tional-choice-Ansätzen getan und mit ihrer Version des capability approach einen – sich dennoch bewusst im Gefolge des Kontraktualismus bewegenden – eigenen Entwurf präsentiert, dem es nebst der Rahmung von Kooperationsverhältnissen vorrangig um die Bedingungsnotwendigkeiten von (öffentlicher) Gemeinschaftsteilhabe geht. Siehe u.a. Nussbaum (2003): Capabilities as Fundamental Entitlements: Sen and Social Justice und Nussbaum (2010): Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität, Spezieszugehörigkeit. Zur ausführlichen Auseinandersetzung und vor allem zu den Implikationen eines solchen Modells für die Begründungs- und Anwendungsebenen theologischer Ethik siehe: Dabrock (2012): Befähigungsgerechtigkeit. Ein Grundkonzept konkreter Ethik in fundamentaltheologischer Perspektive. 109  Dabei ist die Identifizierung einer solchen Lücke keineswegs singulär für Honneths Ansatz, sondern findet sich beispielsweise ebenso in der kantischen Ethik (siehe Kapitel oben) wie in den diskursethischen Weiterentwicklungen von Jürgen Habermas. Ebenso wie in der Konzeption Kants sieht auch Habermas nur denjenigen als einen Bürger in „der Welt der Moral“ (Gutmann (2010): Würde und Autonomie. Überlegungen zur Kantischen Tradition, 10), der sich an der Begründung der moralischen Normen beteiligen kann. Insofern sind egalitäre und reziproke Interaktionen sowie die Artikulation der je eigenen Gründe, Vorstellungen und Motive Voraussetzung für die Anerkennung personaler Ansprüche. Vgl. Habermas (1999b): Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm, 99.

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Beispiel, ob nicht die genealogische Verortung eines Selbst in einer Geschichte mit Anderen und für Andere, also einem – sei es direktem oder stellvertretenden – Eingebunden-Sein in bereits verfassten Anerkennungsrelationen, die über aktuelle zeitliche und räumliche Positionierungen hinweg bestehen können, nicht ebenso Bedeutung für die Frage nach möglichen Anerkennungsansprüchen haben muss. Mit anderen Worten: So bedeutend es ist, die rechtlichen Anerkennungsansprüche je aktuell zu äußern und zur Geltung zu bringen, sollte doch zugleich in Betracht gezogen werden, dass sich das Rechtssystem gerade dadurch auszeichnet, das jeweils zu prüfen ist, welche Gestaltungsperspektive sich aus dem Verhältnis zu bereits (gemeinschaftlich bzw. gesellschaftlich) artikulierten und mitunter erkämpften Ansprüchen ergibt, wenn ein Rechtssubjekt nicht dazu in der Lage ist, seine Ansprüche selbst zu formulieren. Über die dafür notwendigen Modi der stellvertretenden Gabe und die Konsequenzen für die Rede von autonomer Selbstbestimmung wird in Kapitel 7.1 und Kapitel 7.3 nachzudenken sein. Im Unterschied zur Interaktionssphäre der Liebe operiert das Recht mit universalistischen Geltungsansprüchen,110 die den Individuen die Anerkennung als Rechtsperson gewährleisten und hierdurch einen Gestaltungsraum eröffnen, innerhalb dessen Individuen Rechte einklagen können und in der Lage sind, ihren Anspruchsraum zu erweitern. Die so gewonnenen rechtlichen Anerkennungsbeziehungen rahmen jedoch nicht nur die Interaktionsverhältnisse zwischen den Individuen, sondern, so postuliert Honneth, ermöglichen ein gehaltvolleres Selbstverhältnis der einzelnen Individuen, welches er als Selbstachtung bezeichnet. Unter Selbstachtung wäre insofern zu verstehen, dass sich ein Individuum dadurch geachtet weiß, dass es als ein Träger gleicher Rechte anerkannt wird. Gerade weil das Recht mit dem Gleichheitsgrundsatz operiert, so argu110  Der Verweis auf einen ‚universalen Geltungsanspruch‘ impliziert immer auch ein irreduzibles Maß an Fiktion. So führt Honneth aus, dass das moralisch für autonom gehaltene Subjekt den Schritt vollziehen muss, sich in die Perspektive aller Betroffenen hineinzuversetzen. Es versucht also, zu einem möglichst hohen Grade von seiner eigenen Perspektive und seinen jeweiligen persönlichen Interessen zu abstrahieren. Darüber muss es aber, so es das kantische Diktum der Universalisierbarkeit zu erfüllen gedenkt, noch einen Schritt weitergehen und auch vom Bedeutungsgehalt sozialer Beziehungen absehen können. Es überrascht kaum, dass Honneth interveniert und in Auseinandersetzung mit Thomas Nagel (vgl. Nagel (2012): Der Blick von nirgendwo, 212–223) darauf verweist, dass ‚universal‘ nicht gleichzusetzen ist mit ‚unparteiisch‘. Vgl. Honneth (2013a): Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, 202. Denn gerade die Formulierung „allgemein gültige Geltungsansprüche“ setzt „elementare Formen der wechselseitigen Anerkennung voraus, die für die ihn [den jeweiligen Akteur, MB] umgebende Gesellschaft so konstitutiv sind, daß sie von den jeweiligen Teilnehmern eines Diskurses nicht weiter hinterfragt oder aufgehoben werden können.“ Honneth (2013a): Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, 204. Dass ein Offenhalten der vorausgesetzten Geltungsansprüche eine der Hauptaufgaben gesellschaftlicher Kritik ist, erklärt Honneth selbst zum Lackmustest einer jeglichen sog. kritischen Theorie. Vgl. Honneth (2007c): Rekonstruktive Gesellschaftskritik unter genealogischem Vorbehalt. Zur Idee der „Kritik“ in der Frankfurter Schule, 68 f.

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mentiert Honneth, lassen sich für die Individuen die Grundvoraussetzungen dafür benennen, dass sich eine Person grundlegend geachtet weiß und ihre jeweiligen Interessen benennen kann. Denn aufgrund der universalen Gültigkeit des Rechts gilt dies für alle Rechtspersonen zunächst einmal gleichermaßen, sodass für den Fall, dass eine Abweichung, sei es im Sinne einer Benachteiligung oder Privilegierung, vorgenommen werden soll, deren Legitimität aufzuweisen ist.111 Zwar können die rechtlichen Anerkennungsverhältnisse hinterfragt, kritisiert und erweitert werden und die Individuen um eine Erweiterung ihrer Rechte und Pflichten kämpfen; die so erstrittenen Rechte und Pflichten gelten dann aber – zumindest formal – für alle Mitglieder der Gesellschaft. Entscheidend ist für Honneth aber wiederum, von woher die Begründung solch universaler Geltungsansprüche erfolgt. Etwas plakativ, aber in der Sache den systematischen Kern wohl treffend, kann bei Honneth eine universale Konkretheit von einer konkreten Universalität unterschieden werden. Universale Konkretheit bezeichnet für die genealogischen Begründungsstränge ein Ausgehen von universalen Geltungsmustern, die dann auf ihre Geltungskraft hinsichtlich der konkreten Erfordernisse zugespitzt werden. Die Rede von einer konkreten Universalität geht hingegen davon aus, dass in den konkreten Relationen und Interaktionen, also der, mit Honneth gesprochen, Sittlichkeit, zuallererst Ordnungsmuster der Liebe, des Rechts und der Solidarität ‚produziert‘ werden und deren weitere Gültigkeit dann Gegenstand von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen ist.112 Dass auch solche Ordnungsmuster nicht einfach vollkommen willkürlich sind, sondern selbst wiederum, in Bernhard Waldenfels’ Terminologie gesprochen, als responsiv auf unterschiedliche Anspruchsreliefs zu verstehen sind, wird an späterer Stelle113 Gegenstand der Untersuchung sein. Wenn Honneth die notwendigen Bedingungen für universale Ordnungsmuster thematisiert, belässt er es bei einem Verweis auf die Sittlichkeit als Kollektiv intersubjektiver Anerkennungsprozesse. Die Begründungsleistungen von universalen Ordnungen haben sich in dem Sinne als konkret zu erweisen, dass der ‚genealogische Vektor‘ rechtlicher Anerkennung von den konkreten sittlichen Interaktionen ausgehen muss. Ebenso wie auf der Anerkennungsstufe der Liebe stellen dann auf der Ebene des Rechts Widerfahrnisse mangelnder rechtlicher Anerkennung, Honneth bezeichnet diese als Entrechtung, wesentliche Triebfedern für die Erweiterung und Fortentwicklung der Reichweite und des Gehaltes dar.114 Eine solche Funk111  Vgl. Honneth (2013a): Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, 129 f. 112  Vgl. Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 275, 277. 113  Siehe Kapitel 6.3. 114  Mit Blick auf die Pathologien des Rechts führt Honneth aus: „Von einer sozialen Pathologie können wir in Zusammenhängen der Sozialtheorie immer dann sprechen, wenn wir

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tion kommt den Erfahrungen von Missachtung dann zu, sofern diese als etwas interpretiert und dargestellt werden können, von dem auch andere Subjekte entweder tatsächlich oder potenziell betroffen sein könnten. Eben solche Missachtungen und damit Verletzungen der individuellen wie auch kollektiven Selbstverhältnisse müssen dann Honneth zufolge entsprechend artikuliert werden. Nur wenn sich eine semantische Brücke zwischen den persönlichen und den unpersönlichen Missachtungserfahrungen bilden lässt, können individuelle Erfahrungen von Missachtungen und von Entrechtungen kollektiv eingeklagt werden.115 Dennoch ist kritisch gegenüber Honneth zu reflektieren, inwiefern die Gestaltung von rechtlichen Rahmenbedingungen, in denen Individuen als Träger gleicher Rechte und Pflichten anerkannt werden, unmittelbar an die Selbstachtung einer Person gekoppelt werden kann. „Für den Einzelnen“, so führt Honneth an, „bedeutet die Vorenthaltung sozial geltender Rechtsansprüche, in der intersubjektiven Erwartung verletzt zu werden, als ein zur moralischen Urteilsbildung fähiges Subjekt anerkannt zu werden; insofern geht mit der Erfahrung der Entrechtung typischerweise auch ein Verlust an Selbstachtung, der Fähigkeit also, sich auf sich selbst als gleichberechtigter Interaktionspartner aller Mitmenschen zu beziehen, einher.“116 Zustimmend kann zunächst einmal festgehalten werden, dass die Art und Weise, wie rechtliche Vollzüge gestaltet sind, einen maßgeblichen Einfluss darauf hat, welche Verwirklichungsräume einer Person eröffnet und welche verschlossen sind. Grundsätzlich als es mit gesellschaftlichen Entwicklungen zu tun haben, die zu einer nennenswerten Beeinträchtigung der rationalen Fähigkeiten der Gesellschaftsmitglieder führen, an maßgeblichen Formen der sozialen Kooperation teilzunehmen. Im Unterschied zu sozialen Ungerechtigkeiten, die heute in nicht notwendigen Bedingungen des Ausschlusses oder der Beeinträchtigung von Chancen zur gleichberechtigten Teilnahme am gesellschaftlichen Kooperationsprozeß bestehen, sind solche Pathologien auf einer höheren Stufe der sozialen Reproduktion wirksam, auf der es um den reflexiven Zugang zu den primären Handlungs- und Normensystemen geht: Immer dann, wenn einige oder alle Gesellschaftsmitglieder aufgrund von gesellschaftlichen Ursachen nicht mehr dazu in der Lage sind, die Bedeutung dieser Praktiken und Normen angemessen zu verstehen, können wir von einer sozialen Pathologie sprechen.“ Honneth (2011): Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, 157. 115  Dass ein solcher Prozess der Kollektivierung von Missachtungs- ebenso wie Achtungserfahrungen ein ambivalenter Prozess ist, zeigt auch Hannah Arendt. Auch die heute so geläufige Rede von ‚kollektiven Identitäten‘ kann dabei nicht verbergen, dass solche Muster zwar einerseits Sprach- und Hörräume für die Kumulierung unterschiedlicher Einzelansprüche schaffen können, ein so geschaffenes ‚Wir‘ aber zugleich ein sehr brüchiges ist und beständig Gefahr läuft, keinen ausreichenden Überschneidungsraum zwischen den Einzelansprüchen (mehr) herstellen zu können. So warnt Arendt vor der Verführung „by the great temptation of recognition which, in no matter what form, can only recognize us as such and such, that is, as something which we fundamentally are not.“ Arendt (1975): Sonning Prize acceptance speech. Das (nicht selten politisch inszenierte) Vergessen oder bewusste Verschleiern der Bruchlinien schlägt dann häufig in eine gewaltvolle Brutalität gegenüber vermeintlich inkommensurablen Identitäten um. 116 Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 216.

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eine Rechtsperson anerkannt zu sein, der das gleiche Recht wie anderen Rechtspersonen zuerkannt wird, ist ein wesentlicher Bestandteil dessen, dass sich ein Selbst geachtet wissen kann. Zugleich aber ist fraglich, warum in jedem Kampf um die Erweiterung einer Rechtsordnung zugleich typischerweise die Selbstachtung auf dem Spiel stehen muss. So bleibt unklar, warum beispielsweise ein in einem fairen Prozess abgelehnter Rechtsanspruch einen Riss in der Selbstachtung einer Person hervorrufen muss. Darüber hinaus gestalten sich rechtliche Anerkennungsprozesse wesentlich komplexer und pluraler, weil nicht sie alleine auf eine bestimmte Form beschränkt gedacht werden können.117 Rechtspersonen müssen nicht zwangsläufig für sich selbst oder ihre Ansprüche eintreten, sondern können sich vertreten lassen oder stellvertretend für andere Rechtspersonen eintreten oder sich dafür einsetzen, dass Individuen als Rechtssubjekte anerkannt werden, bei denen dies bislang (noch) nicht der Fall ist. Kurzum: Es verändert sich nicht nur, unter welchen Voraussetzungen jemand rechtlich anerkannt wird, sondern ebenso, was aus welchen Gründen als ein rechtliches Argument anerkannt wird oder aber welche Bereiche des individuellen und öffentlichen Lebens geregelt werden sollen. Systematisch grundlegender ist unterdessen, dass Honneth davon auszugehen scheint, dass die Missachtung eines Rechts selbst nicht mehr Gegenstand von Reflexion sein kann.118 So wäre es in der von Honneth vorgeschlagenen Kopplung ja ebenso möglich, dass eine Person nicht deswegen um ein Recht streitet, weil sie ihre Selbstachtung verloren hat, sondern gerade deswegen, weil sie so viel Selbstachtung hat, dass sie durch das widerfahrene Unrecht nicht entrechtet wurde, sondern gerade das Recht nutzt, um angesichts der eigenen Selbstachtung ein Recht einzufordern. Während im Recht, spätestens seit dem Übergang zur Moderne, die Individuen unabhängig vom jeweiligen gesellschaftlichen Status als Rechtspersonen verstanden werden, entfaltet Honneth die soziale Wertschätzung als an den gesellschaftlichen Status gebunden. Während für das Recht, aufgrund seines Universalisierungsanspruchs, die Frage zentral ist, aufgrund welcher allgemeinen Eigenschaften einer Person rechtliche Anerkennung zusteht, ist die Wertschätzung gerade dadurch charakterisiert, dass sie die besonderen Eigenschaften 117  Zur Begründung einer notwendigen pluralen Verfasstheit des Rechts siehe auch: Ladeur (2015): Die Textualität des Rechts: Zur poststrukturalistischen Kritik des Rechts. 118  Eine solche Einschätzung liegt nicht nur in der Analyse Honneths früher Schriften, wie etwa des Kampfes um Anerkennung, nahe, sondern ebenso in den späteren Schriften, wie etwa: Honneth (2011): Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit. So führt Honneth aus: „Im Gegenteil, solange ein Subjekt den Status einer Rechtsperson einnimmt, kann es gerade nicht die Art von Reflexionen oder Tätigkeiten ausüben, die die Voraussetzung einer Verwirklichung von Lebenszielen bilden: Beruft sich jemand auf sein staatlich verbürgtes Recht der Redefreiheit, so bezieht er sich auf die das Recht bestreitenden Dritten zwangsläufig in einer Weise, die es ihm unmöglich macht, sie als Adressaten seiner Rede zu begreifen […].“ Honneth (2013a): Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, 154.

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einer Person herausstellt, aufgrund derer sie sich als Individuum auszeichnet. Während die soziale Wertschätzung eine evaluative Abstufung geradezu voraussetzt, ist eine solche auf der Ebene des Rechts ausgeschlossen. Das Recht operiert – zumindest mit Blick auf das kontinentaleuropäische Prinzipienrecht –119 entlang des Vektors vom Allgemeinen zum Besonderen, wonach individuelle Rechte zu haben bedeutet, sozial akzeptierte Ansprüche stellen zu können.120 Als besonders im eigentlichen Sinne werden die Individuen aber erst dann anerkannt, wenn sie mit ihrer jeweiligen lebensgeschichtlichen Verortung in das umkämpfte Feld der sozialen Wertschätzung eintreten. Hatte sich Honneth in seinen Ausführungen zur Bildung der Selbstachtung noch für eine strikte Trennung von rechtlicher Anerkennung und sozialer Wertschätzung ausgesprochen, verankert er die soziale Wertschätzung nun als dritte Stufe der Anerkennung. Jürgen Habermas folgend sieht Honneth eine notwendige, historisch gewachsene Entkoppelung, einerseits Rechte zu erlangen, bei Habermas die postkonventionelle Moral, und anderseits in Vollzügen der sozialen Wertschätzung zu stehen, welche Habermas als konventionelle Moral bezeichnet.121 Honneth stimmt Habermas in der Einschätzung der historischen Genealogie der postkonventionellen Moral zu, räumt jedoch der Wertschätzung, nämlich in der Anerkennungsstufe der Solidarität, wieder eine eigene Bedeutungs- und Fundierungsdimension von Moral ein.122 Zugleich versteht Honneth die Widerfahrnis 119  Für das im angloamerikanischen Raum verbreitete Common Law triff diese Vektorangabe nur bedingt zu. Im Unterschied zum kontinentaleuropäischen Prinzipienrecht kommt dem Besonderen in Form von Präzedenzfällen und der entsprechenden richterlichen Auslegungspraxis eine ungleich größere (nicht ohne Weiteres auflösbare) systematische Bedeutung zu. Zu den dann wiederum notwendigen Verallgemeinerungspraktiken vergleiche: Finchett-Maddock (2016): Protest, Property and the Commons: Performances of Law and Resistance. 120  Vgl. Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 194. 121  Vgl. Habermas (1973b): Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze, 214 f. Habermas unterscheidet zwischen drei Stufen in der moralischen Entwicklung. Neben der konventionellen Moral unterscheidet er auf der ersten Ebene den moralischen Realismus und auf der dritten Ebene die postkonventionelle Moral. Diese Ebenen in der moralischen Entwicklung verknüpft Habermas wiederum mit den allgemeinen Stufen der Ich-Entwicklung: Auf der egozentrischen Stufe kommt der moralische Realismus, auf der soziozentrischen Stufe die konventionelle Moral und auf der universalistischen die postkonventionelle Moral zum Tragen. 122  Honneth unterscheidet folglich zwischen einem doppelten Wertschätzungsbegriff. Wertschätzung definiert er zunächst als Opposition zur rechtlichen Anerkennung, insofern er sie als mit den ständischen Ordnungen und damit einer festen Zuordnung zum sozialen Stand verortet sieht. Ist damit in solchen Ordnungen die erzielte soziale Wertschätzung in erster Linie eine symmetrische Wertschätzung innerhalb einer begrenzten sozialen Gruppe, so sieht Honneth dann in dem mit der Solidarität verknüpften Wertschätzungsbegriff eine Entgrenzung hin zu der Eröffnung eines symmetrischen gesamtgesellschaftlichen Anerkennungsraumes. Diese vollzieht sich, weil die Wertschätzung nun den Mechanismus bezeichnet, mittels dessen ein Mitglied einer Gesellschaft in die Lage versetzt wird, sich selbst aufgrund seiner erbrachten Leistung als ein mit wertvollen Fähigkeiten anerkanntes Individuum zu

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einer solchen sozialen Wertschätzung als an ein gemeinsames Wertesystem gebunden, das von allen Individuen geteilt werden und als übergreifendes System der Wertschätzung dienen muss. Zu den Schwierigkeiten, die mit dem Postulat eines allen Individuen gemeinsamen Wertesystems verbunden sind, gehört laut Honneth, dass nur unzureichend begründet werden kann, worin angesichts einer ausdifferenzierten und weltanschaulich pluralen Gesellschaft eine von allen Individuen einer Gesellschaft geteilte common morality bestehen könnte.123 Zwar setzt Honneth vor allem in seinen späteren Schriften die personale Autonomie als eine solche Leitidee ein124, konstatiert jedoch zugleich, dass solchen Leitideen generell nur eine vage normative Orientierungsfunktion zukommen könne. Vielmehr bedürfen sie kultureller Zusatzdeutungen, um Anwendung in der dritten Stufe der Anerkennung zu finden: „[D]aher bemisst sich der Wert, der den verschiedenen Formen der Selbstverwirklichung zuerkannt wird, […] grundsätzlich an den Interpretationen, die historisch jeweils von den gesellschaftlichen Zielstellungen vorherrschen.“125 Die Verwirklichung einer gehaltvollen Vorstellung personaler Autonomie ist folglich davon abhängig, welche Interaktionsmuster als unverzichtbare Voraussetzung der individuellen Freiheit aller Gesellschaftsmitglieder gelten können.126 Zu streiten ist nun darum, welcher Gruppe es warum gelingt, die eigenen Leistungen und Überzeugungen öffentlich als besonders wertvoll zu verankern. Als wertvoll können solche Vorstellungen dann gelten, wenn sie eine interpretatorisch gehaltvolle und überzeusetzen. Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 209. 123  Die Debatten um die Tragfähigkeit der Annahme einer von allen Individuen einer Gemeinschaft geteilten ‚common morality‘ sind nicht nur sehr kontrovers und werden mit großer Intensität und Leidenschaft geführt, sondern unterscheiden sich neben den jeweiligen Begründungstheorien vor allem hinsichtlich ihrer anwendungstheoretischen Ausgestaltung. Vgl. auch: Hope (2012): Common humanity as a justification for human rights claims. Honneth präzisiert in seinen Ausführungen weder, wie ein solch gemeinsam geteilter Werthorizont beschaffen und begründet sein könnte, noch welche Anwendungsperformative sich aus den formalen Leitideen ergeben. Zwar lässt Honneth durchblicken, dass er zwischen den unterschiedlichen Möglichkeiten der semantischen Ausgestaltung von Autonomie und Menschenwürde eher für ein gehaltvolles Konzept der Autonomie votieren würde, lässt aber offen, welche geltungstheoretischen Konsequenzen hieraus folgen. Dieses könnte, wie an späterer Stelle noch kurz skizziert wird, vor allem damit zusammenhängen, dass Honneth neben der Annahme einer ‚common morality‘ implizit auch eine gerichtete Fortschrittsentwicklung einer solchen vor Augen hat. Dies zeigt sich etwa dann, wenn er in den Prozessen intersubjektiver Anerkennung nicht nur die Ermöglichung eines gehaltvollen Selbstverhältnisses verortet sieht, sondern dieses zugleich in die, historisch bedingte, Entwicklung einer höheren, wenn auch mitunter partikular gebrochenen Form allgemeiner Sittlichkeit stellt: Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 280. 124  Vgl. Honneth (2010a): Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie, 62 f. 125 Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 205. 126  Vgl. Honneth (2001b): Leiden an Unbestimmtheit. Eine Reaktualisierung der Hegelschen Rechtsphilosphie, 87.

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gende Auslegung der übergreifenden Wertvorstellungen liefern. Den sich so etablierenden Kampf um soziale Wertschätzung versteht Honneth als eine Ökonomie der Aufmerksamkeit, als deren Währung dann symbolisch vermittelte Handlungen fungieren, mittels derer die Individuen ihren sozialen Wert in einer Gesellschaft anzuheben versuchen. Ein solcher Prozess der wechselseitigen Einbringung von eigenen Fähigkeiten und gegenseitiger Wertschätzung führt dann zu einer dritten Art des Selbstverhältnisses, der Selbstschätzung. Die Interaktionssphäre, in welcher sich diese vollzieht, bezeichnet Honneth als die der Solidarität. Beziehungen der sozialen Wertschätzung sind deswegen solidarisch zu nennen, „weil sie nicht nur passive Toleranz gegenüber, sondern affektive Teilnahme an dem individuell Besonderen der anderen Person wecken: Denn nur in dem Maße, in dem ich aktiv dafür Sorge trage, daß sich ihre mir fremden Eigenschaften zu entfalten vermögen, sind die uns gemeinsamen Ziele zu verwirklichen.“127 Die Symmetrie eines wechselseitigen Einbringens der jeweiligen Fähigkeiten und Leistungen bedeutet nicht, dass alle eingebrachten Leistungen und Fähigkeiten zu gleichen Teilen wertgeschätzt werden; dieses kann zwar eine mögliche Konsequenz der Solidarität sein, nicht aber deren Bedingung. Vielmehr geht es um die Eröffnung und dann auch Gestaltung eines Möglichkeitsraums, in dem die jeweiligen individuellen Fähigkeiten eingebracht werden können. Zugleich lässt Honneth aber offen, inwiefern eine solche Offenheit sich dann nicht nur in einer theoretischen, sondern auch in einer faktischen Offenheit beweisen muss. Analog zu den Anerkennungsformen von Liebe und Recht schreibt Honneth auch der Solidarität eine pathologische Form zu. Konkret liegt eine Entwürdigung dann vor, wenn bestimmte Muster der Lebensverwirklichung degradiert werden. Was einem Selbstbezug in der Missachtung in der Anerkennungssphäre der Solidarität entzogen wird, ist die soziale Zustimmung zu einer bestimmten Weise der individuellen Lebensverwirklichung, die sich erst in den intersubjektiven Anerkennungsprozessen herausgebildet hat.128 Dementsprechend erfährt eine Person dann Missachtung, wenn sie in ihrer bestimmten Lebensform, die Honneth selbst als nicht beliebig, sondern als integralen Bestandteil eines Selbstverhältnisses versteht, keine Wertschätzung erfährt.129 Zugleich führt Honneth aus, dass ein Subjekt eine solche mangelnde Wertschätzung einer Lebensform „nur in dem Maße auf sich selbst bezieht, in dem sich die institutionell verankerten Muster der sozialen Wertschätzung historisch individualisiert haben, also statt auf Kollektiveigenschaften auf individuelle Fähigkeiten wertend 127 Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 210. 128  Vgl. Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 217. 129  Siehe hierzu auch die Ausführungen zu Begriff und Konzept der Lebensform in Kapitel 6.1 FN 258 und Kapitel 6.6 FN 511.

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Bezug nehmen; daher ist auch diese Erfahrung, wie schon die der Entrechtung, in einen Prozess historischer Veränderungen eingespannt.“130 Honneth versteht die drei Formen der Missachtungserfahrungen – Vergewaltigung, Entrechtung und Entwürdigung – außerdem als analog zu körperlichen Verfallszuständen. Die Vergewaltigung bezeichnet Honneth als psychischen Tod, die Entrechtung als sozialen Tod und die Entwürdigung als Kränkung.131 Angesichts dieser Analogisierung stellt sich aber zugleich der Verdacht ein, dass Honneth die essenzielle Bedeutung von sozialen Lebensformen für die Selbstverhältnisse von Personen nicht nur im Vergleich zu den anderen Missachtungswiderfahrnissen eher am Rande behandelt, sondern auch systematisch vorrangig eher sozialen Gruppen denn einzelnen Selbstverhältnissen eines Selbst zuschreibt.132 Vor dem Hintergrund der bisherigen Darstellung kann festgehalten werden, dass die explizierten Interaktionsformen der Anerkennung für Honneth die intersubjektiven Voraussetzungen dafür konstituieren, dass Wesen fähig sind, einen individuellen Selbstbezug zu bilden und selbstbestimmt zu leben.133 Die Muster intersubjektiver Praktiken, wie sie Honneth mit Liebe, Recht und Solidarität benennt, unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Universalisierbarkeit und ihrer Funktionsweisen. Wie sich in dem bisherigen Untersuchungsgang bereits angedeutet hat, erweist sich als neuralgischer Punkt einer Konzeption intersubjektiver Anerkennung die honnethsche These, der zufolge der grundlegende Prozess der Anerkennungsbewegung auf ein positives Selbstverhältnis zielt. Ebenso wie bei Hegel wird die Negation, also hier: die Erfahrung von mangelnder Anerkennung, als eine Triebfeder einer gerichteten Bewegung hin zu einer beständig höheren Stufe der Sittlichkeit verstanden.134 Wenn aber alle Interaktionen zwischen Selbst und Anderem auf eine höhere Form von Sittlichkeit zielen, müsste das einzelne Individuum in den Prozessen intersubjektiver Anerkennung nicht nur Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstwertschätzung gewinnen, sondern in und durch die Prozesse der Anerkennung auch zu einem ungebrochenen, positiven Selbstverhältnis135 als Ausdruck eines gelingenden Lebens gelangen. Die Prozesse intersubjektiver Anerkennung sind in diesem 130 Honneth

(2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 217. 131  Vgl. Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 218. 132  Vgl. Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 205. 133  Vgl. Honneth (2012a): Das Andere der Gerechtigkeit, 51. 134  Vgl. auch die detaillierte Auseinandersetzung mit diesem Problem bei Ricœur, der trotz seines detaillierten Aufzeigens der Probleme eines solchen Ansatzes Hegel und Honneth in der Stoßrichtung folgt: Ricœur (2006): Wege der Anerkennung. Erkennen, Wieder­ erkennen, Anerkanntsein, 218. 135  Vgl. Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 278.

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Sinne nicht ergebnisoffen, sondern zielen vielmehr auf die Bildung von stabilen Selbstverhältnissen.136 Inwiefern Selbstverhältnisse als stabil und insofern als gelungen realisiert werden, könnte dann wiederum als Gradmesser für den sittlichen Fortschritt einer Gesellschaft insgesamt verstanden werden.137 Präzisierend kann sogleich eingewendet werden, dass das Problem nicht ist, dass Honneth nicht durchaus Momente der Diskontinuität in den Identitätsbildungsprozessen zugestehen kann. Ganz im Gegenteil: Die individuellen wie kollektiven Widerfahrnisse von Missachtung, so hat sich ja in der Untersuchung zu Honneths Konzeption intersubjektiver Anerkennung gezeigt, sollen ja gerade die moralische Triebkraft für die Forderung nach erweiterten Anerkennungsbeziehungen bilden.138 Problematisch bleibt vielmehr, dass ein Selbst in seinem Selbstverhältnis zwar durchaus gestört und durchkreuzt werden kann, dabei jedoch immer auf das Ziel eines ungebrochenen Selbstverhältnisses ausgerichtet bleibt. Honneth pathologisiert mit seiner Definition von Selbstverhältnissen vorschnell solche Anerkennungsprozesse, die nicht zu einem stabilen Selbstbezug, im Sinne eines vollständig rational artikulierbaren, führen. Darüber hinaus wird in den Ausführungen Honneths nicht weiter expliziert, warum die Herausforderung bei der Gewinnung eines positiven Selbstverhältnisses nicht gerade darin bestehen könnte, Selbstverhältnisse von ihrer spannungsvollen und nicht auflösbaren Ambiguität her zu verstehen. Dementsprechend wird sich in den weiteren Untersuchungen zeigen, dass das, was mit der Rede von einem Selbstbezug bezeichnet ist, nicht so gedacht werden kann, dass die Bruchlinien und Ambiguitäten, die in einen Selbstbezug eingeschrieben sind, durch eine Auflösung in Kontinuitätsmomente beseitigt werden, sondern vielmehr blei136  Vgl. Honneth (2003a): Umverteilung als Anerkennung. Eine Erwiderung auf Nancy Fraser, 209. 137  Honneth hat in seinen jüngsten Veröffentlichungen eine Präzisierung vorgenommen. Seine These eines Primats der als Bedingungs- wie Ermöglichungsraum einer vagen gehaltvollen Vorstellung des Guten verstandenen Sittlichkeit vor der Moral koppelt er nun mit einer manifesten Kritik an den bestehenden Sozialverhältnissen, denen er eine Verwilderung attestiert. „Verwildert ist der soziale Konflikt demnach, weil der Kampf um Anerkennung in den vergangenen Jahrzehnten seiner moralischen Grundlagen so stark verlustig gegangen ist, dass er sich in einen Schauplatz unkontrolliert wuchernder Selbstbehauptung verwandelt hat.“ Honneth (2013b): Verwilderungen des sozialen Konflikts. Anerkennungskämpfe zu Beginn des 21. Jahrhunderts, 36. Entsprechend ist die Diagnose eines Prozesses der sozialen Verwilderung für Honneth vor allem deswegen problematisch, da er die Reichweite der intersubjektiven Anerkennungsrelationen in den von den Mitgliedern einer Gesellschaft gemeinsam geteilten Werten und Normen begründet sieht. Was die Verwilderung also anzeigt, ist eine gewisse Erstarrung vorher dynamischer Prozesse, die sich vor allem in einer mangelnden sozialstratifikatorischen Durchlässigkeit von unten nach oben manifestieren. In diese Richtung argumentiert Honneth auch in: Honneth (2015a): Die Idee des Sozialismus. Versuch einer Aktualisierung. Siehe hierzu auch: Freyenhagen (2015): Honneth on Social Pathologies: A Critique. 138  Vgl. Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 260.

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bend widerständig erscheinen und die Fragilität von Identitätsbildungsprozessen insgesamt ausmachen.

5. Herausforderungen eines Modells intersubjektiver Anerkennung 5.1 Anerkennung als fundierender Möglichkeitsraum Mit der von Honneth vorgenommenen Koppelung von Prozessen intersubjektiver Anerkennung an die Zielsetzung eines ungebrochenen Selbstverhältnisses sind unmittelbar, wie im Folgenden ausgeführt wird, auch Fragen nach der Konzeption intersubjektiver Anerkennung selbst verbunden. So hatte Honneth den Primat der Sittlichkeit vor der Moral ja damit begründet, dass ein stabiles Selbstverhältnis nur dann möglich ist, insofern es in einen intersubjektiven Bedingungs- und Begründungszusammenhang gestellt ist. Für die Genese eines solchen Selbstverhältnisses hatte Honneth zur Voraussetzung gemacht, dass sich das Selbst nur als ein Selbst in einem Anderen entdecken und identifizieren kann. Als wechselseitig hatte sich ein solcher Prozess gezeigt, weil sich Selbst und Anderer gegenseitig affizieren, sich finden und – dieser Aspekt kommt in den Ausführungen wenn überhaupt nur am Rande vor – wieder verlieren. Von einer tatsächlichen wechselseitigen Affizierung kann aber nur dann die Rede sein, wenn nicht bereits vorgegeben ist, wie das jeweilige Affizierungsmoment bestimmt ist. Als wer oder was ein Selbst von einem Anderen anerkannt wird, ist bleibend riskant, und in diesem Sinne enttäuschen Prozesse der intersubjektiven Anerkennung auch zwangsläufig das gegenseitig versprochene wie erwartete Selbstverhältnis.139 Mit anderen Worten: Identitätsbildungsprozesse enthalten und produzieren – in Anknüpfung an Derrida – zwangsläufig Offenheit für Differenz:140 Sie enthalten ein Moment der Unabschließbarkeit, ver139 

Vgl. Bedorf (2010b): Verkennende Anerkennnung, 103. Derrida (2004): Die Einsprachigkeit der Anderen. Oder die ursprüngliche Prothese, 51. Derrida selbst unterscheidet zwischen Differenz und Différance. Während Ersteres die allgemeine Trennbarkeit von zwei begrifflichen Aussagen bezeichnet, markiert der Terminus der Différance die prinzipielle Untrennbarkeit zwischen Idealität und Nicht-Idealität, die für sich wiederum insofern ‚unendlich‘ ist, da sie in der gegenwärtigen Erschließung zwar temporär als überbrückbar geglaubt werden kann, sich dabei aber doch stets selbst entzieht. Vgl. auch: Derrida (2003): Die Stimme und das Phänomen, v.a. 133–140. Verdeutlichen lässt sich dieser Unterschied an der Identitätsaussage ‚Ich bin‘, welche auf einem Blatt Papier notiert wird. Mit Differenz bezeichnet Derrida nun die Beobachtung, dass mit dem Aufschreiben der Worte ‚Ich bin‘ gleichsam eine Trennung in der Präsenz eines Ichs in der Aussage beobachtet werden kann. Die Niederschrift der Aussage fügt der Präsenz gewissermaßen symbolisch Tod hinzu, etwas, was ich bin, aber auch nicht mehr bin. Mit seinem Theorem der Différance expliziert Derrida nun, dass eine solche Trennung nicht erst mit einer Handlung (wie z.B. der Verschriftlichung) einhergeht, sondern die Spur einer solchen Trennung bereits 140  Vgl.

5. Herausforderungen eines Modells intersubjektiver Anerkennung

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fehlen notwendigerweise die Erwartungserwartungen,141 stehen einer finalen Abschließbarkeit entgegen und unterminieren die Rede einer bruchlosen Identität. Es ist wenig verwunderlich, dass sich der stärkste Widerspruch gegen die Annahme, dass eine solch bruchlose Identität überhaupt möglich sein könnte, vorrangig in der phänomenologischen Traditionsströmung selbst findet. Als gemeinsamer Ausgangspunkt zwischen der honnethschen Konzeption und den phänomenologischen Denkmustern kann der Verweis auf die geradezu paradigmatische Bedeutung von Widerfahrnissen und den konstitutiven Bezug auf den Anderen als Bedingungselemente personaler Autonomie verstanden werden. Ein Verständnis solcher Widerfahrnisse schließt sich, so hat sich in der Kritik an Honneths Verständnis der Anerkennungsprozesse von Selbst und Anderem gezeigt, aber anderseits kurz, wenn es sein primäres Interesse auf eine vermeintliche Beseitigung von ‚Bruchlinien der Erfahrung‘ richtet, beispielsweise indem man Anerkennungsprozesse mit der Perspektive versieht, hinter die jeweiligen Bruchlinien, die jeweiligen Spuren des Fremden zurückkommen zu wollen.142 Vielmehr, so lässt sich festhalten, sind es Widerfahrnisse eines Anfangs nicht bei sich selbst oder ein bleibend irritierender oder faszinierender Blick eines Anderen, welche uns anstoßen, uns zuvorkommen, uns anrühren und verletzen. Nicht verstanden als eine universale Grundschicht, „sondern [als, MB] ein Geschehen, in das wir wohl oder übel und auf immer verwickelt sind.“143 Die in der Aussage selbst zu finden ist, mehr noch: Die Aussage kann ohne den Rückgriff auf solche Spuren des Fremden, der Unterbrechung gar nicht getätigt werden; es gibt keinen Pfad zu einem originalen, nicht von Spuren des Fremden durchzogenen Startpunkt. 141  Vgl. Luhmann (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, 411. Erwartungserwartungen markieren dabei notwendige Strukturmomente sozialer Systeme, indem sie angesichts der Erfahrung von (doppelter) Kontingenz, Komplexität zu reduzieren erlauben und damit stabilisierend auf soziale Systeme wirken. 142  Als einen solchen Versuch kann man auch Husserls Arbeiten lesen, die einerseits ein großes Sensorium für die Wahrnehmung, Beobachtung und Bearbeitung solcher Bruchlinien der Erfahrung bieten, diese zugleich aber mit dem Versuch kombinieren, wieder zu einem originalen Moment der Selbstpräsenz zurückzukommen, der Selbstvergessenheit des Subjektes gewissermaßen zu entkommen. Vgl. Husserl (1973a): Husserliana 8. Erste Philosophie (1923/24). Zweiter Teil Theorie der phänomenologischen Reduktion, 176. So führt Husserl beispielsweise aus, dass ein Entwurf einer Phänomenologie der Intersubjektivität solipsistisch beginnen müsse, also am Anfang eine primordiale Reduktion durchzuführen sei, welche sich zum Ziel setzt, die Eigenheitssphäre des Selbst zu isolieren und gewissermaßen zu bewahren. Vgl. Husserl (1973c): Husserliana 15. Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Dritter Teil 1929–1935, 270 f. Eine schlüssige Gegeninterpretation schlägt dabei Dan Zahavi vor. Er liest (den späten) Husserl vorrangig als einen Intersubjektivitätstheoretiker. Dabei kann eine solche Intersubjektivitätstheorie gerade keine Dritte-Person-Perspektive einnehmen, sondern entwickelt die Beschreibungen einer Phänomenologie der Intersubjektivität aus einer Erste-Person-Perspektive: „[N]ur meine Erfahrung von und Beziehung zu einem anderen Subjekt, ebenso wie diejenigen meiner Erfahrungen, die den anderen voraussetzen, verdienen es, im eigentlichen Sinne als intersubjektiv bezeichnet zu werden.“ Zahavi (2009): Husserl Phänomenologie, 117. 143 Waldenfels (2002): Bruchlinien der Erfahrung, 9.

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II. Teil: In prekären Verhältnissen

Gestaltungskraft solcher Erfahrungen liegt, so wird sich in Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Jean-Luc Nancy und Bernhard Waldenfels zeigen, in einer Reaktion, in einem Antworten auf einen Anspruch, der der Möglichkeit eines Selbstbezugs immer schon voraus ist. Mit Jacques Derrida lässt sich ein solches Ereignis auch als eine Différance, ein Auseinandertreten von Selbst und Anderem, von Besonderem und Allgemeinen bezeichnen. Diese phänomenologische Justierung des honnethschen Entwurfes markiert eine wesentliche Einsicht für eine tragfähige Konzeption intersubjektiver Anerkennung: Selbst und Anderer begegnen sich und bleiben sich doch entzogen, finden sich im Anderen und haben sich doch nie ganz.144 Das Selbst kann sich eben nicht ohne Verlust seiner selbst wieder seiner Beziehung mit dem Anderen entziehen, so als könnte es sich ohne Weiteres auch ohne einen solchen Bezug haben. Die Herausforderung eines solchen sich nie schließen könnenden Selbstverhältnisses kann folglich so beschrieben werden: Ist zwar einerseits an der Möglichkeit einer Präferenz eines Selbstbezugs im Fremdbezug als Grundvoraussetzung für die Rede von einem seine Lebenswelt gestaltenden Subjekt festzuhalten, so widersetzt sich der Fremdbezug doch andererseits einer einfachen Unterordnung unter den Selbstbezug. Insofern lassen sich Identitätsbildungsprozesse, lässt sich die Frage, wer jemand ist und ob er als Jemand anerkannt wird, nicht abschließend beantworten, sondern muss sich in den praktischen Vollzügen erweisen. Mit anderen Worten: Auch wenn auf der notwendigen Zuschreibung von Identität insistiert wird, sind die modalen Differenzen, wie die Zuschreibung dann wiederum Anerkennung erfährt, keineswegs bereits geklärt, sondern treten umso stärker als mögliche Bruchlinien – ebenso wie Gestaltungsräume – auf den Plan. Ein Verständnis intersubjektiver Anerkennung wird im Folgenden deshalb so zu konzipieren sein, dass sich Selbst und Anderes wechselseitig sowohl in dem bestimmen, was/wer sie sind oder sein könnten, als auch in dem, was/wer sie füreinander sind.145 Zugleich zieht das bisher Entfaltete die Konsequenzen nach sich, dass eine Öffnung von sittlichen Entfaltungs- und Gestaltungsräumen nur dann sinnvoll gedacht werden kann, wenn die einzelnen Akteure bereit sind, sich bei der Begegnung mit anderen Akteuren zumindest partiell auf einen Akt moralischer Selbstbeschränkung einzulassen. Dieser bereits bei Hegel erscheinende Gedanke, den Lévinas dann in seinen Überlegungen zum Antlitz des Anderen weiterentwickelt,146 verweist auf zwei Notwendigkeiten: Zum einen ist ein 144 

Vgl. Waldenfels (2007): Antwortregister, 209. (2007): Antwortregister, 212. 146  Vgl. Lévinas (2008a): Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, 283 ff. Das Antlitz, in dem sich der absolut Andere präsentiert, markiert dabei den Punkt, an welchem dem Selbst deutlich wird, dass es keine in sich ruhende Identität besitzt. In dem Moment des Erblickens des Antlitzes des Anderen erfährt die eigene Freiheit des Selbst eine Begrenzung und erhebt sich zur Verantwortung. So führt Lévinas aus: „Nicht die Begrenzung 145 Waldenfels

5. Herausforderungen eines Modells intersubjektiver Anerkennung

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Selbst zur Erlangung eines Selbstverhältnisses auf einen Anderen angewiesen, es hat seinen Ursprung nicht bei sich selbst.147 Zum anderen erfordert die Interaktion mit einem Gegenüber zumindest partiell eine Selbstrücknahme und damit die Abkehr des Blickes von sich und die Fokussierung auf etwas außerhalb seiner selbst, da nur so der Andere als Anderer überhaupt sichtbar werden kann.148 Zugleich kann ein Selbstbezug aber überhaupt nur dann gedacht werden, sofern er auf eine distinguierbare Präferenz des Eigenen verweist und nicht gänzlich im Anderen aufgeht. Wie also lässt sich die Wechselseitigkeit zwischen Selbst und Anderem denken? Die Untersuchung dieser Frage erfolgt wiederum zunächst in Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Axel Honneth. Honneth versteht den Prozess der Anerkennung als eine öffentliche Expression,149 im Sinne eines Prozesses der Sichtbarmachung eines erblickten Anderen als Person. Dass jemand oder etwas unsichtbar ist, bedeutet nicht, dass etwas oder jemand nicht da ist – also nicht erkannt werden kann –, sondern dass er so behandelt wird, als ob er nicht da wäre und damit in einem sozialen Sinne nicht existent ist. Die Prekarität von Anerkennungsprozessen, so lässt sich mit Honneth betonen, besteht folglich gerade darin, dass jemand physisch da sein kann und doch unsichtbar bleibt. In den Prozessen intersubjektiver Anerkennung wird also entschieden, ob und wenn ja unter welchen Voraussetzungen jemand als ein Jemand sichtbar wird, bleibt oder eben nicht. Rückbezogen auf die Anwendung von Zwang in psychiatrischen Kontexten: Die Schwierigkeit besteht in den meisten Fällen nicht darin, dass keine Artikulation vonseiten der betroffenen Person erfolgt, sondern darin, dass unklar ist, inwiefern die Artikulation als Ausdruck einer Willensbekundung der betroffenen Person gehört und anerkannt wird. Angesichts der so skizzierten Herausforderung deutet sich an, dass sich die Prozesse der Anerkennung, in denen entschieden wird, was zur Sichtbarkeit gelangt und was nicht, einer strikten Unterordnung unter den Prozess des Wahrnehmens widersetzen. Nicht nur sind die Reichweite und Tiefenschärfe des Erkennens abhängig von den umgebenden Raum- und Zeitmustern, sondern ebenso spannt der Prozess der öffentlichen Expression einen normativen, nicht zuletzt kulturell tradierten Hintergrundrahmen, in dem bereits Vorentdurch den Anderen macht die Kontingenz aus, sondern der Egoismus; denn er hat aus sich selbst keine Rechtfertigung. Die Beziehung mit dem Anderen als Beziehung mit seiner Transzendenz […] führt in mich ein, was nicht in mir war. Aber diese ‚Einwirkung‘ auf meine Freiheit setzt gerade der Gewalt und der Kontingenz ein Ende und stiftet auch in diesem Sinne die Vernunft.“ Lévinas (2008a): Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, 293. 147  Vgl. Honneth (2010a): Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie, 8. 148  Zur möglichen Bedeutung für das Arzt-Patienten-Verhältnis siehe exemplarisch: Fischer (2008): Gegenseitigkeit. Die Arzt-Patientenbeziehung in ihrer Bedeutung für die medizinische Ethik. 149  Vgl. Honneth (2003b): Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität, 15.

104 scheidungen darüber indiziert sind, welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit etwas als etwas und jemand als Jemand wahrgenommen wird. Honneth selbst führt aus, dass der Prozess der Anerkennung nicht nur Rückwirkungen auf den Prozess des Erkennens bedingt, sondern diesem gewissermaßen immer schon vorgelagert ist und so Erkennen erst ermöglicht.150 Um diese Annahme zu plausibilisieren, bezieht sich Honneth wiederum auf Winnicotts Entwicklungspsychologie: „Es ist nicht so, daß wir erst eine Erkenntnis vollziehen, die uns in unserem Gegenüber ein hilfsbedürftiges Kleinkind wahrnehmen läßt, bevor wir dann die entsprechenden Gesten der Ermutigung und des Mitgefühls zur Anwendung bringen; vielmehr scheinen wir auf die Wahrnehmung des Kleinkindes hier im allgemeinen direkt mit Expressionen zu reagieren, in denen eine grundsätzlich befürwortende Einstellung zum Ausdruck gelangt.“151 Würde im ersten Fall der Erkenntnis lediglich eine kognitive Überzeugung bekundet (dies ist ein Kleinkind), ginge es im zweiten Fall um die Signalisierung einer motivationalen Bereitschaft (Lächeln etc.). Dementsprechend versteht Honneth Anerkennungsprozesse als performative Akte, da sie Modi der Expression symbolisieren, die notwendig sind, um dem jeweiligen Gegenüber als Gegenüber gerecht zu werden. Den Anderen in einem Akt des Wohlwollens wahrzunehmen, schreibt bereits ein Element der Achtung dem Anderen gegenüber in die Wahrnehmung ein. Zugleich, so argumentiert Honneth, entscheidet sich aber ein Selbst in seinem Selbstbezug nicht einfach für einen solchen Akt der Achtung, sondern es ist der Akt der Achtung, der sich dem Selbst aufdrängt. Insofern kommt – mit Kant gesprochen – in dem Akt der Achtung ein Abbruch der eignen Neigungen zum Ausdruck.152 Einen solchen Abbruch der Neigung, oder bei Hegel: eine solche Begrenzung der Begierde, bezeichnet Honneth als eine gleichzeitige Dezentralisierung des Subjekts: In den expressiven Gesten der Anerkennung tritt die bereits faktisch vollzogene Einschränkung einer egozentrischen Perspektive hervor, die es zuallererst ermöglicht, dem Anderen als intelligiblem Wesen gerecht zu werden.153 Neben einer solchen Dezentralisierung des Subjekts, als Signifikat der Frage, wer ist es eigentlich, der gerade handelt, geht Honneth zudem davon aus, dass das Selbst im Akt des Anerkennens – wobei Honneth seine eigene Differenzierung der Anerkennung in drei unterschiedliche Formen nicht weiter berücksichtigt – gleichursprünglich motiviert ist, auf alle Handlungen zu verzichten,

150  Vgl. Honneth (2003b): Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität, 17. 151 Honneth (2003b): Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität, 17 f. 152 Vgl. Kant (2000): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, W Bd. VII, A Bd. IV 1785, 27. 153  Vgl. Honneth (2003b): Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität, 24.

105 die einfach Resultat seiner egoistischen Impulse wären. 154 In dem Moment, wo ein Selbst ein anderes Selbst anerkennt, gesteht es ihm gewissermaßen eine moralische Autorität zu, die das Selbst wiederum veranlasst, das Gegenüber zukünftig als ein personales Wesen zu behandeln.155 Mit dieser Beschreibung eines den Anerkennungsprozessen zugrunde liegenden moralischen common sense eröffnet sich ein Raum für eine Vielzahl an Gesten, mittels derer der anerkennende Akt zum Ausdruck gebracht werden kann. Je nach Art der Expression wird eine andere Art der Bereitschaft signalisiert, sich auf das Gegenüber in der Anerkennungsform der Liebe, des Rechts oder der Solidarität einzulassen. Vor diesem Hintergrund ergeben sich vorrangig zwei systematische Probleme: Erstens könnte man fragen, inwieweit ein solcher Akt der Wertschätzung als eine besondere Art der Wahrnehmung verstanden werden könnte, sodass, anders als von Honneth zunächst postuliert, die Vorrangigkeit der Anerkennung vor dem Prozess des Erkennens noch einmal infrage gestellt wäre. Zweitens wird deutlich, dass auch die von Honneth vorgenommene Verhältnisbestimmung von Anerkennen und Erkennen die Annahme impliziert, dass Anerkennung zwar über Modi der Missachtung durchaus diskontinuierliche Elemente enthalten kann, welche die wechselseitigen Interaktionen bedrohen, diese aber wiederum zugunsten einer gelingenden Selbstkonzeption auflösbar scheinen.156 Selbst wenn man bereit ist, zuzugestehen, dass alles andere, als von einer grundsätzlichen Bereitschaft zu einem wertschätzenden Umgang unter den Individuen innerhalb einer Gesellschaft und vice versa auszugehen, eher als Problembeschreibung denn als Lösungsstrategie zu verstehen wäre, bleibt die Frage, inwiefern konkrete Erfahrungen der Verletzbarkeit sich wirklich ohne Weiteres in die Zielperspektive der Wertschätzung integrieren lassen. Zu unterscheiden ist zunächst zwischen den konkreten Widerfahrnissen von Missachtung und einer grundlegenden Form von Verkennung. Während Missachtung ein Zuwiderlaufen gegen bereits ausgehandelte und mitunter artikulierte An­­erken­nungs­an­sprüche bezeichnet, werden mit Verkennung die mitunter konstitutiven Bruchlinien und Reibungseffekte bezeichnet, die Subjektwerdung zuallererst ermöglichen. Verkennung drückt eine grundlegende signifikative Differenz157 in der Wahrneh154  Vgl. Honneth (2003b): Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität, 22. 155  Vgl. Honneth (2003b): Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität, 22. 156  Vgl. Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 196. 157  Vgl. Waldenfels (1980): Der Spielraum des Verhaltens, 86, 129 f. Die ‚signifikative Differenz‘ bezeichnet dabei ein Grundmoment der Erfahrung, gewissermaßen den (nicht erreichbaren) Nullpunkt in der Wahrnehmung und Betrachtung der Lebenswelt. Vgl. Waldenfels (1998a): Grenzen der Normalisierung. Studien zur Phänomenologie des Fremden 2, 21. Die Konjunktion ‚als‘ fungiert dabei „als Drehscheibe der Gestaltbildung, Sinngebung und Regelung“ (Waldenfels (2012): Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung, 359),

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mung von etwas als etwas und jemandem als Jemand aus. Mit anderen Worten: Verkennung kann als ein grundlegendes Deutungsmuster der Wirklichkeitserfahrung verstanden werden.158 Ein so aufgespannter Wirklichkeitsraum erlaubt Individuen, miteinander zu interagieren und Missachtungs- wie Achtungserfahrungen zu machen. Zugleich sind solche Erfahrungen aber beständig durchzogen von den sie ermöglichenden Strukturelementen, die mit ihren zeitlichen, räumlichen, modalen und kognitiven Differenzen verhindern, daraus unmittelbar ein ganzheitliches, geschlossenes Selbstkonzept zu entwickeln.159 Weder fundamentale Verkennung noch die Erfahrung konkreter Missachtung lassen sich einfach in Wertschätzung auflösen. Während Verkennung den fundamentalen Prozess der Ermöglichung von Selbstbezüglichkeit beschreibt, markieren Missachtungserfahrungen Ereignisse, welche es gerade zu vermeiden gilt. In dem Fall, in dem einer Person Missachtung widerfährt, mag die Erfahrung von Wertschätzung mitunter hilfreich für den Umgang mit der jeweiligen Missachtungserfahrung sein, sie wird die Missachtung selbst aber weder auflösen noch in einen Rechtfertigungszusammenhang stellen können. Kurzum: Die Widerfahrnis von Missachtung kann eine motivationale Quelle für den Kampf gegen bestimmte Unrechtsformen sein, sie kann aber genauso dazu führen, dass einem Selbst dauerhaft Verwirklichungsräume verwehrt bleiben. Honneths Ansatz kann allerdings den Verdacht nicht ganz ausräumen, dass Anerkennungsprozesse in seiner Konzeption als mehr oder minder lineare Proohne jedoch auf eine verborgene oder gar fundierende Struktur zu verweisen. Was dabei in dem ‚als‘ sichtbar wird, ist die Perspektive, aus der heraus ein Phänomen als dieses oder jenes erscheint. 158  In Anknüpfung an die Arbeiten Bonhoeffers – hier vor allem die zum Wirklichkeitsverständnis – kann, in enger Anknüpfung an die Arbeiten von Peter Dabrock, auf die Inkommensurabilität unterschiedlicher Wirklichkeitsmodi verwiesen werden. Vgl. exemplarisch: Dabrock (2009b): Wirklichkeit verantworten. Der responsive Ansatz theologischer Ethik bei Dietrich Bonhoeffer. So besteht für ein theologisch-ethisches Denken ein gewichtiger Unterschied zwischen einer Beschreibungsperspektive vom ‚Letzten‘ auf das ‚Vorletzte‘ blickend oder aber ausgehend vom ‚Vorletzten‘ auf das ‚Letzte‘. Beide Perspektiven sind durchaus adäquate Wirklichkeitsbeschreibungen, die aber nicht einfach deckungsgleich aufeinander bezogen werden können. Vielmehr lassen sich diese nur unter Rückgriff auf die Differenz von ‚schon jetzt‘ und ‚noch nicht‘ miteinander verbinden. So ist das Letzte nicht die Krönung, sondern der vollständige Abbruch des Vorletzten. Dennoch bleibt das Vorletzte bestehen, obwohl es durch das Letzte gänzlich aufgehoben und außer Kraft gesetzt wird. Vgl. Bonhoeffer (2006): Ethik, 141. Letztes und Vorletztes lassen sich also weder einfach miteinander verbinden, noch bleiben sie radikal getrennt. Vielmehr fordern sie sich gerade in der unüberbrückbaren Differenz wechselseitig heraus. 159  So führt Emmanuel Lévinas aus: „Selbst wenn ich mir den Anderen durch die Konjunktion ‚und‘ verbunden habe, fährt der Andere fort, mir gegenüber zu sein, sich in seinem Antlitz zu offenbaren.“ Lévinas (2008a): Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, 111. Insofern können sich die sich in den Prozessen intersubjektiver Anerkennung eröffnenden Räume nur rein formal zusammenschließen: Eine Synthese erfolgt immer in einer bestimmten Perspektive, in einer bestimmten Antwortkonstellation. Vgl. auch: Lévinas (1995): Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, 183.

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zesse mit einer begrenzten Zahl an Auswahlmöglichkeiten zu verstehen sind. So eröffnen sich in den von Honneth beschriebenen wechselseitigen Anerkennungsprozessen zwar viele Möglichkeiten, als wen oder was sich die Individuen wechselseitig anerkennen können. Insofern kommt der Frage nach der Art und Weise innerhalb solcher Anerkennungsmuster in Honneths Konzeption eher eine untergeordnete Rolle zu. Dementsprechend macht es nicht nur einen gleichermaßen großen Unterschied, ob ich einen Menschen zugleich oder primär als Menschen, als Farbigen, als gleichberechtigten Bürger, als Freund etc. anerkenne, sondern auch auf welche Art und Weise die jeweilige Anerkennung erfolgt. Gleichermaßen lässt sich das Skizzierte auf den in dieser Studie behandelten Kontext psychisch Kranker anwenden: Neben der Entscheidung, ob eine Person zugleich oder primär als psychisch Kranker, als Patient, als selbstbestimmter Bürger etc. anerkannt wird, kommt es in nicht unerheblichem Maße darauf an, auf welche Art und Weise dies jeweils erfolgt.160 Solche Zuschreibepraktiken treten außerdem in Konkurrenz zu den Selbstbildern, mit Niklas Luhmann gesprochen: den Erwartungserwartungen161, sei es der jeweiligen Individuen oder gesellschaftlicher Tradierungen. Eine Konzeption intersubjektiver Anerkennung müsste darüber Auskunft geben können, wie sie solche Prozesse systematisch abbilden und auf ihre handlungsleitenden Konsequenzen hin befragen kann. Entsprechend wird im Folgenden zunächst in Kapitel 5.2 ausgeführt, inwiefern sich Prozesse des Wahrnehmens und Erkennens als in rela160  Auch wenn es weiterhin einen hohen Bedarf an empirischen Studien zur Selbstwahrnehmung von Patienten mit einer psychischen Erkrankung gibt, lässt sich ein übergreifendes Ergebnis doch festhalten: Die untersuchten psychisch Kranken verweisen durchweg auf die Bedeutung der Zuschreibung ‚psychisch krank‘. Als besonders problematisch wird aber dabei nicht die Anerkennung als psychisch Kranker gesehen, sondern die damit verbundenen Bilder, Urteile und vor allem die damit verbundenen Umgangsweisen. Besonders eindrücklich wird dieses an einer Kampagne, die ab 1993 in Japan durchgeführt worden ist: Auf Initiative der Japanese Society of Psychiatry and Neurology (JSPN) wurde versucht, einen neuen Namen für die Krankheit Schizophrenie zu etablieren. In Zusammenhang mit der sukzessiven Etablierung der neuen Bezeichnung ‚Togo-Shitcho Sho‘ (integratives Dysregulierungs Syndrom) für die alte Bezeichnung ‚Seishin Bunretsu Byo‘ (gespaltene Persönlichkeit) konnte ein Wandel in der Selbstwahrnehmung und Akzeptanz der Diagnose sowie ein Rückgang der Selbststigmatisierungen beobachtet werden. Vgl. Sato (2006): Renaming schizophrenia: a Japanese perspective. Ähnliche Effekte konnten mittlerweile auch in Südkorea (vgl. Lee, et al. (2013): Renaming schizophrenia in South Korea) und unterschiedlichen Metastudien gezeigt werden. Vgl. exemplarisch: George & Klijn (2013): A modern name for schizophrenia (PSS) would diminish self-stigma. Ähnliche Effekte für die Binnenperspektive der Patienten deuten sich auch für den Umgang mit Zwangsbehandlungen an. Entscheidend dabei war jedoch nicht die Benennung der Krankheit oder der Maßnahme, sondern die Art und Weise des Umgangs in den jeweiligen Ausnahmesituationen. Vgl. Patterson, et al. (2011): Compulsory community treatment and patients’ perception of recovery in schizophrenia. An solchen Studien zeigt sich, dass die Frage, was anerkannt wird, wesentlich von den modalen Differenzen abhängig ist und Honneths Ansatz auch hinsichtlich der praktischen Konsequenzen in eine Schieflage gerät. 161 Luhmann (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, 158 f.

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tionale Anerkennungsverhältnisse eingebettet zeigen, bevor dann die hieraus zu ziehenden Konsequenzen für die Rede von einem Selbstbezug eines Selbst eruiert werden.

5.2 Zwischen Erkennen und An-Erkennen Im Unterschied zu den klassischen philosophischen Debatten der Neuzeit um die Frage, wie zuverlässige Erkenntnis möglich sei, plädiert Honneth schlussendlich für einen Primat des An-Erkennens vor dem Erkennen.162 Pointierter ausgedrückt: In den intersubjektiven Räumen der kulturellen Lebenswelt werden die Paradigmen gebildet und verhandelt, die in der Generierung von Erkenntnis – oftmals nicht weiter analysiert – immer schon vorausgesetzt werden.163 Deshalb sieht Honneth das Problem des umgekehrten Primats, also des Erkennens vor dem An-Erkennen, darin, sich in einer schematischen Subjekt-Objekt Dichotomie zu verfangen. Entsprechend wäre eine Gewissheit über die Existenz eines Anderen in der Art möglich, dass sich Individuen in dem jeweiligen Blick des Anderen gegenseitig verobjektivieren und versubjektivieren. Damit aber, so folgert Honneth, müssten beide Interaktionspartner im Unklaren darüber bleiben, ob es sich bei den jeweiligen Objektivierungs- und Subjektivierungsprozessen um einen real existierenden Anderen handelt oder dieser lediglich Teil einer individuellen Bewusstseinsoperation ist. In Auseinandersetzung mit Sartres Existenzialphilosophie entwickelt Honneth die Idee, dass der genuine Unterschied zwischen den Modi des Erkennens und des An-Erkennens darin besteht, dass das Erblickt-Werden durch einen Anderen als eine Empfindung zu betrachten ist. Ein solches Empfinden ist für Sartre gegen eine mögliche Täuschung immun, da es unabhängig von der tatsächlichen Anwesenheit eines 162  Jürgen Habermas diskutiert dieses Problem unter den Termini von Interesse und Erkenntnis und führt aus, dass eine Aussage über Erkenntnis, verstanden als Prozess einer Identifikation, einer Wahrnehmung von etwas, was in den Blickpunkt rückt, immer auch eine gesellschaftstheoretische Aussage ist. Vgl. Habermas (1973a): Erkenntnis und Interesse, 178 f. 163  Wilhelm Dilthey sieht in der Differenz von Erkenntnis und Verstehen – Dilthey selbst bezeichnet dies als Spannungsverhältnis von Erklären und Verstehen – dann auch den Unterschied zwischen den naturwissenschaftlichen Erkenntniswissenschaften und den Geisteswissenschaften. Beide stellen demnach zwei methodologisch unterschiedene Disziplinen dar: Während die Naturwissenschaften Erkenntnis dadurch generieren, dass sie die ‚taken for granted assumptions‘ nicht thematisieren, ist es Aufgabe der Geisteswissenschaften, sich mit den Voraussetzungen der Erkenntnis zu beschäftigen. „Neben den Naturwissenschaften hat sich eine Gruppe von Erkenntnissen entwickelt, […] welche durch die Gemeinsamkeit des Gegenstandes miteinander verbunden sind. […] Geschichte, Nationalökonomie, Rechts- und Staatswissenschaften, Religionswissenschaften, das Studium von Literatur und Dichtung, von Raumkunst und Musik, von philosophischen Weltanschauungen und Systemen [und] endlich die Psychologie […] beziehen sich auf die selbe große Tatsache: das Menschengeschlecht. Sie beschreiben und erzählen, urteilen und bilden Begriffe in Bezug auf diese Tatsache.“ Dilthey (1992): Gesammelte Schriften, Bd. VII, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 79.

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konkreten Anderen ist164: Wir fühlen uns selbst dann von Anderen erblickt und beobachtet, wenn diese gar nicht anwesend sind. Genau in einem solchen Erleben eines Erblickt-Werdens, bei Sartre am Gefühl der Scham phänomenologisch aufgewiesen,165 verbirgt sich der Hinweis, dass Anerkennung als ein dem Erkennen vorgängiges Erleben von Intersubjektivität verstanden werden muss. Wurde Anerkennung in Honneths frühen Schriften vorrangig als ein – historisch ebenso aufweisbares wie dechiffrierbares – Interaktionsgeschehen zwischen Individuen verstanden, so verschiebt er in seinen späteren Arbeiten den Fokus. Anerkennung ist dem Prozess der Wahrnehmung nun insofern vorgängig, als in ihr ein Bezug zur Welt hergestellt wird, der jeglicher Möglichkeit kognitiver Wahrnehmung vorausgeht. Das Selbst findet sich also in Selbst- und Weltverhältnissen vor166 und muss sich zu diesen beiden verhalten. Die Wahrnehmung eines Anderen als Anderer erfolgt immer schon vor dem Kontext eines In-der-Welt-Seins,167 wodurch der jeweiligen Gegenwart unweigerlich ein davor und danach gesetzt ist. Anerkennung ermöglicht „existentielle, ja affektive Anteilnahme am Anderen.“168 Sich wechselseitig anzuerkennen, bezeichnet dann nicht nur eine konkrete Konfiguration der Handlungsdimension, sondern benennt zugleich eine existenziale Grundkategorie, die ihrerseits dann Möglichkeitsräume der Interaktion eröffnet. Gegenüber der honnethschen These, dass es einen grundlegenden Primat der Anerkennung vor dem Erkennen gibt, kann folgendermaßen präzisiert werden: Die Wahrnehmungsräume eines Selbst sind immer schon eingelassen in relationale Anerkennungsverhältnisse, die als bejahende beschrieben werden können, 164  Vgl. Sartre (2012): Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, 494 f. Außerdem führt Sartre aus: „Ich bin jenseits aller Erkenntnis, die ich haben kann, dies Ich, das ein Anderer erkennt. Und dieses Ich, das ich bin, bin ich in einer Welt, die der Andere mir entfremdet hat, denn der Blick des Anderen umfasst mein Sein und korrelativ die Wände, die Tür, das Schlüsselloch […].“ Sartre (2012): Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, 471. 165  Sartre selbst verknüpft seine Diagnose eines vorgängigen Erblickt-Werdens mit einem starken Festhalten an der Widerfahrnis von Gewalt. Das Subjekt, das dadurch geworden ist, dass es ein Objekt für ein anderes Subjekt geworden und hierin unfrei und unmündig ist, muss auf diese erfahrene Kränkung nun seinerseits mit einer Negation respondieren, sprich: den Anderen wiederum zum Objekt seines Blickes machen. Vgl. Sartre (2012): Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, 514. 166  Siehe auch die weiteren Auseinandersetzungen bei Heidegger (Heidegger (2006): Sein und Zeit, 114 f.) und Jean-Luc Nancy: So führt Nancy aus: „Der Status nascendi, […] dieser Status ohne stabilen Zustand, unablässig metastabil, hört nicht auf, sich selbst vorauszugehen und über sich selbst hinaus anzudauern. Er hat ‚vor‘ dem angefangen und wird ‚nach‘ dem anhalten, was sich als Gegenwart seiner Darstellung bestimmen lässt.“ Nancy (2009): Die Lust an der Zeichnung, 39. Vgl. auch die weiteren Untersuchungen zu Nancy in Kapitel 6.1. 167  Es ist unschwer zu erahnen, dass Honneth diese Idee in Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Martin Heidegger und John Dewey entwickelt. Vgl. Honneth (2005): Verdinglichung: Eine Anerkennungstheoretische Studie. 168 Honneth (2005): Verdinglichung: Eine Anerkennungstheoretische Studie, 51.

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weil in ihnen entschieden wird, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Implikationen etwas oder jemand erkannt wird. Während sich die relationalen Anerkennungsverhältnisse insofern als bejahend erweisen können, als sich in ihnen die Möglichkeit eines individuellen Selbstbezugs zuallererst eröffnet, wird in jeder von einem Anderen her erfolgenden Anerkennung eines Individuums dieses als ein bestimmter, also nicht beliebiger Selbstbezug hervorgebracht und in diesem Sinne als jemand anerkannt.169 Selbst-Bestimmung wird, so lässt sich vorläufig zusammenfassen, dadurch ermöglicht, dass ein Selbst von einem Anderen als Anderer des Anderen erblickt wird. Mit einer solchen Beschreibung von intersubjektiver Anerkennung als einem existenzialen Grundprozess der Ermöglichung praktischer Selbstverhältnisse ist an sich aber noch nicht allzu viel gewonnen, solange nicht geklärt ist, wie sich der ermöglichte Raum der Gestaltung von Selbstverhältnissen zu seiner jeweiligen Genese verhält. Auf dem Spiel steht damit die Frage, inwieweit das Selbst sich von Prozessen der Verkennung und Missachtung abkoppeln kann und damit, wie es Honneth postuliert, zu einem „ungebrochenen Selbstverhältnis“170 zu gelangen in der Lage ist. Wesentliche Linien für eine Beantwortung dieser Frage lassen sich in den Arbeiten von Judith Butler finden, die ebenso wie Honneth den Spuren Hegels folgt, jedoch anders als Honneth nicht von einem Telos in der Genese eines Selbstbezugs ausgeht, sondern stärker die Fragilität und Vulnerabilität von Selbstbezüglichkeit in den Blick rückt.

5.3 Die doppelte Ambiguität der Subjektivation Judith Butler erforscht die Möglichkeitsräume des Selbstbezugs eines Selbst, indem sie kritisch an die Interpellationstheorie von Louis Althusserl171 anknüpft und von dieser ausgehend die notwendige Voraussetzung der Rede eines Selbst als Subjekt seiner Handlungen eruiert. Ähnlich wie Jean-Paul Sartre vertritt sie die Auffassung, dass die Entstehungsmöglichkeit eines Selbstbezugs als ein Subjekt darin liegt, dass es von einem Anderen erblickt wird.172 Zunächst, so führt Butler aus, impliziert der Blick oder die Anrede durch einen Anderen für den Erblickten oder Angesprochenen insofern einen Akt der Unterwerfung, als sich ein Selbst in der Anrede, in der Anrufung selbst als angerufen, als angesprochen entdeckt. Das Selbst als Subjekt hat seinen Anfang nicht bei sich selbst, ist nicht nur nicht der Herr im eigenen Haus, sondern findet sich zugleich an einem Ort – Butler verwendet dafür in loser Anlehnung an Foucault den Be169 

Zu der Kopplung von Anerkennung und Verkennung siehe auch Kapitel 5.4. (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 196. 171  Vgl. Althusserl (2010): Ideologie und ideologische Staatsapparate. Interpellation bezeichnet in Althusserls Verständnis eine Aufforderung zur Rechtfertigung. 172  Vgl. Freud (1920): Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse, 309–324. 170 Honneth

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griff ‚Diskurs‘ – vor, den es sich selbst nicht ausgesucht hat. Eine solche Unterwerfung, oder mit Foucault gesprochen: die Widerfahrnis von Macht,173 ist ein ambivalentes Geschehen: Einerseits kann Macht als etwas bezeichnet werden, was dem Selbst widerfährt und wogegen sich zu wehren nicht nur legitim, sondern mitunter gar geboten sein kann. Zugleich aber ist die Existenz des Selbst als Subjekt erst dadurch ermöglicht, dass ein Selbst aufgerufen und angesprochen wird. Soll sich ein Selbst in einem endlosen Regress nicht selbst sprachund handlungsunfähig setzen, muss es, so argumentiert Butler, immer schon auf eine fremde Ansprache antworten. Folglich hat ein Selbst seinen Anfang nie ganz bei sich selbst, sodass jegliche Prozesse der Subjektwerdung eines Selbst ebenso wie die Rede von einer Identität immer bereits bestimmte Anschlusshandlungen an eine ergangene Anrede darstellen. Den in diesem Sinne relational ermöglichten Prozess einer Subjektwerdung bezeichnet Butler mit Foucault als Subjektivation: „Subjektivation besteht eben in dieser grundlegenden Ab173 

Stärker noch als in Überwachen und Strafen (Foucault (1977b): Überwachen und Strafen: die Geburt des Gefängnisses) entwickelt Foucault in Der Wille zum Wissen einen in sich differenzierten Beziehungsbegriff, der als ein Gegenmodell zu einem rein juridischen Machtbegriff zu begreifen sei. Einen solchen Machtbegriff versteht Foucault gekennzeichnet durch die Charakteristika einer negativen Beziehung (1), einer Instanz der Regel (2), eines Zyklus des Untersagens (3), einer Logik der Zensur (4) und einer Einheit des Dispositivs (5). Vgl. Foucault (1977a): Der Wille zum Wissen (Sexualität und Wahrheit Bd.1), 84 ff. Eine solche Macht, deren Mächtigkeit sich darin erschöpfen würde, nein zu sagen, wäre sogleich außerstande, etwas zu produzieren: Ihre „[…] Wirksamkeit bestünde in dem Paradox, daß sie nichts vermag, als dafür zu sorgen, daß die von ihr Unterworfenen nichts vermögen, außer dem, was die Macht sie tun läßt.“ Foucault (1977a): Der Wille zum Wissen (Sexualität und Wahrheit Bd.1), 87. Das Problem eines juridischen Verständnisses von Macht, welches Foucault als Gegenüber einer produktiven Macht versteht, ist dabei nicht, dass es nicht durchaus eine wesentliche Beschreibung von Macht leisten könnte, sondern in der alleinigen Fokussierung auf Unterwerfung und Gehorsam schlicht unterkomplex bleibt. Die Tatsache, dass sich ein solches juridisches Verständnis von Macht dennoch existent halten kann und konnte, liegt jedoch in der Natur der Macht selbst begründet. Nur weil Macht sich tarnen kann, sich verschleiert und auf direkten wie indirekten Wegen wirken kann, ist sie Macht. Macht, so lautet der Gegenvorschlag Foucaults, ist nur dann zu erfassen, wenn sie als Dispositiv verstanden wird. Sie ist nicht etwas, was man erwirbt, wegnimmt, teilt, bewahren oder verlieren kann, sondern was sich „von unzähligen Punkten aus und im Spiel ungleicher und beweglicher Beziehungen vollzieht.“ Foucault (1977a): Der Wille zum Wissen (Sexualität und Wahrheit Bd.1), 94. Macht eröffnet und schließt also die Spielräume der Subjekte: Sie ermöglicht es Subjekten, in bestimmten Bereichen Geltung zu erlangen, und verschließt gleichsam andere Bereiche, indem sie diese als außerhalb der Norm befindlich setzt. Foucault verdeutlicht dieses am Beispiel der Sexualität: Sexualität eröffnet den Subjekten Möglichkeiten der Selbstverwirklichung, der Dynamisierung über Generationen hinweg und der Begegnung mit anderen Subjekten. Zugleich werden mit den Spielregeln dessen, was gesellschaftlich erlaubt und geachtet ist, nicht lediglich Verbote bestimmter Formen von Sexualität erreicht, sondern gesellschaftliche Normierungen von Subjektivitätsformen anvisiert. Mit anderen Worten: Entscheidend wird, welche Subjektivitätsformen und -erfahrungen ermöglicht und welche verschlossen sind: „Nichts von all dem, was er [hier: der Homosexuelle, MB] ist, entrinnt seiner Sexualität.“ Foucault (1977a): Der Wille zum Wissen (Sexualität und Wahrheit Bd.1), 94.

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hängigkeit von einem Diskurs, den wir uns nicht ausgesucht haben, der jedoch paradoxerweise erst unsere Handlungsfähigkeit ermöglicht.“174 Dieses Paradox verweist darauf, dass Macht ein Subjekt einerseits äußerlich trifft und begrenzt und es andererseits erst durch eine solche Getroffenheit und Begrenzung überhaupt zum Subjekt werden kann. Insofern bezieht das Subjekt seine Handlungsfähigkeit gerade von jener Macht, gegen die es sich stellt, zu deren Anspruch es sich verhalten muss175 und in deren Ambivalenz es sich konstitutiv verstrickt.176 Der Versuch, die Ambivalenz in der Rede von einem Selbstbezug eines Selbst durch eine starke Betonung des Ermöglichungscharakters von Macht zu tilgen, so lässt sich mit Butler bereits hier konstatieren, liefe darauf hinaus, dass einem Selbst jeglicher Handlungsraum genommen werden würde und das Selbst durch die subjektivierende Anrede bereits vollends determiniert wäre. Eine Auflösung in Richtung der Subjekthaftigkeit eines Selbst käme dem Versuch gleich, ein Selbst aus seinen relationalen Bezügen zu isolieren, und ließe den Gehalt der Subjektzuschreibung nur noch als eine leere Worthülse erscheinen.177 Vor dem Hintergrund der Überlegungen Butlers lässt sich zugespitzt formulieren, dass es für das Verhältnis von Selbst und Macht keine Entweder-Oder-Korrelation gibt, weshalb eine Rückkehr zu einem in sich geschlossenen Ganzen ebenso verwehrt bleibt wie ein reines Loblied auf die maximale Partikularität.178 Vielmehr, so pointiert Butler, erweist sich der Selbstbezug eines Selbst als sowohl in die Fänge von Macht verstrickt als auch diesen gegenüber zu Widerstand in der Lage, sodass der Selbstbezug eines Selbst gleichsam „ein[en] Auswuchs, ein[en] Überschuß der Logik“179 darstellt. Ein in diesem Sinne angerufenes Selbst, so Butler, kann den Zusammenhängen, an die sein Subjekt genealogisch gebunden ist, nicht einfach entfliehen, aber indem es sich gleichzeitig reflexiv zu seinen Unterwerfungen stellt, beginnt es, sich zu seiner Ambivalenz zu verhalten, sie als einen Abstand wahrzunehmen, der Eigenproduktivität ermöglicht. Das 174 Butler

(2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, 8. Amy Allen wirft in ihren Arbeiten die Frage auf, ob Butler hinreichend zwischen einer tatsächlichen Unterordnung eines Subjekts unter bestimmte Normen und Gesetze und einer grundlegenden Verletzlichkeit eines Subjekts gegenüber Unterordnung unterscheidet. Vgl. Allen (2014): Herrschaft begreifen: Anerkennung und Macht in Axel Honneths kritischer Theorie, 271. 176  Vgl. hierzu auch Allen (2007): The Politics of Our Selves: Power, Autonomy, and Gender in Contemporary Critical Theory. 177  Vgl. Butler (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, 22. 178  Vgl. Neyrat (2011): Das technologisch Unbewusste. Elemente für eine Deprogrammierung, 168. Neyrat entwickelt die Begriffe ‚Holojekte‘ für all die Versuche, eine absolute, im Sinne einer vollständigen Anbindung herzustellen und ‚Hyperjekte‘ für all jene Versuche, die ein Lob der Ablösungsprozesse anstimmen. Er zeigt damit an, dass auch der butlerschen Rede von der Ambiguität des Subjektes immer noch die latente Gefahr inhärent ist, doch wieder in den Fängen eines ungebrochenen Subjektbegriffs zu landen. Aus Gründen der Anschlussfähigkeit wird im Folgenden aber weiter von der Ambivalenz im Subjektbegriff die Rede sein. 179 Butler (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, 22. 175 

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Selbst, so Butler, begehrt nach Anerkennung in Begriffen, Kategorien und Namen, die es nicht selbst hervorgebracht hat.180 „Die Subjektivation beutet das Begehren nach Existenz dort aus, wo das Dasein immer von anderswo gewährt wird; sie markiert eine ursprüngliche Verletzlichkeit gegenüber dem Anderen als Preis, der für das Dasein zu zahlen ist.“181 Indessen erweisen sich die Selbstbezüge eines Selbst nicht nur deswegen als ambivalent, weil ein Selbst in einem Spannungsverhältnis zu einem fremden Blick steht und insofern zwischen Macht und Ohnmacht changiert, sondern ebenso, weil ein Selbst nur präsent werden kann, indem es in einer bestimmten Erscheinungsform verkörpert ist. Das Selbst wird nicht nur durch die Subjektivation hervorgebracht, sondern es muss sich in der Form seines Körpers auch selbst subjektivieren und sich durch die Ausbildung einer solchen Form von Reflexivität an sich selbst binden. Mit den Worten Edmund Husserls: Das Selbst kann sich nur als Selbst wahrnehmen, wenn es sich zu etwas verhält. Ein Selbst erfährt sich an seinem Körper als thematischem Objekt und muss genau diese Objektwerdung zum Gegenstand seiner athematischen Reflexion machen.182 Mein Körper ist nicht einfach nur ein Ding, das ich erfahre wie andere, er wird vielmehr erlebt und durchlebt.183 Man kann ‚aus seiner Haut fahren‘, doch den Körper gänzlich zu verlassen wäre unweigerlich mit dem Ende konkreter Subjekthaftigkeit verbunden.184 Zugleich aber gehen Körper und Subjekthaftigkeit 180  Butler entfaltet ihr Konzept des Begehrens in detaillierter Auseinandersetzung mit Hegels Knecht-und-Herr-Kapitel in seiner Phänomenologie des Geistes (vgl. hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 4.1). Butler führt aus, dass der Knecht dem Herrn ohne dessen Wissen seinen Körper leiht und damit gewissermaßen den Herrn ersetzt. Der Knecht gehört also dem Herrn, aber auf eine Weise, die sich nur dann eingestehen lässt, wenn die Illusion der eigenen Unabhängigkeit des Herrn aufgeben wird. Entsteht nun aus dieser Verbindung von Knecht und Herr ein Werk, beispielsweise ein bestelltes Feld, so spiegelt das produzierte Werk die Arbeit des Knechts aber wiederum auch nur in der Art wieder, dass auch der Gegenstand die Wechselseitigkeit des Tuns von Knecht und Herr verschleiert. Der Knecht sieht in Betrachtung des produzierten Gegenstands also einerseits ein Werk seiner Hand, welches aber zugleich die Verschleierung der Selbsttätigkeit des Herrn ist (und vice versa). Vgl. Butler (2012d): Subjects of Desire. Hegelian Reflections in Twentieth-Century France, 17–60. 181 Butler (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, 25. 182  Vgl. Husserl (1973b): Husserliana 13. Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Erster Teil 1905–1920, 13. 183  In Anlehnung an Husserl sprechen Emmanuel Alloa und Natalie Depraz an dieser Stelle auch von einem ‚Nullobjekt der Nähe‘. Vgl. Alloa & Depraz (2012): Edmund Husserl – „Ein merkwürdig unvollkommen konstituiertes Ding“, 12. 184  Roberto Esposito treibt diesen Gedanken noch einmal wesentlich weiter. So argumentiert er, dass der Körper der Ort ist, an dem die Subjekthaftigkeit durch politische Immunisierung – und damit sind politische Regelungsregime bezeichnet – erhalten wird. Der Körper kann insofern als ein Schwellenphänomen verstanden werden: Bleibt ein Subjekt lediglich in seinem Körper, was es ist, und kann in (und mit) diesem wachsen, schrumpfen und sich fortbewegen, so stellt der Körper gleichsam den Ort dar, wo sich mehr als an anderen Orten der Lebenswelt der Schatten des Todes zeigt. Ebenso aber wie es einen Körper nur im Wechselspiel von und mit anderen Körpern geben kann, stehen solche physischen Körper ebenso in

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nicht differenzlos ineinander auf. Lévinas entfaltet diesen Gedanken, indem er das Theorem des ‚Antlitzes‘ einführt. Obgleich ein Körper getötet werden kann, gilt dies für das Antlitz nicht: Sofern ein fremdes Antlitz ein Ich affiziert, lebt es. Ist der Andere getötet, kann er kein Antlitz mehr sein. Diese Dialektik versteht Lévinas nicht als ein Plädoyer für eine absolute Transzendenz des Antlitzes in dem Sinne, dass dieses ewig bestehen würde, sondern als eine wechselseitige Affektion von Körper und Antlitz. Das Antlitz, verstanden als etwas, was nicht getötet werden kann und dann, ethisch gesprochen, auch nicht getötet werden darf, und was insofern über den Körper hinausgeht, zeigt sich konkret in einem Gesicht, in einem Körper. Im Antlitz schillert ein Doppelspiel auf: Es ist das Antlitz eines konkreten Anderen, welches mich anblickt und welches mich, in dem Moment, wo ich erblicke und erblickt werde, (immer schon) unter das Gebot stellt, nicht zu töten.185 Beim Anspruch des Anderen handelt es sich nicht um eine körperlose Stimme, die von irgendwoher erschallt, sondern das Gebot des Antlitzes zeigt sich in dem Gesicht eines konkreten Anderen und spricht ein Ich als einen konkreten Anderen an. Damit umfasst das Gebot des Antlitzes auch den Körper. Judith Butler formuliert pointiert: „Sucht man das Verbot zu missachten, verliert man das Gesicht aus dem Blick. Sieht man hingegen das Gesicht, aber nicht das Verbot, verliert man das Gesicht auf andere Weise.“186 Was sich in der bleibenden Ambiguität von Körper und Antlitz zeigt, ist die Ermöglichung von Spielräumen der Selbstkonstitution,187 die nur dadurch wirkliche Gestaltung ermöglichen, indem sie etwas in Beziehung setzen: einen Körper zu einem Antlitz, einen Körper zu einem Selbst und ein Gesicht zu einem anderen Gesicht, das jeweils erst dann für ein Selbst sichtbar wird, wenn es in einem anderen Gesicht erblickt wird.188 Zugleich aber ist das, was als jeweiliger Körper verstanden wird, nicht unmittelbar und vorbehaltlos dem Selbst einem Wechselspiel mit politischen Körpern. Auch ein solcher ‚politischer‘ Körper muss sich dabei beständig mit der eigenen Auflösung beschäftigen und entsprechende Maßnahmen ergreifen, um einem solchen Prozess entgegenzutreten. In den verschiedenen Bemühungen von physischen und politischen Körpern sich aufrechtzuerhalten, kommt es dabei zu wechselseitig Kontinuität wie Diskontinuität fördernden Inkorporationen, die ihrerseits wiederum Rückwirkungen auf die Immunsysteme der anderen Körper nehmen. Vgl. Esposito (2004): Immunitas. Schutz und Negation des Lebens, 161 f. Zur weiteren Auseinandersetzung mit Esposito – insbesondere dem Wechselspiel von Inkorporationen und Gemeinschaftsbildung – siehe auch: Bird (2013): Roberto Esposito’s deontological communal contract. 185  Vgl. Lévinas (1992): Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, 38. 186 Butler (2013b): Unfähig zu töten – Lévinas kontra Lévinas, 70. 187  Vgl. Lévinas (2008b): Vom Sein zum Seienden, 29. Ein Spiel, so führt Lévinas an, hat zwar einen Beginn, aber einem solchen fehlt die Ernsthaftigkeit. Was sich im Verhältnis von Körper und Antlitz, von Selbst und Anderem ereignet, geht weit über ein Spiel hinaus, weil es in diesen Verhältnissen stets unmöglich ist, das Spiel einfach zu verlassen. Ein Verlassen der wechselseitigen Spannung, der bleibenden Ambiguität, wäre gleichbedeutend mit einem Verlust des Möglichkeitshorizontes der Selbstgestaltung. 188  Vgl. Lévinas (1995): Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, 28. „Denken“, so führt Lévinas aus, „beginnt mit der Möglichkeit, eine Freiheit außerhalb meiner

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zugänglich. Auch der Körper ist nicht einfach voraussetzungslos ‚vorhanden‘, sondern wird, wie Foucault in seinen Studien zeigt, selbst in den Prozessen der Subjektivation mit hervorgebracht.189 Demzufolge bringt sich in der Genese eines Subjektes nicht nur zugleich ein Körper in Form, der dadurch zu meinem Körper wird, sondern der Körper hält auch ein Element der Unterwerfung aufrecht.190 Alltagsweltliche Redeweisen wie etwa die, dass der Körper nicht in der Weise will, wie man es gerne hätte, oder aber die vom willigen Geist mit der vermeintlichen Schwäche seiner körperlichen Situiertheit zeigen, was Foucault meint, wenn er vom Körper als einer notwendigen Unterwerfung unter eine gegen ihren Ursprung gerichtete Wiederholung spricht und den Körper als einen dissoziierten Konstitutionsraum bezeichnet.191 Freiheit wahrzunehmen. Eine Freiheit außerhalb der meinigen denken ist der erste Gedanke. Er markiert meine Anwesenheit in der Welt.“ 189  Vgl. Foucault (2008): Die Geburt der Klinik, 19. ‚Der Körper‘ ist nicht einfach eine vorgegebene Größe, sondern vielmehr eine diskursive Figuration. Foucault entfaltet diesen Gedanken, indem er sich auf die Spuren unserer heutigen Vorstellungen der Kausalketten in der Krankheitsentstehung begibt. Ist es für unser heutiges Verständnis von Krankheit selbstverständlich, dass es sich dabei um eine pathologische Veränderung handelt, die ihren Ursprung in dem jeweiligen Körper hat, stellt für Foucault ein solches Verständnis nur eine – wenn auch sehr prominente – Figurationsmöglichkeit des Verhältnisses von Krankheit und Körper dar. Worauf diese Untersuchungen abzielen, ist, zu zeigen, dass es kein festes System der Bezugspunkte zwischen Körper und Krankheit gibt. Körper und Krankheit haben keinen vordefinierten gemeinsamen Raum, keine vorgängige Topografie, sondern werden in genealogische (Kausalitäts‑)zusammenhänge gebracht. Siehe vor allem: Foucault (2008): Die Geburt der Klinik, 26 f. Zur aktuellen Debatte mit Blick auf psychische Erkrankungen siehe auch: Schramme (2012b): Die Eigenständigkeit des Krankheitsbegriffs in der Psychiatrie. 190  Schon bei Immanuel Kant findet sich der wichtige Hinweis, dass der Körper dem Menschen weder ein rein äußerliches Objekt ist, wie es andere Dinge seiner belebten und unbelebten Umwelt sind, noch ein rein intrinsisches, da damit die Möglichkeit entfallen würde, sich zu seinem Körper zu verhalten. In der Beschreibung der Dialektik von Selbst und Körper (als Verhältnis von animalischem und moralischem Wesen) führt Kant aus, dass der Mensch zwar sein sich selbst bestimmender, eigener Herr ist, aber eben nicht Eigentümer seiner selbst, ebenso wenig wie er Eigentümer anderer Menschen ist. Vgl. Kant (2000): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, W Bd. VII, A Bd. IV 1785, 554, 577. Die sich in diesen Gedanken bahnbrechende Dialektik im Verhältnis des Menschen zu seinem Körper kleidet Helmuth Plessner in die Worte, dass der Mensch einerseits sein Leib ist, während er seinen Leib aber zugleich als Körper hat. Der Mensch findet sich als Körper vor und muss sich zu seinem Körper verhalten. Vgl. Plessner (1975a): Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Darauf, dass ein solches Verhältnis dabei nicht nur von Prozessen verkennender Alterität abhängig ist, sondern zugleich auch an Hürden der zeitlichen und räumlichen Selbstintegration scheitern kann, macht Paul Tillich aufmerksam. Gerade in der Polarität von Leib und Körper eröffnen sich Freiheitsräume, mit den schicksalhaften körperlichen Gegebenheiten und Widerfahrnissen umzugehen. Vgl. Tillich (1985): Systematische Theologie I/II, 214–218. Zur Ausweitung dieser Gedanken auf die Frage, ob sinnvollerweise von einer Freiheit zur Krankheit gesprochen werden kann: Braun (2012): Der Körper als Refugium absoluter Selbstbestimmung? Ethische Herausforderungen einer ‚Freiheit zur Krankheit‘, 183 f. 191  Vgl. Foucault (1977b): Überwachen und Strafen: die Geburt des Gefängnisses, 173 f.

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Die Prozessbeschreibungen der doppelten Ambiguität der Subjektivation deuten bereits an, dass es sich bei der von Butler so bezeichneten Subjektivation nicht um einen einmaligen Akt der Hervorbringung handeln kann.192 Vielmehr, so Butler, befindet sich das Individuum wiederholt im Prozess des Erzeugt-Werdens, in dem es sich mit Widerfahrnissen von Kontinuität und Diskontinuität arrangiert.193 Der Verweis auf Diskontinuierungserfahrungen des Subjekts macht darauf aufmerksam, dass es durchaus Elemente der Unterwerfung, in den Worten Honneths: Missachtungen, geben kann, die sperrig bleiben und sich einer Integration in ein Selbstkonzept temporär oder aber dauerhaft widersetzen.194 Gerade weil sich die Art der Anrede in ihren zeitlichen, sachlichen und sozialen Dimensionen als entscheidend für die konkreten Hervorbringungsvoraussetzungen eines Subjekts zeigt, birgt jede Anrede ein Risiko der Verkennung. Angesichts dessen, so Butler, ist ein hervorgebrachtes Selbst sich mitunter in der Anrede nicht sicher, ob es ins Spiel gebracht worden ist, ob es wirklich sein Name war, der genannt worden ist. Das Selbst erkennt dann seinen Namen, aber es erkennt sich selbst nicht unmittelbar in dem Subjekt, das durch die Anrede auf den Plan getreten ist.195 Bestimmte Modi des Anrufes, unterschiedliche Gestaltungsweisen von Ansprüchen, seien es wohlwollende oder verletzende, so führt Butler weiter aus, verleihen dem Selbst eine Selbstheit und stiften also in diesem Sinne Identität. Ein derart verstandener Selbstbezug muss keineswegs dauerhaft in dem wohlwollenden oder verletzenden Anspruch verhaftet bleiben. Gleichwohl ist das Selbst aber aufgefordert, sich zu den erfahrenen Momenten einer Diskontinuität zu verhalten, sei es durch den Versuch, die Diskontinuität in Kontinuitätsmomente zu überführen oder verletzende Ansprüche so weit zu externalisieren, dass eine Ausklammerung suggeriert werden kann. So kann der erschrockene Ausruf „Das war nicht ich!“ mühsam in die Konzeption des Selbst integriert oder aus dieser verdrängt werden. Beides aber bezeichnet eine Antwort, ein Eingehen auf die fremde Anrede. Die Reak192  Wiederum Lévinas bringt diese Beobachtung in seinen neuen Talmud-Lesungen auf den Punkt, indem er sie in zwei gleichbedeutende Sätze verpackt: ‚Wir sind nichts‘ ebenso wie ‚Was sind wir?‘. Vgl. Lévinas (2001): Neue Talmud-Lesungen, 72. Wir sind nichts und fragen, wer wir sind, ebenso wie wir fragen, wer und was wir sind, und zu keiner abschließenden Antwort kommen. Das bedeutet nicht, dass die Frage nach der Identität unbeantwortet bleibt oder der Fragende gar in melancholisches Schweigen verfallen muss, sondern vielmehr, dass die Möglichkeit der Rede von Identität gerade in ihrer letztlichen Unabschließbarkeit liegt. Insofern ‚sind‘ wir in einem Antworten auf etwas anderes. Die Radikalität des Gesetzes besteht gerade darin, dass es den Menschen seiner ontologischen Substanz beraubt. Was wir sind, werden wir, indem wir auf etwas antworten, was seinen Ursprung nicht bei uns selbst hat: Gerade darin besteht dann auch die theologische Notwendigkeit der Reihenfolge von Gesetz und Evangelium. 193  Vgl. Butler (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, 89. 194  Vgl. hierzu auch: Lepold (2014): Die Bedingungen der Anerkennung. Zum Zusammenhang von Macht, Anerkennung und Unterwerfung im Anschluss an Foucault, 315 f. 195  Vgl. Butler (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, 192.

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tion auf eine Anrede, so konstatiert Butler, stellt nicht nur eine Erwiderung auf einen einzelnen Ruf dar, sondern ist eine Reaktion auf ein generelles Unter-einen-Anspruch-gestellt-Sein, der sich für Butler in einer grundlegenden Empfänglichkeit für das Gesetz symbolisiert. In theologische Sprache gebracht: Ein Selbst, verstanden als totus peccator, kann und muss sich zum Gesetz verhalten, kann versuchen, sich einen Gestaltungskorridor zu schaffen, kommt aber nicht hinter das Gesetz zurück.196 „Tatsächlich wird das Gesetz schon vor jeder Zugangsmöglichkeit zu ihm gebrochen, und damit geht die ,Schuld‘ dem Wissen um das Gesetz vorher und ist in diesem Sinne immer merkwürdig unschuldig.“197 Das, was Butler als Schuld bezeichnet, führt sie in ihren weiteren Arbeiten in Anknüpfung an Hegels Begriff der Begierde198 als ein grundlegendes Begehren eines Selbst nach einer Anrede aus. Folglich ist in der Anrede bereits der Angeredete vorausgesetzt, wird aber erst im Modus des Sagens seines Namens konkret ins Spiel gebracht. Die Anrede eröffnet also einen Möglichkeitsraum, auf den das Selbst eingeht, weil es begehrt, vom Angesicht des Angerufenen erblickt zu werden und gleichzeitig den Rufenden zu erblicken. Vor diesem Hintergrund spricht Butler dann auch von einer Komplizenschaft mit dem Gesetz: Das Selbst ist mit dem Gesetz insofern verhaftet, als es erst durch die Unterwerfung durch und unter das Gesetz sich zu diesem verhalten und dieses wiederum subjektivieren kann. Subjektivation kann damit, so die Quintessenz 196  Aus theologischer Perspektive zeigt hier sich die Ambivalenz der discrimen legis et evangelii. Die Frage, in welchem Verhältnis Gesetz und Evangelium zueinander stehen, mag zwar in den theologisch-ethischen Debatten eher in den Hintergrund geraten sein (vgl. Körtner (2001): Theologie des Wortes Gottes. Positionen, Probleme, Perspektiven, 195 f.), hat aber, wie Luther anmahnte, nicht nur wirklichkeitserschließenden Charakter, sondern kann gleichzeitig als das Nadelöhr verstanden werden, durch das jede theologische Deliberation hindurchgehen müsse (vgl. WA 36,9,6–8). Siehe hierzu auch: Ebeling (1988): Das rechte Unterscheiden. Luthers Anleitung zu theologischer Urteilskraft. Evangelium und Gesetz lassen sich nicht einfach als zwei Antithesen verstehen, sondern vielmehr als wechselseitige Erschließungsfiguren, bei denen es entscheidend darauf ankommt, in welchem Verhältnis zueinander sie gedacht werden. So schlägt beispielsweise Gerhard Ebeling vor, das Verhältnis von Gesetz und Evangelium ausgehend von ihrer jeweiligen Funktionsweise her zu betrachten. Sowohl Gesetz als auch Evangelium stellen Funktionsweisen des einen Wortes Gottes dar, wobei „das Gesetz zum Evangelium hintreibt und das Evangelium die Erfüllung des Gesetzes ist.“ Ebeling (2012): Dogmatik des christlichen Glaubens. Bd. III, 292. Mit anderen Worten: Die Kopplungsfiguren von Gesetz und Evangelium lassen sich dabei in der Polarität von Frage und Antwort verstehen. Das Gesetz verweist auf die grundsätzliche Infragestellung, im Sinne einer grundlegenden Prekarität, leiblicher Selbstbezüge. Oder mit den Worten Butlers: Der Mensch bleibt als ein infrage Gestellter grundsätzlich Komplize des Gesetzes. Das Evangelium ist eine Antwort in dem Sinne, weil sich in dem Zuspruch des Evangeliums der Mensch als von Gott gerade in der Prekarität seiner menschlichen Existenz angesprochen glauben kann, woraus die Hoffnung erwächst, dass sich das neue Sein in Christus schon jetzt in den Vollzügen der Weltwirklichkeit erfahren und verantwortlich gestalten lässt. Vgl. Tillich (1985): Systematische Theologie I/II, 62. 197 Butler (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, 102. 198  Siehe hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 4.1.

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der butlerschen Überlegungen, als ein Akt der Verkennung beschrieben werden. Verkennend ist die Subjektivation, weil sie eine falsche und immer nur vorläufige Totalisierung199 darstellt; das bedeutet, sie als eine zugleich vollständige und doch nicht vollständige Unterwerfung des Selbst unter einen Anspruch zu verstehen, die einerseits Identitätsbildung ermöglicht und andererseits eine Unabschließbarkeit einschreibt: Der Selbstbezug eines Selbst hat nicht nur seinen Anfang woanders als bei sich, sondern es kommt auch nie vollständig bei sich an. Vielmehr, so Butler, eröffnet sich ein Gestaltungsspielraum in dem Moment, wo sich das Selbst zu seiner Unterwerfung verhält, d.h. sich des Schuldvorwurfs erwehrt und entledigt. In der Art und Weise, wie sich ein Selbst zu den Momenten eines Anfangs nicht bei sich selbst und dem damit verbundenen Mangel an Kohärenz verhält, liegt für Butler dann auch die Möglichkeit der Verantwortungsübernahme begründet. 200 Verantwortungsübernahme ist gerade nicht an die irrige Annahme gebunden, dass ein Selbst zu jeder Zeit und an jedem Ort sein gesamtes Tun genau zu kennen meint. Wiederum in den Worten von Judith Butler: „Ich kann die Frage der Verantwortung nicht losgelöst vom Anderen denken; wenn ich das tue, dann habe ich mich schon aus jener Art der Anrede (des Angeredetwerdens und der Anrede) herausgenommen, aus der Verantwortung überhaupt erst hervorgeht.“201 Für die Rede von der Identität eines Selbstbezugs lassen sich folgende Umrisse bilden, die für sich nicht als feste Demarkationslinien, sondern als Eröffnung von Möglichkeitsräumen zu verstehen sind: Butlers Ansatz bietet eine Beschreibungsheuristik, welche Identität einerseits als ein Konstrukt versteht, das von dem Individuum selbst gebildet, bewahrt und dann auch verantwortet werden muss. Ihren Beginn hat eine solche Selbstheit des Selbst aber nicht in oder bei sich selbst. Vielmehr kommt Identität immer nur rückwirkend ins Spiel und kann auch keine starre Identitätsgrammatik bilden, welche dann für eine Erstellung antizipierter Zukunftsprognosen dienen könnte. So umfasst ‚uns‘ die Identität niemals ganz, lässt sich – zumindest nicht um den Preis der Freiheit – nicht zu einem stimmigen Ganzen verschließen und verweist auf einen Überschuss, eine Undurchsichtigkeit, die jeder Rede von Identität eingeschrieben ist. 202 Intersubjektive Anerkennung, als Ausdruck einer grundlegenden ambiguen Subjektivation, beschreibt nach Butler einen Eröffnungsraum, einen responsiven Klangboden, auf dem das Selbst wahrnehmen und sich und 199  Dass solche Totalisierungen wiederum dazu führen können, dass Anerkennung nicht die Bildung von Subjektivität ermöglicht, sondern deren Entstehung geradezu verhindert, zeigt Steffen K. Herrmann in seinen Überlegungen: Herrmann (2014): Anerkennung und Abhängigkeit. Zur Bindungskraft gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse nach Hegel. 200  Vgl. Butler (2007): Kritik der ethischen Gewalt, 113. Siehe hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 7.2. 201 Butler (2007): Kritik der ethischen Gewalt, 113. 202  Vgl. Butler (2013a): Primo Levi für die Gegenwart, 214 f. ebenso: Butler (2007): Kritik der ethischen Gewalt, 60.

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seine Mit-Welt gestalten kann und damit seinerseits Fragen und Ansprüche stellt. Eine Rede von einem ‚Subjekt‘ schreibt dann keinen Status allein aufgrund irgendwelcher intrinsischer, womöglich mentaler, Eigenschaften zu, sondern bezeichnet einen sozialen Status, der maßgeblich festlegt, als wer oder was ein Subjekt in bestimmten diskursiven und gesellschaftlichen Praktiken anerkannt wird. Die Anforderung, Zuschreibungspraktiken transparent, fair und mit einem möglichst universalen Geltungsanspruch zu versehen, war bereits bei Honneth den Formen von Recht und Solidarität zugeordnet worden. Solche gesellschaftlichen Bestimmungen, anhand derer ein Subjekt als ein Subjekt, ein Mensch als ein Mensch oder ein psychisch Kranker als ein psychisch Kranker, aber zuvorderst als ein Mensch anerkannt wird, sind dann eben nicht nur gesellschaftlich artikuliert, sondern gerade deswegen auch gestalt- und veränderbar. Welche konkreten Konsequenzen die explizierte Ambivalenz der Subjektivation zeitigt, kann sich darin zeigen, dass mitunter die gleichen Bestimmungen, die gesellschaftlich gesetzt werden, um Individuen den Status eines Subjektes oder einer Person zu verleihen, genau dieselben sind, die gewisse andere Individuen um die Möglichkeit bringen, diesen Status zu erreichen bzw. zugesprochen zu bekommen. Die jeweiligen ordnungsstiftenden Bedingungen haben weitreichende Konsequenzen dafür, wer als ein Subjekt, wer als ein Mensch oder wer eben (nur oder primär) als ein psychisch Kranker kategorisiert wird und einen Anspruch auf Rechte hat (oder nicht hat) und in die partizipative Sphäre politischer Überlegungen einbezogen wird (oder eben nicht). Wiederum in den Worten Judith Butlers: „Das Menschliche wird in Abhängigkeit von der Rasse, der Ausdeutbarkeit dieser Rasse, von seiner Morphologie, der Erkennbarkeit dieser Morphologie, seines anatomischen Geschlechts, der Verifizierung dieses Geschlechts in der Wahrnehmung, seiner Ethnizität und dem kategorialen Verständnis dieser Ethnizität unterschiedlich verstanden. Bestimmte Menschen werden als eingeschränkt menschlich erkannt, und diese Form der eingeschränkten Anerkennung führt nicht zu einem bewältigbaren Leben.“203 Werden Subjektivierungsräume erst durch eine Anrede eines Anderen eröffnet und hat das auf diese Weise ermöglichte Selbst keinen Halt bei sich selbst, dann stellt so bedingte Vulnerabilität eines der Grundmomente eines jeden Selbstbezugs dar. Butler geht aber nun noch einen Schritt weiter und setzt die fundamentale Vulnerabilität eines jeden Selbst in seinem Selbstbezug als den normativen Orientierungspunkt ethischen Handelns. Nicht die Souveränität eines anspruchsberechtigten Subjekts bildet somit die Rekurrenz für die Ausrichtung ethischer Verpflichtungen, pointiert Butler, sondern gerade dessen fehlende Souveränität. 204 Wie also können angesichts des Zugeständnisses, dass die Möglichkeit eines Selbstbezugs immer ein unterwerfendes Element enthält, 203 Butler 204 

(2011): Die Macht der Geschlechternormen, 10 f. Vgl. Stahl (2014b): Anerkennung, Subjektivität und Gesellschaftskritik, 248 ff.

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dennoch solche Kippschwellen benannt werden, an denen eine Person derart systematisch und wiederholt unterworfen wird, dass es sich um einen illegitimen Umschlag in Gewalt handelt? Um einen Umschlag der in Anerkennungsprozessen eingeschriebenen Unterwerfung in Gewalt zu vermeiden, mahnt Butler einen genuinen Perspektivwechsel an, der dann auch Folgen für die ethischen Beobachtungspraktiken hat. Entscheidend ist, von welchem Blickwinkel her oder, mit Lévinas gesprochen, mit welcher Optik 205 die Ethik ihre Perspektive wählt: „[W]e make a mistake when we take ‚self-preservation‘ to be the essence of the human, unless we accordingly claim that the ‚inhuman‘ is constitutive of the human. One of the problems with insisting on self-preservation as the basics of ethics is that it becomes a pure ethics of the self, if not a form of narcissism.“206 Der Umgang mit Kontinuierungs- wie Diskontinuierungsereignissen der Subjektbildung erfordert, so Butler, einen doppelten Blickrichtungswechsel: zunächst hinsichtlich des Verständnisses dessen, was ein (autonomes) Subjekt ist und was es ausmacht, und darüber hinaus hinsichtlich der Kriterien und Maßstäbe für die ethischen Normierungsdiskurse. Butlers Plädoyer ist gleichermaßen deutlich wie provozierend: „Over and against those who would claim that ethics is the prerogative of the powerful, one might counter that only from the viewpoint of the injured can a certain conception of responsibility be understood.“207 Offen bleibt hier nicht nur, ob der von Butler genannte Gegensatz wirklich zwingend ist, sondern zugleich ist Vorsicht geboten, wo der eingeforderte Blickwechsel durch eine starre Vereinseitigung selbst wiederum Präjudikationen fortzuschreiben droht. Daher muss ein Plädoyer wider die ethische Gewalt, wie es Butler formuliert, dann nicht nur ein Sensorium für die illegitime Forderung nach kohärenter Selbstidentität bereitstellen, sondern gleichzeitig auf mögliche Überschlagspunkte der Unterwerfung in Gewalt achten. 208 Mit Niklas Luhmann gesprochen stellt sich also die Frage, an welcher Stelle die notwendige Rekurrenz auf die Notwendigkeit von Ordnung in eine systemische Gesamtheit von Ordnungsmustern umschlägt, in welcher die Differenz zwischen Achtung und 205  „Die Ethik ist eine Optik“, wirft Lévinas ein und skizziert damit die Grundstatik einer Ethik, die sich selbst der Gefahr einer Totalisierung ihrer Betrachtungsweisen zu widersetzen versucht. Insofern ist die Ethik nicht nur eine Optik, sondern „sie ist ein bildloses ‚Sehen‘, ein ‚Sehen‘ ohne die dem Sehen eigenen Vermögen der synoptischen und totalisierenden Objektivation.“ Lévinas (2008a): Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, 23. 206 Butler (2005): Giving an Account of Oneself, 103. 207 Butler (2005): Giving an Account of Oneself, 102. 208  Butler selbst sieht eine solche Möglichkeit des Widerstands im Gestalten der bleibenden Ambiguität der Subjektivation. Vgl. Butler (2012c): „Kann man ein gutes Leben im schlechten führen?“. Die Möglichkeit des Widerstands entspinnt sich dann anhand der Unabgeschlossenheit der Subjektivation. Dabei bleibt aber offen, ob ein solcher Widerstand immer möglich ist oder ob es Verdichtungen von normativen Vollzügen gibt, die einen solchen Spalt verschließen.

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Nicht-Achtung bereits zugunsten einer Nicht-Achtung präjudiziert wäre. 209 Indem Butler in ihrer Konzeption der Anerkennung als ambivalentem Subjektivationsnetz den Blick strikt auf konkrete Erfahrungen von Vulnerabilität und Missachtung richtet, droht die Frage in den Hintergrund zu geraten, inwiefern sich ein Subjekt zu den erfahrenden Modi der Diskontinuierung verhalten kann, ohne sich selbst die Möglichkeit der Existenz zu nehmen. Denn, so postuliert Butler, aufgrund dessen, dass das Selbst seinen Beginn nicht bei sich selbst hat, ist es ihm auch nicht möglich, Rechenschaft über seinen Ursprung zu geben. 210 Zu Recht weist Butler darauf hin, dass es eine bleibende Ambivalenz, eine bleibende Offenheit im Selbst gibt, die das Selbst nicht selbst zu verantworten hat. Infolgedessen muss das Selbst einerseits die ihn fundierenden Anerkennungsnormen akzeptieren, stellen diese doch eine Anerkennungsbedingung für seine Existenz dar. Offen bleibt aber andererseits, warum Butler auch noch einen Schritt weiter geht und die einen Selbstbezug eines Selbst ermöglichenden Modi der Diskontinuierung außerhalb der Reichweite einer zeitlich nachgelagerten Kritik durch ein Selbst verortet sieht. Entsprechend rigoros muss Butler die Möglichkeit negieren, dass ein Selbst die Erfahrungen seines Ausgesetztseins narrativ thematisiert: „So lässt sich dieses Ausgesetztsein beispielsweise nicht wirklich erzählen. Ich kann es nicht darstellen, auch wenn es alle meine Darstellungen strukturiert.“211 Expliziert Butler damit einerseits noch einmal, dass das Selbst nicht der ‚Herr im eigenen Haus‘212 ist, bleibt andererseits unklar, warum es nicht sehr wohl denkbar sein sollte, dass sich ein Selbst erzählend (kritisch) zu seinen Anerkennungsbedingungen verhalten kann. Beispielsweise wäre es ja durchaus denkbar, dass ein Selbstbezug sich reflexiv auf sich selbst bezieht und gerade deswegen die ihn fundierenden Anerkennungsnormen als illegitime Praktiken bezeichnet. Es müsste sich damit keineswegs die Basis seiner Existenz entziehen, sondern könnte ja gerade die Erfahrungen der nicht integrierbaren Diskontinuitäten zum Anlass eines Plädoyers für die zukünftige Anwendung einer anderen Anerkennungspraxis setzen.213 Damit käme ein Verständnis 209  Vgl.

Luhmann (1997a): Die Gesellschaft der Gesellschaft, 245. Insofern versteht Luhmann Moral „nicht als einen Normtypus besonderer Art […], sondern eine Codierung, die auf dem Unterschied von Achtung und Mißachtung aufbaut und die entsprechenden Praktiken reguliert.“ 210  Vgl. Butler (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, 21 ff. 211 Butler (2007): Kritik der ethischen Gewalt, 50. 212  Vgl. Freud (1947): Werke aus den Jahren 1917–1920, 11. 213  Einen äußerst konsequenten, wenn auch im deutschsprachigen Raum noch kaum wahrgenommenen, Ansatz entwickelt Judith N. Shklar. Shklar zeigt sich überzeugt, dass es hinsichtlich der Gestaltung von Geltungsansprüchen vor allem darum gehen müsse, das Schlimmste zu verhindern. Vor diesem Hintergrund geht sie nicht nur wie Butler von einer grundlegenden Vulnerabilität der Subjekte aus, sondern verlangt der Sozialphilosophie und der politischen Theorie in diesem Sinne ab, die Grausamkeit an erste Stelle zu setzen, um so die dringlichsten normativen Forderungen für die Gestaltung von Anerkennungsräumen abzuleiten (vgl. Shklar (2013): Der Liberalismus der Furcht, 50 ff.) Normativer Zielpunkt muss

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von Wechselseitigkeit in den Anerkennungsprozessen ins Spiel, die in der Konzeption Butlers außen vor zu bleiben droht. Selbst wenn man Butlers Argument folgt, dass es nur schwerlich möglich ist, sich zu den fundierenden Anerkennungsnormen der eigenen Subjektivität zu verhalten, tritt das Selbst ja nicht nur als Anerkanntes, sondern auch als Anerkennendes in den gesellschaftlichen Diskurs ein. 214 Teilt man Butlers Ansicht, dass es immer eine irreduzible Uneinholbarkeit eines fundierenden Anspruchs gibt, heißt das ja noch nicht, dass ein Subjekt unreflektiert die Norm seiner Anerkennung auch zur Norm weiterer gesellschaftlicher Anerkennungspraktiken machen muss. Zu unterscheiden wäre also zwischen einer fundamental stiftenden Funktion der Anerkennung und einer gesellschaftlich regulativen Funktion von Anerkennungspraktiken. Während erstere Funktion die von Butler entfalteten Modi der Ermöglichung von Subjektivität bezeichnet, fokussiert die zweite Funktion stärker auf die regulativen Anerkennungsdiskurse, in denen festgelegt wird, welche Anerkennungsbedingungen und Kriterien normativ für die Anerkennung als jemand oder etwas gelten sollen. Mit einer solchen Präzisierung dieser beiden Anerkennungsfunktionen wird es dann auch möglich, genauer auf die Umschlagspunkte von genealogischen Entstehungsbedingungen in geltungstheoretische Prämissen und umgekehrt zu achten. 215 Die geltungstheoretischen Prämissen müssen dann daraufhin befragt und überprüft werden, ob und auf welche Art und Weise sie Anerkennung als Subjekt ermöglichen. 216 Nehmen Subjekte die Position von fundamental Anerkanntem und gesellschaftlich Anerkennendem zugleich ein, dreht sich gewissermaßen die Beweislast. Aus diesem Grund müssen die jeweils geltenden Normen von Anerkennungspraktiken sehr wohl kritisch hinterfragt werden, inwieweit sie aus welchen Gründen welchen Akteuren ermöglichen oder verwehren, die jeweiligen Ansprüche einzubringen. Einen Schritt in diese Richtung deutet Butler in ihren Auseinandersetzungen mit Jessica Benjamin an. Gehen beide zunächst davon aus, dass Anerkennen immer ein Element der Negation enthält, 217 beharrt dann sein, dass die Geltungsrahmen der Anerkennungsrelationen so gestaltet werden, dass jeder Anspruch auf Unversehrtheit gehört und berücksichtigt wird. Um einen solchen Geltungsrahmen zu erreichen, sei es erforderlich, das Grausamkeitsverbot zu universalisieren und zur notwendigen Bedingung der praktischen Achtung der Würde von Personen zu erklären. Vgl. Shklar (2013): Der Liberalismus der Furcht, 45 ff. und auch: Shklar (1999): Über Ungerechtigkeit. Erkundungen zu einem moralischen Gefühl & Shklar (2014): Ganz normale Laster. 214  Vgl. hierzu auch: Forst (2011): „Dulden heißt beleidigen“. Toleranz, Anerkennung und Emanzipation. 215  Titus Stahl schlägt in ähnlicher Stoßrichtung eine Unterscheidung zwischen einer konstitutiven und einer regulativen Funktion von Anerkennungsnormen vor. Vgl. Stahl (2014b): Anerkennung, Subjektivität und Gesellschaftskritik. 216  Vgl. hierzu auch: Menke (2010): Autonomie und Befreiung. 217  Vgl. hierzu sehr ausführlich: Allen (2007): The Politics of Our Selves: Power, Autonomy, and Gender in Contemporary Critical Theory, 88–91.

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Butler auf der Feststellung, dass die ermöglichenden Modi eines fremden Anspruchs gleichbedeutend mit einer irreduziblen Unterordnung unter diese Ansprüche sind.218 Was dem Subjekt hinsichtlich der Gestaltung seiner Geltungsansprüche bliebe, wäre das beständige Abarbeiten an den Negationen der eigenen Subjektwerdung. Während Butler die diagnostizierte grundlegenden Offenheit eines Selbst für Andere vorrangig derart interpretiert, dass die Offenheit des Selbstbezugs eines Selbst durch den Anspruch eines Anderen eröffnet wurde, 219 kritisiert Jessica Benjamin, dass mit einer solchen Fixierung die Dynamik von Anerkennungsbeziehungen unnötigerweise aufgegeben wird. Demgegenüber verweist Benjamin auf die Notwendigkeit der prozesshaften Gestaltung unvermeidbarer Elemente der Negation. Eine besondere Rolle kommt Benjamins Ausführungen zufolge der gebenden Fürsorge sowie der kreativen Gestaltung der diskontinuierenden Elemente zu, um auf diese Weise von der Wechselseitigkeit von Anerkennungsprozessen zu einer gestaltenden Konzeption intersubjektiver Anerkennung zu gelangen.220

5.4 Zwischenfazit Vor dem Hintergrund der honnethschen Theorie intersubjektiver Anerkennung und den in Auseinandersetzung mit Judith Butler eingebrachten Modifizierungen sind, gemeinsam mit Thomas Bedorf, drei Herausforderungen als wesentlich für die Rede von intersubjektiven Anerkennungsverhältnissen zu konstatieren. Diese sind erstens das Stiftungsparadox, zweitens die Ursprungskontingenz und drittens die bleibende Nicht-Identität der Identität. 221 In den Arbeiten seines zweiten Hauptwerkes erkundet Emmanuel Lévinas das grundlegende Paradoxon der Identität. Auf der einen Seite, so führt Lévinas aus, ist ein Selbst sich selbst genügsam. Es gefällt sich selbst in seiner Sub218  Gleichwohl verweist Butler darauf, dass sich Formen der Unterordnung unterscheiden lassen. Kann Kritik einerseits nicht so weit reichen, dass der unterordnende Anspruch an sich Gegenstand von Kritik wird, da sich das Selbst lediglich einer großen Illusion seiner Unabhängigkeit hingeben würde, lassen sich dennoch bessere und schlechtere Modi der Unterordnung differenzieren. Offen bleibt aber, bis zu welchem Grad ein Subjekt diese kritisieren kann. Vgl. Butler (2004): Bodies and Power Revisited, 191 f. 219  Im Englischen wird das dieser Unterscheidung zugrunde liegende Wortspiel noch deutlicher: Butler führt aus, dass die grundlegende Offenheit für Andere (to be undone by others) nur dadurch gegeben sein kann, dass sie nicht beim Selbst beginnt (we are undone by others because we are done by them). 220  Vgl. Benjamin (1995): Like Subjects, Love Objects. Essays on recognition and sexual difference, 47 f. Siehe hierzu auch ausführlich das Kapitel 7.3. 221  Thomas Bedorf entwickelt diese Systematik in Auseinandersetzung mit Charles Taylors Arbeiten zur ‚kulturellen Identität‘. Ein solcher Übertrag kann dabei lediglich ein Übertrag der Methodik sein und postuliert nicht, dass sich die unterschiedlichen Konzepte kultureller und personaler Identität eins zu eins aufeinander abbilden ließen. Vgl. Bedorf (2010b): Verkennende Anerkennnung.

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jektivität, weshalb Lévinas auch von einer „Egoität der Subjektivität“222 sprechen kann. Neben die Egoität tritt auf der anderen Seite ein zweites Phänomen, namentlich die Ausgesetztheit an einen Anderen. Hatte Lévinas in seinem ersten Hauptwerk 223 zwar ebenso die notwendige Spannung zwischen den beiden Konstitutiven von Identität betont, diese jedoch aus der Egoität entwickelt, dreht sich in seinem zweiten Hauptwerk 224 der Argumentationsvektor. Demgemäß begreift Lévinas das Selbst fortan nicht mehr primär von der selbstgenügsamen und genussvollen Erfahrung der Welt her, 225 sondern betont ungleich stärker die bleibende Unruhe des Selbst. Das Selbst, so Lévinas, ist nur dann recht verstanden, insofern es von seiner potenziellen Gefährdung und Verwundbarkeit her gedacht wird. Um zu begründen, dass es Alterität ist, welche überhaupt Egoität ermöglicht, wählt Lévinas einen dreifachen Argumentationsgang. Erstens kommt ein Selbst nie ganz bei sich selbst an, sondern erfährt sich in allem Bemühen immer wieder als ein Anderer. 226 „Nicht-Übereinstimmung des Ichs mit sich selbst, Beunruhigung, die tiefer reicht als das Wiederfinden der Gegenwart; sogleich auch Schmerz, der das Ich aus der Fassung bringt“227 sind die Beschreibungsattribute, die Lévinas vorschlägt, um das Selbst als Selbst zu charakterisieren. Angesichts dessen entwirft Lévinas das Bild eines Selbst, welches in seiner Egoität nicht mit sich selbst identisch ist, sondern in seinem leiblichen Sein 228 in Erfahrungen verstrickt wird, die es selbst nicht in der Hand hat. 229 Weil sich die Möglichkeit eines Selbstbezugs in der Erfahrung von und mit Anderen begründet, so führt Lévinas zweitens aus, erfährt sich ein Selbst als in sich verstrickt und mit sich bleibend inkommensurabel. Das Selbst erfährt, erblickt, erahnt und entdeckt den Anderen in und an sich und findet sich gerade darin als ein einem Anderen ausgesetztes Selbst.230 Insofern ist die Ausgesetztheit gegenüber einem Anderen für Lévinas nicht nur eine Beschreibungskategorie, sondern wird drittens normativ gedeutet: Der Andersheit kommt genealogisch ein Primat gegenüber der Selbstheit zu, da sich die Präferenz für ein Selbst erst in der Erfahrung eines Anderen ermöglicht.231 Indem das Selbst nicht einfach mit sich selbst identisch ist und sich die Andersheit zugleich einem leibli222 Lévinas

(1992): Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, 148. Vgl. Lévinas (2008a): Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. 224  Vgl. Lévinas (1992): Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. 225  Dieses Argument findet sich etwa noch in: Lévinas (2008a): Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, 152 f., 158 f., 164 ff. 226  Vgl. Lévinas (1992): Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, 148 f. 227 Lévinas (1992): Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, 149. 228  Zur Figur des Leibes siehe ausführlich Kapitel 6.4. 229  Vgl. Bedorf (2012): Emmanuel Lévinas – Der Leib des Anderen, 75 f. 230  Vgl. Lévinas (1989): „Ohne Identität“. 231  Lévinas versteht eine solche Begegnung zwischen Selbst und Anderem dabei nicht – wie zum Beispiel Merleau-Ponty es tut – von einer Gemeinsamkeit der leiblichen Sinnbezüge her (vgl. Merleau-Ponty (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung, 249), sondern primär von einer Trennung (Lévinas (1992): Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, 154). 223 

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chen Selbst als Signum eingeschrieben zeigt, 232 kann das Selbst gar nicht anders, als sich zu einem konkreten Anderen zu verhalten und darf sich in dem Sinne nicht gleichgültig verhalten. 233 So zieht sich ein Selbst, unabhängig davon, als was es sich versteht und was es von sich zu wissen glaubt, Verantwortung für den Anderen zu. 234 Das Selbst steht damit in einer paradoxen Situation: Es ist einerseits ein gestiftetes, ein in seinen Entstehungsmöglichkeiten passives Selbst, das sich nicht selbst zu setzen in der Lage ist. Andererseits steht es unter einem Imperativ des Antwortens. Antworten muss folglich nicht irgendwer, sondern das sich fremde Selbst, das nur auf diese Weise seiner Verantwortung und damit einer Selbstkonstitution gerecht werden kann. 235 Es kann also die Leibhaftigkeit des Subjekts nicht von seiner Egoität abgekoppelt werden, ohne damit die Leibhaftigkeit aufzugeben. Eine Konzeption intersubjektiver Anerkennung ist nur dann in der Lage, gehaltvoll von personaler Autonomie zu sprechen, wenn sie ausgehend von der bleibenden Ambivalenz in der Konstituierung eines Selbst zugleich danach fragt, welche Mindestanforderungen die sozialen, rechtlichen und politischen Gestaltungsräume von Selbst und Anderem notwendigerweise erfüllen müssen. Gestaltungsräume lassen sich erst dann verantwortungsvoll öffnen, wenn sie von ihrem Stiftungsmoment in einem – dann eben sehr facettenreichen – Antworten auf die Infragestellung durch einen Anderen her verstanden werden. 236 Das Stiftungsparadox bezeichnet daher ein Changieren zwischen dem Ermöglichen von Identität in Anerkennungsprozessen und durch sie und einem gleichzeitigen Voraussetzen einer solchen Identität, indem es ja gerade eine Identität oder, mit den Worten Honneths, eine Figur personaler Autonomie ist, die um Anerkennung kämpft. Während auch Honneth präzise identifiziert, dass Identität immer ein Element von Stiftung enthält, droht er dieses in seinen 232  Vgl. hierzu auch die Auseinandersetzung Derridas mit den Arbeiten von Maurice Blanchot. 233  Vgl. Lévinas (1992): Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, 161. 234  Vgl. auch: Liebsch (2012): Prekäre Selbstbezeugung, 253–257, insbes. 256. Dabei verweist Liebsch darauf, dass Lévinas’ Philosophie selbst als eine Bezeugung der Ambivalenzen von Selbst und Anderem verstanden werden kann, nicht zuletzt deswegen, weil sie grundlegende Skepsis gegenüber allen Versuchen einer Ontologie des Selbst walten lässt und aufgrund dessen auf jegliche Form der Beweisführung verzichtet. Bezeugt wird dabei, dass das Selbst als ein Zeuge des Anderen insofern offenzulegen versucht, wie eine Einsetzung des Selbst als ein vom Anderen Angesprochenes und in Anspruch Genommenes gedacht werden kann. 235  Vgl. Lévinas (1992): Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, 170 f. 236 Lévinas (1992): Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, 177. Siehe hierzu auch die Auseinandersetzung von Jacques Derrida mit den Arbeiten von Maurice Blanchot. Vgl. Derrida (2000): Politik der Freundschaft, 392–395. So führt Derrida aus, wie ein Selbst unvermeidlich zur gastlichen Aufnahme eines Anspruchs verurteilt ist, selbst wenn es einen Anspruch nachträglich zurückweist. Insofern ist das Selbst immer schon ein in Frage Gestelltes und befindet sich in einer ‚Bewegung des Hörens‘. Vgl. Blanchot (2011a): Die Freundschaft.

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weiteren materialen Ausführungen tendenziell in Richtung einer für die Selbstkonstitution extrinsisch zu charakterisierenden Vorgängigkeit eines Selbst aufzulösen. Anerkennung wäre dann folglich darauf reduziert, bereits vorhandene Selbstkonzeptionen eines Selbst zu bestätigen. 237 Entsprechend folgert Thomas Bedorf, dass Anerkennung gemäß diesem honnethschen Modell zu einer bloßen Bestätigung herabsänke, „auf welche die Identität, die sich behaupten will, genauso gut verzichten könnte. Kann sie [die Identität, MB] hingegen nicht auf sie verzichten, so muß das umgekehrt bedeuten, daß die Identität einer Gruppe [oder, das Postulat der Kongruenz vorausgesetzt, einer Person, MB] nicht in dem Maße selbstidentisch sein kann, wie sie von sich behaupten muß, um als Einheit anerkannt werden zu können.“238 Demgegenüber lässt sich mit Judith Butler festhalten, dass Anerkennung in der Weise als ein performativer Akt verstanden werden kann, in dem das, was anerkannt werden soll, gewissermaßen erst in dem Prozess der Anerkennung selbst entsteht. 239 Genau diese Performanz markiert folglich eine der Grundstrukturen der Anerkennung, da diese ein notwendigerweise offener und nicht zuletzt dadurch riskanter Prozess ist. Zugleich aber ist wiederum gegenüber Butler zu betonen, dass Anerkennung nicht ausschließlich als ein performativer Akt verstanden werden kann, denn das würde bedeuten, dass mit jedem Anerkennungsprozess alle vorherigen Anerkennungsverhältnisse für ungültig erklärt werden könnten. Vielmehr knüpfen Anerkennungsprozesse zugleich an bereits bestehende Anerkennungsverhältnisse an und können diese in der Art und Weise, wie sie anknüpfen, kritisieren, modifizieren oder bestätigen. 240 Als ein Stiftungsakt kann Anerkennung verstanden werden, weil erst in der Gabe – dieses Theorem wird an späterer Stelle ausführlich behandelt – 241 von Anerkennung der Möglichkeitsraum einer Antwort auf das ergehende Angebot eröffnet wird, der dann wiederum einer konkreten Gestaltung bedarf. Indem Axel Honneth und vor allem Judith Butler den ermöglichenden Charakter intersubjektiver Anerkennung betonen, drohen sie auf je unterschiedliche Art und Weise die konstatierte Ambivalenz der Anerkennung, sei es durch eine starke Betonung der Teleologie 237  Ebenso wie die frühen Arbeiten Axel Honneths – und wenn auch nicht mehr so eindeutig, aber immer noch persistent in den späteren Arbeiten Honneths – votiert auch Charles Taylor vorrangig auf den bestätigenden Charakter von Anerkennungsrelationen. Vgl. Taylor (2009): Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, insbes. 13 f.,22 ff. 238 Bedorf (2010b): Verkennende Anerkennnung, 105. 239  Derrida verwendet für ein solch performatives Paradoxon auch den Begriff der Verzögerung, à retardement, ein (zeitlicher) Moment, der erst das hervorbringt, von dem es (retrospektiv) heißt, er schließe sich an etwas an. Vgl. Derrida (2003): Die Stimme und das Phänomen, 119. 240  Zur Konturierung eines weiten Risikobegriffs, der sich vor allem dadurch definiert, dass er immer einen Akteur und einen lebensweltlichen Bezug aufweist und sich gerade darin von den Termini der Unsicherheit und Ungewissheit unterscheiden lässt, vgl. Nida-Rümelin, et al. (2012): Risikoethik, 7–11, 53 f. 241  Vgl. Kapitel 7.1.

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von Anerkennungsprozessen oder aber einer prinzipiellen Vulnerabilitätsohnmacht anerkannter Subjekte, einseitig aufzulösen. 242 Vor diesem Hintergrund wird zu fragen sein, wie das ambivalente Zusammenspiel von anerkannten und anerkennenden Identitäten in seiner wechselseitigen Asymmetrie verstanden werden kann. Eng mit dem ersten Punkt des Stiftungsparadoxes einer Identität verbunden ist die zweite Herausforderung der Ursprungskontingenz. Diese markiert noch einmal, dass das Selbst seinen Anfang nicht nur nicht bei sich selbst hat, sondern dass damit auch auf dem Spiel steht, wie und unter welchen Umständen Selbstverwirklichungsräume eröffnet oder verschlossen werden. Wenn die bisher dargestellten Ausführungen Butlers und Honneths, die in diesem Punkt miteinander übereinkommen, zutreffen, dass ein Selbst zuallererst durch intersubjektive Anerkennungsverhältnisse zu einem Selbstbezug kommen kann, stellt die Eröffnung eines Selbstverwirklichungsereignisses einen kontingenten Akt dar. Analog zu Derridas sprachphilosophischem Grundaxiom, demzufolge die Sprache, die ich spreche, nie ganz meine eigene ist, da die Sprache immer schon in das Geflecht von Identität und Alterität eingelassen ist, gilt dieses noch grundlegender auch für das Selbst. Derrida bringt dies auf folgende Formel: „1. Man spricht immer nur eine einzige Sprache – oder vielmehr als ein einziges Idiom. 2. Man spricht niemals nur eine einzige Sprache – oder vielmehr, es gibt kein reines Idiom.“243 Die erzählerische Vergewisserung des Selbstverhältnisses ist immer schon eingebettet in einen nicht zu überwindenden Sprachzusammenhang. Für die Rede von einer Präferenz des Selbst im Anderen folgt daraus, dass die Präferenzbildung auf die Einbettung in einen Sprachraum angewiesen ist und sich in einem solchen entfalten kann, zugleich aber auch durch diesen begrenzt und definiert wird. Die Beobachtung, dass man innerhalb eines Sprachraumes in einem Moment eine Sprache sprechen kann, bedeutet dann eben auch, dass es außerhalb der eigenen Sprache auch noch andere Sprachen geben muss, die gewissermaßen das Außen des eigenen Sprachraums bilden und für das sprechende Selbst nicht in gleicher Weise verfügbar sind. In diesem Sinne kann ein 242 Darauf, dass eine zeitgemäße anthropologische Theorie nur „after the destruction of teleology“ (Ricœur (1969): Religion, Atheism, and Faith, 92) möglich sei und sehr genau darauf zu achten sei, an welchen Stellen sich rückschlagende Theorieelemente einschleichen, hat auch Paul Ricœur eindrücklich hingewiesen. Aus theologischer Perspektive steht die Beschäftigung mit Vulnerabilität nicht als zu überwindendes Malum, sondern als fundamentale anthropologische Kategorie noch am Anfang. Es drängen sich jedoch Zweifel auf, inwiefern dies sinnvoll dadurch gelingen kann, Vulnerabilität prinzipiell als einen Ort zu verstehen, an dem Gottes Herrlichkeit sichtbar werden kann. Eine solche Perspektive droht den sichtbar zu machenden Phänomenen von Vulnerabilität ihre Ambiguität hinterrücks wieder zu nehmen. Vgl. hierzu: Culp (2010): Vulnerability and Glory: A Theological Account. Gerade die Ambivalenzen leiblicher Selbstbezüglichkeit sichtbar zu machen, ist das Anliegen von Heike Springhart. Vgl. Springhart (2016): Der verwundbare Mensch. Sterben, Tod und Endlichkeit im Horizont einer realistischen Anthropologie. 243 Derrida (2004): Die Einsprachigkeit der Anderen. Oder die ursprüngliche Prothese, 21.

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Sprecher dann auch seine Sprache nicht willkürlich wechseln, jedenfalls nicht, ohne den ihn als Sprecher konstituierenden Sprachraum zu verlassen. Dieser Gedanke führt zum zweiten Teil der These Derridas: Mit dem Sprechen genau einer Sprache ist noch nichts über den Verweisungscharakter der gesprochenen Worte ausgesagt: Es braucht nicht erst einen Ausflug in die semantischen Untiefen der unterschiedlichen Deutungshorizonte ein und desselben Sprechaktes, um zu wissen, dass es die eine Sprache insofern nicht gibt, als sie für sich wiederum in einen Verweisungszusammenhang eingebunden ist, der mit multiplen Schaltstellen und Verknüpfungen operiert. 244 Die Suche eines Selbst nach Vergewisserung seines Selbstverhältnisses stellt dann aber ein Versprechen auf Einzigartigkeit dar, welches nicht einzulösen und nicht zu erfüllen ist. Die Einzigartigkeit meines Sprechens wird stets als etwas aufgefasst und ist aufgrund dieser signifikativen Differenz245 nicht mit sich selbst identisch. Dass sich das Selbst gleichsam aber doch wieder als mit sich identisch zu setzen sucht, kann mit Thomas Bedorf als phantasmatische, oder theologisch gesprochen: eschatologische, Identifizierung bezeichnet werden: Es ist das Versprechen einer Einheit, die sich nie ganz erreichen lässt und „damit in ihrem Begriff selbst eine Differenz, eine Andersheit, einträgt, die sie nur machtvoll qua Ausgrenzung tilgen kann.“246 244  Vgl. zu den grundlegenden Arbeiten von Austin: Austin (1975): How to Do Things with Words. The William James Lectures delivered at Harvard University in 1955 & Austin (1961): Philosophical Papers. Austin legte dabei die unterschiedlichen Kompartimente, Ebenen und Abläufe von Sprechakten offen. In einem simultan ablaufenden Kommunikationsprozess laufen demzufolge drei Akte mehr oder minder gleichzeitig ab und entscheiden in ihrem jeweiligen Wechselspiel, wer oder was auf welche Art und Weise zur Sprache gebracht wird. Bezeichnet der lokutionäre Akt – wiederum bestehend aus dem phonetischen, dem phatischen sowie dem rhetischen Akt – die Handlung des Sagens, erfolgt im illokutionären Akt der Vollzug einer Sprachhandlung als Frage, Bitte, Aufforderung, Antwort etc. Der perlokutionäre Akt bezeichnet die mit einer Sprachhandlung anvisierte Wirkung, also die hinter einer Antwort, einer Frage, einer Bitte liegende Intention einer Handlung. Vor diesem Hintergrund pointiert Austin: „[T]o say something is to do something.“ Austin (1975): How to Do Things with Words. The William James Lectures delivered at Harvard University in 1955, 94. In Fortführung der Arbeiten von Austin modifiziert John Searle die Unterteilung von ­Austin und ergänzt eine weitere Ebene. Searle unterscheidet zwischen dem Äußerungsakt, dem propositionalen Akt, dem illokutionären Akt sowie – in Übereinstimmung mit ­Austin – dem perlokutionären Akt. Vgl. Searle (1971): Sprechakte: Ein Sprachphilosophischer Essay & Searle (1982): Ausdruck und Bedeutung: Untersuchungen zur Sprechakttheorie. Die wesentliche Erweiterung gegenüber Austin besteht bei Searle aber darin, dass er die Sprechakt­ theorien nicht mehr alleine als Theorie sprachlichen Handelns versteht, sondern dezidiert als komplexe – sowohl direkte als auch indirekte – Handlungsdispositive, in denen entschieden wird, was auf welche Art und Weise zur Bedeutung kommt oder, mit anderen Worten, was unter welchen Bedingungen anerkannt werden kann. Vgl. Searle (2012): Wie wir die soziale Welt machen: Die Struktur der menschlichen Zivilisation. 245  Vgl. Waldenfels (2010b): Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung. 246 Bedorf (2010b): Verkennende Anerkennnung, 109.

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Nun könnte man drittens geneigt sein, angesichts der angedeuteten Verschiebungen, Brüche, Differenzen und Einwände gegen ein Modell der Einheit, nahtlos in das Anstimmen eines Lobliedes auf die Ununterscheidbarkeit, die absolute Vermischung, die Verkehrung der Différance in ihr Gegenteil überzugehen. In Auseinandersetzung mit solchen Vorschlägen und Konzeptionen, die ihrerseits in der Gefahr stehen, die Pluralität und Vielheit zu essentialisieren, 247 spricht Thomas Bedorf von einer ‚Nicht-Identität der Identität‘248. Indem wir darüber nachdenken, wie sich das Verhältnis von Alterität und Selbstheit ausgestaltet, können wir gar nicht anders, als in irgendeiner Form ein Minimalkonzept von Identität zu denken. Bedorf schlägt, in Anknüpfung an die Arbeiten von Jean-Luc Nancy und dessen Terminologie der mêlée, der (Ver‑)Mischung, ein Verständnis von Identität als eine solche vor, die stets in der „Spannung zwischen Identität und Nichtidentität“249 bereits da ist. ,Nicht-identisch‘ bleibt Identität insofern immer, als sie stets eine im Werden befindliche bleibt, eine vermischte, die sich im Ent-mischen selbst auflösen würde. Weder kann es eine reine Mischung, noch eine unvermischte Reinheit geben. Mit Nancy selbst lässt sich dieser Punkt noch weiter zuspitzen, indem sich Bedorfs Vorschlag einer ‚Nicht-Identität der Identität‘ in zweierlei Hinsicht kritisieren lässt. Zum einen weist Nancy darauf hin, dass eine sogenannte ‚Nicht-Identität‘ gerade nicht in ‚der Identität‘ aufgehen kann. Identität kann dementsprechend nicht der von vorneherein gesetzte Zielpunkt einer Konzeption von ,Nicht-Identität‘ sein, da diese finaliter doch wieder in eine wie auch immer geformte Zielkonstellation von Identität überführt wer-

247  Einer der bekanntesten und zugleich strittigsten Entwürfe ist an dieser Stelle sicher die Konzeption von Derek Parfit. Parfit beginnt seine Abhandlung über Identität mit der These, dass Identität nicht von Bedeutung sei: „[P]ersonal identity is not what matters.“ Parfit (1984): Reasons and Persons, 215. Zugleich schränkt er aber bereits einige Zeilen später wieder ein, dass sie zumindest nicht so viel bedeute, wie oftmals angenommen. Vor diesem Hintergrund ist es auch nicht möglich, von einer Identität zu sprechen, sondern lediglich von einer ‚Nicht-Identität‘. Diese bezeichnet ein punktuelles Verbindungsensemble von Erfahrungen, das lediglich in Abstufungen existieren kann. Ein solches Konzept ist aber nur auf den ersten Blick weniger gehaltvoll als das von Parfit so scharf kritisierte Konzept eines kartesianischen Ichs. Denn in Parfits Theorie hängt die Selbsthaftigkeit einer Identität an der Fähigkeit, Verknüpfungen zwischen unterschiedlichen Erinnerungszuständen herstellen zu können. Wenn Parfit in einem Interview zu seinem Ansatz ausführt, „dass eine Person kein Mensch ist, sondern der bewusste, denkende, steuernde Teil eines Menschen“ (Vašek (2013): Worauf es wirklich ankommt, 26), dann wird deutlich, dass dem Bewusstsein als kriterialem Element einer Person die alles entscheidende Rolle zukommt. Entscheidend dafür, ob eine Person als eine Person anerkannt werden kann, ist für Parfit folglich nicht, ob sie eine entsprechende Fähigkeit potenziell in der Lage ist auszuführen, sondern ob sie es wirklich tut. Die Konsequenz ist, dass Parfits Theorie der ‚Nicht-Identität‘ im Endeffekt auf eine naturalistische Theorie des Geistes hinausläuft. 248  Vgl. Bedorf (2010b): Verkennende Anerkennnung, 109. 249 Bedorf (2010b): Verkennende Anerkennnung, 110.

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den würde. Ebenso muss kritisch gegen die Idee einer ,Nicht-Identität‘ der Identität angemerkt werden, dass auch der Terminus der ‚Nicht-Identität‘ mit einer zu einfachen Falsifizierungslogik operiert: Eine solche Figur verfährt zwangsläufig mit einem dualen Code der An- oder Abwesenheit von Identität. Das Problem dieser Vorgehensweise sieht Nancy in dem damit notwendigerweise verknüpften Startpunkt beim Selbst, welcher seines Erachtens deshalb als unmöglich gedacht werden muss, weil sich ein einzelnes Selbst nicht einmal bezeichnen und sich damit auch nicht auf sich selbst beziehen könnte. Ein reine Identität wäre folglich eine leere und inhaltslose Konzeption: „Eine reine Identität hebt sich auf, sie kann sich nicht identifizieren. Sie ist nur mit dem identisch, das mit sich identisch ist, das sich also im Kreise dreht und nicht einmal bis zur Existenz gelangt.“250 Insofern kann Identität in der Tat als eine ,Nicht-Identität‘ bezeichnet werden, aber lediglich in dem Sinne, dass sie identifiziert, konkretisiert und lokalisiert werden kann, sich aber bereits wieder jeglichem Moment ihrer Erfüllung entzieht. 251 Was sich in den Überlegungen von Jean-Luc Nancy aber andeutet, kann als eine kritische Rückfrage an Modelle intersubjektiver Anerkennung, wie sie von Axel Honneth und Judith Butler entwickelt worden sind, verstanden werden. Gemeinsam ist diesen erstens, dass der Beginn eines Selbst bei einem Anderen eine Widerfahrnis von Fremdheit impliziert. Eine Fremdheit, die sperrig bleibt, widerständig ist und das Selbst gewissermaßen auf eine Offenheit hin orientiert. Die Rede von einem Selbst impliziert in beiden ‚Argumentationslinien‘, dass das Selbst immer schon ein relationales ist, folglich immer schon in Beziehungen steht und nur aus diesen heraus zu verstehen ist. Zweitens ist der Selbstbezug eines Selbst nicht einfach gegeben, sondern muss sich in Anerkennungsprozessen konstituieren. Ebenso haben beide – Butler noch wesentlich vehementer als Honneth – konstatiert, dass sich das, was anerkannt werden soll, erst in Anerkennungsprozessen herausbildet und nicht anders als in Anerkennungsverhältnissen stehend gedacht werden kann. Drittens eint beide, dass Anerkennungsrelationen Relationen zwischen Getrennten sind, die dennoch aufeinander bezogen sind. Daraus folgt für die Anerkennungsverhältnisse, dass mit diesen weder eine vorgängige Einheit noch eine komplette Abgeschiedenheit verbunden sein kann.

250 Nancy

(1993): Lob der Vermischung. Für Sarajevo 1993, 6. Nancy besteht darauf, dass der kontinuierliche Verweis auf die mêlée und das Aushalten der mit ihr verbundenen Spannungen und Irritationen auch den einzig wirksamen Stachel gegen die Gewalt einer vermeintlichen Reinheit bedeutet. Nancy formuliert diesen Punkt sehr drastisch: „[D]as simple Lob der Mischung hat vielleicht Irrtürmer hervorgebracht, aber das simple Lob der Reinheit war und ist für Verbrechen verantwortlich. In dieser Hinsicht also gibt es keinerlei Symmetrie, kein zu beherzigendes Gleichgewicht.“ Nancy (1993): Lob der Vermischung. Für Sarajevo 1993, 5. 251 

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Kritisch festgehalten werden muss allerdings, dass eine die Anerkennungsverhältnisse fundierende Ambivalenz in beiden Theorieentwürfen nicht systematisch auf ihre Rückkopplungseffekte für die Gestaltungsräume von Selbst und Anderem befragt wird. Stattdessen wird die fundierende Ambivalenz entweder tendenziell in ein Postulat der gleichberechtigten Symmetrie von Ansprüchen überführt, wie in den Arbeiten von Axel Honneth, oder aber mit der Intention, die notwendig bleibende Asymmetrie solcher Anerkennungsverhältnisse zu betonen, die Gestaltungsmöglichkeit gleichberechtigter Symmetrien aufgegeben, wie es bei Judith Butler der Fall ist. Eine Konzeption intersubjektiver Anerkennung, so wird sich in Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Jean-Luc Nancy, Bernhard Waldenfels und Burkhard Liebsch zeigen, droht kurzgeschlossen zu werden, wenn sie entweder der fundierenden Ambivalenz von Eigenem und Fremdem alleine über die Aushandlung von Geltungsansprüchen gerecht zu werden versucht oder wenn die fundierende Ambivalenz selbst (vermeintlich) transzendiert wird. 252 Demgegenüber ist die Einbeziehung eines Anderen nicht alleine durch eine Aushandlung von Geltungsansprüchen zu gewährleisten, sondern bedarf einer Selbst und Anderen fundierenden Praxis des Anhörens – was im Folgenden in Kapitel 6.5 und 6.6 noch näher zu erläutern sein wird. Solange ein solch fundamentaler Anspruch eines Anderen als Ermöglichungsraum eines Selbstbezugs komplett in der Aushandlung von Geltungsansprüchen aufgehend gedacht bleibt, ist mit jedem Verlust einer Berechtigung, gehört oder angesprochen zu werden, zugleich der Status als Mitmensch gefährdet. 253 Als in den materialen Ausführungen an manchen Stellen über das Ziel hinausschießende, für die systematische Erschließung aber zugleich durchaus bedeutende Stütze einer solchen Einschätzung können die Arbeiten von Jean-François Lyotard ebenso wie von Ernst Tugendhat dienen, die darauf hinweisen, dass der Mensch nur Rechte hat, insofern er sie von Anderen zugesprochen bekommt und an sich und unabhängig von einer sozialen, rechtlichen und politischen Praxis überhaupt keine 252  Aus rechtlicher Perspektive, aber mit gleicher Stoßrichtung hat dies in den letzten Jahren Christoph Menke unter anderem in Anknüpfung an die Arbeiten Walter Benjamins vertreten. Er führt aus: „Wir können die bürgerliche Erklärung gleicher Rechte nicht in ihren Gehalten, Zwecken und Wirkungen begreifen, ohne verstanden zu haben, wie sie verfährt; das Wie der Rechte hat Vorrang vor ihrem Was, Warum und Wozu. Vor dem Gehalt, dem Zweck und der Wirkung der Rechte kommt ihre Form.“ Menke (2015): Kritik der Rechte, 9. Eine solche Form der Rechte ist dabei gerade nicht neutral, sondern vielmehr Ausdruck einer spezifischen Konfiguration von Normativität. „Ein Recht zu haben heißt, einen berechtigten, also verpflichtenden Anspruch zu haben. Und ein Recht zu erklären heißt, einen berechtigten, also verpflichtenden Anspruch zu verleihen.“ Menke (2015): Kritik der Rechte, 9. Dabei bedarf es gleichzeitig einer Kritik der Rechte, die sich nicht alleine aus der Form des Rechts speisen kann, sondern angewiesen ist und bleibt auf die Vollzugsformen des Politischen, wiederum verstanden als Gestaltungsraum responsiver Intersubjektivität. 253  Vgl. Lyotard (1996): Die Rechte des Anderen, 174 ff.

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Rechte hat. 254 ‚Alleine‘ Mensch zu sein reiche nicht, so markiert Lyotard, um in politischen Anerkennungspraktiken sichtbar zu sein. 255 Eine solche politische Sichtbarkeit aber ist integrale Voraussetzung, um seine Ansprüche und Rechte als Angehöriger einer politischen Lebensform zur Sprache bringen zu können. 256 Bis zu der Schlussfolgerung, dass bereits jede Gesprächsverweigerung mit einem Ausschluss aus einer politischen Gemeinschaft einhergehe, muss man Lyotard gar nicht folgen, um zu sehen, dass es vor dem Eintritt in die Auseinandersetzung, welcher Anspruch anerkannt werden soll und welcher nicht, bereits eine fundierende Form der Anerkennung gibt, die ihrerseits weder verrechtlicht noch erkämpft werden kann. Im Folgenden wird untersucht, inwiefern eine solch grundlegende Form wechselseitiger Anerkennung über eine Figur responsiver Leiblichkeit erschlossen werden kann – eine Responsivität, in die ein leibliches Selbst immer schon gestellt ist, bevor es sich selbst bezeugen und seine Ansprüche artikulieren kann.

6. Eine Theorie responsiver intersubjektiver Anerkennung 6.1 In den Fängen von Da-Sein und Mit-Sein Jean-Luc Nancy entwickelt, vor allem in Auseinandersetzung mit Martin Heideggers ‚Sein und Zeit‘, eine Theorie des Mit-Seins, die versucht, eine Neubestimmung zwischen zwei mithin oft dichotom unterschiedenen Entitäten vorzunehmen: der Person auf der einen Seite und der Gemeinschaft auf der anderen Seite. Hinsichtlich der ersten Entität steht Nancy zunächst in einer Argumentationslinie mit Honneths Konzeption intersubjektiver Anerkennung als Bedingungsraum personaler Autonomie. Beide Denker teilen die Auffassung, dass ein solipsistisch verstandenes Selbst257 nichts anderes als ein inhaltsloser 254  Vgl. hierzu: Lyotard (1996): Die Rechte des Anderen, 176, & Tugendhat (1993): Vorlesungen über Ethik, 336 ff. 255  Lyotard unterscheidet zwischen der faculty of interlocution (1), der legitimation of speech (2) und der legitimacy to speech (3). Die Fähigkeit zu sprechen erfordere, so Lyotard, dann auch die Berechtigung, seine Meinung frei äußern zu dürfen. Vgl. Lyotard (1996): Die Rechte des Anderen, 178 f. Zugleich aber bedeutet ein Recht auf freie Meinungsäußerung noch nicht, dass die artikulierte Meinung auch gehört und gewürdigt wird. Selbstverständlich darf ein psychisch Kranker sein Recht auf eine selbstbestimmte Behandlung artikulieren. Damit ist aber zugleich noch keine Aussage darüber getroffen, dass seine Artikulation auch als die eines selbstbestimmten Bürgers gewürdigt wird. 256  Vgl. Arendt (1993): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus. Imperialismus. Totale Herrschaft. Siehe zur Diskussion und Auseinandersetzung auch: Liebsch (2012): Prekäre Selbstbezeugung, 277. 257  Gemeint ist dabei ein Selbstverhältnis, welches die Bestimmung seines Selbst ganz aus sich selbst zu leisten postuliert. Auch wenn der jeweils angenommene Grad der Alleinbestimmtheit eines Selbstanfangs sehr stark variieren kann, haben diese Variationen gemein, dass sie jeweils von einem mehr oder minder festen Selbstbezug ausgehen, den es zu bewah-

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Trugschluss wäre, der sowohl den genealogischen wie auch geltungstheoretischen Anforderungen einer Bestimmung von Selbstverhältnissen nicht gerecht werden kann. Folglich ginge das Selbst, Nancy bezeichnet dies zunächst als ein Für-sich-Sein, in den von ihm produzierten Wiederholungsschleifen nicht etwa verloren, sondern würde gar nie einen Anfang finden. 258 Im Unterschied zu Honneth insistiert Nancy darauf, dass der Bedingungszusammenhang personaler Autonomie weder einem gerichteten Fortschrittsparadigma folgt, noch je aufgelöst werden kann. ‚Das Selbst‘, wissend dass auch dieser Terminus bereits wieder sein Paradoxon perpetuiert, kann nach Nancy nur verstanden werden als „die Beziehung des Einen zum Anderen als die unendliche Beziehung des Selben zum Selben als dem ursprünglich Anderen als es selbst.“259 In diesem Sinne erreicht das Selbst niemals eine Subjekthaftigkeit, jedenfalls dann nicht, wenn Subjektwerdung über eine zumindest funktionale Geschlossenheit generiert wird. Einem solchen Verständnis von Subjektwerdung wirft Nancy vor, dass sie gewaltsam versuchen müsste, die sie fundierende Mischung, also die sie durchziehenden und vernetzenden fremden Spuren, zu reinigen, um ganz bei sich zu sein. Ebenso wenig aber wie die Person in diesem ren, wiederzugewinnen oder zu erkämpfen gilt. Nancy geht demgegenüber davon aus, dass einem Selbstbezug jegliches Zentrum, jegliche starre Grenze fehlt. Er hat seinen Anfang nicht bei sich selbst und kommt deswegen nicht umhin, durch die Art und Weise seiner Anknüpfung an die Spuren der mêlée Selbstbezüglichkeit zu schaffen, die Gestaltungs- und Verwirklichungsräume eröffnet und doch bleibend prekär ist. 258  Vgl. Nancy (2013): Vom Schlaf, 19–24. Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von Rahmenbedingungen, die notwendig für die Erstellung eines Selbstbezugs sind. Vgl. Taylor (2012): Quellen des Selbst. Die Enstehung der neuzeitlichen Identität, 52 ff., 855 ff. Taylors Anliegen, auf die Ermöglichungsräume von Selbstbezügen zu verweisen und die Thematisierung solcher Raumereignisse nicht als prinzipielle Einschränkungen zu begreifen, deckt sich dabei mit dem Anliegen Nancys. Vgl. hierzu auch: Taylor (1992b): ­Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus. Die Rede von solchen Rahmenbedingungen ist bei Charles Taylor aber zugleich durchaus sehr ambivalent. Einerseits werden solche Rahmen in einem eher schwachen Sinne verstanden, wenn Taylor sie als Lebensformen begreift, in denen und von denen her sich Selbstbezüge entfalten. Andererseits hat die Einbindung in eine Lebensform bei Taylor scheinbar den Makel, als inauthentisch zu erscheinen. Demgegenüber ist jedoch kritisch zu fragen, ob ein solches Eingebundensein in Lebensformen, in denen verhandelt wird, was mit welchen Gründen zur Geltung kommen kann und soll, wirklich den Gegensatz von Authentizität darstellt, wie Taylor es formuliert, oder nicht vielmehr deren Ermöglichung. Vgl. Taylor (1991): The Ethics of Authenticity, 44–49. Zugleich aber verliert Taylor den Fokus auf die Pluralität von Lebensformen und damit auf die Vielfältigkeit von Anknüpfungsmöglichkeiten ein wenig aus den Augen, wenn er seine Überlegungen zunehmend auf bestimmte Formen von Gemeinschaft zuspitzt und damit, so die Kritik von Nancy, auch wiederum in ein Ganzheitspathos zu verfallen droht. 259 Nancy (2012): singulär plural sein, 124. Nancy setzt sich sehr scharf gegen jegliche Verbindung seiner Konzeption mit kommunitaristischen Ideen und Gedanken zur Wehr. In ihnen sieht er eine vorschnelle Glorifizierung des Gemeinsamen, das in dem Moment solch von der jeweiligen Gruppe beanspruchter Totalität in Narzissmus umgeschlagen ist.

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Sinne als reines Subjekt betrachtet werden kann, kann dieses mit Blick auf die Entität der Gemeinschaft260 erfolgen. 261 Nancy markiert sehr scharfsinnig die Gefahr des radikalen Umschlags einer singulären Offenheit in gewaltvolle gemeinschaftliche Geschlossenheit, etwa dann, wenn eine Gemeinschaft selbst dem Phantasma einer Einheit folgt, indem sie sich selbst als totalitär setzt. 262 Demgegenüber entwickelt Nancy eine Ontologie des Mit-Seins, die sich den Elementen von Totalisierung und Aneignung zu entziehen versucht und in diesem Sinne auch dem heideggerschen Mit-Sein konträr entgegensteht.263 260  Wenn Nancy von Gemeinschaft spricht, dann unterscheidet er nicht, wie dies etwa klassischerweise im Gefolge von Ferdinand Tönnies (vgl. Tönnies (2012): Gemeinschaft und Gesellschaft) getan wird, zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, sondern verwendet den Terminus der Gemeinschaft dieser Unterscheidung übergeordnet. 261  Nancy differenziert zwischen drei Formen von Gemeinschaft, die sich in je unterschiedlicher Weise durch den Versuch kennzeichnen lassen, einem bestimmten Ziel verschrieben zu sein. Neben der faschistischen Gemeinschaft sind dies die sozialistische sowie die bürgerlich-liberale Variante. Alle Spielarten einer auf unterschiedliche Weise geschlossenen Gemeinschaft haben dabei gemeinsam, dass sie mit unterschiedlichen Vorannahmen operieren, die bereits vorentscheiden, wer dazugehört und wer nicht. Ist dies im Faschismus die Rasse, ist es im Sozialismus die objektive Interessenvertretung. Im Liberalismus ist dies, so Nancy, dann ein in sich autarkes und von Anderen abgrenzbares – und mit diesen in einem Wettstreit stehenden – Selbst. Vgl. Nancy (2007): Die herausgeforderte Gemeinschaft. 262  Vgl. Nancy (2007): Die herausgeforderte Gemeinschaft, 25. 263  Eine Denkfigur des Mit-Seins entfaltet ebenso Alain Badiou, wenn er in Anknüpfung an Paul Celans Figur des ‚Mitsammens‘ über die Möglichkeiten von Gemeinschaft und deren demokratischer Gestaltung nachdenkt. ‚Mitsammen‘ bezeichnet dabei keine Bedingung von Gemeinschaft, sondern stets deren schwieriges Resultat. Vgl. Badiou (2006): Das Jahrhundert, 114. Gemeinschaft versteht Badiou als einen Prozess, der seine Dynamik aus der sich verschiebenden Arithmetik von Gemeinschaft stiftenden Ereignissen bezieht. Durch eine solche Dynamisierung von Paradigmen und Gesetzmäßigkeiten eröffnen sich um solche Ereignisse herum Brüche in den bisherigen Ordnungsstrukturen, die wiederum Anschlussstellen für neue Ordnungsmuster bilden. Vgl. Badiou (2003): Ethik. Versuch über das Bewusstsein des Bösen, 62 f. Ereignisse sind für Badiou Wahrheitsereignisse in dem Sinne, dass sich in ihnen konstituiert, was als bedeutend anerkannt werden muss. Damit ein Ereignis als Wahrheitsereignis gelten kann, muss es einer Lücke Ausdruck verleihen und damit ein überschießendes Bedeutungselement ins Spiel bringen. Vgl. Badiou (2010): Manifest für die Philosophie. Zugleich markiert Badiou mit der Rede von der ‚Treue zum Ereignis‘, dass es die Offenheit für vermeintlich unsichtbare Leerstellen von Ordnungsstrukturen sind, die eine Gemeinschaft als Gemeinschaft auszeichnen. Dem, was strukturell in einer Ordnung keinen Platz hat, (wieder) das Wort zu geben, ist die Aufgabe des Ereignisses. Ausgehend von einem solchen Ereignischarakter von Gemeinschaft erscheint Badiou die Selbstermächtigung des Proletariats als eines politischen Subjekts in den Schlüsselereignissen der Arbeiterbewegung ebenso wie die politischen Subjektivierungsprozesse des Feminismus als ein politisches Wahrheitsereignis. Dagegen könne die Verhärtung überkommener Kategorien von Nation, Lebensform, Sexualität etc. nicht als Ereignis gelten, auch wenn sie zunächst durchaus einen Ereignischarakter aufweisen. Das Kriterium, ob ein Ereignis als wahr gelten kann, liegt s.E. darin, ob und inwiefern sich in ihm eine immanente Erweiterung von Repräsentationsräumen verbindet. Ein solches Kriterium kann zwar auf der einen Seite als notwendig angesehen werden, aber keineswegs als hinreichend. Denn anders als etwa bei Derrida (vgl. Derrida (2007): Von der Gastfreundschaft) fehlt bei Badiou eine inhaltliche Bestimmung, inwiefern, vorausgesetzt

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Heidegger entfaltet das Mit-Sein als Figuration des Da-Seins264, das mit dem In-der-Welt-Sein gleichursprünglich ist. 265 In Abgrenzung zu einem Verständnis des Da-Seins als einer unzweifelhaften Gegebenheit des Ichs beharrt Heidegger darauf, Mit-Sein so zu verstehen, dass Da-Sein immer ein mit Anderen In-der-Welt-Sein eines Selbst impliziert.266 In der Begegnung mit der Welt begegnet dem Selbst der Andere immer schon mit, wobei die Anderen nicht der „ganze Rest der Übrigen außer mir“267 sind, sondern die, „von denen man sich zumeist nicht unterscheidet, unter denen man auch ist.“268 Wenn das DaSein vom Mit-Sein her gedacht werden muss, selbst dann, wenn es keinen konkreten Anderen gäbe, dann, so argumentiert Heidegger, stellt auch das Alleinsein nichts anderes als eine defizitäre Form des Mit-Seins dar. „Das Fehlen und ‚Fortsein‘ sind Modi des Mitdaseins und nur möglich, weil Dasein als Mitsein das Dasein Anderer in seiner Welt begegnen lässt. Mitsein ist eine Bestimmtheit des je eigenen Daseins: Mitdasein charakterisiert das Dasein Anderer, sofern es für ein Mitsein durch dessen Welt freigegeben ist.“269 Zugleich aber betont Heidegger, dass ein Selbst nur auf die Art und Weise existenziell zur Sprache gebracht werden könne, wie ihm im Vergleich zu anderen Lebewesen der Mitwelt besondere Eigenschaften zugeschrieben werden können, wie zum Beispiel die Sorge um sich selbst.270 Gerade in der Sorge um sich selbst, so Heidegger, bringt ein Selbst überhaupt erst die Welt als eine be-

dass allein entscheidend ist, dass eine bislang nicht repräsentierte Struktur zur Repräsentanz gebracht werden muss, es unterschiedlich bewertetet werden müsste, ob beispielsweise eine neue religiös-fundamentalistisch motivierte Repräsentanz errichtet wird oder aber beispielsweise eine neue gender-sensibel motivierte Repräsentanz. Zu einer Kritik des badiouschen Repräsentanzbegriffs siehe auch: Rancière (2006): Politik der Bilder & Rancière (2008): Das Unbehagen in der Ästhetik. 264  Peter Sloterdijk weist vollkommen zu Recht darauf hin, dass Heidegger solche Strukturen des Da-Seins nicht lediglich als temporal verfasste Struktur sieht, sondern mit der Entwicklung des Konzepts des Da-Seins auch eine bestimmte topografische Verortung erfolgt. Sloterdijk interpretiert Heideggers Ausführungen zur räumlichen Struktur des Da-Seins so, dass er das In-der-Welt-Sein eines Selbst – als seine wesentliche Seins-Bestimmung – nicht im Sinne eines an einem bestimmten topografischen Punkt Zuhause-Seins des Selbst versteht: „To speak of dwelling in the world does not mean to presuppose a domestic relationship between existing beings and vast, unbounded space: it is exactly this concept of being-athome in the world that must be questioned, as to simply accept this condition as a fact would mean to fall back into the logic of container-physics that needs to be overcome.“ Sloterdijk (2012): Nearness and Da-sein: The Spatiality of Being and Time, 37. Da-Sein, so Sloterdijk in Anlehnung an Heidegger, ist insofern durch zwei räumliche Sphären definiert: Ent-Fernung einerseits und Aus-Richtung andererseits. 265  Vgl. Heidegger (2006): Sein und Zeit, 114. 266  Vgl. Heidegger (2006): Sein und Zeit, 116. 267 Heidegger (2006): Sein und Zeit, 118. 268 Heidegger (2006): Sein und Zeit, 118. 269 Heidegger (2006): Sein und Zeit, 121. 270  Vgl. Heidegger (2006): Sein und Zeit, 323 ff.

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deutsame hervor, in der Anderes vorkommen kann. 271 Auch wenn die Struktur eines Selbst als in einem Mit-Sein begründete sich auf den ersten Blick als eine grundlegend offene darstellt, wird in Heideggers weiteren Überlegungen deutlich, dass eine Konzeption einer jemeinigen Existenz schlussendlich auf eine ‚Ipsokratie‘272 hinausläuft, in der die dem Selbst eigene Andersheit ebenso wie die Andersheit der Anderen immer nur sekundäre Randphänomene eines sich sorgenden Selbst bleiben.273 Während Heidegger das Mit-Sein als einen konstitutiven Bestandteil des Inder-Welt-Seins eines Selbst betrachtet, sieht Nancy gerade hierin die Gefahr, dass im Mit-Sein schließlich doch wieder ein Zusammen-Sein im Sinne der Verschmelzung und Verschließungen der im ‚mit‘ aufscheinenden Präsenzmöglichkeiten verankert wird. Nancy kritisiert mit besonderer Vehemenz die von Heidegger vorgenommene Unterteilung des Mit-Seins in ein uneigentliches ‚man‘ und ein eigentliches ‚Volk‘. 274 Das ‚man‘ bleibt bei Heidegger insofern uneigentlich, da es in reiner Äußerlichkeit steht, als ein Niemand, dem sich alles Da-Sein ausgeliefert hat. Demgegenüber versteht Heidegger das Volk in dem Sinne als eigentlich, dass in ihm ‚mit‘ als ein vorgängig Gemeinsames gedacht wird, das einer Gemeinschaft vorausgeht und in dem sie gleichermaßen ihr Geschick erhält. Auch wenn das ‚mit‘ in beiden Fällen als der Möglichkeit von Individualität vorausgehend gedacht wird, würde es sich in dem einen Fall als absolute Trennung und in dem anderen Fall als vorgängige Setzung wie Erfüllung des ‚mit‘ erweisen.275 Nancy versucht sich an einer Konzeption des ‚mit‘ als einem ,Mitein-ander-Sein‘, um so einen Weg jenseits der beiden Extreme zu bahnen. 276 271  Vgl. Heidegger (2004): Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit (1929/30), 261 ff. 272  Vgl. Derrida (2005): Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, 36. 273  Heideggers Konzeption des Selbst geht dabei sogar so weit, dass selbst der Tod noch als eine mögliche Unmöglichkeit (vgl. Heidegger (2006): Sein und Zeit, 262) zu einer Möglichkeit des Selbst gehört. Dass sich auch im Sterben noch das Können und die Herrschaft eines Selbst erweisen müssen, hat bereits Lévinas massiv angezweifelt. Vgl. Lévinas (2008a): Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, 55. Auch aktuell kommt der heideggerschen Denkfigur eines so beschaffenen Selbst eine große Relevanz zu, dies zeigt sich nicht zuletzt in den Debatten zur Frage, wie der medizinisch assistierte Suizid in Deutschland (neu) geregelt werde könnte. Vgl. hierzu auch: Dabrock (2015b): Selbstbestimmungsalternativen zwischen ethischer Bewertung und rechtlicher Normierung. Ein Beitrag (nicht nur) zur Sterbehilfe-Diskussion, Kreß (2015): Suizid und Suizidbeihilfe unter dem Aspekt des Grundrechts auf Selbstbestimmung & Anselm (2015): Leben als Gut, nicht als Pflicht. Der Beitrag der evangelischen Ethik in der Debatte um den assistierten Suizid. Von Letzterem siehe auch: Anselm (2012): Euthanasie oder: Vom guten Tod des Einzelnen zur Tötung im Namen des Kollektivlebens. 274  Vgl. Heidegger (2006): Sein und Zeit, 384. 275  Vgl. Nancy (2012): singulär plural sein, 161. 276  Nancy sieht dabei sehr klar, dass eine Anknüpfung an Heidegger mit sehr vielen Problemen verbunden ist, und stimmt in den inhaltlichen Kritikpunkten dem Großteil der Kritiker zu. Dennoch sieht er keine andere Möglichkeit, als die Missstände der Konzeption klar zu benennen und dennoch an die Studien Heideggers in Sein und Zeit anzuknüpfen. Dabei kann

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„Das ‚Mit‘ ist trocken und neutral: weder Kommunion noch Atomisierung, lediglich das Teilen eines Ortes, allerhöchst der Kontakt: ein Zusammensein ohne Zusammenfügen.“277 Beide, sowohl Nancy als auch Heidegger, kritisieren eine Konzeption von Inter-Subjektivität, die meint, einen Primat des Zweiten (Zusammenfügen) vor dem Ersten (Zusammensein) setzen zu können. 278 Mit Heidegger und diesen zugleich wiederum kritisierend weist Nancy darauf hin, dass auch dem Zusammensein, kein Vektor innewohnen kann, wenn eine Konzeption des Mit-Seins nicht von vorneherein in Gewalt umschlagen soll. „Da-Sein ist Mit-Sein“279 so beginnt Nancy seinen Gegenentwurf zu Heideggers Konzeption. Dies gilt insofern, als es Da-Sein nur aufgrund eines strukturierenden ‚mit‘, als co-essence des Seins geben kann. Da-Sein bedeutet also Mit-Sein in dem Sinne, dass sich im Da-Sein eine Punktualität, eine Dis-Position des Mit-Seins eröffnet. Das ‚mit‘ bezeichnet eine Positionalität der Offenheit, in der sich das ‚Da‘ des Seins als eine fundamentale Öffnung zeigt: Offen ist Sein dadurch und indem es offen ist, sich also als ein Offenes vollzieht und sicher nicht übersehen werden, dass Nancy zwar seine Konzeption in enger Auseinandersetzung mit Heidegger entwickelt, dabei aber mehr Diskontinuitäts- denn Kontinuitätselemente einzieht. In der Hinsicht kann ihm auch ein Gelingen seines Vorhabens, ,Sein und Zeit‘ neu zu schreiben, konstatiert werden. 277 Nancy (2007): Die herausgeforderte Gemeinschaft, 31. An anderer Stelle spricht Nancy von einer Anhäufung [struo], die eben keine gefügte Ganzheit bildet, sondern jeglicher Überstülpung einer Ordnung zuwiderläuft. Vgl. Nancy (2011): Von der Struktion, 61. 278  Trotz entsprechender Kritik an der Konzeption Heideggers darf nicht außer Acht gelassen werden, dass es durchaus zahlreiche Passagen gibt, in denen seine Konzeption eines Selbst weniger geschlossen bleibt, als es an den genannten Stellen der Fall ist. Beispielsweise trifft diese Diagnose dann zu, wenn Heidegger über unterschiedliche Modelle der Fürsorge sinniert. Das erste Modell der Fürsorge bezeichnet Heidegger als einspringend-beherrschend. Einspringend ist sie s.E. dann, wenn sie das für den Anderen übernimmt, was dieser nicht selbst übernehmen kann. Als beherrschend wirkt sie s.E. dann, wenn dem Selbst, dem die Fürsorge zuteil wird, nichts anderes ‚übrig bleibt‘, als das Besorgte im Nachhinein als fertig Verfügtes zu übernehmen (vgl. Heidegger (2006): Sein und Zeit). Einem solchen Modell der Fürsorge steht ein Modell gegenüber, welches Heidegger vorausspringend-befreiend nennt. ‚Voraus-Springen‘ soll dabei zum Ausdruck bringen, dass dem Selbst die Sorge nicht abgenommen, sondern eigentlich erst zurückgegeben wird. Befreiend soll nach diesem Modell die Fürsorge insofern wirken, als sie dem Anderen hilft, in seiner Sorge sich selbst durchsichtig und für sie frei zu werden. Vgl. Heidegger (2006): Sein und Zeit, 122. Die Quintessenz dieser Differenzierungen besteht darin, dass beide Formen der Fürsorge als gemeinsames Sorgen eines Mit-einander verstanden werden, in dem sich durchaus zahlreiche Risse in den jeweiligen Selbstkonzepten bilden können. 279  Vgl. Nancy (2012): singulär plural sein, 59. Mit einer solchen Formulierung Nancys ergeben sich spannende Parallelen zu einer theologischen Verhältnisbestimmung von Essenz und Existenz, wie sie Paul Tillich vornimmt. Beiden gemeinsam wäre die Bestimmung der Modi der Existenz von der (plural zu denkenden) Essenz her. Gegenüber der von Tillich jedoch tendenziell vorgenommenen Negation der Vollzüge der Existenz durch die Essenz (vgl. Tillich (1985): Systematische Theologie I/II, I 239, I 274, II 36) betont Nancy vehement die bleibende Bedeutung der Existenz, ohne die die Essenz nicht nur keinen Bezugspunkt, sondern auch keinen Sinnzusammenhang hätte.

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ereignet. 280 Insofern bezeichnet Nancy Offenheit auch als Ko-Inzidenz von Öffnungen. In der wechselseitigen Ambivalenz von Mit-Sein als Da-Sein und Da-Sein als Mit-Sein, so führt Nancy aus, ermöglicht sich ein Anderes, das niemals auf sich selbst zurückgeführt werden kann.281 Eine solch unüberbrückbare Distanz oder einen derartig grundlegenden Abstand beschreibt Nancy als unhintergehbare Grundlage menschlicher Vollzüge. Jeder Selbstbezug beruht auf einem grundlegenden Abstand – Nancy bezeichnet dieses Phänomen etwas widersprüchlich als Ursprung. Es ist „ein Abstand, der sogleich das gesamte Ausmaß der ganzen Raum-Zeit hat und der ebenfalls sogleich nichts anderes ist als der Zwischenraum der Intimität der Welt: das Zwischen-Seiende [entre-étant] aller Seienden, das selbst nichts Seiendes ist, und das selbst keine andere Konsistenz, keine andere Bewegung oder keine andere Konfiguration hat als die des Sein-Seienden aller Seienden.“282 Sein bzw. Da-Sein bedeutet nach Nancy Pluralität, Offenheit und damit in statu nascendi Mit-Sein. Angesichts dieser Charakterisierung von Sein, Da-Sein und Mit-Sein versteht Nancy den Verlust von Einheit und Identität einer Gemeinschaft nicht als zu überwindenden Verlust, sondern im Gegenteil geradezu als die Voraussetzung von Gemeinschaft. 283 Die Möglichkeit von Gemeinschaft, so Nancy, eröffnet sich aus dem Offenhalten von Differenz und Ambiguität, woraus wiederum nicht folgt, dass einfach ein Loblied der Differenz und der Ambiguität an sich angestimmt werden könnte. Vielmehr würde das Lob einer bestimmten Differenz und einer bestimmten Ambiguität schon wieder einen Schließungsmechanismus darstellen, der es anderen Wesen erschwert, überhaupt zur Präsenz zu kommen. Gleichermaßen folgert Nancy dann für die Rede vom Selbst, dass es in und durch Offenheit zu einem Da-Sein gelangen kann, ohne jedoch einen Anderen, sei es verstanden als ein Korrelat oder eine Relation, besitzen zu können. Eine ermöglichte Positionalität eines Da-Seins im Mit-Sein kann dann am treffendsten durch den Terminus der Trennung oder, mit Niklas Luhmann gesprochen, einer Unterscheidung, 284 beschrieben werden. Da-Sein als ein Selbst bedeutet dann, sich zu sich selbst verhalten zu müssen, um sich selbst sinnvoll sagen zu können. Das Selbst denkt Nancy als die Differenz einer Relation: „Sense is the openness of a relation to itself: what initiates it, what engages it, what maintains it to itself, in and by the difference of its relation.“285 Nancy versteht das Selbst nicht als ein mehr oder minder klar umrissenes Subjekt, sondern als eine tem280  Vgl. Nancy (2003): A Finite Think­ing, 7. „To say that being is open isn’t to say that it’s first this or that and then, over and above this, marked or distinguished by openness. Being is open […] only in this openness as such; it is itself the open.“ 281  Vgl. Nancy (2012): singulär plural sein, 126. 282 Nancy (2012): singulär plural sein, 40. 283  Vgl. Nancy (2014b): Die Mit-Teilung der Stimmen, 73 ff. 284 Luhmann (1999): Die Kunst der Gesellschaft, 100. 285 Nancy (2003): A Finite Think­ing, 6.

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poräre und topografisch verortete Re-Figuration einer Differenz. Vor diesem Hintergrund zeigt die Rede von einer gebrochenen Identität oder von Rissen in der Fassade eines Selbst gerade kein zu behebendes Defizit an, sondern markiert die Möglichkeit von Gestaltung und Handlung; oder mit anderen Worten: Es werden Präsenzräume eröffnet, um etwas als etwas zur Geltung und Achtung zu bringen. Des Weiteren führt Nancy aus: „The to of the to itself, along with all the values that we can give it (desire, recognition, specularity, appropriation, incorporation, etc.), is first and foremost the fissure, the gap, the spacing of an opening.“286 Rückübersetzt in die Worte Heideggers würde es dann also darum gehen, auf welche Art und Weise etwas als etwas zur Bedeutsamkeit gelangt.287 Für etwas, was in und durch die Offenheit von Sein zur Bedeutung gelangt, kann dann zugleich ein Ursprung definiert werden, und doch muss auch in der Beschreibung des Ursprungs eines Selbst die Offenheit von Sein, müssen die Bruchlinien als notwendige Möglichkeitshorizonte mitgedacht werden. Als was oder wer ein Selbst als Selbst zur Bedeutung gelangt, kann gewissermaßen als Teil eines Spiels verstanden werden, dessen Ausgang ungewiss ist: „This self would be senseless […], somewhat in the manner of a game whose rules specify that the winner be given in advance.“288 Da-Sein im Mit-Sein konkretisiert sich nach Nancy, indem es zur Präsenz kommt. 289 Was Nancy meint, wenn er vom Da-Sein spricht, ist ein bestimmter Punkt des Mit-Seins, der eine spezifische Nähe und Ferne des Anderen anzeigt. Insofern kommt das ‚da‘ im ‚mit‘ zur Präsenz und ist in diesem Sinne sonder-bar. Eine solche Sonderbarkeit besteht darin, dass jedes Da-Sein, jede Singularität einen anderen Zugang zur Welt und damit einen anderen Ursprung 286 Nancy

(2003): A Finite Think­ing, 7. (2006): Sein und Zeit, 143 ff. Zugleich wird aber, und da liegt die entscheidende Abgrenzung zu Heidegger, keine Dichotomie der Beobachtungsmodi von Verstehen oder Erklären postuliert. 288 Nancy (2003): A Finite Think­ing, 8. Unklar bleibt bei Nancy an dieser Stelle, worin ein Kriterium liegen könnte, um einen Gewinner auszurufen: Wann also hätte ein Selbst gewonnen? 289  Eine solches Zur-Präsenz-Kommen bezeichnet Nancy auch als Zum-Ursprung-eines-Sinns-Gelangen. Spricht Nancy in dieser Art und Weise von Sinn, dann tut er dies vor den Hintergrunderfahrungen eines Jahrhunderts der Zusammenbrüche, Untergänge, Abgründe und nicht zuletzt der Verabschiedung der redlichen Rede vom Sinn überhaupt. Vgl. Hörl (2010): Die künstliche Intelligenz des Sinns. Sinngeschichte und Technologie im Anschluss an Jean-Luc Nancy. Eine solche Form von Sinn, die durch Unterbrechungen und Zerstückelungen zerrinnt, ist laut Nancy aber nur ein Sinn von Sinn. Nach dem Zusammenbruch solcher Sinnstrukturen sind wir zugleich einer anderen „Geschichte ausgeliefert“, einer Geschichte, die den Sinn nicht primär als Bedeutung auffasst, sondern als Aussetzung an den Entzug von Sinn und – so spitzt Nancy weiter zu – die Aussetzung als Sinn begreift. Das Faszinosum einer solchen Rede vom Sinn besteht für Nancy nun darin, dass dadurch gewissermaßen die Beweislast umgekehrt wird und Offenes, Außenstehendes und Fremdes nicht mehr das zu Vermeidende, sondern das zuallererst Ermöglichende wird. Vgl. Nancy (2008a): Dekonstruktion des Christentums, 245 ff. 287 Heidegger

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bedeutet. ‚Wir sind singulär plural‘, auf diese Formel spitzt Nancy seinen Ansatz zu. Singularität, als Verräumlichung eines Mit-Seins, schreibt insofern eine Geschichte, weil sie einen Anstoß für weitere singuläre Ereignisse gibt, sich beständig wiederaufrüttelt und genau darin ein Präsenzereignis bleibt, welches sich immer wieder neu erweisen muss.290 Wie Nancy zeigt, lässt sich nicht fixieren, worin die Ursprünglichkeit des Mit-Seins liegt, sondern indem sich das Mit-Sein exponiert, wird beständig Da-Sein ins Spiel gebracht. Sein ist also in der Art singulär und plural zugleich, als „dass eines jeden Singularität von seinem Sein-mit-mehreren nicht zu trennen ist.“291 Nancy begibt sich mit seinen Ausführungen jedoch in die Schwierigkeit, dass er begründen muss, inwiefern er gleichzeitig von Untrennbarkeit von Da-Sein im Mit-Sein und Singularität als spezifischem Punkt des Mit-Seins reden kann, da Letztere ja zumindest ein rudimentäres Element der Trennung und damit der Unterscheidbarkeit voraussetzt. Als untrennbar versteht Nancy die Singularität, da im Singular immer eines von mehreren – oder in die Terminologie Hegels gebracht: ein Besonderes im Allgemeinen – bezeichnet wird und damit das Besondere in einem nicht beliebigen Zusammenhang zum Allgemeinen steht. Das Singuläre erscheint unteilbar in jedem einzelnen Fall, aber nicht als eine sich über Singularitäten durchhaltende Substanz, sondern als Ereignis der im obigen Sinne skizzierten Ko-Präsenz. Weil Singularität, so argumentiert Nancy, unteilbar als Augenblick und dabei zugleich unendlich teilbar und punktuell unteilbar ist, kann ein Selbst der Ver-mischung, 292 also seiner Einbindung in Strukturen des Mit-einander-Seins, nicht entkommen. Dies kann weder, so lässt sich über Nancy hinausgehend formulieren, durch eine destillierende Reinigung noch durch eine Verabsolutierung der Mischung selbst geschehen. 293 Hinter eine solche Ambiguität eines Da-Seins im Mit-Sein gibt es kein Zurück, es sei denn, intersubjektive Anerkennung würde hinterrücks doch als 290  Es war JürgenMoltmann, der einen derart verstandenen Prozess des Werdens auch auf die Möglichkeit der Rede von Gott bezogen hat. Vgl. Moltmann (2005): Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie. Moltmann versteht Gott demnach als einen Prozess, ein Ereignis, aus welchem heraus sich neue Zukünfte eröffnen. Vgl. Moltmann (2002): Der gekreuzigte Gott. Das Kreuz Christi als Grund und Kritik christlicher Theologie, 242 f. 291 Nancy (2012): singulär plural sein, 61. 292  Nancy behält hier auch in den deutschen Übersetzungen den französischen Begriff der mêlée bei und verwendet diesen synonym mit dem Begriff der Vermischung. Vermischung bezeichnet bei Nancy die spezifische Kopplung von Da-Sein und Mit-Sein. Die Vermischung, mêlée, markiert, dass sich die Möglichkeit eines Selbstbezugs nicht anders verwirklicht, als im Mit-einander-Sein zur Ko-Präsenz zu kommen und damit in seinem Da-Sein immer schon in Strukturen des Mit-Seins eingebunden zu sein. 293  Eine solche Offenheit der Spaltung weder in der destillierenden Reinigung noch in der verabsolutierenden Mischung steht dabei in der ständigen Gefahr, in einem Sowohl-alsAuch die Spannung auflösen zu wollen. Vgl. Neyrat (2011): Das technologisch Unbewusste. Elemente für eine Deprogrammierung, 168 f.

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ein Projekt zur Wiederbelebung des sogennannten ‚cartesianischen Gespenstes‘294 verstanden. 295 Zugleich aber – und hierin könnte, bei aller Oszillation dieses Sprachbildes, der bedenkenswerte Punkt in der Rede von einem ,cartesianischen Gespenst‘ liegen – geht es um eine Gestaltung der sich eröffnenden partikularen Räume der Besonderheit. So ist es nicht nur lebensweltlich betrachtet absolut unplausibel, auf Begriffe und Konzepte wie beispielsweise Identität oder Selbstbestimmung zu verzichten. 296 Vielmehr, und so lässt sich das Plädoyer Nancys verstehen, können wir diese Konzepte gar nicht entbehren, da wir damit die Möglichkeit der Artikulation wesentlicher Bedeutungsräume verlieren würden, die nicht zuletzt in (geschichtlich tradierten) Anerkennungsprozessen und in der Tat auch Anerkennungskämpfen zur Geltung gelangt sind. Entscheidend für die Frage nach dem Bedeutungsgehalt des Selbstbezugs eines Selbst ist aber nun, aus welcher Richtung und mit welchem Ziel ein solches Konzept entfaltet wird. So kann es mit Blick auf die Frage nach dem Selbst nicht darum gehen, doch wieder „zum Cogito in der Weise zurückzukommen, in der dieser Begriff das moderne Denken beherrscht hat (in Form eines sich selbst transparenten, denkenden Subjekts also)“, 297 sondern vielmehr muss es um die Bearbeitung der folgenden zwei Herausforderungen gehen: Zunächst ist die Intransparenz des Selbst nicht als ein Mangel desselben, sondern als seine Ermöglichungsmöglichkeit theoretisch einzuholen und zu entfalten. Gerade dazu können Nancys Arbeiten wesentliche Elemente beisteuern. Zweitens muss gefragt werden, wie sich solche Modifikationen in der Justierung der theoretischen Bestimmung der Rede vom Selbst auf die Vollzugsbedingungen unseres Handelns auswirken und welche Orientierung sie zu leisten in der Lage sind. Bevor diese zweite Herausforderung bearbeitet werden kann, wird zunächst das Verhältnis von intersubjektiver Anerkennung und den möglichen Spielräumen eines Selbstbezugs oder, in den Worten Nancys, das Verhältnis von MitSein und Da-Sein zu klären sein. Dies geschieht, indem im Folgenden zunächst Nancys Konzeption eines ‚Singulär-plural-Sein‘ ausführlicher behandelt und vor dem Hintergrund von Bernhard Waldenfels’ Ausführungen zu den ambi294  Zu einer solchen Wiederbelebung (eines dekonstruierten) cartesianischen Subjekts vgl. Žižek (2010): Die Tücke des Subjekts. 295  Zugleich drängt sich die Frage auf, inwieweit die Rede von einem ,cartesianischen Gespenst‘ nicht selbst wiederum eine Ordnungsaussage der Art ist, dass sie nicht nur einen Nullpunkt des Betrachtungswinkels markiert, hinter den man nicht zurückkommt, sondern dass Nancy diese Aussage dezidiert als eine ontologische und nicht als eine epistemologische versteht. Dabei ist sicher zu beachten, dass Nancy eine solche Aussage als eine Aussage über eine Funktionseinheit versteht, die Konzeption des Mit-ein-ander-Seins also auf eine funktionale Konstruktion zur De-Konstruktion etwaiger Gesamt- oder Ordnungsansprüche. Was dabei jedoch sicher zu Recht markiert werden kann, ist die Frage, ob nicht etwa auch kritisierte deontische Positionen zumindest in ihrer ursprünglichen Form die jeweils unterstellte Einheit des Selbst als eine funktionale Einheit betrachten. 296  Vgl. Nancy (2003): A Finite Think­ing, 283. 297 Žižek (2010): Die Tücke des Subjekts, 8.

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valenten Wechselspielen von Eigenem und Fremdem sowie von Selbigem und Anderem kritisch auf seinen Ertrag für die Konturierung der Rede von einem Selbstbezug eines Selbst hin untersucht wird. Auf den Spuren solcher Wechselspiele, in denen sich Eigenes vom Fremden her eröffnet, werden diese Gedanken präzisiert und eine Konzeption responsiver Leiblichkeit als fundierender Anspruchsraum für die Aushandlung wechselseitiger Anerkennungsansprüche entwickelt. Bereits im Vernehmen und Wahrnehmen eines ein Selbst erst ermöglichenden Anspruchs eines Anderen liegt, so die These, bereits eine erste Form der Anerkennung. Eine solche grundlegende Form der Anerkennung, die Identitätsbildungsprozesse ebenso wie das Einklagen von und das Eintreten für Geltungsansprüche zuallererst ermöglicht, kann weder erkämpft werden, noch kann sie ohne Weiteres verrechtlicht werden. Zugleich ist mit einer solch fundierten Form der Anerkennung ein inkludierender Anspruch verbunden. Möglichkeitsräume eines Selbst in und von einer Figur responsiver Leiblichkeit her zu denken, bedeutet auch, dass sich in der fundierenden Form von Anerkennung ein Geltungsprimat in das Verhältnis von Selbst und Anderem einschreibt.298 Ein solcher Geltungsprimat lässt sich mit den Worten von Burkhard Liebsch folgendermaßen fassen: „[W]as immer du zu sagen hast, ich akzeptiere, es zu hören und im gleichen Zug zu bestätigen, dass du existierst als jemand, der oder die etwas zu sagen hat – auch dann, wenn du scheinbar nichts zu sagen hast – das heißt, wenn du abweichst von jeweiligen Regelungen einer Redepraxis, die mehr oder weniger festlegt, wer wie unter welchen Umständen gehört werden soll.“299 Eine in diesem Sinne vorausgehende Form der Anerkennung ist insofern fundierend, als nur dann, wenn sich ein Selbst grundsätzlich als ein Gast­ liches300 erweist, Geltungsansprüche ohne Gewalt erhoben werden können. Mit dem Rückgriff auf die Figur der Bezeugung 301 einer responsiven Grunddifferenz im Selbstbezug eines Selbst als Voraussetzung für eine weitere Gestaltung der Geltungsräume unterschiedlicher Ansprüche sind drei Voraussetzungen verbunden. Erstens wird bezeugt, dass es unmöglich ist, den Anspruch eines Anderen nicht zu vernehmen, wenn sich ein Selbst als Selbst bezeugen will. Nicht zuletzt anhand der Beobachtung, dass sich das Selbst unter einem nicht von ihm gesetzten Namen kennengelernt hat und damit die Selbstbezeugung eines Selbst immer schon ein Antwortgeschehen darstellt,302 wird deutlich, dass sich die Frage nach dem Selbst zunächst von einem Anderen her stellt. Zweitens 298  Innerhalb des politischen Liberalismus findet sich die Forderung nach einer Neutralität für die begründenden gehaltvollen Vorstellungen in unterschiedlichen Spielformen. Vgl. grundlegend: Rawls (2003): Politischer Liberalismus, 286–294. 299 Liebsch (2012): Prekäre Selbstbezeugung, 285. 300  Vgl. Kapitel 6.5. 301  Vgl. Kapitel 6.6. 302  Vgl. Ricœur (2005): Das Selbst als ein Anderer, 395. Das Selbst, so führt Ricœur aus, hat sich nur, wie es sich durch die Widerfahrnisse mit Anderen kennen kann: Durch das, was ihm von der Welt, von Anderen und von seinem Leib her widerfährt.

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muss sich aber erst erweisen, wovon und auf welche Art und Weise ein Selbst Zeugnis gibt, sprich: wie es sich somit zu dem es ereilenden Anspruch verhält. Prekär bleibt deshalb, ob ein Selbst den Anspruch überhört oder ihm auf diese oder jene Weise antwortet. Während ein Selbst einerseits zu einem Zeugnis des Antwortens verpflichtet ist, insofern es sich nicht seiner Selbstbezeugung berauben will, gehen andererseits narrative wie praktische Antworten eines Selbst weder einfach aus der Bezeugung einer responsiven Leiblichkeit hervor, noch gelten die Antworten eines Selbst ohne Weiteres als wahr, überzeugend oder richtig.303 Was für eine Antwort auch immer auf einen wahrgenommenen Anspruch gegeben wird, sie kann nicht der geltungskritischen Befragung durch Andere304 entzogen werden. Zugleich öffnet sich an dieser Stelle des Gedankengangs ein weiteres Problem, da sich die Selbstbezeugung nicht vollständig in referenzielle Anknüpfungsstellen zergliedern lässt. Sie muss Rechenschaft ablegen und ist doch darauf angewiesen, dass man ihr Glauben schenkt.305 In den weiteren Überlegungen wird sich zeigen, dass Bezeugung und Zeugnis nicht einfach ineinanderfallen306 , sondern miteinander verwoben sind, sich bedingen und sich mitunter gegenseitig infrage stellen. Bevor der Ertrag und die Grenzen einer Figur der Bezeugung weiter untersucht und von ihr ausgehend nach Konsequenzen für eine Konzeption intersubjektiver Anerkennung gefragt werden soll, ist im Folgenden zunächst eingehender zu untersuchen, inwiefern ein Selbstbezug eines Selbst überhaupt auf eine entsprechende Bezeugung angewiesen ist.

6.2 Prekärer Selbstbezug Weder eine Verabsolutierung der Mischung noch eine destillierende Reinigung, sondern Besonderes unter der Bedingung des pars pro toto – so kann die Anforderung an die Verhältnisbestimmung von Allgemeinem und Besonderem mit Nancy beschrieben werden. Das Singuläre versucht Nancy vor diesem Hintergrund seiner Überlegungen nicht mehr als ontologisch verfasste und in sich konsistente Selbstheit zu verstehen, sondern maximal als Ipseität, „ohne Beziehung von einem ‚Ich‘ zu einem ‚Selbst‘“307. Ein Selbst als bestimmte Figuration eines ‚Mit-ein-ander-Sein‘ repräsentiert dann zugleich die Inkommensurabilität wie die Intimität eines ‚mit‘308. Es ist ein ,Mit-Sein‘ in einem ‚Ein-Ander‘, jedoch ohne Absicherung, ohne zugrunde liegendes Telos. Es ‚gibt‘ das Selbst, indem 303 

Vgl. Waldenfels (2002): Bruchlinien der Erfahrung, 162 f. Vgl. Hegel (1986g): Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, 203–210. 305  Vgl. Liebsch (2012): Prekäre Selbstbezeugung, 264. 306  Vgl. Derrida (2006): Die Schrift und die Differenz. 307 Nancy (2012): singulär plural sein, 62. 308  Jean-Luc Nancy verwendet anstelle des Begriffs ‚mit‘ ebenso das lateinische Wort ‚cum‘. Da der Verwendung in seinen Ausführungen jedoch keine bedeutungstragende Unterscheidung zugrunde liegt, wird nur der einfacher zugängliche Begriff des ‚mit‘ verwendet. 304 

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es gerade keinen festen Ort hat und erst in praktischen Vollzügen zur Präsenz gelangen muss. Weder ist das Selbst, so folgert Nancy, einfach bei sich noch einfach das ganz Andere, sondern ein im und durch ein ‚Mit‘ Ermöglichtes: Das „‚Selbst‘ gibt es nur aufgrund eines ‚Mit‘, das es in Wahrheit strukturiert: Dies müsste das Axiom einer nunmehr ko-existentialen Analytik sein.“309 Insofern geht das Selbst weder in Identität auf, noch ‚hat‘ es schlicht keine Identität: Es wird identifiziert und entzieht sich wieder in der Dialektik von ge-mein-samer Inkommensurabilität und Intimität.310 Nähe und Abstand sind untrennbar vermischt und entziehen sich doch wieder einander. Das Selbst ist ‚mit‘, also zugleich ohne und bei anderen und in diesem Sinne dann auch ohne und bei sich. Das Selbst, so konstatiert Nancy, erweist sich als eine Ko-Präsenz des ‚mit‘. Die Vollzüge eines Mit-ein-ander-Seins exponieren sich im Akt und in der Präsenz des Sprechens, so führt Nancy in seiner Argumentation aus, wobei sich im Akt des Sprechens Sein in seinem Sinn exponiert und mit Sinn wiederum nichts anderes bezeichnet sein kann als eine Zirkularität von Ko-Präsenzen. Insofern haben wir keinen Sinn, kein tiefergehendes Prinzip, keine zugrunde liegende Orientierung, sondern sind selbst der Sinn. Wenn ‚wir‘ der Sinn sind und ein solches ‚wir‘ von Differenz und Offenheit bedingt ist, dann, so folgert Nancy, muss auch unser Reden von und Fragen nach Sinn immer durch die Elemente von Differenz und Offenheit bestimmt sein. Nancy versteht die Rede von ‚Sinn‘ als eine Bewegungsangabe: ‚Sinn‘ markiert ein Sein im Kommen, die Übergangsmöglichkeit, zur Präsenz zu gelangen. Erst in einem solchen spatial und temporal gebundenen Wechselspiel von Offenheit und Trennung lassen sich Räume des Selbstbezuges denken. Es ist also nach Nancy einerseits notwendig, sich von bedeutungsschweren Sinnschemata zu trennen, weil nur auf diese Weise Gewaltexzesse strukturell verhindert werden und dadurch erst die Räume entstehen, in denen Präsenzerfahrungen von Sein zur Sprache gebracht werden können. Angesichts der Interdependenz von Offenheit und Trennung führt er aber aus, dass es ein Fehlschluss wäre, die Rede vom Sinn gänzlich zu suspendieren: Gerade die Pluralität von Sinn ermöglicht Verweis und Bezug und damit die Möglichkeit, die erodierenden Ordnungsmuster in ihrem rastlosen Ineinander von Abschweifung, Ablenkung und Übergängen von einer Positionalität zur anderen nicht als Verlust, sondern als Möglichkeitsraum zu verstehen. Sinn, so resümiert Nancy, kann nicht angeeignet werden und bietet keine Orientierung; man kann ihn nicht haben, ihn ebenso wenig dingfest machen wie sich seiner Sättigung oder Fülle versichern: Er verfügt über keine feste Bestimmung, sondern ‚deutet‘ und ‚bedeutet‘ stets weiter öffnende und zugleich verweisende Mit-Teilung auf Anderes hin.311 Ein solchermaßen verstandener 309 Nancy

(2012): singulär plural sein, 142. Vgl. Nancy (2010): Identität. Fragmente, Fragwürdigkeiten, 59. 311  Vgl. Nancy (2014a): Der Sinn der Welt, 10. Die Mondialisierung – Nancy versteht diese als eine Öffnung (Weitwerdung) – der Welt, wird in klassisch philosophischen, aber auch 310 

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Sinn ist dann einerseits wesentlich durch die ihm von Trennung, Endlichkeit und Passivität gesetzten Grenzen bestimmt.312 Zugleich aber erweisen sich die Möglichkeiten der Selbstbezüglichkeit eines Selbst als endliche, passive Freiräume des ‚Mit-Seins‘. Vor diesem Hintergrund formuliert Nancy dann auch: „Das Selbst lebt davon, der Preisgabe des Sinns ausgesetzt zu sein.“313 Freiheit exponiert nicht etwa das alleinige Lob der Trennung, der Passivität oder der Endlichkeit, sondern muss in sich selbst wiederum als von Elementen der Differenz und Offenheit durchzogen verstanden werden:314 Offenheit, so Nancy, verweist darauf, dass die Bedingungen, in denen Individuen einander anerkennen und sich selbst als Anerkannte erfahren, so zu gestalten sind, dass Freiheitsräume ermöglicht und gerade in ihrer Unterschiedenheit und Ambivalenz offen gehalten werden.315 Eine solche Offenheit kann zugleich aber nur dann als ernsthaft Offenes gestaltet werden, wenn die Differenzen, Spannungen und Unabschließbarkeiten des Selbstbezugs eines Selbst durch ein allzu großes Pathos der Freiheit nicht wieder verschüttet werden: „[F]reedom might just be the word […] for what exposes this lack of sense and exposes, too, sense as an essential lack.“316 Die Verortung eines Da-Seins als Mit-Sein, so betont Nancy, artikuliert sich in den Sprachen, Redeweisen und singulären Stimmen: „In der Sprache und als theologischen Positionen immer wieder als Verlust von Sinn beschrieben. Aus einem solchen Verlustgefühl erwächst dann nicht selten die Sehnsucht nach einer (Re-)Figuration von Sinn, nach der Wiedererlangung von Bedeutung und nicht zuletzt Orientierung. Begrifflichkeiten wie Wohnstätte, Intimität, Gemeinschaft oder Subjektivität sollen als Signifikant eines eigentlichen – im Sinne eines immer schon geltenden – verstandenen Signifikats fungieren. Eine solche Eigentlichkeit können wir aber nicht nur nicht wiederherstellen (Nancy würde darüber hinaus bestreiten, dass sie überhaupt jemals vorhanden war), sondern diese würde zudem die Möglichkeit der Rede von Sinn an sich verstellen. So führt Nancy aus: „Wir halten ihnen [denjenigen, die dem Verlangen nach Sinn nachgeben, MB] keinen nihilistischen NichtSinn entgegen, und auch keinen ‚Irrsinn‘, der zwischen Ausschweifung und Mystik schwankt. Sondern wir entgegnen ihnen, dass der Sinn all seine Chance und all seinen Sinn nur diesseits oder jenseits seiner Aneignung in den Signifikaten und seiner Vergegenwärtigung in den Signifikanten hat, gerade in der Offenheit seiner Preisgabe, als Offenheit der Welt. Doch das ‚Offene‘ ist nicht die schwammige Eigenschaft einer unbestimmten Offenheit oder eines Glorienscheins sentimentaler Generosität. Straff, verflochten, eng und streng formuliert, macht es die Struktur des Sinns als Sinn der Welt.“ Nancy (2014a): Der Sinn der Welt, 10. 312  Vgl. Nancy (2003): A Finite Think­ing, 14. 313  Vgl. Nancy (2014a): Der Sinn der Welt, 183. 314  In theologischer Perspektive ist für das Personsein des Menschen der externe Zuspruch und damit de facto eine anerkennungstheoretische Fundierung entscheidend. Theologisch gesprochen: Es geht um den Christusbezug im Sein vor Gott, vermittelt durch Wort und Glaube. Luther formuliert dies in der Formel: fides facit personam. Vgl. Luther (1535/38): WA 39, I. Disputationen, 282,7. Der Glaube ist grundlegend für das Menschsein vor Gott, indem er allein den Menschen rechtfertigt. Vgl. auch: Ebeling (1989): Lutherstudien. Bd. 2,3, 205. 315  Vgl. Nancy (2003): A Finite Think­ing, 19. 316 Nancy (2003): A Finite Think­i ng, 14. Für eine theologische Perspektivierung siehe auch: Slenczka (2009): Endlichkeit als Vollendung? Überlegungen im Anschluss an Aristoteles.

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Sprache sind wir stets simultan ‚wir‘ und ‚ich‘, und ‚ich‘ als ‚wir‘ ebenso wie ‚wir‘ als ‚ich‘.“317 Dennoch, so schränkt Nancy sogleich ein, vermag es auch die Sprache nicht, dem Mit-Sein eine festgeschriebene Ordnung zu geben. Sie schafft Präsenzräume einer Gemeinschaft, ohne dass dadurch eine Gemeinschaft außerhalb der aktuell präsenten entstünde. Demgemäß bewahrt MitSein Offenheit in dem Sinn, als Mit-Sein selbst stets neu zur Präsenz kommen muss und sich der Vereinnahmung sowohl durch die Gemeinschaft als auch durch das Individuum widersetzt. Dass jemand zur Präsenz gelangt, impliziert dann nicht, dass er sich selbst damit ohne Weiteres (bleibend) präsent wäre.318 Stattdessen versteht Nancy Präsenz als ein Ereignis, welches sich in den unterschiedlichen Modi der Sprache immer wieder neu ereignen und vollziehen muss und damit herausgefordert ist, sich in jedem Ereignis neu zu finden,319 sich als Selbst wieder neu zu aktualisieren.320 Innerhalb der nach Nancy grundlegenden Sphären des Mit-Seins, Offenheit und Trennung, markiert die Sprache gewissermaßen eine Differenz, an der und entlang derer sich Ko-Präsenz ereignen kann.321 Sich einzugestehen, dass sowohl Person als auch Gemeinschaft stets als Präsenzräume verstanden werden müssen, erfordert dann eine Demystifizierung von Sprache. Die Art und Weise, wie etwas in der Sprache, der Rede oder der Literatur zur Sprache kommt, so Nancy, muss sich daran messen lassen, inwiefern sie Differenzen und Ambiguitäten sagbar und hörbar halten können – auch sie müssen sich unterbrechen und sich in der Schwebe halten.322 Es liegt eine eindringliche Warnung in den Überlegungen Nancys: Gerade weil sich personale Autonomie konstitutiv als in Strukturen intersubjektiver Anerkennung eingelassen zeigt, stehen solche Strukturen in der steten Gefahr, lediglich mit einer oberflächlichen Offenheit zu operieren und von ihrer Tiefengrammatik her doch in Modi der Geschlossenheit und vermeintlicher Erfüllungsfantasien zu verfallen. Intersubjektivität kann nach Nancy weder eine Erfüllung von Phantasmen der Subjektwerdung bezeichnen noch diese auf einem vermeintlichen ‚Umweg‘ über den Anderen sich gegenseitig garantieren. 317 Nancy

(2012): singulär plural sein, 130. Nancy (2014a): Der Sinn der Welt, 101–109. So führt Nancy aus: „Kein Zweifel, das Singuläre ist per se: Es singularisiert sich nur von seiner Singularität her oder durch sie. Das heißt aber nicht, dass seine Singularität ihm eigen sei: Die singuläre Einmaligkeit ist das, wovon es geteilt wird und was es mit der Totalität der singulären Vielfältigkeit teilt.“ Nancy (2014a): Der Sinn der Welt, 106. 319  Vgl. mit ähnlicher Argumentation in Auseinandersetzung mit den Arbeiten Husserls: Derrida (2003): Die Stimme und das Phänomen. 320  So führt Nancy aus: „[Singularität] ist das Sein-in-actu, die Entelechie, der keinerlei Potenz vorausgeht. Die Aktualität: Nicht mehr, nicht weniger.“ Nancy (2014a): Der Sinn der Welt, 106. 321  Vgl. Nancy (1988): Die undarstellbare Gemeinschaft, 142. 322  Vgl. Nancy (1988): Die undarstellbare Gemeinschaft, 153. Nancy bezeichnet diesen Prozess in Anknüpfung an Blanchot als Entwerkung [désœuvrement]. Siehe hierzu ausführlicher: Blanchot (2007): Die uneingestehbare Gemeinschaft. 318  Vgl.

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Weder können atomistisch konzipierte Subjektkonzepte einfach eine destillierende Reinigung erfahren, die dann lediglich noch anerkannt werden müssten, noch kann das ‚Inter‘ in ganzheitlichen Gemeinschaftsfantasien von Selbst und Anderem aufgelöst werden. Und doch bleibt Nancy, auch wenn er auf die Begrifflichkeiten Derridas wie die der Dekonstruktion, der Différance oder der Dissemination verzichtet, bei dieser Beobachtung nicht stehen. Auch Nancy fragt weiter, wie es möglich sein kann, gehaltvoll von einem Selbst zu sprechen, und folgt dabei gewissermaßen dem von Bonhoeffer allerdings auf Gott bezogenen Diktum,323 dass es ein Selbst, das behauptet, sich selbst gefunden zu haben, nicht gibt. Ein Selbst, das in und an den Trennungsfugen des ‚mit‘ bruchhaft zur Präsenz kommt, hat sich nicht etwa verloren, sondern noch nie gefunden. Gerade deswegen lässt sich Nancys Konzeption als ein flammender Appell dafür lesen, die Rede von Autonomie nicht aufzugeben, einer Autonomie, die ermöglicht und begründet ist im ‚mit‘ und damit im Abstand. „Berühr mich nicht“, schreibt Nancy an anderer Stelle324 und verweist auf die bleibende Unverfügbarkeit, auf den plural verfassten Grund des Bandes zwischen Selbst und Anderem. Nur in einer derartig verstandenen Pluralität ist Singularität als Ko-Präsenz möglich.325 Erst in der Oszillation von Nähe und Abstand eröffnen sich nach Nancy Anknüpfungspunkte für Selbstbezüge, die auch über die Zeit gestaltet werden können. Die Zuschreibung von Identität muss dekonstruiert werden und kann dennoch nicht aufgegeben werden: Identität kehrt anders zurück, als sie gegangen ist, verändert sich und hinterlässt Spuren.326 Jedes Mal findet sich das Selbst als ein Unterschiedenes vor, sowohl von anderen als auch von sich selbst, es muss sich mit einer Sache ebenso wie mit sich und mit anderen immer wieder neu identifizieren. Gerade aber in einer solchen Identifizierung, die in Anlehnung an Judith Butler auch als eine grundlegende Ausgesetztheit verstanden werden kann,327 eröffnet sich die Möglichkeit des Selbstbezugs eines Selbst. Nancys Ausführungen leisten einleuchtende und nachvollziehbare Dekonstruktionsarbeit an bestehenden Konzepten und Vorverständnissen der Rede von Selbst und Anderem. Dies zu würdigen und in die weiteren Gedankengänge zu integrieren ermöglicht zugleich noch einmal, präziser nach den von Nancy markierten Übergängen zwischen einer Rekonfiguration der fundierenden Prozesse, die sich zwischen uns ereignen, und der Gestaltung der zur Präsenz kommenden Ansprüche zu fragen. Ebenso wie Bruno Latour328 verweist Nancy auf 323  Vgl. Bonhoeffer (1988): Akt und Sein: Transzendentalphilosophie und Ontologie in der systematischen Theologie, 94. 324  Vgl. Nancy (2008b): Noli me tangere, 61. 325  Vgl. Nancy (2007): Die herausgeforderte Gemeinschaft, 33. 326  Vgl. Nancy (2010): Identität. Fragmente, Fragwürdigkeiten, 76. 327  Vgl. hierzu auch Kapitel 5.3. 328  So etwa in: Latour (2010): Das Parlament der Dinge, Latour (2007): Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie oder Latour (2006): Drawing Things Together: Die Macht der unveränderlich mobilen Elemente. Damit

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die Notwendigkeit, Verbindungslinien in den Bereich politischen Handelns zu ziehen, auch wenn er selbst diese nur vage andeutet. Als offenkundig hat sich in dem bisherigen Untersuchungsgang herausgestellt, dass den Prozessen der politischen Auseinandersetzung eine diese erst ermöglichende Form der Anerkennung vorausgeht. Insofern betont Nancy, dass sich in der Figur eines Mit-Seins eine radikale Kontingenz pluraler Präsenzmöglichkeiten begründet. In eine andere Sprachform gebracht: In dem Zusammenspiel von Politischem und Politik ist es das Politische, als Selbstinfragestellung der Politik, das die Geltungs- und Gleichheitsparadigmen von politischer Gestaltung immer schon durchkreuzt und die Sinne für die Heterogenität der eigenen Identitätskonzeptionen sowie die Fragilität der zugrunde liegenden gehaltvollen Annahmen generell in Erinnerung ruft.329 Weil ‚wir‘ singulär Plural sind, muss es Aufgabe des Politischen sein, immer wieder die Schließungstendenzen rechtlicher, sozialer und politischer Anerkennungsprozesse zu durchkreuzen. Zugleich aber belässt es Nancy nicht einfach dabei, die Notwendigkeit von Unterbrechungen der politischen Prozesse zu markieren,330 sondern spitzt zu, dass sich die politischen Anerkennungsprozesse daran messen lassen müssen, inwieweit sie den Forderungen der Singularitäten zum einen erlauben, zur Sprache zu kommen,331 und zum anderen den Forderungen der Singularitäten Gerechtigkeit widerfährt.332 Ein gewichtiger Kritikpunkt an den Überlegungen Nancys bleibt jedoch, dass Nancy in seinen Arbeiten nicht weiter expliziert, wie sich aus der ontologischen Pluralität singulärer Ko-Präsenzen333 eine politische Forderung nach Gerechtigkeit ergeben soll. Dies gilt erst recht, wenn Gerechtigkeit mehr beinhalten soll als allein die Forderung einer egalitären Berücksichtigung aller partikularen Ansprüche – was an sich schon eine weitgehende Forderung wäre –, sondern die politische Anerkennung fordern muss, den Anderen als einen Bruder zu behandeln.334 Den Anderen als einen Bruder zu verstehen, wie es Nancy fordert,335 begibt sich Latour zweifellos in die Verstrickungen, die Fokussierung auf seine Dekonstruktionsarbeiten (in Latour (2008): Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie) vom Dekonstruktionsdiskurs auf den Anwendungsdiskurs zu übertragen. Nancy und Latour teilen dabei den Versuch einer Phänomenologie der Ko-Präsenz, wenn auch mit unterschiedlichen Stoßrichtungen. Während Latour diese bewusst auf ihre politischen Konsequenzen hin zuspitzt, bleibt sie bei Nancy wesentlich offener, um nicht zu sagen: vager. 329  Vgl. in ähnlicher Argumentationslinie auch: Marchart (2010): Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou Laclau und Agamben, 362–365. 330  Vgl. Lacoue-Labarthe & Nancy (1997): Retreating the Political. 331  Nancy bezeichnet diese als Wortergreifung: das Aufkommen oder Vorbeigehen Eines als Einer. Vgl. Nancy (2014a): Der Sinn der Welt, 162. 332  Vgl. Nancy (2014a): Der Sinn der Welt, 158–162. 333  Nancy spricht mitunter auch von ‚Knotenpunkten‘. 334  Vgl. Nancy (2014a): Der Sinn der Welt, 161. 335  Dass die politischen Vollzüge durch eine Brüderlichkeit gekennzeichnet sein sollen, wird erst in den neueren Schriften Nancys eingeführt. Allerdings bleibt dies zugleich seltsam

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bedeutet, einen Ort zu haben, an dem es erlaubt und Teil politischer Gestaltung ist, seine Ansprüche zu artikulieren. Gemeint sein muss ein Ort, an dem man gerade angesichts der fundamentalen Vulnerabilität menschlicher Vollzüge überhaupt gehört wird. Indem Präsenzereignisse von Selbstbezüglichkeit im ‚mit‘ miteinander verbunden sind und im Mit-Sein ihren pluralen Ermöglichungsgrund haben, knüpft sich ein Band zwischen den Ko-Präsenzen.336 Ein Band nicht in dem Sinne, dass es feste Verknüpfungslinien hat, die einen festen Weg vom einen zum anderen ermöglichen würden, sondern vielmehr ist das Band zwischen den einzelnen Existenzen, folgert Nancy, „weder gebunden noch ungebunden, es ist diesseits von beidem, oder aber es ist das, was im Zentrum eines Bandes ist, die Kreuzung der Quentchen, deren Extremitäten bis in ihre Verknotung hinein getrennt bleiben.“337 Politische Anerkennungspraktiken, so kann mit Nancy konstatiert werden, die sich einem beständigen Offenhalten von Hörund Sprachräumen verpflichten, bleiben stets an ihre Herkunft als ein Antworten auf den Präsenz stiftenden Anspruch eines Anderen und damit eine grundlegende responsive Asymmetrie in der Forderung nach politischer Symmetrie gebunden. Wird dies im Folgenden eingehender untersucht und über das von Emmanuel Lévinas und Paul Ricœur ins Spiel gebrachte ambivalente Verhältnis von Bezeugung und Zeugnis systematisch verortet, ist zunächst noch präziser unterbestimmt. Brüderlichkeit, so führt Nancy aus, soll dabei ein Surplus gegenüber Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit bedeuten. Da Nancy diesen Vorrang der Brüderlichkeit nicht weiter begründet, bleibt diese Verhältnisbestimmung schwerlich nachvollziehbar, zumindest dann, wenn man nicht beispielsweise genauer ausführt, gegenüber welchem Freiheitsverständnis Brüderlichkeit (wodurch) einen Mehrwert zu bieten vermag. Die Voraussetzung eine Figur der Brüderlichkeit zu denken, wäre allerdings, dass es möglich wäre, so Nancy, „eine Brüderlichkeit ohne Vater und Mutter zu denken, vor und nicht nach jedem gemeinsamen Gesetz und jeder gemeinsamen Substanz. […] Und wenn man es in diesen Termini sagen muss: ohne Vater (und Mutter), aber nicht um den Preis eines Vatermordes – vielmehr in der Auflösung der Figur des bereits-toten-Vaters und seine Thanatokratie. Es wäre das Gesetz des Gesetzes, seine Kunft selbst.“ Nancy (2014b): Die Mit-Teilung der Stimmen, 161. Den Grund, warum man zwar einerseits von Brüderlichkeit sprechen sollte, allerdings nur in Form verwaister Kinder, nennt Nancy nicht explizit. Zugleich findet sich im Verlauf der weiteren Argumentation Nancys ein Hinweis darauf, dass er auf das Wort Vater deswegen verzichten möchte, weil sich mit seiner Verwendung bestimmte Konnotationen einschreiben würden und das Wort Vater selbst dann symbolisch aufgeladen sei, wenn man zwischen einem empirischen und einer symbolischen Entität Vater unterscheiden würde. Folgte man Nancy in dieser Argumentation, so müsste man zumindest fragen, ob Gleiches nicht auch für den Begriff der Brüderlichkeit in Anschlag gebracht werden könnte. Auch wenn man inhaltlich sofort zugestehen mag, dass Brüderlichkeit nicht in dem Sinne verstanden werden soll, dass durch den Verweis auf einen Vater oder eine Mutter bereits ein unhinterfragbar fester Stand gewonnen wäre, bleibt die Figur der Brüderlichkeit – gerade auch im Verhältnis zur Figur der Gastlichkeit, wie sie etwa Jacques Derrida entfaltet hat (Derrida (2007): Von der Gastfreundschaft) – seltsam unterbestimmt. 336  Vgl. Nancy (2012): singulär plural sein, 25. 337 Nancy (2012): singulär plural sein, 25.

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zu fragen, wie intersubjektive Anerkennung so gedacht werden kann, dass sie der notwendigen Offenheit und der Differenz in den Verwirklichungsräumen von Gemeinschaft konsequent Rechnung trägt. Im Anschluss an den Durchgang durch die von Nancy markierten Notwendigkeiten in der Rede von einem Selbstbezug lassen sich die folgenden Konzeptionslinien intersubjektiver Anerkennung zeichnen. Erstens: Eine intersubjektive Anerkennung, die es gibt, gibt es nicht, weder als Erfüllung noch als Negation. Zugleich kann jedoch ebenso wenig auf den Begriff der intersubjektiven Anerkennung wie auf den Begriff der Identität eines Selbstbezugs verzichtet werden, da sich nur in einer solchen Benennung die Phänomene und Spuren der Ko-Präsenz erfassen und benennen lassen. ‚Niemals Identifizierung ohne Identität‘, so ließe sich formulieren, nicht verstanden als eine Identität ‚an sich‘, sondern als ein Punkt des Aufpralls, ein Punkt im Mit-Sein, von dem ein Verlauf ausgeht,338 der sich retro-perspektiv als verschlungen, gekrümmt und mitunter auch verwirrt oder wahn-sinnig entpuppen kann: „Aber er ist ja immer Verlauf ausgehend von einem Punkt, ja Verlauf des Punkts. Ein Punkt und ein Labyrinth, das sind die Geheimnisse der Identität.“339 Permanente Nähe und permanenter Abstand. Damit folgt Nancy der bei Hegel, Honneth und Butler gelegten Spur insofern, als auch er Selbst und Andere als solche erst in einem – bei ihm dann in der Figur des Mit-Seins – konstituierenden Präsenzraum verortet sieht. Anders als bei Hegel aber folgt dieses Verhältnis keiner dialektischen Grundstruktur und kann weder syn- noch antithetisch aufgelöst werden. Vielmehr versucht Nancy, die Spannung zwischen der Ermöglichung eines Selbstbezugs und den Grenzen, die zugleich damit gesetzt sind, zu halten. Selbst und Anderes, formuliert Nancy wiederum paradox, berühren sich einerseits nicht und, indem sie sich doch berühren, halten sie sich andererseits auf Abstand.340 338  Jacques Derrida sieht ein solches Changieren zwischen einer Dekonstruktion des Identitätsbegriffs und einem gleichzeitigen Postulat einer Unvermeidbarkeit dieses Begriffs eher skeptisch: Derrida (2005): Schurken. Zwei Essays über die Vernunft. 339 Nancy (2010): Identität. Fragmente, Fragwürdigkeiten, 47 f. Während Derrida ‚große‘ Begriffe wie beispielsweise Subjektivität oder Identität eher zu vermeiden sucht und sich auf Umwege begibt, um zugleich sprachfähig zu bleiben, arbeitet Nancy wesentlich konfrontativer. Da es spätestens im lebensweltlichen Bezug nahezu unmöglich ist, auf solch gehaltvolle Begriffe zu verzichten, müsse es vielmehr um ein Ausweisen der Verstrickungen und Ambivalenzen in diesen Begriffen gehen. 340  Vgl. Nancy (2008b): Noli me tangere, 66 f. Es wirkt nicht zufällig, dass Nancy diese Ausführung unter Rückgriff auf religiöse Narrationen und Bildmotive entwickelt. Wenn Nancy hinsichtlich der Tiefengrammatik von Liebe und Wahrheit ausführt: „Du hältst nichts, du kannst nichts halten noch festhalten, und dies ist, was du lieben und wissen musst“ (Nancy (2008b): Noli me tangere, 50), dann lässt sich dieses vor dem Hintergrund seiner Ausführungen auch als eine Reformulierung von Johannes 12,25 verstehen. Eine Liebe, die versucht, die Liebe festzuhalten und Abstand zu vermeiden, wird die Liebe verlieren. Vielmehr besteht die Liebe – und Nancy ergänzt, auch der Glaube – darin, sich dem bekannten Unbekannten anzuvertrauen.

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Zweitens: Wird intersubjektive Anerkennung in einem Mit-ein-ander-Sein verortet, müsste sich diese daran messen lassen, inwieweit sie es vermag, die Spannung des ‚Mit-Seins‘ in den Gestaltungsprozessen von Raumereignissen aufrechtzuerhalten. Die Herausforderung für eine Konzeption intersubjektiver Anerkennung besteht dann gerade darin, die Kopplung von Freiheit und Angewiesenheit im ‚mit‘ zu denken und zu sagen, wissend, dass auch Rede und Handlung nicht ent-mischt werden können.341 Intersubjektive Anerkennung kann nur in einem Zugleich von singulärer Totalität und gleichzeitiger Pluralität des Sinns gedacht werden.342 Vollkommen zu Recht verweist Nancy auf die wesentliche Bedeutung der Sprache, konkret: der Rede als Ort, an dem Präsenz ankommt, ohne zu sich zu kommen. Sodann bleibt jedoch in den Ausführungen Nancys undeutlich, wie sich die unterschiedlichen Sprachmodi zueinander verhalten. Genau dieses Defizit bildet für den Fortgang der Untersuchung den Anknüpfungspunkt für eine nähere Auseinandersetzung mit den Phänomen der Ko-Präsenz, wie Bernhard Waldenfels sie in seinen Untersuchungen zur leiblichen Responsivität leistet. Damit richtet sich der Blick auf Modi der Präsenzerfahrung, die sich nicht zurückführen lassen auf ein kategoriales oder normatives Ordnungsmuster, sondern lediglich in signifikativen Differenzen, also einem Etwas zeigt oder erweist sich als etwas, erfasst werden können und sich der Überführung in starre Ordnungsschemata sogleich wieder entziehen.343 Waldenfels leistet mit seinen Überlegungen, so soll im Folgenden gezeigt werden, einen entscheidenden Beitrag für die Konzeption einer intersubjektiven Anerkennung, die sich gegen eine Überführung in totalitäre Ordnungsmuster verwehrt und dadurch, dass sie streng auf die modalen Erscheinungsweisen und -differenzen des Mit-ein-ander-Seins fokussiert, zugleich auf einer Unverzichtbarkeit von ermöglichten Ordnungsmustern insistiert.

6.3 Selbstbezug als Antwort auf ein In-Anspruch-genommen-Sein Ein gehaltvolles Verständnis intersubjektiver Anerkennung, welches den bisher beschriebenen Gefahren und Versuchungen entgeht, die Differenz in der Selbstbezüglichkeit eines Selbst weder in Richtung des vermeintlichen Subjekts noch in Richtung der Gemeinschaft aufzulösen, muss, so der mahnende Appell von Bernhard Waldenfels, unbedingterweise von dem Anspruch eines Fremden ausgehen. Fremdes versteht Bernhard Waldenfels als eine Dynamik, die sich in einer zweifachen Spannung auf Selbst und Anderes zubewegt.344 Auf der einen Seite bedroht der fremde Andere das vermeintliche Refugium des Eigenen, 341 Siehe hierzu aus theologischer Perspektive auch: Dabrock (2000): Antwortender Glaube und Vernunft: zum Ansatz evangelischer Fundamentaltheologie. 342  Vgl. auch: Bedorf (2007): Bodenlos, 693. 343  Vgl. Waldenfels (2012): Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung. 344  Vgl. Waldenfels (2013a): Der Stachel des Fremden.

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macht einem solchen Konkurrenz und droht es zu überwältigen. Auf der anderen Seite ruft Fremdes Möglichkeiten hervor, die durch Ordnungen des eigenen Lebens weitestgehend ausgeschlossen sind. Zugleich dynamisiert die Erfahrung von Fremdem die Grenze zwischen Eigenem und Fremdem umso mehr, je näher Fremdes an das bisher als eigen Erachtete zu rücken scheint. 345 Auf eine solche Erfahrung der Erosion von (vermeintlich sicheren) Grenzlinien durch Begegnungen mit Fremdem kann die Reaktion – ähnlich der destillierenden Reinigung oder der verabsolutierten Mischung bei Nancy – entweder durch den Versuch einer Aneignung oder durch Feindschaft erfolgen. Beide Möglichkeiten des Zugangs rauben aber dem Fremden seine Fremdheit oder, mit den Worten von Waldenfels gesagt, sie versuchen den Stachel des Fremden zu ziehen und die Stimme des Anderen zum Schweigen zu bringen. Dies geschieht entweder dadurch, dass Fremdes durch eine möglichst laut tönende eigene Stimme unkenntlich gemacht wird, oder dadurch, dass Fremdes als dermaßen andersartig und solchermaßen weit entfernt verstanden wird, dass es bloß noch als ein dumpfes Hintergrundrauschen erscheint. Was damit aber zugleich verloren ginge, so bestimmt Waldenfels den Ausgangspunkt seiner weiteren Überlegungen, wäre die Möglichkeit, sich in seiner Antwort auf die Stimme eines Anderen als ein Jemand zu erweisen. Ein solcher Versuch des Antwortens definiert sich nicht durch ein vorgängiges ‚Ich‘ des Sprechers, sondern vielmehr durch ein Antworten als eines auf etwas Antwortenden.346 Als notwendig ist die Antwort eines Angesprochenen insofern zu erachten, als er sich unter einen fremden Anspruch gestellt erfährt, der nicht bloß als äußere Seite der Selbsterfahrung verstanden werden kann, sondern sich als Erfahrung einer unüberwindlichen Abwesenheit exponiert.347 Sich vor diesem Hintergrund als ein Selbst zu erweisen, stellt eine radikale und zugleich untilgbare Überforderung dar, insofern sich ein Selbst von jedem beliebigen Anderen die Frage zuziehen kann, wie es auf einen gestellten Anspruch antworten wird. Daher kann sich ein Selbstbezug weder unschuldig auf eine fundierende Ontologie noch eine tradierte Gestaltungsform berufen,348 sondern wird ereignishaft präsent, angefangen beim Hören auf die

345 

Vgl. Waldenfels (1997b): Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie 1, 44. Vgl. Waldenfels (1997b): Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie 1, 53. 347  Gegen den Gedanken Husserls, dass sich die Erfahrung des Fremden als eine äußerste Form der Selbsterfahrung verstehen ließe. Vgl. Husserl (1973c): Husserliana 15. Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Dritter Teil 1929–1935. 348 Das bedeutet nicht, dass man ontologische Aussagen grundsätzlich suspendieren müsste oder könnte. Entscheidend ist aber nun, von wo aus dieses Wechselspiel zwischen ontologischen und epistemologischen Aussagen betrachtet wird. Insofern hat das Selbst sehr wohl eine ontologische Dimension, denn ansonsten wäre es de facto dem Blick des Anderen so radikal ausgeliefert, dass es sich nicht auf sich beziehen könnte. Eine solche ontologische Dimension erschließt sich aber zugleich nicht ohne Weiteres, sondern wird in unterschiedlichen Erkenntnisperspektiven zur Präsenz gebracht. 346 

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Stimme eines Anderen als Eröffnung eines Ermöglichungsraumes und fortgeführt in der praktischen Bezeugung dessen, wozu sie herausfordert.349 Waldenfels versucht zu ergründen, wie die Modalitäten eines Antwortgeschehens in der Weise beschaffen sein können, die es einerseits erlauben, Eigenes zu denken, das mehr besagt als das Andere des Anderen, und ebenso Fremdes als Fremdes,350 das mehr besagt als allein ein Anderes des Eigenen.351 Worauf Waldenfels abzielt, ist die Suche nach einer Konzeption eines Zwischen, welche die Unzugänglichkeit einer Zugänglichkeit zu denken erlaubt, ohne weder die Unzugänglichkeit der Unzugänglichkeit noch die Möglichkeit einer potenziellen Zugänglichkeit der Unzugänglichkeit aufgeben zu müssen.352 Ähnlich wie beim blinden Fleck des Sehens lässt sich die Grenzlinie zwischen den Polen von Eigenem und Fremdem als ein Sich-Ereignen im Sinne einer maximalen Verdichtung verstehen, ohne dass dieses Ereignis, ähnlich wie der blinde Fleck des Sehaktes, selbst in den Blick kommen kann.353 Die bereits von Nancy diagnos349 

Vgl. Liebsch (2010): Renaissance des Menschen? Zum polemologisch-anthropologischen Diskurs der Gegenwart, 150. Burkhard Liebsch zeigt auf, wie sich eine solche responsive Struktur nicht nur auf die Rede vom Selbst, sondern auch allgemeiner vom Menschsein auswirkt. Ein solcher Humanismus des anderen Menschen begreift den Menschen als jemand, der vom Anderen dazu aufgerufen ist, sich als menschlich zu erweisen. „Fern jeglichen Speziesismus und jeglichen arroganten Stolzes, einer vermeintlich allen anderen Lebewesen eindeutig überlegenen Gattung anzugehören, die sich als so überaus gewalttätig erwiesen hat, zielt dieser Humanismus darauf ab, den Einzelnen im Licht der ihm von Anderen her zugemuteten Menschlichkeit zu denken […].“ Liebsch (2010): Renaissance des Menschen? Zum polemologisch-anthropologischen Diskurs der Gegenwart, 149. 350  Bernhard Waldenfels unterscheidet zwischen den Begriffspaaren ‚Selbes und Anderes‘ sowie ‚Eigenes und Fremdes‘. Die Unterscheidung von Selbem und Anderem stellt das Ergebnis eines Einordnungsprozesses auf der Ebene des Faktischen dar, Waldenfels spricht hier auch von der Ebene des Gesagten. Die Rede von Selbst und Anderem bezeichnet also eine Beobachtungsperspektive, in der aus der Position eines Dritten eine Grenze zwischen etwas oder Jemand gezogen und so eine terminologische Bestimmung vorgenommen wird. Die Unterscheidung von Eigenem und Fremden ist dagegen das Ergebnis einer Rückfrage auf der Ebene der Erfahrung und verortet im Ereignis des Sagens den Sagenden an einem bestimmten topologischen Ort. Insofern spricht Waldenfels hier auch nicht von einer festen Grenzlinie, sondern von einer Schwelle an der etwas als etwas und jemand als jemand präsent wird. Eigenes und Fremdes sind insofern immer positionale Aussagen, sie markieren also immer etwas für den Sagenden Eigenes oder Fremdes. Vgl. Waldenfels (2000b): Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, 364. 351  Vgl. Waldenfels (1997b): Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie 1, 74 f. 352  Vgl. hierzu auch die Auseinandersetzung mit Paul Ricœur und Gabriel Marcel: Waldenfels (1998b): Phänomenologie in Frankreich, 277. 353  Vgl. Waldenfels (1999a): Die Vielstimmigkeit der Rede. Studien zur Phänomenologie des Fremden 4, 196 & Waldenfels (2013a): Der Stachel des Fremden, 31 f. Waldenfels unterscheidet zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten, Grenzphänomene zur Sprache zu bringen. Grenzen können zum einen als Grenzen eines Feldes verstanden werden. Vgl. Waldenfels (2013b): Ordnungen im Zwielicht, 53 ff., 216 f. Solche Grenzen lassen sich verschieben, erweitern oder auch verengen, aber man kann sie nicht überschreiten, weil diese abhängig vom jeweiligen Standort immer mitwandern. Grenzen hingegen, die man überschreiten kann, nennt

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tizierte Paradoxie der Intersubjektivität setzt sich auch in dem Versuch der Artikulation von Erfahrungen des Fremden bei Waldenfels fort: „Je besser es uns gelingt, das in der phänomenologischen Erfahrung auftauchende Fremde anschaulich und das in der hermeneutischen Frage begegnende Fremde verständlich zu machen, umso mehr verschwindet es.“354 Fremdes zur Sprache zu bringen setzt voraus, dass der methodische Zugang ein Zugang bleibt, der das Unzugängliche keinem methodischen Prinzip opfert, und sei dies als noch so weit, minimal-inhaltlich oder liberal behauptet. Nur so erhält Fremdes die Chance, die vermeintlichen Schutzwälle der rein selbstreferenziellen Selbsterhaltung zu durchbrechen und überhaupt erst in den Blick zu gelangen und zur Sprache zu kommen.355 Ein solcher Zugang kann allein dann der Selbstauflösung seines Beschäftigungsgegenstands entgehen, wenn Fremdes mehr als das Unbekannte oder Unverständliche ist, welches per Analogie zu erschließen wäre.356 Können Eigenes und Fremdes weder im Verhältnis eines extremen Gegensatzes noch der vollständigen Deckung gedacht werden, dann ist ihr Verhältnis vielmehr als das einer Verschränkung zu denken: „Eigenes und Fremdes [sind, MB] mehr oder weniger ineinander verwickelt […], so wie ein Netz sich verdichten oder lockern kann […].“357 Ebenso erweisen sich die Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem nicht nur als unscharf, sondern ebenso stellt der Versuch, die Grenzen zu schärfen und stärker zu distinguieren, eine Zerstörung des In- und Mit-ein-anders von Eigenem und Fremdem dar.358 Weder kann die Verschränkung von Fremdem und Eigenem so aufgelöst werden, dass Eigenes und Fremdes auf separate und unverbundene Pole aufgeteilt werden könnten, noch so, dass Fremdes prinzipiell glorifiziert wird, noch schließlich auf die Art und Weise, dass ein egozentristischer Vorrang der ersten Person gegenüber allem anderen postuliert werden könnte. Ist das Verhältnis von Eigenem und Fremdem in der Figur der Verschränkung zu beschreiben, bleibt die Frage, wie die Unterscheidung, also gewissermaßen die modale Differenz der Verschränkung, bestimmt werden kann. Waldenfels unterscheidet zwischen vier Möglichkeiten einer Verhältnisbestimmung: Transferenz (1), Indifferenz (2), Präferenz (3) und Prä-/Interferenz (4). Die Transferenz bestimmt Selbst und Anderes als Teil einer

Waldenfels ‚Schwellen‘. Mithilfe dieser überschreitbaren Grenzzonen lässt sich ein ‚Vor‘ und ein ‚Nach‘ des Übertritts bezeichnen. 354 Waldenfels (1997b): Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie 1, 96. Das Problem einer Xenologie, einer Wissenschaft vom Fremden, wäre die Auflösung ihres Gegenstandes in der Beschäftigung mit diesem. 355  Vgl. Waldenfels (1997b): Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie 1, 102. 356  Vgl. auch: Ricœur (2005): Das Selbst als ein Anderer. 357 Waldenfels (1997b): Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie 1, 67. 358  Vgl. Waldenfels (2000b): Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, 44.

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Gesamtordnung.359 Ein Selbst, dass sich einer solchen kohärentistischen Ordnung entziehen würde, wäre nicht mehr als ein An-sich-Sein des Ganzen, ein Selbstsein ohne Bezug. Damit aber wäre die Suche nach dem Worauf des Anspruches der Anderen bereits beendet, noch bevor sich überhaupt eine Stimme hätte artikulieren können und Gehör finden könnte. In der Verhältnisbestimmung der Indifferenz hingegen wird das Verhältnis von Selbst und Anderem wiederum dermaßen eng gedacht, dass alle möglichen Räume zwischen Selbst und Anderem neutralisiert werden und der Selbstbezug im Sprachengewirr verstummen würde. Eine dritte Form der Verhältnisbestimmung von Selbem und Anderem liegt in der Annahme einer Präferenz, einer vorrangigen Beziehungsrichtung von Selbst und Anderem. Das Selbst wäre dann der Beziehungsstifter, von dem die Relation ausgeht. Eine solche Nicht-Reziprozität besagt keineswegs, dass die Relation nicht auch in gegenseitiger Richtung geknüpft werden könnte, aber es bliebe eben ein klarer Initiierungsvektor bestimmbar.360 Ebenso wie auch Nancy insistiert Waldenfels auf der Notwendigkeit, ein Selbst in seinem Selbstbezug sagen und denken zu können, ohne zugleich in die Falle eines grundsätzlichen Vorrangs eines Selbstbezugs zu tappen. Die Unverzichtbarkeit dieser Anforderung markiert Waldenfels, indem er die Möglichkeit eines Selbstbezugs in einer Prä-/Interferenz361 des Eigenen verortet. Kann Eigenes einerseits nicht einfach im Sinne eines Besseren oder Höheren gedacht werden, darf es zugleich nicht so diffus und indifferent sein, dass es ununterscheidbar in Fremdem aufgeht. Die Prä-/Interfenz des Eigenen zu denken, fordert vielmehr heraus, einen Selbstbezug von der Anknüpfung an einen unausweichlichen und unvergleichlichen Anspruch362 des Fremden her zu denken. Einen Selbstbezug als einen Selbstbezug im Fremdbezug zu denken, impliziert keineswegs, dass von einer prinzipiellen Vorrangigkeit innerhalb der Relation – sei es ein Ich oder ein Du – ausgegangen werden kann.363 Kann ein Selbstbezug nicht als vorrangige oder gar absolute Präferenz gedacht werden und zeigen sich Selbst- und Fremdbezug vielmehr als interferent miteinander verflochten, dann taucht ein Selbst nicht als zentrale Figur, nicht als initiierender Beziehungsstifter auf, sondern wird „aus dem Bezug zu anderem und anderen und schließlich aus dem Bezug zu sich selbst gewonnen […].“364 Zugleich betont Walden359 

Vgl. Waldenfels (2007): Antwortregister, 205. Vgl. Waldenfels (2007): Antwortregister, 208. 361  Wenn im Folgenden in der Auseinandersetzung mit Waldenfels von einer ‚Präferenz‘ die Rede ist, so bezeichnet diese nicht etwa im alltagssprachlichen Sinne einen individuellen Wertungsvorrang, sondern die Möglichkeit eines Selbstbezugs, der sich aus einer spezifischen Art und Weise der Anknüpfung an einen fremden Anspruch heraus ermöglicht. 362  Vgl. Dabrock (2000): Antwortender Glaube und Vernunft: zum Ansatz evangelischer Fundamentaltheologie, 225. 363  Gegen eine allzu schnelle dialogphilosophische Romantisierung, wie sie etwa bei Martin Buber erfolgt. Vgl. Buber (1999): Das dialogische Prinzip. 364 Waldenfels (2007): Antwortregister, 209. 360 

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fels die Gefahr, dass eine solche Denkfigur eines Selbstbezugs im Fremdbezug doch nichts anderes als einen Selbstbezug vor dem Fremdbezug manifestieren könnte. Die Verlockung bestünde also darin, das Selbst auch dann als ein Zentralglied zu verstehen, von dem her sich eine Beziehung aufbauen würde, wenn es lediglich ein Mittelglied wäre, das mit Anderem und Anderen in einer Beziehung stünde. Den entscheidenden Punkt im Ringen um das Verhältnis von Selbst und Anderem sieht Waldenfels darin, dass eine partielle Bevorzugung nicht zwangsläufig auf ein absolutes Zentrum hinauslaufen muss. Der Grund dafür liegt darin, dass auch eine Prä-/Interferenz erst in dem Antworten auf einen fremden Anspruch zur Präsenz kommen und sich somit wieder verlieren kann. Das Selbst kann sich nicht nur als ein Anderes begegnen, es kann sich ebenso komplett fremd werden und die Anschlusspunkte eines Selbstbezuges nur noch schwerlich oder gar nicht mehr finden.365 Die Frage, inwiefern ein solcher Verlust von selbstreferenzieller Anschlussfähigkeit als pathologisch verstanden werden kann, wird an späterer Stelle anhand der Phänomene des Wahnsinns noch einmal gesondert zu erörtern sein.366 Gegen den Vorwurf, dass eine Theorie intersubjektiver Anerkennung zwangsläufig auf eine zentrale Bevorzugung eines Selbst hinauslaufen müsse, kann angeführt werden, dass nicht nur offen ist, von woher, zu welchem Zeitpunkt welches Stiftungsereignis eines Selbstbezugs ausgeht und sich ereignet, sondern auch, wer das jeweilige Subjekt dieser Stiftung ist und als was es sich gestaltet. Demgemäß weist ein Selbstbezug im Fremdbezug auf eine plurale, relative Präferenz, die sich als Referenz einer Präferenz immer schon auf andere Präferenzen beziehen muss, ohne sich jedoch vollkommen indifferent zu werden. Die Entstehung eines (fragilen) Selbstbezugs kann folglich nur so gedacht werden, dass ein Selbstbezug passiv in einem Beziehungsgeschehen gestiftet wird.367 365  Die Grenzziehung zwischen dem Wahnsinn als einer Form des kreativ-schaffenden Außer-sich-Seins und einem pathologischen Außer-Rand-und-Band-Sein erweist sich als äußerst fragil. Vgl. Canguilhem (2012): Das Normale und das Pathologische. So ist nicht nur darauf zu verweisen, dass Gesundheit und Krankheit einen dynamischen Chiasmus bilden, sondern ebenso, dass das Setzen der Grenzlinie zwischen Wahn und Kunst immer eine kulturelle Leistung darstellt, die jedoch zugleich nicht komplett in der Kultur aufgeht, sondern an die Beobachtung von Grenzziehungen lebenswichtiger Funktionen gekoppelt bleibt. Die Grenzlinie zwischen Wahnsinn und Kunst ist also ein beständiges Wechselspiel von Differenzierung und Generalisierung, stets in der Gefahr stehend, solche Grenzziehungen zu einem Fixum erstarren zu lassen, in dem das Abweichende als absolute Negativität erscheint. Vgl. Waldenfels (2013b): Ordnungen im Zwielicht, 73. Demgegenüber ist gerade die Konzeption intersubjektiver Anerkennung herausgefordert, Abweichendes zunächst als ein Anderes desselben zu begreifen, ohne dies damit gleichzeitig als radikales Fremdes auszuschließen. Vgl. Heinz (2014): Der Begriff der psychischen Krankheit, 64 f. 366  Vgl. Kapitel 8.1. 367  Vgl. hierzu aus theologischer Perspektive: Herms (2003): Menschsein im Werden. Der Verweis, dass die Selbstbezüglichkeit eines Selbst sich als ein relationales Ereignis zeitigt,

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Eine asymmetrische Prä-/Interferenz des Eigenen, verstanden entweder als ein Selbstbezug im Fremdbezug oder ein Fremdbezug im Selbstbezug, bezeichnet ein Sich-selbst-Sagen, dass immer auch ein Mit-Sagen impliziert. Das Ereignis des Sagens wird damit von Waldenfels zunächst als ein In-Anspruch-Genommen bestimmt, wehrt sich damit gegen jede vorher eindeutig festgelegte Ordnung und richtet sich gegen eine Bemächtigung des Sagens durch das Gesagte, ohne – und das ist eine entscheidende Pointe sowie ebenso eine Abgrenzung zu Lévinas – gleichzeitig das Gesagte im Sagen aufzulösen. Ein zu starkes Verharren im Bereich der Verweise und Referenzen der Wissensinhalte368 oder wirft zugleich die Frage auf, wer mit wem in welcher Relation steht. Es deutete sicht bereits an mehreren Stellen der Untersuchung an, dass Selbst und Anderer nicht nur in einem direkten Interaktionsverhältnis stehen, sondern sich ebenso zu sich selbst verhalten, daraus Rückschlüsse für die Art und Weise ihrer Interaktion ziehen, sich in ihrer Relation ebenso beobachten, wie sie von anderen beobachten werden. Kurzum: In die Relation von Selbst und Anderem schreibt sich ein Drittes ein. Was sich in der Figur eines Dritten exponiert, so hat es Bernhard Waldenfels aufgezeigt (vgl. Waldenfels (1997b): Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie 1, 110–122), ist in unterschiedlichen Figurationen in Abhängigkeit von deren Einbettung in die jeweiligen soziologischen Hintergrundannahmen entsprechend sehr unterschiedlich. Versteht Simmel den Dritten als einen Beobachter, unter dessen distanzierendem Blick sich Konflikte in die Solidarität eines „Wir“ verwandeln (vgl. Simmel (1992): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung), konzipiert Sartre den begehrenden und objektivierenden Blick des Dritten als genealogischen Startpunkt des ‚Wir‘ (vgl. Sartre (1967): Kritik der dialektischen Vernunft, 114). Sogleich wird der mich erblickende Andere wiederum von einem Dritten erblickt, sodass Sartre von einer sich performativ transzendierenden Transzendenz zu sprechen vorschlägt. Merleau-Ponty wiederum geht pluralisierend von einer Konstellation von Anderen aus und verweist darauf, dass jede Beziehung zu Anderen immer der Bezeugung und Steuerung Dritter unterstellt ist (vgl. Merleau-Ponty (2004): Das Sichtbare und das Unsichtbare, 113), während Lévinas schließlich den Dritten als einen indirekten Anderen, der als Nächster des Anderen einen Mitanspruch erhebt, denkt. Vgl. Lévinas (1999): Wenn Gott ins Denken einfällt: Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz, 110. Waldenfels versteht den anonymen Dritten als einen Jemand in der Rolle des Jedermann. Er denkt das Dritte in der Form eines neutralen Dritten, welches Titel wie Wahrheit, Gesetz, Gewissen, intentionaler Sinn oder Geltungsanspruch trägt. Die Rolle des neutralen Dritten wird sowohl von mir selbst als auch von dem Anderen eingenommen, da in den Äußerungen immer schon ein allgemeiner Sinn intendiert und ein allgemeiner Geltungsanspruch erhoben wird. „Der Andere begegnet mir immer schon als Dritter, der sich in einem sozialen Medium als Frau, Bruder, Kollege, Mitbürger, Europäer und als Mitmensch äußert.“ Waldenfels (1997b): Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie 1, 116 f. Das Verhältnis von Fremden und Dritten ist folglich ein Verhältnis der Verschränkung und der Heterogenität zugleich. Drittes und Fremdes sind nicht einfach einer Skala zuzuordnen: „Der Fremde und der Dritte fügen sich nicht in eine kommunikative Ordnung, vielmehr verhalten sie sich zueinander wie der Überschuß eines Außer-Ordentlichen zum Gleichmaß einer normalen Ordnung.“ Waldenfels (1997b): Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie 1, 118. Der Andere ist kein partikularisierter Dritter und umgekehrt ist der Dritte kein universalisierter Anderer, sondern markiert die Einnahme eines Standpunkts, insofern ich mich implizit oder explizit als jemanden betrachte und behandle. 368  Vgl. Latour (2008): Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie.

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gar in der Rede von einem Ereignis des Sagens,369 welches damit wiederum eine Ordnung in das Verhältnis von Frage und Antwort einführen würde,370 gefährdet die doppelt-responsive Gestalt der Antwort als koinzidentes Ineinander von Sagen und Gesagtem. Das Sagen als Ereignis vollzieht sich in dem jeweiligen Moment und fällt gerade nicht mit der Nennung des Ereignisses zusammen. Etwas zu sagen, erweist sich deshalb als nicht einfach identisch mit dem Gesagten, „da es mehr ist als das Gesagte, nämlich ein Über-schuß, ein ex-cès, ein Außer-ordentliches, das in den diversen Ordnungen des Gesagten rumort.“371 Sagen meint vielmehr, dass nicht etwas einfach zur Sprache kommt – das wäre dann ein Verbleiben auf der Ebene des bloß Gesagten –, sondern dass im Ereignis des Sagens der Sagende sich selbst als einen unabweisbar auf einen Anspruch Antwortenden erfährt. Indem jemand etwas sagt, vollzieht sich ein Sich-Sagen, es vollzieht sich eine Sonderung, in der sich das Sagen des Gesagten auf sich selbst bezieht: Es wird, rückgebunden formuliert an die Ausführungen Nancys, im ‚mit‘ ko-präsent. „Sagen und Sichsagen wären dann ein und derselbe einstufige Vorgang, der sich differenziert und organisiert, ohne einer Ordnung zweiter Stufe unterworfen zu sein.“372 Erst in einer zeitlichen und räumlichen Verzögerung, also im reflexiven Sprechen über das Sagen, wird das Sagen gemeinsam mit dem Gesagten zum Sagen des Gesagten. In einem solchen Reden zweiter Stufe ist der Selbstbezug nur noch als entferntes, fremdes Echo vernehmbar. Um dieser Falle zu entgehen, das Sagen also nicht dem Gesagten zuzurechnen und damit die Responsivität, sprich: das Antworten auf den Anspruch des Sagens aus den Augen zu verlieren, verweist Waldenfels unter Rückgriff auf die klassische kommunikationstheoretische Unterscheidung von Aussage und Aussagevorgang auf eine Verdoppelung der Rede. „Entscheidend ist nun, daß bei dieser Verwirklichung der Sprache in der Rede die Diskursinstanzen sich verdoppeln. Das gilt für Ich und Du, die sich verdoppeln in das Ich und Du der Aussage […] und des Aussagevorgangs […].“373 Eine solche Verdoppelung gilt nicht nur für Selbes und Anderes in der ersten und zweiten Person, sondern auch für den Ort und die Zeit des Sagens des Ge369 

Vgl. Waldenfels (2007): Antwortregister, 199. Waldenfels übt nicht nur Kritik an sog. Dialogphilosophien, wie sie beispielsweise von Buber und anderen vorgelegt worden sind, sondern setzt sich auch kritisch mit seinen eigenen früheren Arbeiten auseinander. Vgl. Waldenfels (1971): Das Zwischenreich des Dialogs: Sozialphilosophische Untersuchungen in Anschluß an Edmund Husserl. Kritisch wendet sich Waldenfels gegen ein Verständnis des Dialoges, der über die Tendenz zur wechselseitigen Erfüllung und Ergänzung nicht hinauskommt. Ungleich schärfer formuliert es Waldenfels in seinem jüngsten Werk: „Dialog oder Poly-log bedeuten im Grunde und letzten Endes nichts weiter als einen Mono-log mit verteilten Rollen.“ Waldenfels (2012): Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung, 300. 371 Waldenfels (2007): Antwortregister, 199. 372 Waldenfels (2007): Antwortregister, 212. 373 Waldenfels (2007): Antwortregister, 220. 370 

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sagten. Der Selbstbezug im Fremdbezug präsentiert sich in einer doppelten Verdoppelung374, mit sich identisch und zugleich von sich unterschieden, zugleich auf sich zurückbezogen und zugleich ‚sich in sich‘ verdoppelnd. Ehedem – als Raum-Zeit-Ereignis des Selbstbezugs im Fremdbezug – ist der Fremdbezug dem Selbstbezug nur dann eingeschrieben, wenn sich die Bezugnahme auf Anderes als ein Sich-Beziehen auf Anderes ereignet. Andernfalls, so lässt sich mahnend mit Bernhard Waldenfels einwerfen, wäre der Fremdbezug nur untergeschoben und beträfe nicht das Sich-Sagen für sich, nähme also nicht die für die Konstitution eines Selbstbezugs notwendige theoretische Vorrangstellung ein. Daraus kann gefolgert werden, dass man nicht nur etwas (Waldenfels verweist auf das englische Wort answer) beantwortet, sondern immer zugleich auf etwas antwortet (response). Es ist das Hören auf einen fremden Anspruch, so ist bereits in Auseinandersetzung mit Judith Butler deutlich geworden, von dem her sich die Möglichkeit einer Antwort eröffnet. Von dem Hören eines Anspruchs her zu antworten kann, so Waldenfels, als die Klammer verstanden werden, welche die beiden Dimensionen des Hörens (answer und response) auf adäquate Weise zu verbinden vermag: Das Antworten in der Form einer response trägt dazu bei, „daß etwas zur Sprache kommt, daß etwas Beachtung findet, daß etwas uns anspricht.“375 Das Verhältnis von Anspruch und Antwort ist in dem Sinne als ein asymmetrisches zu bezeichnen, insofern der Anspruch der Antwort immer schon vorausgeht, da sich ein Selbst im Sprechen zu und mit Anderen immer schon als angesprochenes vorfindet. Was in einen jeden Anspruch eingeschrieben ist, erweist sich als ein Imperativ eines „Höre!“, der dem Respondieren zeitlich fortwährend vorausgeht. Sogleich begegnet im Imperativ des Anspruchs nicht nur ein konkreter Anderer, sondern ein über den konkreten Anderen hinausgehender Überschuss. Denn der Anspruch des Fremden geht nicht ohne Weiteres in der Antwort an einen konkreten Anderen auf. Vielmehr können sich solch fremde Ansprüche auch aus der raum-zeitlichen oder modalen Situation des Sagens ergeben. Dem Verhältnis zwischen Selbst und Anderem, zwischen Eigenem und Fremdem ist eine unaufhebbare Asymmetrie zu eigen, die sich in einem doppelten Sinne als Schwellenereignis verstehen lässt.376 Schwellen lassen sich mit Waldenfels als Übergänge zwischen unterschiedlichen Ordnungsrelationen begreifen und sind weniger als scharfe Trennlinie denn als Scheidezone zu denken.377 Übergänge wie Einschlafen und Erwachen, Erkranken und Genese oder Fortgehen und Hingehen zeigen an, dass sich den Unterscheidungslinien zwischen eigenen und fremden, vertrauten und unvertrauten oder vorhersehbaren und unvorhersehbaren Bereichen und Bezügen eine Unschärfe einschreibt. Zu374 

Vgl. Merlau-Ponty (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung, 170. (1997b): Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie 1, 119. 376  Vgl. Waldenfels (1997b): Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie 1, 74. 377  Vgl. Waldenfels (2013b): Ordnungen im Zwielicht, 29. 375 Waldenfels

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gleich – und das wird sich als eminent bedeutsam für die ethische Bewertung der Anwendung von Zwang erweisen – sind die Übergänge zwischen den Ordnungszuschreibungen keineswegs präferenzfrei. Man kann auf ihnen nicht beliebig hin- und herlaufen. Vielmehr gibt es einen Vorzugsbereich, von dem aus die Schwelle überschritten wird: Wir sprechen als Wachender über Wachen und Schlafen, als Selbst über die Fragilität eines Selbstbezugs und als Lebender über Leben und Tod. In Schwellenereignissen schreibt sich insofern eine Asymmetrie ein, da ein Wechsel von einem Bereich in den anderen nicht einfach als eine Rückkehr verstanden werden kann, sondern sich durch einen Wechsel der positionell eigene Standpunkt als radikal verändert zeigt: Die Widerfahrnis von Krankheit lässt die Aussage ‚Ich bin gesund‘ in einem anderen Licht erscheinen, selbst wenn eine Krankheit besiegt ist. Schwellenerfahrungen versteht Waldenfels als Zwischenereignisse, weil Äußerungen und Handlungen sich auf Anderes beziehen, an Anderes anknüpfen und damit auf einen fremden Anspruch antworten. Die sich in solchen Zwischenereignissen ereignende Ordnung bezeichnet Waldenfels als responsive Rationalität,378 die in sich insofern eine konstitutive Asymmetrie aufweist, als das, was geordnet wird, selbst nicht der Ordnung entstammt. Mit anderen Worten: Mit jeder Anknüpfung wird ein Ordnungsmuster durchbrochen und ein dynamisches Feld aufgebaut.379 Auch wenn die konkrete Ausprägung nicht ohne Weiteres weder in eine Gesamt- noch Grundordnung überführt werden kann,380 hat in einem solchen Feld dennoch nicht alles gleichermaßen seinen Platz und kann folglich auch nicht gleichermaßen zur Geltung kommen. Verbunden mit der Statik eines Feldes ist nicht nur, dass nicht alles gleichermaßen zur Geltung kommen kann, sondern gleich einem elektrischen Feld konfiguriert sich ein Feld zu bestimmten Zeitpunkten und in bestimmten Topo378 

Vgl. Waldenfels (2013b): Ordnungen im Zwielicht, 50. Feldmetapher versteht Waldenfels als eine Alternative zum Netzbegriff. Anders als Nancy versucht Waldenfels, auf Begriffskonzeptionen wie Knotenpunkte, Netze und Netzstrukturen zu verzichten, und setzt stattdessen auf den Terminus des Feldes. Ebenso wie ein Feld durch beständige Interlokutionen und Interferenzen unterschiedlicher Felddynamiken konstituiert wird, ereignet sich auch ein Wechselspiel zwischen Eigenem und Fremdem, in dem Räume für die Positionalität von Selbem und Anderem entstehen. Vgl. Waldenfels (2013b): Ordnungen im Zwielicht, 55. 380  Vgl. Waldenfels (2002): Bruchlinien der Erfahrung, 234. Sowohl Gesamtordnungen als auch Grundordnungen liegt die Annahme eines Ganzen ohne Außen zugrunde. Dies führt in letzter Konsequenz, so Waldenfels, auf die Bahnen eines totalitären Denkens, das keine grundlegenden Abweichungen duldet. Der Unterschied zwischen einer Gesamt- und einer Grundordnung besteht für Waldenfels nun darin, dass sich die Gesamtordnung auf kosmische, soziale oder religiöse Ordnungsstrukturen bezieht, die für sich uneingeschränkt Gültigkeit beansprucht haben. Mit der voranschreitenden Errosion der Gesamtordnungen entstand ein Vakuum, welches mit dem Rückgriff auf begrenztere transzendentale Ordnungsmuster, welche Waldenfels als Grundordnung bezeichnet, zu füllen versucht wurde. Vgl. Waldenfels (2012): Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung, 43. Siehe ebenso ausführlich: Waldenfels (2006): Schattenrisse der Moral. 379  Die

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logien unterschiedlich.381 Das bedeutet nicht nur, dass die Erfahrungsräume eines Selbstbezugs von Beginn an durchzogen sind von Bevorzugungen und Vernachlässigungen. Vielmehr erweist sich Handlung durch die Art und Weise ihrer Anknüpfung sowohl an der Schaffung der Ordnung beteiligt, in der sie sich bewegt, als auch an den Fragen, auf die ein handelndes Selbst antwortet. Das, was sich im Handeln realisiert, konfiguriert sich als ein Teil der Aushandlung und damit auch als Gegenstand von Auseinandersetzungen.382 Die Beobachtung der Handlungsvollzüge muss sich insofern darauf richten, was mit welcher Anknüpfung aus welchen Gründen zur Positionalität gelangt. Die Rechenschaft über die jeweils leitenden Gründe ist insofern von Bedeutung, als nur so retrospektiv die Bedingungen expliziert werden können, ohne die Reden und Handeln unmöglich wären.383 Worüber Auskunft gegeben und verlangt wird, entscheidet darüber, welche Frequenzen, beispielsweise eines Klangfeldes, gehört und welche Frequenzen (notwendigerweise) überhört werden. An einen bestimmten Anspruch anzuknüpfen bedeutet nicht nur, dass an einen anderen nicht gleichermaßen angeknüpft wird, sondern dass alles, was in eine Ordnung eingeht, zugleich auch über diese hinausgeht.384 Ein derartiger Überschuss stellt nicht einfach das ganz Andere der jeweiligen Positionalität dar, sondern irritiert, beunruhigt und bedroht mitunter eine positionelle Ordnung, indem das Ausgeschlossene in seiner Ausgeschlossenheit als das Andere der Positionalität virulent bleibt und neue Anschlussstellen und Verknüpfungsmöglichkeiten bietet.385 Gerade weil sich die Ordnungen, in denen ein Selbst in seinem Selbstbezug verortet ist, beständig neu konfigurieren, kann die Positionalität eines Selbst nur so gedacht werden, dass das, was in den Rede- und Handlungsweisen als Gegenstand zur Präsenz kommt, zugleich anwesend und abwesend ist, sich zugleich mit diesem und mit jenem verbindet. Die Positionalität eines Selbstbezugs zeigt sich als konstitutiv gebrochen, weil sich ein Selbst in seinem Selbstbezug zugleich als Selbst und als ein Anderer vorfindet. Ein solcher Riss durch die Handlungs- und Artikulationsräume eines Selbst bietet nicht nur Möglich381 

Vgl. Waldenfels (2012): Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung, 299. Vgl. Waldenfels (2002): Bruchlinien der Erfahrung, 238 f. 383  Vgl. Waldenfels (2013b): Ordnungen im Zwielicht, 69. Für die Benennung wie Beurteilung der jeweiligen Gründe unterscheidet Waldenfels zwischen den Kriterien der Richtigkeit und der Wichtigkeit. Während sich das Kriterium der Wichtigkeit auf etwas bezieht, was zur positionellen An- und Verknüpfung ansteht, bezieht sich das Kriterium der Richtigkeit auf Verhaltensakte und deren Resultate. Eine solche Kriteriologie ist dann weiter auszudifferenzieren. Unterschieden werden kann zwischen Bezugspunkt, Reichweite, Art der Konflikthaftigkeit sowie den Abgrenzungsmöglichkeiten. Das Kriterium der Richtigkeit bezieht sich auf Verhaltensakte und Resultate, hat eine universale Reichweite, führt im Konfliktfall zu Widerspruch und grenzt sich so von Unordnung ab. Das Kriterium der Wichtigkeit bezieht sich auf das, was zur Handlung ansteht. 384  Vgl. Waldenfels (2013b): Ordnungen im Zwielicht, 164. 385  Vgl. auch die Ausführungen Helmuth Plessners in: Plessner (1975a): Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. 382 

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keiten für produktive Anknüpfungspunkte ebenso wie für Konflikte, sondern führt dazu, dass das Gesagte hinter dem Gemeinten zurückbleibt, eine Antwort eine Frage nicht komplett beantwortet, sondern eben an einen – abhängig von der jeweiligen Positionalität – gehörten Anspruch anknüpft und gerade darin unvollständig bleibt. Waldenfels’ Arbeiten können deshalb helfen, die Figur intersubjektiver Anerkennung präziser zu fassen, als sie zum einen den dekonstruktivistischen Einwurf Nancys ernst nehmen und auf die doppelte Ambiguität der Anerkennung hinweisen: Als ambigue erweist sich Anerkennung zum einen, indem sie auf eine prinzipielle Offenheit verweist: Weder in einer destillierenden Reinigung noch in einer Verabsolutierung der Mischung kann sich intersubjektive Anerkennung auflösen. Folglich können auch universale Ordnungsmuster nur in dem Sinne als allgemein gelten, als sie einen konkreten Ort haben bzw. sich am Besonderen in selektiver Weise aufzeigen lassen.386 Waldenfels steigert die Komplexität der Beobachtung noch einmal, indem er die doppelte Ambiguität zwischen Eigenem und Fremdem, zwischen Selbst, Anderem und Anderen auf ihr Verhältnis zu den jeweils zugrunde liegenden Ordnungsfeldern hin befragt. Ein Anknüpfen von Eigenem an Fremdes kann nach den bisherigen Ausführungen kein direktes, unmittelbares Anknüpfen an etwas anderes oder jemand anderen sein. Der Versuch, zwei Aussagen mit einer Konjunktion zu verknüpfen, verwandelt das Gespräch in einen Bericht über das Gespräch. Der Dialog erscheint auf diese Weise als in ein Gefüge eingeordnet, sei es zur Bestimmung von Zwecken, Kausalitäten oder aber Normen.387 Im Unterschied zu den Ausführungen Nancys gesteht Waldenfels nicht nur ein, dass Ordnungen nicht per se in den Bereich der Uneigentlichkeit verschoben werden können oder dass generell auf sie nicht verzichtet werden kann. Sondern ebenso wie das luhmannsche Diktum „es gibt Systeme“388 die Unhintergehbarkeit von epistemischen Setzungen postulieren muss, verweist Waldenfels nicht nur auf die Unmöglichkeit, sich nicht bereits immer in Ordnungsschemata vorzufinden, sondern versucht, bestehende Ordnungsmuster zu dekonstruieren und von der Prä-/Interferenz von Eigenem und Fremdem her Zwischenereignisse als Antworterfordernisse neu zu entfalten. Die Ereignishaftigkeit eines Zwischen gewinnt nur dann ein Eigengewicht, wenn es weder als 386  Vgl. Waldenfels (1997b): Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie 1, 125. In der Topografie von Ordnungen, liegt für Waldenfels dann auch der Grund für einen Riss in jedem ganzheitlichen Ordnungsanspruch. Ordnungen, die einen Ort haben, können nicht verbergen, dass es Verallgemeinerungsschwellen und -hindernisse gibt, die sie nicht ohne Weiteres passieren können. 387  Vgl. Waldenfels (2002): Bruchlinien der Erfahrung. 388 Luhmann (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, 30. Entsprechend analog formuliert Waldenfels dann auch unter Rückgriff auf Foucault: „Es gibt Ordnung.“ Waldenfels (2013b): Ordnungen im Zwielicht, 10.

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eine Zusammenfügung eigenständiger Entitäten noch als leerer Raum gedacht wird.389 Vielmehr baut das Zwischen ein Feld auf, innerhalb dessen jemand und etwas zu jemand oder zu etwas wird.390 Zwischen ‚uns‘ geschieht etwas, was sich nicht auf rein selbstreferenzielle Leistungen zurückführen lässt. Weder eine Auflösung in Richtung einer absoluten Mischung noch in die Richtung einer destillierenden Reinigung hatte sich in der Auseinandersetzung mit Nancy als adäquate Phänomenologie von Selbst- und Gemeinschaftskonstruktion gezeigt. Ein Plädoyer für eine unhintergehbare und immer schon vollzogene Umkehr der Beobachtungsperspektiven und Ordnungsmuster findet sich nun bei Waldenfels. Intersubjektivität, so könnte Waldenfels Nancy zustimmen, kann nicht eine mannigfache Ansammlung von Subjekten bezeichnen, vielmehr ist die Intersubjektivität „wie ein Magnetfeld“391 zu verstehen, in dem sich eine Präferenz des Eigenen konstituieren kann, das Selbst aber stets zu spät kommt, sich immer schon als Angesprochenes vorfindet und gewissermaßen entsteht, indem es sich entgeht.392 In einem solchen Sinne ist das Zwischen auch kein Vermittlungsraum, in welchem Entsprechungskorrelationen zwischen den selbstständigen Wesen symmetrisch ausgehandelt werden können. „Das eingebürgerte Postulat eines symmetrisch angelegten Dialogs, dessen Partner ihre Rollen vertauschen können, überspringt die Genese des Mit.“393 Ein Zwischen ist insofern als ein Zwischengeschehen zu begreifen, das sich zwischen uns entfaltet und in dem Sinne für die Relate dieser Beziehung konstitutiv ist, als es Resonanz- und Erfahrungsfelder zuallererst ermöglicht. Das Erfahren wie Beobachten von Zwischengeschehnissen und damit auch die Sagbarkeit der asymmetrischen Prä-/ Interferenz kommt nur in den Blick, wenn man von den jeweils erfahrenen Ansprüchen ausgeht. Solche Ansprüche zeitigen sich dadurch, dass sie noch nicht von allgemeinen Instanzen abgedeckt sind und eben jenem Zwischenbereich angehören, der sich der Aneignung entzieht und Antworten herruft, sie gewissermaßen provoziert, stimuliert und fordert.394

389  Vgl. Waldenfels (2012): Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung, 234–254. Als eine bedeutende Figur eines solchen Zwischenereignisses kann die Figur der Stellvertretung gedacht werden. Dies trifft dann zu, wenn Stellvertretung nicht als ein reines ‚surplus‘ gedacht wird, sondern als ein riskantes Treten an die Stelle eines Anderen. 390  Vgl. Waldenfels (2013b): Ordnungen im Zwielicht, 34–36, 168. 391 Waldenfels (2012): Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung, 299. 392  Vgl. Blanchot (2011b): Vergehen, 48 f. ‚Affirmation‘ ist für Blanchot der Terminus, der ausdrückt, dass ein Selbst nur dann sich selbst bezeugen kann, so es sich an seinem Nichtort und in seiner Nichtpräsenz bejaht. 393 Waldenfels (2012): Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung, 300. 394  Vgl. Waldenfels (2013a): Der Stachel des Fremden, 7.

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6.4 Leibliche Verstrickungen Den Erfahrungs- und Resonanzräumen solcher Anknüpfungsreize, Provokationen wie Antwortmöglichkeiten nähert sich ein Selbst keineswegs von einer neutralen, unbeteiligten Position her, wie die Arbeiten Hans Blumenbergs betonen, sondern über die Präsenz einer leiblichen Verfasstheit395. Unabhängig davon, welche Kriteriologie man anzulegen geneigt ist, um ein Wesen als ein menschlich-leibliches Selbst anzuerkennen, ist anzuerkennendes Selbst in seinem Selbstbezug stets daran gebunden, als ein körperliches identifizierbares Da-Sein in Erscheinung zu treten.396 Von einem Selbst als einem leiblichen Wesen zu sprechen, bedeutet dann auch, wahrzunehmen, dass ein Selbst von Beginn an in Erfahrungen und Widerfahrnisse verstrickt ist.397 In der leiblichen Verfasstheit eines Selbst eröffnet sich nicht nur ein Raum für aktive Selbstbezüge, sondern eben auch für die Betonung von Pathos, Affektivität, Fragilität, Vulnerabilität und Endlichkeit sowie die einer grundlegenden Offenheit für Strukturen des Mit-ein-ander-Seins.398 Hatte sich bisher bereits gezeigt, wie die Modi der Selbstbezüglichkeit immer schon durchzogen sind von Trennungen, Brüchen und kontingenten Anknüpfungsmöglichkeiten, auf die unterschiedliche Antworten möglich sind, könnte die Verlockung nahe liegen, einem Selbst nun über die Figur der Leiblichkeit wieder einen festeren Stand oder, etwa mit dem bekannten Ausruf Nietzsches, eine sichere Heimat zu geben: „Leib bin ich ganz und gar und nichts außerdem.“399 Eine solche Engführung würde aber übersehen, dass auch der Leib selbst nicht eine in sich homogene ‚Instanz‘ darstellt, sondern zahlreiche Verstrickungs-, Verdopplungs- und Kreuzungspunkte aufweist. Diese Verstrickung des Leibes exponiert sich auch darin, dass erst die körperlich-leibliche400 Verfasstheit eines Selbst ein Wahrnehmen ermöglicht,401 zugleich aber nur indirekt Teil dieser Wahrnehmung ist. Eröffnet sich durch das Auge das Blickfeld eines Selbst, in das etwas oder jemand geraten kann, bleibt das Auge selbst zugleich aber außerhalb des Blickfeldes. Es markiert einen blinden Fleck eines Selbst, hinter den es nicht zurück kann, ohne zu erblinden. Insofern ist mit der körperlichen Verfasstheit eines leiblichen Selbst zugleich auch ein Norma395 

Vgl. Blumenberg (2014): Beschreibungen des Menschen, 124. Vgl. Dabrock (2015a): Bioethik des Menschen, 532. 397  Vgl. Waldenfels (2012): Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung, 147. 398  Vgl. Dabrock (2010b): „Leibliche Vernunft“ Zu einer Grundkategorie fundamentaltheologischer Bioethik und ihrer Auswirkung auf die Speziesismus-Debatte, 247. 399 Nietzsche (1999a): Also sprach Zarathrustra, 40. 400  Zur Dialektik von Leib und Körper siehe auch: FN 380. 401  Erst in den Vollzügen der Erfahrbarkeit gewinnt der Leib seine Positionalität. So führt Emmanuel Lévinas an: „Ins Brot beißen, genau das ist die Bedeutung des Kostens. Der Geschmack ist die ‚Art und Weise‘, in der das sinnlich wahrnehmende Subjekt räumlicher Körper wird […].“ Lévinas (1992): Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, 166. 396 

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lisierungshintergrund verbunden. Denn nicht jede Erfahrung beinhaltet das gleiche Erregungspotenzial und nicht jede Widerfahrnis eröffnet den gleichen Anknüpfungsraum. Jedoch kann der jeweilige Normalisierungshintergrund nicht als ein fester Grenzrahmen der Wahrnehmung verstanden werden, vielmehr markiert er die Positionalität eines Selbst. Ein leibliches Selbst hat eine bestimmte Verräumlichung, eine bestimmte zeitliche Vergangenheit und eine bestimmte relationale Verortung, die darüber mitentscheidet, welcher Impuls welche Feldstärke hervorruft. Zugleich aber rüttelt die Erfahrung an der Positionalität eines leiblichen Selbst, verstrickt es weiter, öffnet neue Räume oder stellt es vor unlösbare Aufgaben.402 Daher stellt Leiblichkeit weder einen einfach regional begrenzten und klar kartierbaren Bereich dar, in den ein diesem gänzlich fremdes Selbst von außen eindringen könnte, um in diesem nach Belieben zu herrschen, noch ist der Leib als ein unbeteiligtes sekundäres Integral aus Körper, Seele und Geist zu verstehen. Der Leib ist gewissermaßen der „Gesichtspunkt aller Gesichtspunkte“403, wie es Bernhard Waldenfels formuliert, ist jedem reflexiven Bezug voraus und wirkt zugleich zurück auf die Art und Weise, wie uns dieses oder jenes begegnet.404 Die Ambivalenz der Rede vom Leib zeigt sich auch in der von Helmuth Plessner pointiert getroffenen Unterscheidung, dass der Mensch einerseits sein Leib ist, während er seinen Leib aber zugleich als Körper hat.405 Der Körper tritt weder einfach als ein Außen des Leibes noch als ein reines Naturding in Erscheinung. Vielmehr ermöglicht erst die leibliche Verfasstheit eine Positionalität, die Erfahrungs- und Wahrnehmungsräume konstituiert.406 Schließt leibliche Verfasstheit Erfahrung von Materialität mit ein, geht sie doch nicht in dieser auf. Als Körper kann der Leib mehr oder weniger materialisiert werden, was ganz selbstverständlich dann passiert, wenn er trainiert, optimiert oder operiert wird, und schießt zugleich auch über seine reine Materialisierung hinaus. Dies zeigt sich nicht nur in den medizinethischen Debatten über den Umgang oder Nicht-Umgang mit bestimmten Körpersubstanzen und -teilen, sondern auch in anderen Tätigkeitsbereichen wie dem Zeichnen einer Skizze oder dem

402 Erfahrung, so pointiert Peter Sloterdijk, ist, „was eine Wendung des Subjekts gegen sich selbst bewirkt und die vernichtende Befreiung von einer Vormeinung mit sich bringt.“ Sloterdijk (2013): Reflexionen eines nicht mehr Unpolitischen, 36. 403 Waldenfels (2000b): Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, 9. 404  Siehe auch: Fuchs (2000): Leib, Raum, Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie, 333. 405  Vgl. Plessner (1975a): Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, 294. 406  So führt Nancy aus, dass der Körper der Existenz stattgibt, gewissermaßen also in einem Überwältigungsakt zur Präsenz kommt und erst in diesem Stattgeben als eine Posi­ tionalität erschließbar wird. Vgl. Nancy (2000): Corpus, 18.

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Schreiben eines Textes. Ebenso wie es einen durchaus relevanten Unterschied macht, wessen Hand es war, die bei vermeintlich gleichem Ergebnis einen Text verfasst, eine Skizze erstellt oder ein Bild gemalt hat, wird in einer Misshandlung oder gar Zerstörung eines Leibes mehr zerstört als dessen materiale Verfasstheit. Das Selbst findet sich als Leib vor und kann in den affirmativen wie abgrenzenden Anknüpfungen an seine körperliche Verfasstheit und die damit verbundenen Erfahrungs- und Wahrnehmungsdimensionen einen Selbstbezug herstellen. Ein Selbst in seinem Selbstbezug ist damit nicht nur davon abhängig, als wer oder was es anerkannt wird, sondern kann zugleich auch an den Hürden von zeitlicher wie räumlicher Selbstintegration scheitern, worin, so hat es Paul Tillich betont, auch die Dialektik von ‚Leib sein‘ und ‚Körper haben‘ als eine Polarität von Schicksal und Freiheit verstanden werden kann.407 Ist die körperliche Verfasstheit in ihren Entwicklungen, Bedürftigkeiten sowie Reifungs- und Alterungsprozessen einerseits (schicksalshaft) gewissen Notwendigkeiten unterworfen, kann diese andererseits dennoch nicht einfach nur als ‚immer schon gegeben‘ verstanden werden. Der Grund dafür liegt darin, dass auch die als notwendig erachteten Funktionen gleichsam durch etwaige Widrigkeiten hindurch aufrechterhalten, wiederhergestellt, gestaltet und mitunter modifiziert werden müssen. Von einem leiblichen Selbst zu sprechen bedeutet dann auch, sich einzugestehen, dass in der Beschreibung eines leiblichen Selbst nicht ohne Weiteres klar ist, was als unbedingt gewährleisteter Besitz und was als rein zufällige Attribute gelten muss. Gerade deswegen muss sehr genau auf die Umschlagspunkte zwischen Kontingenz und individueller wie gesellschaftlicher Notwendigkeit geachtet werden.408 Da der Leib weder als reines Naturding noch als reines Geistding verstanden werden kann, wird er zu einem Brennpunkt von Entzogenheit. Er ist, so hat Bernhard Waldenfels betont, gleichsam „sehend und sichtbar, hörend und hörbar, berührend und berührbar“409 und entzieht sich damit einer rein dualistischen Zuordnung in Eigenleib und Fremdleib.410 Vielmehr stellt er sich als sein eigener Spiegel zur Schau, tritt als sein eigenes Echo auf und ist insofern Eigenleib und Fremdkörper in einem. Von der Rückbezüglichkeit des Leibes her eröffnen sich Möglichkeiten des Selbstbezugs, der sich in den Reflexivformen von Verben und Pronomen ausdrückt, noch bevor ein Reflexionsprozess verrichtet sowie die personale Distribution oder auch persönliche Aneignung vollzogen 407 

Vgl. Tillich (1985): Systematische Theologie I/II, 214–218. Merlau-Ponty (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung, 203. „Mein Leib“, so führt Merleau-Ponty an dieser Stelle aus, „ist an den ‚doppelten Empfindungen‘ zu erkennen, die er mir gibt: Berühre ich meine rechte Hand mit der linken, so hat der Gegenstand rechte Hand die Eigentümlichkeit, auch seinerseits die Berührung zu empfinden.“ 409  Vgl. Waldenfels (2012): Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung, 115–117. 410  Vgl. Waldenfels (2009): Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erfahrung, 17 f., 95–126, 127–170. 408  Vgl.

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werden können.411 Es ist kein statisches, festes Selbst, das den Leib als ein Anderes oder sich selbst durch den Leib wahrnimmt, sondern sich selbst leiblich als Anderen und Anderes wahrnimmt: Ich bin mein Leib und doch mehr und anderes als entweder reine Selbstbezüglichkeit oder Körpermaterial. So ließe sich paradox formulieren: Ich bin mein Leib und doch mehr und anderes als dieser.412 Maurice Merleau-Ponty war es,413 der versucht hat, die Wechselseitigkeit zwischen Eigenleib und Fremdleib als Zwischenleib zu denken.414 Was es bedeuten kann, den Leib als Zwischenleib zu denken, soll im Folgenden eingehender untersucht werden. Der Leib, so lässt sich in Anknüpfung an Merleau-Ponty ausführen, präsentiert sich damit (1) als bleibend durchzogen von Elementen der Ambiguität, der Zwei- wie Mehrdeutigkeit. Weder geht der Leib einfach in ‚Geist‘ oder ‚Natur‘ auf, weder lässt er sich einfach in Seele oder Körper unterteilen, noch konfiguriert er sich klarerweise in ein simples Innen oder Außen. Und doch bliebe der Leib in einer solchen ‚Weder-noch‘-Relation unterbestimmt, da eine solche Relation zwar die klare (Möglichkeit der) Zuordnung in die klassischen cartesianischen Unterscheidungen unterläuft; dies geschieht aber nur so, dass an den Unterscheidungen grundsätzlich festgehalten würde.415 Zugleich können Distinktionen nicht umgangen werden, wenn die vertikalen wie horizontalen (Achsen-)Spannungen416 von Leiblichkeit sagbar bleiben sollen.417 Entscheidend ist aber nun, dass die Distinktionen wie etwa Natur und Kultur als relativ verfasste verstanden werden. Leiblichkeit manifestiert sich in Kreuzungspunkten unterschiedlicher individuell-natürlicher wie sozial-kultureller Dimensionen, denen Selbst und Anderes nicht einfach unbeteiligt gegenüberstehen, sondern in denen sie in unterschiedlichen Vollzügen und Lebensformen biologisch wie so411 Vgl. Waldenfels (1999b): Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, 20. 412 Vgl. Waldenfels (1999b): Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, 24. 413  Vgl. Merleau-Ponty (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung, 118. 414  Vgl. Merleau-Ponty (2004): Das Sichtbare und das Unsichtbare, 185 f. So führt Merleau-Ponty aus: „[W]enn er [der Leib, MB] berührt und sieht, so liegen die sichtbaren Dinge nicht als Objekte vor ihm: sie sind um ihn herum, sie dringen in seine Umfriedung ein, sie sind in ihm, sie tapezieren von außen und von innen seine Blicke und seine Hände. Er kann sie nur deshalb berühren und sehen, weil er – verwandt mit ihnen und als solcher selbst sichtbar und berührbar – sein eigenes Sein als Mittel benutzt, um an ihrem Sein teilzunehmen […].“ Merleau-Ponty (2004): Das Sichtbare und das Unsichtbare, 180 f. 415  Vgl. Waldenfels (2000b): Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, 42. 416  Vgl. Sloterdijk (2009): Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, 582–638. Siehe ebenso: Waldenfels (2009): Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erfahrung, 65–94. 417  Vgl. Waldenfels (2000b): Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, 340–360. So setzt die Rede von skalierbaren Dimensionen notwendigerweise distinkte Punkte voraus, da die Dimensionen ansonsten vollkommen inhaltsleer blieben.

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zial involviert sind und wirken. Zugleich drohen aber sowohl die Gestaltungsmöglichkeiten wie auch die grundsätzliche Prekarität der Ambiguität leiblicher Vollzüge unterbestimmt zu bleiben, wo das eine in dem anderen zu verschwimmen droht. Leiblichkeit als Zwischenleiblichkeit zu begreifen kann dann nicht bedeuten, dass ununterscheidbar wird, was der Eine und was der Andere tut oder eben nicht tut, woran er responsiv anknüpft und was derart zur Geltung gebracht wird. Den Leib als Zwischenleib zu denken erfordert vielmehr, ihn von einem chiastischen Verhältnis her zu denken: Naturding und Geistding überkreuzen sich im Leib, ohne dass der Leib als Kreuzungsstelle einfach dem Naturding oder dem Geistding zugeordnet werden kann. Zwischenleiblichkeit markiert dann eine ‚Umschlagsstelle‘ zwischen Innen und Außen, zwischen Natur und Kultur, sodass der Leib sich selbst verdoppelt und dabei Bezugs- wie Entzugsräume bietet: nicht als ein unbeteiligtes neutrales Zwischen, sondern als ein involviertes, mitgerissenes ‚Mit‘.418 Diesem Gedankengang folgend eröffnet sich (2) in der Zwischenleiblichkeit ein Verschränkungsraum für die Rede von einem Eigenleib, der nicht einfach vorhanden ist und in der Interaktion mit anderen Leibern lediglich bestätigt oder gestört wird, sondern einer relativen Differenzierung entspringt und sich insofern von einem fremden Leib abhebt.419 Wäre ein stringenter, unzweifelhafter Selbstbezug möglich, wäre der Leib aus einem Guss und säße dem Selbst wie angegossen, wären alle Fragen, alle Ansprüche die Wiederholung des ewig Gleichen. Die Verdoppelungen von Natur und Kultur, ebenso wie von Selbstbezug und Fremdbezug im Leib blieben dann so lange (vergleichsweise) harmlos, wie ihnen etwas Allgemeines zugrunde läge, das lediglich als exemplarische Konkretion auftritt. Den Leib in seiner Zwischenleiblichkeit zu denken, erfordert sowohl zwischen dem Verhältnis von Eigenleib und Fremdleib und deren Präsentationen als Eigenkörper und Fremdkörper zu unterscheiden, als auch zu betonen, dass Eigenleib und Fremdleib und Eigenkörper und Fremdkörper immer nur relative Differenzierungen darstellen.420 Entsprechend pointiert formuliert Waldenfels: Ein Leib hat „seinen Aufenthalt weder nirgendwo und nirgendwann jenseits von Raum und Zeit, noch kommt er irgendwo und irgendwann innerhalb von Raum und Zeit vor, vielmehr befindet er sich im Hier und Jetzt, dort wo der Zeit-Raum entspringt, in den er sich einordnet.“421 Sehende, Hörende, Fühlende ebenso wie Sprechende und Handelnde treten zugleich in erster, zweiter und dritter Person auf. Die Rede vom Eigenleib bezeichnet dann nicht einen substanziellen Eigenbereich, sondern eine relational verortete Prä418 

Siehe Kapitel 6.1. Waldenfels (2000b): Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, 287. 420  Vgl. Waldenfels (2000b): Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, 287. 421 Waldenfels (1999b): Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, 34. 419  Vgl.

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ferenz/Interferenz, die einen Leib als meinen, deinen oder seinen/ihren Leib bezeichnet.422 Eine Fremdheit, die im Spiegel aufscheint oder im Echo anklingt und in der gleichzeitig eine „Fern-Nähe“423 zum Anderen auftaucht. Peter Dabrock bringt die trans-chiastische424 Verdoppelung der allen symmetrischen Anknüpfungsereignissen vorausliegenden Asymmetrie auf den Punkt, wenn er zum einen eine Präferenz des Eigenen gegenüber dem Fremden „hinsichtlich Ort und Zugänglichkeit“425 sieht und darin auch die unterbrechende Anknüpfbarkeit an die klassischen cartesianischen Denkströmungen betont. Zum anderen ergibt sich die Verdoppelung „aus der spezifisch responsiven Asymmetrie, die der nicht assimilierbare Anspruch des Fremden gegenüber dem Eigenen darstellt.“426 Von einer derart verstandenen responsiven Grundasymmetrie eines pathischen, angerührten und damit immer schon auf einen fremden Anspruch antwortenden leiblichen Selbst eröffnen sich Möglichkeiten einer verantwortlichen Gestaltung intersubjektiver Anerkennungsprozesse.427 Von daher eröffnet sich in der Abstraktion eines Leibes als Körper (3) auch die Möglichkeit wie Notwendigkeit zur Reflexion wie Gestaltung eines selbstbezüglichen Mit-seins. In seiner leib-körperlichen Verfasstheit, in den vielfältigen Modalitäten der Wahrnehmung, Gestaltung und Kontrolle eines Körpers, verkörpert sich ein Selbst in einer (eigenen) Geschichte, einer sozialen Verfasstheit und wirkt seinerseits auf seine Mitwelt ein. Dies bedeutet zugleich, dass sich in den unterschiedlichen Modi des Verhältnisses zu den eigenen Verkörperungen auch unterschiedliche gesellschaftliche Verortungen eines Selbst widerspiegeln.428 Einerseits gilt dies hinsichtlich einer bestimmten habituellen Verfasstheit, andererseits in einem am und mit dem Körper ausgetragenen Widerstreit um die Balance zwischen einem kollektiven Mit-Sein und einer individuellen Ko-Präsenz – um für diese Phänomenbeschreibung die Terminologie Nancys zu bemühen. Kurzum: Zwischenleiblichkeit markiert den Kreuzungspunkt, an dem sich im Antworten auf vor- wie aufgegebene Ansprüche des natürlichen, sozialen und kulturellen Lebens leibliche Präsenzpunkte für einen Selbstbezug 422 Vgl. Waldenfels (1999b): Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, 36. 423 Waldenfels (2000b): Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, 393. 424  Als trans-chiastisch kann die Verdoppelung insofern beschrieben werden, als zwischen Eigenem und Fremdem zwar Knoten und Kreuzungspunkte beobachtet werden können, diese aber nicht mittels fester Koordinaten bestimmbar sind, sondern sich im Berühren bereits wieder verformen und voneinander abweichen. 425 Dabrock (2000): Antwortender Glaube und Vernunft: zum Ansatz evangelischer Fundamentaltheologie, 231. 426 Dabrock (2000): Antwortender Glaube und Vernunft: zum Ansatz evangelischer Fundamentaltheologie, 231. 427  Vgl. Waldenfels (2002): Bruchlinien der Erfahrung, 9. 428  Vgl. Müller, et al. (2011): Körper Haben. Die symbolische Formung der Person.

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eröffnen und in ihrer Gestaltung wie Weiterentwicklung wiederum Anknüpfungsmöglichkeiten für sich, Andere und Anderes eröffnen. Leiblichkeit als Zwischenleiblichkeit zu denken, richtet dann aber (4) den Blick auch noch einmal auf die notwendige reflexive Integrationsleistung leiblicher Verfasstheit. Die unterschiedlichen Abstraktionsformen des Leibes als körperliches, als vernünftiges und als soziales Wesen kreuzen sich ja nicht einfach, sondern wollen immer wieder als Eigenleiblichkeit refiguriert und artikuliert werden: Man kann sich selbst verlieren, sich neu erfinden und sich woanders wiederfinden. Solche Transformationsdynamiken setzen aber voraus, dass sich hinreichende Anknüpfungspunkte für die Einhausung in einen Eigenleib finden lassen. Solche Anknüpfungspunkte sind, wie bereits mit dem Verweis auf einen Normalisierungshintergrund angedeutet worden ist, nicht einfach beliebig, sondern markieren eine zeitliche, topografische wie relationale Positionalität. Maurice Merleau-Ponty hat in seinen zahlreichen Studien immer wieder darauf hingewiesen, dass eine solche Positionalität ein Sichtbarwerden mit und für Andere bedeutet.429 Einen Leib zu haben impliziert folglich, gesehen zu werden, sich zeigen zu können, und bildet die Voraussetzung dafür, um Anerkennung (selbst-)bestimmter Ansprüche ringen zu können. Wie fragil ein solcher Selbstbezug ist, verdeutlicht sich in den Momenten, in denen es einem Selbst nicht mehr gelingt, selbstreferenziell auf die es ereilenden Ansprüche zu antworten. Das kann entweder daran liegen, dass zunehmend keine Vermittlung zwischen den Kreuzungspunkten mehr möglich ist oder aber so viele Anknüpfungspunkte auf einmal gefunden und gesehen werden, dass ein Selbst zugleich hier und dort, zugleich ganz bei sich und völlig außer sich zu sein scheint. Fällt es Demenz- oder Alzheimerkranken zunehmend schwerer, aus der Komplexität von Anknüpfungspunkten einen bestimmten Punkt herauszunehmen, auf den sie antworten wollen, stellt die Schizophrenie gewissermaßen das gegenläufige Phänomen dar, weil die Komplexität der Anschlussmöglichkeiten so weit gesteigert wird, dass der Leib auseinanderzutreten scheint.430 Beispielsweise ist es ein Charakteristikum der Schizophrenie, dass man durchaus noch weiß, wo und wer man ist oder war, aber man fühlt sich nicht dort, ist zugleich ganz woanders und kann keine Verbindung zwischen diesen Positionalitäten mehr herstellen. Ein kurzer Blick in medizinische Kasuistiken kann dies verdeutlichen: ein 31-jähriger Mann, der mit der Beschreibung in der Klinik vorstellig wird, er habe „das Gefühl des Auseinanderfließens, er verliere alle sein Grenzen, alles in ihm zerfalle, er löse sich auf, er könne sich dann räumlich und zur Situation überhaupt nicht mehr orientieren, sein Denken höre auf [und] seine Gefühle seien unkontrollierbar.“431 Oder ein anderer Fall: eine 24-jährige 429 

Vgl. Merleau-Ponty (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung. Beise (2013): Schizophrenie & Bandelow, et al. (2013): Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen (F2). 431  Vgl. Hartwich & Grube (2015): Gegenregulation: Abwehr und Parakonstruktion, 72 ff. 430  Vgl.

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Frau, die mit den Halluzinationen einer Scheinschwangerschaft in die Klinik eingeliefert wird, die so stark sind, dass sie Veränderungen an ihrem Körper bemerkt, Kindsbewegungen spürt und nach einer Zeit mit dem Kind sprechen kann. Selbst die mehrfach variierte und hochdosierte neuroleptische Therapie lindert die Symptome nicht, sodass auch die behandelnden Ärzte daran zu zweifeln beginnen, ob es sich lediglich um eine Wahnvorstellung handelt, und die entsprechenden Ausschlussuntersuchungen vornehmen.432 Für den an Schizophrenie Erkrankten erweist sich der Verlust von Anknüpfungsmöglichkeiten deswegen als derartig tückisch – und war im Verlauf der Geschichte Gegenstand von Missachtung und mitunter auch systematischer Vernichtung –, weil er die Wirklichkeit der betroffenen Person zu zersetzen scheint und der Wahrnehmung eine Quasiwirklichkeit einschreibt.433 Es kommt zu einer Akzentverschiebung in der Wahrnehmung, die mitunter so stark sein kann, dass sich ein mehr oder minder großer Teil der eigenen Selbstbezüglichkeit abspaltet.434 Eine solche Abspaltung kann räumlich, zeitlich und sozial begrenzt sein oder aber sich manifestieren. Maurice Merleau-Pontys Verweis auf die Phänomene einer Quasiwirklichkeit unterstreicht, dass je nach Pathologie die Selbstbezüglichkeit nicht einfach verloren geht. Ein Selbst kann in einer eigenen Welt leben, es kann zumindest partiell frühere oder aktuelle Selbstbezüge durchscheinen lassen oder sich neu erfinden. Als bedeutend für die Unterscheidung stellt sich heraus, ob eine Anknüpfung einen Platz in der jeweiligen intersubjektiven Mitwelt findet und dabei eine direkte oder zumindest indirekte435 übersetzbare Zugänglichkeit zu den Erfahrungsräumen von Mit- und Umwelt hergestellt werden kann. Wenn die leibliche Verortung eines Selbst entsprechend von Phänomenen der Verdopplung, der Entzogenheit sowie einer relationalen Angewiesenheit her verstanden wird, dann muss festgehalten werden, dass die Grenzen zwischen gelingenden Selbstbezügen im Fremdbezug und einer pathologischen Überlagerung solcher Selbstbezüge nicht einfach klar konturiert und scharf gezeichnet, sondern von normierenden Anerkennungsbeziehungen abhängig sind. Was in einer Gesellschaft noch als normal und was bereits als pathologisch verstanden wird, wird nicht unmittelbar aus einer empirischen Betrachtung von medizinischen Parametern gewonnen, sondern die Interpretation einer biologischen Verfasstheit als normale oder pathologische Devianz untersteht ihrerseits wie432 Vgl. Hartwich & Grube (2015): Gegenregulation: Abwehr und Parakonstruktion, 91–94. Siehe ebenso die eindrucksvollen Schilderungen Merleau-Pontys unter Rückgriff auf medizinische Fallstudien: Merleau-Ponty (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung, 385. 433  Vgl. Merleau-Ponty (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung, 386 ff. 434  Vgl. auch: Waldenfels (2000b): Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, 143. Zur medizinischen Reformulierung siehe auch: Tölle & Windgassen (2014): Psychiatrie. Einschließlich Psychotherapie, 97–123. 435  Vgl. auch Kapitel 7.2.

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derum prägenden Achtungs- und Anerkennungsverhältnissen. Diese Spannung in Richtung eines rein medizinischen Empirismus aufzulösen würde negieren, dass eine rein naturwissenschaftliche Betrachtung des Leibes (als Körper) eine methodische Engführung darstellt. Die Reduzierung des Leibes auf eine zu untersuchende und mitunter auch wiederherzustellende biomedizinische Materie ist gleichermaßen notwendig wie insuffizient – als eine solche Perspektivierung des Leibes jedoch selbst wiederum eine kulturelle Errungenschaft.436 Die umgekehrte Einseitigkeit, nämlich die Auflösung der erwähnten Spannung zwischen Biologie und Anerkennung oder zwischen Zwischenleib und Körper in Richtung eines reinen Kulturalismus des Leibes stünde ihrerseits in der Gefahr, sich einer schieren Beliebigkeit auszuliefern, die ihrerseits in Gewalt umzuschlagen droht.437

6.5 Gewürdigte Anerkennung Sowohl Axel Honneth als auch Judith Butler haben betont, dass die rechtlichen und solidarischen Anerkennungssräume zwischen Selbst und Anderem so gestaltet sein müssen, dass einer jeden Person prinzipiell die gleichen Möglichkeiten zur Verfügung stehen, ihre Ansprüche auf Anerkennung zur Geltung zu bringen. Die Entscheidung darüber, welche Gestaltungsräume sich einem Selbst eröffnen und verschließen, und auf welche Art und Weise sich ein Band zwischen singulären Ko-Präsenzen knüpft, so ist in den Analysen zu Nancy und Waldenfels deutlich geworden, vermittelt sich über leibliche Erfahrungsräume. Entsprechend akzentuiert formuliert Peter Dabrock: „Anerkennung unter Menschen vermittelt sich leiblich – diese Bestimmung meint nicht nur eine je aktuelle Interaktion unter Anwesenden, sondern rekurriert darauf, dass wir den anderen Menschen immer schon als leiblichen erfahren haben und ihn so denken und würdigen.“438 Während dem ersten Gedanken einer den Anerkennungsprozessen vorausliegenden leiblichen Erfahrung bereits ausführlich nachgegangen wurde, stellt sich erneut die Frage, wie die Modi einer vorgängigen Würdigung verstanden werden können. An dieser Stelle bedarf es keiner langwierigen Explorationen aktueller wie geschichtlicher Vollzüge, um zu sehen, dass eine solche vorgängige Würdigung offenkundig nicht gleichbedeutend ist mit einer 436  Vgl. Waldenfels (2000b): Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, 253. 437  Das wird nicht zuletzt an den zahlreichen Irrungen und Wirrungen im Umgang mit psychischer Krankheit deutlich, welche durchaus als eine Geschichte der Aus- und Abgrenzung verstanden werden können, wie nicht nur in Arbeiten Michel Foucaults (vgl. Foucault (1973): Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft), sondern auch in jüngeren Arbeiten deutlich wird. Vgl. exemplarisch: Schott & Tölle (2006): Geschichte der Psychiatrie. 438 Dabrock (2010b): „Leibliche Vernunft“ Zu einer Grundkategorie fundamentaltheologischer Bioethik und ihrer Auswirkung auf die Speziesismus-Debatte, 244.

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konkreten individuellen wie gesellschaftlichen Würdigung leiblicher Vollzüge. Die Würdigung leiblicher Vollzüge müsste sich also immer wieder daran messen lassen, inwieweit sie in Gestaltungsrahmen übersetzt wird, die eine individuelle wie kollektive Aushandlung von Geltungsansprüchen ermöglichen, und – darauf hat Judith N. Shklar aufmerksam gemacht439 – vor allem daran, inwieweit diese Gestaltungsrahmen in der Lage sind, Grausamkeit zu verhindern. Grausamkeit versteht Shklar zunächst einmal ganz umfänglich als eine der schlimmsten Verletzungen, die Menschen widerfahren können. Die Furcht vor Erfahrungen von systemischer Demütigung, Missbrauch und Verletzungen rekonstruiert Shklar, ebenso wie andere philosophische Denker, als fundamentale Grundlage leiblichen Seins.440 Shklar versucht, ausgehend von dieser Beobachtung, über die Figur der ,Furcht vor der Furcht‘ eine politische Verfasstheit von Anerkennungsbeziehungen zu entwickeln, die, anders als zum Beispiel bei Hannah Arendt, als ihren primären Ankerpunkt nicht ein Streben nach öffentlicher Freiheit, sondern die Vermeidung von politischer Willkür und individueller Furcht setzt.441 Shklar negiert gar nicht die prinzipielle Bedeutung von politischen Strukturen zur Umsetzung individueller Geltungsansprüche und Freiheitsräume. Dennoch ist einem Kampf um die Anerkennung unterschiedlicher Geltungsansprüche zugleich die Gefahr inhärent, dass ein intensiv verfolgtes Freiheitsstreben in Gewalt umschlagen kann. Grausamkeit in Kauf zu nehmen, um ein individuelles oder kollektives Freiheitsziel zu erreichen, beinhaltet aber nicht lediglich eine abstrakte Bedrohung, sondern impliziert die manifeste Widerfahrnis von Gewalt für konkrete leibliche Vollzüge. Shklar betont, dass nicht selten diejenigen Menschen Opfer von Grausamkeit sind, die ihre Ansprüche bislang nur unzureichend zur Sprache bringen konnten, sei es, weil ihre Stimme nicht gehört, ihren Ansprüchen keine Bedeutung beigemessen wurde oder sie gar als Bedrohung der eigenen Freiheitsräume ausgesperrt werden.442 Shklar sieht aber auch, dass Elemente von Grausamkeit notwendigerweise zum ‚Zwangsapparat‘ der Durchsetzung von Geltungsansprüchen gehören, da es nur so möglich ist, gegen ungleiche Machtverhältnisse zu opponieren.443 Wie am439  Vgl. Shklar (2013): Der Liberalismus der Furcht, Shklar (1999): Über Ungerechtigkeit. Erkundungen zu einem moralischen Gefühl. 440  Vgl. hierzu auch: Shklar (2013): Der Liberalismus der Furcht, 44. Bereits die ‚Furcht vor der Furcht‘, so zeigt Hirsch im Anschluss an Shklar auf, erweist sich als sensibel für das jeweilige Klima und die Rahmenbedingungen der sozialen Beziehungen, in denen Menschen miteinander leben. Vgl. Hirsch (2014): Furcht vor Verletzungen. Anmerkungen zu Judith ­Shklars ‚Liberalismus der Furcht‘, 669. Der Normierungshintergrund, wie mit Waldenfels formuliert werden könnte, ist also auch maßgeblich von den Anknüpfungsmodalitäten abhängig. 441  Vgl. Hirsch (2014): Furcht vor Verletzungen. Anmerkungen zu Judith Shklars ‚Liberalismus der Furcht‘, 669. 442  Vgl. auch: Liebsch (2010): Renaissance des Menschen? Zum polemologisch-anthropologischen Diskurs der Gegenwart, 232. 443  Vgl. Shklar (2013): Der Liberalismus der Furcht, 44.

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bivalent und vielschichtig die Machenschaften von Grausamkeit sind und wie tief verwoben diese zugleich mit dem leiblichen Da-Sein sind, erläutert S­ hklar am Beispiel des Verrats. Der Verrat scheint zunächst einmal ein sehr leicht durchschaubares Phänomen zu sein. Jemand schenkt einer Person Vertrauen, ist von der Loyalität eines Gegenübers überzeugt und wird dann in seinem Vertrauen enttäuscht und fühlt sich verraten.444 Bei genauerem Hinsehen werden die Dinge komplizierter. Ein erster Stolperstein legt sich in den Weg, so fährt ­Shklar fort, wenn man zwischen einem Gefühl des Verrats und einem empirisch nachweisbaren Verrat zu unterscheiden beginnt. Eine Person kann sich verraten fühlen, ohne dass unbedingterweise ein Verräter auszumachen ist; etwa wenn man feststellt, dass ein Gegenüber nicht mehr die Person ist, die sie einmal war, eine Gruppe die bisherigen Regeln für nichtig erklärt oder aber man sich selbst nicht mehr versteht oder wenn Körper oder Geist einem einen Streich spielen.445 Darüber hinaus ist auch nicht ohne Weiteres klar, inwiefern ein Verratener immer ‚nur‘ Opfer ist: Man kann zu einem Verrat einladen, man kann sich oder Andere so überfordern, dass ein Verrat als einziger Ausweg erscheint.446 Ebenso können Vertrauen und Treue in einer komplexen und sich beschleunigenden Welt zu einem derart knappen und komplexen ‚Gut‘ werden, dass der Verrat zu einer gesellschaftlichen Norm wird, was ihn noch nicht rechtfertigen, ihm aber zumindest den Schrecken nehmen würde. Zugleich kann eine bestimmte Form des Verrats, wie beispielsweise der Hochverrat oder der Landesverrat, unter einen solch besonderen Missachtungsbann gestellt werden, dass andere Formen Teile der Aushandlung von Anerkennungsansprüchen werden. Grausamkeit, so lässt sich konstatieren, kann im Verhalten von Menschen untereinander oder als Folge institutioneller Arrangements nicht vollständig ausgeschlossen werden, da sich in manchen Modi der Grausamkeit zuallererst Anknüpfungsmöglichkeiten auftun. Der Grund, warum Grausamkeit sich mitunter nicht verhindern lässt, liegt unter anderem wiederum in den Ambiguitätsbezügen leiblicher Verfasstheit. Gerade weil der Leib in seiner Ambiguität durchzogen ist von Verdopplungs- und Spaltungsbewegungen, weil er eingebettet ist in responsive Anspruchsreliefs, weil er eine Um- und Mitwelt hat und weil sich ein Selbstbezug zuallererst in einem Fremdbezug eröffnet, ist er vulnerabel und so affin für die Machenschaften der Grausamkeit. Den Aushandlungsprozessen und Kämpfen intersubjektiver Anerkennung kommt eine wesentliche Bedeutung zu, weil in ihnen Geltungsräume errichtet werden, in denen Selbstbezüge bestimmt, verrechtlicht und solidarisch entfaltet werden können. Shklars Überlegungen machen aber noch auf einen weiteren wichtigen Punkt aufmerksam: Eine solch grundlegende Verletzbarkeit von Zwischenleib444 

Vgl. Hirsch (2000): Notwendige und unvermeidliche Gewalt? Zur Rechtertigung von Gewalt im philosophischen Denken der Moderne. 445  Vgl. Shklar (2014): Ganz normale Laster, 160. 446  Vgl. Shklar (2014): Ganz normale Laster, 161 ff.

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lichkeit447 kann nicht einfach aus der Aushandlung von Geltungsansprüchen ausgeklammert werden. Ein responsiv-leibliches Selbst ist deswegen ein verletzbares Wesen, weil es für seinen Selbstbezug wie seine Selbstverwirklichung grundlegend auf die Anerkennung von Anderen angewiesen ist. Eine solche Anerkennung kann der ihr damit zukommenden Aufgabe jedoch nur dann gerecht werden, wenn sie als ein Ineinander von fundierend-asymmetrischer Responsivität und dem Anspruch auf eine symmetrische Aushandlung von Geltungsansprüchen entfaltet wird. Wie Steffen Herrmann in Auseinandersetzung mit Werken von Hegel und Lévinas ausführt, ist Anerkennung daher eng mit Verantwortungsübernahme gekoppelt.448 Gerade weil ‚wir‘ verletzliche Wesen sind, weil leibliche Selbstbezüglichkeit in hohem Maße Grausamkeit ausgesetzt ist, steht das Selbst in einem unumgänglichen Verantwortungsanspruch – jedenfalls angesichts der Vulnerabilität eines anderen Menschen. Die Übernahme von Verantwortung für etwas und vor jemandem449 ist dann nur vor dem Hintergrund einer pathischen Affizierung möglich. In einer solchen Widerfahrnis, verstanden als ein Geschehen, das ein Selbst anrührt, ihm zuvorkommt und – wie Judith Butler betont hat – mitunter auch verletzt, kommt ein heteron ins Spiel,450 durch welches die Differenz im Selbstbezug eines Selbst als Differenz zuallererst gestaltbar wird.451 Eine solche Differenz markiert nicht eine einfache Distinktion der Art, dass fein säuberlich auf der einen Seite dieses und auf der anderen Seite der Grenze jenes lokalisiert wäre. Vielmehr geht es um eine Differenz, die als ein Zwischenereignis gedacht wird, als eine Diastase, welche die

447  Bernhard Waldenfels spricht auch von einer Sphäre der Verletzlichkeit, die in Gewalt an Leib und Leben umschlagen kann. Vgl. Waldenfels (2000a): Aporien der Gewalt, 9. Siehe hierzu ausführlich Kapitel 6.4. 448  Steffen Herrmann betont, dass es sich bei der Verletzbarkeit um eine symbolische Verletzbarkeit handelt. Damit folgt er gewissermaßen der Argumentationslogik Hegels und stärker noch Axel Honneths, indem er davon ausgeht, dass mit Missachtung der soziale Tod einer Person einhergeht. Ein solch sozialer Tod wiederum ist gleichbedeutend damit, dass ein Wesen seine Ansprüche nicht mehr zur Geltung bringen kann, was im Endeffekt zu einer Unsichtbarkeit dieser Person führt. Demgegenüber ist in Anknüpfung an die Arbeiten von Judith N. Shklar jedoch einzuwenden, dass die Verletzbarkeit eines leiblichen Selbst nicht hinreichend erfasst wird, wenn man sie vorrangig oder gar ausschließlich als eine symbolische verortet. Verletzbarkeit reicht tiefer, weil es durchaus denkbar ist, dass eine Person zwar sozial anerkannt ist, aber dennoch – oder mitunter auch gerade deswegen – Opfer körperlicher Verletzbarkeit wird. Vgl. Herrmann (2013): Symbolische Verletzbarkeit. Die doppelte Asymmetrie des Sozialen nach Hegel und Lévinas. 449  Vgl. Herrmann (2013): Symbolische Verletzbarkeit. Die doppelte Asymmetrie des Sozialen nach Hegel und Lévinas, 113 ff., 149–159, 208. 450 Waldenfels (2010a): Responsive Ethik zwischen Antwort und Verantwortung, 73. 451  Vgl. Waldenfels (2002): Bruchlinien der Erfahrung, 9, 15, 54. Gegenwärtigkeit, so Lévinas, wird erst durch eine Gegenwärtigkeit der Differenz erreicht, eine Differenz, „die zugleich ein Sich-Verlieren und ein Sich-Wiederfinden in der Wahrheit ist.“ Lévinas (1992): Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, 253.

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Gestaltungskraft der Erfahrung bezeichnet, „die etwas oder jemand entstehen lässt, indem sie auseinandertritt, sich zerteilt, zerspringt.“452 Insofern Selbst und Anderer sich in Zwischenereignissen verortet finden, versteht Waldenfels Selbstbezüglichkeit als vorgängig getroffen,453 weil das, was einem Selbst zustößt, was es anspricht, sich immer schon in dem Moment ereignet hat, wenn ein Selbst auf einen Anspruch antwortet.454 Wenn im Möglichkeitsraum einer Antwort auf ein Widerfahrnis455 sowohl das, was ein Selbst zur Antwort veranlasst, als auch die Möglichkeit eines Selbstbezugs überhaupt erst zutage tritt, 456 folgt daraus nicht nur, dass ein jeder Selbstbezug durch eine grundsätzliche Nachträglichkeit gekennzeichnet ist, sondern ebenso, dass dieser grundsätzlich von Widerfahrnissen der Verletzbarkeit durchzogen ist. Bereits in der Auseinandersetzung mit den Arbeiten Judith Butlers war deutlich geworden, dass die Eröffnung von Möglichkeitsräumen eines Selbstbezugs mit Prozessen der Subjektivation verbunden ist, die eben in sich ambivalent sind. Sie eröffnen einerseits zuallererst die Möglichkeit eines Selbstbezugs, durchziehen ein solches Selbst zugleich aber mit Widerfahrnissen einer grundlegenden Verletzbarkeit,457 einer Verletzbarkeit, die ein Selbst gerade in Momenten vermeintlich innigster Vertrautheit am anfälligsten sein lassen.458 Zugleich geht die Rede von einem Selbst als einem Antwortenden und damit Verletzlichen jedoch nicht in der Beschreibung eines Antwortens auf einen Anspruch auf. Denn für die konkrete Selbst-Bestimmung eines Selbst ist nun entscheidend, wie und als was ein Selbst auf das worauf seiner Antwort antwortet.459 Darauf hinweisend, 452 Waldenfels

(2002): Bruchlinien der Erfahrung, 9. Vgl. Waldenfels (2015): Sozialität und Alterität. Modi sozialer Erfahrung, 118. Ulrich Körtner hat zu Recht noch einmal betont, dass sich die den Handlungsvollzügen innewohnende Passivität nicht ohne Weiteres in eine Handlungsanleitung überführen lässt. Vielmehr treten auch hier Spaltungen, Verdopplungen und Widerfahrnisse auf. Vgl. Körtner (2010): Leib und Leben. Bioethische Erkundungen zur Leiblichkeit des Menschen, 87. Ungleich ausführlicher: Stoellger (2010): Passivität aus Passion. 454  Vgl. Waldenfels (2002): Bruchlinien der Erfahrung, 54 ff. 455  ‚Widerfahrnisse‘ zeichnen sich dadurch aus, dass die jeweils erlittenen Wirkungen die Möglichkeiten überschreiten. Vgl. Waldenfels (2002): Bruchlinien der Erfahrung, 58. 456  Vgl. Waldenfels (2002): Bruchlinien der Erfahrung sowie ebenso: Waldenfels (2009): Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erfahrung, 64, 76, 174. 457  Welche nicht nur offen für die Widerfahrnis von Gewalt ist, sondern im Umgang mit einer solchen grundsätzlichen Verletzbarkeit selbst in Gewalt umschlagen kann. Siehe auch: Waldenfels (2002): Bruchlinien der Erfahrung, 59 f. 458  Wie perfide anfällig eine solche grundlegende Verletzbarkeit für die Dynamisierungskaskaden der Gewalt ist, die einem Selbst jeglichen Rückhalt zu rauben drohen, zeigt sich nicht zuletzt an den unterschiedlichen Formen familiären Missbrauchs, sowohl im Falle psychischen als auch körperlichen Missbrauchs, durch welchen ein Leib dem Betroffenen nur noch als vernutzter Fremdkörper erscheinen kann. Den Überschlag in solche Gewaltexzesse zu verhindern, ist dann Aufgabe wie Bewährungsfeld der gesellschaftlichen Gestaltung und Bezeugung von Anerkennungsansprüchen. 459  Vgl. Liebsch (2003): Freiheit und Verantwortung angesichts der Herausforderung radikaler Gewalt. 453 

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dass mit und in dem Sagen einer Antwort zugleich etwas als etwas zur Geltung gebracht wird, betont Emmanuel Lévinas den stellvertretenden Charakter der Übernahme von Verantwortung: Wir gehen immer schon vom Ort des Anderen aus, wenn wir etwas aus freien Stücken unternehmen.460 Insofern ist die responsive Asymmetrie dann auch als eine Verantwortungsasymmetrie zu verstehen. Verantwortungsasymmetrie in dem Sinne, als dass sich die Prä-/Interferenz des Eigenen als ein Verantwortungsauftrag gegenüber Ansprüchen, die über die Schwelle drängen, figuriert.461 Es ist aber zugleich Vorsicht geboten, aus der konstatierten responsiven Asymmetrie ein direktes Folgeverhältnis zur Verantwortungsübernahme zu folgern, wie dies in Ansätzen bei Lévinas und jüngst auch bei Steffen Herrmann den Anschein haben kann. So folgert Herrmann in Anknüpfung an Lévinas’ Ausführungen in Totalität und Unendlichkeit, dass „in der Situation von Angesicht zu Angesicht eine Verantwortung entsteht, die sich zum einen als symmetrische Verantwortung – in der Selbst und Anderer den gleichen moralischen Status besitzen – und zum anderen als asymmetrische Verantwortung – in welcher dem Anderen ein bevorzugter moralischer Status zukommt – konfiguriert.“462 Demgegenüber lässt sich mit Paul Ricœur und Burkhard Liebsch einwenden, dass Verantwortung nicht einfach entsteht und auch nicht ohne Weiteres einen moralischen Status zuschreibt. Sie ist in einem hohen Maße davon abhängig, von wem sie auf welche Weise gestaltet wird: Inwiefern wird in ihr Zeugnis von einer unaufhebbaren, responsiv-leiblichen Asymmetrie gegeben und in einem solchen Zwischen verstrickt und involviert nach symmetrischen Geltungsräumen gefragt? Dem ist im Folgenden nachzugehen.

6.6 Selbst-Bezeugung zwischen Zeugnis und Bekenntnis Aus der Auseinandersetzung mit Studien von Axel Honneth, Michel Foucault und Judith Butler ergab sich bereits, dass allen Bemühungen um wechselseitige und symmetrische Anerkennungsansprüche eine bleibende Asymmetrie zugrunde liegt. Über die Figur der doppelten Ambiguität der Subjektivation war ein erster Hinweis darauf gefunden worden, dass sich erst in einer responsiven Asymmetrie ein Möglichkeitsraum für auf Symmetrie zielende Anerkennungsprozesse eröffnet. Hingegen ist im Gang der Untersuchung deutlich geworden, dass eine solche responsive Verortung nicht alleine als ein Gestellt-Sein in eine unpersönliche Anrede durch grundlegende Normen und Konventionen verstanden werden kann. Vielmehr ist die Möglichkeit eines Selbstbezugs 460 

Vgl. Lévinas (1992): Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, 304. Vgl. Waldenfels (2002): Bruchlinien der Erfahrung, 60 & Waldenfels (2015): Sozialität und Alterität. Modi sozialer Erfahrung, 81–85. 462  Vgl. Herrmann (2013): Symbolische Verletzbarkeit. Die doppelte Asymmetrie des Sozialen nach Hegel und Lévinas, 209. 461 

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als eines responsiv-leiblichen von einem konstitutiven Fremdbezug her entfaltet worden. Solch ein responsiv-leiblicher Selbstbezug ereignet sich aber – an dieser Stelle sind die Hinweise von Honneth, Foucault, Butler und nicht zuletzt Waldenfels wiederum sehr ernst zu nehmen – nicht einfach in einem luftleeren Raum, sondern kommt in konkreten Situationen und Interaktionen zur Geltung. In Berührung gelangt das Selbst mit einer solchen Vorgängigkeit der Anrede durch die Art und Weise, wie es aufgefordert wird, sich zu einem konkreten Anderen zu verhalten und damit Auskunft über das Verhältnis zu sich wie zu dem Anderen zu geben. Mit Blick auf die Verhältnisbestimmung von konkreter Interaktion und zugrunde liegenden Normen und Ordnungsmustern lassen sich gewissermaßen zwei Abgrenzungslinien ziehen. Auf der einen Seite befindet sich Foucaults Hinweis, dass Selbst und Anderer immer schon in normativen Ordnungszusammenhängen stehen und diese Ordnungszusammenhänge zugleich in ständiger Relation zu den Selbstkonzeptionen stehen.463 Auf der anderen Seite kann gewissermaßen Hans Georg Gadamers Hinweis platziert werden, dass es außerhalb der konkreten Interaktion als gelebter Zweisamkeit eine reflexiv verallgemeinerte Form von Intersubjektivität geben kann, ohne dass dadurch der Makel der Entstellung und Distanzierung in das Verhältnis von Selbst und Anderem eingetragen würde.464 Während Foucault in seinen Studien Gefahr läuft, die konkrete Interaktion zwischen Selbst und Anderem grundsätzlich aus den Augen zu verlieren, ist es in der Konzeption Gadamers undenkbar, dass sich Selbst und Anderes in der geteilten Perspektive eines generalisierten Anderen begegnen, ohne dass deswegen dem jeweiligen Gegenüber sogleich seine Besonderheit genommen wird. Gewissermaßen in der Argumentationslinie von Judith Butler versucht Thomas Bedorf einen Weg zwischen den beiden exponierten Polen zu finden. Bedorf geht, ebenso wie Foucault und Gadamer, davon aus, dass es für die Genese eines Selbst zu einem Subjekt, oder in der Terminologie Gadamers gesprochen: eines ,Ich‘ und eines ,Du‘,465 eines äußeren Anstoßes bedarf. Für die Verhältnisbestimmung von grundlegender Responsivität und konkreter Interaktion wären nun drei unterschiedliche Szenarien denkbar: Erstens könnte man argumentieren, dass aus der grundlegenden leiblichen Responsivität ein idealtypisches Schema gewonnen wird, welches dann in der Begegnung 463  Vgl. Foucault (1992): Was ist Kritik?, 27 ff. Zur Auseinandersetzung mit der generellen Bedeutung von Kritik – nicht nur, aber auch – für die Bildung von Subjekten vgl. Jaeggi & Wesche (2009): Was ist Kritik? und insbesondere den Beitrag von Judith Butler zur Auseinandersetzung mit dem Aufsatz von Foucault: Butler (2009): Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend. 464  Vgl. Gadamer (2010): Wahrheit und Methode: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (GW1), 343 f. So führt Gadamer in Auseinandersetzung und inhaltlicher Anlehnung an Heideggers Verständnis des ‚man‘ aus, dass die höchste Form intersubjektiver Anerkennung durch echte menschliche Beziehungen im Modus der Offenheit füreinander besteht. 465  Vgl. Gadamer (1987): Ich und Du (K. Löwith) (1929).

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mit einem konkreten Du zur Anwendung kommen würde. Das Selbst hätte schon eine Vorahnung von dem, wie die Interaktion mit dem Anderen ‚eigentlich‘ ablaufen sollte. Mit einer solchen Verhältnisbestimmung, wie sie Gadamer als kritische Folie vor Augen hat, wäre hinsichtlich einer genaueren Bestimmung der wechselseitigen Intersubjektivität aber nicht viel gewonnen. Vielmehr würde der konkrete Andere nicht mehr als eine eigenständige Entität außerhalb eines Selbstbezugs sichtbar sein, sondern würde durch den beständigen Abgleich zwischen optimaler und tatsächlicher Interaktion instrumentalisiert. Zweitens könnte man überlegen, inwiefern das Verhältnis zwischen leiblicher, grundlegender Responsivität und konkreter Interaktion sich derart ausgestaltet, dass in einem wechselseitigen Wissen um ein Person-Sein des jeweils Anderen bereits eine vorgreifende Deutung der Ansprüche des Anderen vorhanden ist. In einem solchen Szenario wäre dann aber nur schwerlich eine Unterscheidung stiftende Differenz zwischen den vonseiten eines Selbst projizierten und den von einem Anderen tatsächlich artikulierten Ansprüchen möglich. Scheitert die konkrete Interaktion in dem ersten Fall an dem beständigen Abgleich zwischen (vermeintlich) optimaler und tatsächlicher Reaktion, scheitert sie im zweiten Fall an einem unaufhörlichen Abgleich zwischen erwarteter und tatsächlicher Reaktion. In beiden Fällen aber bliebe das Selbst in einer superioren Rolle, würde den Spielrhythmus vorgeben und befände sich doch außerhalb der Interaktion. Beide Verhältnisbestimmungen ließen ein Fanal für eine vorgängige Ganzheit des Selbst sichtbar werden, die sowohl die Stimme des Anderen zum Ersticken brächte als auch die Konstruktion eines Selbst verunmöglichte. Gegen eine solche Verhältnisbestimmung wendet sich Thomas Bedorf, indem er die Vorgängigkeit einer fremden Forderung, verstanden als Ausdruck eines Beginns des Selbst an einer anderen Stelle als bei ihm selbst, als Strukturmoment der Erfahrung zu entfalten versucht. In Anlehnung an Lévinas’ Rede von der bleibenden Differenz zwischen absolutem und konkretem Anderem466 präzisiert Bedorf, dass die bleibende Fremdheit für das Moment am Anderen steht, das in der Identifizierung eines Anderen als dieser oder jener nicht aufgeht.467 Der Fremde ist insofern ein radikal Anderer, als das generelle Vorhandensein von etwas außer meiner selbst noch nicht mit den modalen Differenzen der konkre466  „Der Andere affiziert uns nicht als jemand, den es zu überwinden, einzunehmen, zu beherrschen gilt – sondern als Anderer, der von uns unabhängig ist: Hinter jeder Beziehung, die wir mit ihm unterhalten könnten, taucht er immer wieder als absoluter auf.“ Lévinas (2008a): Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, 124. Vgl. ebenso: Lévinas (1998): Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, 210 f. 467  Jacques Derrida unterscheidet an dieser Stelle zwischen dem Anderen als Inbegriff für etwas oder jemand, der oder das noch nicht einmal einen Namen hat, und einem Fremden, dem ich einen Namen geben kann und der damit zumindest rudimentäre Elemente von Sozialisation aufweist. Vgl. Derrida (2007): Von der Gastfreundschaft, 207 f.

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ten Art und Weise bestimmter Handlungsdispositionen in eins gesetzt werden kann.468 Auch wenn die Interaktionen zwischen Selbst und Anderem sich in sozialen Interaktionsmustern, kulturellen Vollzügen oder institutionellen Konfigurationen ereignen, geht die Andersheit des Anderen nicht in solchen Alteritätsvollzügen auf. Vor diesem Hintergrund spricht Bedorf dann auch von einer primären (oder absoluten) und einer sekundären (sozial konstituierten) Andersheit.469 Anders aber als es zum Beispiel in der Argumentation von Axel Honneth der Fall war, wendet sich Bedorf nun gegen ein Primat des Anerkennens vor dem Erkennen. Vielmehr votiert er auf der Linie der in Auseinandersetzung mit Bernhard Waldenfels gewonnenen Figur eines responsiv-leiblichen Selbst470 für eine Gleichursprünglichkeit von Anerkennung und Erkennen in der Weise, wie sich diese wechselseitig bedingen: „Das Verhältnis beider wäre das einer wechselseitigen Verwiesenheit, so daß wir weder mit der sekundären Andersheit überhaupt umzugehen hätten, wenn die primäre diese nicht in Gang setzen würde, und umgekehrt die primäre Andersheit nie als sie selbst, sondern nur in der reduzierten Form der sekundären Andersheit erscheinen kann.“471 In der Erfahrung einer primären Andersheit als Subjektivation, als Eröffnung eines Möglichkeitsraumes beginnt das Subjekt nicht bei sich, sondern immer schon bei einem Anderen und antwortet insofern immer nachträglich. Im Anspruch der primären Andersheit, auf die das Selbst respondiert, liegt ein imperativer Charakter: Selbst das Verweigern der Antwort stellt dann eine Response auf artikulierte Ansprüche dar.472 Ist das Antworten an sich unausweichlich, so ist die Art und Weise des Antwortens keineswegs determiniert, sondern eröffnet ein Strukturrelief, durch das Handlungsvollzüge ermöglicht und verändert werden. Die grundlegende responsiv-leibliche Verfasstheit eines Selbst geht also nicht ohne Weiteres in wechselseitigen Anerkennungsrelationen auf. Um hier ein methodisch sauberes Werkzeug an der Hand zu haben, unterscheidet Ricœur begrifflich zwischen Gegenseitigkeit (reciprocité) und Wechselseitigkeit (mutualité). Während Wechselseitigkeit darauf verweist, dass sich in der Gabe immer eine Simultanität von Geben und Nehmen ereignet und sich darin zugleich eine Aufforderung zur Erwiderung der Gabe entspinnt, bezeichnet die Gegenseitigkeit gewissermaßen den Prozess, in dem sich Anerkennende und Anerkannte durch das Geben von Gaben ein-ander vergewissern.473 Daher plädiert Paul Ricœur leidenschaftlich dafür, sehr genau hinzuschauen, an welchen Stellen 468 

Vgl. Bedorf (2010b): Verkennende Anerkennnung, 138. Vgl. Bedorf (2010b): Verkennende Anerkennnung, 212. 470  Vgl. Kapitel 6.4. 471  Vgl. Bedorf (2010b): Verkennende Anerkennnung, 139. 472  Vgl. Waldenfels (2007): Antwortregister, 357. 473  Vgl. Ricœur (2006): Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, 282–306. Vgl. hierzu auch die ausführliche Diskussion in: Hénaff (2014): Die Gabe der Philosophen. Gegenseitigkeit neu denken, 165–192. 469 

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ein Kampf um Anerkennungsansprüche in ein Vergessen einer grundlegenden responsiv-leiblichen Asymmetrie umschlägt. Ein solcher Umschlag erscheint in dreifacher Hinsicht prekär:474 Erstens, weil mit der Betonung einer grundlegenden Asymmetrie, die Unersetzlichkeit eines jeden einzelnen Akteurs für die Auseinandersetzung um Anerkennungsansprüche insofern untermauert wird, als dass mit bestimmten Anknüpfungsmustern auch eine bestimmte Positionalität verbunden ist. Zweitens erkennt der Verweis auf die grundlegende responsive Asymmetrie an, dass sich erst in einer pluralen Verfasstheit der Ko-Präsenzen Gestaltungsräume für einen Selbstbezug auftun. Darüber hinaus, so Ricœur, ermöglicht sich in der Dialektik von symmetrischer Gegenseitigkeit und einer asymmetrischen responsiv-leiblichen Verfasstheit eines Selbst ein Ort der Dankbarkeit: „[W]er gibt, ist ein anderer als der, der empfängt; und wer empfängt, ein anderer als der, der erwidert. Im Akt des Empfangens und in der Dankbarkeit, die er erweckt, wird diese doppelte Alterität gewahrt.“475 Ricœur weist mit seiner Argumentation auf zwei wichtige Sollbruchstellen im Verhältnis von responsiv-leiblicher Asymmetrie und der Gestaltung von Geltungsansprüchen hin: Zum einen bedarf der außerordentliche Anspruch, der sich in der Figuration von Zwischenleiblichkeit eröffnet, einer kontinuierlichen Rückbindung an politische Ordnungen, welche er – nach den bisherigen Ausführungen dazu476 – evidenterweise zugleich und sofort durchkreuzt. Indem zum anderen bezeugt wird, dass ein jeder Selbstbezug von Anderen her radikal infrage steht, wird auch deutlich, dass zugesprochene Rechte kein unverlierbarer Besitz, sondern abhängig sind von praktischen Vollzügen: Beispielsweise muss der vielfach – zu Recht – erfolgte Verweis auf die Allgemeingültigkeit der Menschenrechte sich in den praktischen Vollzügen der Aushandlung von Geltungsansprüchen erweisen. Dies geschieht, indem bezeugt wird, dass sich in einem jeden Menschen, eben unabhängig von seiner biologischen oder sozialen Verfasstheit, ein Anspruch artikuliert, als ein Mensch gehört und behandelt zu werden. Kann das Recht Letzteres versuchen zu regeln, entzieht sich das Hören bereits den rechtlichen Vollzügen, indem es ihm vorausgeht und dies übersteigt. Um die besondere Bedeutung zu betonen, die dem Hören zukommt, hat Jacques Rancière darauf hingewiesen, dass der wirksamste Weg, eine politische Existenz zu unterbinden, nicht darin liegt, dass ihre Ansprüche nicht anerkannt werden, sondern darin, dass bereits die Artikulation der Ansprüche überhört wird, indem man sich taub und blind stellt.477 Ebenso wie vor jeder Zählung 474  Vgl. Ricœur (2006): Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, 282–306. 475 Ricœur (2006): Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, 324 f. 476  Vgl. Kapitel 6.3. 477  Vgl. Rancière (2002): Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Sich taub oder blind zu stellen, ist dabei vor dem Hintergrund des bisherigen Gedankengangs auch als eine spezi-

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gezählt wird, wird vor jeder Aushandlung von Anerkennungsansprüchen bereits anerkannt oder eben ausgeschlossen.478 Entscheidende Bedeutung kommt damit der Frage zu, wer grundlegend als ansprechbar und damit als sichtbar verstanden und anerkannt wird. Die essenzielle Bedeutung einer grundlegenden Sichtbarkeit zeigt sich nicht nur an den Erfahrungen bestimmter Ethnien oder Personengruppen, die derart radikal als Fremdes verkannt wurden, dass sie mehr oder minder geräuschlos vernichtet werden konnten, sondern auch darin, dass schon kleine Abweichungen von gesellschaftlich normierter Normalität ausreichen können, um als ‚Luftmenschen‘479 betrachtet zu werden. Label wie ‚psychisch krank‘, ‚Asylsuchender‘ etc. reichen dann mitunter schon aus, um unsichtbar480 (gemacht) zu werden. Solche Ausschließungen, so führt Rancière nüchtern aus, sind generell gar nicht zu vermeiden, aber es kommt entscheidend darauf an, ob es einen echten Streit darum gibt, wer einbezogen wird und wer aus welchen Gründen ausgeschlossen bleibt. Es bedarf aus diesem Grund eines echten Streits darüber, folgert Rancière. Dass ein solcher Streit unvermeidbar ist, dass Politik also weder rein als nüchterne Interessenvertretung zur Wirklichkeitsbewältigung betrieben werden kann noch Politik und Politisches strikt voneinander getrennt werden können, versucht Burkhard Liebsch in Anknüpfung an Ricœur über die Figur der Bezeugung zu verdeutlichen. Insofern sich die Räume eines responsiv-leiblichen Selbstbezugs erst in der Antwort auf einen fremden Anspruch eröffnen, ereignet sich ein Selbst in seinem Selbstbezug als ein zu Bezeugendes. Ein Selbst gibt die Antwort, wer es ist und als was es anerkannt werden möchte, indem es sein Wort hält und gibt.481 Das ambivalente Spiel von Wort halten und Wort geben482 eröffnet sich von der Gabe eines Wortes her: Bezeugung, so eine erste Annährung, verweist darauf, dass jeglicher Aushandlung von Geltungsansprüchen die Zumutung vorausgeht, sein Wort zu geben. Sein Wort zu geben ist für ein Selbst deswegen von solch existenzieller Bedeutung, weil es seinen Selbstbezug nicht einfach hat, sondern dieser eben erst von einem Anderem her eröffnet wird. Insofern bedarf ein Selbst der Bezeugung, weil das Selbst zwischen Vertrauen und Verdacht an-

fische Art der Antwort zu verstehen. Einen Anspruch auf Anerkennung nicht zu hören, ihn zu ignorieren oder zu überhören, entscheidet darüber, welche Möglichkeiten dem Anspruchstellenden gegeben werden, um für seine Anerkennungsansprüche einzutreten. 478  Vgl. auch: Agamben (2006): Die Zeit, die bleibt: Ein Kommentar zum Römerbrief, 70 f. 479  Vgl. Berg (2014): Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher. 480  Siehe hierzu auch den gleichermaßen offenherzigen wie mitunter verstörenden Bildband von Uta Keseling und Reto Klar, der versucht, Obdachlosen eine Stimme zu geben, indem er ihre Geschichten erzählt und sie sichtbar zu machen sucht. Vgl. Keseling & Klar (2014): Unsichtbar: Vom Leben auf der Straße – Obdachlose im Porträt. 481  Vgl. Liebsch (2012): Prekäre Selbstbezeugung, 230. 482  Vgl. Liebsch (2008): Gegebens Wort oder gelebtes Versprechen. Quellen und Brennpunkte der Sozialphilosophie.

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gesiedelt ist, wie bereits Hannah Arendt ausgeführt hat.483 Der Selbstbezug erfährt sich damit als dem Glauben Anderer an die jeweils eigene Selbstkonstruktion überantwortet. Erst in diesem Wechselspiel aus Bestätigung und Enttäuschung von Vertrauen eröffnet sich ein auf Dauerhaftigkeit angelegter sozialer Raum, in dem sich individuelle Selbstbezüge ermöglichen. Die im Wort-Geben eröffnete und vermittelte Positionalität von Selbst und Anderem kann insofern einen dauerhaften sozialen Raum aufspannen, als jedes Anknüpfen an einen fremden Anspruch gleichzeitig über diesen hinausweist und sich damit auch eine Hoffnung auf ein zukünftiges Gehört-Werden verbindet.484 So gerät ein Selbst, welches gar nichts verspricht, zwar mitunter auch nicht in Konflikt, zerstört aber zugleich die Möglichkeit eines sozialen Zusammenlebens. „Wem das Versprechen von einem Anderen her zugemutet oder angesonnen wird, der muss sich als ansprechbares und insofern auch als soziales Wesen erweisen, das man auf die Erwiderung eines Versprechens ansprechen kann.“485 Zugleich aber stehen das fundamentale Angesprochen-Sein und die Aushandlung von Geltungsansprüchen in einem bleibend interdependenten Verhältnis: Wer sich alleine auf das gesprochene Wort verlässt, steht in der Gefahr, zu übersehen, dass ein solches so tief in Vertrauensrelationen eingelassen ist, dass es nur schwer einklagbar ist. Insofern kann nur um den Preis eines bewussten Trugschlusses davon ausgegangen werden, dass Selbst und Anderer immer schon vertrauensvoll aufeinander bezogen wären. Vielmehr muss ein solches Vertrauensverhältnis dadurch praktisch bezeugt werden, dass das zugedachte Vertrauen nicht enttäuscht wird. Zugleich findet das Selbst aber auch im Vertrauen keinen sicheren Halt, da es immer auch dem Vertrauensbruch, dem Verrat ausgesetzt bleibt.486 Lässt sich Vertrauen in etwas noch einigermaßen solide in Wissens- und Erfahrungszusammenhängen kalkulieren, trifft dieses in Bezug auf das zugemutete Vertrauen in jemanden nur bedingt zu. Ein gegebenes Wort kann geprüft werden und im Falle einer Enttäuschung wurde eine Erwartung enttäuscht, was wiederum daran liegen kann, dass diese zu hoch, unrealistisch, übertrieben etc. war. Gleichwohl lässt sich das Vertrauen in ein gegebenes Wort, wie schon Marcel Mauss in seinen Arbeiten zum Gabentausch zeigt,487 aber nicht alleine auf ein Vertrauen in ein bestimmtes Wort reduzieren. Vielmehr gibt sich mit 483 

484 

sein.

Vgl. Arendt (2007b): Vita activa oder vom tätigen Leben, 232, 239–241. Vgl. Ricœur (2006): Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkannt-

485 Liebsch

(2012): Prekäre Selbstbezeugung, 236. Arendts Arbeiten durchziehen genau solche Erlebnisse des Verrats, die im Versuch, sich von dem Anspruch eines Anderen zu befreien und Fremdes zu neutralisieren, in radikale Gewalt umgeschlagen sind. Eine Gewalt, so könnte man zuspitzen, die vor nichts und niemandem haltzumachen droht und jegliche Freiheitsräume vernichtet. Vgl. Arendt (2007a): Über das Böse: Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. 487  Vgl. Mauss (1990): Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften. Siehe auch die Ausführungen in Kapitel 7.1. 486  Hannah

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der Gabe eines Wortes immer auch der Geber selbst. Das gegebene Wort weist also über seinen lokalen Kontext hinaus auf jemanden, der dieses Wort gibt. In einem Vertrauen auf etwas bricht sich auch ein Vertrauen zu jemandem Bahn, sodass Vertrauen über kalkulierbare Wissens- und Erfahrungszusammenhänge (wieder neu) auf den Prüfstand gestellt wird.488 Insofern tangiert eine Krise des Vertrauens auch nicht alleine das gegebene Wort, sondern das Vertrauen in den Geber des Wortes selbst, in das, was er für einen selbst ist und war.489 Vertrauen changiert zwischen einem Vertrauen auf etwas und einem Vertrauen in jemand: Es ist zugleich Bestandteil von taktischen und strategischen Handlungen, kann in vertrauensbildenden Maßnahmen zu erwerben versucht und doch nur begrenzt gelernt oder gelehrt werden.490 Trotz aller Bemühungen, Vertrauen zu erlangen, ist es schneller zerstört als wieder hergestellt. Glaubt man sich in einem Anderen getäuscht, ist das Vertrauen in diesen Anderen in einer Krise, was unmittelbare Rückwirkungen darauf hat, ob und als wer oder was ein Gegenüber wahrgenommen wird. Burkhard Liebsch spricht in Anlehnung an Bernhard Waldenfels’ Terminus der „zwielichtigen Ordnungen“491 von einem „zwielichtigen Subjekt“492. Zwielichtig erscheint ein Selbst einem Anderen nach dem Bruch eines Versprechens, weil mit dem Vertrauensverlust sowohl eigener als auch anderer Selbstbezug ins Trudeln geraten. Wem nicht mehr vertraut werden kann, dessen Selbstbezug „gerinnt in der Selbigkeit eines zweifelhaft erscheinenden oder gar unwahrhaftigen Charakters.“493 Was mit den Vertrauensvorschüssen, -entzügen und mitunter -verlusten damit auf dem Spiel steht, ist nicht nur ein gegebenes Wort, sondern sind die Zukünfte eines Selbstbezugs. Sind responsiv-leibliche Selbstbezüge nur in Fremdbezügen möglich, dann ist jeder Selbstbezug auf die Vertrauenswürdigkeit anderer angewiesen. Vertrauenswürdigkeit bedeutet dann zum einen, dass ein Selbst Gestaltungsräume für die Verwirklichung seiner individuellen Lebensführung erlangt, zum anderen aber, dass es in der Ausübung seiner Freiheit sich als vertrauenswürdig erweist, indem es auf Gewalt gegen sich und andere verzichtet. Der Aufweis einer solchen Vertrauenswürdigkeit changiert seinerseits wiederum zwischen einem Vertrauen auf etwas und in jemand, insofern er nicht bewiesen, sondern lediglich bezeugt werden kann. 488  Vgl. auch: Luhmann (2014): Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. Neben der grundlegenden Unterscheidung von Systemvertrauen und persönlichem Vertrauen kann Vertrauen mit Luhmann als weltvermittelnd verstanden werden, insofern es referenzielle Anknüpfungspunkte an Andere erlaubt. Zugleich wirkt Vertrauen aber auch (system-)stabilisierend, da es Verbindlichkeit schafft und gemeinsame Zukunftshorizonte eröffnet. 489  Vgl. Ricœur (2005): Das Selbst als ein Anderer. 490  Vgl. Ricœur (2004): Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, 252 ff. 491  Vgl. Waldenfels (2013b): Ordnungen im Zwielicht. 492  Vgl. Liebsch (2012): Prekäre Selbstbezeugung, 242. 493  Vgl.: Liebsch (2012): Prekäre Selbstbezeugung, 242.

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Die Rechtfertigung geschenkten Vertrauens artikuliert sich gleichermaßen als Eingeständnis wie als Anspruch: Als Eingeständnis, insofern die gegenseitige Gabe von Vertrauen zwischen Selbst und Anderem in den Handlungsvollzügen so lange als selbstverständlich gilt, wie kein Verrat begangen wird; viel grundlegender noch erfahren sich Selbst und Anderer als dem Verrat ausgeliefert, weil sie auf unebenem Grund stehen und keinen endgültigen Beweis besitzen, dass ein Versprechen, welches heute wohl überlegt und absolut verlässlich wirkt, sich auch zukünftig bewahrheiten wird. Eine solche fundamentale Vulnerabilität durchzieht die leiblichen Vollzüge eines Selbst gleichermaßen wie die Interaktionsverhältnisse von Selbst und Anderem und lässt sich nicht vollständig in rechtlichen Anerkennungsverhältnissen abbilden oder gar auflösen.494 Gerade weil die Grenzen, wie Judith Butler und Judith N. Shklar in ihren Ausführungen exemplarisch gezeigt haben, zwischen Formen von Gewalt die Subjektivation ermöglichen, und Formen von Gewalt, die diese einschränken oder komplett zerstören, fließend sind und Gewalt nicht selten subtile Übergangsformen annimmt, die nicht ohne Weiteres auf den ersten Blick zu erkennen sind, bleiben Selbst und Anderes dem Vertrauen ausgeliefert. Die Gabe von Vertrauen stiftet eine Vertrauenswürdigkeit zwischen Selbst und Anderem, die praktisch bezeugt werden muss, indem antwortend an sie angeknüpft wird. Die Vertrauensbande zwischen Selbst und Anderem stiften eine Vertrauenswürdigkeit, die dadurch (gewissermaßen auf Kredit) gerechtfertigt wird, dass das zugedachte Vertrauen nicht enttäuscht wird. Insofern ist mit jedem Versprechen und mit jedem Vertrauensvorschuss eine Hoffnung verbunden, dass die aktuelle Vertrauenswürdigkeit hält, dass sie sich als stabil, verlässlich und wechselseitig gewinnbringend erweisen wird. Einem solchen Verzicht auf Gewalt – und mit Derrida gesprochen: der sich darin ereignenden Gastlichkeit495 – als eine grundsätzliche Bejahung des Anderen und als ein freiheitlicher Akt der Selbstbeschränkung eignet immer etwas noch Ausstehendes – theologisch gesprochen: eine eschatologische Dimension – an, sodass sich das Versprechen der Gastlichkeit nicht in Beweisketten überführen lässt. Insofern ist auch jeder Vertrauensbeweis kein endgültiger Beweis, sondern ein positionaler Aufweis von Vertrauenswürdigkeit, der Anknüpfungsmöglichkeiten eröffnet, auf die in unterschiedlicher Art und Weise eingegangen werden kann. 496 Die Rede von Vertrauensbeweisen, vertrauensbildenden Maßnahmen etc. entpuppt sich bei 494 

Vgl. Delhom (2007): Das Wagnis des Vertrauens. Vgl. Derrida (2007): Von der Gastfreundschaft. Zur Denkfigur der Gastlichkeit siehe auch: Delhom (2014): Über die Bedingungen einer bedingungslosen Gastlichkeit. 496  Dass Vertrauenswürdigkeit sich erst in den Vollzügen leiblicher Verfasstheit entfalten kann, zeigen auch psychologische Studien, die aufzeigen, wie stark die Vertrauensbildung affektiv durch die körperlichen Äußerlichkeiten geprägt wird. Siehe exemplarisch: Todorov, et al. (2014): Social attributions from faces: determinants, consequences, accuracy, and functional significance. Ebenso kommen weitere Faktoren wie gemachte Erfahrungen und nicht zuletzt die Erfahrungen, die andere mit einem Gegenüber gemacht haben, hinzu. Vgl. Grün495 

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II. Teil: In prekären Verhältnissen

genauerem Hinsehen nicht als eine unmittelbare Generierung von Vertrauen, sondern als eine Maßnahme zur Minimierung von den mit dem Vertrauen einhergehenden Risiken. Da Selbst und Anderer einander im Vertrauen ausgeliefert sind, können unterschiedliche Ver- wie Absicherungen versuchen, einen doppelten Boden unter die fragilen Vertrauensrelationen zu ziehen. Kann dies auf der einen Seite das Vertrauen zwischen zwei Akteuren stärken, etwa indem man gemeinsame Verträge schließt oder aber einen Vertrauensvorschuss durch die Gabe von bestimmten Garantien leistet, schlägt der Versuch, alle Risiken des Scheiterns von Vertrauen abzusichern, geradewegs in Misstrauen um: Nur wenn dem Anderen ein Spielraum der Unkontrollierbarkeit eingeräumt wird, von dem her er bereichern, stören, irritieren, geben, bitten und danken kann, eröffnen sich überhaupt Möglichkeitsräume, in denen sich Selbst und Anderer als vertrauenswürdig erweisen können. Die grundlegende Bezeugung des bleibenden Überschusses eines fremden Anspruchs vollzieht sich, so hatte es bisher geheißen, indem ein Wort gegeben und dieses Wort gehalten wird. Paul Ricœur hat in seinen Überlegungen zu einer Figur der Bezeugung als Zwischenraum auf die grundlegende Bedeutung der Narrativität verwiesen und dies zu einem Theorem der narrativen Identität ausgebaut.497 Im Erzählen von Geschichten und ‚Stories‘498 eröffnen sich einem Selbst Bezugspunkte, um sich narrativ als Selbst und als Anderer Anderen gegenüber zu konstituieren.499 Ein solcher Bezug erfolgt aber nicht unmittelbar, sondern immer erst im Nachhinein: Ein Selbst bestätigt seine Identität immer erst von seinem Ende her, sodass sich auch mit dem letzten Atemzug noch alles ändern kann. Alle Narrationen, die ein Selbst bewirkt, die es erleidet und die es auf sich bezieht, ermöglichen die Ausgestaltung eines leiblichen Selbst.500 Die Geschichten, die ein Selbst auf sich bezieht, sind nicht unbedingt ursprünglich seine Geschichten: es kann sie übernehmen und auf sich beziehen, aber es berg (2014): Vertrauen in das Gesundheitssystem. Wie unterschiedliche Erfahrungen unsere Erwartungen prägen. 497  Vgl. exemplarisch: Ricœur (2005): Das Selbst als ein Anderer & Ricœur (2006): Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein. Ricœur unterscheidet zwischen einer Idem- und einer Ipse-Identität (ähnlich den Unterscheidungslinien, wie sie auch bei George Herbert Mead in der Rede von Me and I artikuliert sind: Siehe Kapitel 4.1). Während die Idem-Identität vorrangig auf den Aspekt der Gleichheit fokussiert, bezeichnet die Ipse-Identität nicht das ,was‘ und ‚wie‘ eines Selbstbezugs, sondern das ‚wer‘. 498  Vgl. hierzu auch: Ritschl (2005): Die Koagulation wiedererzählter “Stories„ auf dem Weg zu differierenden theologischen Lehren. 499  Maurice Halbwachs verweist auf die besondere Bedeutung sozialer Rahmen für Erinnerungen und damit auch für die Möglichkeit, sich selbst in Erzählungen einzurichten und darin ein Zuhause zu finden. Solche Erzählrahmen sind nicht fest vorgegeben, sondern explorieren sich selbst wiederum aus Erzählungen und fokussieren durch die Frequenz wie Einprägsamkeit ihrer Sinnstrukturen als Rahmenerzählungen, die entscheiden, welche Geschichten erzählt und welche Geschichten nicht erzählt werden. 500  Vgl. Merleau-Ponty (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung.

6. Eine Theorie responsiver intersubjektiver Anerkennung

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ist nicht der Urheber. Ein Selbstbezug konstituiert sich an solchen Narrationen, obwohl sie von anderen erzählt werden, sodass jedes individuelle Selbst bereits eine Reduktion im Verhältnis zu solchen umfassenden Geschichten darstellt: Aber genau in der Übernahme solcher umfassenden Geschichten wird das Selbst – wie zuvor schon in den phänomenologischen Skizzen zum Antworten auf fremde Ansprüche dargestellt – ein Anderer oder gar ein sich Fremder. Geschichten eröffnen (nicht einfach gemütliche) ‚Wohnräume‘, in denen Selbstbezeugungen erzählt werden können – wenn auch zugleich offen bleibt, ob sich jede Selbstbezeugung tatsächlich in eine sequenzielle Reihung bringen lässt. An dieser Stelle der Untersuchung wird praktische Selbstbezeugung als über das Konzept der narrativen Identität hinausgehend verstanden: Es ist nicht nur fraglich, ob sich jede Antwort auf einen Anderen erzählen lässt, sondern zugleich weist praktische Selbstbezeugung auf zu gestaltende Zukünfte hin. Auch wenn der Hinweis zutrifft, dass der Selbstbezug sich immer schon als ein anderer vorfindet und ein Selbst damit in der Tat immer ein gegenüber dem vorgängigen Anspruch nachträgliches Antworten darstellt, ist doch auch in jedem gegebenen Wort ein Versprechen enthalten, dass sich in einer Zukunft beweisen muss. Insofern ist Burkhard Liebsch einerseits zuzustimmen, wenn er konstatiert, dass man „auf die praktische, vom Anderen her zugemutete Frage, ob wir das in uns gesetzte Vertrauen rechtfertigen werden“501, nicht narrativ antworten kann, „sondern eben nur so, dass man dieses Vertrauen effektiv zu rechtfertigen sucht.“502 Zugleich kann eine derart erfolgte Bezeugung andererseits durchaus Gegenstand von Erzählungen sein und gerade dadurch wiederum zu einem bezeugten Zeugnis werden: Sagen, zugespitzt verstanden als ein Bezeugen, und Gesagtes, zugespitzt verstanden als Zeugnis, sind ineinander verwoben und lassen sich nicht ohne Verluste in die eine oder andere Richtung auflösen. Eine Auflösung in Richtung des Gesagten würde jedes Sagen eines präferenziellen Selbstbezugs verunmöglichen, eine Auflösung in Richtung des Sagens würde ein Selbst aus den zeitlichen, räumlichen und sozialen Verwebungen mit Anderen und Anderem reißen und damit wiederum jeden Selbstbezug verunmöglichen. Dass Zeugnis und Bezeugung in diesem Sinne weder auf der Ebene des Beobachteten noch auf der des Beobachters einfach zusammenfallen, sondern für sich und in ihrem Ineinander-verwoben-Sein immer wieder kritisch zu hinterfragen sind, kann also als ein Bekenntnis verstanden werden. Bekannt wird, in den Modi der Bezeugung, dass sich die fundamentale Vulnerabilität menschlicher Vollzüge nicht aus den Gestaltungsprozessen der Anerkennung ausklammern lässt und die Frage, was anerkannt wird, immer wieder daran koppelt, wer anerkannt wird.

501 Liebsch

502 Liebsch

(2012): Prekäre Selbstbezeugung, 251. (2012): Prekäre Selbstbezeugung, 251.

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II. Teil: In prekären Verhältnissen

Die Figur der Bezeugung spannt insofern einen modalen Zwischenraum für das Verhältnis einer fundierenden, responsiv-leiblichen Verfasstheit eines Selbst und der Aushandlung von Geltungsansprüchen in Anerkennungsprozessen auf. Mit anderen Worten: Es wird bezeugt, dass der wechselseitigen Aushandlung von Geltungsansprüchen mit all den Anerkennungsverhandlungen und mitunter auch Kämpfen eine grundlegende Form der Anerkennung vorausgeht, die Aushandlungsprozesse zuallererst ermöglicht und daher den bleibenden Stachel eines fremden Anspruches ausdrückt. In einer Selbst-Bezeugung ‚erfährt‘ sich ein Selbst also insofern als ein Gastliches, als es realisiert, dass es den Anspruch eines Anderen nicht nicht vernehmen kann, sondern sich antwortend auf einen fremden Anspruch vorfindet. Zwischen den Akten einer Bezeugung und den jeweiligen Zeugnissen bleibt ein Spalt, da es auch Zeugnisse geben kann, die eine irreduzible Andersheit des Anderen leugnen. Wenn in der Bezeugung an einen fremden Anspruch angeknüpft wird, ist zugleich aber offen, auf welche Art und Weise dies getan wird. Deshalb muss sich auch jedes Zeugnis daran messen lassen, inwiefern es sich als ein vertrauensvolles und gastliches erweisen kann, und bleibt als solches an die Bezeugung zurückgebunden.503 Ausgehend von den Akten der Selbst-Bezeugung lassen sich die Urteile von Zeugnissen hinterfragen und müssen sich daran neu bewähren. Den Spuren einer solchen Bezeugung zu folgen, führt aber zugleich nicht aus den Schwierigkeiten praktischer Gestaltung von Anerkennungsprozessen heraus, sondern vielmehr unmittelbar in diese hinein: Gerade weil sich ein prekäres Selbst als ein leiblich verfasstes erfährt, stellt sich ihm zugleich die Frage, in welchen (individuellen wie politischen) Lebensformen der Stimme des Fremden Gewicht gegeben werden kann, ohne diese als das ganz Andere auszugrenzen oder in eine beliebige Willkür zu verfallen, in der man jeglichen präferenziellen Selbstbezug entbehren müsste.504 Der Bezeugung eines grundlegenden Anspruchs eines Anderen für sich isoliert betrachtet fehlt es an Eindeutigkeit, da nicht einfach nur jemand jemanden anspricht, sondern mit einem solchen Anspruch ein Anspruch auf etwas geltend gemacht wird. Darin liegt der Grund,

503  In den Arbeiten von Paul Ricœur (vgl. vor allem: Ricœur (2005): Das Selbst als ein Anderer, 426), der als einer der prominentesten Vertreter auf die wechselseitige Bedeutung von Bezeugung und Zeugnis hingewiesen hat, rücken Bezeugung und Zeugnis sehr eng aneinander und lassen sich mitunter auch nicht mehr voneinander unterscheiden. Was damit aber verloren geht, ist die sich erst in der Differenz von den Akten der Bezeugung und den Verfestigungen der Zeugnisse eröffnende kritische Rückbindung. Vgl. zur kritischen Auseinandersetzung: Liebsch (2012): Prekäre Selbstbezeugung, 261–264. 504  Vgl. Plessner (2002): Grenzen der Gemeinschaft: Eine Kritik des sozialen Radikalismus, 58 ff. Zu einer repolitisierenden Lektüre der Werke von Emmanuel Lévinas siehe auch die unterschiedlichen Perspektivierungen in: Delhom & Hirsch (2005): Im Angesicht der Anderen: Lévinas’ Philosophie des Politischen.

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warum die Bezeugung nicht ohne Selbstverleugnung von bejahenden politischen Lebensformen entkoppelt werden kann.505 Bezeugt wird somit gerade, dass in jedem Anspruch eines Anderen ein Geltungsanspruch mitschwingt, der gehört und geachtet werden will. Intersubjektive Anerkennungsdiskurse sind in dieser Umklammerung von responsiver Fundierung und Aushandlungsprozessen von Geltungsansprüchen nicht nur Orte, wo entschieden wird, wer unter welchen Bedingungen etwas zu sagen hat,506 sondern sie entscheiden zunächst einmal darüber, wessen Stimme überhaupt gehört wird. Eben weil eine solche grundlegende Einbeziehung des Anderen nicht alleine durch rechtliche Vollzüge geleistet werden kann, wäre es Aufgabe wie Verpflichtung eines Selbst, ausgehend von der Erfahrung seines Beginns, der eben woanders liegt als bei sich selbst, für eine inkludierende Praxis des Anhörens einzutreten.507 Bereits bei Gadamer findet sich der Hinweis, dass das Ohr keine Möglichkeit hat, nicht zu hören, und Selbst wie Anderer damit auch gegen ihren Willen ansprechbar bleiben.508 Mit dem Verweis auf eine grundlegende Ansprechbarkeit gewinnt man aber so lange nicht viel, wie sich eine solche Ansprechbarkeit nicht auch darin bezeugt, inwieweit sich Selbst und Anderer, beispielsweise im Modus: Einwohner und Hinzugekommene, ­‚placed‘ wie ‚displaced persons‘, tatsächlich auf ein Mit-einander-Sein einlassen.509 Ein solch hörendes Einlassen durchkreuzt und ermöglicht zuallererst relationale Selbstbezüge wie deren rechtliche wie politische Gestaltung. Zwischen der Fähigkeit zu sprechen, der Berechtigung, dies auch tun zu dürfen, und einer positiven Gestaltung von eigenen Ansprüchen bleibt die vertrauensvolle Inklusion von Selbst als Selbst, als Anderer und mitunter auch als Fremder stets prekär.510 Die fundamentale Bedeutung eines solch grundlegenden Hörens muss dadurch bezeugt werden, dass sie sich als praktisch erweist, und kann nicht leichtfertig dadurch umgangen werden, dass man auf andere Formen des Zusammenlebens verweist, in denen eine fremde Stimme besser ‚zu passen‘ scheint.511 Das bedeu505 

Vgl. Waldenfels (2006): Schattenrisse der Moral, 128. Vgl. Höffe (1995): Kategorische Rechtsprinzipien. Ein Kontrapunkt der Moderne, 138. Höffe selbst votiert ja für ein enges Zusammenspiel von Ethik, Rechtstheorie und Sozialphilosophie, steht aber in der Tendenz, vor allem die Bedingungen gleicher Rederechte für alle Subjekte in den Vordergrund zu stellen. 507  Vgl. Lyotard (1996): Die Rechte des Anderen, 182. 508  Vgl. Gadamer (2010): Wahrheit und Methode: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (GW1), 438. 509  Vgl. auch die ausführliche Diskussion mit den Arbeiten Jean-Luc Nancys in Kapitel 6.1. 510  Vgl. Lyotard (1996): Die Rechte des Anderen, 178 f. Die angebrachte Unterscheidung folgt den von Lyotard angebrachten Termini von (1) ‚faculty of interlocution‘, (2) ‚legitimation of speech‘ und (3) einer ‚legitimacy of speech‘. 511  In diese Richtung scheint Burkhard Liebsch zu argumentieren, wenn er Lyotard kritisiert, der betont, dass die Verweigerung des Hörens durchaus den vernichtenden Ausschluss aus einem Mit-Sein bedeuten kann. Liebsch verweist darauf, dass es nicht die eine Lebens506 

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tet nicht, dass es auf der Ebene der Aushandlung von Geltungsansprüchen nicht durchaus gute Gründe geben kann, warum einer Stimme nicht weiter Gehör geschenkt wird, aber eben erst auf dieser Ebene der Anerkennung, wo solche Gründe dann auch ihre Geltung wie Berechtigung entfalten und finden. Wenn in jedem Anspruch ein Geltungsanspruch mitschwingt, der gehört und artikuliert werden will, stellt sich sogleich die Frage, wer oder was ein Recht auf Antwort hat. Für große Denker wie Kant oder auch Hegel war die Frage recht klar: Jeder Mensch hat ein Recht auf Antwort, eben weil er Mensch ist.512 Ernst Tugendhat und François Lyotard haben in ihren Arbeiten gezeigt, dass Menschsein alleine jedoch nicht ausreicht, um als Jemand anerkannt zu werden.513 Nun wäre es eine unlautere Engführung, daraus zu folgern, dass die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gattung keinerlei Resonanz habe oder haben sollte. Aber dass jemand als ein menschliches Wesen erkannt und anerkannt wird, ist zugleich nicht einfach gegeben, sondern muss bezeugt und gestaltet werden.514 Inwiefern der nackte Mensch515 wirklich ohne Rechte ist,516 kann im Rahmen dieser Untersuchung nicht weiter diskutiert werden. Zugleich aber ist der Hinweis sehr ernst zu nehmen, dass es in den praktischen Vollzügen einen durchaus gewichtigen Unterschied machen kann, ob jemand als Mensch oder als Bürger anerkannt wird. So wird kaum jemand ernsthaft bestreiten, dass Kriegsflüchtlinge oder psychisch Kranke als Menschen anzuerkennen sind, ob diesen damit aber zugleich Bürgerrechte zuerkannt werden oder zuerkannt bleiben, ist dagegen durchaus strittig.517 Bereits Hannah Arendt hat hervorgehoben, dass sich jeder Verweis auf die Menschenrechte in einem einzigen Recht zuspitzen lasse: dem Recht auf Zugehörigkeit zu wenigstens einer politischen Lebensform. Denn erst eine solche Zugehörigkeit erlaube es, Ansprüche wie form gibt, sondern viele, sodass der Ausschluss aus einer Lebensform nicht ausschließt, dass jemand in einer anderen Lebensform Gehör findet. Hinsichtlich der pluralen Verfasstheit von Lebensformen ist Liebsch absolut zuzustimmen. Zugleich heißt das aber nicht, dass alle Lebensformen für jedes leibliche Selbst gleich viel bedeuten müssen. Sehr wohl muss es Präferenzordnungen geben. Insofern kann der Ausschluss aus einer bestimmten Lebensform sehr wohl die Vernichtung eines Selbst bedeuten, selbst wenn dieses in anderen Lebensformen viele Anschlussmöglichkeiten hätte. 512  Vgl. exemplarisch: Hegel (1986c): Grundlinien zur Philosophie des Rechts, §209. 513  Tugendhat führt aus, dass auch die Menschenrechte von Anderen anerkanntes Recht sind und bleiben. Auch das Recht auf Freiheit (vgl. exemplarisch: Höffe (1995): Kategorische Rechtsprinzipien. Ein Kontrapunkt der Moderne, 138 f.) stellt ein von Anderen her zuerkanntes Recht dar, das keineswegs dem Menschen einfach intrinsisch gegeben ist. Vgl. Tugendhat (2001): Aufsätze 1992–2000, 27. 514  Vgl. Schardien (2004): Menschenwürde. Zur Geschichte und theologischen Deutung eines umstrittenen Konzeptes & Dabrock (2004): Bedingungen des Unbedingten. Zum problematischen aber notwendigen Gebrauch der Menschenwürde-Konzeption in der Bioethik. 515  Vgl. auch: Agamben (2004): Homo sacer – Die souveräne Macht und das nackte Leben. 516  Vgl. Rancière (2008): Das Unbehagen in der Ästhetik, 137. 517  Vgl. auch: Liebsch (2010): Renaissance des Menschen? Zum polemologisch-anthropologischen Diskurs der Gegenwart, 202.

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auch Anrechte zur Sprache zu bringen und ihre Geltung einzufordern.518 Auch wenn man Arendts Ausführung nicht bis in die letzte Konsequenz hinein folgt, wird deutlich, wie sehr der Gehalt von Konzeptionen wie der der Menschenrechte, der Menschenwürde oder der Autonomie darauf angewiesen sind, in der Gestaltung der Anerkennungsräume von Recht und Politik immer wieder neu praktisch bezeugt zu werden.519 Die Achtung der Würde des Menschen, der Respekt vor der Autonomie einer Person markieren nicht einfach eine unveränderliche Faktizität, sondern müssen sich erweisen. Menschenwürde und Autonomie treffen sich bei aller notwendigen Unterschiedenheit der Konzepte, ihrer Reichweite wie ihrer Konsequenzen genau an diesem Punkt: Dass der Mensch Würde hat, dass er als autonomes Wesen verstanden wird, ist nicht einfach gegeben, sondern dass er als würdevolles, autonomes Wesen anerkannt wird, ist für sich ein Stiftungsakt.520 Würde oder Autonomie des Menschen werden insofern nicht einfach erfunden, als sie auch gleichermaßen ein Antworten auf einen fremden Anspruch darstellen. Ein solcher Anspruch drückt sich in der Grunderfahrung einer Verletzbarkeit des leiblichen Selbstbezugs aus, die jede Präferenzordnung durchzieht und dieser vorausgeht.521 Autonomie kann dann nicht als ein Synonym für einen Anfang ganz bei sich selbst bezeichnet werden, sondern stellt bereits eine Antwort auf den Anspruch eines Anderen dar.522 Indem man sich in die Spur eines solchen Gestiftetseins gestellt weiß, eröffnen sich Würdigungsräume, die gleichermaßen bezeugt wie politisch und rechtlich gestaltet werden wollen. Dass sich Selbstbezüge erst von einem Antworten auf einen fremden Anspruch her entfalten und damit jeder Selbstbezug zugleich ein pathischer und in diesem Sinne vulnerabler ist, ist in den Kapiteln 6.3 und 6.5 diskutiert worden. 518  Vgl. Arendt (1993): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus. Imperialismus. Totale Herrschaft, 452–470. Arendts Position ist vielfach kritisiert worden, vorgeworfen wurde ihr, zu strikt zwischen moralischem Anspruch und juridischen Rechten zu unterscheiden. Siehe hierzu auch: Liebsch (2012): Prekäre Selbstbezeugung, 298. 519  Siehe hierzu auch die anerkennungstheoretische Rechtserörterung in: Rothhaar (2015): Die Menschenwürde als Prinzip des Rechts: Eine rechtsphilosophische Rekonstruktion. 520  Vgl. hierzu auch: Liebsch (2010): Renaissance des Menschen? Zum polemologisch-anthropologischen Diskurs der Gegenwart, 227. 521 Dafür, dass sich Menschenwürde nicht ohne Weiteres als ein bruchloses Begründungskonzept, sondern vor allem als ein Konzept zur Vermeidung weiterer Unrechtserfahrungen verstehen lässt, hat zuletzt Hans Jörg Sandkühler argumentiert. Vgl. Sandkühler (2014): Menschenwürde und Menschenrechte: Über die Verletzbarkeit und den Schutz der Menschen. In eine ähnliche Richtung, wenn auch von einem ganz anderen Startpunkt aus, argumentiert Peter Bieri, wenn er ein Plädoyer dafür hält, dass Würde nicht als eine Eigenschaft, sondern als eine Lebensform zu verstehen sei. Vgl. Bieri (2013): Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde. Für einen Überblick über die aktuelle Debattenlage siehe: Düwell, et al. (2014): The Cambridge Handbook of Human Dignity: Interdisciplinary Perspectives, ebenso: Fischer (2006): Menschenwürde und Staatsnotstand. Darf der Staat im Ausnahmzustand foltern? 522  Vgl. auch: Bedorf (2007): Bodenlos, 703.

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Eingeführt wurde an dieser Stelle der Untersuchung die Unterscheidung zwischen einer responsiven Grundasymmetrie und einer dadurch erst ermöglichten geltungs- wie handlungstheoretischen Symmetrie. Das genau dieses Verhältnis nicht einfach ein Gegebenes ist, sondern gestaltet und bezeugt werden muss, begründet, warum Figuren der Gabe, der Stellvertretung und der Fürsorge eine entsprechend fundamentale Bedeutung zur Erfassung und Beschreibung dieser Kopplung zukommt. Bevor diese Gedanken in den Kapiteln 8, 9 und 10 nach ihrer Bedeutung wie Orientierungsleistung für den Umgang mit Zwang in psychiatrischen Kontexten hin untersucht werden, sind drei Fragen zu klären. Erstens: Was genau hat es mit der Rede von der Gabe eines Zeugnisses auf sich? Ein solches Unterfangen kann nur dann gelingen, wenn gezeigt werden kann, dass mit Rekurs auf ein Gabetheorem eine Heuristik gefunden wird, die die Ambivalenz von Eröffnung und Verschließung sowie die Differenzen in den Anerkennungsmodi zu beschreiben und gestalten erlaubt. Der Rückgriff auf das Gabetheorem wäre dann eine mögliche Beschreibung für die zumindest partielle Gestaltung der von Nancy entfalteten Trennung eines ‚Mit-einander-Seins‘. Eine partiell gestaltende Überwindung der Trennung wäre dann nur mittels einer riskanten Gabe möglich, ohne dass damit aber vorgezeichnet wäre, wie die Antwort eines Anderen aussieht, und ebenso wenig, wie ein Selbst auf diese Präsenzermöglichung antwortet. Vielmehr würde es sich bei der Gabe um den Einsatz in einem Spiel handeln, dessen Regeln darin bestünden, dass es zwar eine Pflicht zum Antworten gibt, aber vollkommen offen ist, was geantwortet wird. Anerkennung wäre dann nicht zuallererst das Resultat einer Handlung, sondern würde einseitig gegeben und brächte die Aufforderung mit sich, einen Anderen zu einer Antwort zu veranlassen.523 Eine solche Pflicht bestünde darin, dass ein Verzicht auf die Gabe der Anerkennung gleichbedeutend mit einem Verzicht auf eine Selbstkonstitution wäre. Die wechselseitige Gabe von Anerkennung ginge dann aber insofern nicht einfach in Tauschlogiken auf, als sie immer in der Spannung zwischen dem Risiko der Ausgesetztheit an einen Anderen und einer Hoffnung auf die Stiftung eines zu gestaltenden Ermöglichungsraumes verortet bliebe. Die Ambivalenz im Gabeverständnis führt dann zweitens dazu, dass noch einmal genauer zu fragen ist, inwiefern die Stiftung von Anerkennungsräumen auch stellvertretend erfolgen könnte. Diese Frage stellt sich genau dann, wenn ein Selbstbezug so brüchig geworden ist, dass er sich ohne Intervention eines Anderen nicht mehr selbstbezüglich realisieren kann. Ausgehend von diesen beiden Fragen wird dann drittens die Bedeutung der bisherigen Überlegungen für die Verhältnisbestimmung von Selbstbestimmung und Fürsorge erörtert.

523 

Vgl. Hénaff (2009): Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie, 188 ff.

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7. Konsequenzen und Herausforderungen 7.1 Gestiftete Bezeugung Zahlreiche soziologische, politologische und philosophische Arbeiten haben sich in den letzten Jahren mit dem Theorem der Gabe als konzeptionellem und gestaltungsleitendem Begriff befasst. Bei aller vorhandenen Diversität bestätigt dies die große Erschließungskraft für die Beschreibung diffiziler sozialer Muster und Strukturen.524 Eine besondere Bedeutung kommt den Studien des französischen Soziologen Marcel Mauss zu, der, ausgehend von seinen ethnologischen wie religionssoziologischen Studien an archaischen Gesellschaften in Polynesien, eine methodisch wie inhaltlich Standards setzende Soziologie der Gabe entwickelt hat.525 In seinem grundlegenden Werk, ‚Essai sur le don‘, geht er davon aus, dass sich mit dem Geben von Gaben individuelle und soziale Räume eröffnen, die als individuelle und kollektive Gestaltungsfelder genutzt werden können.526 Drei wesentliche Bedeutungsstränge von Mauss’ Grundtheorem der Gabe werden im Folgenden in Anknüpfung an Georg Simmel erörtert. Gabe, so Simmel, trägt in sich immer ein Element der Anökonomie, eine Grundstruktur responsiver Offenheit und sie ermöglicht die Stiftung von sozialen Verbindungen.527 Erstens kann die Gabe von Prinzipien des ökonomischen Tausches unterschieden werden. Wie bereits bei Mauss in seinen Ausführungen zum Phänomen des Potlatsch528 ausgeführt, zeichnet sich die Gabe dadurch aus, dass sie, anders als der Tausch, nicht zwingend auf eine Gegenleistung angewiesen ist.529 Die Gabe, so betont Mauss, gibt so überreich, dass ihre Funktion nicht in reziproken Verpflichtungen aufgeht, sondern immer schon darüber hinausweist. 524  Vgl. exemplarisch: Osteen (2002): The Question of the Gift: Essays Across Disciplines & Berking (2009): Sociology of Giving. 525  Marcel Hénaff hat zugleich nicht zu Unrecht bemerkt, dass der standardmäßige Verweis auf die Arbeiten von Marcel Mauss noch nicht viel hergibt. Vielmehr muss sich erweisen, dass die Gedanken, die Mauss als Analyseergebnisse seiner ethnologischen Studien präsentiert, auch tatsächlich die Beweislast tragen können, die ihnen jeweils zugemutet wird. Vgl. Hénaff (2014): Die Gabe der Philosophen. Gegenseitigkeit neu denken, 53–58. 526  Vgl. Mauss (1923/1924): Essai sur le don. Forme et raison de l’échange dans les sociétés archaïques. In deutscher Sprache erschienen als: Mauss (1990): Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften. 527  Vgl. Simmel (1992): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. 528  Mit dem Begriff des Potlatsch bezeichnet Mauss jene Art von Institution, „die man unbedenklicher und präziser, aber auch umständlicher totale Leistung vom agonistischen Typ nennen könnte.“ Mauss (1990): Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften, 25. Zur kritischen Auseinandersetzung siehe auch: Godelier (1996): Das Rätsel der Gabe. Geld, Geschenke, heilige Objekte, 81 ff. & 113 ff. 529  Vgl. Mauss (1990): Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften, 21 f.

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Entsprechend besteht die Sprengkraft der Gabe gerade darin, dass sie den Kreislauf der wechselseitigen Verpflichtungen durchbricht530 und insofern ein überschießendes Element einträgt. Ein solcher Überschuss – verstanden als etwas, was nicht in den bestehenden Ordnungsmustern aufgeht531 – kann zwar durchaus Teil von Tauschlogiken werden, würde damit aber den Charakter der Gabe als Gabe riskieren.532 Jacques Derrida spitzt diese Beobachtung noch einmal zu, indem er ausführt, dass die reine Gabe auf jede Form der Erwiderung verzichten muss. Gabe als Gabe kann es nur geben, wenn sie sich von den Tauschlogiken präzise unterscheiden lässt.533 Sinnvoll von Gabe zu sprechen, so Derrida, setzt voraus, dass sie keine Erwiderung erfahren und letztlich noch nicht einmal benannt werden kann. Denn in dem Moment, so fährt Derrida fort, wo der Empfangende die Gabe an-erkennt, ‚ihm das Präsent als Präsent präsent ist‘534, befindet sich der Empfangende bereits unter der Logik von Tausch-Zusammenhängen. Die An-erkennung eines Geschenks als Geschenk hat bereits den Möglichkeitsraum verschlossen, es wirklich als Geschenk zu würdigen. Selbst der Entschluss, unter keinen Umständen etwas zurückzugeben, wäre dann als solcher bereits eine reziproke Reaktion auf die erhaltene Gabe.535 Insofern, argumentiert Derrida weiter, aber schon das An-erkennen als eine Form der Gegengabe verstanden werden muss, eröffnet sich in der Gabe eine unvermeidliche Aporie.536 In dem Moment, wo man sie erkennt, verliert sie ihren genuinen Cha530 

Vgl. Bedorf (2010b): Verkennende Anerkennnung, 162. Vgl. Waldenfels (2012): Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung, 228. 532  ‚Gabe ohne Tausch. Tausch ohne Gabe‘. Auf diesen Slogan lassen sich die Gedanken von Marcel Hénaff zuspitzen. Vgl. Hénaff (2009): Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie. Das Problem einer solchen Dichotomie pointiert Bernhard Waldenfels sehr treffend: „Würde das Motto ‚Tausch ohne Gabe, Gabe ohne Tausch‘ auf die Spitze getrieben, so würde dies besagen, daß man mit der einen Hand nimmt, soviel man kann, und mit der anderen gibt, soviel man kann.“ Waldenfels (2012): Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung, 227. 533  Vgl. Derrida (1993): Falschgeld. Zeit geben, 24. 534  Vgl. Derrida (1993): Falschgeld. Zeit geben, 24. 535  Vgl. Derrida (1993): Falschgeld. Zeit geben, 25. 536  Auf den besonderen aporetischen Charakter der Gabe in dem Interpretationsvorschlag Derridas verweist exemplarisch auch Ingolf Dalferth. Allerdings sieht er die Ausführungen Derridas schlussendlich als eine Annihilation der Gabe, insofern sie eine soziale Realität bestreitet, die es als solche unbestreitbar gibt. Vgl. Dalferth (2007): Alles umsonst. Zur Kunst des Schenkens und den Grenzen der Gabe, 162. Wenn Gabe also kein Phänomen ist, welches sich in der Aufweisbarkeit seiner phänomenologischen Erscheinung erfassen lässt, dann würde sie als Phänomen überhaupt verschwinden. Dalferth schlägt deswegen in Auseinandersetzung mit der Phänomenologie Jean-Luc Marions vor, die Gabe als ein hermeneutisches Phänomen zu erfassen. Die Gabe muss nicht als Gabe verstanden werden, um Gabe zu sein, sondern vielmehr erweist sie sich nur dann als Gabe, wenn sie sich auch in lebensweltlichen Prozessen manifestiert. So pointiert Dalferth: „Nicht das Verstehen macht die Gabe, sondern die Gabe macht sich verständlich, indem sie dazu provoziert, mich als Empfänger und sie als das mir Gegebene zu verstehen.“ Dalferth (2007): Alles umsonst. Zur Kunst des Schenkens und den Grenzen der Gabe, 170. Mit seinem Interpretationsvorschlag steht Dalferth, anders als 531 

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rakter der Selbstlosigkeit, aber ohne jegliche Möglichkeit, die Gabe als Gabe zu bezeichnen, gäbe es wiederum keine Unterbrechungen der Tausch­öko­no­ mien.537 Was mit einer solch verabsolutierenden Interpretation der Gabe auf dem Spiel stände, wäre nicht alleine, dass negativ perpetuierende Ökonomien nur noch bedingt Gegenstand von Kritik werden könnten, sondern zugleich würden Selbst- und Mit-Sein konstituierende Erfahrungsräume zur Sprachunfähigkeit gebracht. Vor diesem Hintergrund gibt Derrida seiner Dekonstruktion eines (romantischen) Gabetheorems eine in den Debatten um die Gabe mitunter nicht weiter thematisierte Wendung. Demgemäß enthält die Gabe nicht nur die Aporie von Möglichkeit und Unmöglichkeit, sondern ebenso entsteht eine Aporie auf der Ebene der Beobachtung: Während eine allgemeine Theorie der Gabe sich außerstande gezeigt hat, das Phänomen Gabe zu denken, versucht Derrida das Problem über eine transzendentale Illusion der Gabe einer Lösung zuzuführen. Mittels eines solchen Kunstgriffes – trotz kritischer Abgrenzung ähnlich der transzendentalen Dialektik Kants – eröffnet sich für Derrida die Möglichkeit, die Gabe als ein Performativ zu denken. Obgleich die Gabe nicht vollständig gedacht werden kann, so Derrida, ist es ausgeschlossen, auf die Möglichkeit eines solchen Denkens gänzlich zu verzichten,538 sodass dem Denken nichts anderes übrig bleibt, als sich auf die Gabe einzulassen, auch wenn es damit wiederum Gefahr läuft, die Möglichkeit der Gabe letztlich doch wieder zu verschließen. Vor diesem Hintergrund führt Derrida dann aus: „So wisse denn auch noch, was geben sagen will, wisse zu geben, wisse, was du willst und sagen willst, wenn du gibst, wisse, was du zu geben intendierst, wisse, wie die Gabe sich annulliert, laß dich ein, selbst wenn dieses Sicheinlassen [engagement] eine Zerstörung der Gabe durch die Gabe ist, gib du der Ökonomie ihre Chance.“539 Ebenso wie die Gabe ein unverzichtbares Distinktionselement des Tausches ist, bedarf die Gabe eines Bezugspunktes, will sie nicht ein bloßes Simulakrum werden.540 Die Gabe ist insofern in einem doppelt apriorischen Sinne von ihm selbst angenommen, allerdings gar nicht in einem direkten Gegensatz zu Derridas weiteren Überlegungen. Denn auch Derrida führt weiter aus, dass wir es in der Gabe zwar einerseits mit einem aporetischen Phänomen zu tun haben, andererseits aber, gerade was die Beschreibung der lebensweltlichen Bezüge betrifft, auch nicht einfach bei der Konstatierung einer solchen Aporie stehen bleiben können. Vielmehr entfaltet die Gabe ja erst dann ihre ambivalente Spannkraft aus Eröffnungsmöglichkeit und Unterbrechung, wenn sich das Denken auf die Gabe einlässt und sich selbst bereits als ein gestiftetes versteht. 537  Vgl. Derrida (1994): Den Tod geben, 359. 538  Einen Verzicht sieht Derrida deswegen als unmöglich an, da ansonsten Wechselbeziehungen insgesamt nicht mehr distinkt denkbar wären. 539 Derrida (1993): Falschgeld. Zeit geben, 45. 540  Ein besonders strenges wie folgenreiches Plädoyer für eine strikte Trennung von Gabe und Tausch entfaltet Marion (2003): Reduktive „Gegen-Methode“ und Faltung der Gegebenheit. Marion führt diese Trennung dabei so weit, dass die Gabe soziologischen und anthropologischen Modellen nichts verdankt. Das Geben einer Gabe wird durch eine dreifache Epoché auf sich selbst zurückgeführt: So versteht Marion die Gabe als rein immanent, als

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mögliche Unmöglichkeit: Sie ist ein Außen des Tausches und setzt zugleich die Ökonomie in Gang.541 Gerade dafür aber kann die Gabe den Tauschprozeduren nicht unbeteiligt gegenüberstehen, sondern muss sich in und auf diese einlassen und sie gerade dadurch unterbrechen. In diesem Sinne kann die Gabe als ein Stiftungsereignis bezeichnet werden, da sich in ihr ein Umsturz- und Umkehr­ ereignis Bahn bricht, das gleichzeitig unterbricht und ermöglicht. In Anlehnung an Nietzsches Ironisierung von Montaignes Ausruf „O Freunde, es gibt keinen Freund!“542 rührt die umstürzende Kraft der Gabe weniger daher, dass sie eine einfache Unterbrechung darstellt,543 denn dann könnte sie immer noch lediglich ein Teil reziproker Dependenzen sein, sondern einen in dem eröffnenden und unterbrechenden Geben schon eingeschriebenen Bruch vergegenwärtigt.544 Bezogen auf Simmels Rede von der Anökonomie der Gabe, wäre sie in einem doppelten Sinne anökonomisch: Zum einen mit Blick auf den Tausch und zum anderen mit Blick auf ihren vermeintlichen Nicht-Ort außerhalb der Tauschlogiken. Zweitens ist in Anknüpfung an die Systematik Simmels die notwendige Offenheit der Gabe zu betonen. Ausgehend von Derrida, lässt sich festhalten, dass die Gabe ein Feld unterschiedlicher Reaktions- und damit Antwortmöglichkeiten eröffnet. Sich auf die im Gabeereignis eröffnende responsiv-asymmetrische Wechselseitigkeit545 einzulassen, kann dann dazu dienen, gewisse Zwecke wie Reziprozität, Gemeinschaft und Friedenszustände546 dadurch herzustellen, dass Gaben empfangen und erwidert werden.547 Sogleich muss jedoch berücksichtigt werden, dass aufgrund der eingeschriebenen responsiven Asymmetrie Gleichursprünglichkeit von Sich-Zeigen und Sich-Geben und nicht zuletzt als reine Hingegebenheit. In einer solch dreifachen Bestimmung der Gabe verortet Marion dann auch die Möglichkeit für die Rede von religiöser Offenbarung. Die reine Gabe wird als eine Theo-phanie der absoluten Hingabe entfaltet, die jeden Anknüpfungspunkt eines Logos verneinen muss. Vgl. Marion (2007): Aspekte der Religionsphänomenologie: Grund, Horizont und Offenbarung, 36. Ohne eine solche Rückbindung an einen Logos gelangt die Gabe jedoch nicht über das Stadium einer rein metaphysischen Hypostase hinaus, die keinerlei Rückwirkung wie Rückbindung an Fragen der Gestaltung der Phänomene erlauben würde. Zur eingehenderen theologischen Kritik siehe auch: Stoellger (2010): Passivität aus Passion, 422–478, insb.443. 541  Vgl. Derrida (1993): Falschgeld. Zeit geben. 542  Vgl. Nietzsche (1999b): Menschliches, Allzumenschliches I, Ab. 376, 263. 543  So die These von Marcel Hénaff, zugespitzt formuliert in: Hénaff (2014): Die Gabe der Philosophen. Gegenseitigkeit neu denken, 47. Hénaff wirft Derrida dabei nicht nur ein Missverständnis in seiner Interpretation wie Auseinandersetzung mit Mauss vor (wobei man auch sagen könnte, dass der Vorwurf lautet, Derrida würde Mauss zu wichtig nehmen), sondern betont mehrfach, dass es generell nicht hilfreich sei, von einem aporetischen Charakter der Gabe zu sprechen. 544  Vgl. Derrida (2000): Politik der Freundschaft, 53. 545  Vgl. hierzu auch Kapitel 6.3. 546  Von einem solchen Gestaltungsraum der Gabe geht Ricœur in seinen Arbeiten zur ‚Gabe‘ aus. Vgl. Ricœur (2006): Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein. 547  In dieser Trias sieht Mauss die Grundstruktur der Gabe beschrieben. Vgl. Mauss (1990): Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften, 24.

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die Art und Weise, wie solche ritualisierten Handlungsdispositive gestaltet werden, sowohl Rückwirkungen auf die eigene Identität, die Selbstkonzepte anderer Beteiligter als auch auf strukturelle Dispositive wie beispielsweise soziale Institutionen zeitigt. Gerade weil solche Gabehandlungen einen identitäts- und gemeinschaftskonstituierenden Charakter besitzen, sind sie störanfällig: Das gegebene Wort wird als nicht ausreichend verstanden, das Versprechen wird gebrochen, der erbrachte Dank erscheint nicht angemessen, der Andere erwartet bessere Gaben oder intensiveren Dank, die Atmosphäre des Gabegeschehens war ungünstig, oder vorherrschende Machtdispositive verhindern eine Wechselseitigkeit. Solche ‚störenden‘ Elemente markieren, dass an eine Gabe besser oder schlechter angeknüpft werden kann. Zugleich aber kann der sich mit einer Gabe ‚artikulierende‘ Anspruch nicht vollkommen eingelöst werden. Wenn die Gabe ein die Ordnungsschemata der Reziprozität gleichermaßen ermöglichendes wie unterbrechendes Element erhält und insofern in diesem nicht einfach aufgeht, haftet der Gabe nicht nur ein über den Tausch überschießendes und seine Bedeutung begrenzendes Element an. Mit dem Einsatz einer Gabe, so hat Peter Dabrock pointiert, ist vielmehr auch ein Spiel eröffnet, in dem Gebende zu Empfangenden und Empfangende wiederum zu Gebenden werden können.548 Mit jedem dieser Wechselakte bleibt aber zugleich riskant, womit und wie der sich bietende Antwortraum gefüllt werden wird.549 Drittens konzipiert sich gemäß dem hier leitenden simmelschen Deutungsschema die Gabe als Stiftung eines sozialen Bandes. Im Unterschied zu Konzeptionen, die entweder einseitig Gabe als reine Anökonomie550 oder als Ausdruck absoluter Wechselseitigkeit im Tausch551 verstehen wollen, kann an Mauss an548  Vgl. Dabrock (2008): Demographischer Wandel und die Gabe der Solidarität zwischen den Generationen. 549  So auch: Waldenfels (2007): Antwortregister, 586–626. Ebenso: Waldenfels (1997a): Das Unding der Gabe. 550  Vgl. exemplarisch für eine solche Position die Gedankengänge von Georges Bataille, der zwecks Betonung der anökonomischen Seite eine Gabentheorie als eine Opfertheorie entwickelt. In den Ritualen des Opfers geht es dabei nicht primär um die gewaltsame Vernichtung der Opfergaben, sondern um eine ritualisierte Zelebrierung des eigenen Verlustes. Vgl. Bataille (1997): Theorie der Religion, 39 f. Zugleich sieht Bataille in den blutigen und gewaltigen Opferexzessen den vorbehaltlosen Weg, wie die getrennten Wesen – auf der einen Seite die Opfer-Darbringenden und auf der anderen Seite die Opfer-Erhaltenden – miteinander im Ritual des Opfers ihre Trennung überwinden können. Vgl. Bataille (1985): Die Aufhebung der Ökonomie, 89 f. Gerade hierin wird ersichtlich, dass auch ein solches Ritual in seiner konkreten Durchführung schlussendlich ökonomischen Pfaden folgt, weswegen Bataille die unterschiedlichen Opferriten auch unter dem Terminus der Opferökonomie verhandelt. Nicht nur weil die Opferriten zeitlich und räumlich begrenzt sind und damit den Erfordernissen der profanen Welt bereits Rechnung tragen (vgl. Därmann (2010): Theorien der Gabe zur Einführung, 42.), sondern gerade weil auch Opferriten nicht frei von Verzweckungskausalitäten sind, können die Opferriten die ‚wahre Natur‘ des Opfers und damit auch die ‚wahre Natur‘ der Gabe nur unzureichend abbilden. 551  Vgl. exemplarisch für eine solche Position die Arbeiten von Claude Lévi-Strauss, in

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knüpfend der hybride Charakter der Gabe betont werden. Gegenüber einer einfachen symbiotischen Verschmelzung von selbstloser Preisgabe und absolutem Kalkül argumentiert Mauss für ein Offenhalten der Schwelle zwischen Ökonomie und Anökonomie.552 Die Gabe ist gekennzeichnet durch Großzügigkeit und Verpflichtung zugleich und dabei in einer wechselseitigen Verausgabung angelegt, die jedoch keinem rechnerischen Kalkül folgt. In der Gabe kumulieren damit Elemente der beiden Pole von Ökonomie und Anökonomie miteinander, lassen sich aber zugleich in dieser Kumulation weder einfach ihrem ursprünglichen Entlehnungskontext zuweisen, noch zu einem kohärenten Ganzen verschließen. Mauss’ Argumentation ist vielfach kritisiert worden, da mit einer solchen Vorstellung der Gabe schlussendlich doch wieder lediglich eine symbolische Überhöhung des Tausches lanciert würde. Dennoch, so kann mit Mauss ebenso wie mit Derrida nüchtern formuliert werden, verlöre sich die Gabe in theoretischen Aporien, wenn sie lediglich das ganz Andere des Tausches bezeichnen sollte. Vorerst kann festgehalten werden, dass sie sich in den Modi des Tausches als eines Beziehung stiftenden Symbols vollzieht.553 Die überreiche Gabe des Potlatsch oder auch ein Akt des überfließenden Schenkens artikulieren je nach Bezugspunkt eine individuelle oder kulturelle Wertschätzung und initiieren damit Subjektivierungsräume.554 Solche Subjektivierungsereignisse können als Ermöglichungsräume sozialer Praktiken verstanden werden. In der Gabe werden materielle und immaterielle Dinge symbolisch aufgeladen, versehen den Empfangenden mit liebevoller, wertschätzender oder rechtlicher Anerkennung und ermöglichen ihm, mit welchen die Gabe vor allem hinsichtlich ihrer Äquivalenz mit dem Tausch betrachtet wird. So geht Lévi-Strauss davon aus, dass sich in der Reziprozität der Gabe konstituierende Räume der Sozietät eröffnen (vgl. Lévi-Strauss (1992a): Der hingerichtete Weihnachtsmann, 188 f.), aber zugleich ist gerade dieses Band immer auch ein garantiertes. Indem er die in der Gabe gestiftete Sozietät als Insigne der universalen Strukturen des menschlichen Geistes konzipiert (vgl. Lévi-Strauss (1992b): Strukturale Anthropologie II), nimmt er dieser aber zugleich jede Dynamik und damit nicht zuletzt auch jedes riskante Element. So weitsichtig das Anliegen ist, die Grundbedingungen der Möglichkeit von Sozietät an ein reziprokes Gabetheorem zu binden (Lévi-Strauss (1973): Das wilde Denken), so kurzsichtig ist es, den Prozessen des reziproken Austausches ein Telos des Gelingens zu unterlegen. Vollkommen zutreffend formuliert diesen Punkt Iris Därmann: In dem Moment, in dem Lévi-Strauss die Gabe als eine invariante, anthropologische Grundkonstante konzipiert, „schlägt seine Kulturtheorie der Gabe in bedenklicher Weise in eine Naturtheorie der Gabe und Reziprozität um.“ Därmann (2010): Theorien der Gabe zur Einführung, 82. 552  Vgl. Mauss (1990): Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften, 68, 101, 119. 553  Vgl. Mauss (1990): Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften, 148, 151. 554  So auch Matthias Walz’ überzeugende Interpretation des Essays von Mauss, die dessen Ausführungen in einen diskursiven Kontrast zu den Arbeiten von Claude Lévi-Strauss und vor allem Jacques Lacan bringt. Vgl. Waltz (2006): Tauschsysteme als subjektivierende Ordnungen: Mauss, Lévi-Strauss, Lacan, 104.

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Dank auf die empfangenen Gaben zu reagieren. Vor diesem Hintergrund können dann auch die Überlegungen von Paul Ricœur gesehen werden, der versucht, die Gabe vorrangig von einer Dankbarkeit des Empfangens her zu deuten.555 Ricœur betont auf der einen Seite den aporetischen Charakter der Gabe, aber zugleich auch die Vermischung zwischen anökonomischen und ökonomischen Elementen. Das überschießende, sich bleibend widersetzende Element der Gabe erfasst man, indem man sich des Risikos des je eigentümlichen Gebens und Nehmens bewusst bleibt – ein Empfangen, welches die empfangende Großzügigkeit achten und anerkennen kann, ohne sogleich mit einer exakten Gegengabe respondieren zu müssen. „Die Dankbarkeit“, so führt Ricœur aus, „macht die Last der Verpflichtung zur Gegengabe leichter und orientiert diese auf eine Großherzigkeit, die derjenigen gleicht, die zur ersten Gabe geführt hat.“556 Zugleich bleibt offen, ob eine solche Orientierung auf die Großherzigkeit hin sich auch tatsächlich ereignet. Kann die Gabe einerseits mit Dankbarkeit angenommen werden und insofern ein Band der Wertschätzung knüpfen, würde die Ambivalenz des Gabegeschehens nicht hinreichend ernst genommen, wenn nicht auch bedacht würde, dass der ermöglichende Charakter der Gabe, der einem Empfangenden zugleich auch seinen Anfang woanders als bei sich selbst spiegelt, andererseits auch als schmerzvolles Ereignis oder gar als gewaltvoll erlebt werden kann. Eine solche „senkrechte Gabe“557, als welche sie Marcel Hénaff in seinen früheren Ausfüh555  Vgl. Ricœur (2006): Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, 280 f. 556 Ricœur (2006): Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, 306. 557 Hénaff (2009): Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie, 168. Die Rede von einer solch senkrechten Gabe betont dabei zunächst einmal den einseitigen Charakter der Gabe. Einseitig ist diese insofern, als sich in dem Moment der Gabe performativ ereignet, was eröffnet wird. Und doch bliebe das Gabeereignis seltsam inhaltslos, wenn es nicht ein Gegenüber implizieren und damit zugleich eine Annahme der Gabe adressieren würde. Theologisch hat bereits Luther darauf hingewiesen, dass es Aufgabe theologischen Denkens sei, auf den Primat der senkrechten Gabe, verstanden als göttliche Selbstgabe, gegenüber allen weiteren Gabeereignissen hinzuweisen. Bereits das schöpferische Handeln Gottes stellt eine kategorische Gabe dar: „Ac verissimum et proprium nomen Dei est: Ex auditor precum, et tam quidem proprium, quam illud est: Creator coeli et terrae.“ (Luther (1538/42): Genesisvorlesung II, 327,8–10) Oswald Bayer hat entsprechend darauf verwiesen, dass die Gabe als eines der Urworte der Theologie zu verstehen sei. Siehe auch: Bayer (1986): Schöpfung als Anrede. Zu einer Hermeneutik der Schöpfung & Bayer (2009): Ethik der Gabe. Folgt man der von säkularen Gabetheorien durchweg vorgeschlagenen Gliederung der Gabeereignisse in ‚geben – nehmen – erwidern‘, wird aber sogleich fraglich, inwiefern in der einseitigen Gabe Gottes auch ein Element der Wechselseitigkeit enthalten sein kann. Magdalena Frettlöh hat einen Vorschlag ausgehend von 1 Chr 29,14 unternommen: „Wir geben dir aus deiner Hand.“ Frettlöh (2001): Der Charme der gerechten Gabe. Motive einer Theologie und Ethik der Gabe am Beispiel der paulinischen Kollekte für Jerusalem. Die Wechselseitigkeit liegt dabei darin, dass es sich um ein Antwortgeschehen auf das von Gott ergangene Gnadenereignis handelt, indem das Gabeereignis so prägend für die Empfänger wird, dass sie gar nicht anders können,

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rungen bezeichnet, muss so verstanden werden, dass sich in der Gabe auch eine Zerstörung vorheriger Freiheitsräume ereignen kann: Zum Beispiel durch die Gabe eines hohen Betrages an Geld, der auf der einen Seite für den Empfänger neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet, zugleich aber auch die Manifestierung eines Machtgefälles bedeutet, beispielsweise das Erbe einer Firma, welches von dem Erben verlangt, entweder seine bisherige Lebensführung zumindest neu auszutarieren oder aber die Firma zu verkaufen und damit eventuell die Lebensleistung einer oder mehrerer Generationen infrage zu stellen. Diesen Gedanken existenzial zuspitzend formuliert Jean-Paul Sartre: „Zugleich schlägt das Geschenk den Beschenkten in seinen Bann, es zwingt ihn, dasjenige von neuem zu erschaffen und im Sein zu erhalten, was ich nicht mehr als das meine will […]. Beschenken heißt knechten.“558 Diese Hinweise Hénaffs und Sartres müssen aber im Umkehrschluss nicht bedeuten, dass die Gabe nicht auch zugleich Intersubjektivität stiften kann. Vielmehr zeigt sich gerade in dieser ambivalenten Figurierung das an, was bislang mit dem Terminus der Verkennung in Anerkennungsprozessen bezeichnet worden ist. Wenn Erfahrungen von Dankbarkeit und intersubjektiver Anerkennung zuallererst gemacht werden können, findet man mit Ricœur eine Begründung dafür, warum in dem Theorem der Gabe weder einem reinen Konflikt vermeintlich unabhängiger Subjekte noch einer romantischen Utopie eines gesellschaftlichen Kollektivismus Raum gelassen werden muss. Dementsprechend muss sich der ein Selbst in seiner Selbstbezüglichkeit stiftende Charakter der Gabe daran messen lassen, dass weder von einem Holismus mit Blick auf das Individuum noch auf die Gemeinschaft ausgegangen werden kann. Damit können die Überlegungen zur Erfassung der Ambivalenz im Gabetheorem die grundlegenden Fragen einer Theorie intersubjektiver Anerkennung wieder aufnehmen: Wie können Verwirklichungsereignisse eines leiblichen Selbst und diese Ereignisse wiederum als kontinuierende Verwirklichungs- und Gestaltungsräume gedacht werden, ohne von einer überhöhten, immer schon da gewesenen Gemeinschaft oder von vereinzelten und nur durch Zweck-Mittel-Korrelationen miteinander interagierenden Individuen auszugehen?559 Könnte eine solch strikte Distinktion nur mit äußerst zwanghaften Mitteln vollzogen werden, legen Phänomene begrenzter und kontextueller Rationalität ebenso wie die Notwendigkeit, sich auf einen gemeinsamen Handlungsrahmen verständigen zu müssen, um vor diesem Hintergrund individuelle Taten ausweisen zu können, nahe, von einem diffizilen Netz als Beschreibungsals die empfangende Gnade weiterzugeben. Vgl. hierzu auch: Hoffmann (2013): Skizzen zu einer Theologie der Gabe. Rechtfertigung – Opfer – Eucharistie – Gottes- und Nächstenliebe, 187–189. 558 Sartre (2012): Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, 746. 559  Siehe Kapitel 4.3 & 5.3.

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kategorie intersubjektiver Verwirklichungsereignisse und -räume auszugehen. Alain Caillé formuliert diesen Punkt ungleich schärfer: „Es ist unmöglich, die von der Theorie in Szene gesetzten rationellen, getrennten und ‚gegenseitig indifferenten‘ Egoisten davon zu überzeugen, dass sie vorteilhaft kooperieren können, d.h. sich aufeinander verlassen und Bündnisse eingehen können.“560 Den einzigen Weg, den Fängen dieser Dialektik zumindest partiell zu entkommen, sieht Caillé in enger Anknüpfung an Mauss darin, angesichts des Risikos der Gabe die sozialen Verhältnisraume so zu gestalten, dass sich Selbst und Andere in ihren Selbstbezügen praktisch verwirklichen können.561 Vor diesem Hintergrund versteht Marcel Hénaff die Gabe als ein auf Fortsetzungen zielendes Ereignis, in dem ein gegebenes Wort gehalten wird und sich (dadurch) gegenseitige Anknüpfungsmöglichkeiten vollziehen.562 Da sich bei Hénaff mit dieser theoretischen Justierung zugleich eine Kritik an der in der Theoriegeschichte vorherrschenden Betonung des unterbrechenden Charakters der Gabe verbindet, fordert er ein, zunächst einmal zwischen drei unterschiedlichen Modi der Gabe zu unterscheiden: Erstens gibt es, so Hénaff, die zeremonielle Gabe, die dadurch charakterisiert ist, dass sie immer öffentlich und auf Gegenseitigkeit angelegt ist. Davon kann zweitens die wohltätige Gabe unterschieden werden, die im Unterschied zur ersteren durch Einseitigkeit unterschieden ist. Eine dritte Differenzierungsmöglichkeit bietet die Rede von einer solidarischen Gabe als einer wechselseitigen Hilfe. Während eine zeremonielle Gabe von der strengen Pflicht geprägt ist, die Gabe zu erwidern, erweist sich in der wohltätigen Gabe die Großzügigkeit eines Gebers gegenüber einem Anderen. Die solidarische Gabe ist vor allem durch ihre soziale Dimension gekennzeichnet, und die gegebenen Güter sind in den meisten Fällen nicht an einer materiellen Kostbarkeit, sondern ihrer primären Nützlichkeit zu messen.563 Hénaff fokussiert sich in seinen weiteren Erörterungen nun vor allem auf die 560 Caillé

(2006): Marcel Mauss und das Paradigma der Gabe, 179. Caillé (2008): Anthropologie der Gabe, 212 f. Caillé hat dabei noch pointierter als Marcel Mauss herausgestellt, dass die Gabe kein isoliertes Ereignis darstellt, sondern ein Wechselspiel aus Geben – Empfangen – Erwidern, und in dieser dreifachen Struktur nicht nur die archaischen Gabeereignisse, sondern auch die modernen Vollzüge ermöglicht und strukturiert. 562  Vgl. Hénaff (2014): Die Gabe der Philosophen. Gegenseitigkeit neu denken, 67. 563 Vgl. Hénaff (2014): Die Gabe der Philosophen. Gegenseitigkeit neu denken, 60 f. Hénaff verknüpft seine Unterscheidung auch noch einmal mit den griechischen Termini von dosis, charis/agape und philia. Die darin mitschwingenden Konnotationen zu den theologischen Sprachformen, vor allem der der Gnade, führt Hénaff auch selbst an. Zugleich zeigt sich aber auch die Schieflage, in die Hénaff mit seinen Ausführungen zu geraten droht. Denn so richtig Hénaff mit seiner Beobachtung liegt, dass sich Gnade theologisch als ein ermöglichendes Anknüpfungsereignis verstehen lässt, so eröffnet sich diese Anknüpfung gerade erst in und von der Unterbrechung her. Die Widerfahrnis von Gnade markiert ja gerade den Punkt, an dem die Schuldverrechnung unterbrochen und gerade darin eine neue Fremd- wie Selbstbezüglichkeit ermöglich wird. 561  Vgl.

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zeremonielle Gabe und versucht zu zeigen, dass diese insbesondere als ein Verfahren der gegenseitigen öffentlichen Anerkennung zwischen Gruppen angesehen werden kann.564 Eine solche gegenseitige Anerkennung wird durch eine einleitende Geste vermittelt, die nicht unmittelbar an einen Gegenstand gebunden sein muss, wie das noch in den archaischen Gesellschaften der Fall war, sondern oftmals symbolisch erfolgt. Zusammenkommen müssen in dem Ereignis einer zeremoniellen Gabe Momente der Identifizierung, der gegenseitigen Akzeptanz des Identifizierten und drittens die Anerkennung, dass ein Selbst und der Andere mit dem zeremoniellen Gabeereignis in einem Bündnis, in einem Pakt stehen.565 Ein solches Band, ein solcher Pakt weist zugleich über die abstrakte Rede von einem sozialen Band hinaus, insofern ein solcher Pakt Gegenstand politischer Gestaltung und damit inkludierender und exkludierender Praktiken ist.566 Gerade diese notwendige politische Gestaltung ist für Hénaff dann auch der Grund, warum die zeremonielle Gabe immer öffentlich sein muss und auf Gruppen oder diese Gruppen repräsentierende Einzelne bezogen ist. Insofern formuliert Hénaff: „Als spezifisch menschlicher – und sogar das Menschsein instituierender – Akt öffentlicher Anerkennung durchzieht ihr Modell alle Beziehungen unter Menschen (einschließlich derjenigen, die die anderen beiden Formen der Gabe betreffen); jede Begegnung, jede soziale Beziehung enthält den Akt der gegenseitigen Anerkennung und bezeichnet jeden Menschen für jeden anderen Menschen als ein Wesen, das in seiner Würde zu betrachten und bedingungslos zu respektieren ist. Das heißt jedoch nicht, dass die zeremonielle Gabe die menschliche Gemeinschaft begründet; man kann lediglich sagen, dass sie auf564  Hénaff entwickelt ausgehend von seinen Metabeobachtungen zur zeremoniellen Gabe eine Kriterienliste, die helfen soll, das Phänomen der Gabe von anderen Phänomenen abzugrenzen und dadurch eine schärfere Konturierung zu erlauben. In der zeremoniellen Gabe geht es um 1. ausgetauschte Güter: Es handelt sich um kostbare Gegenstände oder Wesen, Festtagsnahrungsmittel; 2. rituelle Verfahren: Sie stehen fest und werden von den Partnern akzeptiert; 3. Kommunikationsebene: Sie muss öffentlich sein; 4. Erzielte oder erwartete Wirkungen: a) starke Bindungen zwischen Gebern und Nehmern; b) Erwerb von Ansehen und Rang; 5. Art der Wahl: obligatorisch; 6. Modalität der Beziehung: gegenseitig; 7. Tauschverhalten: großzügige Rivalität; 8. Inhalt der Geste: sich selbst geben in der gegebenen Sache, die Unterpfand und Substitut des Selbst ist.“ Hénaff (2014): Die Gabe der Philosophen. Gegenseitigkeit neu denken, 62. Hénaff argumentiert nun, dass nur in der zeremoniellen Gabe alle diese Punkte erfüllt sind, während bei der wohltätigen und der solidarischen Gabe lediglich einige, aber nicht alle Kriterienpunkte erfüllt werden. 565  Vgl. Hénaff (2014): Die Gabe der Philosophen. Gegenseitigkeit neu denken, 66. 566  Das soziale Band ist also nicht einfach unmittelbar im Gabeereignis gegeben, sondern ist gerade Aushandlungsgegenstand politischer und governmentaler Aushandlung wie Gestaltung. Das ist auch der Grund, warum es keine Garantie geben kann, dass Gabeereignisse in eine Praxis sozialer Anerkennung führen. Ein Beispiel für eine Konzeption, welche Gabe auf diese Art und Weise zu denken versucht und vor diesem Hintergrund auch von echten und unechten Gaben spricht, entwickelt Giovanni Maio: Maio (2014): Anerkennung durch die Gabe der Zuwendung. Warum das Eigentliche in der Medizin nicht gekauft werden kann, 26 f.

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deckt, was sie begründet.“567 Ein solches Loblied der Gabe ist aber zugleich zu stark mit der Faktizität des Risikos intersubjektiver Beziehungen sowie der Prekarität des Gabeereignisses an sich konfrontiert, weil Hénaff die grundlegende Fragilität, die drohenden Brüche in dem Geben einer Gabe, ignorieren könnte. Folglich schränkt er ein, dass die gegenseitigen Angebote der Anerkennung nicht etwa von einer grundlegenden Neigung zum Konsens zeugen, sondern vor dem Hintergrund eines potenziellen Konflikts erfolgen und sich mit der Annahme einer Gabe immer auch ein Spalt des Verrats öffnen kann.568 Zunächst geht Hénaff, ähnlich wie Axel Honneth in seinen Überlegungen zur intersubjektiven Anerkennung, davon aus, dass sich das in der zeremoniellen Gabe eröffnende wie sich gestaltende Miteinander in drei unterschiedlichen Formen ereignet.569 In Auseinandersetzung mit den Studien von Mauss führt Hénaff aus, dass sich in zeremoniellen Gabeereignissen eine archaische Präfiguration der in der Moderne im Anerkennungsdiskurs zu behandelnden Fragen extrapoliert. Aufgrund ihres genuin öffentlichen Charakters ist die zeremonielle Gabe der Modus, in dem die gleiche Berücksichtigung der Interessen aller Individuen eines öffentlichen Raumes und damit auch aller zur Disposition stehenden Anerkennungsansprüche gewährleistet werden kann.570 Ist die rechtliche Sphäre der Anerkennung notwendigerweise institutionell verfasst, muss dies auf die zweite Sphäre der Anerkennung, die sozialen Beziehungen des Gemeinschaftslebens, nicht unbedingt zutreffen. Demzufolge sind dann auch direkte und mitunter weniger formalisierte Formen möglich, welche die Bindungen zwischen den Individuen einer Gruppe erzeugen oder verstärken. In der dritten Form der Anerkennung verortet Hénaff all solche Anerkennungsformen, die sich in den freundschaftlichen und familiären Interaktionen zwischen den einzelnen Individuen vollziehen, wobei der entscheidende Unterschied darin liegt, dass diese Form der Anerkennung in den meisten Fällen nicht öffentlich ist. Sowohl Honneth als auch Hénaff verfolgen die Idee, dass es sich in dem Verhältnis der Anerkennungsformen zueinander um ein Stufenmodell handelt. Während Honneth für ein sukzessives Erweiterungsmodell votiert, in dem ein Selbst die in den privaten Anerkennungsformen von Liebe und Freundschaft errungenen Anerkennungsansprüche auf die weiteren Ebenen von Recht und Solidarität trägt, konstruiert Hénaff die Formen der Anerkennung weniger hierarchisch, führt aber sogleich aus, dass die rechtlichen Anerkennungsfor567 Hénaff

(2014): Die Gabe der Philosophen. Gegenseitigkeit neu denken, 71. Vgl. Shklar (2014): Ganz normale Laster & vor allem die Ausführungen in Kapitel 6.6. 569  Honneth hatte mit Blick auf die in den Formen der Anerkennung gebildeten Selbstverhältnisse zwischen Selbstvertrauen in familiären Kontexten, Selbstachtung in juridischen und der Selbstwertschätzung in gemeinschaftlichen Kontexten unterschieden. Vgl. Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte & Honneth (2011): Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit. Siehe ebenso Kapitel 4.2. 570  Vgl. Hénaff (2014): Die Gabe der Philosophen. Gegenseitigkeit neu denken, 76. 568 

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men als grundlegende Sphäre zu verstehen sind, von der her alle weiteren Spielarten der Anerkennung erschlossen werden können.571 Neben dem Argument, dass nur in der rechtlichen Anerkennung die prinzipielle Gleichheit aller zu 571  Zur Replik Honneths auf Hénaffs ersten Entwurf einer Gabetheorie in: Hénaff (2009): Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie siehe auch: Honneth (2010b): Vom Gabentausch zur sozialen Anerkennung: Unstimmigkeiten in der Sozialtheorie von Marcel Hénaff. Honneth kritisiert Hénaff bezüglich seiner These, dass eine soziale Ordnung nur dann ermöglicht wird, wenn die einzelnen Individuen bereit sind, sich dem Anderen uneigennützig zu öffnen. Gegenstand der Kritik ist die Annahme Hénaffs, dass wechselseitige Anerkennung immer an ein symbolkräftiges Medium gebunden sei (vgl. Honneth (2010b): Vom Gabentausch zur sozialen Anerkennung: Unstimmigkeiten in der Sozialtheorie von Marcel Hénaff, 100. Während Hénaff als Ausgangsthese postuliert, so Honneth, dass es sich beim Gabentausch um ein subjektiv nicht intendiertes Geschehen handelt, was durch den sich darin anzeigenden Stiftungsakt ein soziales Band ermöglicht, wechsle Hénaff im Laufe seiner Ausführung seine Grundannahme und vollziehe gewissermaßen eine normative Wendung. Vgl. Honneth (2010b): Vom Gabentausch zur sozialen Anerkennung: Unstimmigkeiten in der Sozialtheorie von Marcel Hénaff, 102. Anerkennung, so wirft Honneth Hénaff vor, sei genau genommen nur so möglich, dass der Anerkennende mit der Art und Weise seiner Gabe aufweist, dass es ihm ernst ist mit seiner Anerkennungsbekundung. Konkret wirft Honneth Hénaff also vor, dass dieser sich im Endeffekt nicht entscheiden könne, ob es sich beim Gabentausch nun um einen im Hintergrund ablaufenden (unpersönlichen) Prozess handelt oder aber um einen einseitig eröffnenden (persönlichen) Akt der Anerkennung. „Auf der einen Seite will er mit dem Strukturalismus behaupten, dass das erforderliche Maß an sozialer Anerkennung zwischen Gruppen oder Einzelakteuren stets schon durch systemisch wirkende Regeln gewährleistet wird, auf der anderen Seite aber will er [Hénaff, MB] nicht von der Einsicht lassen, dass jede derartige Anerkennung immer wieder aufs Neue einen freiheitlichen Akt der Gabe beinhalten muss.“ Vgl. Honneth (2010b): Vom Gabentausch zur sozialen Anerkennung: Unstimmigkeiten in der Sozialtheorie von Marcel Hénaff, 105. Unklar bleibt laut Honneth, wie Hénaff in seiner Konzeption angesichts eines einseitigen Anerkennungsangebots zugleich von sozialen Verstetigungsformen sprechen kann. Mit anderen Worten: Warum sollte der Empfänger einer Gabe die einseitige Gabe auf eine Art und Weise erwidern, dass daraus ein soziales Band entstehen kann? Vgl. Honneth (2010b): Vom Gabentausch zur sozialen Anerkennung: Unstimmigkeiten in der Sozialtheorie von Marcel Hénaff, 106. An dieser Stelle kann der eigentliche Konflikt zwischen Honneth und Hénaff identifiziert werden: In der Konzeption von Hénaff gibt der Andere Anerkennung nicht deswegen, wie es Honneth von Hegel und Fichte her indiziert sieht, weil er von seinem Gegenüber erwartet, in gleicher Weise anerkannt zu werden, sondern als einen riskanten, großherzigen Akt. Vgl. Honneth (2010b): Vom Gabentausch zur sozialen Anerkennung: Unstimmigkeiten in der Sozialtheorie von Marcel Hénaff, 107. Eine solch einseitige Gabe, als Ermöglichung von intersubjektiver Anerkennung, inauguriert nach Honneth aber lediglich die Aneinanderreihung von einzelnen einseitigen Eröffnungsakten, sodass im Krisenfall einzig der „therapeutische Ratschlag“ übrig bliebe, „uns heute angesichts der Krise der Demokratie auf unser ethisches Vermögen zur Selbstüberschreitung zu besinnen.“ Honneth (2010b): Vom Gabentausch zur sozialen Anerkennung: Unstimmigkeiten in der Sozialtheorie von Marcel Hénaff, 110. Zugleich drängt sich gegenüber den Ausführungen Honneths die Frage auf, ob er Hénaff nicht bewusst missversteht. Denn bei aller Kritik an Hénaffs Verständnis der symbolischen Gabe behauptet Hénaff ja keineswegs, dass auf den eröffnenden Akt des Gabeereignisses kein Element der Wechselseitigkeit erfolgen könnte. Ganz im Gegenteil, so ließe sich gegen Honneths These einwenden, dass die Anerkennung der einzelnen Subjekte als gleichwertige bereits eine spezifische Antwort auf die grundlegende Vulnerabilität menschlicher Vollzüge darstellt. Wenn

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hörenden Ansprüche ausgehandelt wird, erschließt sich eine solche Priorisierung vor allem dadurch, dass Hénaff aufzuzeigen versucht, wie die unterschiedlichen Formen der Anerkennung sich in den und durch die verschiedenen Modi der Gabe entfalten können. So entfaltet sich die rechtliche Garantie einer öffentlich verfassten Gleichheit über die Anknüpfung an zeremonielle Gabeereignisse. Die zeremonielle Gabe stellt die Art und Weise dar, in der rechtliche Anerkennung durch Gesetze sowie die Gesamtheit von politischer, aber auch ökonomischer Verfasstheit gewährleistet wird. Was sich in dem zeremoniellen Gabeereignis vollzieht, ist die wechselseitige Austarierung von Anerkennungsansprüchen über symbolische Dispositive.572 Denn bei aller Kritik, die Hénaff an Marcel Mauss’ Arbeiten und den zahlreichen Interpretationen übt, stimmt Hénaff in der Grundintention doch mit Mauss überein: Über die Analyse der unterschiedlichen symbolischen Dispositive kommt man dem auf die Spur, was im Mittelpunkt aller (archaischen) zeremoniellen Gaberituale steht: der Geste der gegenseitigen Anerkennung und des Bündnisses. Erst wenn sich diese Geste gegenseitiger Anerkennungen in und durch Institutionen transportiert und verfestigt hat – und darin besteht dann auch der Unterschied zu archaischen, zeremoniellen Gaberitualen –, ist jedem Bürger prinzipielle Anerkennung zuge­ sichert und rechtlich garantiert.573 Vor dem Hintergrund der Garantie einer prinzipiellen Gleichheit, so Hénaff, eröffnen sich dann auch Räume für die anderen beiden Modi der Gabe: der wohltätigen Gabe als Signum einer einseitigen Großzügigkeit, wie sie sich in Liebes- und Freundschaftsbeziehungen zeitigt, und der solidarischen Gabe, wie sie sich in den Anerkennungsformen des Gemeinschaftslebens manifestiert.574 Honneth selbst fordert, dass intersubjektive Anerkennung immer einen Akt der Selbstbegrenzung erfordert (vgl. Honneth (2012d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 54–106), dann müsste er konsequenterweise eingestehen, dass ein solcher Akt grundsätzlich ein riskantes Unterfangen darstellt, denn das begehrende Subjekt (siehe hierzu Kapitel 4.1) kann zwar erhoffen, dass sich das Gegenüber gleichermaßen beschränkt, aber Gewissheit darüber wird es immer erst nachträglich erhalten. 572  Rituelle Dispositive versteht Hénaff als Denksysteme ohne Begriff. Ohne Begriff sind solche Denksysteme insofern, als die jeweilige Bedeutung eines Prozesses in den symbolischen Formen selbst liegt. Die Bedeutung aus diesen symbolischen Formen extrahieren oder gar extrapolieren zu wollen, geht mit einer Zerstörung der jeweiligen Bedeutung einher. Damit verwendet Hénaff den Begriff des Dispositives in ähnlicher Art und Weise, wie es auch Michel Foucault vorgeschlagen hat, auch wenn er sich nicht direkt auf ihn bezieht. Vgl. Hénaff (2014): Die Gabe der Philosophen. Gegenseitigkeit neu denken, 254. Dispositive können als strukturierende und vernetzende Einheiten verstanden werden, in denen unterschiedliche Diskurse, Institutionen, Gesetze, wissenschaftliche Einheiten, etc. zusammengebunden werden, ohne dabei jedoch eine homogene Einheit zu bilden. Vgl. Foucault (2003b): Dits et Ecrits 1954–1988. Band III: 1976–1980, 392. 573  Vgl. Hénaff (2014): Die Gabe der Philosophen. Gegenseitigkeit neu denken, 256. 574  Vgl. Hénaff (2014): Die Gabe der Philosophen. Gegenseitigkeit neu denken, 76. Siehe hierzu auch: Bedorf (2010a): Gabe, Recht und Ethik in Hénaffs anthropologischer Genealogie der Anerkennung.

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Diese beiden Konfigurationen der Gabe werden von Hénaff aber nicht wirklich als eigenständige Formen des Gabeereignisses verstanden, sondern mehr oder weniger als Unterpunkte der zeremoniellen Gabe. Da Hénaffs Fokus vor allem auf der Entfaltung – und Neujustierung – eines Verständnisses öffentlich gelebter Gegenseitigkeit liegt, ist die Betonung der Bedeutung der zeremoniellen Gabe von besonderer Wichtigkeit. So erschließt sich auch, warum der zeremoniellen Gabe im Vergleich zu den anderen Modi des Gabegeschehens eine derart große Rolle zukommt.575 Auf der einen Seite gelingt es Hénaff dadurch, die bleibende symbolische Vermitteltheit jeglicher Gleichheitsansprüche aufzuzeigen und auf die sich in der zeremoniellen Gabe eröffnenden Gestaltungsräume hinzuweisen. Während Axel Honneth intersubjektive Anerkennung vor allem von den Kämpfen um Anerkennung her motiviert sieht, kann Marcel Hénaff seinen Ansatz stärker auf die voraussetzungsreiche, aber für alle weiteren Anerkennungsverhältnisse eben notwendige, gegenseitige Anerkennung und Achtung fokussieren.576 Zugleich droht die von Hénaff vorgenommene vorrangige Fokussierung der Gabe auf ihre zeremonielle Funktion nur noch bedingt aufzeigen zu können, an welchen Stellen sie sich noch als ein vom Tausch unterschiedenes Phänomen verstehen lässt. Mit Hénaff könnte der Unterscheid zwischen Phänomenen des Tausches und der Gabe auf die Weise bestimmt werden, dass bei einem reinen (ökonomischen) Tausch lediglich unterschiedliche Waren nach bestimmten ausgehandelten Prozeduren getauscht werden. Dagegen wird in dem zeremoniellen Gabeereignis ein Stiftungsereignis zelebriert, das zwar auch an den Tausch bestimmter Waren oder Güter gekoppelt sein kann, zugleich aber in seiner symbolischen Dispositivität einen Bedeutungsgehalt transportiert. Dieser kann nicht von dem jeweiligen Tauschgut getrennt werden, aber reicht eben über dieses hinaus, indem Räume rechtlicher Anerkennung gestiftet werden. Die Grenze zwischen Gabe- und Tauschereignissen lässt sich also nicht derart ziehen, dass das eine wechselseitiger Tausch und das andere einseitige Gabe wäre. Vielmehr zeigen sich auch in Ereignissen zeremonieller Gabe sowohl Elemente der Wechselseitigkeit als auch der einseitigen Stiftung. Zugleich aber weist die Gabe als Stiftungsereignis über Tauschökonomien hinaus,577 indem in solchen Ereignissen immer wieder neu die Frage aufgeworfen wird, ob die prinzipielle Gleich575  Vor diesem Hintergrund leuchtet die Kritik Hénaffs an dem Gabeverständnis Derridas auch nur bedingt ein: Auch Hénaff spitzt seine Arbeiten, zumindest in seinen jüngsten Überlegungen, ja letztlich auf die These zu, dass es die Gabe nicht gibt. 576  Vgl. hierzu auch: Adloff (2005): Die Reziprozität der Gesellschaft – zum Paradigma der Gabe in der Moderne. 577  Siehe hierzu auch die theologischen Perspektivierungen von Veronika Hoffmann in Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Magdalena Frettlöh: Hoffmann (2013): Skizzen zu einer Theologie der Gabe. Rechtfertigung – Opfer – Eucharistie – Gottes- und Nächstenliebe, 115–124. Siehe auch: Frettlöh (2001): Der Charme der gerechten Gabe. Motive einer Theologie und Ethik der Gabe am Beispiel der paulinischen Kollekte für Jerusalem, 123 f.

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heit aller Anspruchsträger wirklich bewahrt wird, was sich dann eben vor allem daran erweisen muss, inwiefern die die Ansprüche jeweils vertretenden Institutionen gerecht handeln.578 Diesen bleibend kritischen Stachel der Gabe, gerade in ihrer Spannung von Verrat und Ermöglichung, zu bezeugen, erfordert, dass die Gabe nicht einfach in den symmetrischen Gleichheitsansprüchen aufgehend gedacht wird, sondern vielmehr in der Art und Weise eines Gabeereignisses das Ineinander von Zeugnis und Bezeugung herausgefordert ist. Kann mit Hénaff betont werden, dass sich zuallererst in der (zeremoniellen) Gabe ein Gestaltungsraum eröffnet, in dem die prinzipielle Gleichheit aller Bürger dieses Raumes gewährleistet wird, muss sich zugleich erweisen, ob diese Gestaltungsräume auch wirklich als offene, also die Widerfahrnis von Grausamkeit konkret und aktiv vermeidende gestaltet werden. Gerade hier liegt die systematische Erschließungsfigur des Gabeereignisses: Es ermöglicht die Aushandlung gleicher Ansprüche vom Stiftungsereignis einer responsiv-leiblichen Asymmetrie her, die in den symmetrischen Gestaltungsräumen weiterhin bezeugt werden muss, da nur auf diese Weise ein dauerhaftes Gehört-Werden eines jeden sowie die aktive Vermeidung von Verrat fördernden Strukturen bezeugt wird. In diesem Sinne erklärt sich dann auch, inwiefern Mauss von einer chiastischen Vermischung von Person und Sache im Geben der Gabe sprechen kann.579 Damit ist nicht intendiert, dass Sache und Person einfach untrennbar ineinanderfallen, sondern im Akt des Gebens sind Person und Gabe vielmehr nur unter der Konsequenz trennbar, dass die Gabe ihren ermöglichenden und unterbrechenden Charakter, ihre mêlée580, ihre Mischung aus Ökonomie und Anökonomie, verliert und entweder reine Tauschlogik oder absolute Entäußerung ist. Auf Reziprozität ist die Gabe insofern angelegt, als sie in Spannung steht zwischen dem Risiko der Aussetzung an den Anderen – es bleibt nicht nur offen, was gegeben wird, sondern eben auch, ob und wie ein Selbst als Jemand anerkannt wird – und der Wette auf die Stiftung und Ermöglichung eines sozialen 578  Über

entsprechende Konsequenzen und Herausforderungen für eine Institutionen­ ethik nachzudenken, ist dabei herausfordernd und spannend, kann aber an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. Siehe hierzu auch: Dabrock (2013): Brauchen wir eine neue Institu­tio­ nenethik? sowie grundlegender: Huber (2015): Rechtsethik. 579  Auf diesen Punkt in den Ausführungen von Marcel Mauss weist Ingrid Därmann in ihrem einleitenden Werk zu den Theorien der Gaben besonders hin: Die Gabe ist Selbstgabe, in welcher der Gebende ein Stück seiner Person preisgibt und damit eine dingliche Fremderfahrung des Anderen macht: Därmann (2010): Theorien der Gabe zur Einführung, 21. Mauss selbst führt diesen Punkt in seinen Explikationen zum Potlatsch aus: In dem Ereignis der Gabe kann man seine Maske, seinen Namen und nicht zuletzt seinen Status als Person verlieren. Was auf dem Spiel steht, ist nicht weniger als der mögliche Verlust seines eigenen Lebens. Vgl. Mauss (1990): Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften, 93. 580  Zu einer ausführlicheren Auseinandersetzung mit diesem Theorem vgl. Nancy (1993): Lob der Vermischung. Für Sarajevo 1993. Siehe ebenso Kapitel 6.1 in dieser Arbeit.

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Bandes zwischen Selbst und Anderem.581 Die Gabe kann dann als ein durchaus riskanter Einsatz in einem Spiel bezeichnet werden, der aus der Motivation heraus erfolgt, durch das Geben einer Gabe ‚Identität‘ zu gewinnen. Eine solche Identität, oder besser gesagt, eine derartig gestiftete Selbstbezüglichkeit eines Selbst, bleibt dann aber latent gefährdet, weil sie sich immer wieder neu als tragfähig erweisen muss. Sie kann Bestätigung erfahren und sich dementsprechend in Kontinuität stiftenden Elementen verdichten, gleichsam wie es möglich ist, dass sie erschüttert wird oder mitunter auch nahezu komplett erodiert. 582 Mit anderen Worten: Jemand findet sich als Jemand anerkannt vor und kann zugleich mit und in seinem Handeln auf Anerkennung zielen. Einen Beginn nicht bei sich selbst zu haben, können Individuum und auch Sozialität auf der einen Seite zur Bildung produktiver Eigenpräferenzen nutzen. Zugleich aber bleiben sowohl Selbst in seinem Selbstbezug als auch Sozialität in ihrem Verständnis von Gemeinschaft prekär und befinden sich trotz aller ordnenden Elemente in einem permanenten Ungleichgewicht. Aus diesem Grund harren sie anerkennender politischer Gestaltungen, müssen modifiziert und adjustiert werden, indem an bestehende Schemata angeknüpft wird und damit sowohl individuelle als auch gemeinschaftliche Fortsetzungsmomente ermöglicht sind. Die sich in der Gabe der Anerkennung immer schon einschreibende Prekarität läuft nicht nur einer vorschnellen Romantisierung der Gabeereignisse zuwider, sondern richtet den Blick auch noch einmal auf die Frage, inwiefern die sich im Gabeereignis ermöglichenden responsiven Anknüpfungen und die sich darin bezeugenden Selbstbezüge auch stellvertretend eingenommen werden können. Bereits in der Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Bernhard Waldenfels und Burkhard Liebsch hatte sich gezeigt, 583 wie schmal der Pfad zwischen einer Selbstbezüge ermöglichenden und einer Selbstbezüge verschließenden Anknüpfung an Fremdes ist, sodass ein Selbstbezug so brüchig werden kann, dass sich ein Selbst ohne Intervention eines Anderen nicht mehr auf sich selbst beziehen kann. Gerade weil der Selbstbezug eines Selbst kein Synonym für einen Anfang ganz bei sich selbst ist und sich ein Selbst in seinem Selbstbezug damit immer schon in die Spur einer gegebenen fremden Stiftung gestellt sieht, verliert 581 

Vgl. auch: Bedorf (2010b): Verkennende Anerkennnung, 183. Hoffmann hat die sich in der Gabe ereignende Stiftung auch noch einmal an den theologischen Gabediskurs angeschlossen. Vgl. Hoffmann (2013): Skizzen zu einer Theologie der Gabe. Rechtfertigung – Opfer – Eucharistie – Gottes- und Nächstenliebe, 283. Die Theoreme von Gabe und Anerkennung sind eng miteinander verbunden. Während Hoffmann diesen Konnex über eine sehr ausführliche Analyse des philosophischen wie theologischen Gabediskurses herstellt, wurde im Rahmen dieser Arbeit von einer Konzeption leiblich-responsiv verfasster, intersubjektiver Anerkennung die Verbindung zum Gabediskurs gezogen. Beide Ansätze stimmen darin überein, dass sich sowohl Gabe als auch Anerkennung weder aus einer singulären Betonung der Einseitigkeit noch einer singulären Betonung der Wechselseitigkeit angemessen verstehen lassen. 583  Vgl. Kapitel 6.3 & 6.6. 582  Veronika

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ein Selbst in dem Moment eines Bruchs in seinem Selbstbezug auch nicht seine personale Autonomie. Denn die Vulnerabilität eines Selbst stellt zunächst keine Pathologie, sondern eine Grunderfahrung eines jeden Selbstbezugs dar. Das bedeutet konkret: Mit dem temporären Verlust einer Selbstbezüglichkeit verschwindet das Selbst nicht ohne Weiteres aus den Anerkennungsvollzügen und damit den Versprechen, die es gegeben und erhalten hat. Die Einschränkung ‚ohne Weiteres‘ weist darauf hin, dass sich dieses grundlegende Versprechen, das sowohl individuelle wie kollektive Identifizierungen ermöglicht, bewähren muss, indem es bezeugt wird. Mit anderen Worten: Das soziale Band einer Gesellschaft muss sich gerade daran erweisen, inwiefern es imstande ist, Vulnerabilität nicht nur in prinzipielle Gleichheitsansprüche – also die Zuweisung bestimmter Rechte und Pflichten zu bestimmten Ansprüchen – zu überführen, sondern vielmehr gerade die Stimmen der besonders Vulnerablen praktisch hörbar und sagbar zu bezeugen. Peter Dabrock hat in Auseinandersetzung mit dem von Heinrich Bedford-Strohm vertretenen Vorrang für die Armen584 bei der Umsetzung von Gerechtigkeitsansprüchen die Figur der vorrangigen Option für die Benachteiligten systematisch entwickelt.585 Eine solche Option verweist darauf, dass der jeweilige Selbstbezug ein gestifteter ist und sich angesichts der Erfahrung eines Stiftungsereignisses aus Dankbarkeit seinen Mitmenschen zuwendet. Ergänzend soll festgehalten werden, dass eine solche Dankbarkeit zwar erwünscht und erhofft werden kann, zugleich aber insofern prekär bleibt, als die fundamentale Angewiesenheit leiblicher Vollzüge auch dann ein Eintreten für die Stimmen der Stummen und Unsichtbaren erfordert, wenn ein Selbstbezug nicht dankbar für die Gabe seiner Stiftung ist, sondern vielleicht gerade mit der Art seiner Stiftung hadert. Konkret: Die vorrangige Option für die Benachteiligten muss praktisch bezeugt werden. Dass sie nicht einfach in ein Prinzip überführt werden kann, darauf hat auch Peter Dabrock dezidiert hingewiesen.586 Aber zugleich kann sie auch nicht alleine davon abhängig sein, dass sich ein Selbstbezug aus Dankbarkeit seinen Mitmenschen zuwendet. Vielmehr muss sich ein Selbst in seinem Selbstbezug als ein Gastliches erweisen und gerade darin seine eigene Verletzlichkeit bezeugen. Dabei wäre es zweitrangig, ob es dies vorrangig aus Dankbarkeit oder vorrangig aufgrund eines Pflichtbewusstseins tut, auch wenn zugestanden werden kann, dass es sich besser bei einem dankbaren (Gast-)Geber lebt. Inwiefern Personen, die ihre Selbstbezüge teilweise oder gänzlich verloren haben, stellvertretend eine Stimme gegeben

584  Vgl. Bedford-Strohm (1993): Vorrang für die Armen. Auf dem Weg zu einer theologischen Theorie der Gerechtigkeit. 585  Vgl. Dabrock (2012): Befähigungsgerechtigkeit. Ein Grundkonzept konkreter Ethik in fundamentaltheologischer Perspektive, 184–188. 586  Vgl. Dabrock (2012): Befähigungsgerechtigkeit. Ein Grundkonzept konkreter Ethik in fundamentaltheologischer Perspektive, 186 ff.

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werden kann und welche Rückschlüsse sich hieraus für die Rede von Selbstbestimmung und Fürsorge ziehen lassen, wird im Folgenden untersucht.

7.2 Stellvertretende Bezeugung „Dass man niemals Gewissheit hat. Daran spürst du, wer du wirklich bist“587, lässt Richard Powers seine Romanfigur Joseph sagen und spielt damit auf eine bleibende Unsicherheit an, die als Grund dafür gelten kann, dass ein Selbst in seinen Selbstbezügen unweigerlich darauf angewiesen ist, dass andere für es eintreten. Angesichts der bislang entwickelten und diskutierten Konzeptionen eines responsiv-gestifteten Selbstbezugs, der seinen Beginn als ein von Anderem aufgefordertes Wesen nicht bei sich selbst hat und auf Gestaltungsräume der Bezeugung angewiesen ist, ist die Frage nach den Möglichkeiten und Herausforderungen einer Figur der Stellvertretung nicht nebensächlich, sondern eine der zentralen Gestaltungsfragen intersubjektiver Anerkennung. Das Theorem der Stellvertretung588 hat in den letzten Jahren gerade in den medizinethischen Debatten zunehmend Aufmerksamkeit erfahren. Immer dann, wenn bei einem Patienten oder einer Patientin die Fähigkeit zur aktiven Willensbekundung temporär oder dauerhaft eingeschränkt erscheint oder diese Fähigkeit in unterschiedlichen Konstellationen gar nicht erst erworben werden konnte, ist darüber nachzudenken, wie stellvertretend für das jeweilige Individuum entschieden werden kann.589 Verbunden mit dem Rückgriff auf das Theorem der Stellvertretung sind unterschiedliche Anschlussprobleme: 587 Powers

(2010): Klang der Zeit, 461. Ein äußerst luzider Aufriss der Begriffsgeschichte findet sich in: Schaede (2004): Stellvertretung. Begriffsgeschichtliche Studien zur Soteriologie, 7–270. Besonders wichtig ist die Unterscheidung zwischen der Stellvertretung als subrogatio, substitutio, vicaratio, procuratio, repraesentatio und locitentia. Eine Zusammenfassung findet sich in: Schaede (2006): Jes 53, 2. Kor 5 und die Aufgabe systematischer Theologie, von Stellvertretung zu reden, 129–133. Für eine ausführliche Abgrenzung der Stellvertretung von Vorstellungen bloßer Repräsentanz siehe auch: Gestrich (2001): Christentum und Stellvertretung: religionsphilosophische Untersuchungen zum Heilsverständnis und zur Grundlegung der Theologie, 123–125. 589  Stellvertretung kann demnach zunächst einmal als eine Struktur beschrieben werden, in der A für B handelt, und zwar gegenüber C hinsichtlich einer Sache x. Unterschieden werden können mit Johannes Weiß die folgenden Problematisierungslinien: A wäre in diesem Fall der Vertretende und B der Vertretene. Bei A kann es sich um einen einzelnen oder eine Gruppe von handlungsfähigen Subjekten handeln und bei B sowohl um eine reale wie fiktive Person als auch die Figuration von bestimmten sozialen Gebilden. Als entscheidend stellt sich nun aber heraus, dass die Stelle nicht nur für jemanden eingenommen, sondern auch gegenüber anderen Rechenschaft über die Art und Weise der Vertretung der Stelle ablegt wird. Die Relation A handelt für B ist dabei in doppelter Weise mehrdeutig. Zum einen für das Handeln: Handeln kann bedeuten, dass A für B spricht, für B eine Entscheidung trifft oder, ganz allgemein, B präsent macht. Zum anderen ist auch die Präposition ‚für‘ mehrdeutig. Sie kann sowohl bedeuten, dass A im Auftrag von B handelt, an der Stelle von B oder im Interesse von B. Je nachdem, wie die Stellvertretung figuriert wird, ergeben sich unterschiedliche Anschlussfragen. Vgl. Weiß (1998): Handeln und handeln lassen. Über Stellvertretung, 25–46 & 47–60. 588 

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Erstens lässt sich diskutieren, ob und wenn ja unter welchen Bedingungen an der Vorstellung eines rational und unter Bezugnahme auf die eigenen Wertüberzeugungen entscheidenden Individuums festgehalten werden kann.590 Hiervon hängt dann nicht nur ab, ob unter der Annahme einer bestimmten psychischen Pathologie überhaupt noch von einem selbstbestimmten Individuum ausgegangen wird oder werden kann,591 sondern auch, welche Funktion, Bedeutung und kriteriale Rolle dem Selbstbestimmungsbegriff zukommen kann.592 Zweitens und grundlegend ist zu eruieren, wie das Verhältnis von Symmetrie und Asymmetrie, Alterität und Identität, von Passivität und Aktivität sowie von Authentizität und Autorität unter den Anforderungen pluraler Wert- und Bewertungsschemata austariert werden kann.593 Besonderes Interesse kommt den Fragen zu, welche Bedeutung und Auswirkung ökonomische Rationalitäten für die Behandlung der Patienten wie für klinische Strukturen insgesamt haben,594 welche Auswirkung von kulturellen Wertverschiebungen auf ärztliche Gewissensentscheidungen in vulnerablen Momenten beschrieben werden können, damit verbunden aber ebenso, welche Formen der Arzt-Patienten-Beziehung als angemessen, notwendig oder geboten erachtet werden.595 Drittens kumulieren diese Aspekte in der Frage, wie ein gehaltvolles Verständnis von Stellvertretung gewonnen werden kann, das weder in eine bloße Ersetzbarkeit des Einen durch einen Anderen abzugleiten droht, noch an einem strikten Unersetzbarkeitspathos festhält und damit verkennt, dass Selbstbezüge sich von einem Anderen her entfalten. Beiden Fallstricke gemeinsam ist, dass auf unterschiedliche Art 590  Vgl. Breitsameter (2011): Autonomie und Stellvertretung in der Medizin. Entscheidungsfindung bei nichteinwilligungsfähigen Patienten, 7. 591 Zu der Debatte insgesamt: Bloch & Green (2009): Psychiatric Ethics. Besonders: Beauchamp (2009): The philosophical basis of psychiatric ethics; Kader & Pantelis (2009): Ethical aspects of drug treatment. Mit besonderem Fokus auf Fragen zum Verhältnis von Selbstbestimmung und psychischer Devianz: Szmukler (2013): „Personality Disorder“ and Capicity to Make Treatment Decisions. 592  Vgl. zu dieser Debatte: Gerhardt (1999): Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Gerhardt (2008): Selbstbestimmung und konkrete Ethik, Manson & O’Neill (2007): Rethinking Informed Consent in Bioethics, Vollmann (2008): Patientenselbstbestimmung und Selbstbestimmungsfähigkeit. 593  Vgl. hierzu die Studie von Stephan Sahm und Regina Will, die zeigen, dass sich die Schwierigkeit der Ausbalancierung dieser Ambivalenzen vor allem in dem Wunsch äußert, doch wenn irgendwie möglich von einem Angehörigen, wie fern auch immer, betreut zu werden: Sahm & Will (2005): Angehörige als „natürliche“ Stellvertreter. 594 Duttge, et al. (2009): Recht am Krankenbett – Zur Kommerzialisierung des Gesundheitssystems. 595  Vgl. zu dieser Debatte: Truog (2012): Patients and Doctors — The Evolution of a Relationship, Fischer (2008): Gegenseitigkeit. Die Arzt-Patientenbeziehung in ihrer Bedeutung für die medizinische Ethik, Lebacqz (2012): Empowerment in the Clinical Setting & Dedding, et al. (2011): How will e-health affect patient participation in the clinic? A review of e-health studies and the current evidence for changes in the relationship between medical professionals and patients.

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und Weise die konstitutive leibliche Positionalität eines Selbstbezuges sowie die Einbettung in eine eigene Zeitlichkeit mit sich und anderen übersehen wird. Im einen Falle, indem jegliche Positionalität negiert wird, im andern dadurch, dass die Positionalität eines Selbst transzendiert und ihren Verortungskontexten entzogen wird. Die Herausforderung, die sich in der Figur der Stellvertretung stellt, besteht zunächst darin, an die Stelle eines Anderen zu treten und damit gewissermaßen sowohl einen Prozess der Selbstverdopplung als auch zugleich einen Prozess der Verdopplung des vertretenen Anderen zu durchlaufen.596 Entsprechend ist die für einen Anderen eingenommene Stelle weder einfach die eigene noch einfach ein gänzlich fremder Anspruch.597 Aus diesem Grund bleibt man nicht unbeteiligt, kann nicht in der Position eines vermeintlich unbeteiligten Beobachters 596  Johannes Weiß hat vollkommen zu Recht darauf verwiesen, dass das Phänomen der Stellvertretung mit einer zunehmenden Ausdifferenzierung sozialer Systeme und Systemlogiken immer komplexer wird. Vgl. Weiß (1998): Handeln und handeln lassen. Über Stellvertretung, 26 ff. Die beschriebenen Phänomene verkomplizieren sich im Zeitalter von Big-Data-Netzen noch einmal. Die Frage, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit eine Entscheidung als eine eigene zugeschrieben werden kann, verquickt sich dabei mit der Frage, welche Kriterien sicherstellen, dass eine fremde Äußerung nicht irrtümlicherweise als stellvertretend getroffene zugerechnet wird. Vgl. hierzu: Mittelstadt & Floridi (2015): The Ethics of Big Data: Current and Foreseeable Issues in Biomedical Contexts, Floridi (2011): The Philosophy of Information & Floridi (2013): The Ethics of Information. Im Folgenden wird das Phänomen aber so verstanden, dass es voraussetzt, dass jemand für jemand anderen eintritt, da der Vertretene nicht in der Lage ist, seine Belange zu artikulieren. Dass es eine sehr interessante Perspektive wäre, zu prüfen, inwieweit diese Einschränkung nicht auch auf Big-Data Phänomene zutrifft, kann hier nicht weiter ausgeführt werden. 597  Der Begriff der Stelle kann dabei in unterschiedlichen Dimensionen beschrieben werden. In einer ersten Dimension bezeichnet er einen konkreten Ort, eine Aufgabe, die eine Person übernimmt und die sie auch wieder verlassen kann, etwa in dem Fall, in dem sie sich entscheidet, eine andere Aufgabe zu übernehmen. In diesem Fall wäre die Vertretung einer Stelle dann am ehesten als eine Art Delegation zu verstehen. Jemand übernimmt die Aufgabe eines anderen und vertritt diesen in dieser. Auch in solchen Delegationsprozessen kommt es dabei zu einer Verschränkung von Selbst- und Fremdbezügen. Die Übernahme einer Aufgabe durch einen anderen führt ja gerade nicht die Arbeit eines anderen ohne Unterbrechung weiter, sondern produziert neue Anknüpfungsmöglichkeiten. Die Fortführung einer Arbeit auf die gleiche Art und Weise stellt ihrerseits bereits wieder eine sekundäre Anknüpfung dar. Solche Delegationsprozesse beschreiben dabei aber zugleich das Phänomen der Stellvertretung nur unzureichend. Die Stelle markiert nicht nur den Ort, an dem ein Selbst eine spezifische Aufgabe übernimmt, sondern ebenso die ganz grundlegende Voraussetzung dafür, dass ein Selbstbezug sich von einer spezifischen Positionalität her eröffnet. In diesem Sinne können auch die Ausführungen von Christof Gestrich verstanden werden, wenn er die Stelle als das versteht, „wovon man lebt […]. Um überhaupt anwesend zu sein, zu existieren und das eigene Leben fristen zu können, braucht eine Person ein ,Anwesen‘ oder eben einen Grund und Boden, eine ,Stelle‘, woraus ihr der nötige Lebensraum und die ihr zugebilligte Lebenszeit oder -frist (eine ,Gegenwart‘) zufließen.“ Gestrich (2001): Christentum und Stellvertretung: religionsphilosophische Untersuchungen zum Heilsverständnis und zur Grundlegung der Theologie, 128. Stellvertretung konfiguriert sich vor diesem Hintergrund sowohl als Vertretung als auch als ermöglichende Identifikation.

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bleiben, wenn man an die Stelle eines Anderen tritt. Vielmehr bindet sich ein Selbst mit seinem Selbstbezug an den Vertretenen, indem es direkt oder indirekt sein Wort gibt, als Vertretender in dem Sinne des Vertretenen zu handeln. Mit dem Geben eines solchen Wortes verlässt ein Selbst aber zugleich seinen sichereren Stand. Es tritt an die Stelle eines Anderen und setzt dadurch nicht nur seine bisherige Prä-Interferenz aufs Spiel, was nicht an sich exzeptionell wäre, sondern versucht geradezu, seine Handlungen durch die Augen des Vertetenen zu sehen. Insofern muss, wie es auch Lévinas in seinen Ausführungen zur Stellvertretung gezeigt hat, nicht nur von einem Prozess der Selbstverdopplung, sondern ebenso von einer Verdopplung des Anderen im Ereignis der Stellvertretung gesprochen werden.598 Die Herausforderung besteht gleichermaßen darin, dass eine Aufgabe der Stellvertretung den Verlust der Sprachfähigkeit des Vertretenen bedeutet und dass selbst dann, wenn ‚erfolgreich‘ an die Stelle eines Anderen getreten wurde, sich zugleich die Anknüpfungspunkte und -möglichkeiten sowohl für den Vertreter, aber noch mehr für den Vertretenen transformiert haben und sich eine Bruchstelle, ein Riss, in den Stellvertretungsprozess einschreibt. Es kann also durchaus gute Gründe geben, warum ein Selbst, sei es in einem privaten oder professionellen Stellvertretungsverhältnis, die Art und Weise der Stellvertretung modifiziert, in eine andere Form überführt, unterbricht oder gar beendet. Trifft es jedoch zu, dass das Phänomen der Stellvertretung zwischen Prozessen der Selbstverdopplung und einer Verdopplung des Anderen liegt, dann impliziert jede Stellvertretung, dass es für beide, Vertretenden und Vertretenen, ein Spiel ohne doppelten Boden ist: ohne doppelten Boden, weil die Zuschreibung, wer an wessen Stelle tritt, eben nicht unumstößlich klar ist, sondern selbst auf dem Spiel steht.599 Folglich handelt es sich bei der Stellvertretung um ein Phänomen, bei dem nicht einfach ein serieller Ortswechsel vollzogen wird, da dies implizieren 598  Emmanuel Lévinas hebt besonders diesen Aspekt der Stellvertretung hervor und gerät dabei in eine gewisse Schieflage, wenn er dafür argumentiert, dass Stellvertretung als eine passive Passivität zu verstehen ist. Vgl. Lévinas (1992): Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, 219–288. Damit reduziert Lévinas das Phänomen der Stellvertretung nämlich allein auf die Widerfahrnis eines sich immer schon als Vertretenen vorzufinden. Eine Herauslösung der Stellvertretung aus der Spannung von Selbstverdopplung und Verdopplung des Anderen vermag damit nicht mehr die Kopplungsphänomene von responsiver Grundasymmetrie und geltungstheoretischer wie handlungstheoretischer Symmetrie (vgl. Kapitel 6.3 und 6.5) zu erfassen. 599 In diesem Sinne sieht Emmanuel Lévinas auch die prinzipielle Möglichkeit eines Selbstbezugs zuallererst in der Figur der Stellvertretung ermöglicht. Entsprechend führt Lévinas aus: „Der Selbe hat mit dem Anderen zu tun, bevor – in welcher Eigenschaft auch immer – der Andere für ein Bewusstsein erscheint. […] Der Andere-im-Selben der Subjektivität ist die Beunruhigung des Selben durch den Anderen. […] Auch die Zurückgezogenheit des Seins auf sich selbst […] erreicht nicht den Knotenpunkt der Subjektivität.“ Lévinas (1992): Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, 69 f. Vgl. hierzu auch: Buddeberg (2012): „Du wirst nicht töten“. Lévinas’ Ethik der Verantwortung als erste Philosophie, 713.

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würde, dass das Treten an die Stelle eines Anderen ein einfach reversibler Prozess wäre, es also möglich wäre nach der Übernahme der Stelle eines Anderen, dies wieder rückgängig zu machen und ohne Weiteres an seinen vorherigen Ort zurückzukehren. Dies ist deswegen problematisch, weil die Übernahme der Stelle eines Anderen bedeutet, einem Anderen eine bestimmte Stimme zu geben, diesen damit als jemanden zu bezeugen und damit nicht zuletzt mit diesem in eine fremde Welt einzutreten, die sich in dem Moment eines Rücktritts von der Stellvertretung verschließt und mitunter verstummt. Mit anderen Worten: Die Aufgabe der Stellvertretung verändert auch die Art und Weise der Bezeugung der Stelle eines Anderen. Es kann gute Gründe geben, dass dann jemand die Stelle auf andere Art und Weise besetzt, und natürlich gibt es rechtliche Verfahren, die garantieren, dass und auf welche Art und Weise eine Stellvertretung in dem Fall zu erfolgen hat, dass niemand an die Stelle der betroffenen Person tritt. Das alles ändert aber nichts daran, dass ein Selbst, welches sein Wort gegeben hat, die Stelle eines Anderen in dessen Sinne auf eine bestimmte Art und Weise zu vertreten, mit dem Rücktritt von der Schwelle der Stellvertretung einen veränderten Ort des Selbstbezugs vorfindet. Die Rede von der Stellvertretung als Schwellenphänomen weist darauf hin, dass die Stelle eines Anderen immer von einem bestimmten Ort aus übernommen wird und gleichzeitig nicht überschritten werden kann, ohne dass der Vertetene vernichtet werden würde. In dem Moment, in dem der Grund, auf dem ein Selbst steht, dermaßen fragil wird, dass sich ein Selbst nicht mehr auf sich selbst beziehen kann, bedeutet die Übernahme von Stellvertretung, für einen Anderen in den Riss zu treten. Insofern weist Bernhard Waldenfels vollkommen zu Recht darauf hin, dass es sich bei der Stellvertretung nicht um ein Phänomen eines einfachen Ortswechsels handelt, sondern um Ort-Zeit-Verschiebungen.600 In dem Moment und an dem Ort, an dem ein Selbst für einen Anderen eintritt und damit gewissermaßen an dessen Stelle tritt601, ist das Selbst nicht nur dort, wo der Andere war oder zukünftig sein wird, sondern genau dort, wo er sich gerade aufhält, dadurch dass seine Anwesenheit bezeugt wird, seiner Anwesenheit eine Stimme gegeben wird.602 600 

Vgl. Waldenfels (2012): Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung, 236 f. könnte man unterschiedliche Grade eines An-die-Stelle-eines-Anderen-Treten differenzieren. Dies erfolgt im Recht dann zum Beispiel über die Segmentierung unterschiedlicher Bereiche, für die eine Vertretung notwendig erscheinen kann. Eine solche Gradualisierung ist dabei sicher sinnvoll, um zu verhindern, dass vorschnell einer die Stelle eines Anderen besetzt. Entsprechende Differenzierungen finden sich dann sowohl in den Regelungen zur Betreuung und zur Unterbringung als auch den unterschiedlichen Ausdifferenzierungen der Rechtsprechung. Vgl. hierzu: Kurze (2014): Rechtsprechungsübersicht Betreuungsrecht, Hoffmann & Klie (2012): Freiheitsentziehende Maßnahmen im Betreuungsund Kindschaftsrecht. 602  Die Rechtsprechung versucht, diesem Sachverhalt mit der Figur des sog. natürlichen Willens gerecht zu werden. Siehe hierzu auch das Urteil des Bundesgerichtshofs: Bundesge601 Demgemäß

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Die Herausforderung einer „Uno-loco-Vorstellung“603 von Selbst und Anderem ist erstens, dass die Übernahme der Stelle eines Anderen von einem Anderen her zugemutet ist. Insofern muss sich in Momenten der Verantwortungsübernahme als Antwort auf einen zugemuteten Anspruch erweisen, inwiefern man sein Wort hält.604 Daraus zweitens zu folgern, dass es eine Pflicht zur dauerhaften Fortführung einer Stellvertretung gibt, wäre sachlich wie methodisch nun ebenso riskant, denn damit ist zugleich die Schwierigkeit verbunden, dass jegliche Prä-Interferenz eines eigenen Selbstbezugs verloren gehen kann und auch die Endlichkeit und Fragilität leiblichen Seins negiert würden.605 Sein Wort zu halten und sich damit als ein Wesen zu erweisen, das man auf die Erwiderung eines Versprechens ansprechen kann, bedeutet eben nicht, dass es keinen zeitlichen Rahmen dafür gibt, an die Stelle eines Anderen zu treten. Ganz im Gegenteil: Gerade weil es sich bei der Stellvertretung um ein Phänomen von Raum-Zeit-Verschiebungen handelt, können und müssen auch gerade die zeitlichen Begrenzungen der stellvertretenden Bezeugung eines Anderen mitbedacht und klar artikuliert werden. Das beinhaltet aber drittens, zugleich festzuhalten, dass auf der Gestaltungsebene die Grenze zwischen Vertretendem und Vertretenem mitunter sehr unscharf ist: Die Verdopplungsphänomene von Selbst und Anderem können in der Stellvertretung nach unterschiedlichen Richtungen hin aufgelöst werden. Einerseits ist es möglich, sich selbst in der Sorge um einen Anderen zu verlieren. Man kann zwar an die Stelle eines Anderen treten, indem man ihn vertritt, für ihn handelt und Stellung bezieht. Aber es gibt keine stellvertretende Existenz als solche, zumindest nicht ohne den drohenden Verlust jeglicher Prä-Interferenz einer eigenen Story.606 An die Stelle eines Anderen zu treten, kann somit immer nur ein räumlich und zeitlich begrenzter Vorgang sein, wobei die Ambivalenz eines solchen ‚In-den-Riss-Tretens‘ gerade darin besteht, dass die Raum- und Zeitgrenzen nur sehr schwer festgelegt werden können. In der stellvertretenden Entscheidung für einen Therapieabbruch oder den Beginn einer Therapie, wenn die andere Person nicht in der Lage zu sein scheint, die Entscheidung zu treffen, eröffnet sich ein Entscheidungskonrichtshof (2012b): Beschluss vom 14. März 2012 – XII ZB 502/11. Zur Diskussion siehe: Koller (2014b): Zwangsbehandlung – eine Zwischenbilanz. Siehe ebenso Kapitel 9.2. 603  Vgl. Waldenfels (2012): Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung, 237. 604  Siehe auch: Liebsch (2012): Prekäre Selbstbezeugung, 236 ff. 605  Wie schwer es ist, diesen Punkt zu bestimmen, zeigen dabei nicht zuletzt Studien zur Entscheidungsfindung zur Beendigung lebensverlängernder Maßnahmen: Silveira, et al. (2010): Advance Directives and Outcomes of Surrogate Decision Making before Death & Sharma, et al. (2011): Family Understanding of Seriously-ill Patient Preferences for Family Involvement in Healthcare Decision Making. 606  Vgl. Heidegger (2006): Sein und Zeit, 223: „Man kann zwar an die Stelle eines Anderen treten, indem man ihn vertritt, für ihn handelt und Stellung bezieht. Aber es gibt keine stellvertretende Existenz.“ Zum Konzept der Story siehe auch: Ritschl & Jones (1986): Story als Rohmaterial der Theologie.

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tinuum, das eher einem ständigen Ausbalancieren, denn dem Ziehen starrer Grenzen ähnelt. Andererseits ist es aber ebenso möglich, dass Stellvertretung mehr oder minder als ein reiner Verwaltungsvorgang verstanden wird. In einem solchen Fall bestünde der Umgang mit dem Verdopplungsphänomen der Stellvertretung nicht in einem Verschmelzen, sondern in einem Auseinandertreten von Selbstund Fremdanspruch. In dem Moment, wo sich ein Selbstbezug komplett vom Fremdbezug entkoppelt, handelt es sich aber nicht mehr um die Vertretung eines Anderen, bei dem jemand im Wort steht, sondern um einen mehr oder minder abstrakten Fall. Das muss nicht bedeuten, dass eine Person deswegen besser oder schlechter behandelt wird. Ein stark formalisiertes Verfahren hat ja gerade seine Stärken darin, dass es dadurch überprüfbar ist, dass Standards und Kriterien festgelegt und evaluiert werden können. Aber an die Stelle eines Anderen zu treten, geht nicht allein in solchen formalisierten Vertretungsverfahren auf. Gerade weil es sich bei der Stellvertretung sowohl um Prozesse der Selbstverdopplung als auch zugleich der Verdopplung des Anderen handelt, steht in dem Moment, wo jemand an die Stelle eines Anderen tritt, immer auch der eigene Stand mit auf dem Spiel. Die Formalisierung von Stellvertretungsprozessen ist insofern ihrerseits bereits eine Antwort darauf, dass die Stelle eines Anderen zu besetzen immer auch impliziert, den eigenen Stand neu zu verhandeln. Deshalb greift nicht nur ein Verständnis zu kurz, welches Stellvertretung allein von Prozessen der formalisierten Vertretung her konzipiert, sondern auch ein Verständnis, das Stellvertretung allein von den fundamentalen Verhältnissen einer responsiven Grundasymmetrie her versteht. Stellvertretung geht weder alleine in einer wie auch immer verstandenen ‚originären Stellvertretung‘ noch in einer sogenannten ‚normalen Stellvertretung‘ auf.607 Bernhard Waldenfels entwickelt in Anlehnung an Emmanuel Lévinas den Gedanken einer originären Stellvertretung. Sehr ernst genommen werden muss der Hinweis, dass auch in dem Moment, in dem ein Selbst an die Stelle eines Anderen tritt, Selbst und Anderer nicht mit einer Stimme sprechen, die Ansprüche beider also auch in dem Moment, wo beide an einer Stelle stehen, nicht ohne Weiteres ineinanderfallen. Während die formalen Prozesse der Vertretbarkeit sich daran ausrichten, dass vergleichbare Fälle auch auf eine vergleichbare Art und Weise behandelt werden, betont die Denkfigur einer originären Stellvertretung, dass es eine bleibende Asymmetrie in den auf Symmetrie bedachten 607  Auf diese Begrifflichkeit spitzt Bernhard Waldenfels die Unterscheidungsmöglichkeiten in seiner Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Stellvertretung zu. Als eine normale Stellvertretung versteht er dabei solche Prozesse, die über Figuren der Uneigentlichkeit kodiert sind. Er nennt hier beispielsweise das Provisorium oder die Delegation. Dem stellt er die originäre Stellvertretung gegenüber. Diese versteht er in dem Sinne als originär, als dass ein Selbstbezug sich erst von einem Fremdbezug her entfaltet. Vgl. Waldenfels (2012): Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung, 238 f., 243 f.

7. Konsequenzen und Herausforderungen

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Prozessen der Vertretung gibt. Die Aussagekraft dieser Beobachtung wäre aber zugleich dann überdehnt, wenn sie als ein von den Prozessen der formalen Vertretung abkoppelbares Phänomen verstanden wird. Dies gilt nicht nur in dem Sinne, dass von einer originären Stellvertretung nur dann sinnvoll gesprochen werden kann, wenn es auch eine nicht originäre Stellvertretung gibt, sondern auch so, dass die formalen Vertretungsprozesse nicht allein ein Rand- oder Abgrenzungsphänomen darstellen und daher ein bleibend wichtiges Korrektiv gegenüber der Rede einer originären Stellvertretung sind. Erst transparente, wiederholbare und rechtfertigbare Rechtsstandards verhindern, dass der auf dem Spiel stehende eigene Selbstbezug in dem Moment, wo das Selbst an die Stelle eines Anderen tritt, zum vorrangigen Motiv wird. Ebenso bieten solche Rechtsstandards aber auch dadurch, dass sie einen begrenzten Rahmen für die Übernahme der Stellvertretung eines Anderen stiften, einen Schutzraum, sodass die Prä-Interferenz eines Selbstbezugs nicht gänzlich verloren wird. In Anknüpfung an die Überlegungen zum Zusammenhang von responsiver Fundierung und Aushandlungsprozessen von Geltungsansprüchen kann festgehalten werden, dass Stellvertretung als ein komplementäres Phänomen zu dem der Gabe verstanden werden kann. Das Phänomen der Gabe war dargestellt worden als ein Geschehen, das zunächst einmal quer steht zur Aushandlung von Geltungsansprüchen und so selbst zum Treiber von Anerkennungsdynamiken wird. Quer steht die Gabe zu den Aushandlungsprozessen von Geltungsansprüchen insofern, als sie in den Anerkennungsdynamiken immer wieder die Frage wachhält, ob die prinzipielle Gleichheit aller Anspruchsträger auch wirklich bewahrt wird.608 Das Phänomen der Stellvertretung kann nun als komplementär verstanden werden, weil sich die Frage stellt, ob gleiche Geltungsansprüche auch tatsächlich gleich behandelt werden. Die Bezeugung eines gegebenen Wortes muss sich daran bewähren, dass die Stelle eines Anderen möglichst frei von eigenen Interessen eingenommen wird, wissend, dass sich die Dringlichkeit der Übernahme einer fremden Stelle zuallererst durch die besondere Kopplung von Selbst und Anderem ergibt. Damit entsteht gewissermaßen ein Paradox: Ein Selbstbezug eines Selbst geht von einem Ort aus, der sich ihm von einem Anderen her öffnet und an dessen Stelle es als ein leiblich verfasstes Selbst nicht treten kann, ohne dass es den Vertretenen (zumindest partiell) verdrängt. Die Übernahme von Stellvertretung impliziert damit immer auch ein Changieren zwischen einem notwendigen Ersetzen des Anderen, sei es beispielsweise seiner Stimme oder seiner Entscheidungsfähigkeit, und der Gefahr, durch ein solches sukzessives Ersetzen den Anderen radikal zu negieren, ihn also so weit zu ersetzen, dass er nur noch schemenhaft als eigenständiges Wesen zu erkennen ist.609 Insofern markiert die Stellvertretung in der Tat, wie es Do608 

Vgl. die Ausführungen in Kapitel 7.2. der aktuellen Debatte, inwiefern Kriterien für den stellvertretenden Entschei-

609  Zu

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rothee Sölle formulierte, ein Übergangsphänomen.610 Allerdings gilt dies nicht nur in der Weise, wie sie es verstand, dass einer an die Stelle eines anderen tritt, sondern impliziert zugleich, dass der Andere in dem Prozess der Stellvertretung sukzessive verschwindet. Stellvertretung zu denken bedeutet, dann eben auch einzugestehen, dass es sich um einen Prozess handelt, an dessen Ende die eine zeitlich-räumliche Stelle nicht gleichermaßen von einem Selbst und einem Anderem besetzt werden kann. Es wäre zu kurz gedacht, zöge man den Umkehrschluss, dass jede Stellvertretung unweigerlich auf eine Verdrängung des Einen durch einen Anderen hinauslaufen muss. Dadurch dass Stellvertretung sich sowohl in einer Raum-, als auch in einer Zeitdimension ereignet, ist es durchaus möglich, den Prozess der Stellvertretung derart begrenzt oder kurz zu gestalten, dass die Ersetzung wieder zu einer Ermöglichung wird.611 Aber auch in diesem Fall, dass sich durch die Stellvertretung neue Möglichkeitsräume eröffnen, bedeutet an die Stelle des Anderen zu treten, über eine Schwelle zu treten. Zwar würde in einem solchen Fall die Notwendigkeit einer fortgeführten Vertretung entfallen, sodass der Vertretene wieder für sich selbst sprechen kann, aber zugleich kann es keine Garantie geben, dass das stellvertretend gesprochene Wort wirklich wieder eine Selbstbezüglichkeit eröffnet: Die angebotenen Anknüpfungspunkte können dermaßen fremd sein, dass sich nur schwer ein oder mitunter auch gar kein präferenzieller Anknüpfungspunkt finden lässt.612 Genau dieser Umschlagspunkt zwischen Eigenem und Fremdem droht aber aus dem Blick zu geraten, wenn man Stellvertretung primär als eine originäre Stellvertretung zu denken versucht. An dieser Frage arbeiten sich auch die theologischen Diskurse zur Stellvertretung ab. Kann einerseits das Bestreben konstatiert werden, die Differenz zwischen Vertretendem und Vertretenem aufrechtzuerhalten,613 wird andererseits, bedingt durch die enge Bindung an soteriologische und rechtfertigungstheologische Denkfiguren, allzu oft die Postition des Vertretenen in der des Vertretenden aufgelöst.614 Letzteres hängt vor allem dungsfindungsprozess über den Begriff des Gewissens gefunden werden können, siehe: Bormann & Wetzstein (2014): Gewissen. Dimensionen eines Grundbegriffs medizinischer Ethik. 610  Vgl. Sölle (2006): Stellvertretung, 51 f. 611 Vgl. hierzu auch die Überlegungen von Johannes Weiß, der darauf hinweist, wie schwer die Unterscheidung zwischen einem illegitimen Überschreiten von Grenzen eines fremden Selbstbezugs und dem stellvertretenden Eintreten für einen solchen Selbstbezug zu treffen ist. Vgl. Weiß (2006): Grenzen der Stellvertretung. 612  Vgl. hierzu exemplarisch empirische Studien zum Patientenerleben einer Behandlung gegen den Willen: Priebe, et al. (2010): Patients’ views of involuntary hospital admission after 1 and 3 months: prospective study in 11 European countries, Jaeger et al. (2013): Long-term effects of involuntary hospitalization on medication adherence, treatment engagement and perception of coercion. Zu einer ausführlichen Diskussion siehe auch Kapitel 3.2. 613  Vgl. Menke (1997): Stellvertretung. Schlüsselbegriff christlichen Lebens und theologische Grundkategorie, 117 f. 614  Vgl. Rothe (1870): Dogmatik, Bd. II/1, 242–251. Rothes Kritik zielt vor allem darauf, dass Stellvertretung in den christlichen Diskursen allzu oft vorrangig als Genugtuung ver-

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damit zusammen, dass die Frage, inwiefern es möglich ist, dass ein Anderer (theologisch gesprochen: Jesus Christus) für Andere (die Menschheit) eintritt, vorrangig von der Überlegung her bestimmt ist, inwiefern einer für des anderen Schuld sühnen kann. Dieses Problem findet sich bereits entsprechend pointiert formuliert bei Kant, wenn er davon ausgeht, dass der Mensch einerseits einen Hang zum Bösen hat, aber die konkrete Manifestation dieses Hangs andererseits eine selbst verschuldete sein muss, die auf eine Weise persönlich ist, dass sie nicht von einem anderen übernommen werden kann.615 Die theologische Sollbruchstelle liegt nun da, wo originäre und aktuelle Stellvertretung mit rechtfertigungstheologischen Schemata der Eigentlichkeit und der Uneigentlichkeit gekoppelt werden.616 Gegenüber einer solchen Unterscheidung zwischen einem Phänomen der Eigentlichkeit und dem der Uneigentlichkeit verteidigt Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher die Unterscheidung zwischen einer ursprünglichen und einer aktuellen Stellvertretung. Entsprechend versteht Schleiermacher die Vertretung durch Christus als Stiftung eines Bewusstseins und unterscheidet daher zwischen der grundlegenden Eröffnung eines Möglichkeitsraums und dessen Gestaltung als einem dadurch ermöglichten, aber zugleich unterschiedenen Vorgang.617 Die Gestaltung des in Christus eröffneten Möglichkeitsraumes ist zwar unterschieden von dem Vollzug seiner Stiftung, lässt sich aber zugleich nicht davon entkoppeln. Vor diesem Hintergrund zeigt sich eine Parallelität einer Figur der Stellvertretung mit dem Verständnis von christlicher Freiheit als standen wurde. Also im Sinne eines Vertreters, der stellvertretend für andere eine ausstehende Schuld begleicht und damit ein Unrechtsempfinden befriedet. Siehe hierzu auch: Fischer (1989): Stellvertretung, 82 ff. 615  Dass die christliche Rede von Stellvertretung latent in der Gefahr steht, diese von einem Motiv der Nicht-Vertretbarkeit her zu denken, stellt auch Immanuel Kant heraus und bezeichnet die Figur der Stellvertretung, ohne diesen Terminus direkt zu verwenden, als eine ‚Beleidigung der Vernunft des Menschen‘. Vgl. Kant (1977): Die Metaphysik der Sitten, W VIII, AA Bd. VI 1797, 779. Kant wendete sich vor allem dagegen, die religiöse Rede von der Stellvertretung als Figur einer stellvertretenden Sühne auszubuchstabieren. Zugleich kann er anerkennen, dass die Figur der Stellvertretung ein komplexes Verhältnis eines Hangs zum Bösen (vgl. Kant (1983): Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, W VIII, AA Bd. VI 1793, 728 ff.) und Schuld zu denken erlaubt. Eine Skizze der unterschiedlichen theologischen Argumentation findet sich in: Link (1991): Für uns gestorben nach der Schrift & Janowski, et al. (2006): Stellvertretung. Theologische, philosophische und kulturelle Aspekte. 616  In je unterschiedlicher Weise wird in den Argumentationen zur originären Stellvertretung auf Luthers Überlegungen zum Sühnetod Jesu Christi verwiesen. Vgl. exemplarisch: Schaede (2004): Stellvertretung. Begriffsgeschichtliche Studien zur Soteriologie, 333 f. Dabei ist jedoch zu beachten, dass auch Luther das Christusgeschehen als eines versteht, welches es ermöglicht, einen Platz einzunehmen und einen Selbstbezug herzustellen, der ohne dieses eröffnende Ereignis nicht möglich wäre. Diesen Platz dann aber aus genau diesem frei machenden Ereignis her zu leben, ist ja gerade eine der Pointen von Luthers Ausführungen zum Verhältnis von Gnade und christlicher Freiheit. Vgl. exemplarisch: Luther (1520): WA 7, Von der Freiheit eines Christenmenschen. 617  Vgl. Schleiermacher (2008): Der christliche Glaube. Nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/31), 130 ff.

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kommunikativer Freiheit.618 Als ‚kommunikativ‘ kann Freiheit zum einen verstanden werden, weil sie eine bestimmte Kopplungsnotwendigkeit von affirmativer Response619 und praktischen Vollzügen impliziert, und zum anderen, da sie die Möglichkeiten individueller Freiheit an den Bedingungs- sowie Ermöglichungsraum intersubjektiver Sittlichkeit bindet. Eine solche Sittlichkeit ist gerade nicht als ein festes Ordnungsgefüge zu verstehen, sondern als Teil intersubjektiver Anerkennungsprozesse und damit einer geschichtlichen Dynamik unterworfen: Welcher individuelle oder kollektive Anspruch gehört wird und daraufhin Anerkennung oder Missachtung erfährt, hinterlässt zeitliche wie spatiale Spuren, die zukünftige Anerkennungsprozesse entweder beschleunigen oder hemmen können.620 Insofern lässt sich auch ein Kopplungsgefüge von ermöglichender Stellvertretung und sozialen Möglichkeitsräumen denken.621 Voraussetzung dafür ist jedoch, dass Stellvertretung nicht allein als ein einmaliger Akt, sondern als in eine Relation eingebettet gedacht wird. Karl Barth hat einen solchen Ansatz gewählt, indem er die Stellvertretung durch das Christusgeschehen als ein in das Verhältnis Gottes zur Welt und zum Menschen eingebettetes Ereignis versteht.622 Das Christusereignis am Kreuz eröffnet dann, so Barth, Gestaltungsräume wirklicher Freiheit und die Möglichkeit, wirklich Mensch zu sein.623 Mit Blick auf die Gestaltungsräume wirklicher Freiheit, darauf hat Dietrich Bonhoeffer eindringlich hingewiesen,624 wird zugleich fraglich, was konkret unter einer solchen Wirklichkeit verstanden werden kann. Um dies zu bestimmen, das haben bereits unter anderem Heinz Eduard Tödt625 und mit Blick auf die theologisch-ethischen Implikationen Peter Dabrock626 herausgestellt, rückt das Zusammenspiel dreier unterschiedlicher Modelle in den Werken Bon618  Vgl. hierzu: Huber (2012): Von der Freiheit. Perspektiven für eine solidarische Welt & Bedford-Strohm (1999): Gemeinschaft aus kommunikativer Freiheit. Sozialer Zusammenhalt in der modernen Gesellschaft. Ein theologischer Beitrag. 619  Vgl. auch Kapitel 6.3. 620  Zu praktischen Konsequenzen vergleiche auch: Braun, et al. (2015): Die Kraft der Normalisierung – Ein evangelisch-theologischer Beitrag zur Regelung der ärztlichen Suizidassistenz. 621  So auch schon: Ritschl (1882): Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung. Bd. III Die positive Entwicklung der Lehre, 515. 622  Vgl. Barth (1980a): Der Mensch in seiner Zeit, 527. 623  Vgl. Barth (1980b): Freiheit in der Gemeinschaft, 128. 624  Die pointierteste Ausarbeitung hierzu findet sich sicher in den Fragmenten der ‚Ethik‘ (vgl. Bonhoeffer (2006): Ethik, 256–288). Zugleich können die Fragmente aber nur recht verstanden werden, wenn sie in den Kontext der weiteren Ausführungen Bonhoeffers gestellt sind. Siehe: Bonhoeffer (1986): Sanctorum Communio und Bonhoeffer (1988): Akt und Sein: Transzendentalphilosophie und Ontologie in der systematischen Theologie. Vgl. zu Werk und Leben Bonhoeffers auch: Tietz (2013): Dietrich Bonhoeffer: Theologe im Widerstand. 625  Vgl. Tödt (1976): Glauben in einer religionslosen Welt. Muß man zwischen Barth und Bonhoeffer wählen? 626  Vgl. Dabrock (2009b): Wirklichkeit verantworten. Der responsive Ansatz theologischer Ethik bei Dietrich Bonhoeffer.

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hoeffers in den Fokus: Erstens das Verständnis von Wirklichkeit als der einen Christuswirklichkeit, zweitens die gleichzeitige Differenz von Letztem und Vorletztem sowie drittens die in dieser Spannung begründete Ambivalenz von partikularer Kasuistik und universalen Normen.627 Wirklichkeit im Sinne einer signifikativen Differenz als Christuswirklichkeit zu verstehen, bedeutet dann zunächst einmal, die Weltwirklichkeit von der Gotteswirklichkeit her zu verstehen. Das Verhältnis von Gotteswirklichkeit und Weltwirklichkeit versteht Bonhoeffer so, dass sich die Gotteswirklichkeit nicht anders erschließt, „als indem sie mich ganz in die Weltwirklichkeit hineinstellt, die Weltwirklichkeit finde ich immer schon getragen, angenommen, versöhnt in der Wirklichkeit Gottes vor.“628 Folglich kann das Verhältnis von Gotteswirklichkeit und Weltwirklichkeit weder dergestalt gedacht werden, dass die Weltwirklichkeit irgendein Ereignis oder Ort außerhalb der Gotteswirklichkeit wäre, noch handelt es sich bei der Gotteswirklichkeit um ein orientierendes Prinzip, das nur noch auf die Herausforderungen der Welt angewendet werden muss.629 Gotteswirklichkeit und Weltwirklichkeit lassen sich nicht als zwei je separate Sphären verstehen, in denen lediglich um das rechte Verhältnis gerungen werden müsste.630 Vielmehr eröffnet sich die Weltwirklichkeit von der Gotteswirklichkeit her als Christuswirklichkeit631: „Es gibt nicht zwei Wirklichkeiten, sondern nur eine Wirklichkeit, und das ist die in Christus offenbar gewordene Gotteswirklichkeit in der Weltwirklichkeit.“632 Zwischen Gotteswirklichkeit und Weltwirklichkeit besteht durchaus eine asymmetrische Spannung, die sich aber in ihrer Extension633 als eine Wirklichkeit zeigt. Es ist diese eine Wirklichkeit, in der um das rechte Verhältnis von ermöglichender – und im Christusgeschehen offenbarter – Gotteswirklichkeit und Weltwirklichkeit gerungen wird. Die Christuswirklichkeit ist folglich der Ort, an dem sich Gotteswirklichkeit als Weltwirklichkeit und Weltwirklichkeit als Gotteswirklichkeit zeigt und um deren jeweiliges Verhältnis gerungen wird. Die als Christuswirklichkeit gedeutete 627  Vgl. Dabrock (2009b): Wirklichkeit verantworten. Der responsive Ansatz theologischer Ethik bei Dietrich Bonhoeffer, 126 f. 628 Bonhoeffer (2006): Ethik, 40. 629  Vgl. Bonhoeffer (2006): Ethik, 40. 630 Bonhoeffer (1989): Nachfolge, 36–40. Bonhoeffer diskutiert an dieser Stelle vor allem unterschiedliche Interpretationsweisen der lutherischen Zwei-Reiche-und-Regimenten-Lehre. Dabei bezeichnet er solche Lesarten als pseudolutherisch, die entweder eine klare Trennung von Gotteswirklichkeit und Weltwirklichkeit vornehmen wollen oder aber Gotteswirklichkeit und Weltwirklichkeit an den Rand einer Verschmelzung bringen. 631  Bonhoeffer spricht auch von einer polemischen Einheit und führt entsprechend aus: „Solange Christus auf Erden war, war er ganz allein Reich Gottes. Da er gekreuzigt wurde, ist seine Gestalt zerrissen […] zur Rechten und zur Linken Gottes.“ Bonhoeffer (1997): Berlin 1932–1933, 310. 632 Bonhoeffer (2006): Ethik, 43. 633  Vgl. Dabrock (2009b): Wirklichkeit verantworten. Der responsive Ansatz theologischer Ethik bei Dietrich Bonhoeffer, 131.

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Wirklichkeit kann insofern als eine Schwellenbeschreibung verstanden werden. Weltwirklichkeit zu gestalten heißt, sie von der Gotteswirklichkeit her zu entfalten. Eine Gestaltung und Entfaltung der Weltwirklichkeit von der in Christus offenbarten Gotteswirklichkeit her bezeichnet Bonhoeffer dann als eine Gestaltung des Vorletzten ausgehend von der Perspektive des Letzten. Das Offenbarungsgeschehen in Christus exponiert sich daher sowohl als ein zuallererst ermöglichendes wie gleichzeitig letztes Wort. Ein Letztes insofern, als dass das ganze Vorletzte die ganze Weltwirklichkeit umschließt.634 Von dem Letzten her eröffnet sich ein zu gestaltender Raum des Vorletzten. Gleichzeitig führt Bonhoeffer gewissermaßen als entgegengesetztes Schwellenphänomen an, dass sich Gotteswirklichkeit nicht anders als in der Weltwirklichkeit ereignet. Diese Deutung hat Konsequenzen für die Art und Weise, wie es das Vorletzte zu gestalten gilt: „Das Vorletzte muss um des Letzten willen gewahrt bleiben.“635 Das Vorletzte ist also nicht ein zu überwindendes Durchgangsstadium. Vielmehr geht es um eine Erfahrung und Gestaltung des Vorletzten als eine Wegbereitung636 des Letzten; ermöglicht durch das Letzte. Damit ist die Wegbereitung zugleich keine selbst gewählte Methode, sondern vielmehr die Aufgabe, das Vorletzte auf eine bestimmte Art und Weise zu gestalten. In den Riss zu treten, für den Anderen einzutreten und damit – in religionskultureller Sprache formuliert – dem Hungernden Brot und dem Entrechteten Recht zu geben,637 kann dann als eine Manifestation von Gotteswirklichkeit als Weltwirklichkeit verstanden werden, ohne dass daraus ein allgemeingültiges Prinzip abgeleitet werden könnte. In den Riss zu treten, an die Stelle eines Anderen zu treten, bedeutet, ihm in seiner konkreten Not, seinem konkreten Bedrohtsein zu begegnen. Mit anderen Worten: Es muss sich erweisen, inwiefern sich ein gegebenes Wort bewährt, sich jemand als Jemand erweist und gerade in seiner Vulnerabilität als Jemand anerkannt wird. Insofern lassen sich Bonhoeffers Überlegungen in ihrer theologischen Pointierung als Theorie intersubjektiver Anerkennung lesen. Intersubjektiv ist diese, weil sich die Gestaltung individueller Selbstbezüglichkeit immer als eine ermöglichte und damit als ein responsives Anschlussereignis verstehen lässt. Jeder Gestaltungsakt des Vorletzten gibt ein Zeugnis ab über sein Verhältnis zum Letzten. Dass die Gestaltung des Vorletzten als ein Ausdruck der Wegbereitung verstanden wird, sich somit in der Art konkretisiert, dass die Erfahrung radikaler Gewalt verhindert und eine jede Stimme, ein jeder Anspruch gehört wird, ist aber, darauf macht Bonhoeffer eindringlich aufmerksam, mitnichten unumstößlich, sondern muss bezeugt werden durch die Art und Weise, wie Wegbereitung das Kommen Christi bereitet. Mit anderen Worten: Als entscheidend stellt sich heraus, dass die Stellvertretung in der Art und 634 

Vgl. Bonhoeffer (2006): Ethik, 137. (2006): Ethik, 152. 636  Vgl. Bonhoeffer (2006): Ethik, 153. 637  Vgl. Bonhoeffer (2006): Ethik, 155. 635 Bonhoeffer

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Weise ihrer Gestaltung bezeugt, dass die menschlichen Vollzüge grundlegend vulnerabel sind und sich ein gehörtes und gegebenes Wort als wahr und ein erhaltenes Recht als gerichtsbar erweisen muss und so die Sensibilität für die Ambivalenz und Verschiedenheit menschlicher Vollzüge immer wieder mahnend in Anschlag gebracht wird. Aus dem bisherigen Untersuchungsgang lässt sich folgern, dass Stellvertretung deshalb einerseits die Uneinholbarkeit einer grundlegenden und Selbstbestimmung ermöglichenden asymmetrischen Grunddifferenz bezeichnet. In dieser Bedeutung kann Stellvertretung auch als eine originäre, eben im Sinne einer eröffnenden Stellvertretung verstanden werden. Der Figur der Stellvertretung kommt zugleich aber andererseits auch eine bedeutende Erschließungskraft auf der Gestaltungsebene zu, ohne dass dadurch die Bedeutung als eine Eröffnungsmöglichkeit negiert werden würde. Vielmehr muss sich gerade in der Gestaltung von Anerkennungsräumen zeigen, dass jedem Anspruch auf Anerkennung als ein personales Wesen Gehör geschenkt wird. Ohne eine Kopplung von grundlegender Responsivität und einer die Vulnerabilität leiblicher Selbstbezüglichkeit bezeugender Gestaltung wäre die grundlegende Responsivität nicht mehr als ein bloßes Hintergrundrauschen und der Gestaltungsebene fehlte jegliches kritische Korrektiv. Welche entscheidende Rolle der Figur der Stellvertretung gerade auf der Gestaltungsebene zukommt, zeigt Bonhoeffer, indem er die Stellvertretung gerade von ihrer ambivalenten Verfasstheit her denkt. Auf der fundierenden Ebene liegt die Ambivalenz, theologisch gesprochen, in der Ambivalenz von Gotteswirklichkeit und Weltwirklichkeit als der einen Christuswirklichkeit. Auf der Ebene der Gestaltung von Anerkennungsansprüchen besteht die Ambivalenz der Stellvertretung darin, einerseits an die Stelle eines Anderen zu treten und ihm damit eine Stimme für den Fall zu geben, dass er sich nicht (mehr) selbst Gehör verschaffen kann. Andererseits ist aber aufgrund der Ambiguität von Selbstverdopplung und Verdopplung des Anderen ein jeder Akt der Stellvertretung ein zwielichtiger Prozess. Zwielichtig in dem Sinne, dass jedes Mal eine Grenzschwelle mit dahinterliegendem, ungewissem Ausgang überschritten wird. Selbstverdopplung und Verdopplung des Anderen sind ja gerade deswegen solch schillernde Phänomene, da in jeder Stellvertretung ein Stück der eigenen Präferenz transformiert und ebenso ein Stück der Präferenz eines anderen zurückgedrängt wird. Mit anderen Worten: Stellvertretung produziert Anschlussmöglichkeiten für den vertretenen Selbstbezug, muss versuchen, die eigene Stimme möglichst gedämpft und die vermeinte Stimme des Anderen möglichst vordergründig zu halten, und produziert zugleich durch die Art und Weise des Eintretens neue Anschlussstellen. Gerade solche neuen Anschlussstellen sind aber auch der Grund dafür, warum Stellvertretung immer auch Elemente des Ersetzens beinhaltet. Dietrich Bonhoeffer hat darauf hingewiesen, indem er stellvertretendes Handeln an die Bereitschaft zur Übernahme

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von Schuld koppelt. In der konkreten Not, in dem konkreten Bedrängtsein eines Anderen kann es unabdingbar sein, so Bonhoeffer, „um des Nächsten willen Schuld zu tragen.“638 Wenn Bonhoeffer an dieser Stelle von Schuld spricht, bringt er damit in theologischer Sprache zum Ausdruck, dass eben nicht ohne Weiteres als klar gelten kann, wann und wo die notwendige Grenzübertretung, im Sinne eines Tretens an die Stelle eines Anderen, zu einer illegitimen Grenzverletzung wird. Illegitimität kann erstens dann vorliegen, wenn Stellvertretung sich nicht primär an den Präferenzen des Anderen orientiert. Bereits dieses Kriterium kommt allerdings schnell an seine Grenze, setzt es doch voraus, dass eindeutig entschieden werden kann, ob eine belastbare Artikulation einer Präferenz vorliegt oder nicht. 639 Wie prekär dieser Prozess ist, zeigen Studien, in denen Patienten anhand von Fallszenarien Entscheidungsprozesse simuliert haben. Über die Gesamtheit der Simulationen betrachtet traf lediglich in 60 Prozent der Fälle die getroffene Entscheidung der in diesem Fall die Stellvertretung übernehmenden Angehörigen mit denen der Patienten überein.640 Aber selbst wenn eine als belastbar verstandene Artikulation einer Präferenz vorliegt und entsprechend entschieden und gehandelt wird, bleibt zweitens offen, ob – und falls ja unter welchen Voraussetzungen – der Vertretene an die stellvertretend produzierten Anschlussstellen wird anknüpfen können.641 Im me638 Bonhoeffer

(2006): Ethik, 297. Bobbert hat auf die enge Kopplung des Theorems der Stellvertretung an die Figur des Gewissens (wieder neu) aufmerksam gemacht. Diese Kopplung wird dann bedeutungswirksam, wenn die konkreten Gestaltungsmodi der Stellvertretung ausgehandelt und festgelegt werden. Denn eine Entscheidung an der Stelle eines Anderen zu treffen bedeutet ja auch, dass hinsichtlich bisheriger Äußerungen des Betroffenen geurteilt werden muss, inwiefern diese als belastbare Willensbekundungen zu verstehen sind. Vgl. Bobbert (2014): Stellvertretende Entscheidungen als Fragen des Gewissens. Nicht plausibel erscheinen bei ihrer Deutung jedoch zwei Punkte: Zum einen schwankt der Gewissensbegriff sehr stark zwischen einer individuellen und einer kollektiven Größe. Wenn das Gewissen aber wie bei Bobbert als eine vorrangig individuelle Größe verstanden wird, bleibt unklar, inwiefern es ausreicht, dass eine stellvertretende Entscheidung kommunikabel ist. Zum anderen wäre genauer zu fragen, ob die vorgenommene Zuordnung stimmig ist, dass eine Vertretung durch Angehörige prinzipiell einen geringeren Grad an Verdinglichung bedeuten muss, als wenn eine Stellvertretung professionell übernommen wird. Die empfundene (!) oder tatsächliche relative Nähe zu einer Person muss an sich ja noch nichts über die Qualität einer stellvertretenden Handlung aussagen. 640  Vgl. den systematischen Überblick bei: Shalowitz, et al. (2006): The Accuracy of Surrogate Decision Makers. A Systematic Review. Siehe ebenso exemplarisch für die Studien zu den Wünschen und Perspektiven von Patienten für den Fall einer Stellvertretung: Kelly, et al. (2012): Systematic Review: Individuals’ Goals for Surrogate Decision-Making. Bei all diesen Simulationsstudien ist zu fragen, inwieweit sie ein reales Setting der Entscheidungsfindung abbilden. Trotz dieser methodischen Limitierung geben diese Studien aber einen sehr ernst zu nehmenden Hinweis auf die Prekarität einer solchen Entscheidung. 641  Vgl. hierzu auch die empirischen Studien, in denen die Patienten nach einer stellvertretend getroffenen Behandlungsentscheidung gefragt wurden, wie diese damit umgehen: Längle & Bayer (2007): Psychiatrische Zwangsbehandlung und die Sichtweise der Patienten 639  Monika

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dizinethischen Kontext wird diese Prekarität immer dann besonders deutlich, wenn es um die stellvertretende Entscheidung für oder gegen eine Behandlung geht, erst recht, falls es sich um eine Behandlung gegen den Willen des Vertretenen handelt. Drittens weist Bonhoeffer mit Blick auf den jeweiligen Vertreter, sei es ein Arzt, Betreuer oder Angehöriger, darauf hin, dass die Grenze der Schuldübernahme die „jeweilige konkrete Grenze an der Einheit des Menschen mit sich selbst“642 darstellt: Es gibt, so lässt sich im Anschluss an Bonhoeffer betonen, Verantwortung, die nicht zu tragen ist, weil sie eine untragbare Last darstellt. Zugleich ist mit der Übernahme der Stelle eines Anderen die riskante Pflicht verbunden, das gesprochene Wort und die getroffene Entscheidung dann auch selbst zu verantworten.643 Das heißt keinesfalls, dass Entscheidungen nicht delegiert werden können und es mitunter sogar geboten ist, weitere Meinungen und Ratschläge einzuholen. Aber all das entlässt den Vertretenden nicht aus seiner Verantwortung für den Vertretenen. Das Überschreiten der Schwelle einer stellvertretenden Behandlungsentscheidung ist in doppelter Weise riskant. Erstens muss jede Anwendung von Gewalt gegen Personen als ein an sich schuldhaftes Verhalten bezeichnet werden, und zum zweiten ist mit der Anwendung von Gewalt gegen die betroffene Person zwar intendiert, dass es ihrem Wohl dienen möge644 und von ihr zu einem späteren Zeitpunkt auch als solches verstanden wird, genau diese Anerkennung, wie auf der deskriptiven Ebene empirische Studien zeigen,645 erfolgt jedoch immer erst retrospektiv. Stellvertretendes Handeln droht zu scheitern, insofern sich die erhofften Anschlussstellen für den vertretenen Selbstbezug als zu brüchig oder gar unanknüpfbar erweisen. Insofern muss sich in der Übernahme von Stellvertretung bezeugen, dass ein leibliches Selbst als autonom und selbstbestimmt anerkannt wird, auch dann, wenn es von der leitenden Rationalitätsnorm abweicht.646 Selbst und Ande-

& Jaeger et al. (2013): Long-term effects of involuntary hospitalization on medication adherence, treatment engagement and perception of coercion. 642 Bonhoeffer (2006): Ethik, 282. 643  Vgl. Bonhoeffer (2006): Ethik, 283. 644 Bundesgerichtshof (2008b): Zwangsbehandlung bei stationärer Unterbringung, Bundesgerichtshof (2012c): Beschluss vom 20. Juni 2012 – XII ZB 99/12, Bundesgerichtshof (2012d): Beschluss vom 20. Juni 2012 – XII ZB 130/12. 645  Vgl. Kapitel 3.2. 646  Wolfhart Pannenberg hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Figur der Stellvertretung vorrangig von der Perspektive der Befreiung her zu denken ist. Dieser Gedanke ist zunächst als eine steile christologische Aussage zu verstehen, die auf die Befreiung des Menschen aus seiner Verfasstheit als totus peccator zielt. Produktiv verstanden weist ein solcher Ansatz darauf hin, dass sich ein Selbst in sich selbst verfangen kann und mitunter Hilfe benötigt, um sich wieder zu finden. Ohne ein entsprechendes Korrektiv bleibt aber zugleich fraglich, an welchen Stellen eine vermeintliche Befreiung aus einem bestimmten Selbstverhältnis, mit dem Ziel, eine bestimmte Rekonfiguration zu erreichen, nicht ihrerseits zu einer absoluten Negation wird. Vgl. Pannenberg (1991): Systematische Theologie. Band II, 445 ff.

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rer treten wechselseitig dafür ein, die Grundvoraussetzung von Freiheit,647 als leib-körperliche Verfasstheit eines Selbstbezugs, zu erhalten, und stehen dabei zugleich in der Gefahr, mit einem solchen stellvertretenden Eintreten aus dem Recht auf einen je individuellen Selbstbezug die Pflicht eines erstarrten Selbstbezugs werden zu lassen. Gerade deswegen kommt der von Bonhoeffer ausdrücklich betonten Notwendigkeit des kontextuellen Bezugs648 für ein stellvertretendes Eintreten eine Schlüsselfunktion zu: In der konkreten Situation muss sich die Hoffnung beweisen, für den Anderen durch die Art und Weise der Gestaltung der Stellvertretung Handlungsräume zur Verwirklichung seines leiblichen Selbstbezugs offen zu halten und zu eröffnen. Eine solche Argumentation hat jedoch eine, in den bisherigen Betrachtungen bereits vielfach angerissene, fundamentale Grundentscheidung getroffen: Selbstbestimmung vollzieht sich in Relation zu und mit Anderen.649 Insofern wird das Anrecht auf Selbstbestimmung als praktizierter Selbstbezug jedem Menschen zuteil. Zugleich wird sowohl in den juristischen als auch den medizinischen Kontexten die Möglichkeit bedacht, dass praktische Selbstbestimmung durch Krankheit eingeschränkt oder verloren gehen kann. Leibliche Selbstbezüge als responsiv anerkannte – und damit von einer fundamental eingeschriebenen Vulnerabilität her – zu denken, bedeutet dann aber im Umkehrschluss auch, dass eine krankheitsbedingte Einschränkung der Möglichkeit, eigene Ansprüche zu haben und zu artikulieren, nicht per se einen Verlust von Selbstbezüglichkeit im Sinne konkreter Selbstbestimmung und durchaus legitimer Ansprüche bedingt. Dass Selbstbestimmung so verstanden wird, ist aber wiederum davon abhängig, inwiefern konkrete Möglichkeitsräume praktischer Selbstbestimmung auch für benachteiligte Glieder der Gesellschaft gestaltet und darin aktiv bezeugt werden. In der Auseinandersetzung mit dem Theorem der Gabe wurde deutlich, inwiefern leibliche Selbstbezüglichkeit als eine intersubjektiv gestiftete verstanden werden kann: Jemand findet sich als Jemand anerkannt vor und kann zugleich mit und in seinem Handeln auf Anerkennung zielen. Die gestiftete Selbstbezüglichkeit eines Selbst steht zwar im Falle einer sukzessiven oder spontanen Erosion eines Selbstbezugs nicht unmittelbar auf dem Spiel. Dies trifft auf die selbstbestimmte Artikulation von Ansprüchen aber durchaus zu. Eine selbstbestimmte Artikulation der eigenen Anerkennungsansprüche setzt eine bestimmte Form von Integrations- wie Artikulationsfähigkeit voraus, die eben sehr wohl nicht hinreichend ausgebildet sein, erodieren und mehr oder minder verloren gehen kann. Die Figur der Stellvertretung setzt genau an dieser Ambivalenz im Gabeereignis an. Allerdings geschieht dies nicht derart, 647  Siehe hierzu auch: Mill (1986): Über die Freiheit. Mill betont ausdrücklich, dass es keine Freiheit ist, sich seiner Freiheit zu berauben. Siehe auch: Kant (2000): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, W Bd. VII, A Bd. IV 1785, 422. 648  Siehe Bonhoeffer, Ethik, 260 f. 649  Vgl. zum zugrunde gelegten Selbstbestimmungsbegriff auch das folgende Kapitel 7.3.

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dass sie die Ambivalenz von Stiftung und Gestaltung auflösen könnte. Vielmehr knüpft sie an, indem sie mit einer anderen ambivalenten Unterscheidung operiert: Sie ist zu vermeiden, insofern jedem stellvertretenden Handeln das Risiko einer illegitimen Grenzüberschreitung inhärent ist. Gleichzeitig – und darauf hatte die Rede von einer originären Stellvertretung aufmerksam gemacht – kann auf stellvertretendes Handeln in den Vollzugsweisen von Selbst und Anderem nicht verzichtet werden, eröffnen sich die Modi der Gestaltung doch erst von einem fremden Anknüpfungspunkt her. Ausgehend von diesen Beobachtungen wird im Folgenden untersucht, welche Konsequenzen sich für die Verhältnisbestimmung der Konzepte von Selbstbestimmung und Fürsorge ergeben.

7.3 Fürsorgende Bezeugung In der bisherigen Entwicklung einer Theorie in intersubjektiven Anerkennungsprozessen stehender leiblicher Selbstbezüge hat sich mehrfach angedeutet, dass nur dann gehaltvoll von personaler Autonomie gesprochen werden kann, wenn ausgehend von der bleibenden Ambivalenz in der Konstituierung eines Selbst zugleich nach der notwendigen Gestaltung von Verwirklichungsräumen von Selbst und Anderem gefragt wird. Hinsichtlich der Gestaltungslinien für den Umgang mit psychisch erkrankten Menschen fällt schnell auf, wie gefährdet die Anerkennung präferenzieller Selbstbezüge im Kontext psychischer Erkrankung ist. Einige Autoren gehen sogar von einer prinzipiellen Einschränkung der Selbstbestimmung bei psychischen Erkrankungen aus und begründen dies damit, dass es gerade das Merkmal psychischer Erkrankung sei, dass das Selbst nicht mehr oder nur noch eingeschränkt über sich selber verfügen kann.650 Wann eine Abweichung von einem als ‚normal‘ anerkannten Bewusstseinszustand neue Kreativitätsräume eröffnet, ab wann sie als pathologisch benannt werden muss oder wo sie vielleicht prekärerweise beidem gleichermaßen plausibel zugeordnet werden könnte, wird in Anerkennungsprozessen und -verhältnissen ausgehandelt. Daraus kann im Umkehrschluss nicht gefolgert werden, dass es im Sinne von objektivierbaren Krankheitssymptomen nicht durchaus biologische Identifikatoren gibt, die notwendigerweise vorliegen müssen, um einen Bewusstseinszustand als pathologisch zu verstehen. Die Feststellung solcher Krankheitssymptomatiken allein reicht aber nicht aus, um das Vorliegen einer psychischen Krankheit zu konstatieren.651 Auch wenn es unstrittig 650  Vgl. Helmchen (2004): Ethische Fragen in der Psychiatrie, 326. Einen Überblick hierzu liefern: Radoilska (2012): Autonomy and Mental Disorder. Darin besonders: Bolton & Banner (2012): Does mental disorder involve loss of personal autonomy? & Bortolotti, et al. (2012): Rationality and self-knowledge in delusion and confabulation: implications for autonomy as self-governance. 651  Vgl. Heinz (2014): Der Begriff der psychischen Krankheit. Die Wichtigkeit, zwischen dem Erkennen von Krankheitssymptomen auf der naturalistischen Ebene und der anerkennungstheoretischen Wertung eines Symptoms als eines Krankheitssymptoms zu unterschei-

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II. Teil: In prekären Verhältnissen

erscheinen mag, dass Phänomene wie Hyperaktivität, das sogenannte prämenstruelle Syndrom oder ein bestimmter Umgang mit Suchtmitteln Abweichungen im Verhalten anzeigen,652 bedarf es zusätzlicher Annahmen, um zu entscheiden, ob die jeweiligen Abweichungen nun als Störung oder gar Pathologie zu beschreiben sind. Kurzum: Unabhängig davon, wo man sich in dem großen Streit um die Frage, ob die Begriffe von Krankheit und Gesundheit nun auf wertgeladenen Urteilen aufbauen oder rein biomedizinische Funktionsbeschreibungen sind, zu positionieren gedenkt, es bleibt eine Positionierung, wer unter welchen Voraussetzungen als ein Jemand anerkannt wird.653 Auf diese Dimension der Entscheidung, was als Devianz und was als Pathologie anerkannt wird, macht auch Eva Feder Kittay aufmerksam, indem sie ein Fallbeispiel aus dem Leben ihrer Tochter Sesha wählt, die seit ihrer Geburt an einer geistigen Beeinträchtigung leidet und entsprechender Pflege und Fürsorge bedarf. „Sesha, as always, is delighted to see me. Anxious to give me one of her distinctive kisses she tried to grab my hair to pull me to her mouth. Yet at the same time my kisses tickle her and make her giggle too hard to concentrate on dropping the jam-covered toast before going after my hair. I negotiate, as best as I can, the sticky toast, the hair-pulling and the raspberry jam-covered mouth. In this charming dance, Sesha and I experience some of our most joyful moments – laughing, ducking, grabbing, kissing.“654 Für Feder Kittay machen diese Schilderungen aus dem Leben ihrer geistig behinderten Tochter auf ein systematisches Problem aufmerksam: Sesha kann ja durchaus interagieren, kommunizieren und auf eine gewisse Art ihre Ansprüche artikulieren. Sie kommuniziert aber auf eine Art und Weise, die nicht einfach nur ‚anders‘ ist, sondern aus der Sicht eines ‚normal functioning range‘ auch gewisse Einschränkungen impliziert. Sesha braucht nicht nur mehr Zeit, ihre Anliegen zu artikulieren, sondern den, muss betont werden, wie es etwa Thomas Schramme (vgl. Schramme (2012a): Die Begriffe „Gesundheit“ und „Krankheit“ in der philosophischen Diskussion & Schramme (2000): Patienten und Personen) vor allem in Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Christopher Boorse (Boorse (2012): Gesundheit als theoretischer Begriff, Boorse (1975): On the Distinction Between Disease and Illness & Boorse (1976): What a Theory of Mental Health Should Be) tut. Es ist aber nicht nur äußerst fraglich, ob man derart strikt zwischen Beschreibung und Wertung unterscheiden kann (darauf hat nicht zuletzt Jürgen Habermas hingewiesen: Habermas (1995a): Theorie des kommunikativen Handelns. Band 1 Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, 72–113), sondern auch, inwiefern eine solch strikte Distinktion auf der Ebene politischen Handelns mit welchen Konsequenzen durchgezogen werden kann. 652  Vgl. Wakefield (2012a): Der Begriff der psychischen Störung: An der Grenze zwischen biologischen Tatsachen und gesellschaftlichen Werten. 653  Michel Foucault hat darauf hingewiesen, dass an die Zuordnung solcher Dispositive zu bestimmten Phänomenen immer auch konkrete Öffnungs- und Schließungsfiguren gekoppelt sind. Vgl. Foucault (1973): Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. 654  Feder Kittay (2002): When Caring Is Just and Justice Is Caring: Justice and Mental Retardation, 265.

7. Konsequenzen und Herausforderungen

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ihr fehlen auch gewisse intellektuelle Kapazitäten, um bestimmte Aufgaben zu erledigen wie z.B. sich selbstständig zu versorgen. Verstünde man, wie dies etwa die Ausführungen von Beauchamp und Childress nahelegen könnten, personale Autonomie als eine derartige Form der Selbstgesetzgebung, dass diese erstens vollkommen frei von Interferenzen mit Anderen zu sein hätte und zweitens frei von Limitationen sein müsste, welche eine selbsttätige Entscheidung bestimmen oder in eine bestimmte Richtung beeinflussen könnten,655 dann wäre fraglich, inwiefern Sesha als ein zu einer selbstbestimmten Entscheidung in der Lage seiendes Wesen verstanden werden könnte. Nüchtern betrachtet würde Sesha zumindest nicht alle Kriterien erfüllen,656 um eine als kompetent verstandene Entscheidung zu treffen. Eine Entscheidung, so führen beispielsweise Beauchamp und Childress aus, kann dann als kompetent anerkannt werden, wenn eine Person in der Lage ist, a) ihre Präferenzen zu formulieren, b) die für die Beurteilung einer Situation notwendigen Informationen zu verstehen und adäquat einzuordnen und c) die getroffene Entscheidung vor dem Hintergrund der eigenen Lebenskonzepte und -formen vernünftig zu begründen.657 Zugleich muss betont werden, dass sich Beauchamp und Childress gerade im Verlauf der weiteren Entwicklung ihrer Theorie sehr wohl Gedanken darüber gemacht haben, inwiefern sich ihr Konzept der Kompetenzstandards graduieren lässt. Sie führen aus: „For practical and policy reasons, we need threshold levels below which a person with a certain level of abilities for a particular task is incompetent. Not all competent persons are equally able, and not all incompetent persons are equally unable, but competence determinations sort persons into these two basic classes, and thus treat persons as either competent or incompetent for specific purposes. Above the threshold, we treat persons as equally competent; below the threshold we treat them as equally incompetent. Gatekeepers test to determine who is above and who is below the threshold. Where we draw the line should depend on the particular tasks involved.“658 Das benötigte Kompetenzlevel soll also in Abhängigkeit von der spezifischen Situation festgelegt 655 

Vgl. Beauchamp & Childress (2013): Principles of Biomedical Ethics, 101. hierzu auch: Beauchamp & Childress (2013): Principles of Biomedical Ethics, 115 ff. Beauchamp und Childress entwickeln Kompetenzstandards, die erfüllt sein müssen, um von einer kompetenten Entscheidung sprechen zu können. Die Definition einer kompetenten Entscheidung wird hierfür anhand einer Negativliste entwickelt: Eine Inkompetenz liegt vor, wenn 1) die eigenen Präferenzen oder Entscheidungen nicht artikuliert werden können, wenn 2) die eigene Situation nicht verstanden und nicht adäquat eingeschätzt werden kann, wenn 3) die wesentlichen Informationen nicht verstanden werden können, wenn 4) keine Begründungen für Entscheidungen gegeben werden können, wenn 5) keine rationalen Begründungen gegeben werden können, wenn 6) die Vor- und Nachteile nicht gegeneinander abgewogen werden können und wenn 7) keine vernünftige Entscheidung getroffen werden kann. Vgl. Beauchamp & Childress (2013): Principles of Biomedical Ethics, 118. 657  Vgl. Beauchamp & Childress (2013): Principles of Biomedical Ethics, 118. 658  Beauchamp & Childress (2013): Principles of Biomedical Ethics, 116 f. 656  Siehe

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II. Teil: In prekären Verhältnissen

werden. Konkret könnte Sesha dann mitunter darüber entscheiden, ob sie einen bestimmten Hustensaft nehmen möchte oder nicht, wäre aber nur bedingt kompetent, über die Vor- und Nachteile einer Operation zu entscheiden. An dem Konzept einer derartigen Graduierung der jeweiligen Kompetenzlevel ist zumindest aus rechtlicher Perspektive positiv zu würdigen, dass damit auch Personen, die das generelle Kompetenzlevel zunächst nicht erreichen, eine selbstbestimmte Entscheidung ermöglicht und gerade nicht von vorneherein verbaut wird. Hervorgehoben werden muss ebenso, dass Beauchamp und Childress darauf aufmerksam machen, dass es ein fundamentales Recht zu einer vermeintlich unvernünftigen Entscheidung gibt. Denn auch wenn die Entscheidung, ob Sesha einen Hustensaft nimmt oder nicht, verglichen mit der Abwägung, wann eine Operation durchgeführt werden soll und wann nicht, sehr trivial wirken mag, sind es die Konsequenzen keineswegs. Beispielsweise wenn Sesha einen starken Husten bekäme und mitunter Schmerzen erleiden würde, die sie nicht als Konsequenz ihrer Entscheidung begreifen wird. Ließe sich ein kompetenzorientierter Ansatz also durchaus derart konzipieren, dass er Personen mit einer eingeschränkten Möglichkeit an Kompetenzen in möglichst vielen Entscheidungskontexten eine Entscheidung einräumt, so ergibt sich ein ungleich schwerwiegenderes systematisches Problem, insofern Beauchamp und Childress darauf insistieren, dass das Vorhandensein von bestimmten Kompetenzen und die Zuschreibung des Status einer Person oder eines autonomen Subjektes gleichzusetzen sind.659 Das Problem besteht zugleich nicht primär in dem Dass der Kopplung zwischen einem Begriff von personaler Autonomie und einem Prinzip praktischer Autonomie als Kompetenzorientierung an sich – wie zahlreiche Verteidiger dieser Kopplung mit ganz unterschiedlichen Argumentationsrichtungen betonen –,660 sondern in der Art und Weise, wie eine solche Kopplung bei Beauchamp und Childress gedacht wird. Wenn das Autonomie-Prinzip mit dem Begriff der personalen Autonomie in einem direkten Kopplungsverhältnis steht, wird jeder Mangel an Kompetenz immer auch auf einen direkten Mangel an personaler Autonomie deuten. In diesem Sinne wäre dann nicht nur fraglich, inwiefern Sesha bestimmte Kompetenzen besitzt und insofern in der Lage ist, ihre eigenen Ansprüche auf Anerkennung zu vertreten, sondern ebenso, ob Sesha überhaupt eine Person ist. Diese Konsequenz zieht auch Feder Kittay: „If personhood is limited to those who possess certain intellectual capacities and to those who are productive, then my daughter would not be a person. But my daughter is a person. How can she be anything as a person? If traditional conceptions of personhood are not capacious enough to include Sesha and those who share their impairments, we need 659 

Vgl. Beauchamp & Childress (2013): Principles of Biomedical Ethics, 116. exemplarisch: Ach & Schöne-Seifert (2013): „Relationale Autonomie“ Eine kritische Analyse. 660  Vgl.

7. Konsequenzen und Herausforderungen

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a new definition.“661 Deshalb schlägt Feder Kittay vor, eine Person von ihrem Eingebettetsein in personale Beziehungen her zu verstehen. Im Zentrum der Frage, was ein personales Wesen ausmacht, stünden dann die realen und imaginierten Relationen, in denen ein Wesen steht.662 Folglich wären nicht alleine die intrinsischen, rationalen und moralischen Kapazitäten bedeutend dafür, ob ein Wesen als eine Person anerkannt wird oder nicht, sondern ebenso seine Einbettung in ein soziales Umfeld und damit der Verweis auf externe, stellvertretend eingenommene Bezeugungen, dass das gegenüberstehende Wesen als eine Person zu verstehen ist. Demgemäß folgert Feder Kittay, dass eine Einschränkung oder ein Verlust von bestimmten Fähigkeiten, ein Abweichen von einer Norm und, allgemeiner: die Vulnerabilität menschlicher Vollzüge an sich, nicht im Gegensatz zum Verständnis eines Wesens als personal autonom stehen darf.663 Als problematisch wäre ein solches Ausschlussverhältnis von Vulnerabilität und personaler Autonomie insofern zu sehen, als es eine radikale Widerfahrnis von Gewalt in dem Sinne darstellen würde, wenn einem Wesen von vorneherein nicht nur die Möglichkeit genommen wäre, seinen Ansprüchen Gehör zu verschaffen, sondern es grundlegend als Person verkannt würde. Bei aller Berechtigung des möglichen Einwands,664 ob dieses Problem nicht in derselben Weise auch für nicht menschliche Wesen gelten müsste, da man sonst hinterrücks doch nichts anderes tun würde, als mehr oder minder verkappte Gattungsargumente oder gar einen blinden Speziesismus zu bedienen, kommt man zugleich nicht um die nur auf den ersten Blick simple Feststellung herum, dass es Menschen sind, die darüber entscheiden, wer als ein Mensch anerkannt wird und wer nicht. Als Menschen wissen wir nicht, was es heißt, ein Hund oder ein anderes nicht menschliches Wesen zu sein.665 Obgleich der Verweis auf ‚die Geschichte‘ in jedem einzelnen Fall für sich rechtfertigungsbedürftig bleibt, zeigt sich doch beständig die tiefgreifende und sich immer wieder Bahn brechende Erfahrung, zu welch fundamental verkennender und vernichtender Gewalt es kommt, wenn menschliche Wesen gerade aufgrund und angesichts ihrer Vulnerabilität nicht 661  Feder

Kittay (2002): When Caring Is Just and Justice Is Caring: Justice and Mental Retardation, 266. 662  Vgl. Feder Kittay (2008): At the Margins of Moral Personhood, 138 f. Feder Kittay arbeitet sich hier vor allem an McMahan ab, den sie als einen der wesentlichen Vertreter einer ‚liberalen‘ Theorie der Autonomie sieht: McMahan (2003): The Ethics of Killing: Problems at the Margins of Life. 663  Vgl. Feder Kittay (2005): Equality, Dignity and Disability, 99 ff. 664  Siehe hierzu auch die – durchaus kontroversen – Beiträge in: Beauchamp & Frey (2014): The Oxford Handbook of Animal Ethics. Sowohl zu philosophischen wie theologischen Überlegungen siehe: Dabrock, et al. (2010): Gattung Mensch: interdisziplinäre Perspektiven. 665  Vgl. Feder Kittay (2008): At the Margins of Moral Personhood, 155. Hieraus ließe sich durchaus ein Argument für die Entwicklung eines entsprechenden tierethischen Ansatzes entwickeln. Dafür ist hier aber nicht der richtige Ort. Siehe zu solchen Ansätzen exemplarisch: Donaldson & Kymlicka (2013): Zoopolis – Eine politische Theorie der Tierrechte, Latour (2010): Das Parlament der Dinge.

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II. Teil: In prekären Verhältnissen

als Menschen anerkannt werden. Menschliche Bezüge von der Ausgesetztheit einer grundlegenden Vulnerabilität her zu denken, so wird im Folgenden argumentiert, birgt dann unmittelbar Konsequenzen für die konzeptionelle Verhältnisbestimmung von personaler Autonomie, Selbstbestimmung und Fürsorge. Die erste Möglichkeit, die fundamentale Angewiesenheit menschlicher Vollzüge mit der Zuschreibung personaler Autonomie zusammenzudenken, erfolgt klassischerweise, indem der Autonomie das Theorem der Fürsorge entgegengestellt wird. Unter Fürsorge lässt sich zunächst ganz allgemein der Beitrag zum Wohlbefinden anderer verstehen, wobei sich das vorrangig normierende Motiv am ‚Wohl des Anderen‘ ausrichtet.666 Diese grundsätzliche Funktion der Fürsorge als eines Eintretens für einen Anderen und der gleichzeitige Primat, sich am Wohl des Anderen, seinem Handeln und den entsprechenden Entscheidungen zu orientieren, wird in den medizinethischen Debatten sowohl auf konzeptioneller Ebene wie auch in der Bewertung konkreter Anwendungsfelder zumeist von einem Spannungsverhältnis zur Autonomie her gedacht.667 Eine Festlegung auf eine wie auch immer konzipierte Fürsorge als das ‚oberste Prinzip des Handelns‘ steht in der latenten Gefahr, eine fundamentale Angewiesenheit menschlicher Wesen ohne kritische Reflexion auf die Gestaltungsebene menschlicher Relationen zu übertragen. In einer solchen tendenziell paternalistischen Verhältnisbestimmung käme den Entscheidungen, Willensartikulationen und Wünschen eines rechtlich nicht entscheidungsfähigen Wesens im Konfliktfall nur eine untergeordnete Rolle zu. Gleichzeitig bleibt der Verweis auf die Autonomie als oberstes Prinzip insofern problematisch, als gerade in den Zeiten konkreter Vulnerabilität das Eintreten eines Anderen unabdingbar sein kann, um die Entscheidungen, Willensartikulationen und Wünsche eines Menschen bedeutsam zu halten.668 An dieser Stelle lassen sich unterschiedliche Konzeptionen der Fürsorge unterscheiden. H. Tristram Engelhardt Jr. unterscheidet zwischen einem Prinzip der Einwilligung (permission) und einem Prinzip der Fürsorge (beneficence).669 Das Prinzip der Einwilligung, führt Engelhardt Jr. aus, bezeichnet ein fundamentales Abwehrrecht, während Fürsorge die Frage nach einer qualitativen Bestimmung, z.B. darüber, was Gutes zu tun in unterschiedlichen Kontexten bedeutet, verlangt. Aus dem Grund, dass das Prinzip der Einwilligung, so Engelhardt Jr., keinen moralischen Konsens voraussetzt, sondern als rein formales Prinzip fungiert, muss es als das grundlegendere betrachtet werden.670 Folglich stellt ein Verstoß gegen das Prinzip der Einwilligung eine fundamentale Verletzung 666 

Vgl. Hildt (2006): Autonomie in der biomedizinischen Ethik, 158. Vgl. exemplarisch: Beauchamp & Childress (2013): Principles of Biomedical Ethics. 668  Vgl. auch: Klie (2007): Die Zeitlichkeit des Ichs – Die Würde des Menschen und ihre Gefährdung durch die Vereinseitigung des ethischen Leitprinzips der Autonomie, 79 f. 669  Vgl. Engelhardt Jr. (1996): The Foundations of Bioethics, 103. 670  Vgl. Engelhardt Jr. (1996): The Foundations of Bioethics, 109 f. 667 

7. Konsequenzen und Herausforderungen

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der Integrität einer Person dar, während gegen das Prinzip der Fürsorge verstoßen werden kann, ohne dass die Integrität einer anderen Person fundamental verletzt wird,671 da man keine Pflicht verletzt, sondern sich ‚lediglich‘ weigert, einer anderen Person etwas Gutes zu tun. Weniger schwer wiegt ein Verstoß gegen das Prinzip der Fürsorge für Engelhardt Jr. deswegen, weil ‚Gutes zu tun‘ eine ambivalente Handlung darstellt. Einer anderen Person etwas Gutes zu tun setzt für Engelhardt Jr. voraus, dass man sich mit dieser Person in ein und demselben ‚moralischen Kosmos‘ befindet. Aufgrund der zunehmenden Pluralisierung von gesellschaftlichen Werthaltungen, worin Engelhardt Jr. das eigentliche Problem zu sehen scheint,672 erscheint es jedoch zunehmend schwierig, festzulegen, was das ‚Wohl des Anderen‘ sein könnte, erst recht, wenn man nicht mit diesem ein und denselben Kosmos teilt.673 Es kann also mitnichten prima facie festgelegt werden, was das jeweils Gute für die vertretene Person ist. Das für eine andere Person Gute muss nicht übereinstimmen mit dem, was man für das eigene Gute hält. 674 Zugleich aber erfolgt die Entscheidung darüber, was die jeweilige Vorstellung des Guten für eine andere Person sein könnte, nicht ohne eine Rückbindung an die eigenen Vorstellungen des guten Lebens.675 Fürsorge, so konstatiert Engelhardt Jr., erfordert eine Gemeinschaft, innerhalb derer alle Mitglieder miteinander die gleichen moralischen Vorstellungen teilen.676 Den entscheidenden Punkt für die Verhältnisbestimmung des Prinzips der Einwilligung und der Fürsorge verortet Engelhardt Jr. darin, dass sich die je eigene Widerfahrnis eines möglichen Integritätsverlustes derart fundamental in 671 

Vgl. Engelhardt Jr. (1996): The Foundations of Bioethics, 124. Vgl. Engelhardt Jr. (2014a): The demoralization and deflation of Morality and Bioethics. Engelhardt schreibt seinen Ausführungen zur Bedeutung eines moralischen Konsenses für eine Gemeinschaft zugleich die These ein, dass sich die christliche Ethik viel zu stark auf die säkularen Rationalitäten einlasse und viel vehementer das genuin Christliche der Ethik betonen müsse. Die wichtige Frage, was die christliche Ethik eigentlich unter ‚christlich‘ versteht, verengt Engelhardt Jr. aber zugleich auf die Frage, wie sich eine christliche Ethik möglichst stark von einer säkularen Ethik abgrenzen kann. Eine solche Abgrenzungsrhetorik droht jedoch grundlegend zu verkennen, dass das christliche Ethos sich ja gerade nicht aus seiner Abgrenzung, sondern in seiner kommunikativen (was gegenüber Engelhardt zugegebenermaßen die deliberative Rechenschaft als dem christlichen Ethos intrinsisch markiert) Bezeugung aufweisen muss. 673  Vgl. Engelhardt Jr. (2011): Christian Bioethics after Christendom: Living in a Secular Fundamentalist Polity and Culture. 674  Vgl. hierzu auch die Debatte zwischen Peter Dabrock, H. Tristram Engelhardt Jr. und anderen darüber, welchen Beitrag die christliche Theologie zu dieser Herausforderung leisten kann: Engelhardt Jr. (2010): Christian Medical Moral Theology (Alias Bioethics) at the Beginning of the Twenty-first Century: Some Critical Reflections als Reaktion auf: Dabrock (2010a): Drawing distinctions responsibly and concretely: A European Protestant perspective on foundational theological bioethics. 675  Vgl. Engelhardt Jr. (1996): The Foundations of Bioethics, 114 f. 676  Vgl. Engelhardt Jr. (2014b): The Recent History of Christian Bioethics Critically Reassessed. 672 

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II. Teil: In prekären Verhältnissen

die menschlichen Vollzüge einschreibt, dass in einem Konflikt zwischen Fürsorge und Autonomie ein klarer Primat zugunsten der Autonomie ausgesprochen werden muss: „Reflections on autonomy lead to the justification of a morality of mutual respect, whose sanctions are the loss of the grounds of respect and for protest against defensive and punitive actions by others. Reflections on the morality of beneficence, however, focus on the morality of common welfare. To affirm the morality of beneficence is to affirm the enterprise of the common good.“677 Während Engelhardt Jr. das Prinzip der Einwilligung als grundlegend postuliert, weil es in allen moralischen Diskursen zum Tragen kommt, muss die inhaltliche Füllung des Prinzips der Fürsorge abhängig von den einzelnen moralischen Diskursen (particular moral debates) extrapoliert werden. Während also der Respekt vor der Autonomie, verstanden als ein Respekt vor der Einwilligungsnotwendigkeit einer individuellen Person, eine Pflicht bezeichnet, versteht Engelhardt Jr. die Fürsorge als eine Art soziale Tugend.678 Eine Tugend wirkt nach seinem Verständnis in dem Sinne, dass die Gesellschaft darauf angewiesen ist, dass Akteure, eingebettet in einer moralischen Gemeinschaft, mit ihrem Handeln Orientierungsangebote geben, beispielsweise indem sie für ihr Verständnis von Fürsorge eintreten. Die Grenze einer solchen Fürsorge wäre dann erreicht, wenn die entsprechend mit Fürsorge bedachte Person nicht einwilligt. Obwohl Engelhardt Jr. einerseits versucht, Autonomie und Fürsorge nicht einfach als gegeneinanderstehende Prinzipien zu verstehen, sondern sie an je unterschiedlichen Punkten menschlicher Lebensvollzüge verortet, ohne sie komplett voneinander zu entkoppeln, lassen sich zwei Probleme identifizieren: Erstens scheint Engelhardt Jr. klar konturierte Gemeinschaften vorauszusetzen, die zwar untereinander durchaus indifferent sein können, innerhalb der jeweiligen Gemeinschaft jedoch eine gewisse homogene moralische Einheit bilden (müssen).679 Sogleich lässt sich einwenden, ob es gewinnbringend ist, rhetorisch einen Verfall solcher orientierenden Gemeinschaften angesichts einer sich ausbreitenden pluralen Gesellschaft zu suggerieren. Aber auch wenn man diesen Einwand ausklammert, drängt sich doch die Frage auf, was das kritische Korrektiv solcher Gemeinschaften sein könnte. Wenn das Verhältnis von Autonomie und Fürsorge gerade so verortet wird, dass immer schon ein Vorrang der Autonomie vor der Fürsorge postuliert wird, setzt Engelhardt Jr. voraus, dass bereits offenkundig wäre, wann eine Integritätsverletzung einer Person vorliegt. Mit anderen Worten: Die geteilten Vorstellungen des guten Lebens tragen in seiner Konzeption gerade nicht zu einer kriteriologischen Füllung der prekären Integrität personaler Wesen bei. Damit geht aber auch die Möglichkeit verloren, 677 

Engelhardt Jr. (1996): The Foundations of Bioethics, 111. Vgl. Engelhardt Jr. (1996): The Foundations of Bioethics, 116. 679  Vgl hierzu auch: Stahl (2014a): In Defense of Paul Tillich: Toward a Liberal Protestant Bioethics. 678 

7. Konsequenzen und Herausforderungen

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die moralischen Gemeinschaften daran zu messen, inwiefern sie sich selbst aktiv daran binden, die grundlegende Prekarität personaler Vollzüge konkret anzuerkennen. Zweitens bleibt unklar, wie genau zwei Individuen, die sich primär oder ausschließlich unterschiedlichen moralischen Diskursen zuordnen würden, sich bei einem divergierenden Verständnis von Fürsorge verhalten sollen. Allein zu propagieren, dass das Prinzip der Einwilligung einen Geltungsvorrang vor dem der Fürsorge habe, funktioniert nur so lange, wie das jeweilige Gegenüber in der Lage ist, seinen Einspruch auch zu artikulieren.680 Sobald es aber um Fälle von stellvertretenden Entscheidungen geht, ein Gegenüber also nicht – oder nur eingeschränkt – in der Lage erscheint, seine Ansprüche zu artikulieren, muss eine solche Verhältnisbestimmung von Autonomie und Fürsorge Epoché halten. Eine andere Möglichkeit wäre, eine direktere Kopplung von Autonomie und Fürsorge zu konzeptionalisieren. Beauchamp und Childress verstehen Fürsorge und Autonomie als einander konträr entgegenstehende Prinzipien: Für den Fall, dass ein Wesen nicht in der Lage ist, kompetente Entscheidungen zu treffen und sich insofern nicht als autonom erweisen kann, bedarf es der von ihnen ebenfalls als tugendhaft kategorialisierten Handlung681 eines oder mehrerer Anderer, um (stellvertretend) für diese in ihren Fähigkeiten beschränkte Person einzutreten. Folglich verlangt ,fürsorglich zu handeln‘ nach Beauchamp und Childress nachsichtig, freundlich, freundschaftlich und gnädig mit der entsprechenden Person umzugehen. Auch wenn Fürsorge generell nicht erzwungen werden kann und in dem Sinne freiwillig erfolgt, gibt es dennoch, so betonen Beauchamp und Childress, Akte der Fürsorge, die nicht freiwillig, sondern verpflichtend sind.682 Obwohl sie betonen, dass die Linie zwischen einer freiwilligen Fürsorge und einer Pflicht, für den Anderen einzutreten, nicht immer klar gezogen werden kann, beschreiben Beauchamp und Childress folgende Situationen, in denen Fürsorge geboten ist: Erstens besteht die Pflicht, die Rechte anderer zu schützen und zu verteidigen, zweitens Schaden von anderen abzuwenden, drittens Bedingungen zu beseitigen, die zukünftig Schaden hervorrufen werden, viertens Personen mit Benachteiligungen zu helfen und fünftens Personen in Gefahr zu retten.683 Obgleich die genannten Punkte je für sich als nachvollziehbar zu betrachten sind, kulminieren sie zusammengenommen zu einem derart umfassenden Verständnis von Fürsorge, dass die Frage angebracht sein muss, wie sich ein solches Konzept der Fürsorge überhaupt noch mit dem Prinzip der Autonomie denken ließe.684 Steht dann die Pflicht zur Fürsorge nicht in einem beständigen Dauerkonflikt mit dem Respekt vor der Autonomie des Anderen? 680 

Vgl. Kapitel 8.1. Biller-Andorno (2001): Gerechtigkeit und Fürsorge. Zur Möglichkeit einer integrativen Medizinethik, 39. 682  Vgl. Beauchamp & Childress (2013): Principles of Biomedical Ethics, 204. 683  Vgl. Beauchamp & Childress (2013): Principles of Biomedical Ethics, 204. 684  Vgl. Beauchamp & Childress (2013): Principles of Biomedical Ethics, 116–118. 681  Vgl.

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II. Teil: In prekären Verhältnissen

Beauchamp und Childress versuchen, diese Klippe zu umschiffen, indem sie zwischen einer generellen und einer speziellen Pflicht zur Fürsorge unterscheiden. Der Unterschied besteht dabei in der Art der Relation zwischen dem Geber und dem Empfänger von Fürsorge. Eine generelle Pflicht zur Fürsorge postulieren sie gegenüber einem jeden Menschen in einer Notsituation, in der Gefahr für sein Leben besteht.685 Eine darüber hinausgehende spezielle Pflicht zur Fürsorge gilt dann, wenn es sich um eine Person handelt, zu der eine besondere Form der Beziehung besteht. Auch wenn die Annahme, dass die relationale Nähe alleine schon ein qualitatives Gütekriterium sei, ein Trugschluss wäre, mag eine solche Argumentation noch einleuchten, wenn man etwa an Eltern denkt, die im Verhältnis zu ihren Kindern in einer besonderen und durchaus umfassenden Fürsorgepflicht stehen. Schwierig wird eine solche umfassende Fürsorgepflicht aber gerade in den eigentlich von Beauchamp und Childress anvisierten klinischen Problemfeldern, vor allem wenn eine spezielle Artikulation des Willens nicht mehr oder nur noch eingeschränkt möglich ist. Dieses Problem kann dadurch zu lösen versucht werden, dass zwar eine Pflicht zur Fürsorge postuliert, aber zugleich nicht spezifiziert wird, worin genau die jeweilige Fürsorge bestehen muss. Beispielsweise allein eine Pflicht zu formulieren, Menschen mit Benachteiligungen zu helfen, sagt ja noch nichts darüber aus, auf welche Art und Weise dies über welchen Zeitraum und an welchem Ort erfolgen soll. Diesen Weg scheinen Beauchamp und Childress dann auch einschlagen zu wollen, wenn sie für eine sanfte Form eines Paternalismus argumentieren.686 Als ‚sanft‘ könne der Paternalismus dann verstanden werden, wenn er die Entscheidung über einen Verstoß des Respekts gegen das Autonomieprinzip an einen Abwägeprozess in einem konkreten Fall knüpft. Dementsprechend wäre dann so vorzugehen, dass die dem Respekt vor der Autonomie zugeschriebenen Interessen der jeweiligen Person und die möglichen Vorteile einer fürsorglichen Handlung auf einer Skala gegeneinander abgewogen würden: „As a person’s interests in autonomy increase and the benefits for that person decrease, the justification of paternalistic action becomes less plausible; conversely, as the benefits for a person increase and that person’s autonomy interests decrease, the justification of paternalistic action becomes more plausible.“687

685 

Vgl. Beauchamp & Childress (2013): Principles of Biomedical Ethics, 216. Vgl. Beauchamp & Childress (2013): Principles of Biomedical Ethics. 687  Beauchamp & Childress (2009): Principles of Biomedical Ethics, 221. In dem Abwägungsprozess wäre so differenzierend vorzugehen, dass in jedem konkreten Fall erstens abgewogen wird, welche Handlung als ein fürsorglicher Akt oder eben als eine Handlung des Respekts vor der Autonomie der betroffenen Person verstanden wird, zweitens eine umfassende Sichtung möglicher Handlungsoptionen vorzunehmen und in die weitere Entscheidungsfindung zu integrieren und drittens eine Entscheidung zu fällen, welche Option für die jeweilige Situation einer Person den größtmöglichen Respekt vor ihrer Autonomie bedeuten würde. Beauchamp & Childress (2013): Principles of Biomedical Ethics, 221, 226, 228–230, 241. 686 

7. Konsequenzen und Herausforderungen

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Zugleich reflektieren Beauchamp und Childress jedoch nicht weiter, dass eine solche Differenzierung in unterschiedlichen Dimensionen zu betrachten ist. Mit Blick auf die grundlegende Frage, inwieweit man Zwang anwenden darf, um eine Person vor Schaden zu bewahren, liegt der entscheidende Punkt ja darin, dass es um die Vermeidung eines Schadens geht, der aktuell noch nicht eingetreten ist und den die betroffene Person aktuell, aber vielleicht auch zukünftig gar nicht als Schaden wahrnehmen und/oder einschätzen wird. Woran aber orientiert sich dann der Respekt für bzw. vor Autonomie? An der aktuellen Willensäußerung? An dem sogenannten natürlichen Willen? An einer vorausverfügten Erklärung? Abhängig davon, welcher Zeitpunkt also in der Ausbalancierung zugrunde gelegt wird, kommt man zu komplett unterschiedlichen Ergebnissen, ob eine fürsorgliche Handlung durchgeführt werden soll oder sogar geboten ist. Demnach kann es vorkommen – das war in den Überlegungen zu den Ambivalenzen eines stellvertretenden Handelns deutlich geworden – 688, dass sich kein eindeutiges Ergebnis der Ausbalancierung fixieren lässt, es also in diesem Sinne ein riskantes Handeln bleibt, welches darauf hoffen muss, dass es der betroffenen Person mittel- und langfristig gelingt, den jeweiligen Eingriff in ihren Selbstbezug zu integrieren. Trotz aller Schwierigkeiten sehen Beauchamp und Childress aber zu Recht, dass man im Sinne einer konkreten Ethik689 um eine Ausbalancierung konfligierender Möglichkeiten und Perspektiven nicht herumkommt.690 Die entscheidende konzeptionelle Schwierigkeit besteht jedoch darin, dass Beauchamp und Childress nicht hinreichend scharf zwischen der Umsetzung des Autonomieprinzips und dem zugrunde liegenden Konzept der Autonomie unterscheiden. In dem Moment, wo Beauchamp und Childress fundierendes Konzept und gestaltendes Prinzip in eins fallen lassen, geht ihnen auch jede Möglichkeit verloren, zu prüfen, an welchen Stellen das zugrunde gelegte Kompetenzverständnis seinerseits dem Prinzip des Respekts vor der Autonomie zuwiderläuft – etwa dann, wenn die Interessen eines personalen Wesens nicht geachtet werden, weil es die definierten Kompetenzen (nicht mehr) gänzlich erfüllt. Auf diesen Punkt verweisen auch Johann S. Ach und Bettina Schöne-Seifert, wenn sie in ihren von ihnen selbst so bezeichneten Apologien eines sogenannten Standardverständnisses von Autonomie darauf verweisen, dass der herangezogene Begriff von Autonomie zu der jeweiligen Auslegung des Autonomieprinzips ‚passen‘ muss.691 Auch wenn die grundsätzliche Betonung einer notwendigen Kohärenz zwischen dem Begriff und dem Umsetzungsprinzip zutreffend ist, so gerät die Kombination aus einem (vermeintlich) inhaltsschlan688 

Vgl. Kapitel 7.2. Vgl. Kapitel 2.1. 690  Vgl. Kapitel 2. 691  Vgl. Ach & Schöne-Seifert (2013): „Relationale Autonomie“ Eine kritische Analyse, 46. 689 

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II. Teil: In prekären Verhältnissen

ken Konzept von Autonomie und einer fehlenden Rückkopplung der prak­ tischen Umsetzung des Prinzips der Autonomie an die inhaltliche Bestimmung des Begriffes in eine bedenkliche Schieflage.692 Beauchamp und ­Childress ­stehen mit einer solchen Konzeptionsbestimmung vor der Schwierigkeit, dass eine kritische Überprüfung der voraussetzungsreichen Einschlusskriterien, die darüber bestimmen, welchem Individuum grundsätzlich personale Autonomie zugesprochen wird und welchem nicht, nur bedingt selbst Teil einer kritischen Reflexion ist. Wenn fürsorgliches Handeln nun aber alleine von seiner Abwägungsnotwendigkeit gegenüber dem Respekt vor der Autonomie verstanden wird und die Kriterien für die Anerkennung einer Person als ­autonom, zugleich aber als unumstößlich gegeben verstanden werden, dann würde Sesha nicht nur die Anerkennung als autonomes Individuum grundsätzlich verwehrt, sondern es wäre zudem äußerst schwierig, darüber nachzudenken, unter welchen Voraussetzungen Sesha überhaupt ein Anrecht auf die Achtung ihrer Anerkennungsansprüche hat, auch wenn diese nicht durch die vorausgesetzten Kompetenzen abgedeckt wären. Mit anderen Worten: Sowohl die von Beauchamp und Childress zugrunde gelegten Kriterien, wann eine Person auf welche Art und Weise als autonom anerkannt wird, als auch die dichotome Unterscheidung zwischen dem Respekt vor Autonomie und der Fürsorge eines Anderen sind zum einen selbst wiederum sehr voraussetzungsreich, mitnichten selbstevident und müssen zum anderen einer kritischen (Rück-)Überprüfung in den Vollzügen der praktischen Umsetzung ausgesetzt werden. Neben der Möglichkeit, wie bei Tristram Engelhardt Jr. erstens einen prinzipiellen Vorrang der Autonomie vor der Fürsorge zu postulieren, oder aber wie bei Beauchamp und Childress zweitens Autonomie prinzipiell von ihrem Gegensatz zur Fürsorge her zu verstehen, insistiert eine dritte Möglichkeit darauf, Fürsorge als integrales Element von Autonomie zu verstehen. Mit einer solchen Konzeption operieren viele der Arbeiten, die als sogenannte care ethics bezeichnet werden.693 Gemeinsam ist solchen Ansätzen, dass sie menschliche Vollzüge von ihrem Zusammenspiel aus Elementen der Abhängigkeit und der Unabhängigkeit verstehen wollen.694 Insofern wird die Annahme, dass es sich bei den Individuen einer Gemeinschaft per se um unabhängige Anspruchsträger handelt, bereits als äußerst voraussetzungsreich behauptet entlarvt zu werden. Vielmehr, so betont Virgina Held, eine der wesentlichen Vertreterinnen einer care ethics, wird darauf bestanden, dass die Akteure einer Gemeinschaft 692 

Vgl. hierzu auch: Quante (2011b): In defense of personal autonomy. Als eine der Geburtshelferinnen einer sog. care ethics gilt Carol Gilligan, die sich kritisch mit den Arbeiten Lawrence Kohlbergs auseinandersetzte und vor allem die dezidiert männliche Perspektive kritisierte. Vgl. Gilligan (1993): In a different Voice. Psychological Theory and Women’s Development. 694  Vgl. Feder & Feder Kittay (2002): Introduction, 2 ff. 693 

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vollkommen unterschiedliche Voraussetzungen und auch unterschiedliche Deliberations- und Artikulationsweisen mitbringen, was nicht hinreichend gewürdigt wird, wenn man Individuen voraussetzungslos als Unabhängige denkt. Im Gegenteil, indem man prima facie auf einem Gleichheitspostulat beharrt, wird zugleich eine Normierung inskribiert, welche Sprach- und Artikulationsform als unabhängig und in diesem Sinne als gleichwertig verstanden wird und welche als anders oder eben abnormal.695 Eine solche vorab getroffene Entscheidung über die Voraussetzungen, unter denen ein Wesen als ein unabhängiges verstanden wird, so betont Tove Petersen, enthält jedoch notwendigerweise fiktive Elemente. Ein als unabhängig gedachtes Individuum ist sich selbst nicht voraussetzungslos evident, sondern wird produziert und hervorgebracht, wird inszeniert und folgt bestimmten Machtasymmetrien.696 Es wird, so in Anlehnung an Hannah Arendt, als ein nacktes Wesen geboren, es bedarf der Wärme, der Nahrungszufuhr und es muss erst erlernen, seine Bedürfnisse einzuschätzen und eigene Ansprüche zu entwickeln.697 Entsprechend führt Eva Feder Kittay aus: „[T]he independent individual is always a fictive creation of those men sufficiently privileged to shift the concern for dependence onto others. Understandings of equality that remain based in the independence of individuals […], will also exclude as they include.“698 Im Folgenden wird erstens eingehender untersucht, wie sich die beschriebene Abhängigkeit (dependency) besser verstehen lässt, und zweitens, was genau sich hinter der Rede von einem unabhängigen Individuum als ‚Fiktion‘ verbirgt. Unter dem Begriff der Abhängigkeit fasst Feder Kittay unabweisbare Elemente menschlichen Seins zusammen, die menschliches Leben fundamental als menschliches kennzeichnen, wie etwa die Geburt oder den Tod.699 Feder Kittay wäre missverstanden, würde man aus ihren Ausführungen folgern, dass etwa die Geburtlichkeit und die Sterblichkeit bereits eine hinreichende Beschreibung eines menschlichen Lebens als menschliches wären. Aber zugleich stellen Geburt und Tod notwendige Voraussetzungen dar, ohne die kein menschliches Leben existieren kann. Es gibt, so ließe sich pointieren, ebensowenig ein uns bekanntes menschliches Leben, das nicht geboren wird, wie ein menschliches

695 

Vgl. Held (2006): The Ethics of Care. Personal, Political, Global, 88. Pettersen (2008): Comprehending Care. Problems and Possibilities in the Ethics of Care, 171–184. 697  Vgl. Mann (2002): Dependence on Place, Dependence in Place. 698  Feder Kittay (1999): Love’s Labour. Essays on Woman, Equality, and Dependency, 17. 699  Auch diese Beobachtung wird wiederum in Anerkennungsprozessen hervorgebracht. Ob Angewiesenheit als menschliches Signum oder aber als ein zu behebendes Stigma verstanden wird, steht nicht ohne Weiteres fest, sondern impliziert eine gehaltvolle Setzung, die selbst wiederum in intersubjektive Anerkennungsprozesse eingelassen ist. Vgl. hierzu auch: Carr (2013): Housing the Vulnerable Subject: The English Context. 696  Vgl.

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Leben, welches nicht einer endlichen Begrenzung unterliegt.700 Gerade diese existenziellen Elemente menschlicher Erfahrung, so folgert Feder Kittay, verweisen aber zugleich darauf, dass menschliches Leben grundlegend auf Fürsorge angewiesen ist und es solche fürsorglichen Relationen sind, welche die Entwicklung eigener, selbstbestimmter Ansprüche zuallererst ermöglichen.701 Feder Kittay geht hier von drei wesentlichen Annahmen aus: Erstens insistiert sie darauf, dass Beziehungen, in denen die elementare Abhängigkeit erfahren und fürsorglich gestaltet wird, einen Vorrang haben vor allen anderen Beziehungen. Den Grund dafür sieht sie darin, dass solchen Beziehungen ein Maß an Angewiesenheit, eine Widerfahrnis von Vulnerabilität sowie eine grundlegende relationale Asymmetrie eigen sind, welche in anderen Formen menschlicher Beziehungen nicht in dem Maße erfahren werden. Zweitens kommt innerhalb der Relationen, in denen auf die elementare Form der Abhängigkeit fürsorglich reagiert wird, den Fürsorgenden eine besondere moralische Pflicht zu, auch tatsächlich fürsorglich zu handeln. Jedoch lässt Feder Kittay offen, auf welche Art und Weise Fürsorge ausgeübt werden muss, um auch tatsächlich als fürsorglich anerkannt zu werden. Drittens liegt in der Erfahrung, dass sich menschliche Vollzüge grundsätzlich als vulnerabel exponieren, der Grund, warum menschliches Da-Sein immer als ein von Anderen her eröffnetes verstanden werden muss, woraus sich wiederum Konsequenzen für die Gabe von Fürsorge ergeben. Einem Anderen einen Platz im Leben zu eröffnen, so lässt sich im Anschluss an Feder Kittay festhalten, für jemand Anderes einzutreten oder an die Stelle eines Anderen zu treten, ist bei aller möglichen Bereicherung immer auch mit einer Anpassung und Rücknahme eigener Ansprüche verknüpft. Einem Anderen Räume der Freiheit zu eröffnen, bleibt nicht ohne Konsequenzen für die Person, die fürsorgend eintritt. 702 In dieser gegenseitigen Interde700  Man könnte den Lackmustest für die Feststellung, dass die Geburt als Existenzial menschlicher Vollzüge zu verstehen ist, darin sehen, ob es in mittlerer Zukunft möglich sein wird, auf andere Weise auf die Welt zu kommen als durch eine Geburt, wie wir sie heute kennen. Einen Überblick zum Stand der Forschung bietet: Bulletti, et al. (2011): The artificial womb. Zugleich würden solche technischen Alternativen zur Geburt nichts von der grundsätzlichen Angewiesenheit menschlichen Lebens nehmen, sie würden aber zugleich die Prekärität, die gerade dem Beginn menschlichen Lebens eingeschrieben ist, sicher nicht verkleinern. Zu der Debatte um die möglichen sozialen Folgen siehe auch: Brazier, et al. (2015): Translational bodies: exploring the socio-legal contours of human bodies past present and ­future. 701  Vgl. Feder Kittay (1999): Love’s Labour. Essays on Woman, Equality, and Dependency, 29. 702  Das bedeutet für Feder Kittay, dass besonders darauf zu achten ist, an welchen Stellen die vorausgesetzte Fürsorge zu einer massiven Benachteiligung der Fürsorgenden führt. Dies gilt sowohl für eine tatsächlich ausgeführte Fürsorge, eine prospektiv angenommene, aber aktuell noch nicht eingetretene Fürsorgeerwartung oder eine als gesellschaftlicher Konsens vorgenommene Kopplung von Geschlecht und einer gewissen Rollenerwartung. Vgl. Feder Kittay (1999): Love’s Labour. Essays on Woman, Equality, and Dependency, 46 ff.

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pendenz liegt der Grund, warum Feder Kittay eine unmittelbare Verbindung zwischen einer fundamentalen menschlichen Angewiesenheit und einer diese bleibend bezeugenden, politischen Gestaltung sieht.703 Auch wenn es erklärungsbedürftig bleibt, ob wirklich, wie in der ersten Annahme vorausgesetzt, die Relationen, in denen die elementare Angewiesenheit fundamental und eben vor allem initial erfahren wird, immer einen Bedeutungsvorrang vor allen anderen Relationen haben müssen, bleibt doch festzuhalten, dass Fürsorge als integraler Bestandteil von Autonomie verstanden werden muss. Demzufolge kommt es entscheidend darauf an, wie eine solche Kopplung erfolgt. Der große Gewinn der Arbeiten der sogenannten care ethics besteht darin, dass sie auf die Voraussetzungen einer autonomen Selbstbezüglichkeit hinweisen und damit eine Möglichkeit eröffnen, Gestaltungsräume individueller Selbstbezüglichkeit von der Erfahrung menschlicher Vulnerabilität her zu denken. Damit wird die Frage, wer aus welchen Gründen als Jemand anerkannt wird, zum Gegenstand anerkennungstheoretischer Debatten und wird gerade nicht als immer schon entschieden angesehen. Zugleich droht dieser wertvolle Ertrag aber im Nachhinein in sein Gegenteil umzuschlagen, wenn nicht hinreichend deutlich gemacht wird, dass Fürsorge nicht von den Debatten wegführt, was ein selbstständiges Individuum ausmacht, sondern eben in diese Debatten hineinführt.704 Entsprechend votiert Martha Albertson Fineman ausgehend von der Beobachtung der Einbettung menschlicher Vollzüge in die Anerkennung Anderer in ihren Überlegungen zur menschlichen Vulnerabilität sogar für eine generelle Suspendierung des liberalen Autonomiebegriffs: „In fact I argue, that the vulnerable subject must replace the autonomous and independent asserted in the liberal tradition.“705 Deshalb vertritt Finemann die These, dass die menschliche Subjektbildung dermaßen komplex und prekär ist, dass jede liberale Autonomiekonzeption eine Verkürzung menschlichen Seins in seiner vielfältigen Verfasstheit bedeuten würde.706

703  Dieser

Beobachtung Feder Kittays wird mittlerweile auch in zahlreichen Arbeiten nachgegangen, die nicht mehr, wie auch aktuell noch durchaus vorzufinden, von einem strikten Gegensatz zwischen einer sog. care ethics und der (liberalen) politischen Theorie ausgehen. Siehe hierzu auch exemplarisch: Engster & Hamington (2015): Care Ethics & Political Theory. 704  Diese Gefahr besteht auch dann besonders, wenn Fürsorge als die eigentliche Wurzel aller Moral verstanden wird, ohne dass hinreichend deutlich gemacht wird, wo die Grenzen einer solchen umfassenden Fürsorge – sowohl aufseiten des Gebenden als auch aufseiten des Empfangenden sind. Dies zumindest müsste Teil der Erörterungen sein, wenn man, wie etwa Maurice Hamington, den menschlichen Leib primär durch seine Fürsorgefähigkeit bestimmt sieht. Vgl. Hamington (2004): Embodied Care. Jane Addams, Maurice Merleau-Ponty, and Feminist Ethics. 705 Finemann (2008): The Vulnerable Subject: Anchoring Equality in the Human Condition, 1. 706  Vgl. Finemann (2004): The Autonomy Myth: A Theory of Dependency. Zur Übersicht

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Worauf Fineman aufmerksam macht, knüpft an die zweite Anschlussfrage von Feder Kittays Ausführungen zur Abhängigkeit als fundamentaler Erfahrung menschlicher Vollzüge an: Individuelle Unabhängigkeit ist eine Fiktion, hatte es bei Feder Kittay geheißen. Fineman führt nun mit Blick auf das Verständnis von Autonomie weiter aus: Autonomie stellt eine Fiktion im Sinne einer Täuschung dar, wenn sie nur um den Preis der Leugnung von Vulnerabilität, Ausgesetztheit, Abhängigkeit zu haben wäre. Ein solches Verständnis von Autonomie muss nicht nur jede fürsorgliche Handlung prinzipiell als Infragestellung der eigenen Handlungssouveränität angesehen werden, sondern folgt zudem einer sehr eindimensionalen Vorstellung eines selbstbestimmten Lebens.707 Im Umkehrschluss folgt aus einer solchen Kritik jedoch weder, dass die Rede von Autonomie aufgegeben werden könnte, noch dass man in ein vorbehaltloses Lob der Vulnerabilität und der Erfahrung von Fragilität einstimmen müsste. Ganz im Gegenteil: Gerade weil Vulnerabilität als uneinholbare fundamentale menschliche Erfahrung verstanden wird, darf sie weder stigmatisiert noch glorifiziert werden, sondern muss auf den unterschiedlichen politischen Ebenen gestaltet werden. Eine derart orientierte politische Gestaltung erfodert erstens, nach Modellen der Befähigung in Fällen einer notwendigen Unterstützung zur Verwirklichung von individuellen Selbstbezügen zu fragen.708 Ebenso kann und muss zweitens kritisch beobachtet werden, an welchen Stellen die in Anerkennungsaushandlungen fundamentale Vulnerabilität in systematische Missachtung und Gewalt überführt wird.709 Drittens wird oftmals übersehen, dass auch der Fürsorgende abhängig ist von Ressourcen, deren Verfügbarkeit mitnichten immer in seinen Händen liegen. Zugleich macht die Rede von der Autonomie – und gleiches müsste dann vice versa auch für die Rede von Fürsorge gelten – als Fiktion deutlich, dass offen bleibt, welcher Gehalt der politischen Gestaltung mit der Rede von einem autonomen Individuum aufgegeben ist. Autonomie als eine Fiktion zu verstehen, inskribiert den politischen Gestaltungsauftrag, den Selbstbezügen trotz und in ihrer Prekarität offene Verwirklichungsräume zu bieten. Eine individuelle und soziale Gestaltung, die gerade deswegen notwendig ist, da angesichts der Prekarität individueller Selbstbezüge eben alles davon abhängt, ob die fundamentalen Ansprüche eines Menschen, als eine Person anerkannt zu werden, auch Gehör finden.710 Von einem solchen Ausgangspunkt her Autonosiehe auch: Finemann & Grear (2013): Vulnerability. Reflections on a New Ethical Foundation for Law and Politics. 707  Vgl. Finemann (2013): Equality, Autonomy, and the Vulnerable Subject in Law and Politics, 17. 708  Siehe hierzu auch die Literatur in Fußnote 298. 709  Siehe Kapitel 5.3. 710  Vgl. Finemann (2013): Equality, Autonomy, and the Vulnerable Subject in Law and Politics, 18 f.

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mie als eine Fiktion zu begreifen, hieße dann, dass diese – gleichermaßen wie die Rede von einem Selbstbezug – keinen festen Boden unter den Füßen hat.711 Es ist immer wieder notwendig, sich ihrer zu vergewissern und gerade in der Art und Weise der Vergewisserung712 und der Gestaltung zu bekennen, wie prekär das Zeugnis des Respekts vor Autonomie eines Selbstbezugs gerade angesichts seiner grundlegenden Vulnerabilität ist.713 Die grundlegende Vulnerabilität menschlicher Vollzüge gehaltvoll und personale Autonomie nicht als Ausschlussverhältnis zu verstehen, verlangt ausgehend von der bleibenden Ambivalenz in der Konstituierung eines Selbstbezugs nach der notwendigen Gestaltung von Geltungsräumen der Egoität zu fragen. Solche Geltungsräume von Egoität lassen sich aber erst dann entfalten, wenn sie von ihrem gegebenen Stiftungsmoment von einem – dann eben sehr facettenreichen – Antworten auf die Infragestellung durch einen Anderen her verstanden werden: Wenn sich Selbstbezüge von Anderen her eröffnen und somit immer Elemente einer Aufgabe, einer Passivität, einer Stiftung enthalten, zugleich aber individuell gestaltet und verwirklicht werden müssen, dann müssen die Überlegungen zur Autonomie und zum praktischen Vollzug einer autonomen Selbstbestimmung die Überlegungen zur responsiv-leiblichen Verfasstheit eines Selbstbezugs und seine Angewiesenheit auf intersubjektive Anerkennungsprozesse integrieren. Wenn autos nómos die Selbstgesetzgebung in dem Sinne bezeichnet, dass ein Selbst sich selbst ein Gesetz gibt, dann kommt es entscheidend darauf an, wie ein solches Selbst zu verstehen ist.714 Der Selbstbezug eines Selbst, der sich freiheitlich gestaltet, 715 findet sich nicht erst in der Gestaltung seiner Freiheit vor, sondern bereits in den Möglichkeiten seiner Selbstbezüglichkeit als eines responsiv-leiblichen Selbstbezugs.716 Mit anderen Worten: Die 711  Siehe hierzu auch: Stegmaier (2008): Philosophie der Orientierung, 98 ff. Werner Stegmaier eruiert in diesem Werk, in welchem Maß aus einem Verständnis der Autonomie eine unmittelbare Orientierungsleistung erfolgt. Anstatt davon auszugehen, dass unmittelbar klar sei, was aus dem Begriff der Autonomie zu folgern ist, müsse es vielmehr um ein an Nietzsche orientiertes genealogisches Erkunden gehen. 712  Siehe hierzu als theologische Reformulierung auch: Ulrich (2005): Wie Geschöpfe leben. Konturen evangelischer Ethik, 22–27. Vergewisserung versteht Hans-Günter Ulrich dabei als theologische Pointierung eines Prozesses des Neuwerdens: „Geschöpfliches Leben heißt, sich im Modus des Neuwerdens aufhalten. Sonst wäre das Leben gegen den Tod gerichtet.“ Ulrich (2005): Wie Geschöpfe leben. Konturen evangelischer Ethik, 115. Ein Neuwerden, das seine Ausrichtung durch die Hoffnung erhält, dass die Bedrohung leiblichen Seins durch Erfahrungen von Missachtung und Verletzlichkeit nicht das letzte Wort haben werden. Der Prozess des Neuwerdens wird dabei nicht als eine theologische Überbietungsfigur der Art gedacht, dass am Ende ‚so oder so‘ alles gut wird, sondern vielmehr muss sich die geglaubte Hoffnung bewähren und in den Lebensvollzügen zeigen, dass es eine begründete Hoffnung ist. 713  Zum Verhältnis von Zeugnis, bezeugen und bekennen siehe Kapitel 6.6. 714  Vgl. Kapitel 6.3. 715  Vgl. Gräb-Schmidt (2015): Autonomie, 10. 716  Vgl. Kapitel 6.3 & 6.4.

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fundamentale Angewiesenheit menschlicher Vollzüge ist bereits in die Möglichkeitsbedingungen eines Selbstbezugs eingeschrieben, aus denen dann die freie Verwirklichung eines Selbstbezugs hervorgehen kann.717 Um die Angewiesenheit menschlicher Vollzüge mit dem Begriff der Autonomie und dann folgend einem Autonomieprinzip zusammenzudenken, hat sich vor allem in den medizinethischen Debatten der vergangenen Jahre der Begriff einer sogenannten relationalen Autonomie herauskristallisiert.718 Der Begriff wird jedoch oft sehr unscharf verwendet und nicht zuletzt deswegen vielfach kritisiert. Gemeinsam teilen Konzeptionen einer relationalen Autonomie die Beobachtung, dass personale Wesen in ihren Handlungen auf soziale Vollzüge angewiesen sind, individuelle Werte sozial erworben und geprägt werden und eingebunden sind in soziale Beziehungen. Zugleich bleibt umstritten, in welchem Maße es sich bei diesen sozialen Kontexten um ein der Autonomie rein externes Surplus handelt oder aber Sozialität eine intrinsische Bestimmung von Autonomie ist. In der ersten Deutungsvariante wäre Autonomie per se durch die Verstrickungen des Sozialen potenziell bedroht, in der zweiten wäre sie es zwar potenziell auch, könnte sich aber zugleich nicht aus dieser Verstrickung lösen, sondern müsste nach Differenzierungen und graduierenden Gestaltungsund Verwirklichungsmöglichkeiten fragen. Will man Relationalität als intrinsisches Moment von Autonomie verstehen, lassen sich unterschiedliche Fokussierungen relationaler Autonomie unterscheiden.719 Eine erste Variante besteht darin, primär auf die Voraussetzungsbedingungen von Autonomie und die daraus resultierenden Konsequenzen zu schauen. Entsprechend kritisiert beispielsweise Onora O’Neill, dass Autonomie in den 717  Was in der Konsequenz dann eben auch bedeutet, dass Angewiesenheit nicht per se ein Widerspruch zu der Anerkennung eines bedürftigen Menschen als eines autonomen sein muss. So etwa bei: Nida-Rümelin (2005): Wert des Lebens. Siehe hierzu auch die Überlegungen von Monika Betzler, die auf die graduelle Prozeduralität für individuelle Formen von autonomer Selbstbestimmung hinweist: Betzler (2011): Erziehung zur Autonomie als Elternpflicht & Betzler (2013): Autonomie der Person, 7–36. 718  Siehe zum Überblick die immer noch sehr erhellende Darstellung in: Mackenzie & Stoljar (2000): Introduction: Autonomy Refigured. 719  Johann S. Ach und Bettina Schöne-Seifert haben eine Typologie relationaler Autonomie entwickelt und dabei sechs Formen relationaler Autonomie unterschieden. Ziel ist es, zu zeigen, dass keine Spielart der relationalen Autonomie etwas Substanzielles zu dem sog. Standardmodell eines liberalen Autonomieverständnisses beiträgt. Vgl. Ach & Schöne-Seifert (2013): „Relationale Autonomie“ Eine kritische Analyse, 48–56. Dabei skizzieren Ach und Schöne-Seifert die Ansätze relationaler Autonomie jedoch recht grob. Zudem blenden sie aus, dass die Konzepte relationaler Autonomie bereits die von ihnen aufgestellte Behauptung einer strikten Trennbarkeit von einem Autonomiebegriff und einem Autonomieprinzip grundsätzlich infrage stellen. Der Clou, auf die Relationalität der Autonomie zu verweisen, liegt ja gerade in der Beobachtung, dass das begriffliche Verständnis darüber, wer als personales Wesen anerkannt wird, nicht von den praktischen Vollzügen getrennt werden kann und darüber hinaus auch die praktischen Vollzüge Rückfragen an die einem begrifflichen Verständnis zugrunde liegenden Ein- und Ausschlusskriterien stellen.

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praktischen Vollzügen vorschnell mit Wahlfreiheit verwechselt wird. Die individuelle Wahlfreiheit, sowohl frei von Bevormundung zu sein als auch die Informationen zur Verfügung zu haben, die für eine informierte Entscheidung notwendig sind, beinhaltet für O’Neill lediglich ein notwendiges Element von Autonomie.720 O’Neill will nicht einfach die Vollzugsbedingungen praktischer Autonomie kritisieren, sondern verortet das eigentliche Problem darin, dass die Modelle des Informed Consent einem insuffizienten begrifflichen Verständnis von personaler Autonomie folgen.721 Mit der Kritik an der Umsetzung des Autonomieprinzips hinterfragt sie, inwiefern beim Ausbuchstabieren des Konzeptes selbst der Vulnerabilität und Angewiesenheit der Patienten Rechnung getragen wird, selbst dann, wenn hinreichend Informationen vorliegen und eine zwanglose Entscheidungsfreiheit besteht. Sie schlägt vor, statt von individueller Autonomie von einer „principled autonomy“ (von einer prinzipiellen Autonomie) auszugehen und die bisherigen Modi des Informed Consent zu über­denken.722 Der entscheidende Unterschied zwischen individueller und prinzipieller Autonomie besteht für O’Neill darin,723 dass erstens mit einem Verständnis von Autonomie als prinzipieller Autonomie sichergestellt sein muss, dass die aus dem Begriff der Autonomie abgeleiteten praktischen Prinzipien für alle Akteure, gerade auch in ihrer Vulnerabilität, Geltung erlangen können müssen, und dass zweitens diejenigen, die nicht oder nur eingeschränkt zu einer Entscheidungsfindung in der Lage sind, befähigt werden, eine in diesem Sinne selbstbestimmte Entscheidung zu treffen.724 Relationalität denkt O’Neill also zunächst als ein Entsprechungsverhältnis zwischen dem zugrunde liegenden Autonomiebegriff und dem korrespondierenden Prinzip. Die fundamentale Angewiesenheit menschlicher Vollzüge nimmt O’Neill in ihre Autonomiekonzeption auf: Sie weist hin (1) auf die Notwendigkeit von prozeduralen Entscheidungen, im 720  Dieses Defizit einer Bestimmung von Autonomie haben auch Beauchamp und Childress in ihren Überlegungen zum Respekt vor der Autonomie von Patienten entsprechend herausgearbeitet. Wurde in den ersten Auflagen der Principles of Biomedical Ethics der Respekt vor der Autonomie noch vorrangig als ein negatives Abwehrrecht verstanden, so betonen Beauchamp und Childress ab der sechsten Auflage sehr ausdrücklich die Notwendigkeit, einen solchen Respekt auch als ein positives Anspruchsrecht zu verstehen. Ein solch positives Anspruchsrecht erfordert dann eine Pflicht auf eine respektvolle Behandlung sowie die Bereitstellung von Informationen und Handlungen, die eine autonome Selbstbestimmung gewährleisten. Vgl. Beauchamp & Childress (2009): Principles of Biomedical Ethics, 104 & Beauchamp & Childress (2013): Principles of Biomedical Ethics, 107. 721 O’Neill spricht von „underlying concepts“, die hinter der Umsetzung einer bestimmen Praxis des Informed Consent stehen. Vgl. O’Neill (2002): Autonomy and trust in bioethics. 722  Vgl. O’Neilll (2002): Autonomy and trust in bioethics, 96: „Principled autonomy requires that we act only on principles that can be principles for all; it provides a basis for an account of the underlying principles of universal obligations and rights that can structure relationships between agents.“ 723  Vgl. hierzu auch: Huber (2006): Patientenautonomie als nichtidealisierte „natürliche Autonomie“, 133. 724  Vgl. Manson & O’Neill (2007): Rethinking Informed Consent in Bioethics, 183–200.

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Sinne von Entscheidungen über Prozeduren, mithilfe derer dann wiederum andere Entscheidungen getroffen werden, (2) auf elementare Asymmetrien in der Entscheidungsfindung und (3) auf die Gefahr, mit einem vorrangigen Insistieren auf individuellen Entscheidungskompetenzen einer nicht geringen Anzahl von Menschen Autonomie abzusprechen.725 Menschliche Entscheidungsfindungskompetenz ist nicht unwesentlich durch Elemente der Unwissenheit und der Angewiesenheit gekennzeichnet, die gerade nicht ausgegrenzt oder einfach beseitigt werden können, sondern als elementare Bestandteile menschlicher Vollzüge ernstgenommen werden müssen.726 Für die praktische Umsetzung eines solchen Autonomieprinzips folgt daraus für O’Neill, dass nicht nur der tatsächlich artikulierte Wille als Ausdruck einer selbstbestimmten Entscheidung verstanden werden muss, sondern auch der sogenannte natürliche Wille. Als Indizien eines solchen natürlichen Willens sieht O’Neill sowohl etwaige bereits einmal geäußerte Willensbekundungen als auch hypothetische Annahmen darüber, wie ein rationaler Agent in der jeweiligen Situation entscheiden würde.727 Dies wird an späterer Stelle zu diskutieren sein. Eine zweite Variante insistiert vor allem darauf, dass es entscheidend auf den jeweiligen Selbstwert eines Individuums in der Ausübung autonomer Selbstbestimmung ankommt. Eine Person wird nicht alleine durch die ihr eigenen Fähigkeiten als autonom anerkannt, sondern ebenso erweist sich als relevant, in welchem Selbstverhältnis sie sich befindet, und damit nicht zuletzt – das war bereits in der Analyse von Honneths Arbeiten zum Anerkennungsbegriff deutlich geworden –728 welche jeweiligen Anerkennungs- und Missachtungserfahrungen eine Person macht.729 Autonome Selbstbestimmung, so führt Catriona Macken725  Vgl.

O’Neill (2002): Autonomy and trust in bioethics, 27. Kim Atkins insistiert darauf, dass der Respekt vor der Autonomie einer Person erfordert, sich in die Erfahrung des jeweiligen Gegenübers hineinzufühlen, um eine Ahnung von der Wirkmächtigkeit einer konkreten Situation für das Gegenüber zu erhalten. Im medizinischen Kontext bedeutet dies, dass das behandelnde Personal sich verpflichtet (hier wählen Atkins und O’Neill die gleiche Terminologie), die jeweilige Situation aus der Perspektive des Patienten zu sehen und hiervon ausgehend nach gemeinsam verantworteten Behandlungsmöglichkeiten zu fragen. Vgl. Atkins (2000): Autonomy and the Subjective Character of Experience. Ähnlich argumentiert Marilyn Friedman, indem sie von der Verpflichtung spricht, in den jeweiligen Entscheidungsnotwendigkeiten die sog. ‚first-person perspective‘ zu berücksichtigen. Vgl. Friedman (2003): Autonomy, Gender, Politics, 56–80. Im Unterschied zu den Arbeiten O’Neills ist mit der Konstatierung dieser Notwendigkeiten aber zugleich eine Abkehr von ‚Informed-Consent‘-Modellen und stattdessen eine stärkere Hinwendung zu sog. ‚Shared-Decision‘-Modellen verbunden. Torrey & Drake (2010): Practicing Shared Decision Making in the Outpatient Psychiatric Care of Adults with Severe Mental Illnesses: Redesigning Care for the Future. 727  Vgl. O’Neill (1984): Paternalism and partial autonomy. 728  Vgl. Kapitel 5.1. 729  Vgl. Anderson & Honneth (2005): Autonomy, Vulnerability, Recognition, and Justice. Zur theoretischen Fundierung siehe: Kapitel 5.3. In ähnlicher Weise argumentiert auch: Christman (2011): The Politics of Persons. Individual Autonomy and Social-historical ­Selves. 726 

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zie weiter aus, ist zum einen wesentlich durch sich intersubjektiv eröffnende und verschließende Räumen praktischer Selbstverhältnisse charakterisiert und zum anderen durch eine aus der gemeinsam geteilten Welt erwachsene Pflicht, aus Respekt vor dem jeweiligen praktischen Selbstverhältnis einer Person stellvertretend an die Stelle einer Person zu treten, die zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht in der Lage ist, ihren praktischen Selbstbezug selbst zu vertreten.730 Demzufolge geht es Mackenzie ausdrücklich nicht um eine Romantisierung oder gar Idealisierung von Relationalität. Vielmehr versucht sie anzuerkennen, dass gerade die Ambivalenzen, die Brüchigkeit und mitunter auch Bedrohlichkeit der Verstrickung in Relationalität zu bedenken sind: „[The] practical identity may be shaped by false norms and beliefs and distorted values arising from unjust social practices or political institutions; and it may incorporate destructive affective attitudes towards herself, such as lack of self-respect or mistrust of her own judgments. These seem to be precisely the kind of factors that compromise autonomous agency and hence an agent’s normative authority over her decisions, her actions, and her will. The problem then is that just because an agent acts in accordance with her settled character or reflectively endorses the value commitments that define her practical identity, this is no guarantee that she does so autonomously.“731 Mackenzie betont also durchaus die Schwierigkeiten und Herausforderungen, die mit einem Konzept relationaler Autonomie dann verbunden sind, wenn diese mit einer starken Konzeption des Sozialen gekoppelt sind. Paradigmatisch vertritt John Christman den Ansatz einer prozeduralen Konzeption relationaler Autonomie und Marina Oshana den einer substanziell relationalen Autonomie. Gemeinsam ist beiden Ansätzen, dass sie individuelle Agentenschaft von ihrer Einbettung in soziale Kontexte her verstehen und entfalten. Vor diesem Hintergrund muss eine Konzeption von Autonomie ihres Erachtens erstens die Bedingungsmöglichkeiten, in die praktische Selbstbezüge eingelassen sind, als konstitutiv anerkennen. Zweitens insistieren beide darauf, dass die praktischen Selbstbezüge selbst eine soziale Konstruktion figurieren, die durch die Art und Weise, wie der soziale Raum gestaltet ist, die Ausbildung individueller praktischer Selbstbezüge fördern oder hemmen kann. Fundamental treten die Konzeptionen von Christman und Oshana nun aber bei der Frage auseinander, wie die ermöglichenden Relationen gestaltet sein müssen. ChristStärker noch als Honneth geht Christman dabei auf die bleibenden Ambivalenzen in den Selbstbezügen ein und arbeitet diese systematisch in seine Konstruktion ein. Christman selbst wehrt sich aber gegen eine Bezeichnung seines Verständnisses als eines relationalen, weil er damit die Sorge verknüpft, dass eine solche allzu schnell in einen Paternalismus kippen könnte. 730  Vgl. Mackenzie (2008): Relational Autonomy, Normative Authority and Perfectionism, 514. 731 Mackenzie (2008): Relational Autonomy, Normative Authority and Perfectionism, 515.

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man vertritt die These, dass die ermöglichende Relationalität inhaltsneutral sein muss. Ein Akteur muss als autonom angesehen werden, solange er in der Lage ist, Gründe für seine Motivationen und Handlungen anzugeben – unabhängig von dem Inhalt der Motivationen und Handlungen. Entsprechend definiert Christman zwei Bedingungen: erstens die notwendigen Kapazitäten eines Individuums und zweitens die Authentizität eines praktischen Selbstbezugs.732 „Competence conditions typically refer to such things as self-control, capacities for rational thought, and freedom from debilitating pathologies, systematic self-deception, and so on. But, as feminists and other relational theorists have been insisting, many life patterns (particularly for women and marginalized groups, according to some) crucially involve intertwined personalities, close relations of care and dependence, embedded cultural identities and values, and the like.“733 Ein solcher Verweis auf die notwendigen Kompetenzen kann jedoch nicht ohne Weiteres in Kompetenzlisten überführt werden. Ebenso wie es unmöglich ist, auf die Benennung konkreter Kompetenzen zu verzichten, um sich nicht dem Vorwurf der Willkür auszusetzen, so wenig kann mit einer umfänglichen Liste an Einschlusskompetenzen das Problem umgangen werden, dass es eine breite Variation an Ausprägungen gibt, welche die Anerkennung einer Kompetenz abhängig machen von der jeweiligen relationalen Einbettung. Unter Authentizität versteht Christman die Voraussetzung, „that the person [has to] be able to submit the factors of her personality to critical self-reflec­ tion.“734 Authentizität bedeutet also für Christman, dass eine Person dann als autonom verstanden werden muss, wenn sie sich zu den sie umgebenden Relationen reflexiv verhalten kann und so in der Lage ist, Anknüpfungspunkte zu finden, die sie ihre eigenen nennen kann.735 Aufgrund dessen ist eine autonome Person nicht einfach das Produkt der sie umgebenden Relationen, sondern 732  Vgl. Christman (2011): The Politics of Persons. Individual Autonomy and Social-historical Selves, 133 ff. Als Kompetenzen nennt Christman unter anderem: (Ein Mindestmaß an) Rationalität, Selbstkontrolle, die Fähigkeit, Informationen zu verstehen, sowie eine motivationale Steuerung. Ebenso Fürsorge, Empathie, Intimität und soziale Kooperation. Authentizität versteht Christman dabei nicht als ein Ganz-bei-sich-selbst-Sein, sondern als die Möglichkeit, eine individuelle Präferenz auszubilden. So insistiert Christman darauf, dass jeder praktische Selbstbezug immer Elemente relationaler Bedingtheit beinhalten wird, die ein Selbstbezug nicht beseitigen kann, ohne sich selbst zu verlieren. 733 Christman (2004): Relational Autonomy, Liberal Individualism, and the Social Constitution of Selves. 734 Christman (2005): Autonomy, Self-Knowledge, and Liberal Legitimacy, 333. Es sei an dieser Stelle nur kurz darauf verweisen, dass Christman in seinem Verständnis von Authentizität durchaus einige Nuancen anders setzt, als dies etwa in den bei Gerald Dworkin oder auch Axel Honneth der Fall ist. Vgl. Dworkin (1988): The Theory and Practice of Autonomy, 121–129 & Honneth (1994): Schwerpunkt: Autonomie und Authentizität. 735  Das Konzept hat nach seiner massiven Kritik nicht zuletzt durch Denker wie Agamben oder Foucault in den letzten Jahren wieder einige Fürsprecher gewonnen. Dies trifft nicht nur auf die Arbeiten von Charles Taylor zu, sonden ebenso auf Denker wie: Guignon (2004): On Being Authentic & Varga (2011): Authenticity as an Ethical Ideal.

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kann (und muss) durch den prozeduralen Modus ihrer Anknüpfung einen individuellen Selbstbezug herstellen und aufrechterhalten. Diese Notwendigkeit ergibt sich erst recht dann, wenn eine Person von unvorteilhaften oder gar gefährlichen Relationen umgeben ist: „I might think that the way I was raised was too restrictive, but I accept the way I turned out nonetheless, because it wasn’t so restrictive that I want to reject or disavow the character traits that developed from it.“736 Um als ein autonomes Individuum anerkannt zu werden, muss ein Mensch kompetent und authentisch sein,737 was bedeutet, dass er sich nicht von den ermöglichenden Relationen ‚ent-fremden‘ darf.738 Während man pro bono betonen könnte, dass Christman auf eine bleibende Sperrigkeit im Selbstbezug eines Selbst verweist, von der man sich nicht lösen kann, da sie dauerhaft mit der eigenen Geschichte verbunden bleibt, ist kritisch zu hinterfragen, aus welchem Grund der Umgang mit den Schattenseiten der eigenen Ermöglichungsbedingungen es erfordert, sich zu diesen in ein positives Verhältnis zu setzen. Mit einer solchen Kopplung von Authentizität und Autonomie handelt sich Christman mindestens drei Probleme ein: Erstens stellt sich ad negativum die Frage, ob ein Individuum wirklich unabhängig davon, wie repressiv die umgebenden Relationen sind, zu einer autonomen Selbstbestimmung in der Lage ist. Zweitens gesteht Christman selbst zu, dass repressive relationale Kontexte zu einer Reduzierung möglicher individueller Anschlussstellen führen. Die Position, die Relationalität von Autonomie ernst zu nehmen, schlägt ihrerseits in radikale Gewalt um, wenn nicht auch mitbedacht wird, dass Kontexte derart gestaltet sein können, dass sie gerade nicht als Ermöglichungsräume individueller Selbstbezüge fungieren. Allerdings schreibt sich in Christmans Überlegungen eine Unwucht ein, wenn er die Verantwortung im Umgang mit den Ermöglichungskontexten und damit auch die Verantwortung im Umgang mit repressiven Kontexten alleine dem Individuum zuweist. Ferner, so ist kritisch gegen Christman einzuwenden, bleibt über diesen Punkt hinausgehend unklar, warum mit der Beobachtung, dass jedem Selbstbezug ein überschießendes Element des Fremden inhärent ist, zwingend eine normative Aussage verknüpft sein soll, auf welche Art und Weise sich ein Selbst zu seinen Ermöglichungsbedingungen zu verhalten hat. Ganz im Gegenteil kann die Entfremdung und damit mitunter auch das bewusste Loslösen von repressiven Relationen ja gerade zu einem Movens der Art und Weise werden, wie sich eine Person als Person verwirklicht. Christman kann insofern zwar zugestimmt werden, dass es unmöglich ist, sich nicht zu seinen Ermöglichungsbedingungen zu verhalten, aber 736 Christman

(2005): Autonomy, Self-Knowledge, and Liberal Legitimacy, 334. Christman wählt den Begriff der ‚Non-Alienation‘ und setzt diesen an die Stelle seiner früheren Rede von einem ‚historical constraint‘: Christman (2004): Relational Autonomy, Liberal Individualism, and the Social Constitution of Selves, 155. 738 Christman (2004): Relational Autonomy, Liberal Individualism, and the Social Constitution of Selves. 737 

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II. Teil: In prekären Verhältnissen

eine solche Emphase droht sich dann in ihr Gegenteil zu verkehren, wenn sie eine bestimmte Art und Weise vorschreibt, wie dies zu tun sei. Entsprechend ist drittens kritisch zu hinterfragen, ob das von Christman lancierte Verständnis der Kapazitäten sowie der notwendigen Authentizität wirklich, wie er behauptet, auf einer neutralen Konzeption der Bedingungsmöglichkeiten ruht. Gerade weil, so ließe sich der Argumentationsvektor umdrehen, es unmöglich ist, sich von einem neutralen Ort der Vulnerabilität menschlicher Vollzüge zu nähern, stellt die Verantwortung für die Gestaltung von Sozialität nicht alleine eine individuelle Verarbeitungsaufgabe dar, sondern ist vielmehr zugleich als eine soziale, also zum Beispiel institutionelle Gestaltungsaufgabe zu sehen. Von der Notwendigkeit einer solchen gerade nicht neutralen, sondern gehaltvollen Konzeption des Sozialen als Bedingung von Autonomie geht Marina Oshana aus. Sozialität wird als ein bestimmter Raum gedacht, bestimmt durch gemeinsame Werthaltungen, Überzeugungen und Vorstellungen des guten Lebens.739 Vor diesem Hintergrund verfolgt Oshana das Argument, dass die modale Gestaltung von Relationalität grundlegend dafür ist, ob ein Individuum als autonom verstanden werden kann. Der praktische Vollzug autonomer Selbstbestimmung, so Oshana, ist nur dann möglich, wenn es eine gesellschaftlich geteilte Vorstellung davon gibt, dass Autonomie ein Wert ist, der einem jeden Menschen als gleichberechtigtem Mitglied einer Gesellschaft zukommt. Es bedarf also eines sozialen Gestaltungsraumes, auf den sich die personalen Wesen als für sie grundlegend gültig verlassen können.740 Ein solcher Gestaltungsraum, so spitzt Oshana zu, kann aber nun nicht ein irgendwie beliebiger sein, sondern unterscheidet sich von anderen sozialen Gestaltungsräumen durch die Art seiner Übereinkünfte. Ein sozialer Raum, der sich auf die Anerkennung aller Individuen als gleiche festlegt, bietet den in ihm befindlichen Individuen andere Gestaltungsmöglichkeiten autonomer Selbstbestimmung, als dies ein sozialer Raum tun würde, der per se von einer grundlegenden Ungleichheit der Individuen ausgeht. Diese überindividuellen Werthaltungen und Überzeugungen einer Gesellschaft sind nun aber ausschlaggebend dafür, inwiefern überhaupt von individueller Autonomie gesprochen werden kann.741 Oshana diskutiert dieses Problem anhand des Beispiels einer repressiven Gesellschaft wie beispielsweise der Taliban. Eine aus dem sogenannten westlichen Kulturkreis stammende gebildete Frau entscheidet sich aus religiösen Gründen ohne offensichtlichen Zwang dafür, in eine von den Taliban regierte Region zu ziehen. Oshana argumentiert angesichts eines solchen Szenarios, dass die Frau in dem Moment, wo sie sich entscheidet, sich unter ein totalitäres Regime zu stellen, nicht mehr als autonomes Wesen zu verstehen ist.742 Begründet sieht Oshana 739 

Vgl. Oshana (1998): Personal Autonomy and Society, 82 ff. Vgl. Oshana (1998): Personal Autonomy and Society. 741  Vgl. Oshana (2007): Autonomy and the Question of Authenticity. 742  Vgl. Oshana (2006): Personal Autonomy in Society, 63. 740 

7. Konsequenzen und Herausforderungen

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diese Einschätzung darin, dass die Frau sich in eine Sozialität stellt, die sie nicht als ein autonomes Wesen anerkennt.743 Auch wenn die Frau die Entscheidung selbstbestimmt vollzieht und diese Entscheidung Ausdruck ihrer religiösen Selbstbestimmung ist, begibt sie sich, so argumentiert Oshana, in einen Kontext, der sie aufgrund ihres Geschlechts grundsätzlich nicht als eine autonome Person anerkennt.744 Im Vergleich der Positionen von Christman und Oshana, die beide von einem relationalen Autonomieverständnis ausgehen, lässt sich Folgendes festhalten: Während Oshana davon ausgeht, dass überindivi­duelle Werthaltungen und Überzeugungen, beispielswiese einer Sozialität, dafür entscheidend sind, welche individuellen Überzeugungen überhaupt verwirklicht werden können, hält Christman Werthaltungen und Überzeugungen für etwas rein Indivi­­duelles, was jede Person zum Umgang mit ihrer relationalen Eingebundenheit entfalten und leben kann. Gemeinsam mit Christman kann deshalb an dieser Stelle die Gefahr markiert werden, dass eine im Sinne Oshanas verstandene Relationalität eine Teleologisierung der Selbstbezüge implizieren würde, da in einer solchen Konzeption Selbstbezüge nur in der Art gestaltet werden können, sofern sie in Übereinstimmung mit den Wertvorstellungen der Sozialität stehen. Grundsätzlich markiert Oshana einen wichtigen Punkt, indem sie dezidiert die Art und Weise in den Blick nimmt, wie die Relationen, von denen her sich Selbstbezüge eröffnen, konfiguriert sind. Die konkrete Ausprägung solcher Relationen – also beispielsweise ob der Freiheit einzelner Individuen ein fundamentaler Wert zugemessen wird und welche negativen wie positiven Standards gesetzt und bezeugt werden – nimmt eine wesentliche Bedeutung für die konzeptionellen wie praktischen Bestimmungsmöglichkeiten einer Person ein. Allerdings droht Oshana mit ihrer Argumentation zu weit zu gehen, wenn sie den einen Selbstbezug eröffnenden Relationen einen derart starken normativen Gehalt einschreibt, dass die gesamte Konzeption Gefahr läuft, einem starken Paternalismus Tür und Tor zu öffnen. Jegliche Elemente von Subversivität gegen bestehende Normalisierungen und Normierungen, selbst zugestandener Gewissensfreiheit, aber ebenso von Entschlüssen, eine bestimmte Relationskonfiguration zu verlassen, scheinen dann prinzipiell unmöglich zu werden. Systematisch betrachtet weisen beide Ansätze den Rückkopplungen zwischen sozialem Gestaltungsraum und individuellem Selbstbezug ein zu geringes Gewicht zu. So sind die sozialen Gestaltungsräume ja wesentlich durch die Art und Weise bestimmt, wie individuelle Wesen in ihnen handeln. Aus diesem Grund müssen sich die sozialen und politischen Gestaltungsräume daran messen lassen, inwieweit sie Verwirklichungsmöglichkeiten einräumen, in denen praktische Selbstverhältnisse selbstbestimmt, auch und gerade in ihrer funda743  Zur Diskussion siehe auch: Mackenzie (2008): Relational Autonomy, Normative Authority and Perfectionism, 522–525. 744  Vgl. Oshana (2003): How Much Should We Value Autonomy?

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II. Teil: In prekären Verhältnissen

mentalen Angewiesenheit auf Andere, gestaltet werden können. Mit anderen Worten: Die individuellen Selbstbezüge müssen in der Art und Weise ihrer Gestaltung bezeugen,745 dass die sozialen Möglichkeitsräume in dem Sinne offene bleiben, dass die fundamentale Angewiesenheit eines jeden Wesens anerkannt wird. Was aber folgt aus dem bislang Erörterten für die Verhältnisbestimmung von Autonomie, Selbstbestimmung und Fürsorge? Dieser Frage wird im Folgenden nachgegangen, indem fünf systematische Schlussfolgerungen diskutiert werden: Die Rede von personaler Autonomie verweist erstens in ihrer konzeptionellen Bestimmung nicht auf einen Anfang ganz bei sich selbst, sondern eröffnet sich im Antworten auf Fremdes. Von einer solchen grundlegenden Responsivität her lassen sich Räume für die Gestaltung von individuellen Selbstbezügen realisieren. Autonomie ist in dem Sinne keine Eigenschaft eines Selbst, sondern eine relationale Vollzugsbedingung. Ein Individuum als autonom anzuerkennen bedeutet, es gerade angesichts der intersubjektiven Angewiesenheit leiblicher Vollzüge als einen Anspruchsträger zu verstehen, dessen fundamentaler Anspruch zunächst einmal lautet, nicht verletzt zu werden. Nicht verletzt zu werden postuliert sowohl einen Anspruch auf körperliche Unversehrtheit als angesichts der leiblichen Verfasstheit eines Selbstbezugs auch das Recht auf politische Gestaltungsräume, in denen sich ein Wesen als Person anerkannt erfährt und gerade deshalb gestalten und sich verwirklichen kann. Das impliziert zweitens, dass sich der grundsätzliche Anspruch eines Menschen, als ein autonomer anerkannt zu werden, in Vollzügen autonomer Selbstbestimmung artikuliert. Eine solche Selbstbestimmung fordert ein, als ein individuelles Selbst anerkannt zu werden und mit seinen Ansprüchen Gehör in der Gestaltung individueller wie sozialer Räume zu erhalten. Gerade weil in den intersubjektiven Anerkennungsprozessen nicht nur etwas, sondern die Anerkennung einer Person als Person auf dem Spiel steht, handelt es sich bei dem Anspruch auf Achtung der praktischen Selbstbezüge in dem Sinne um einen universalen, als die grundsätzliche Achtung vor den autonomen Selbstbestimmungspraktiken eines Individuums eingefordert wird. Eine solche Achtung muss sich gleichzeitig daran messen lassen, inwiefern sie in konkreten Kontexten und Herausforderungen die Anerkennung autonomer Selbstbestimmungspraktiken für sich und andere (primär in der Achtung ihrer körperlichen Unversehrtheit) bezeugt. Drittens lassen sich die Gestaltungsräume autonomer Selbstbestimmung nicht von ihrem Ermöglichungsraum der responsiven Grunddifferenz trennen, ohne dass damit gleichzeitig die Frage verstummen würde, wer es ist, der Anerkennung als ein autonomes Wesen fordert. Auch wenn die Gestaltung der Anerkennungsräume praktischer Selbstbezüge auf prozeduralen Merkmalen wie bei745 

Zu dem Begriff des Bekenntnisses siehe die Ausführungen in Kapitel 7.3.

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spielsweise einer grundsätzlich gleichen Achtung gleicher Interessen und einer (idealiter) symmetrischen Machtverteilung basiert, wirkt die bleibende Kopplung an die responsive Grunddifferenz gewissermaßen wie eine kontrafaktische Unwucht, die immer wieder fordert, zu überprüfen, ob die Mechanismen der Gestaltung praktischer Selbstbezüge eine grundlegende Differenzsensibilität746 wie Ambiguitätstoleranz747 praktisch bezeugen. Nur auf die Weise kann garantiert werden, dass ein einmal überhörter Verweis auf eine erlittene Verletzung nicht dauerhaft überhört und missachtet wird. Aus theologischer Perspektive reformuliert Luthers fides facit personam diesen Gedanken.748 Der Glaube, so lässt sich theologisch formulieren, bezeugt den Zuspruch, sich als ein gerechtfertigter Selbstbezug vorzufinden und aus der Bewahrung dieser Differenz heraus die Verwirklichungsräume von Selbst und Anderen zu gestalten.749 Anerkennungstheoretisch formuliert: Die Anerkennung einer Person als eines autonomen Wesens, das selbstbestimmt handeln und entscheiden kann, eröffnet sich von einem fremden Zuspruch her. Der geglaubte Zuspruch markiert aber zugleich den Anspruch, aus dem Zuspruch heraus zu leben und zu handeln. Noch einmal anders formuliert: In die selbstbestimmte Gestaltung individueller Lebensformen ist ein Element der Verantwortung eingeschrieben. Verantwortlich zu handeln verlangt dann, die Räume des Politischen als Gestaltungsräume autonomer Selbstbezüge in dem Sinne als offene zu gestalten, dass der fundamentalen Angewiesenheit eines jeden Anspruchsträgers Rechnung getragen wird. Insofern macht sich jede politische Gestaltung angesichts der Prekarität der Selbstbezüge zwangsläufig ‚die Hände dreckig‘, da sie sich in ihrem Handeln nicht auf einen neutralen, sicheren Boden zurückziehen kann.750 Zugleich besteht der entscheidende Unterschied aber darin, auf welche Art und Weise und mit welchem Ziel die Politik das tut. Konkret: Es muss sich in der politischen Gestaltung erweisen, inwiefern ein jeder fundamentale Anspruch auf Anerkennung gehört wird und in den Vollzügen des Miteinander-Seins ein Wort gegeben und gehalten wird. Erst in dem genuinen Ineinander von fundierend-asymmetrischer Responsivität und dem Ziel einer symmetrischen Aushandlung von Geltungsansprüchen bezeugt sich die Möglichkeit, eine verlässliche und möglichst gewaltfreie Welt mithilfe des Rechts und solidarischen Räumen des Sozialen zu errichten.751 746 

Vgl. Korsch (1997): Religion mit Stil, 157–164. Bauer (2011): Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, 29. „Toleranz“, so führt Bauer aus, „ist eine von mehreren Reaktionsweisen auf eine eindeutige Situation, nämlich der Konfrontation mit Deutungen, Wertungen, Normen usw., die von den eigenen Deutungen, Wertungen und Normen abweichen.“ 748  Vgl. Luther (1535/38): WA 39, I. Disputationen. 749  Vgl. Ebeling (1989): Lutherstudien. Bd. 2,3, 204 f. 750  Vgl. hierzu auch: Bedorf (2007): Bodenlos, 706 f. 751  Vgl. hierzu auch: Arendt (2011): Über die Revolution. Die Prekarität eines gegebenen Wortes liegt dabei jedoch nicht allein darin, dass es gebrochen werden kann, sondern 747  Vgl.

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II. Teil: In prekären Verhältnissen

Viertens ist eine Person, gerade weil Selbstbezüge keine in sich kohärenten Größen sind, sondern dynamische Anknüpfungsereignisse, in ihrer Singularität plural verfasst,752 sowohl darauf angewiesen, dass sie sich selbst als fähig erachtet, für sich selbst zu sprechen, als auch darauf, dass die von ihr artikulierte Sprachform als ein solcher Ausdruck anerkannt wird. Autonome Selbstbestimmung erfordert somit eine grundsätzliche Fähigkeit und Bereitschaft, seine Bedürfnisse, Überzeugungen und Fähigkeiten als etwas zu verstehen, was es wert ist, in den Räumen praktischer Selbstbezüglichkeit gestaltet zu werden. Bezogen auf das zuvor diskutierte Beispiel von Sesha bedeutet dies: Sesha ist im Sinne dieser Bestimmung ein autonomes Wesen, wird in der Gestaltung ihrer praktischen Selbstverhältnisse aber immer in einem besonderen Maße angewiesen sein, denn obwohl betont werden muss, dass sie sich in ihrer fundamentalen Angewiesenheit nicht von anderen Akteuren unterscheidet, bedarf sie einer besonderen Form der Zuwendung, um ihre Ansprüche selbstbestimmt zu artikulieren und sich als ein praktischer Selbstbezug verwirklichen zu können. Insofern sind und bleiben individuelle Selbstbezüge abhängig von der Anerkennung und stellvertretenden Artikulation Anderer und stehen damit in einem komplexen Interaktionsgeflecht aus intersubjektiven Diskursnormen. Zugleich aber sorgen gerade diese Diskursnormen – gewonnen in einem demokratischen Prozess –753 dafür, dass auch in dem Falle, in dem einem Wesen sein praktischer Selbstbezug nur noch bruchstückhaft vorhanden ist oder aber mitunter ganz verloren gegangen ist, an die Stelle eines Selbst getreten754 wird. Fünftens kann Autonomie, gerade weil Selbst und Anderer auf unsicherem Boden stehen und sich die Risse und Brüche im leiblichen Selbstbezug nicht als zu überwindendes Malum verstehen lassen, sondern vielmehr Anknüpfungsmöglichkeiten exponieren, nicht als Gegensatz von Fürsorge verstanden wervielmehr darin, dass man auch etwas versprechen kann, was von vorneherein utopisch ist. Wenn die Eltern ihrem Neugeborenen versprechen, immer für es zu sorgen und es immer zu beschützen, dann wissen sie bereits (zumindest bei nüchterner Betrachtung) darum, dass sie dieses Versprechen brechen werden. Das ist auch der Grund, warum man das Geben eines Wortes nicht in Versprechensontologien überführen kann. So zum Beispiel Robert Spaemann in: Spaemann (1996): Personen. Versuche über den Unterschied von ‚etwas‘ und ‚jemand‘, 235 ff. Auch wenn sich in der Gabe eines Versprechens bereits ein Bruch anzeigt, macht dieser das Versprechen nicht obsolet. Der sich anzeigende Bruch kann erfordern, dass eine Person ihr Versprechen erneuert, modifiziert oder negiert. Abhängig von der Art des Bekenntnisses hat der Modus des Bezeugens (vgl. Kapitel 6.6) dann aber wiederum Rückwirkungen auf die Gestaltungsräume, die sich beiden (!) Personen für die Verwirklichung eines praktischen Selbstbezugs eröffnen oder verschließen. Für die Eltern, die ihrem Neugeborenen utopischerweise versprechen, immer für es zu sorgen und es immer zu beschützen, hat dies zur Folge: Es ist nicht nur möglich, zu viel zu versprechen, sondern man kann auch zu wenig versprechen. So oder so stiftet das gegebene Wort einen (eben prekären) Raum, in dem sich Personen als Personen anerkennen und verwirklichen können. 752  Vgl. Nancy (2012): singulär plural sein. Siehe hierzu auch ausführlich Kapitel 6.1. 753  Vgl. hierzu auch Kapitel 5.1. 754  Vgl. hierzu ausführlich Kapitel 7.2.

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den. Fürsorge und Autonomie bilden auf den Ebenen von responsiver Grunddifferenz und der Gestaltungsdimension praktischer Selbstbezüge ein relationales Netz, in dem Selbstbezüge möglich sind. Insofern ist der Kreuzungspunkt von Fürsorge und Autonomie jeweils der individuelle Selbstbezug. Auf der Ebene der responsiven Grunddifferenz gestaltet sich das Verhältnis von Autonomie und Fürsorge (im Sinne von Alterität) als ein grundsätzliches Antworten auf den Anspruch eines Anderen,755 als ein Ineinander von subjektivierendem An- und Zuspruch. Auf der Ebene der Gestaltungsdimension praktischer Selbstverhältnisse sind die beiden Pole die autonome Selbstbestimmung und die Fürsorge, im Sinne eines sich konkreten Sorgens um jemanden (care).756 Folglich bleibt Fürsorge als eine Form der Stellvertretung immer ein ambivalentes Phänomen, das in der ständigen Gefahr steht, Anschlussstellen zu produzieren, an die der vertretene Selbstbezug nicht mehr anknüpfen kann. Fürsorge produziert immer eine (an-)gespannte Form der Offenheit: Auf der einen Seite wären praktische Selbstvollzüge ohne das fürsorgende Eintreten Anderer gar nicht erst möglich. Insofern stiftet die Fürsorge Räume praktischer Selbstbezüglichkeit. Je nach Grad der Diskrepanz zwischen individueller Deutung und jeweiliger externer Perspektive kann das Beharren auf einer individuellen Deutungshoheit auch zu einem Bruch zwischen Selbst und Anderen, einer Beziehungsunfähigkeit bis hin zu einer sozialen (Selbst-)Exklusion führen. Zugleich birgt jedes fürsorgliche Eintreten das Risiko, die Fremdheitselemente in der jeweiligen Selbstkonzeption uneinholbar zu potenzieren. Innerhalb des relationalen Netzes von Autonomie und Fürsorge sind autonome Selbstbestimmung und die Sorge für jemanden graduelle Begrifflichkeiten, die deutlich machen, dass eine Person sehr wohl in der Lage sein kann, in einem Bereich ihres praktischen Selbstvollzuges selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen, dass sie in einem anderen aber ungleich stärker auf fürsorgende Relationen angewiesen ist.757 Sechstens bedeutet die Rede von einem relationalen Verhältnis von Autonomie und Fürsorge für den Umgang mit der Prekarität leiblicher Selbstbezüge in psychiatrischen Handlungskontexten, dass es grundsätzlich um prekäre Entscheidungen geht, bei denen die schwierige Balance zu finden ist zwischen einer Achtung der Ansprüche der Patienten und ihren Ausdrucksweisen praktischer Selbstbestimmung, der möglichen Gefahr für Selbst und Andere und einer deswegen möglicherweise notwendigen Intervention. Grundsätzlich gilt dabei, dass jede Patientin, jeder Patient als autonome Person zu achten ist, deren 755 

Vgl. hierzu ausführlich Kapitel 6.3. Unterscheidung von Fürsorge als grundlegende Alterität und von Fürsorge als konkrete Sorge für jemanden ist deswegen notwendig, weil es sich hier um unterschiedliche Ebenen der Fürsorge handelt. Das Verhältnis von Alterität und konkreter Sorge für jemanden wird dabei als komplementär zu dem Verhältnis von Autonomie und autonomer Selbstbestimmung gedacht. 757  Vgl. hierzu ausführlich Kapitel 7.2. 756  Die

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II. Teil: In prekären Verhältnissen

Ausdruck von Selbstbestimmung es genau wahrzunehmen und zu achten gilt. Kurzum: Trotz aller Schwierigkeiten, die der klinische Alltag mit sich bringen mag, ist jemand als Jemand zu behandeln und grundsätzlich davon auszugehen, dass es ein personales Wesen ist, was als Gegenüber fungiert. Diese Anforderung ist nur auf den ersten Blick trivial und schon gar nicht selbstverständlich. Ein kurzer Blick in die wenigen, aber doch eindrücklichen empirischen Studien zeigt, dass das Gefühl, nicht mehr als Person gehört, gesehen und behandelt zu werden, eine der Hauptschwierigkeiten psychiatrischer Kontexte darstellt.758 Die Entscheidung darüber, ob sich eine Person759 als eine Person wahrgenommen fühlt und weiß, hängt wesentlich davon ab, wie viel Raum ihren Bedürfnissen, Erlebnissen und Geschichten eingeräumt wird. Prekär daran ist, dass eine psychische Erkrankung in vielen Fällen bedingt, dass viel Zeit und Kreativität im Umgang mit den erkrankten Personen erforderlich ist. Umso mehr kommt es jedoch aufgrund der massiven Vulnerabilitätserfahrung, die in einer Missachtung dieser Bedürfnisse liegt, darauf an, die jeweilige subjektive Perspektive der Patienten zu ermitteln und zu verstehen. Ausgehend davon, dass Selbstbestimmung und Fürsorge als graduelle Begrifflichkeiten zu verstehen sind, ergibt sich die Notwendigkeit, kontextsensitiv abzuwägen, an welchen Stellen durch eine minimale fürsorgliche Intervention eine selbstbestimmte Entscheidung möglich wäre. Onora O’Neill ist hier zuzustimmen, dass die Modelle des klassischen Informed Consent eher in eine Sackgasse führen. Schließlich ist zu eruieren, ob und wenn ja in welchen Fällen eine fürsorgliche Intervention derart weit gehen kann, dass Zwang angewendet wird, um ein prekäres Selbstverhältnis zu ändern. In solchen Fällen wäre die Patientin oder der Patient in einem praktischen Selbstverhältnis – wie etwa einer Verschließung gewisser Lebensformen (etwa eine Patientin oder ein Patient, die oder der ohne Behandlung nicht weiter in ihrem oder seinem bisherigen familiären Umfeld bleiben könnte), einem Ausschluss aus sozialen Vollzügen oder aber einer mehr oder minder irreparablen körperlichen Schädigung –, das ohne fürsorgliche Intervention massiv geschädigt oder gar vernichtet werden würde. Für – oder eben prekärerweise mitunter gegen – ein solches Selbstverhältnis stellvertretend einzutreten, würde darauf zielen, die Möglichkeitsbedingungen autonomer Selbstbestimmung zu erhalten und damit für die Offenheit eines zukünftigen praktischen Selbstbezuges einzutreten. Die zu Beginn der Untersuchung aufgestellte These, dass ein in den Räumen einer responsiv fundierten intersubjektiven Anerkennung entstandener leiblicher Selbstbezug sich einerseits zwischen Vertrauen und Verdacht angesiedelt 758 

Vgl. hierzu ausführlich Kapitel 3.2. dieser Stelle sei auf Johannes Fischers Arbeiten zu der Bedeutung des Intuitiven, oft erst nachträglich rational Formulierbaren verwiesen. Vgl. Fischer (2010): Zur Relativierung der Menschenrechte in der juristischen Debatte. Siehe ebenso: Fischer (2002): Theologische Ethik. Grundwissen und Orientierung. 759  An

7. Konsequenzen und Herausforderungen

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vorfindet und andererseits darauf angewiesen bleibt, dass er bezeugt wird und sich selbst als Jemand erweist, der sein Wort hält, wird nun im Folgenden – im Sinne einer konkreten Ethik – daraufhin befragt, welche Konsequenzen sich aus den konzeptionellen Überlegungen für den Umgang mit Zwang in psychiatrischen Kontexten ergeben.

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III. Teil

Gestaltungslinien im Umgang mit Zwang 8. Psychische Devianz: Zwischen Kreativität und Pathologie 8.1 In den Fängen des Wahnsinns Der Wahnsinn, so war bereits in der ersten Problemannäherung deutlich geworden,1 hat viele Facetten: Er eröffnet und verschließt Welten, er zersetzt vor unseren Augen die Wirklichkeit, wie Merleau-Ponty es formulierte, 2 und schreibt der Wirklichkeit eine Quasi-Wirklichkeit ein. Was dabei unter dem Begriff des Wahnsinns verstanden werden kann, bezeichnet nicht eine besonders extreme Form psychischer Devianz, sondern markiert, dass eine sozial-kodierte Abweichung in Denk- und Verhaltensmustern vorliegt, unter denen ganz unterschiedliche Phänomene wie beispielsweise Unvernunft, Melancholie, Manie, Hysterie, aber auch Schizophrenie versammelt werden können. Zugleich lässt sich der Wahnsinn aber auch nur scheinbar ausgrenzen, zu diffizil sind seine Verzweigungen, zu schmal scheint die Grenze zwischen Pathologie und kreativer Genialität. Dennoch, so hat es Michel Foucault in seinen Studien gezeigt, versucht der moderne Mensch die Grenze zwischen Vernunft und Unvernunft, zwischen normaler und abnormaler Deliberation möglichst trennscharf zu halten. Diese Beobachtung illustriert Foucault folgendermaßen: „Auf der einen Seite gibt es den Vernunftmenschen, der den Arzt zum Wahnsinn delegiert und dadurch nur eine Beziehung vermittels der abstrakten Universalität der Krankheit zulässt. Auf der anderen Seite gibt es den wahnsinnigen Menschen, der mit dem anderen nur durch die Vermittlung einer ebenso abstrakten Vernunft kommuniziert, die Ordnung, physischer und moralischer Zwang, anonymer Druck der Gruppe und Konformitätsforderung ist.“3 Foucault spitzt weiter zu: „Es gibt keine gemeinsame Sprache, vielmehr es gibt sie nicht mehr. Die Konstituierung des Wahnsinns als Geisteskrankheit am Ende des achtzehnten Jahrhunderts trifft die Feststellung eines abgebrochenen Dialogs, gibt die Trennung als bereits vollzogen aus und lässt die unvollkommenen Worte ohne feste Syntax, 1 

Vgl. Kapitel 3.1. Vgl. Merleau-Pontys Überlegungen zum Phänomen der Halluzination: Merleau-Ponty (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung, 385–389. 3 Foucault (1973): Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, 8. 2 

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III. Teil: Gestaltungslinien im Umgang mit Zwang

die ein wenig an Gestammel erinnern und in denen sich der Austausch zwischen Wahnsinn und Vernunft vollzog, im Vergessen versinken.“4 Obwohl sich der vermeintlich Wahnsinnige und der vermeintlich Vernünftige in vielerlei Hinsicht voneinander unterscheiden mögen, vereint beide, so lässt sich anknüpfend an die Beobachtung Foucaults pointieren, dass es sich um leibliche Selbstbezüge handelt, die angesichts ihrer Vulnerabilität fundamental davon abhängig sind, als personale Wesen wahrgenommen zu werden, die in ihren individuellen Ansprüchen anerkannt werden wollen. Bei aller zugeschriebenen Verschiedenheit teilen beide ein und dieselbe Erfahrungswelt: Der Vernünftige macht als Vernünftiger Erfahrungen mit der Unvernunft, er gerät an den Rand des Wahnsinns und manchmal auch darüber hinaus. Ebenso erscheint der Wahnsinnige nicht ausschließlich als Wahnsinniger, sondern vermag vereinzelt oder gar weitestgehend vernünftig zu handeln. Ungeachtet einer solchen gemeinsamen Welt gehört es ebenso zur Geschichte des Wahnsinns, dass man ihm auf ganz unterschiedliche Art und Weise zu begegnen versuchte. Glaubte man lange Zeit, dem Wahnsinn nur beizukommen, wenn man das rechte medizinische Arsenal anwendet, änderte sich mit Beginn des 19. Jahrhunderts die Sichtweise auf den Wahnsinn.5 Das war nicht zuletzt aufgrund des ausbleibenden Erfolgs der Maßnahmen und des zunehmenden Bewusstseins, dass die Brutalität der konventionellen medizinischen Methoden nicht zu rechtfertigen sei, der Fall. Stattdessen setzte sich die Perspektive durch, dass medizinische Maßnahmen komplett ungeeignet seien, da bereits ein zuvorkommender und freundlicher Umgang, ein strukturierter Tagesablauf, eine gesunde und ausgewogene Ernährung sowie die Vermeidung von Exzessen ausreiche, um dem Großteil psychischer Störungen vorzubeugen und sie zu kurieren.6 Diese beiden Extreme im Umgang mit dem Wahnsinn, die strikte Medikalisierung einerseits und die versuchte Marginalisierung andererseits, können zugleich nicht darüber hinwegtäuschen, dass leibliche Selbstbezüge immer und bleibend von Spuren der Anomalität und Heteronormativität durchzogen sind. Im Umgang mit diesen eingeschriebenen Spannungen und Ambivalenzen in der leiblichen Verfasstheit eines Selbst in seinem Selbstbezug exponiert sich in den Debatten um das Wesen psychischer Krankheit der Versuch, psychische Krankheit entweder als eine rein soziale Konstruktion zu verstehen und damit gleichermaßen zu postulieren, dass psychische Krankheit derart von anderen, nicht psychischen Krankheiten zu unterscheiden ist, dass man gar nicht von einer Krankheit reden könne;7 oder 4 Foucault (1973): Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, 8. 5  Vgl. zur Übersicht auch: Schott & Tölle (2005): Geschichte der Psychiatrie: Krankheitslehren, Irrwege, Behandlungsformen. 6  Vgl. Kendell (2012): Das Wesen psychiatrischer Störungen, 266. 7  Vgl. exemplarisch: Szasz (2013): Geisteskrankheit – ein moderner Mythos: Grundlagen einer Theorie des persönlichen Verhaltens & Szasz (1974): Die Fabrikation des Wahnsinns.

8. Psychische Devianz: Zwischen Kreativität und Pathologie

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aber es wurde das Ziel verfolgt, die starke Analogie zwischen psychischer und nicht psychischer Krankheit zu extrapolieren, was dann aber wiederum dazu führte, dass der Wahnsinn im System der allgemeinen Krankheiten vermeintlich unsichtbar wurde.8 Der Streit zwischen dem sogenannten Normativismus und dem Naturalismus9 um das rechte Verständnis von Krankheit10 wird nicht zuletzt dadurch hybridisiert, dass bereits das grundsätzliche Verhältnis der Begrifflichkeiten von Gesundheit, Krankheit, Erkrankung und Störung ungeklärt und zuweilen diffus erscheint. Zu der jeweiligen Verhältnisbestimmung sowie den Herausforderungen der Begriffe durch die aktuellen Entwicklungen in der Medizin im Allgemeinen wie der Psychiatrie im Besonderen sind bereits zahlreiche Arbeiten veröffentlicht worden.11 Im Rahmen der weiteren Überlegungen ist daher Folgendes zu beachten: Geht man von den Überlegungen zu der leiblichen Verortung eines Selbstbezugs aus,12 dann muss erstens das Verhältnis von Gesundheit und Krankheit insofern als ein orthogonales bezeichnet werden, als Krankheit und Gesundheit weder einfach eigenständige noch strikt dichotom unterschiedene Bereiche konzipieren, sondern unterschiedliche Dimensionen eines leiblichen Selbstbezugs bezeichnen.13 Konkret bedeutet dies, dass eine Person, die im naturalen Sinne Bezogen auf das Beispiel der Depression weist Silke Esterl nach, wie die Zuschreibung einer bestimmten psychischen Störung immer auch eine Beschreibung der aktuellen Herausforderungen einer Gesellschaft ist. Vgl. Esterl (2015): Die Geschichte der Traurigkeit: Zum sozialen Wandel der Depression.  8  Vgl. zu einer Diskussion dieser beiden Pole der Debatte: Schramme (2012b): Die Eigenständigkeit des Krankheitsbegriffs in der Psychiatrie.  9  Vgl. hierzu paradigmatisch die Arbeiten von Christopher Boorse: Boorse (1975): On the Distinction Between Disease and Illness & Boorse (1977): Health as a Theoretical Concept. Explizit zum Konzept der psychischen Krankheit siehe: Boorse (1976): What a Theory of Mental Health Should Be. Die Debatte hat aktuell auch noch einmal Fahrt aufgenommen. Vgl. Bolton (2008): What is Mental Disorder? An essay in philosophy, science, and values, Kingma (2007): What is it to be healthy? & Boorse (2014): A Second Rebuttal On Health. 10  Siehe zur Übersicht: Schramme (2012a): Die Begriffe „Gesundheit“ und „Krankheit“ in der philosophischen Diskussion. 11 Vgl. exemplarisch: Boorse (2012): Gesundheit als theoretischer Begriff, Schramme (2012a): Die Begriffe „Gesundheit“ und „Krankheit“ in der philosophischen Diskussion, Schramme (2012b): Die Eigenständigkeit des Krankheitsbegriffs in der Psychiatrie, Wakefield (2012a): Der Begriff der psychischen Störung: An der Grenze zwischen biologischen Tatsachen und gesellschaftlichen Werten, Whitbeck (2012): Eine Theorie der Gesundheit, Hucklenbroich & Buyx (2013): Wissenschaftstheoretische Aspekte des Krankheitsbegriffs. Zum Überblick siehe auch: George & Klijn (2013): A modern name for schizophrenia (PSS) would diminish self-stigma, Gifford (2011): Philosophy of Medicine, Sadegh-Zadeh (2012): Handbook of Analytic Philosophy of Medicine. 12  Vgl. Kapitel 6.4. 13  Vgl. ausführlich zur begrifflichen und theoretischen Unterscheidung: Richter & Hurrelmann (2016): Soziologie von Gesundheit und Krankheit, Germov (2014): Second Opinion: An Introduction to Health Sociology, Franke (2012): Modelle von Gesundheit und Krankheit. Vgl. ebenso: Waldenfels (2000b): Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, 144–150.

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III. Teil: Gestaltungslinien im Umgang mit Zwang

krank sein kann oder eine Beeinträchtigung hat, sehr wohl zugleich gesund sein kann, wenn man darunter die Fähigkeit versteht, mit den vorhandenen physisch-psychischen Ressourcen gut leben zu können.14 Aus diesem Grund figuriert sich die Verhältnisbestimmung von Krankheit und Gesundheit nicht nur in Abhängigkeit von den jeweiligen individuellen, soziokulturellen und bio- wie medizintechnologischen Bedingungen,15 sondern ebenso als die Verhältnisbestimmung einer bestimmten Positionalität eines leiblichen Selbstbezugs.16 Zweitens beschreiben sowohl der Begriff der Krankheit als auch der Störung Zustände, die unter Zuhilfenahme einer bestimmten Kriteriologie Abweichungen diagnostizieren.17 Darin besteht der gemeinsame Nenner in der Rede von einer psychischen Krankheit und einer psychischen Störung. Sogleich drängt sich jedoch die Beobachtung auf, dass die medizinischen Kontexte eher ein gradualistisches Verständnis des Verhältnisses von Störung und Krankheit verfolgen. Entsprechend beruht die Abgrenzung zwischen den sogenannten Störungskategorien beispielsweise im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) auf einem gradualistischen Verständnis.18 In den juristischen Kontexten, insbesondere in den Debatten um die Anwendung von Zwang in psychiatrischen Kontexten, wird tendenziell nicht weiter unterschieden und summarisch der Begriff der psychischen Krankheit verwendet.19 Drittens erweist sich die im Englischen mögliche Unterscheidung zwischen einem Verständnis von Krankheit als disease, illness und sickness als sehr gewinnbringend. Unter dem Begriff disease versteht man eine Funktionsabwei14 

Vgl. hierzu auch ausführlich: Whitbeck (2012): Eine Theorie der Gesundheit. Vgl. Gerlinger (2016): Geschichte der Soziologie von Gesundheit und Krankheit. 16  Wenn der Leib als ein Ineinander von Motorik, Sensorik und Denken zu verstehen ist, dann impliziert die Rede von Krankheit und Gesundheit nicht alleine die Beschreibung einer körperlichen Funktionsweise, sondern verortet den Leib an einer bestimmten Position. Vgl. zur Bedeutung des Leibes auch Kapitel 6.4. 17  In den medizinethischen Debatten ist hier auch der Begriff der ‚disorder‘ geprägt worden. Vgl. dazu: Bolton & Banner (2012): Does mental disorder involve loss of personal autonomy? 18  Vgl. Kröber (2011): „Psychische Störung“ als Begründung für staatliche Eingriffe in Grundrechte des Individuums, 238 f. In der Beschreibung einer psychischen Störung hat man bis zur Version IV-TR des DSM versucht, eine sog. multiaxiale Diagnostik anzuwenden. Dabei unterschied sich die Zuordnung und Benennung der Achsen je nach zugrunde gelegter Klassifikation zum Teil ganz erheblich. Nach dem DSM IV-TR waren auf Achse I klinische Störungen wie beispielsweise Demenz, Schizophrenie sowie Angst- oder Essstörungen angeordnet, während auf Achse II geistige Behinderung sowie Persönlichkeitsstörungen wie etwa paranoides, schizoides oder antisoziales Verhalten lokalisiert waren. Darüber hinaus wurden auf Achse III die medizinischen Faktoren, die für das Verständnis einer psychischen Krankheit relevant sind, auf Achse IV die umgebungsbedingten Faktoren und auf Achse V das psychische und soziale Funktionsniveau angeordnet. Mit dem aktuellen DSM-V wurde die multiaxiale Klassifizierung aufgegeben und stattdessen wird nun von Störungskategorien gesprochen. Vgl. Ehret & Berking (2013): DSM-IV und DSM-5: Was hat sich tatsächlich verändert? 19  Vgl. Kapitel 9. 15 

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chung auf der Ebene des biologischen Organismus, während unter dem Terminus sickness die soziale Konfiguration von Krankheit und Gesundheit, sowohl hinsichtlich des Verständnisses darüber, was als eine Krankheit anerkannt wird, wie auch über die jeweils mit einem bestimmten Krankheitsbild einhergehende soziale Rolle, reflektiert wird. Des Weiteren expliziert die Beschreibung der Krankheit als illness die Art und Weise, wie sich eine Person zu einer Krankheit stellt bzw. wie sie diese erlebt. Bei einer Person kann also eine Störung einer körperlichen Funktion vorliegen, allerdings bleibt fraglich, wie die betroffene Person sich zur der funktionellen Störung verhält und inwiefern die vorliegende Störung soziale Konsequenzen für die betreffende Person haben wird. Zugleich lässt sich aber die Frage, was als eine funktionale Störung im Sinne von Krankheit als disease betrachtet wird, nicht von den Prozessen sozialer Anerkennung trennen. Das wird deutlich, wenn man sich anschaut, welche Phänomene und Handlungspräferenzen an eine Funktionsstörung gekoppelt worden sind, angefangen von bestimmten sexuellen Präferenzen bis hin zu vermeintlichen Persönlichkeitsstörungen bei Frauen, die auf die Gültigkeit gleicher Rechte pochen. Dennoch kann der Begriff der funktionalen Störung trotz aller seiner Schwierigkeiten 20 nicht einfach aufgegeben werden, da ein Krankheitsverständnis, welches nicht primär von einer biologischen Funktionsstörung her verstanden wird, immer vor dem Problem steht, dass seine Prämissen nur schwerlich kriterial überprüfbar sind. Bei aller berechtigten Kritik und der Notwendigkeit, die Einschlusskriterien immer wieder einer kritischen Prüfung zu unterziehen, 21 liegt die Stärke von Klassifizierungssystemen gerade darin, dass sie nicht nur überprüfbar sind, sondern ebenso einem deliberativen Prozess entstammen und damit zumindest in weiten Teilen der willkürlichen Krankheitszuschreibung trotzen. So ermöglichen ICD-10 sowie der bisherige Stand von ICD-1122 oder DSM-V mit Blick auf das Vorliegen einer Depression eine strikte Unterteilung in Hauptkriterien wie den Verlust von Interesse und Freude, eine depressive Stimmung oder einen verminderten Antrieb und die Unterteilung in Nebenkriterien wie beispielsweise Schlafstörungen, Gefühle von Schuld und Wertlosigkeit, ein vermindertes Selbstwertgefühl oder Suizidgedanken. Für die Diag20  Siehe zur Diskussion auch: Schramme (2010): Can we define mental disorder by using the criterion of mental dysfunction? 21  Vgl. Wakefield (2012b): DSM-5: Proposed changes to depressive disorders & Rosenberg (2013): Contested Boundaries: Psychiatry, Disease, and Diagnosis. 22  Die Weiterentwicklung der Klassifizierungsskala zeigt dabei an, dass die Klassifizierungssysteme selbst immer auch eine gesundheitspolitische Steuerungsfunktion haben. Die Zuschreibung einer Störung als Störung ist insofern immer das Ergebnis eines Diskurses darüber, was generell als pathologische Störung anerkannt werden kann und wo die Schwelle zwischen einer mitunter beeinträchtigenden, aber nicht pathologischen und einer pathologischen Störung verläuft. Innerhalb einer solchen Skala, bieten die einzelnen Kriterien dann aber durchaus eine solide und vor allem transparente Möglichkeit, Störungen und vor allem auch komplexere Störungscluster zu detektieren.

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III. Teil: Gestaltungslinien im Umgang mit Zwang

nose einer psychischen Krankheit ist dann eine bestimmte Kombinatorik der Symptome über einen Zeitraum hinweg erforderlich.23 Daraus folgt, dass nicht jede Abweichung von einer Norm und damit nicht jede funktionale Störung bereits als pathologisch betrachtet werden kann. Während eine Verbrennung ersten Grades beim Organ Haut insofern keine Krankheit darstellt, als die Haut auch weiter ihre Schutzfunktion zumindest größtenteils erfüllt, wäre dies bei einer Verbrennung dritten Grades nur noch sehr eingeschränkt der Fall.24 Analog liegt nach den erwähnten Klassifizierungssystemen im psychischen System dann eine Störung vor, wenn entweder eine Störung der substanziellen psychischen Funktionen wie der Orientierung in Raum, Ort oder Zeit diagnostiziert wird25 oder aber für einen leiblichen Selbstbezug wesentliche Funktionen wie eine Unterscheidung von Selbst und Umwelt, eine emotionale Affizierbarkeit oder eine grundsätzliche Fähigkeit zur Empathie gestört sind. Die Widerfahrnis eines fremden Gedankens im Eigenen, die Erfahrung, dass trotz bester Einprägung die Merkfähigkeit einen im Stich lässt, das Gefühl, sich morgens im Spiegel nicht mehr zu erkennen oder aber die intensive Trauer angesichts des Verlusts eines geliebten Menschen, all das können Beeinträchtigungen der Funktionalität des psychischen Systems einer Person sein. Eine krankhafte Störung im Sinne einer disease würde aber erst dann vorliegen, wenn die Merkfähigkeit so massiv beeinträchtigt oder aber das Moment der Verkennung beim Blick in den Spiegel so groß wird, dass eine Orientierung in Raum und Zeit – als eine der wesentlichen Funktionen des psychischen Systems – nicht mehr möglich erscheint. Diese Differenzierungen zwischen einer Beeinträchtigung und einer Erkrankung sind auch deswegen von großer Bedeutung, weil sonst leibliche Phänomene der Divergenz, der Andersartigkeit, der Unabschließbarkeit und der Verkennung vorschnell pathologisiert werden. Eine solche vorschnelle Pathologisierung kann jedoch aus zwei Gründen als problematisch gelten: Einerseits werden so Phänomene der Vulnerabilität, 26 also der grundlegenden Angewiesenheit menschlicher Vollzüge, prinzipiell unter einen Krankheitsverdacht gestellt. 27 Andererseits erschweren solche vorschnellen Pathologisierungen des Anormalen die Identifikation wirklicher Pathologien. 28 In Anknüpfung an diese Beobachtungen hat Jerome Wakefield in seinen Arbeiten herausgestellt,

23 

Vgl. Berger (2014): Psychische Erkrankungen: Klinik und Therapie. Siehe hierzu auch: Heinz (2014): Der Begriff der psychischen Krankheit, 338 f. 25  Als Elementarfunktionen gelten: 1. Bewusstsein, 2. Aufmerksamkeit und Gedächtnis, 3. Orientierung, 4. Wahrnehmung, 5. Denken, 6. Affektivität, 7. Antrieb, 8. Ich-Erleben, 9. Intelligenz. Vgl. Arolt, et al. (2011): Basiswissen Psychiatrie und Psychotherapie. 26  Vgl. Kapitel 5.3. 27 Vgl. hierzu ausführlich: Horwitz & Wakefield (2007): The Loss of Sadness: How ­Psychiatry Transformed Normal Sorrow Into Depressive Disorder. 28  Vgl. hierzu ausführlich: Horwitz & Wakefield (2012): All We Have to Fear: Psychiatry’s Transformation of Natural Anxieties Into Mental Disorders. 24 

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dass zu der Bestimmung einer organismischen funktionalen Störung29 noch ein weiteres Element hinzutreten muss: Die funktionale Störung muss für die betroffene Person einen Schaden hervorrufen. So schlägt Wakefield vor: „Eine Störung liegt vor, wenn die internen Mechanismen einer Person ihre von der Natur vorgegebenen Funktionen nicht mehr erfüllen, so dass dies für das Wohlergehen der betreffenden Person auf eine Weise schädlich ist, die über gesellschaftliche Werte und Bedeutungen definiert wird.“30 Zugleich will Wakefield mit Blick auf die Phänomene psychischer Störungen jedoch nur dann von einer Krankheit sprechen, wenn es sich bei dem Schaden um ein gesellschaftlich als negativ bewertetes Phänomen handelt. Die offene Frage ist dann allerdings, ob es überhaupt anders zu einer Bewertung einer Störung als schadhaft kommen kann als dadurch, dass ein bestimmter leiblicher Selbstbezug in konkreten aktuellen oder absehbar prospektiven Situationen eine Dysfunktion als Schaden erlebt. Das heißt dann aber auch, dass in den Anerkennungskämpfen darum, was als Beeinträchtigung anzuerkennen ist, die individuelle Erfahrung einer Beeinträchtigung beständig die bestehenden sozialen Anerkennungskonstrukte einer Krankheit als Krankheit infrage stellt, diese so dynamisiert und mitunter transformiert. Für die Bestimmung psychischer Devianz als Krankheit bedeutet dies, dass zum Vorliegen einer funktionalen Störung organismischer Prozesse ein empfundener Schaden hinzutreten muss, der sich sowohl als empfundener subjektiver Leidenszustand als auch als schwere Beeinträchtigung sozialer Teilhabe zeigen kann.31 Folglich gilt für die Rede von Krankheit als illness, dass das Vorliegen eines subjektiven Krankheitsgefühls einen durchaus deutlichen, wenn auch allein nicht hinreichenden Hinweis darauf impliziert, dass wohl eine Störung vorliegt.32 So empfindet eine Person ebenso eine – mitunter auch stark körperliche – Beeinträchtigung, wenn sie den Tod eines Angehörigen betrauert oder eine soziale Herabsetzung als Demütigung empfindet – Phänomene, ohne die ein leiblicher Selbstbezug nicht nur von Beginn an pathologisiert, sondern gar nicht erst möglich wäre. Insofern kann die empfundene Schwere einer Beeinträchtigung nur dann als Ausdruck einer psychischen Erkrankung gelten, wenn zugleich ein Nachweis der Störung einer wesentlichen Organfunktion erbracht 29  Vgl. Wakefield & Horwitz (2008): Noonday demons and midnight sorrows: Biology and meaning in disordered and normal sadness, Wakefield (2010): Taking disorder seriously: A critique of psychiatric criteria for mental disorders from the harmful-dysfunction perspective. 30  Vgl. Wakefield (2012a): Der Begriff der psychischen Störung: An der Grenze zwischen biologischen Tatsachen und gesellschaftlichen Werten, 239. 31  Damit soll explizit auch eingeschlossen sein, dass illness und sickness sich in einer psychischen Dysfunktionalität untereinander auch wiederum orthogonal verhalten. Bei Vorliegen einer funktionalen organismischen Störung kann diese nicht als illness oder sickness verstanden werden. So bei: Heinz (2014): Der Begriff der psychischen Krankheit. Es kommt vielmehr zu wechselseitigen Verschränkungen. 32  Vgl. auch: Heinz (2014): Der Begriff der psychischen Krankheit.

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III. Teil: Gestaltungslinien im Umgang mit Zwang

werden kann. Im Umkehrschluss darf daraus keineswegs gefolgert werden, dass einer Person, die eine Beeinträchtigung empfindet, ohne dass eine funktionale Störung nachgewiesen werden kann, nicht geholfen werde sollte. Allerdings muss zugleich sehr genau geprüft werden, worin der jeweilige Grund für das entsprechende Leiden besteht. Kurzum: Wenn beispielsweise eine Person nach dem Tod ihres Partners über eine längere Zeit hinweg etwa Symptomatiken von Antriebslosigkeit, Traurigkeit oder Schlaflosigkeit aufweist, kann es sicher angemessen sein, zu prüfen, ob eine behandlungsbedürftige Depression vorliegt. Fraglich erscheint zugleich, welche individuellen, sozialen aber auch anthropologischen Folgen und Konsequenzen sich ergeben, wenn Trauer bereits dann als eine klinisch zu behandelnde Störung klassifiziert wird, wie es beispielsweise in DSM-5 und ICD-10 erfolgt, weil eine länger als zwei Wochen andauernde Phase mit tiefer Traurigkeit sowie Ess- und Schlafstörungen als behandlungsnotwendig diagnostiziert wurde.33 Gerade weil Erfahrungen psychischer Devianz sich als dermaßen tiefgreifend mit leiblichen Selbstbezügen verwoben zeigen, könnte eine weiter zu diskutierende Möglichkeit darin bestehen, nicht nur im Rahmen der Palliativmedizin, sondern gerade auch in psychiatrischen Behandlungskontexten über eine engere Verzahnung von clinical und spiritual care nachzudenken.34 Für die eingangs aufgeworfene Frage nach der Legitimierbarkeit der Anwendung von Zwang ist aber nun entscheidend, ob auch dann von einer psychischen Krankheit gesprochen werden kann, wenn eine betroffene Person eine vorliegende funktionale Störung nicht als subjektives Leid empfindet. Denkbar wäre etwa der Fall, dass eine Person angibt, Stimmen zu hören, und zugleich eine funktionale Störung, ganz gleich ob ein Vitaminmangel, eine Darmerkrankung oder eine neurologische Erkrankung, vorliegt. Die Person empfindet diese Stimmen aber nun nicht als bedrohlich, sondern als weise Ratgeber oder versteht diese als eine religiöse Erfahrung. In diesem Fall wäre es ein Trugschluss, zu meinen, dass sich die Risse in den leiblichen Selbstvollzügen erst dann ausdehnen, wenn die Stimmen als quälend oder gar bedrohlich erlebt werden oder aber zu gefährdenden Handlungen gegenüber Dritten verleiten. Zugleich droht die Inskribierung einer anderen Wirklichkeit für das Selbst dann bedrohlich zu werden, wenn die Person sich zwar durch die Stimmen nicht beeinträchtigt fühlt, sich jedoch durch die Art und Weise ihres Antwortens auf die Stimmen 33  Vgl. zur Debatte: The Lancet (2012): Living with grief & Jakoby (2014): Die Zeit heilt alle Wunden? Erinnern und Vergessen im Kontext soziologischer Trauerforschung. 34 Pearce, et al. (2011): Unmet spiritual care needs impact emotional and spiritual wellbeing in advanced cancer patients & Zollfrank, et al. (2015): Teaching Health Care Providers To Provide Spiritual Care: A Pilot Study. Spiritual Care ist dabei in einem umgreifenden Sinne zu verstehen und meint vorrangig das Bestreben, eine Person zunächst einmal in ihrer jeweiligen Situation zu verstehen und sich ein möglichst umfassendes Bild von der Situation zu machen.

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selbst komplett aus ihrem sozialen Raum exkludiert und damit auch nicht mehr in der Lage ist, ihre Ansprüche zu Gehör zu bringen. Die aus der Perspektive eines Selbstbezugs durch das Hören der Stimmen andere Wirklichkeit kann sich insofern als dermaßen inkompatibel erweisen, dass sie de facto zu einer Zersetzung der Wirklichkeit führt. Mit Recht könnte man einwenden, dass eine Abkehr von gewissen sozialen Erwartungen und der Rückzug aus den Vollzügen intersubjektiver Anerkennung ja auch gerade Ausdruck eines praktischen Selbstbezugs sein kann, gleichwie ein sozialer Rückzug sogar eine wichtige kritische Funktion gegenüber etablierten Anerkennungsmustern einnehmen kann. Gleichermaßen unstrittiger- wie prekärerweise kann dies als ein praktischer Freiheitsvollzug zugestanden werden, solange sich eine Person aus freien Stücken dazu entschließt, sich aus Räumen der Sozialität zu exkludieren. Aber wie sieht dies aus, wenn eine Person an einer psychischen Dysfunktion leidet? Diese Frage wird – bislang vorrangig in den rechtlichen – Debatten um die Legitimität der Anwendung von Zwang unter dem Begriff einer sogenannten Freiheit zur Krankheit diskutiert.

8.2 Die Freiheit zur Krankheit Am 13. Mai 1996 begab sich Herr K. in die HNO-Ambulanz des Universitätsklinikums Magdeburg, wohin er von der ihn behandelnden Fachärztin überwiesen worden war. Am gleichen Tag wurde Herr K. zwangsweise in eine geschlossene Einrichtung überwiesen, da er die Vorstellung äußerte, dass ihm 1964 ‚Wanzen‘ in beide Ohren eingepflanzt worden seien, deren Entfernung er im Klinikum begehrte. Da Herr K. erklärt hatte, er wolle mit dem Arzt, der ihm die Abhörwanzen implantiert haben sollte, ‚abrechnen‘, sahen die behandelnden Ärzte eine akute Fremdgefährdung gegeben. Herr K. gab später an, er sei 28 Stunden in voller Straßenkleidung und ohne Nahrungsaufnahme an ein Bett gefesselt gewesen. Nachdem am folgenden Tag eine Begutachtung durch den Richter sowie eine Untersuchung durch den behandelnden Arzt erfolgt war – in der dieser von einer dringenden Behandlungsnotwendigkeit ausging, eine Eigengefährdung allerdings ausschloss und eine akute Fremdgefährdung zu dieser Zeit nicht feststellen konnte –, wurde die Einsetzung eines Betreuers veranlasst, da Herr K. als nicht krankheitseinsichtig eingeschätzt wurde. Auf Antrag des Betreuers genehmigte das Amtsgericht die vorläufige Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung. Die sofortige Beschwerde des Herrn K. wurde mit der Begründung abgelehnt, dass eine Fremdgefährdung nicht ausgeschlossen werden könne. Zudem drohe bei Nichtbehandlung eine Verschlimmerung des Wahns und durch die Gabe von Medikamenten sei eine Besserung des Gesundheitszustandes zu erwarten. Am 13. Juni 1996 wurde Herr K. in eine psychiatrische Klinik in Wohnortnähe verlegt. Eine Verlängerung der Unterbringung wurde nicht für notwendig erachtet, sodass er eine Woche später entlassen wer-

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den konnte. Die vorläufige Betreuung endete mit Fristablauf am 14. November 1996 und eine weitere Betreuung wurde nicht angeordnet. Die Klage von Herrn K. gegen die zwangsweise Unterbringung wurde später von dem Amts- und Landgericht Magdeburg und dem Oberlandesgericht Naumburg abgelehnt, da keine formelle oder materielle Verletzung des Rechts vorgelegen habe.35 In ähnlicher Weise, aber mit verschobener Zuspitzung, ist der Fall von Herrn F. gelagert. Im Jahre 1986 wurde bei Herrn F. erstmals eine Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis festgestellt, deren Verlauf in den folgenden Jahren chronisch wurde. Nach mehreren, teilweise freiwilligen, stationären Behandlungen in einer psychiatrischen Klinik wurde drei Jahre später eine Betreuung für die Bestimmung des Aufenthalts eingerichtet. In den folgenden Jahren wurden in mindestens 24 Fällen Genehmigungen für die geschlossene Unterbringung von Herrn F. zur stationären psychiatrischen Behandlung erteilt, die teilweise mehrere Wochen oder Monate andauerte, wobei der Betroffene auch auf öffentlich-rechtlicher Grundlage36 untergebracht wurde. Herr F. lehnte die von den Fachärzten für erforderlich gehaltene Dauermedikation mit Neuroleptika ab, wodurch es zu regelmäßigen Schüben der psychischen Erkrankung kam, was eine stetige Verschlechterung seines Zustandes sowie der Prognose zur Folge hatte. Bei jedem Schub war eine geschlossene Unterbringung erforderlich. Anfang 1999 erteilte das Vormundschaftsgericht die Genehmigung, Herrn F. im Abstand von zwei Wochen für die Verabreichung einer Depotspritze kurzfristig geschlossen unterzubringen, wobei die Zuführung zur Klinik polizeilich erfolgte. Im Zuge der notwendigen erneuten Unterbringung beantragte der eingesetzte Betreuer eine Verlängerung der Betreuungsfrist um ein weiteres Jahr, was durch das Amtsgericht Bielefeld genehmigt wurde. Gegen diesen Beschluss legte Herr F. Beschwerde ein, mit der Begründung, dass es ihm ‚lieber sei‘, „für längere Zeit geschlossen untergebracht zu werden, wenn aufgrund der unterbliebenen Medikation ein Krankheitsschub mit Selbstgefährdung auftritt, als die Beeinträchtigungen durch die Medikamente hinzunehmen.“37 Das Bundesverfassungsgericht gab der Beschwerde des Klägers im Fall Herr K. recht und hob die vorangegangenen Urteilssprüche mit der Begründung auf, dass der Kläger in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 GG verletzt worden sei. Anstoß nahmen die Richter vor allem an den Ausführungen der Ärzte des Klinikums Magdeburg, dass sich bei einer Nichtbehandlung das „Wahnsystem des Betroffenen“38 zu verfestigen drohe. Eine solche Einschätzung alleine rechtfertige noch nicht die Annahme, dass es sich um eine unmittelbar bevorstehende 35 

Vgl. Bundesverfassungsgericht (1998): Beschluss vom 23. März 1998 – 2 BvR 2270/96. sind drei Unterbringungsformen zu unterscheiden: die betreuungsrechtliche, die zivilrechtliche und die strafrechtliche Unterbringung. Vgl. hierzu ausführlich Kapitel 9.1. Zur schnellen Übersicht siehe Kapitel 3.1. 37  Vgl. Bundesgerichtshof (2000): Beschluss vom 11. Oktober 2000 – XII ZB 69/00. 38  Vgl. Bundesverfassungsgericht (1998): Beschluss vom 23. März 1998 – 2 BvR 2270/96. 36  Es

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Gefahr handele. Zwar bestätigte das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit einer Unterbringung gegen den Willen des Betroffenen, wenn das Moment der Selbst- oder Fremdgefährdung vorliegt, zugleich muss bei einem solch drastischen Eingriff in die Freiheitsrechte der Person die Voraussetzung der Unterbringung besonders sorgfältig geprüft werden, was die Richter in diesem Fall als nicht gegeben ansahen.39 In den weiteren Ausführungen machte das Gericht deutlich, dass auch dem „psychisch Kranken die ‚Freiheit zur Krankheit‘ belassen bleibt.“40 Auch im Fall Herr F. wurde der Beschwerde stattgegeben. Ebenso wie im Fall Herr K. sahen die Richter das Moment der Selbst- bzw. Fremdgefährdung nicht als unmittelbar gegeben an und argumentierten, dass eine ambulante Zwangsbehandlung, die alleine dem Zwecke der Behandlung dient, nicht zulässig sei.41 Das Gericht betonte ausdrücklich, „dass das Recht auf persönliche Freiheit auch dem psychisch Kranken in gewissen Grenzen die Freiheit zur Krankheit einräumt“42, die unter dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit respektiert werden muss.43 Auch in einem aktuellen Beschluss verweist der Bundesgerichtshof in seinen Ausführungen zu der Zulässigkeit von Zwangsbehandlungen ausdrücklich auf die ‚Freiheit zur Krankheit‘, die auch im Kontext psychischer Erkrankung „so weit es geht, erhalten werden muss.“44 Die „Freiheit zur Krankheit“ wird als ein Teil der Selbstbestimmung und vor allem als ein durch Art. 2 GG geschützter Bereich der Freiheit verstanden. Der Kranke hat das Recht, eine Entscheidung zu treffen, die, „in der Tat dazu führen [kann], dass ein Betroffener aufgrund des Unterbleibens einer von ihm verweigerten medizinischen Maßnahme einen erneuten Krankheitsschub erleidet und dann möglicherweise für längere Zeit untergebracht werden muss oder dass er in sonstiger Weise erheblichen Schaden nimmt.“45 Betrachtet man die beiden Fälle und die Urteilssprüche, dann lässt sich zu einer Freiheit zur Krankheit Folgendes festhalten: Die Bedeutung einer Freiheit zur Krankheit kann primär darin liegen, auf das Abwehrrecht einer Patientin oder eines Patienten auch dann zu verweisen, wenn der Eingriff vorgibt, sich an dem Wohl der betreffenden Person zu orientieren. Außerdem kann die Rede von der Freiheit zur Krankheit aber auch so verstanden werden, dass einer Person das grundlegende Recht zugesprochen werden soll, Krankheit und vor al39 

Vgl. Bundesverfassungsgericht (1998): Beschluss vom 23. März 1998 – 2 BvR 2270/96. Vgl. Bundesverfassungsgericht (1998): Beschluss vom 23. März 1998 – 2 BvR 2270/96. 41  Der Fall Herr F. war dann in einem ähnlichen Fall auch noch einmal im Jahre 2006 Gegenstand der Betrachtung, in der ebenfalls die Illegitimität einer ambulanten Zwangsbehandlung betont wurde. Vgl. Bundesgerichtshof (2006): Beschluss vom 01. Februar 2006 – XII ZB 236/05. 42  Vgl. Bundesgerichtshof (2000): Beschluss vom 11. Oktober 2000 – XII ZB 69/00, 13. 43  Vgl. Bundesgerichtshof (2008a): Beschluss vom 23.Januar 2008 – XII ZB 185/07, 18 f. 44  Vgl. Bundesgerichtshof (2008a): Beschluss vom 23.Januar 2008 – XII ZB 185/07, 16. 45  Vgl. Bundesgerichtshof (2008a): Beschluss vom 23.Januar 2008 – XII ZB 185/07, 16. 40 

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lem den Umgang mit dieser gewissermaßen selbst zu gestalten.46 Gerade in dieser Ambivalenz der Freiheit spiegelt sich die Prekarität leiblicher Selbstbezüge. Sie müssen sich nicht nur selbst als ein Selbst bezeugen,47 sondern sie bleiben ebenso abhängig davon, ob ihre Ansprüche auf Achtung Gehör finden,48 ein Selbst also wiederum als ein bestimmter Selbstbezug bezeugt wird. Der praktische Selbstbezug eines Selbst erweist sich im psychiatrischen Kontext in mehrfacher Hinsicht als besonders gefährdet. Erstens legen die Ergebnisse empirischer Untersuchungen nahe, dass es aus Sicht der betroffenen Patienten ernstzunehmende Defizite in der Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten zu geben scheint.49 Die Wirkmächtigkeit und Reichweite dieses Problems zeigt sich auch daran, dass sich in den Debatten um die prinzipielle Beteiligung von Patienten und Patientinnen in der Psychiatrie immer noch latent die Vorstellung hält, dass die betroffene Person aufgrund einer möglichen Dysfunktion in den psychischen Funktionen prima facie nur eingeschränkt oder gar nicht selbstbestimmt Entscheidungen treffen könne.50 Dass eine psychische Krankheit die Fähigkeit zu einer autonomen Selbstbestimmung durchaus massiv einschränken kann, bedeutet jedoch nicht, dass eine potenzielle Zustimmung zu einer Behandlung unmöglich ist. Mit anderen Worten: Auch wenn aus medizinischer Sicht eindeutig zu sein scheint, dass der Patient sich höchstwahrscheinlich nicht als zu einer belastbaren Einwilligung fähig zeigen wird, verweist die Freiheit zur Krankheit darauf, dass nicht auf seine Aufklärung verzichtet werden darf und vielmehr gerade die Befähigung zu einer selbstbestimmten Entscheidung das Ziel sein muss.51 46  Siehe hierzu auch: BVerfG, Urteil vom 23.03.1998. Wobei sich die Art der Gestaltung stark unterscheidet und von einem Annehmen bis zu einem Wunsch nach Krankheit reichen kann. 47  Vgl. Kapitel 6.6. 48  Vgl. Kapitel 6.5. 49  Die Studie von Längle & Bayer zeigt, dass sich nur 38 Prozent der Befragten umfassend informiert fühlten. Rechnet man diejenigen, die sich gar nicht bis nicht ausreichend informiert fühlten, hinzu, dann ergibt dieses zusammen ca. 55 Prozent der Befragten, die sich nicht adäquat informiert fühlten. Vgl. Längle & Bayer (2007): Psychiatrische Zwangsbehandlung und die Sichtweise der Patienten, 206. Zu einer ähnlichen Aussage kommt Vollmann, der zeigte, dass auf die Frage, wie Patienten das Interesse des Arztes an einer Aufklärung einschätzen, 28 Prozent dies nicht einschätzen konnten. 27 Prozent gaben an, dass dem Arzt die Aufklärung unwichtig oder gar sehr unwichtig war. Vgl. Vollmann (2008): Patientenselbstbestimmung und Selbstbestimmungsfähigkeit, 99. 50  Vgl. Bormuth (2004): Ethik in der Psychiatrie und Psychotherapie, 1667 & Helmchen (2004): Ethische Fragen in der Psychiatrie, 333. 51  Der Begriff der Befähigung wird hier primär als Ermöglichung verstanden. Die Auseinandersetzung mit den Arbeiten Jean-Luc Nancys (Kapitel 6.1) und Burkhard Liebschs (Kapitel 6.5) hat gezeigt, dass eine solche Befähigung immer Elemente der Verkennung, der Unabschließbarkeit und auch der Machtasymmetrie, wie bei Judith Butler am Begriff der Subjektivation deutlich geworden war (Kapitel 5.3), einschreibt. Insofern offeriert jede Aufklärung nicht nur neue Möglichkeiten, sondern schließt durch die Art und Weise ihrer

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Zweitens verweist die Freiheit zur Krankheit darauf, dass auch eine medizinisch indizierte, rechtlich legitimierte und sich am Wohl des Patienten orientierende Behandlung als unrechtmäßige Gewalt empfunden werden kann. So wird deutlich, dass Rechtmäßigkeit allein noch keine hinreichende Garantie für die Anerkennung der jeweiligen Achtungsansprüche leiblicher Selbstbezüge generieren kann, sondern vielmehr zuallererst den Rahmen festlegt, in dem nach der verantwortlichen Gestaltung des Verhältnisses von autonomer Selbstbestimmung und stellvertretender Fürsorge gefragt werden muss. Drittens zeigt sich in der Rede von einer Freiheit zur Krankheit die Dringlichkeit der Kopplung der Krankheitsdimensionen disease, illness und sickness. Die Frage, ob eine pathologische Dysfunktion des psychischen Systems vorliegt, bleibt einerseits davon abhängig, wie in den sozialen Diskursen der Anerkennung die Grenze zwischen dem Wahnsinn als pathologischer Störung und als Räume der Kreativität ermöglichenden psychischen Devianz bestimmt wird. Andererseits bietet die Entscheidung darüber, wo eine Störung in Klassifizierungssysteme einsortiert wird, unterschiedliche Bewertungsund Gestaltungsspielräume. Daher stellt das Vorliegen einer Krankheit als disease zunächst einmal ein kriterial codiertes Abweichen von einer kulturell und sozial bedingten Norm dar, die einer individuellen wie sozialen Deutung unterliegt: Ein Mensch kann einer Krankheit einen Sinn zuschreiben, er kann sie bekämpfen wollen, ebenso wie er die Freiheit hat, auf eine Art und Weise zu leben, dass er der psychischen Krankheit für sich keinerlei Bedeutung zumessen möchte. In einem solchen Sinne wäre aus ethischer Sicht eine positive Interpretationsrichtung einer Freiheit zur Krankheit gewonnen. Sie weist darauf hin, dass es sich bei einer funktionalen Störung zunächst um eine gleichermaßen deutungsbedürftige wie deutungsoffene Störung handelt. Die Rede von der Freiheit zur Krankheit, konkreter: einer Freiheit zur psychischen Krankheit, kann dann als Plädoyer dafür verstanden werden, dass die autonome Selbstbestimmung nicht mit dem Eintreten einer psychischen Erkrankung endet. Sie postuliert einen Schutz gegen eine zirkuläre Argumentation, etwa derart, dass bereits die Verweigerung einer Behandlung auf eine mangelnde Einwilligungsfähigkeit hinweisen könnte. Demgegenüber kann aus rechtlicher und – wie im Folgenden eruiert wird – auch zum Teil aus ethischer Perspektive betont werden: Wenn Herr F. entsprechend anführt, nicht weiter behandelt werden zu wollen, und das Voranschreiten seiner Krankheit mit all seinen Konsequenzen akzeptiert, hat er einen Anspruch auf die Achtung seiner Verweigerung einer Behandlung. Zugleich ist jedoch viertens zu betonen, dass eine solche Achtung der individuellen Deutung einer funktionalen Störung im Falle einer psychischen ErDurchführung zugleich andere aus. Vgl. auch: Rogers & Pilgrim (2014): A Sociology Of Mental Health And Illness, 124–145.

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krankung sowohl aus rechtlicher als auch ethischer Perspektive ein prekäres Unterfangen darstellt. Die individuelle Deutung erweist sich in dem Sinne als prekär, als die Deutung einer funktionalen Störung, zum Beispiel nur noch mit seinen inneren Stimmen zu reden und alle sozialen Kontakte abzubrechen, für den jeweiligen Selbstbezug massive Konsequenzen sowohl hinsichtlich der einer Person offenstehenden Zukünfte als auch für die Abhängigkeiten, in die er sich begibt, mit sich bringt. Was sich in einer solchen Prekarität der individuellen Deutung anzeigt, stellt zugleich kein exzeptionelles Problem dar, sondern verweist vielmehr auf die grundlegende Vulnerabilität menschlicher Vollzüge und menschlicher Lebensformen. Insofern fungieren die Phänomene psychischer Devianz gewissermaßen als Brennlinse der fundamentalen Prekarität leiblicher Selbstbezüge: Die Widerfahrnis psychischer Devianz spiegelt genau die Brüche, die Ambivalenzen und die Spuren der Unabschließbarkeit, die Selbstbezüge als leibliche Selbstbezüge durchziehen.52 Wenn der Boden, auf dem ein Selbst in seiner Selbstbezüglichkeit steht, durch eine Störung der psychischen Funktionen noch fragiler zu werden scheint, liegt die Versuchung – für die betroffene Person, ebenso aber für das umgebende Umfeld – nahe, durch einen möglichst rigorosen Umgang mit Phänomenen des Wahnsinns möglichst rasch wieder einen sichereren Stand zu gewinnen. Angesichts dieser Beobachtungen drängt sich zunächst die Möglichkeit auf, die individuelle Deutungsnotwendigkeit einer Störung als Anlass zu nehmen, die betroffene Person dann auch als eigenverantwortlich für ihre jeweilige Gesundheitsentscheidung zu betrachten. Ein solches Zurückstellen von Fürsorge gestaltet sich nur dann als rechtlich und ethisch unbedenklich, solange sichergestellt werden kann, dass eine bewusste und eigenverantwortliche Entscheidung zur Behandlungsmodifikation oder gar zum Behandlungsverzicht getroffen wurde. Es wäre allerdings im Kontext psychischer Erkrankungen ein Pyrrhussieg, wenn die einer Person zugestandene Freiheit zur Krankheit zu einer Unterlassungshandlung seitens der Richter, Betreuer und Ärzte führte. Dazu käme es, wenn nicht sorgsam beobachtet würde, inwiefern einer Person durch die jeweilige psychische Krankheit eine Abwägung der Konsequenzen einer Entscheidung unmöglich geworden ist und der Zuspruch einer Freiheit zur Krankheit selbst in die Widerfahrnis von Grausamkeit umschlägt.53 Im Umgang mit Phänomenen psychischer Devianz muss dementsprechend zunächst sehr sorgsam eruiert werden, wie in solchen Situationen eine möglichst lang anhaltende aktive Rolle des Patienten – mit unterschiedlichen graduellen Abstufungen –54 in der Entscheidungsfindung ermöglicht werden kann. 52 

Vgl. Kapitel 6.4. Vgl. hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 5.3 & und Kapitel 6.5. 54  Vgl. Elwyn, et al. (2014): Collaborative deliberation: A model for patient care. Siehe auch: Kapitel 7.3. 53 

8. Psychische Devianz: Zwischen Kreativität und Pathologie

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Eine Behandlung gegen den Willen des Patienten – und damit in seine Freiheit und das gesetzte Verhältnis des vertretenen Selbst zu seinem Körper eingreifend – ist in dreifacher Hinsicht riskant: Erstens stellt jede Anwendung von Gewalt gegen Personen an sich ein schuldhaftes Verhalten dar. Dies gilt zweitens auch dann, wenn die Anwendung von Zwang intendiert, dem Wohl der betroffenen Person zu dienen, und drittens ebenso, wenn die Anwendung von Gewalt von der betroffenen Person zu einem späteren Zeitpunkt als gerechtfertigt gewürdigt wird.55 Ein solches stellvertretendes Handeln56 des Arztes versucht ernst zu nehmen, dass Selbstbestimmung nicht zwangsläufig mit der Erkrankung an einem psychischen Leiden eingeschränkt oder nicht mehr vorhanden sein muss. Daher besteht eine Person bei der Übernahme von Stellvertretung darauf, den Menschen als autonom und selbstbestimmt zu betrachten,57 auch wenn dieser von der Norm abweicht, und sieht zugleich die Gefahr, dass sich ein leibliches Selbst verlieren und nicht (mehr) über sich selbst verfügen kann – dennoch hoffend58, dass sich das Selbst in seinem Selbstbezug wieder finden und sich selber wieder verwirklichen kann. Verantwortlich zu handeln bedeutet, dafür einzutreten, dass die Grundvoraussetzung der Selbstbestimmung erhalten bleibt, und steht sogleich dauernd in Gefahr, die Möglichkeit eines autonomen Selbstbezugs zu erschweren oder gar zu verunmöglichen. Die Übernahme einer Stellvertretung, je nach Art der Unterbringung vonseiten des Richters, Betreuers oder des Arztes, kann immer nur ein Vertreten, ein Eintreten ,durch den Anderen für den Anderen‘ und nicht ein grundlegendes Ersetzen sein.59 Tritt ein Arzt stellvertretend in einer Entscheidung an die Stelle eines Patienten, so kann er dieses nur temporär tun, d.h.: Sein Handeln muss auf einen spezifischen Kontext, eine bestimmte Situation begrenzt sein. Das Ziel ist daher klar umrissen: Es muss ein temporäres, ein graduelles Eintreten für den Anderen sein, dem ein doppelter Impetus zugrunde liegt: Erstens stellt die oberste Prämisse die Wiederherstellung der vollständigen Selbstbestimmung und damit die Wahrung und Achtung der Autonomie der betroffenen Person dar. Zweitens äußert sich das Handeln in der ,Stellvertretung‘ als ein bleibend riskantes Handeln, da sich der ,Erfolg‘ dieses Handelns erst in der prospektiv erhofften Annahme durch den Patienten oder die Patientin einstellen mag.

55 

Vgl. Kapitel 6.6. Vgl. Kapitel 7.2. 57  Vgl. Kapitel 7.3. 58  Die Hoffnung dabei ist, so hat es Hans Reinders sehr treffend formuliert, dass sich die jeweilige Situation „from a story of catastrophe into a story of hope“ verändern lässt. Vgl. Reinders (2014): Disability, Providence, and Ethics. Bridging Gaps – Transforming Lives, 168. 59  Vgl. Kapitel 7.2. 56 

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III. Teil: Gestaltungslinien im Umgang mit Zwang

8.3 Ein theologischer Seitenblick: Markus 5, 1–20 Trotz aller (notwendigen) Versuche, das stellvertretende Handeln in feste begriffliche Formen zu gießen, bleibt es, wie in Kapitel 8.2 ausgeführt wurde, ein zwielichtiges Phänomen. Denn während in der Stellvertretung einerseits dem vertretenen Selbstbezug eine Stimme gegeben wird, entpuppt sich das Treten an die Stelle eines andern andererseits zugleich als höchst riskant und harrt oft der entlastenden Bezeugung,60 dass der vertretene Selbstbezug an die produzierten Anschlussstellen wird anknüpfen können. Aus theologischer Perspektive wurde darauf verwiesen, dass der Übernahme von Stellvertretung ein normatives Element eingeschrieben ist: Die Stellvertretung muss sich daran orientieren, dass sie in dem Sinne als ein Akt der Wegbereitung61 verstanden wird, in ihrem Handeln die gestiftete Hoffnung zu bezeugen, durch einen begrenzten Übertritt an die Stelle eines anderen Handlungsräume zur Gestaltung eines leiblichen Selbstbezugs so aufrechtzuerhalten, dass dieser auch zukünftig in der Lage ist, seinen Ansprüchen auf Anerkennung Gehör zu verschaffen.62 Für die Frage nach dem Umgang mit psychischer Devianz verweist dieser Punkt noch einmal auf das komplexe Verhältnis von Krankheit als illness und Krankheit als sickness. Dabei impliziert die Widerfahrnis einer psychischen Störung, dass die betroffene Person sich in besonderer Weise den Brüchen, Ambivalenzen und Unabschließbarkeiten ihres leiblichen Selbstbezugs ausgeliefert erfährt und diese Störung individuell deuten kann. Gleichzeitig hat die Art und Weise der individuellen Deutung aber mitunter Rückwirkungen auf die konkreten Möglichkeiten, die einer Person für die Verwirklichung ihres praktischen Selbstbezugs offenstehen. An dieser Spannung arbeitet sich auch der neutestamentliche Text in Markus 5, 1–20, vor allem in den Versen 2–6 und 10–12, ab. In der aktuellen exegetischen Diskussion wird der Textabschnitt vorrangig als symbolpolitische Auseinandersetzung mit den bestehenden Herrschaftsstrukturen der damaligen Zeit betrachtet.63 Vorrangig taucht neben literar- und formkritischen Analysen vor allem die Frage auf, wie die unterschiedlichen Symbolebenen der Narration gedeutet werden können.64 All diese Fragen sind wichtig und tragen nicht nur zu einem konturierteren und präziseren sytematisch-theologischen 60 

Vgl. Kapitel 6.6. Vgl. Bonhoeffer (2006): Ethik, 153. Vgl. ebenso Kapitel 7.2. 62  Vgl. Kapitel 7.2. 63  Vgl. Klinghardt (2007): Legionsschweine in Gerasa. Lokalkolorit und historischer Hintergrund von Mk 5,1–20. Dieser Argumentation in weiten Teilen folgend: Bosenius (2014): Der literarische Raum des Markusevangeliums, 200–208. 64  Zu den Fragen nach den zugrunde liegenden Überlieferungsstufen siehe exemplarisch: Gnilka (1978): Das Evangelium nach Johannes, 199–208 & Dschulnigg (2007): Das Markusevangelium, 151–157. Joel Marcus hebt vor allem darauf ab, dass es sich bei dem Mann um einen fremden Mann handelt, dieser also kein Jude sei. Vgl. Marcus (2000): Mark 1–8. A New Translation with Introductuon and Commentary, 341–354. Zur Frage, was es mit der Ortsangabe Gerasa auf sich hat vgl. Collins (2007): Mark. A Commentary. 61 

8. Psychische Devianz: Zwischen Kreativität und Pathologie

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Verständnis bei, sondern erfüllen gleichzeitig eine kritische Funktion, indem sie tradierte und gewohnte Interpretationen der Texte hinterfragen und wieder neu fruchtbar machen. Die Narration in Markus 5, 1–20 kann aber nicht nur als rein symbolpolitischer Text verstanden werden, sondern ebenso als eine Aussage über die Verstrickung von illness und sickness als leidvolle Selbstexklusion. Der Text berichtet von einem Mann, der außerhalb der Stadt in Gräbern haust. Er ist von einem zerstörerischen Geist besessen, Versuche, ihn anzuketten, sind fehlgeschlagen. Er schreit und verletzt sich massiv selbst, indem er mit Steinen auf sich einschlägt. Als nun der Mann Jesus sieht, geht er zu ihm und bittet, ihn nicht zu heilen, nachdem dieser den quälenden Stimmen befohlen hatte, den Geist des Mannes zu verlassen. Jesus folgt der Bitte nicht und heilt den Mann auf eine ziemlich spektakuläre Art und Weise, ohne dass dieser explizit danach verlangt hätte. Nach seiner Genesung möchte der Mann bei Jesus bleiben, doch dieser schlägt den Wunsch aus und schickt ihn zurück in die Stadt seiner Herkunft. Der biblische Text beschreibt den Mann als einen von der Solidargemeinschaft ausgeschlossenen, als einen Mann, bei dem alle Versuche, ihn innerhalb der Sozietät zu halten, offenbar gescheitert sind. Es bleibt offen, wie der Mann seine Krankheit wahrnimmt, ob er sie als bedrohlich und leidvoll empfindet oder nicht. Aber als sich ihm die Chance bietet, aus seiner Situation herauszukommen, verweigert er zumindest die Zustimmung, wobei die Gründe für die Verweigerung offenbleiben. Mit anderen Worten: Die grundsätzlich zugesprochene Freiheit erweist sich für den Mann insofern als abgründig, weil er damit zugleich aus jeglichen Netzen der Solidargemeinschaft ausgeschlossen wurde. Die Begegnung Jesu mit diesem Menschen durchbricht den Ausschluss aus den Netzen der Sozialität zunächst gegen den Willen dieses Menschen. Sie wird nicht bedrohend und rücksichtslos gestaltet, ist für den Mann aber dennoch eine zunächst schmerzhafte Erfahrung,65 an deren Ende eine dreifache Restitution steht: Er ist in seiner persönlichen Integrität wiederhergestellt, in der Lage, eigene Entscheidungen zu treffen, und fähig, in Gemeinschaft mit anderen Menschen zu leben. Der Umgang Jesu mit dem erkrankten Mann wäre fehlinterpretiert, wenn er als ein kontextloses Lob der Gemeinschaft verstanden würde. Das Problem besteht nicht darin, dass der Mann außerhalb der Tore der Stadt lebt, sondern darin, dass ihm der Rückweg in die Netze der Sozialität durch seine Krankheit versperrt ist. Das Handeln Jesu zielt von daher auf die Wiedereröffnung eines Handlungsraumes, in dem der Mann seinen praktischen Selbstbezug verwirklichen kann. Angesichts der grundlegenden Vulnerabilität menschlicher Vollzüge sind und bleiben leibliche Selbstbezüge auf soziale Gestaltungsräume angewiesen. Zugleich muss sich die konkrete Gestaltung aber daran messen lassen, inwiefern sie es einem jeden leiblichen Bezug ermög65 

Vers 7: „Quäle mich nicht.“

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III. Teil: Gestaltungslinien im Umgang mit Zwang

lichen, mit seinem Anspruch auf fundamentale Anerkennung Gehör zu finden. Genau diese notwendige Offenheit betont die Freiheit zur Krankheit. Zugleich kann es aber gerade um der Erhaltung einer Offenheit der individuellen Gestaltungsräume willen geboten sein, an die Stelle eines Anderen zu treten. Solch ein stellvertretender Akt, wie er sich in dieser Narration im Handeln Jesu zeigt, kann zunächst als gewaltvoll erlebt werden. Dies war in den Überlegungen zum Phänomen der Stellvertretung dadurch markiert worden, dass jedes stellvertretende Eintreten für einen Anderen immer auch eine Bereitschaft zur Schuld­über­nahme beinhaltet. Als Konsequenz dieser Einsicht muss zugestanden werden, dass sich die Frage, ob ein stellvertretendes Eintreten für den Anderen auch gegen seinen Willen gerechtfertigt werden kann, prospektiv nicht sicher beantworten lässt. Es wird sich erst erweisen müssen, ob die betroffene Person einen gestaltbaren Anknüpfungspunkt wird finden können. Gerade weil ein solches Eintreten aber prekär und die Freiheit zur Krankheit ein durchaus hohes Gut bedeutet, wird sich die Vertretbarkeit des Eintretens für einen Anderen gegen seinen Willen an strengen rechtlichen wie ethischen Kriterien messen lassen müssen. Im Folgenden werden zunächst die rechtlichen Kriterien diskutiert, um dann abschließend Fragen einer ethischen Bewertung im Umgang mit Zwang zu erörtern.

9. Rechtliche Herausforderungen im Umgang mit Zwang in psychiatrischen Kontexten Jede medizinische Behandlung stellt einen Eingriff in die Rechte von Patienten auf körperliche Unversehrtheit dar und bedarf deswegen grundsätzlich der informierten Zustimmung von Seiten des Betroffenen.66 Als ein besonderer Ausdruck der autonomen Selbstbestimmung gilt der bereits erörterte Terminus der Freiheit zur Krankheit, der mehrfach höchstrichterlich bestätigt wurde und darauf insistiert, dass eine Behandlung auch dann abgelehnt werden kann, wenn diese medizinisch dringend indiziert ist.67 Allerdings muss für die Verweigerung der Behandlung die Voraussetzung einer freien Willensbildung und Artikulationsfähigkeit erfüllt sein. Gerade weil es sich bei der Interaktion zwischen Arzt und Patient, rechtlich gesprochen, um ein gleichrangiges Vertragsverhältnis handelt, in dem die Pflichten des Arztes und die Rechte der Patienten 66  Vgl. Die Bundesregierung (2013): Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten vom 20.2.2013. Zur Herleitung und Begründung siehe: Die Bundesregierung (2012b): Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 15. August 2012. Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten. Bundestags-Drucksache 17/10488. Zur Kommentierung siehe: Rehborn (2013): Das Patientenrechtegesetz. 67  Siehe: Bundesverfassungsgericht (2011b): Beschluss des Zweiten Senats vom 23. März 2011 – 2 BvR 882/09.

9. Rechtliche Herausforderungen im Umgang mit Zwang

277

deutlich formuliert sind,68 gelten als rechtlich wichtige Parameter zum einen die Aufklärungspflicht seitens des Arztes und zum anderen die Einwilligungspflicht seitens des Patienten. Nach § 8 der ärztlichen Berufsordnung hat der Arzt „das Selbstbestimmungsrecht des Patienten zu achten. Zur Behandlung bedarf er der Einwilligung des Patienten, [der] grundsätzlich eine Aufklärung in persönlichen Gesprächen vorauszugehen [hat].“69 Medizinische, rechtliche und ethische Herausforderungen ergeben sich nicht zuletzt in psychiatrischen Kontexten immer dann, wenn Unsicherheit darüber besteht, ob eine Person in der Ausübung ihrer Freiheit zur Krankheit tatsächlich aus freiem Willen handelt. Folglich setzt eine Einwilligung in eine Behandlung voraus, dass die Patienten erstens informiert sind, zweitens die Behandlung aus freiem Antrieb erfolgt, drittens ein Patient die Situation kompetent beurteilen kann und viertens einer Behandlung zustimmt.70 Unabhängig von der Motivation stellt jeder Verstoß gegen das Prinzip einer informierten Behandlungsentscheidung einen massiven Eingriff in die Integrität der Patienten dar und ist immer in der Rechtfertigungspflicht, was zur Folge hat, dass auch die Anwendung von Zwang in einem direkten Widerspruch zu den Verwirklichungsmöglichkeiten autonomer Selbstbestimmung steht.71 Hinzu kommt besonders im Kontext der Psychiatrie, dass eine Behandlung gegen den Willen eines Patienten ein asymmetrisches Machtverhältnis zwischen den behandelnden Ärzten und der Patientin oder dem Patienten manifestiert: Eine Behandlung, die auf die Vollzugserhaltung autonomer Selbstbestimmung zielt, kann von den Patienten als schwere Strafe, Demütigung oder Entwürdigung empfunden werden.72 Zudem gilt es zu beachteten, dass ein mittels Zwang vollzogener Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht dann als besonders schwerwiegend und besondere Widerfahrnis von Ohnmacht empfunden wird, wenn es im Vorfeld von Seiten der Patientinnen oder Patienten dezidierte Äußerungen gab, etwa in Ge68  Besonders entscheidend war die Deklaration von Lissabon im Jahre 1981. In dieser wurden explizit die Rechte des Patienten und damit auch die Pflichten des Arztes seinem Patienten gegenüber dargelegt. Als grundlegend wird dabei das Recht des Patienten auf eine freie Arztwahl, das Recht, einer Behandlung nach einer angemessenen Aufklärung zuzustimmen oder diese abzulehnen, das Recht auf die Einhaltung der Schweigepflicht, das Recht in Würde zu sterben, sowie das Recht auf geistige und moralische Unterstützung angesehen. Zur aktuellen Rechtsprechung siehe auch die Diskussionen und Entwicklungen rund um das seit 2013 geltende sog. Patientenrechtegesetz. Siehe Literatur in Fußnote 66 in diesem Kapitel. 69  Berufsordnung für Ärzte: § 8 MBO-Ä; Siehe auch: Hildt (2006): Autonomie in der biomedizinischen Ethik, 117 & Helmchen (2004): Ethische Fragen in der Psychiatrie, 331. 70  Vgl. zum Überblick auch: Vollmann (2008): Patientenselbstbestimmung und Selbstbestimmungsfähigkeit, 44 f. Dabei wirft Vollmann zugleich die Frage auf, inwiefern bei einem Vorliegen einer psychischen Erkrankung überhaupt von der Fähigkeit einer Einwilligung in einen Behandlungsvertrag ausgegangen werden kann (68). 71  Vgl. Hildt (2006): Autonomie in der biomedizinischen Ethik, 126. 72  Vgl. Kapitel 3.1 & 3.2.

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III. Teil: Gestaltungslinien im Umgang mit Zwang

sprächen gegenüber Angehörigen oder gar in einem eigenen Abschnitt in einer Patientenverfügung, dass in dem jeweiligen Fall eine Behandlung ausgeschlossen werden soll.73 Auch wenn diese rechtlichen Regelungen zunächst einmal sehr basal und vermeintlich selbstverständlich erscheinen, ziehen sie weitereichende Konsequenzen nach sich: Während die selbstbestimmte Entscheidung des Patienten einerseits zu respektieren ist, da jede andere Haltung ein paternalistischer Übergriff in das Recht der Person darstellt, hat der Arzt andererseits nicht zuletzt aufgrund seines Berufsethos die Pflicht, zum Wohle des Patienten zu handeln.74 Er steht damit vor der schwierigen Aufgabe, zu prüfen, ob es sich bei dem geäußerten Willen substanziell um den freien Willen des Patienten handelt oder nicht.75 Als Parameter für einen indizierten Zweifel an der Einwilligungsfähigkeit nennt J. Vollmann erstens die Unfähigkeit, die Wahlmöglichkeit zu nutzen, zweitens die Unfähigkeit, die gegebenen Informationen zu verstehen, 73  Vgl.

hierzu auch: Meier (2005): Zwang und Autonomie in der psychiatrischen Anstalt, 69. Mögliche Handlungsoptionen ergeben sich für eine Ersatzentscheidung wie folgt: Liegt eine Patientenverfügung vor, stellt diese einen wichtigen Parameter der Entscheidungsfindung dar. Gleiches gilt für das Vorliegen einer Vollmacht, wobei bei beiden Instrumenten geprüft werden muss, ob sie auf den entsprechenden Kontext Anwendung finden können. Zu dem Aspekt der Patientenverfügung siehe auch: Jox, et al. (2009): Verbindlichkeit der Patientenverfügung im Urteil ihrer Verfasser, 21. Zu der Frage, ob angesichts der Tatsache, dass bei einer psychischen Krankheit keine unmittelbare Sterbesituation gegeben ist, eine Patientenverfügung überhaupt Anwendung finden kann: Lauter & Helmchen (2006): Voraus­ verfügter Behandlungsverzicht bei Verlust der Selbstbestimmbarkeit infolge persistierender Hirnerkrankung. Gegenteiliger Ansicht ist Lamberz (2013): Die Unterbringung psychisch Kranker. Das Verhältnis der Unterbringung nach dem ­PsychKG NRW zu anderen Unterbringungsmaßnahmen. 74  T. Schramme ist an dieser Stelle zuzustimmen, dass es keinen generellen Primat des Wohlergehens vor der Selbstbestimmung des Patienten geben kann. Angesichts seiner These, dass die „bloße biologische Existenz erst ihren Wert von dem erhält, der sie genießt“ (Schramme (2002): Bioethik, 40), bleibt dennoch die Frage offen, wann Ärzte oder auch Angehörige vielleicht intervenieren müssen, weil sie die biologische Existenz erhalten – um einem erneuten ‚Genuss‘ seitens der im Moment nicht genießenden Person möglich zu machen. Gerade in dem Kontext der Psychiatrie sollten die vielfältigen Berichte der Patienten nicht ignoriert werden, die dankbar von den neuen Chancen und Bereicherungen in ihrem Leben berichten. Dies bedeutet nicht, dass die Entscheidung über eine Therapie alleine beim Arzt liegen darf. Dennoch kann es in begründeten Fällen in Absprache mit den Angehörigen oder dem Betreuer notwendig sein, das Wohl des Patienten partiell in den Vordergrund zu stellen. 75  Vgl. Dettmeyer (2006): Medizin & Recht, 216. Auch bei einem Behandlungsverzicht seitens des Patienten ist der Arzt nicht aus seiner Entscheidungsfindung entlassen. Im extremen Fall kann er auch für ein Unterlassen der Behandlung – trotz einer Erklärung des Patienten, die Behandlung nicht zu wollen – strafrechtlich belangt werden. Siehe hierzu auch das Fallbeispiel eines Mannes, der eine Magenspülung ablehnt und daraufhin verstirbt. Der behandelnde Arzt wurde wegen unterlassener Hilfeleistung verurteilt. Siehe hierzu: Jäkel (1999): Behandlungspflichten des Notarztes trotz Behandlungsverweigerung durch den Patienten.

9. Rechtliche Herausforderungen im Umgang mit Zwang

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durch eine Störung des Bewusstseins drittens gar nicht in der Lage zu sein, eine Entscheidung zu treffen oder aber viertens die Uneinsichtigkeit der Patienten in die Natur ihrer psychischen Erkrankung.76 Ferner tritt nicht nur hinzu, dass sich gerade im Kontext psychischer Devianz in bestimmten Situationen erlangtes Wissen auch negativ auf die Genesung auswirken kann,77 sondern eine mangelnde Einwilligungsfähigkeit die Folge von starken Schmerzen, der Wirkung von Medikamenten, Bewusstseinstrübungen oder auch institutionellen Hindernissen sein kann.78 Die Beurteilung, ob eine Person zu einer freien Entscheidungsfindung in der Lage ist, kann nicht strikt anhand einer festen Kriteriologie vollzogen werden, da Kriterien immer nur eine Annäherung an eine hochkomplexe Sachlage darstellen.79 Als Quintessenz aus dem bisher Erörterten lässt sich konstatieren, dass das einzig denkbare legitime Motiv des Arztes, warum er einen Patienten auch gegen seinen Willen behandelt, dessen Wohl sein kann. Das Wohl kann hier dann aber nicht alleine mit Argumenten wie denen der Symptomlinderung oder Bekämpfung oder einer therapeutischen Notwendigkeit qualifiziert werden, sondern muss der Wahrung oder Wiederherstellung von Vollzügen praktischer Selbstbestimmung dienen.80 Ausgehend von den entwickelten Überlegungen zur intersubjektiv anerkannten leiblichen Selbstbezüglichkeit und den skizzierten Herausforderungen für das Verhältnis von stellvertretender Fürsorge und gestifteten Elementen autonomer Selbstbestimmung wird im Folgenden eruiert, was eine solche Orientierung an der Wiederherstellung von Vollzügen praktischer Selbstbestimmung für die psychiatrischen Kontexte überhaupt leisten kann. Dazu wird zunächst der geltende Rechtsrahmen der Anwendung von Zwang in medizinischen Kontexten dargestellt und diskutiert, um hiervon ausgehend nach den bleibenden ethischen Herausforderungen einer Behandlung gegen den Willen einer Person zu fragen.

76  Siehe: Vollmann, Patientenselbstbestimmung, 57. Ebenso als Positivliste in: Vollmann (2014): Handeln gegen den Willen des Patienten. Lassen sich Zwangsbehandlungen in der Psychiatrie ethisch rechtfertigen? 77 Dettmeyer (2006): Medizin & Recht, 39. 78  Siehe: Hick (2007): Klinische Ethik, 27. 79  Angst als einen Parameter im Sinne eines Kriteriums zu verstehen, ist insofern schwierig, da offen bleibt, wie der Bewertungsmaßstab seitens der Ärzte aussehen könnte. Angst ist nicht erst dann vorhanden, wenn sie nach außen hin sichtbar ist, und zudem stellt sich die Frage, ob Angst nicht genuiner Bestandteil einer Behandlungsentscheidung ist. Die Angst, ob alles gut werden wird sowie die Sorge vor möglichen Konsequenzen beschäftigt viele Patienten, ohne dass sie deswegen entscheidungsunfähig wären. Auch kann der Patient von äußerst starker Angst geprägt sein, ohne dass dies für den Arzt ersichtlich wäre. 80  Vgl. hierzu auch: Friedrich & Heinrichs (2014): Autonomie als Rechtfertigungsgrund psychiatrischer Therapien.

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III. Teil: Gestaltungslinien im Umgang mit Zwang

9.1 Der rechtliche Rahmen der Unterbringung Recht und Gewalt stehen in einem ambivalenten Verhältnis. Am Grunde eines jeden Subjektivationsereignisses, verstanden als Möglichkeitsbedingung der Ermöglichungsräume eines individuellen Selbstbezugs, liegt ein vorausgehender Akt der Gewalt,81 wie Judith Butler in Anknüpfung an die Überlegungen Michel Foucaults festgehalten hat.82 Ebenso stehen nicht nur Gewalt und das Politische als Anerkennungs- und Gestaltungsraum leiblicher Selbstbezüge in einem spannungsvollen Gefüge, sondern eben auch Gewalt und Recht. Es gibt kein Recht, ließe sich zugespitzt formulieren, das sein Ziel der Gewaltüberwindung nicht durch die Anwendung von Zwang und Gewalt83 erreichen kann. Gewalt, so hat Christoph Menke ausgeführt, wäre zu unterkomplex gedacht, verstünde man sie einfach als das letzte Mittel des Rechts. Vielmehr stellt Gewalt eine Art Schicksal des Rechts in dem Sinne dar, dass das Recht im Vollzug seiner Rechtspraxis Gewalt nicht hinter sich lassen oder gar überwinden kann. Ebenso wenig wie das Recht Gewalt gänzlich aus seinen Vollzügen isolieren und herausdestillieren kann,84 stehen sich Gewalt und Recht nicht rein äußerlich gegenüber, sondern in einem ambivalenten Verhältnis zueinander. Entsprechend, so Menke, kommt dem Recht die Aufgabe zu, genau diese Ambivalenz seiner eigenen Bezüge und damit aber gleichzeitig auch die Angewiesenheit auf seine Einbettung in eine es kritisch fundierende Sittlichkeit zu reflektieren. Ein derart verstandenes selbstreflexives Recht, so Menke, „ist ein Recht, das Widerwillen gegen sich selbst hat: dem sich die Haare gegen sich selbst sträuben; ein Recht wider Willen ‚das Recht der Widerwilligen‘.“85 Diese Ambivalenz zwischen Recht und Gewalt zeigt sich auch in den Debatten um die Zwangsbehandlung in psychiatrischen Kontexten. Die Ausübung von Zwang und Gewalt in psychiatrischen Kontexten zählt zu den massivsten Eingriffen, denen Menschen in einem Rechtsstaat ausgesetzt sein können. Obgleich diese Beobachtung dem heutigen Rechtsverständnis 81 

Es ist größte Skepsis gegen solche Versuche geraten, die versuchen, die nicht Negierbarkeit von Gewalt in den Ermöglichungsräumen individueller Selbstbezüge, als ‚reine Gewalt‘ zu verstehen. Als ein solches Plädoyer lassen sich etwa die Ausführungen Klaas Jan Huizing verstehen. Vgl. Huizing (2016): Scham und Ehre. Eine theologische Ethik, 62 ff. Auch wenn Huizing seine Ausführungen explizit auf die Konstitution der ethischen Person zuspitzt und selbst die Frage stellt, wie mit den Gewalterfahrungen des von ihm so benannten „Geschenks der Schamerfahrung“ (Vgl. Huizing (2016): Scham und Ehre. Eine theologische Ethik, 60) umzugehen sei, misst er in seinen Ausführungen zur Rolle und Bedeutung von Gewalt zugleich der bleibenden Vulnerabilität von leiblichen Selbstbezügen eine systematisch nur untergeordnete Bedeutung zu. 82  Vgl. die Ausführungen und Analysen in Kapitel 5.3. 83  ‚Gewalt‘ ist dabei nicht ohne Weiteres als violentia zu verstehen, sondern erscheint ebenso im Sinne der auctoritas (informelle Macht) und potestas (Handlungsmacht). 84  Vgl. Menke (2015): Kritik der Rechte. 85 Menke (2012): Recht und Gewalt, 102.

9. Rechtliche Herausforderungen im Umgang mit Zwang

281

selbstverständlich erscheinen mag, war der Weg bis dorthin steinig und gewaltvoll zugleich. Während zu Beginn des 19. Jahrhunderts Zwangsbehandlungen als beinahe selbstverständliches86 Mittel der Gesundheitspflege87 seitens des Staates88 und der ausführenden Ärzte galten89 und für die Beurteilung der Legitimität einer Zwangstherapie die Prognose entscheidend war, ob die Krankheit als heilbar oder nicht heilbar eingeschätzt wurde,90 setzte sich erst mit der Entscheidung des Reichsgerichtes vom 31. Mai 1894 durch, dass auch der lege artis durchgeführte Heileingriff gegen den Willen des Behandelten bzw. seines gesetzlichen Vertreters eine strafbare Körperverletzung darstellt. Mit diesem Urteilsspruch war dokumentiert, dass in dem Moment einer Weigerung des zurechnungsfähigen Kranken oder seines rechtlichen Willensvertreters die Befugnis des Arztes zur Behandlung einer bestimmten Person für Heilzwecke nicht mehr gegeben war. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts änderte sich trotz zum Teil erbitterter Auseinandersetzungen um die Frage, ob die vorliegenden Internierungen rechtmäßig seien, bezüglich des Umgangs mit psychisch Kranken nur in einem sehr kleinen und dann zumeist an praktischen Fragen ausgerichteten Rahmen etwas an den juristischen Parametern. Dies wandelte sich mit der ersten Generation der Unterbringungsgesetze um 1948, bei denen der Fokus 86  Siehe auch: Heide (2001): Medizinische Zwangsbehandlung. Rechtsgrundlagen und verfassungsrechtliche Grenzen der Heilbehandlung gegen den Willen des Betroffenen, 26. Die Ärzte waren es, bei denen die Entscheidung über eine Zwangsbehandlung lag und deren Handeln – vor allem aufgrund fehlender Strafdrohungen – wenig reflektiert wurde. Zur Geschichte der Rechtsentwicklung im Bereich der Zwangsbehandlung siehe auch: Rittershaus (1927): Die Irrengesetzgebung in Deutschland nebst einer vergleichenden Darstellung des Irrenwesens in Europa, 1. Eine Beschreibung der Verhältnisse in den Psychiatrien um die Wende des 19./20. Jahrhunderts – inklusive ausführlicher Überlegungen zu einer Ausweitung der Fürsorge: Wyler (1906): Beiträge zu einem Grundriss des vergleichenden Irrenrechts, 38 f. 87  Wobei sich die Notwendigkeit einer rechtlichen Regelung vor allem aus der rapide anwachsenden Zahl von Neugründungen psychiatrischer Anstalten ergab. So kam es zwischen 1800 und 1860 zu 76 Neugründungen und 18 Umwandlungen bestehender Einrichtungen in psychiatrische Anstalten. Siehe hierzu: Die Bundesregierung (1975): Zum Stand der Versorgung psychisch Kranker und Behinderter, Drucksache 7/4200, Deutscher Bundestag, 58 f. 88  Die Abgründigkeit der Argumentation zeigt sich exemplarisch in den Ausführungen des Stadtmedizinalrates Fischer-Defoy, der die Notwendigkeit von Zwang bei der Behandlung von Geschlechtskrankheiten betont und noch eine Verschärfung der Verwahrungsgesetze fordert. Die Bewahrung (diesen Begriff verwendet er synonym mit dem der Verwahrung) wird dabei als Zeichen einer aktiven Fürsorge verstanden. Siehe: Fischer-Defoy (1924): Öffentliches Gesundheitswesen. Zwangsbehandlung und Bewahrung. 89  Siehe: Heide (2001): Medizinische Zwangsbehandlung. Rechtsgrundlagen und verfassungsrechtliche Grenzen der Heilbehandlung gegen den Willen des Betroffenen & Heide J.: Medizinische Zwangsbehandlung, 22–27. Bereits im 19. Jahrhundert ist jedoch durch die Trennung von Polizei- und Zivilrecht der Weg für die heutigen Unterbringungsgesetze geebnet. 90  Entsprechend war relativ klar und wurde auch nicht weiter verhandelt, dass unheilbar Kranke in einer psychiatrischen Anstalt unterzubringen waren. Mit der Aussicht auf Heilung war zumeist eine Unterbringung in einem ‚gewöhnlichen‘ Krankenhaus Usus. Siehe: Heide (2001): Medizinische Zwangsbehandlung. Rechtsgrundlagen und verfassungsrechtliche Grenzen der Heilbehandlung gegen den Willen des Betroffenen, 25.

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III. Teil: Gestaltungslinien im Umgang mit Zwang

vorrangig auf der Installation von gesetzlichen Grundlagen für die Heilbehandlung lag, einschließlich einer Verlagerung von der familienrechtlichen auf die öffentlich-rechtliche Ebene.91 In den frühen 1960er Jahren dagegen verschob sich der Fokus auf die rechtliche Regelung der Zulässigkeit von Zwangsbehandlung bei psychisch Kranken, und die jüngste Generation der Unterbringungsgesetze arbeitete sich vor allem an dem Paradigmenwechsel, weg von einer bloßen Verwahrung der Patienten hin zu einer modernen, im Sinne einer gemeindenahen psychiatrischen Versorgung, ab. Diesen Entwicklungen haben die Unterbringungsgesetze der Länder, mit der Ausnahme Hessens, größtenteils Rechnung getragen, aber standen und stehen seit den im Folgenden näher beleuchteten Urteilssprüchen des Bundesverfassungsgerichtes vor einer weiteren Revisionsnotwendigkeit.92 Grundsätzlich muss aus juristischer Perspektive zwischen einer Zwangsmaßnahme und einer Zwangsbehandlung unterschieden werden.93 Unter einer Zwangsmaßnahme versteht der Gesetzgeber eine unfreiwillige Unterbringung in einer stationären psychiatrischen Einrichtung, zu deren Durchsetzung wie Umsetzung drei unterschiedliche Methoden angewendet werden können.94 Eine erste Möglichkeit einer Zwangsmaßnahme stellt die Separation dar. Hierbei werden die Patienten für einen bestimmten Zeitraum isoliert, um auf diese Weise Gefährdungen Dritter auszuschließen. Zugleich variiert die Art und Weise der Separation je nach Unterbringung erheblich, wobei die Bandbreite je nach Ausstattung der Einrichtung von einer Separation in teilweise kerkerähnlichen Räumen bis hin zu Mehrraumeinheiten mit eigenem Freigelände reicht.95 Die Methoden bei der zweiten Möglichkeit der Zwangsmaßnahme, der Bewegungseinschränkung, reichen von Fixierungen, dem Festhalten durch mehrere Personen bis hin zu der Verwendung von Netzbetten, Bettgittern oder Pflege­ decken, während die früher oftmals verwendeten Zwangsjacken nicht mehr zum Einsatz kommen.96 Als ultima ratio kann die Sicherung auch durch die Gabe von Medikamenten erfolgen, solange diese alleine zu Sicherungs- und Verwahrungszwecken und nicht mit einer Behandlungsintention verwendet werden. 91  Vgl.

Heide (2001): Medizinische Zwangsbehandlung. Rechtsgrundlagen und verfassungsrechtliche Grenzen der Heilbehandlung gegen den Willen des Betroffenen, 35. 92  Vgl. Kapitel 9.2. 93  Vgl. Lesting, et al. (2010): Freiheitsentziehung und Unterbringung. Materielles Recht und Verfahrensrecht. 94  Vgl. Koller (2014a): Rechtliche Aspekte einer Behandlung in der Psychiatrie & Koller (2014c): Zwangsbehandlung – eine Zwischenbilanz. 95  Vgl. Steinert (2015): Zwangsmaßnahmen aus der Perspektive der klinischen Psychiatrie: Evidenz und Good Clinical Practice. 96  Vgl. DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie und Nervenheilkunde) (2010): S2-Praxisleitlinien in Psychiatrie und Psychotherapie, Bd. 2. Behandlungsleitlinie: Therapeutische Maßnahmen bei aggressivem Verhalten in Psychiatrie und Psychotherapie.

9. Rechtliche Herausforderungen im Umgang mit Zwang

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Demgegenüber bezeichnet eine Zwangsbehandlung eine Therapie unter der Anwendung von Zwang, wobei zwischen einer akuten Notfallsituation, beispielsweise in einem akuten Erregungszustand, und einer Zwangsbehandlung im eigentlichen Sinne, die ein längerfristiges Therapieziel verfolgt und grundsätzlich einer richterlichen Genehmigung bedarf, differenziert werden muss.97 Für die rechtliche Bewertung der Anwendung von Zwang liegt die erste Voraussetzung immer darin, offenzulegen und entsprechend zu dokumentieren, welches Ziel die Anwendung von Zwang jeweils verfolgt. Folglich handelt es sich bei der Gabe von Medikamenten unter Zwang im rechtlichen Sinne nicht zwangsläufig um eine Zwangsbehandlung, sondern in den Fällen, in denen die Gabe der Medikamente nicht der Behandlung, sondern alleine der Sicherung gilt, um eine Zwangsmaßnahme.98 Während der Frage nach der Zulässigkeit einer Heilbehandlung gegen den Willen einer Patientin oder eines Patienten die Feststellung vorausgeht, dass die betroffene Person ihren freien Willen nicht äußern kann und eine selbstbestimmte Einwilligung in eine Behandlung sich als unmöglich erweist,99 können Zwangsmaßnahmen und insbesondere Zwangsbehandlungen nur durchgeführt werden, wenn eine Unterbringung vorliegt.100 Für die prozedurale Umsetzung der Anwendung von Zwang kommt vor allem der Art der Unterbringung eine entscheidende Bedeutung zu, da von dieser abhängt, welche rechtlichen Vorgaben für die Durchführung einer Zwangsmaßnahme oder Zwangsbehandlung gelten. Es muss zwischen einer Unterbringung nach dem Betreuungsrecht, das auf der Ebene des Bundes verortet ist, und den psychiatrischen Krankenhausgesetzen, die auf der Ebene der Länder verortet sind, unterschieden werden.101 Auf der dritten Ebene des Strafrechtes kann eine Unterbringung dann angeordnet werden, wenn eine Straftat begangen worden ist, diese aber nicht den Anlass für freiheitsentziehende Maßnahmen darstellt. Allerdings kann eine strafrechtliche Unterbringung nach §63 oder §64 Strafgesetzbuch (StGB) nur dann vollzogen werden, wenn ein Verurteilter als schuldunfähig oder vermindert schuldunfähig anerkannt wird und zugleich eine Gefährdung Dritter angenommen

 97 

Vgl. Steinert & Borbé (2013): Zwangsbehandlung. auch: Steinert (2015): Zwangsmaßnahmen aus der Perspektive der klinischen Psychiatrie: Evidenz und Good Clinical Practice.  99  Vgl. Müller, et al. (2012): Zwangsbehandlungen unter Rechtsunsicherheit. 100  Zur Debatte, ob es sinnvoll wäre, eine ambulante Zwangsmaßnahme und Zwangsbehandlung zu ermöglichen, siehe auch: Dose (2014): Option einer ambulanten Zwangsbehandlung: Pro & Höflacher (2014): Option einer ambulanten Zwangsbehandlung – Kontra. Grundlegend und ausführlich: Hegendörfer (2007): Ambulante Zwangsbehandlung in der Psychiatrie im europäisch−israelischen Vergleich: Aspekte der rechtlichen Diskussion. 101  Vgl. Falkenbach, et al. (2009): Unterbringung und Zwangsbehandlung in Deutschland, 79 & Krämer (2003): Zwangseinweisung in die Psychiatrie – rechtliche Grundlagen und die Auswirkungen bei Beteiligten und Betroffenen, 134.  98  Siehe

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III. Teil: Gestaltungslinien im Umgang mit Zwang

werden muss.102 Eine Unterbringung nach dem Strafgesetzbuch zielt darauf ab, die Ungefährlichkeit einer Person wiederherzustellen. Insofern kann das Therapieziel auch nicht eine Heilbehandlung einer Anlasserkrankung sein, sondern lediglich die Beseitigung der Gefährlichkeit. Demgegenüber bietet sich eine Unterbringung gemäß Betreuungsrecht nach § 1906 Abs. 1 BGB nur dann an, wenn eine akute Selbstgefährdung vorliegt.103 Sie kann nach § 1906 Abs. 1 S. 2 BGB dann erfolgen, wenn eine Untersuchung des Gesundheitszustandes eine Heilbehandlung oder einen ärztlichen Eingriff als notwendig anzeigt, die ohne die Unterbringung des Betreuten nicht durchgeführt werden können, und der Betreute auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit einer Unterbringung nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann.104 Die Besonderheit einer betreuungsrechtlichen Regelung besteht darin, dass sich in ihr ein vielschichtiges Verhältnis zwischen der betroffenen Person, dem Staat, vertreten durch den Betreuer, und der Klinik spiegelt.105 Da in der betreuungsrechtlichen Regelung der eigentliche Akteur der Betreuer – als vom Staat eingesetzter Vertreter – ist, der seine Einwilligung zur Unterbringung gibt, die dann durch das Betreuungsgericht genehmigt werden muss,106 setzt eine zivilrechtliche Unterbringung nach § 1896 BGB und § 1906 BGB voraus, dass die betroffene Person unter einer Betreuung steht und die Unterbringung durch die Betreuerin oder den Betreuer veranlasst wird.107 Insofern der Staat mit der Einbestellung eines Betreuers einem Dritten die Möglichkeit gibt, die zu vertretene 102  Wesentlich für die Zwangsbehandlung ist vor allem § 34 StGB, der eine medizinisch induzierte Zwangsbehandlung bei gerechtfertigtem Notstand vorsieht, welche dann auch ohne richterliche Genehmigung erfolgen kann. § 136 StGB legt fest, dass eine Zwangsbehandlung auch im Maßregelvollzug nur aus medizinischen und niemals aus disziplinarischen Gründen erfolgen darf. Siehe: Laue (2003): Freiheitsentziehende Maßnahmen als Reaktionen auf Verfehlungen junger Menschen, Laue (2005): Zwangsbehandlung im Strafvollzug, Konrad & Missoni (2001): Psychiatrische Behandlung von Gefangenen in allgemeinpsychiatrischen Einrichtungen am Beispiel von Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz, 35–42, Henking (2014): Zwangsbehandlung aus der Perspektive des Strafrechts. 103  Zur Übersicht siehe auch: Hoffmann & Klie (2012): Freiheitsentziehende Maßnahmen im Betreuungs- und Kindschaftsrecht. 104 Wichtig erscheint zudem, dass eine solche Unterbringung in einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung aus ethischer Perspektive als eine Maßnahme verstanden werden muss, die sich durch das Element der Überwachung für die untergebrachte Person als ein de facto abgeschlossener Lebensraum figuriert. Wird in einer offenen Krankenanstalt ein Patient zeitweilig eingegittert – vorstellbar ist auch der Kontext einer Alteneinrichtung – gilt dieses juristisch nicht als eine freiheitsentziehende Unterbringung, solange sich die betroffene Person potenziell selber befreien kann. Siehe: Schwab, § 1906 [Freiheitsentziehung] 1476. 105 Vgl. Mittag (2012): Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an psychiatrische Zwangsbehandlungen im Betreuungsrecht, 197. 106  Vgl. Mittag (2014): Die betreuungsrechtliche Zwangsbehandlung im Lichte ihrer Neuregelung, 42. 107 § 1896 BGB und vor allem § 1906 BGB.

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Person aufgrund einer stellvertretend getroffenen Entscheidung rechtswirksam zu binden, kommt bereits der Bestellung eines Betreuers eine durchaus gravierende Eingriffsqualität zu.108 Aus diesem Grund hat die zu vertretende Person auch das Recht, die Einsetzung eines Betreuers oder einer Betreuerin abzulehnen, sodass in diesem Fall, vorausgesetzt es liegt eine freie Willensentscheidung vor, nach § 1896 Abs. 1a BGB kein Betreuer eingesetzt werden darf. Selbst für den Fall, dass keine freie Willensentscheidung vorliegt, darf nicht einfach eine Betreuung eingerichtet werden, sondern muss zunächst geprüft werden, ob die betroffene Person sich mit der Umsetzung ihrer Vorhaben und Handlungen selbst schadet. Gerade weil die Bestellung eines Betreuers einen grundsätzlichen Eingriff in die Freiheit des Vertretenen darstellt, handelt es sich nach § 1896 Abs. 2 BGB immer um eine Betreuung für einen präzise zu bestimmenden Bereich. Insofern muss bei jeder Einrichtung einer Betreuung geprüft werden, welche Betreuungsbedürftigkeit für welchen konkreten Bereich vorliegt. Ausdrücklich stellt die Betreuung keine komplette Entmündigung der vertretenen Person dar, sondern soll vielmehr gerade dazu dienen, deren Ansprüchen und Rechten Gehör zu verschaffen. Für den Arzt oder die Ärztin ergibt sich hieraus die Konsequenz, nicht nur zu prüfen, ob bereits eine Betreuung vorliegt, sondern ebenso, für welchen Bereich die Betreuungsnotwendigkeit konstatiert wurde.109 Nur wenn ein Betreuer sowohl für die Aufgabenkreise der Gesundheitsfürsorge und das Aufenthaltsbestimmungsrecht eingesetzt wurde, kann er über die Unterbringung einer Person entscheiden.110 Gleiches gilt nach § 1906 Abs. 5 BGB auch für einen Bevollmächtigen, der im Unterschied zum Betreuer nicht vom Staat bestellt wurde, dem Betreuer rechtlich aber gleichgestellt ist. Unterdessen bleibt der Staat auch mit dem Einsatz eines Bevollmächtigen in das Verhältnis zwischen Betreuer und Betreutem involviert, da er nicht nur den Rechtsrahmen setzt, innerhalb dessen der Bevollmächtigte handeln darf, sondern ebenso prüfen muss, ob die rechtlichen Vorgaben auch eingehalten werden.111 Neben der betroffenen Person und dem Staat, vertreten durch den Betreuer, kommt als dritte Größe die Klinik ins Spiel. Im Unterschied zu der möglichen These, dass es sich um eine rein privatrechtliche Konstellation zwischen der Klinik und der betroffenen Person, vertreten durch einen Betreuer oder eine Betreuerin, handelt, findet sich in den juristischen Debatten ebenso die Ansicht, dass die Kli108 

Siehe: Seichter, Einführung in das Betreuungsrecht, 38. Vgl. Henking & Mittag (2015): Rechtliche Rahmenbedingungen, 40 110  Vgl. Henking & Mittag (2015): Rechtliche Rahmenbedingungen, 41. 111  Entscheidend ist dabei, dass es nur sehr rudimentäre Vorgaben gibt, welche Qualifikationen eine Person erfüllen muss, um als gesetzlicher Betreuer eingesetzt zu werden, und gerade die sog. Berufsbetreuer über eine hohe körperliche und psychische Belastung klagen. Vgl. hierzu auch die aktuell einzige Studie, die sich mit der subjektiven Sicht der Betreuer auf ihren Beruf beschäftigt: Schlagloth-Kley (2014): Berufliche Belastungsfaktoren und chronischer Stress bei freiberuflichen gesetzlichen Betreuern. 109 

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III. Teil: Gestaltungslinien im Umgang mit Zwang

nik, als öffentlich geführte Einrichtung, selbst ein Hoheitsrecht ausübt.112 Das wird vor allem daran deutlich, darauf haben Matthias Mittag und Wolfgang Lesting hingewiesen, dass der Vollzug der Unterbringung oftmals damit beginnt, dass eine Person in ein Krankenhaus eingeliefert wird, ohne dass bereits ein Betreuer oder ein Bevollmächtigter bestellt ist.113 In solchen Fällen kommt statt einer ebenfalls möglichen öffentlich-rechtlichen Unterbringung eine vorläufige Unterbringung nach § 1846 BGB zur Anwendung, wobei in diesem Falle das Familiengericht die im Interesse der betroffenen Person erforderlichen Maßregeln zu treffen hat. Eine öffentlich-rechtliche Unterbringung erfolgt nach den Unterbringungsgesetzen der jeweiligen Bundesländer. Die entsprechenden Vorgaben finden sich in Bayern (UnterbrG) und im Saarland (UBG) im Unterbringungsgesetz, in Hessen im Gesetz über die Entziehung der Freiheit geisteskranker, geistesschwacher, rauschgiftsüchtiger oder alkoholsüchtiger Personen (FrhEntzG), in Baden-Württemberg im Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz (PsychKHG) und in allen anderen Bundesländern in den jeweiligen Psychisch-Kranken-Gesetzen (­PsychKG). Geregelt wird in den jeweiligen Gesetzen die Voraussetzung für eine freiheitsentziehende Unterbringung im Falle einer Fremdgefährdung oder einer Selbstgefährdung, wobei diese durch eine psychische Erkrankung bedingt sein müssen. Allerdings variiert erheb­ sychKG lich, was unter einer psychischen Krankheit verstanden wird. Das P NW sieht den Anwendungsbereich nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 ­PsychKG NW auf Personen bezogen, bei denen Anzeichen einer psychischen Krankheit bestehen, die psychisch erkrankt sind oder bei denen die Folgen einer psychischen Erkrankung weiter fortbestehen. Als psychische Erkrankungen werden nach § 1 Abs. 2 ­PsychKG NW behandlungsbedürftige Psychosen, andere behandlungsbedürftige psychische Störungen sowie Abhängigkeitserkrankungen von vergleichbarer Schwere verstanden. Ebenso definiert z.B. das Unterbringungsgesetz in Berlin in § 1 Abs. 2 Berl­PsychKG psychisch Kranke als Personen, die an einer Psychose, einer psychischen Störung, die in ihren Auswirkungen einer Psychose gleichkommt, oder einer mit dem Verlust der Selbstkontrolle einhergehenden Abhängigkeit von Suchtstoffen leiden und bei denen ohne Behandlung keine Aussicht auf Heilung oder Besserung be112  Vgl. Mittag (2014): Die betreuungsrechtliche Zwangsbehandlung im Lichte ihrer Neuregelung, 42. Eine gegenteilige Auffassung wird unter anderem von Werner Bienwald vertreten. Vgl. Bienwald (2006): Zur Rechtsnatur der Beziehungen -zwischen Patient und Einrichtung bei nicht öffentlich-rechtlich fundiertem Aufenthalt. Mit gleicher Argumentationsrichtung: Jürgens, et al. (2014): Betreuungsrecht, Rn. 59. 113  Vgl. Lesting (2010): Vollzug ohne Vollzugsrecht – Zur fehlenden gesetzlichen Grundlage des Vollzugs der zivilrechtlichen Unterbringung, 138 & Mittag (2012): Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an psychiatrische Zwangsbehandlungen im Betreuungsrecht, 200.

9. Rechtliche Herausforderungen im Umgang mit Zwang

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steht. Im Unterschied zum ­PsychKG NW wird in § 1 Abs. 3 ­BerlPsychKG zusätzlich dezidiert betont, dass ebenso geistig behinderte Personen, bei denen keine Aussicht auf Besserung besteht, unter das Gesetz fallen. Diese sind in den Unterbringungsgesetzen in NRW, Bayern und Rheinland-Pfalz nicht aufgeführt.114 Die Suchtkrankheiten wiederum, die sowohl in Bayern als auch in NRW115, Berlin116 oder Mecklenburg-Vorpommern117 in den Krankheitsbegriff inkludiert sind, werden wiederum in Bayern nicht in den Kriterienkatalog der psychischen Krankheiten aufgenommen. Bereits bei diesem kursorischen Überblick wird deutlich, dass durch die jeweiligen Ausführungen zum Verständnis einer psychischen Erkrankung in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedliche Personengruppen potentiell betroffen sind. Auch wenn Gesetzestexte keine präzisen medizinischen Fallbeschreibungen enthalten können und sollen, wäre dringend genauer zu klären, was konkret mit Formulierungen wie ‚vergleichbarer Schwere‘ gemeint ist. Zumindest wäre es – gerade angesichts des immensen Eingriffs in das Grundrecht einer Person – wichtig zu klären, anhand welcher Kriteriologie die Vergleichbarkeit bemessen werden soll. Liegt im juristischen Sinne eine psychische Erkrankung vor, darf eine freiheitsentziehende Unterbringung nur dann erfolgen, wenn eine unmittelbare Selbstgefährdung oder eine Fremdgefährdung Dritter vorliegt.118 Eine Selbstgefährdung liegt beispielsweise nach § 13 Abs. 3 UBG BW dann vor, wenn eine Person infolge einer psychischen Störung ihr Leben oder in erheblichem Maße ihre Gesundheit gefährdet. Im Zuge einer solchen Selbstgefährdung sehen alle Unterbringungsgesetze der Länder freiheitsentziehende Maßnahmen vor. Ferner weisen alle Unterbringungsgesetze auf die Notwendigkeit hin, nach dem Subsidiaritätsprinzip zu verfahren, also zunächst einmal alle anderen Möglichkeiten auszuschöpfen. Hierbei sind, wie etwa in Art. 3 Abs. 1 und 2 BayUnterBG gefordert, alle vorsorgenden, begleitenden und nachsorgenden Hilfen auszuschöpfen. Durchgehend betonen alle Unterbringungsgesetze, dass eine fehlende Bereitschaft, sich behandeln zu lassen, noch nicht zu einer zwanghaften Unterbringung führen darf.119 Neben der Sicherung von Leben

114  Vgl.

BayUnterbrG, ­PsychKG NW, ­PsychKG RhPf. und § 11 ­PsychKG NW. 116 § 1 Abs. 2 & Abs. 3 Berl ­PsychKG. 117 § 1 Abs. 1 ­PsychKG MV. 118 § 1 Abs. 4 UBG BW, Art. 1 Abs. 1 BayUnterbrG, § 8 Abs. 1 S. 1 Berl­PsychKG, § 8 Abs. 2 Bdg­PsychKG, § 9 Abs. 2 Brem­PsychKG, § 9 Abs. 1 Hmb­PsychKG, § 1 Abs. 1 und 2 HessFrhEntzG, § 11 Abs. 1 S. 1 ­PsychKG MV, § 16 Nds­PsychKG, § 11 Abs. 1 S. 1 ­PsychKG NW, § 11 Abs. 1 S. 1 ­PsychKG RhPf, § 4 Abs. 1 SaarlUBG, § 10 Abs. 2 Sächs­PsychKG, § 13 Abs. 1 ­PsychKG LSA, § 7 Abs. 1 ­PsychKG SchlH, § 7 Abs. 1 Thür-­PsychKG. 119  Vgl. Bundesverfassungsgericht (1981): Beschluss vom 07. Oktober 1981 – 2BvR 1194/80 & weiterführend Weber-Papen, et al. (2008): Begutachtung und Unterbringung, 426. 115 § 10

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III. Teil: Gestaltungslinien im Umgang mit Zwang

und Gesundheit einer nicht einsichtsfähigen Person sieht die öffentlich-rechtliche Unterbringung im Unterschied zur betreuungsrechtlichen Unterbringung auch einen Freiheitsentzug aufgrund einer Gefährdung Dritter vor, womit eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung angezeigt wird.120 Die öffentliche Sicherheit wird verstanden als „die Unverletzlichkeit der Rechtsordnung, die subjektiven Rechte und Rechtsgüter des einzelnen sowie Einrichtungen und Veranstaltungen des Staates und sonstige Träger von Hoheitsgewalt.“121 Angesichts der Schwere des Grundrechtseingriffes muss zudem eine erhebliche Gefährdung für die öffentliche Sicherheit vorliegen und die Beeinträchtigung der entsprechenden Rechtsgüter mit hoher Wahrscheinlichkeit bevorstehen.122 Keineswegs darf allein die bloße Möglichkeit aggressiven Verhaltens oder gar das Abwehrverhalten gegenüber den Bedingungen einer geschlossenen Unterbringung als Gefährdung der öffentlichen Sicherheit betrachtet werden.123 Die prozeduralen Vorgaben sind im Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) Abs. 2 § 312–339 geregelt. Freiheitsentziehungen auf Grundlage der Unterbringungsgesetze der Länder erfolgen unabhängig vom Zutun eines etwaigen Betreuers, sondern stehen unter direkter Verfügung des Staates – in der Regel des sozialpsychiatrischen Dienstes oder der Ordnungsbehörde. Zugleich fordert ein Teil der öffentlich-rechtlichen Unterbringungsgesetze, dass die betreuenden Personen bei einer sich abzeichnenden Notwendigkeit einer freiheitsentziehenden Maßnahme bereits frühzeitig in die Entscheidungsfindung mit eingebunden werden.124 Gerade weil es sich um einen immensen Eingriff in die Grundrechte des Einzuweisenden handelt, verlangt die Gesetzgebung, dass im Vorfeld einer Einweisung alles getan wird, um eine zwanghafte Einweisung zu vermeiden.125 Vor diesem Hintergrund muss die Grundlage jeder 120 

So z.B. in Hamburg: § 1 Abs. 2 Hmb­PsychKG. Schoch (2013): Besonderes Verwaltungsrecht, 176. Ebenso: Götz & Geis (2017): Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht. 122  Vgl. Falkenbach, et al. (2009): Unterbringung und Zwangsbehandlung in Deutschland, 81. 123  Vgl. Heide (2001): Medizinische Zwangsbehandlung. Rechtsgrundlagen und verfassungsrechtliche Grenzen der Heilbehandlung gegen den Willen des Betroffenen, 45. 124  Eine entsprechende Formulierung findet sich beispielsweise im überarbeiteten ­PsychKG NW und im Brem­PsychKG. Nur indirekt erfolgt eine Nennung in den Unterbringungsgesetzen von Brandenburg, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein sowie in Thüringen, in den übrigen Unterbringungsgesetzen gar nicht. 125  Vgl. Krämer (2003): Zwangseinweisung in die Psychiatrie – rechtliche Grundlagen und die Auswirkungen bei Beteiligten und Betroffenen, 135. Wichtig erscheint dabei auch der Hinweis, dass selbst im Prozess der Einweisung immer wieder versucht werden sollte, eine Freiwilligkeit herzustellen. Die Einwilligung des Patienten hat immer die oberste Priorität. 121  Vgl.

9. Rechtliche Herausforderungen im Umgang mit Zwang

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zwanghaften Einweisung eine richterliche Anordnung seitens des Vormundschaftsgerichtes sein, das den entsprechenden Fall durch das Ordnungsamt vorgelegt bekommt. Zwingend für die Vorlage beim Vormundschaftsgericht ist das Vorliegen eines ärztlichen Zeugnisses, das nicht älter als einen Tag sein darf.126 Wurde der jeweilige Fall seitens des Gerichtes positiv beschieden, kann das Gericht eine Befristung der Unterbringung festlegen.127 Für den Fall, dass es sich um einen akuten Notfall handelt, der eine sofortige Unterbringung des Patienten erfordert, sehen die Unterbringungsgesetze auch eine Unterbringung ohne vorherige richterliche Anhörung vor, die dann allerdings innerhalb von 24 Stunden128 nachgeholt werden muss, wie es eines ärztliches Gutachtens, nicht älter als einen Tag, bedarf.129 Liegt eine notfallbedingte Unterbringungssituation vor, muss das zuständige Ordnungsamt einen Antrag auf gerichtliche Anordnung stellen, wobei die zwangsweise Unterbringung unverzüglich abgebrochen werden muss, falls die Prüfung dieses Antrages negativ ausfällt. Kurzum: Der Zweck einer zwanghaften Unterbringung liegt immer primär in der Beseitigung des Einweisungsanlasses, also der Beseitigung der Selbstoder Fremdgefährdung,130 wobei die Unterbringung primär die Prämisse verfolgt, die akute Schadenssituation durch eine Sicherung der betreffenden Person abzuwehren und dadurch weiteren Schaden für die Person oder Dritte fürsorglich zu verhindern. Sehr umstritten bleibt indes, inwiefern es aus juristischer Sicht geboten sein kann, im Sinne einer fürsorglichen Interaktion nicht nur eine Sicherung des Patienten, sondern auch eine Besserung seines Zustandes einzuleiten.131 Entsprechend steht im folgenden Kapitel die Überlegung im Mittelpunkt, inwieweit mit einer zwanghaften Unterbringung auch die Durchführung einer Heilbehandlung rechtlich erlaubt sein kann.132

126  Die

zeitliche Angabe darüber, wann das Gutachten vorliegen muss, bezieht sich auf das ­PsychKG NW. 127  Vgl. Dettmeyer (2006): Medizin & Recht, 377. 128  Die 24-Stunden-Regelung gilt für alle Bundesländer mit Ausnahme Baden-Württem­ sychKG BW bis zu drei Tage. Siehe: P ­ sychKG BW. bergs. Hier beträgt die Frist nach P 129  Siehe: § 14 Abs. 1 ­PsychKG NW. Zum Streit, ob der das Gutachten ausstellende Arzt eine psychiatrische Ausbildung haben muss, vgl. Tonn, et al. (2006): Zwangseinweisung und Zwangsbehandlung bei psychiatrischen Patienten als notärztliche Aufgabe. 130  Vgl. Heide (2001): Medizinische Zwangsbehandlung. Rechtsgrundlagen und verfassungsrechtliche Grenzen der Heilbehandlung gegen den Willen des Betroffenen, 51. 131  Vgl. Heide (2001): Medizinische Zwangsbehandlung. Rechtsgrundlagen und verfassungsrechtliche Grenzen der Heilbehandlung gegen den Willen des Betroffenen, 56. 132  Vgl. Dettmeyer (2006): Medizin & Recht, 383.

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III. Teil: Gestaltungslinien im Umgang mit Zwang

9.2 Rechtliche Regelung der Zwangsbehandlung Die rechtlichen Regelungen in Fragen der Zwangsbehandlung133 haben in den letzten Jahren eine vergleichsweise rasante Veränderung erfahren. Ausgangspunkt waren mehrere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) mit Blick auf den Maßregelvollzug im Jahre 2011 sowie im Jahre 2013.134 Geklagt hatte eine Person, die nach § 63 StGB untergebracht war. Als Besonderheit des Maßregelvollzugs gilt, dass ebenso wie bei einer öffentlich-rechtlichen Unterbringung die Betroffenen unmittelbar dem Staat gegenüberstehen.135 Das BVerfG führte in seinem Urteil aus, dass sich eine Zwangsbehandlung grundsätzlich rechtfertigen lässt, um die Entlassungsfähigkeit zu erreichen, dafür angesichts der Massivität des Eingriffs in die Grundrechte aber einer hinreichend bestimmten rechtlichen Grundlage bedarf. Eine solche sah das Gericht insbesondere für die Regelungen zu öffentlich-rechtlichen Unterbringungen, also in den Unterbringungsgesetzen der Länder, als nicht ausreichend gegeben an. Ferner führte das BVerfG aus, dass eine Zwangsbehandlung zum Schutz Dritter, also bei einer reinen Fremdgefährdung, generell nicht rechtfertigungsfähig sei.136 Folglich muss, so lautet die Formulierung der Urteilsbegründung, die Unterbringung an sich bereits als ein hinreichendes Instrument, um Dritte zu schützen, betrachtet werden. Neben seiner Kritik an den bisherigen gesetzlichen Regelungen des Maßregelvollzugs hat das BVerfG zugleich betont, dass eine Behandlung gegen den Willen eines Patienten nicht grundsätzlich verfassungswidrig sei. Vor diesem Hintergrund bedarf es einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage für die Durchführung einer 133  Der Gesetzgeber spricht nun von ärztlichen Zwangsmaßnahmen statt von Zwangsbehandlungen. Aufgrund dessen, dass in den juristischen Debatten aber weiterhin von Zwangsbehandlungen gesprochen wird und der Begriff so auch sauberer von dem der Zwangsmaßnahmen abgegrenzt werden kann, wird in der vorliegenden Studie weiter der Begriff der Zwangsbehandlung verwendet. Für die Verwendung des Begriffs der Zwangsbehandlung spricht weiterhin, dass in dem Hamburger P ­ sychKG der Begriff der ärztlichen Zwangsmaßnahme dezidiert für eine auf die Sicherung in einer Akutsituation anwendbare Zwangsmaßnahme verwendet wird. Vgl. Hmb­PsychKG. Siehe hierzu auch: Pollmächer (2014): Die Behandlung Einwilligungsunfähiger gegen ihren natürlichen Willen aus medizinischer Sicht. 134  Vgl. Bundesverfassungsgericht (2011b): Beschluss des Zweiten Senats vom 23. März 2011 – 2 BvR 882/09, Bundesverfassungsgericht (2011a): Beschluss des Zweiten Senats vom 12. Oktober 2011 – 2 BvR 633/11, Bundesverfassungsgericht (2013): Beschluss des Zweiten Senats vom 20. Februar 2013 – 2 BvR 228/12 & Bundesverfassungsgericht (2015): Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. Januar 2015 – 1 BvR 665/14 – Rn. (1–38). Zur Übersicht siehe auch: Götz (2013): Die rechtlichen Grenzen der Patientenautonomie bei psychischen Erkrankungen. 135  Vgl. Mittag (2014): Die betreuungsrechtliche Zwangsbehandlung im Lichte ihrer Neuregelung. 136  Vgl. Bundesverfassungsgericht (2011b): Beschluss des Zweiten Senats vom 23. März 2011 – 2 BvR 882/09 & Bundesverfassungsgericht (2011a): Beschluss des Zweiten Senats vom 12. Oktober 2011 – 2 BvR 633/11.

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Zwangsbehandlung, die bis dato nicht gegeben sei,137da die materialen und prozeduralen Anforderungen zum Zeitpunkt des Urteils im Jahre 2011 bestenfalls zum Teil als erfüllt angesehen werden konnten. Als Konsequenz der beiden Urteile des BVerfG aus dem Jahre 2011 und der Bestätigung aus dem Jahre 2013 ergibt sich, dass die bisherigen Gesetzestexte revidiert und überarbeitet werden müssen. Ein Teil der Bundesländer hat bereits neue oder zumindest überarbeitete Gesetzestexte formuliert und verabschiedet.138 In einem anderen Teil der Bundesländer laufen aktuell noch die Beratungen.139 Zugleich hat das BVerfG in seinen Urteilen aus den Jahren 2011 und 2013 die materialen und prozeduralen Vorgaben benannt, unter deren Beachtung ein rechtlich legitimer Rahmen für eine Zwangsbehandlung gegeben sein könnte.140 Erstens darf eine Person grundsätzlich nur dann gegen ihren Willen behandelt werden, wenn sie aufgrund einer psychischen Erkrankung oder Störung nicht in der Lage ist, eine Behandlungsnotwendigkeit zu erkennen. Zweitens muss eine belastbare Erfolgsaussicht bestehen, die sich einzig an dem Ziel orientieren darf, eine Wiederherstellung der autonomen Selbstbestimmung und Entlassungsfähigkeit einer Person zu erreichen. Drittens müssen weniger invasive Maßnahmen entweder nicht möglich oder aber ausweglos sein. Viertens bedarf es eines ernsthaften Versuchs, eine Einsicht der Patientin oder des Patienten zu erzielen. Nicht zuletzt hat das BVerfG ausdrücklich darauf hingewiesen, dass alles getan werden muss, damit die Erläuterungen vor einem therapeutischen Eingriff verständlich sind und darauf zielen, eine auf Vertrauen gegründete Zustimmung der einwilligungsunfähigen Person zu erlangen. Fünftens muss der Behandlungseingriff klar begrenzt sein, hinsichtlich seiner Art, seines Umfangs und seiner Dauer, wobei sich die ärztliche Behandlung sowohl hinsichtlich der Wahl der Behandlung als auch der begleitenden Kontrolle an dem unbedingt Erforderlichen orientieren muss. Sechstens gilt für alle Überlegungen und Entscheidungen über eine Behandlung gegen den Willen einer Patientin oder eines Patienten, dass der erwartbare Nutzen deutlich über den mit der Behandlungs137 Gegenstand

der Urteilssprechung waren die Unterbringungsgesetze von Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg im Jahre 2011 und das von Sachsen im Jahre 2013. Da die Unterbringungsgesetze der anderen Länder ähnlich aufgebaut sind, ist es allgemeiner rechtlicher Konsens, dass entsprechend auch eine Zwangsbehandlung nach den Unterbringungsgesetzen der anderen Länder verfassungswidrig ist. 138  Vgl. Henking & Mittag (2014): Die Zwangsbehandlung in der öffentlich-rechtlichen Unterbringung – Stand der Neuregelungen. Henking und Mittag haben ebenso einen Vorschlag entwickelt, wie eine zukünftige Gestaltung der öffentlich-rechtlichen Unterbringung aussehen könnte: Henking & Mittag (2013): Die Zwangsbehandlung in der öffentlich-rechtlichen Unterbringung – Vorschlag einer Neuregelung. 139  Für eine Übersicht siehe: Henking & Vollmann (2015): Zwangsbehandlung psychisch kranker Menschen. Ein Leitfaden für die Praxis, 71 f. 140  Vgl. Bundesverfassungsgericht (2011b): Beschluss des Zweiten Senats vom 23. März 2011 – 2 BvR 882/09, Bundesverfassungsgericht (2011a): Beschluss des Zweiten Senats vom 12. Oktober 2011 – 2 BvR 633/11.

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maßnahme verbundenen Risiken liegen muss. Irreversible Gesundheitsschäden dürfen ferner allenfalls ein vernachlässigbares Restrisiko darstellen.141 In prozeduraler Hinsicht hat das BVerfG in seinen Urteilen festgelegt,142 dass die Anordnung und Überwachung einer Zwangsbehandlung zwingend durch einen Arzt erfolgen muss. Darüber hinaus hat es betont, dass eine Zwangsbehandlung nur im Fall einer akuten Selbstgefährdung genehmigt werden darf. In den Fällen einer Gefährdung Dritter sieht das BVerfG eine Zwangsbehandlung aus dem Grund als nicht erlaubt an, da das Ziel der Gefahrenabwehr auch durch eine Zwangsmaßnahme, welche als ein grundsätzlich weniger invasiver Eingriff in die Grundrechte einer Person gesehen wird,143 erreicht werden könne. Entsprechend gilt auch bei einer Gefährdung der Sicherheit von Mitpatientinnen und Mitpatienten oder dem Klinikpersonal, dass eine Zwangsbehandlung nicht erlaubt ist, da das Ziel des Schutzes Dritter durch einen Freiheitsentzug, also eine Unterbringung plus eventuell weiterer Zwangsmaßnahmen, erreicht werden kann. Nicht thematisiert wird in den Urteilssprüchen, dass eine solche Rechtspraxis zu einer dauerhaften Unterbringung einer Person führen kann. Daher wäre zu fragen, ob es nicht eine Schwelle gibt, an der ein Freiheitsentzug derart massiv, weil dauerhaft manifest, wird, dass eine Zwangsbehandlung die einzige Möglichkeit wäre, eine Person nicht für den Rest ihres Lebens freiheitsentziehenden Maßnahmen unterziehen zu müssen. Eine Möglichkeit könnte sein, in solchen Fällen über das Vorliegen einer Selbstgefährdung nachzudenken, also die Einrichtung einer Betreuung und einer Unterbringung nach dem Betreuungsrecht zu überprüfen.144 Dieses Problem wird aktuell in den juristischen Debatten wenn überhaupt, dann nur am Rande diskutiert. Die Rechtsprechung des BVerfG hatte zur Folge, dass 2012 auch der Bundesgerichtshof (BGH) seine bisherige Praxis der Rechtsprechung anpasste und eine zivilrechtliche Zwangsbehandlung nach § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB als nicht mehr zureichend erachtete.145 Hierdurch entstand zunächst ein Rechtsvakuum, 141  Vgl. auch: Petit & Klein (2013): Psychisch Kranke: Zwangsbehandlung mit richterlicher Genehmigung wieder möglich. 142  Vgl. Bundesverfassungsgericht (2011b): Beschluss des Zweiten Senats vom 23. März 2011 – 2 BvR 882/09, Bundesverfassungsgericht (2011a): Beschluss des Zweiten Senats vom 12. Oktober 2011 – 2 BvR 633/11. 143  Der Einschätzung, dass eine Zwangsmaßnahme im Vergleich zur Zwangsbehandlung das grundsätzlich weniger invasive Mittel darstellt, hat sich auch die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer angeschlossen. Vgl. Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (2013): Stellungnahme der Zentralen Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten (Zentrale Ethikkommission) bei der Bundesärztekammer: Zwangsbehandlung bei psychischen Erkrankungen. Diese Einschätzung wird durch die empirischen Daten zur subjektiven Wahrnehmung der Widerfahrnis von Zwang doch recht massiv in Frage gestellt. Siehe hierzu auch ausführlich Kapitel 3.1. 144 Vgl. hierzu auch: Mittag (2014): Die betreuungsrechtliche Zwangsbehandlung im Lichte ihrer Neuregelung. 145  Vgl. Bundesgerichtshof (2012d): Beschluss vom 20. Juni 2012 – XII ZB 130/12. Siehe

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da eine Zwangsbehandlung zwar von beiden Gerichten als prinzipiell möglich eingestuft wurde, aufgrund der bestehenden Rechtslage aber weder nach Betreuungsrecht noch nach öffentlichem Recht erlaubt war.146 In seinem Urteil definiert der BGH die Zwangsbehandlung als eine medizinische Behandlung eines Untergebrachten gegen seinen natürlichen Willen. Ebenso insistiert der BGH noch einmal auf der grundsätzlichen Freiheit zur Krankheit als fundamentalem Ausdruck der Selbstbestimmung. Keine Zwangsbehandlung liegt hingegen vor, wenn sich eine Person – und sei es auch nur mit ihrem natürlichen Willen – als einverstanden äußert oder aber wenn sie keinen Willen äußert.147 Ferner soll der natürliche Wille negativ bestimmt werden und wird rechtlich erst relevant, wenn es entweder an der Einsichtsfähigkeit einer Person oder ihrer Fähigkeit, nach dieser Einsicht zu handeln, und damit an der Fähigkeit zur freien Willensbestimmung fehlt.148 Während positiv hervorgehoben werden kann, dass der BGH den Übergangsbereich von der Einwilligungsfähigkeit in die Einwilligungsunfähigkeit markiert, fehlt zugleich eine Markierung der Grenze, ab wann eine Äußerung des natürlichen Willens vorliegt. Stellt es beispielsweise eine Missachtung des natürlichen Willens, eine Behandlung abzulehnen, dar, den Arm beim Anlegen einer Braunüle wegzuziehen?149 Je nachdem wie die Antwort auf diese Frage ausfällt, ergeben sich für die Patienten massive Konsequenzen. Weiterhin betont der BGH, ebenso wie das BVerfG, dass hinsichtlich der Feststellung der Eignung, Erforderlichkeit sowie Verhältnismäßigkeit einer zur Übersicht auch: Dodegge (2014): Die Entwicklung des Betreuungsrechts bis Anfang Juni 2014. 146  Vgl. dazu: Grotkopp (2012): Vorerst keine Zwangsbehandlung in der Psychiatrie möglich. 147  Vgl. Bundesgerichtshof (2012a): Beschluss vom 08. August 2012 – XII ZB 671/11. Diese Ausführung des BGH argumentiert mit einer bestimmten Vorstellung des Verhältnisses von natürlichem Willen und einer freien Willensentscheidung. Einfach gesagt, folgt das Gericht der Idee, dass der natürliche Wille eine gewisse Persistenz über die Zeit hinweg besitzt. Ausgehend von dieser Verhältnisbestimmung stellt der Rückgriff auf den natürlichen Willen gewissermaßen den Versuch einer stellvertretenden Aktualisierung dar. Siehe hierzu kritisch auch: Merkel (1999): Personale Identität und die Grenzen strafrechtlicher Zurechnung. Das Problem einer solchen Argumentation liegt aus einer theologisch-ethischen Perspektive darin, dass sie nicht transparent macht, wie prekär die Annahme eines stabilen natürlichen Willens ist. Das bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass man nicht auf ein Konstrukt wie den natürlichen Willen zurückgreifen kann, gerade weil die konkrete Situation oft keine andere Aussage über den praktischen Selbstbezug des Betroffenen ermöglicht. Es erfordert aber, die Prekarität dieser Annahme deutlich zu machen, die eben darin besteht, dass stellvertretend an die Stelle eines Anderen getreten wird, was immer verbunden ist mit der Gefahr einer bloßen Selbstverdopplung der eigenen Perspektive. 148  Vgl. Bundesgerichtshof (2012b): Beschluss vom 14. März 2012 – XII ZB 502/11. 149  Vgl. Koller (2014c): Zwangsbehandlung – eine Zwischenbilanz. Vgl. hier auch die Metastudie von Wahl et al., die darauf aufmerksam macht, wie massiv sich die jeweiligen individuellen Erfahrungen und Sichtweisen der Entscheidungsträger in die Bewertung der jeweiligen klinischen Entscheidungssituation einschreiben. Vgl. Wahl & Aroesty-Cohen (2010): Attitudes of mental health professionals about mental illness: a review of the recent literature.

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III. Teil: Gestaltungslinien im Umgang mit Zwang

Behandlung gegen den Willen einer Person der Nutzen der Behandlung die vermeintlichen Risiken einer Behandlung deutlich überwiegen muss.150 Kritisch ist jedoch zu markieren, dass sich ein keineswegs unerheblicher Interpretationsspielraum hinsichtlich der Festlegung ergibt, wann der Nutzen deutlich überwiegt. Die bislang vorliegenden empirischen Studien sowohl zur Wirksamkeit einer Zwangsbehandlung als auch Untersuchungen zu der subjektiven Sichtweise der Patienten auf die Behandlung zeigen, dass sich in den meisten Fällen keine Eindeutigkeit herstellen lässt.151 Die Prekarität der Nutzenabwägung liegt vielmehr gerade darin, dass das Risiko einer Behandlung dem Risiko einer Nichtbehandlung nicht diametral gegenübersteht, sich durch die Wahl des einen das andere also auflösen ließe, sondern beide, sowohl die Behandlung als auch die Nichtbehandlung, prekär sind und bleiben.152 Der BGH hat im Juni 2014 noch einmal darauf verwiesen, wie ernst er den Hinweis nimmt, dass grundsätzlich eine Zustimmung zu einer Behandlung erfolgen muss und dies auch bedeutet, dass alle Anstrengungen zu unternehmen sind, der betroffenen Person eine Zustimmung zu ermöglichen.153 Gerade weil es sich in Fragen der Behandlung gegen den Willen einer Person um einen massiven Grundrechtseingriff handelt, müssen alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um – unabhängig von der Art ihrer Einschränkung – eine freie Entscheidung zu erlauben. Der Überzeugungsversuch, so hielt der BGH fest, stellt eine materielle Voraussetzung für die Wirksamkeit der Einwilligung durch den Betreuer dar und darf auch nicht durch einen Verweis auf Sach- oder Zeitzwänge umgangen werden.154 Entsprechend hat der BGH Anfang 2015 erneut darauf verwiesen, dass die Umsetzung einer Zwangsbehandlung nicht nur genau dokumentiert werden muss, sondern die konkreten Bestimmungen für die Durchführung ebenso wie die Anforderungen an die Dokumentation bereits in der Beschlussformel zu einer Zwangs-

150 

Vgl. Bundesgerichtshof (2012b): Beschluss vom 14. März 2012 – XII ZB 502/11. Vgl. Mielau, et al. (2015): Subjective experience of coercion in psychiatric care: a study comparing the attitudes of patients and healthy volunteers towards coercive methods and their justification. 152  Dies zeigen nicht zuletzt die vorliegenden empirischen Daten zum subjektiven Erleben einer Zwangsbehandlung aus der Perspektive der Betroffenen. Siehe Kapitel 3.1 & 3.2. 153  Auch wenn eingestanden werden muss, dass es Patienten geben kann, bei denen eine Einwilligung schlicht unmöglich scheint, wäre es aus ethischer Perspektive schlicht falsch, daraus abzuleiten, dass es sich nicht lohnen würde, keine Mühen in der Aufklärung zu scheuen, um die Widerfahrnis von Gewalt zu vermeiden. Hier über kreative Lösungen nachzudenken, ist nicht nur eine der dringlichen Aufgaben in der Gestaltung der psychiatrischen Praxis, sondern erfordert ebenso einen Perspektivwechsel. Nicht die möglichst wenig invasive Anwendung von Zwang muss das Ziel sein (so tendenziell Simon (2014): Zwischen Selbstbestimmung und Zwang: Zwangsbehandlung in der Psychiatrie aus ethischer Perspektive), sondern das strikte Bemühen, jegliche Widerfahrnis von Gewalt zu vermeiden. Vgl. hierzu auch Kapitel 10.2. 154  Vgl. Bundesgerichtshof (2014): Beschluss vom 04. Juni 2014 – XII ZB 121/14. 151 

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behandlung angegeben werden müssen. Geschieht dies nicht, dann gilt die Anordnung insgesamt als gesetzeswidrig.155 Der Gesetzgeber hat im Rahmen der betreuungsrechtlichen Unterbringung im Jahre 2013 auf die Urteilssprüche von BGH und BVerfG reagiert und folgt den Vorgaben von BVerfG und BGH weitestgehend.156 Die materialen Vorgaben wurden in einer Revision von § 1906 Abs. 3 BGB eingearbeitet. In § 1906 Abs. 3 BGB wird eine Zwangsbehandlung nun legal definiert als eine dem natürlichen Willen des Betreuten widersprechende Maßnahme nach § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB157. § 1906 Abs. 3 Nr. 1–5 führt aus, dass der Betreuer oder Bevollmächtigte nur dann in eine Behandlung gegen den Willen des Vertretenen einwilligen darf, wenn dieser erstens aufgrund einer psychischen Erkrankung oder einer geistigen oder seelischen Behinderung nicht in der Lage ist, die Notwendigkeit einer ärztlichen Maßnahme zu erkennen. Zweitens muss versucht werden, die betroffene Person vorab von der Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu überzeugen. Drittens muss die angedachte Maßnahme in dem Sinne zum Wohl des Patienten sein, dass dadurch ein erheblicher gesundheitlicher Schaden abgewendet werden kann. Viertens darf der abzuwehrende Schaden durch keine andere, weniger invasive, Maßnahme abgewendet werden können, und fünftens muss der zu erwartende Nutzen den möglichen Schaden deutlich überwiegen. Eine durch einen Notfall indizierte Unterbringung auf Anweisung des Gerichtes und nicht des Betreuers nach § 1846 BGB158 soll nur dann möglich sein, wenn der Betreuer oder Bevollmächtigte entweder noch nicht bestellt oder aber an der Erfüllung seiner Pflichten gehindert ist. Diesen Fall gilt es aber grundsätzlich zu vermeiden. Vielmehr besteht in akuten Notfällen die Pflicht, eine Notfallunterbringung nach öffentlichem Recht zu prüfen.159 Weiterhin erfordert die Einwilligung des Betreuers in eine Behandlung gegen den Willen einer Person nach § 1906 Abs. 3a BGB eine Genehmigung durch das Betreuungsgericht. Für den Fall, dass bereits eine vorab artikulierte Willensäußerung in Form einer Patientenverfügung vorliegt, wird ein grundsätzlicher Vorrang von § 1901a BGB, in dem die Patientenverfügung geregelt ist, vor § 1906 Abs. 3 155 

Vgl. Bundesgerichtshof (2015b): Beschluss vom 14. Januar 2015 – XII ZB 470/14. hierzu auch: Pollmächer (2014): Die Behandlung Einwilligungsunfähiger gegen ihren natürlichen Willen aus medizinischer Sicht. 157  Der Wortlaut in § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB: Die Unterbringung des Betreuten zu seinem Wohl ist zulässig, wenn „zur Abwendung eines drohenden erheblichen gesundheitlichen Schadens eine Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder ein ärztlicher Eingriff notwendig ist, ohne die Unterbringung des Betreuten nicht durchgeführt werden kann und der Betreute aufgrund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der Unterbringung nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann.“ 158 § 1846 BGB erlaubt dem Familiengericht, die erforderlichen Maßnahmen für den Fall anzuordnen, dass noch keine Vormundschaft oder Betreuung eingerichtet ist. 159  Vgl. hierzu auch: Dodegge (2014): Die Entwicklung des Betreuungsrechts bis Anfang Juni 2014. 156  Vgl.

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III. Teil: Gestaltungslinien im Umgang mit Zwang

BGB diskutiert.160 Anders als im Falle einer Zwangsmaßnahme161 kann der in einer Patientenverfügung vorausverfügte Wille auch im Falle einer Zwangsbehandlung für den Betreuer als bindend erachtet werden.162 Der Betreuer darf sich in diesem Falle nicht über den artikulierten Willen hinwegsetzen, sofern der verfügte Wille die entsprechende Situation klar und umfänglich regelt. Das gilt dezidiert auch für den Fall einer psychischen Erkrankung.163 Das Vorliegen einer Patientenverfügung entbindet den Betreuer bzw. Bevollmächtigen nicht von der notwendigen Abwägung, setzt aber einen entsprechend engen Entscheidungskorridor.164 Während die materialen Vorgaben vorrangig in § 1906 Abs. 3 BGB eingearbeitet sind, fanden die prozeduralen Vorgaben des BVerfG und des BGH ebenso Anfang 2013 ihre Umsetzung in § 312, § 321, § 323, § 329, § 331 und § 333 FamFG. Definiert § 312 FamFG den Gegenstandsbereich und die grundlegenden Verfahrensweisen der Unterbringung,165 legt § 321 FamFG fest, dass vor einer Unterbringungsmaßnahme ein Sachverständigengutachten über die Notwendigkeit der Maßnahme eingeholt werden muss, wobei der dafür erforderliche Sachverständige nicht mehr zugleich der behandelnde Arzt sein darf, um so eine möglichst unvoreingenommene Begutachtung zu garantieren. Gleichermaßen muss der Sachverständige nach § 331 FamFG Erfahrungen auf dem Gebiet der Psychiatrie nachweisen können und sollte möglichst ein Arzt für Psychiatrie sein. Sollte ein akuter Notfall vorliegen, so kann nach § 332 FamFG kurzzeitig 160  Vgl. auch: Diener (2013): Patientenverfügungen psychisch Kranker und fürsorglicher Zwang. 161  Der Grund, warum im Moment die juristische Einschätzung in die Richtung tendiert, dass eine Patientenverfügung im Fall einer Zwangsbehandlung, nicht aber bei einer Zwangsmaßnahme möglich sein soll, liegt in der jeweils unterschiedlichen Intention von Zwangsmaßnahme und Zwangsbehandlung. Weil die Behandlung, anders als die Sicherungsmaßnahme, als ein therapeutischer Eingriff mit dem Ziel der Behandlung der Ursachen der psychischen Störung verstanden wird, kann diese auch im Voraus geregelt werden. 162  Vgl. dazu auch: Hoffmann (2009): Auslegung von Patientenverfügungen & Hoffmann (2010): Patientenwille, Patientenverfügung, Behandlungswunsch ein Jahr nach Inkrafttreten des 3. BtÄndG. 163  Siehe hierzu: Marschner (2011): Auswirkungen der UN-Behindertenrechtskonvention auf das Recht der Unterbringung und Zwangsbehandlung. 164  Vgl. Mittag (2014): Die betreuungsrechtliche Zwangsbehandlung im Lichte ihrer Neuregelung. 165  Kritik hervorgerufen hat vor allem die Formulierung des dritten Satzes von § 312 FamFG, in dem es heißt, dass für den Fall der Genehmigung einer Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme stets die Bestellung eines Verfahrenspflegers erforderlich ist. Rechtssystematisch wird dabei diskutiert, ob dieser Satz nicht eigentlich in § 317 FamFG gehört hätte, der dezidiert die Vorgaben zur Verfahrenspflege festlegt. Grotkopp (2013): Medizinische Zwangsbehandlung untergebrachter Personen – in Grenzen – wieder möglich, 89. Inhaltlich entzündet sich die Diskussion an der Frage, ob Satz 3 in seiner jetzigen Formulierung von einer Möglichkeit ausgeht, in der kein Verfahrenspfleger eingesetzt werden müsste. Vgl. Lindemann (2013): Die betreuungsrechtliche (Neu-)Regelung der Zwangsbehandlung von Untergebrachten, 45.

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auch der behandelnde Arzt als Sachverständiger agieren, allerdings besteht die Beweispflicht, dass die entsprechende Abweichung auch wirklich notwendig ist. Eine wichtige Änderung gerade für den praktischen psychiatrischen Vollzug erfolgte durch die Modifikation von § 323 FamFG, die erfordert, dass im Falle der Genehmigung einer Zwangsbehandlung die Durchführungs- und Dokumentationsanforderungen bereits in der Beschlussformel enthalten sein müssen und nicht mehr erst im Nachhinein festgelegt werden dürfen. Darüber hinaus insistiert § 329 FamFG darauf, dass die Dauer einer Unterbringung spätestens nach einem Jahr enden sollte, im Falle einer offensichtlich längeren Unterbringungsbedürftigkeit spätestens mit dem Ablauf von zwei Jahren, es sei denn, die Maßnahme wird vorher verlängert. Zugleich muss jede Verlängerung wieder eigens begutachtet werden.166 Die Genehmigung einer Zwangsbehandlung darf eine Dauer von sechs Wochen nicht überschreiten. Die Behandlungsdauer ist prinzipiell genehmigungsfähig, bedarf aber einer vorherigen Überprüfung. Bei einer Überschreitung von insgesamt zwölf Wochen muss ein neuer Sachverständiger hinzugezogen werden. Dadurch dass der Gesetzgeber im Betreuungsrecht die Vorgaben von BGH und BVerfG mit dem aktuellen Gesetzestext weitestgehend umgesetzt hat, wurde die Rechtssicherheit im Umgang mit Behandlung gegen den Willen einer Person bedeutend erhöht. Kritisch bleibt jedoch zugleich die Verhältnisbestimmung einer Anlasserkrankung und einer interkurrenten Erkrankung. Dementsprechend unterscheidet § 1906 BGB auch in seiner neuen Fassung nicht zwischen der Behandlung der einer Einwilligungsunfähigkeit zugrunde liegenden Anlass- und einer etwaigen interkurrenten Erkrankung. In beiden Fällen soll unter denselben engen Voraussetzungen eine Zwangsbehandlung möglich sein.167 Anders als bei einer öffentlich-rechtlichen Unterbringung ist bei einer betreuungsrechtlichen Unterbringung also sowohl eine Behandlung der Anlasserkrankung als auch einer interkurrenten Erkrankung möglich, unabhängig davon, ob es sich um eine somatische oder eine psychische Erkrankung handelt. Zugleich bleibt aber die Zwangsbehandlung zwingend an eine Unterbringung gekoppelt, wodurch eine ambulante Zwangsbehandlung nach dem Betreuungsrecht ausgeschlossen ist.168 Im Fall einer öffentlich-rechtlichen Unterbringung 166 Inwiefern sich mit dieser Regelung wirklich eine signifikante Verringerung der zwangsweisen Aufenthaltsdauer in einer psychiatrischen Klinik auch in der Praxis erreichen lässt, bezweifeln sicher nicht zu Unrecht: Crefeld (2013): Die „Regelungslücke“ ist weg, die Probleme bleiben. Umstrittenes Gesetz über ärztliche Zwangsmaßnahmen verabschiedet. In ähnlicher Argumentation: Graumann (2014): Kann Zwang gerechtfertigt sein? Ethische Überlegungen zu unfreiwilligen psychiatrischen Behandlungen. 167  Vgl. Koller (2014c): Zwangsbehandlung – eine Zwischenbilanz. 168  Kritisch beurteilt dies Matthias Koller, der moniert, dass auch die Zwangsbehandlung einer interkurrenten somatischen Erkrankung an die Unterbringung gekoppelt ist. Als Beispiel nennt er eine demente Person, die unter einer Betreuung steht und sich ein Bein gebrochen hat. Diese Person ist nicht fähig, eine Einsicht in die Notwendigkeit einer Behandlung

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ist die Frage, ob eine interkurrente Erkrankung gegen den Willen einer Person behandelt werden darf, jedoch sehr unterschiedlich geregelt. Entsprechend legen beispielsweise die Formulierungen des PsychKHG BW (§ 18) und des Ent­ sychKG SH (§ 20) nahe, dass nur die Behandlung der Anlasserwurfes des P krankung, nicht aber einer interkurrenten Erkrankung möglich ist, während das Hmb­PsychKG (§§ 16,17) und das Brem­PsychKG (§§ 9,22) eine Behandlung einer interkurrenten Erkrankung nur für den Notfall vorsehen. Bbg­PsychKG (§ 18) und SaarlUBG (§ 13) hingegen sehen dezidiert sowohl eine Behandlung der Anlass- als auch einer interkurrenten Erkrankung vor. Damit spitzt sich aber zugleich die Frage zu, wie sich das Verhältnis von betreuungsrechtlicher und öffentlich-rechtlicher Unterbringung ausgestalten lässt. Doch welcher Vorrang kommt welcher Unterbringungsregelung zu, wenn im Fall einer Selbstgefährdung beide Möglichkeiten bestehen? In diesem Fall gilt es zu beachten, dass bei einer betreuungsrechtlichen Unterbringung eine Betreuung eingerichtet werden muss, die an sich bereits einen massiven Eingriff in die Grundrechte der Betroffenen darstellt. Aus diesem Grund würde für den Fall einer kurzfristigen Krisensituation und zeitlich klar begrenzten Intervention die öffentlich-rechtliche Unterbringung die weniger invasive Maßnahme darstellen. Eine solche Vorrangigkeit der öffentlich-rechtlichen Unterbringung in einem akuten Notfall liegt auch deswegen nahe, weil sich die Funktion des Betreuers als bleibend ambivalent erweist. Denn einerseits steht mit dem Betreuer ein zur aktiven Fürsprache verpflichteter Vertreter des Willens der zu vertretenden Person zur Verfügung, der andererseits aber zugleich ein vom Staat eingesetzter und der betroffenen Person nicht selten unbekannter Stellvertreter ist,169 der im Fall der Fälle die Unterbringung veranlassen muss. Auch wenn die gleichen Vorgaben ebenso für einen Bevollmächtigten gelten, besteht dessen Vorteil darin, dass er durch den Vertretenen selbst eingesetzt wurde und im besten Fall bereits ein langjähriges Vertrauensver-

des Beinbruchs zu erlangen, und müsste nun für den Fall einer Behandlung untergebracht werden. Vgl. Koller (2014c): Zwangsbehandlung – eine Zwischenbilanz. Für einen solchen Fall fragt Koller, ob es nicht skurril sei, eine bereits bewegungsunfähige Person einer freiheitsentziehenden Maßnahme zu unterziehen. Zur Diskussion siehe auch die in Kapitel 9.3 folgenden Ausführungen. 169  Das Argument lautet nicht, dass die relationale Nähe an sich schon ein Gütekriterium für die Art und Weise der Stellvertretung wäre. Das muss mitnichten der Fall sein, sondern ebenso kann ein professioneller Betreuer mitunter die zu vertretende Person besser vertreten, als dies eine nahestehende Person könnte. Zugleich aber darf nicht ignoriert werden, dass es sich bei der akuten Unterbringung um eine Situation handelt, in der sich die betroffene Person sowieso schon in einer Ausnahmesituation befindet und die Einrichtung einer Betreuung durch eine fremde Person noch einmal zusätzliches Irritationspotenzial bietet. Vgl. in ähnlicher Argumentationsweise: Bundesärztekammer & Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (2013): Umgang mit Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung in der ärztlichen Praxis.

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hältnis zu ihm besteht.170 Diese Einschätzung der Vorrangigkeit ändert sich jedoch, wenn ein kurzfristiges Ende der Unterbringungsnotwendigkeit nicht absehbar ist. In einem solchen Fall bietet die betreuungsrechtliche Unterbringung einerseits den Vorteil, dass es einen stärkeren Richtervorbehalt gibt, das Genehmigungsverfahren also kleinschrittiger verläuft. Andererseits bedarf es aus ethischer Perspektive gerade bei einer längerfristigen Stellvertretung dringend eines Stellvertreters, der sich vorrangig der Wahrung und Umsetzung des Willens der vertretenen Person verpflichtet weiß. Auch an dieser Stelle sind die Vorteile einer Bevollmächtigung gegenüber einem staatlich eingesetzten Betreuer anzuführen, was allerdings voraussetzt, dass eine entsprechende Betreuungsvollmacht vorliegt, die nicht nur hilft, festzustellen, wer nach dem Willen des Entscheidungsunfähigen als Bevollmächtigter eingesetzt werden soll und wer besser nicht, sondern auch dem Bevollmächtigen – zumindest potenziell – Zeit zur Vorbereitung auf diesen Schritt ermöglicht. Zu überlegen wäre zudem, ob eventuell das zusätzliche Angebot der Bereitstellung einer Vertrauensperson für die Zeit einer Unterbringung eine Möglichkeit wäre, den Patienten bei Bedarf eine Person zur Seite zu stellen, die anders als der Betreuer, oder für den Fall, dass gar keine Betreuung vorliegt, nicht unmittelbar in die Anwendung des Zwangs involviert ist.171

9.3 Bleibende Herausforderungen Zu den bereits diskutierten rechtlichen Herausforderungen im Umgang mit Zwang in psychiatrischen Kontexten tritt zudem die Frage nach der grundlegenden Vereinbarkeit der Anwendung von Zwang mit der völkerrechtlich verbindlichen UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Als Völkerrechtskonvention muss sie in geltendes Recht überführt werden, was in Deutschland mit ihrer Ratifizierung am 26. März 2009 erfolgte.172 Die UN-BRK steht damit nicht über den Vorschriften des nationalen Rechts, gibt allerdings die Auslegungspraxis für die geltende Rechtsprechung vor. Nicht nur wird bis heute intensiv darüber gestritten, was genau Inhalt und Auswirkung der UN-BRK für die psychiatrischen Kontexte ist,173 sondern zugleich wird verschiedentlich be170  Was nicht bedeutet, dass der Bevollmächtigte im Zweifel genauso eine Behandlung gegen den Willen gestatten muss, wie dies ein Betreuer tun müsste. Siehe hierzu auch: Lipp (2014): Erwachsenenschutz und Verfassung – Betreuung, Unterbringung und Zwangsbehandlung, 75 f., 83 f. 171  Siehe hierzu auch die Vorschläge in Kapitel 10.2. 172  Vgl. Der Bundestag (2008): Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie zu dem Fakultativprotokoll vom 13. Dezember 2006 zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. 173  Vgl. Baufeld (2009): Zur Vereinbarkeit von Zwangseinweisungen und -behandlungen psychisch Kranker mit der UN-Behindertenrechtskonvention.

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hauptet, dass die UN-BRK die Unterscheidung zwischen Einwilligungsfähigkeit und Einwilligungsunfähigkeit negieren würde.174 Die UN-BRK wird dann so interpretiert, dass jeder Patient und jede Patientin unabhängig von der Art und Weise seines oder ihres praktischen Selbstbezuges als einwilligungsfähig verstanden wird.175 Eine solche Interpretation ist aber durch den Wortlaut der Konvention nicht gedeckt. Richtigerweise insistiert die UN-BRK darauf, dass eine Verweigerung der Mitsprache über die Entscheidung für oder gegen eine Behandlung aufgrund einer vermeintlichen oder tatsächlichen Einwilligungsunfähigkeit nicht gerechtfertigt werden kann. Folglich heißt es in Art. 12 Abs. 1 UN-BRK, dass Menschen mit Behinderungen – und hier sind Menschen mit einer psychischen Erkrankung und/oder einer geistigen Behinderung gleichermaßen eingeschlossen – das Recht haben, überall als Rechtssubjekt anerkannt zu werden. Art. 12 Abs. 2 UN-BRK führt weiter aus, dass Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen gleichberechtigt mit anderen Rechtsund Handlungsfähigkeit genießen. Mit anderen Worten: Ein jedes Selbst in seinen leiblichen Selbstbezügen hat das gleiche Recht auf die Anerkennung seiner praktischen Selbstbestimmung. Allerdings darf aber nicht unterschlagen werden, dass es bereits in Art. 12 Abs. 3 UN-BRK heißt, dass der Verweis auf eine grundsätzlich gleiche Anerkennung als Rechtsperson auch bedeutet, dass Menschen mit einer Behinderung Zugang zu der Unterstützung erhalten müssen, die sie für die Ausübung ihrer Rechts- und Handlungsfähigkeit benötigen. Das heißt konkret: Gerade weil die leiblichen Selbstbezüge unabhängig von ihren Voraussetzungen als gleiche anerkannt werden sollen, erweist sich die Gestaltung ihrer autonomen Selbstbestimmung als abhängig von einer an den jeweiligen Fähigkeiten und Kompetenzen orientierten Unterstützung. Insofern markiert die UN-BRK einen ganz entscheidenden Punkt: Gerade weil die Vollzüge autonomer Selbstbestimmung leiblicher Selbstbezüge eingebettet sind in Strukturen intersubjektiver Anerkennungsprozesse in gegebenen gesellschaftlichen Umwelten, greift es zu kurz, sich bei einer ethischen Bewertung der Anwendung von Zwang in psychiatrischen Kontexten vorrangig auf die Frage zu kaprizieren, ob eine Person als selbstbestimmungsfähig anerkannt werden kann oder nicht.176 Die in der Diskussion um die UN-BRK genannten 174  Ähnlich auch: Müller, et al. (2014): Folter in der Psychiatrie? Zum Bericht des UN-Sonderberichterstatters Juan Méndez. 175  Eine solche Argumentation findet sich zum Beispiel bei: Méndez (2013): United Nations. Report of the Special Rapporteur on torture and other cruel, inhuman or degrading treatment or punishment, Juan E. Méndez. Human Rights Council, 22nd session, 1.2.2013. 176  Einer solchen Argumentation folgen beispielsweise: DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie und Nervenheilkunde) (2012): Memorandum der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) zur Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen mit psychischen Störungen, DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie und Nervenheilkunde) (2014): Achtung der Selbstbestimmung und Anwendung von Zwang bei der Behandlung von psychisch erkrankten

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Kriterien zur Feststellung der Selbstbestimmungsfähigkeit177 können in der Tat von großer Bedeutung für die Bewertung eines fraglichen Entscheidungsvorgangs sein, aber sie können zugleich nicht von der grundsätzlichen Anerkennung entkoppelt werden, dass die betroffenen Personen gerade in ihrer jeweiligen Einschränkung Gehör für ihre Ansprüche fordern. Wird festgestellt, dass eine bestimmte Person in einer konkreten Situation nicht zu einer autonomen Selbstbestimmung in der Lage ist, dann folgt daraus vorrangig zunächst einmal, dass diese Person mehr Ressourcen benötigt als viele andere, um zu einer selbstbestimmten Entscheidung kommen zu können. Das mag auf den ersten Blick nur ein marginaler Unterschied sein, hat aber die bedeutende Konsequenz, dass die Betroffenen, unabhängig von ihren aktuell und konkret gezeigten Fähigkeiten, Anspruchsträger gleicher Rechte sind. Eine für den Moment einwilligungsunfähige Person zu einer selbstbestimmten Zustimmung zu befähigen, markiert dann nicht lediglich vorrangig eine gut gemeinte fürsorgliche Handlung, sondern in dieser Handlung muss sich bezeugen, dass die betroffene Person gerade in ihrer Verletzlichkeit als ein gleichberechtigter praktischer Selbstbezug anerkannt und entsprechend behandelt wird.178 Genau auf diesen Punkt hinzuweisen, ist eines der wesentlichen Verdienste der UN-BRK, aber auch der Urteile des BGH sowie des BVerfG.179 Die Debatte um die UN-BRK hat sich noch einmal intensiviert, als der UN-Sonderberichterstatter Juan E. Méndez Unterbringungen und Zwangsbehandlung generell als Folter beschrieb.180 Entsprechend forderte er ein grundsätzliches und international gültiges Verbot jeglicher zwangsweise durchgeführten medizinischen Behandlungen von Menschen mit Behinderungen. Nach erheblichem Protest181 schränkte Méndez seine ursprünglichen Aussagen stark ein und führte aus, dass sich die Forderung nach einem Verbot von Unterbringung und Zwangsbehandlung nur auf solche Zwangsbehandlungen beziehe,

Menschen. Eine ethische Stellungnahme der DGPPN. Ebenso: Vollmann (2014): Handeln gegen den Willen des Patienten. Lassen sich Zangsbehandlungen in der Psychiatrie ethisch rechtfertigen?, Bruns, et al. (2015b): Überlegungen aus klinisch-ethischer Perspektive. 177 Vgl. exemplarisch: DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie und Nervenheilkunde) (2014): Achtung der Selbstbestimmung und Anwendung von Zwang bei der Behandlung von psychisch erkrankten Menschen. Eine ethische Stellungnahme der DGPPN. 178  Vgl. Kapitel 6.6. 179  Siehe auch, obgleich nicht immer ganz nachvollziehbar kritisch gegen die Änderung in § 1906 BGB: Crefeld (2013): Die „Regelungslücke“ ist weg, die Probleme bleiben. Umstrittenes Gesetz über ärztliche Zwangsmaßnahmen verabschiedet. 180  Vgl. Méndez (2013): United Nations. Report of the Special Rapporteur on torture and other cruel, inhuman or degrading treatment or punishment, Juan E. Méndez. Human Rights Council, 22nd session, 1.2.2013. 181  Vgl. exemplarisch: American Psychiatric Association (APA) & World Medical Association (WMA) (2013): Letter to Mr. Henczel and Mr. Méndez, 9.12.2013.

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die alleine der Diskriminierung behinderter Personen dienten.182 Unterbringungen und Zwangsbehandlungen können dann legitim sein, so modifizierte Méndez, wenn sie zeitlich begrenzt sind und dazu dienen, Schaden beim Vorliegen einer Selbst- oder Fremdgefährdung abzuwehren. Beachtenswert ist zudem, dass Méndez, anders als das BVerfG, eine Zwangsbehandlung aufgrund einer Fremdgefährdung als legitimierbar ansieht.183 Die Ausführungen des UN-Sonderberichterstatters haben dazu geführt, dass noch einmal verstärkt auf die psychiatrische Praxis als solche geschaut wurde. Demzufolge drängt sich insbesondere die Frage in den Mittelpunkt, inwiefern die rechtlichen Vorgaben auch tatsächlich in der psychiatrischen Praxis umgesetzt werden. Denn trotz der materialen und prozeduralen rechtlichen Vorgaben ergibt sich für die psychiatrische Praxis ein Gestaltungsspielraum, der durchaus unterschiedlich umgesetzt und genutzt wird. Die zukünftigen rechtlichen Debatten werden sich noch einmal mit der Frage beschäftigen müssen, ob eine Unterbringung unbedingt Voraussetzung sein muss, damit eine Zwangsmaßnahme durchgeführt werden darf. Dieser Punkt bleibt deswegen virulent, weil der BGH in einem Urteil aus dem Juli 2015 um Prüfung gebeten hat, ob die Regelung in § 1906 Abs. 3 BGB, die für „die Einwilligung eines Betreuers in eine stationär durchzuführende ärztliche Zwangsmaßnahme auch bei Betroffenen, die sich der Behandlung räumlich nicht entziehen wollen oder hierzu körperlich nicht in der Lage sind, voraussetzt, dass die Behandlung im Rahmen einer Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 BGB erfolgt.“184 Der konkrete Fall betrifft eine demenzkranke Frau Mitte sechzig, die mit gerichtlicher Genehmigung auf einer Demenzstation lebt und aufgrund diverser weiterer Erkrankungen nicht mehr in der Lage ist, sich eigenständig fortzubewegen. Bei der Frau wurden bereits mehrere Zwangsbehandlungen sowohl aufgrund ihrer psychischen Erkrankung als auch aufgrund diverser somatischer anderer Erkrankungen durchgeführt. Im Zuge einer dieser Behandlungen bestätigte sich zudem der Verdacht auf ein Mammakarzinom. Während die Frau selbst eine Behandlung des Brustkrebses ablehnte, beantragte die Betreuerin aufgrund der Einsichtsunfähigkeit der Frau in die medizinische Notwendigkeit einer Behandlung eine weitere Unterbringung, um therapeutische Maßnahmen durchführen zu lassen. Das zuständige Amtsgericht lehnte den Antrag mit der Begründung ab, dass die notwendigen ärztlichen Maßnahmen auch ohne eine weitere Unterbringung erfolgen könnten. Der BGH, dem der Fall nun zur Beurteilung vorlag, setzte das Verfahren mit der Begründung aus, dass es „mit 182  Vgl. Méndez (2014): Response by the Special Rapporteur to the Joint Statement by the American Psychiatric Association and the World Psychiatric Association. Zur weiteren Diskussion siehe auch: Center for Humand Rights & Humitarian Law (2014): Torture in Health­ care Settings: Reflections on the Special Rapporteur on Torture’s 2013 Thematic Report. 183  Vgl. die Ausführungen in Kapitel 9.2. 184 Bundesgerichtshof (2015a): Beschluss vom 01. Juli 2015 – XII ZB 89/15.

9. Rechtliche Herausforderungen im Umgang mit Zwang

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Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar [sei], dass § 1906 Abs. 3 BGB eine in stationärem Rahmen erfolgende ärztliche Maßnahme nach § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB (Untersuchung des Gesundheitszustands, Heilbehandlung oder ärztlicher Eingriff) gegen den natürlichen Willen einer Person – bei Vorliegen der sonstigen materiell- und verfahrensrechtlichen Voraussetzungen – nur als möglich vorsieht, wenn die Patientin oder der Patient zivilrechtlich untergebracht ist, nicht jedoch für Fälle, in denen eine freiheitsentziehende Unterbringung ausscheidet, weil die betroffene Person sich der Behandlung räumlich nicht entziehen will und/oder aus körperlichen Gründen nicht kann.“185 Die Ausführungen des Urteils des BGH stellen infrage, dass in dem vorliegenden Fall eine Unterbringung gemäß § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB tatsächlich notwendig sei. Es geht also in dem vorliegenden Fall nicht um die prinzipielle Rechtfertigbarkeit einer Zwangsbehandlung, sondern darum, ob die in § 1906 Abs. 3 BGB postulierte enge Kopplung von Unterbringung und Zwangsbehandlung verfassungskonform ist. Im vorliegenden Fall hat das Bundesverfassungsgericht am 26. Juli 2016 ein Urteil gefällt und ausgeführt, dass eine Behandlung gegen den Willen einer betreuten Person, die sich einer notwendigen ärztlichen Maßnahme aus körperlichen Gründen gar nicht entziehen könnte und an einer schwerwiegenden gesundheitlichen Beeinträchtigung leidet und nicht in der Lage ist, die Notwendigkeit einer medizinischen ärztlichen Maßnahme einzusehen auch dann möglich sein muss, wenn eine bewegungsunfähige Person nicht geschlossen untergebracht ist.186 Von besonderer Bedeutung ist nun aber die Begründung des Urteils. In dieser stellt das BVerfG nämlich zunächst einmal heraus, dass § 1906 Abs. 3 BGB in einem grundsätzlichen Konflikt mit Art. 3 Abs. 1 GG stehe, da die Bewegungsfähigkeit eines psychischen Kranken dafür entscheidend wäre, ob er gegen seinen Willen behandelt werden kann oder nicht. Damit aber, so das BVerfG weiter, hätte ein immobiler psychisch Kranker, der an einer akuten körperlichen Beeinträchtigung leidet und nicht in der Lage ist, über die Notwendigkeit einer Behandlung zu entscheiden, nicht das grundsätzlich gleiche Recht, wie ein mobiler psychisch Kranker, der sich in der gleichen Situation einer Behandlung entziehen könnte. Während der immobile psychisch Kranke nicht zwangsweise untergebracht werden müsste und damit aber auch nicht zwangsweise ärztlich behandelt werden könnte, müsste der mobile psychisch Kranke zwar gegen seinen Willen untergebracht werden, könnte dann aber eben auch zwangsweise behandelt werden. Eine solche Ungleichbehandlung aufgrund eines körperlichen Merkmals stünde dann aber eben in Konflikt mit dem Gleichheitsgrundsatz.

185 Bundesgerichtshof

(2015a): Beschluss vom 01. Juli 2015 – XII ZB 89/15.

186 Bundesverfassungsgericht (2016): Beschluss des Ersten Senats vom 26. Juli 2016 – 1 BvL

8/15.

304

III. Teil: Gestaltungslinien im Umgang mit Zwang

Überhaupt auf diese Art und Weise argumentieren zu können, setzt voraus, dass § 1906 Abs. 3 BGB nicht lediglich eine Eingriffsnorm darstellt, sondern eine Begünstigung darstellt. Und in der Tat sieht das BVerfG die maßgebliche Begründung seines Urteils darin, dass es gegen die in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG formulierte Verpflichtung des Staates verstoßen würde, wenn einer Person bei drohendem Schaden für Leben und körperliche Unversehrtheit eine ärztliche Versorgung aufgrund seiner fehlenden Einsichtsfähigkeit grundsätzlich verwehrt werden würde. Die vom Bundestag in § 1906 Abs. 3 BGB formulierte Möglichkeit der Anwendung von Zwang zum Wohle der betroffenen Person formuliert aus Sicht des BVerfG nicht ‚lediglich‘ Ein- und Ausschlusskriterien für die Anwendung von Zwang, sondern ebenso eine Begünstigung der Rechtssubjekte mit dem Ziel, Leben und körperliche Unversehrtheit der betroffenen Personen – im Zweifel durch die Anwendung von Zwang – staatlich zu ­schützen. Ob das Bundesverfassungsgericht mit dieser Entscheidung zu den Möglichkeiten einer ambulanten Zwangsbehandlung seine bisherige Linie verlassen hat oder nicht, wird sich noch zeigen müssen. Bereits jetzt deutet sich mit diesem Urteil jedoch dreierlei an: Erstens gibt es aus Perspektive der Rechtsprechung zumindest kein ‚kategorisches Nein‘ mehr zu den Möglichkeiten einer ambulanten Zwangsbehandlung.187 Zweitens wird in den zukünftigen rechtlichen und ethischen Debatten zu klären sein, wie angesichts der Betonung, dass die Anwendung von Zwang eine positive Schutznorm darstellen kann, gleichzeitig mitbedacht wird, dass prima facie keineswegs garantiert ist, dass durch die Anwendung von Zwang nicht das Maß der körperlichen Beeinträchtigung – trotz gegenteiliger Absichten – gesteigert oder aber für den Fall, dass der Linderung der handlungsveranlassenden Symptome bei dem jeweiligen Patienten, eine dermaßen massive Gewalterfahrung ‚entgegensteht‘, dass die betroffene Person in ihren zukünftigen Vollzügen von Selbstbestimmung massiv und nachhaltig beeinträchtig wird. Die Spannung dieser Ambivalenz zu halten und dennoch die gesetzlichen Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass das Schutzniveau im Falle eines drohenden Schadens für die körperliche Integrität – nicht nur, aber eben auch – bei vorliegender psychischer Devianz nicht – mitunter ungewollt – herabgesenkt wird, markiert dann drittens die große Herausforderung der Überarbeitung der Gesetzesgrundlagen durch den Gesetzgeber. Der aktuell vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung (25.01.2017) liefert hier sicher einen guten Startpunkt für die weiteren Debatten, lässt aber zugleich die Frage offen, wie grundsätzlich und für die Praxis: nach welchen konkreten Vorgaben das Verhältnis von Freiheitentziehung und Zwangsbehandlung bestimmt werden kann.

187 

Vgl. zur Debatte auch Kapitel 9.1 & 9.2.

10. Ethische Perspektiven im Umgang mit Zwang

305

10. Ethische Perspektiven im Umgang mit Zwang angesichts einer Theorie responsiv-intersubjektiver Anerkennung leiblicher Selbstbezüge 10.1 Zusammenfassung des Argumentationsgangs Die Widerfahrnis von Wahnsinn zeigt die Fragilität unserer rechtlichen Konzepte und Schemata. Zugleich werden durch sie aber auch die vorausgesetzten Hintergrundannahmen von Individualität und Gemeinschaft, von Selbstbezüglichkeit und intersubjektiver Anerkennung hinterfragt. Entsprechend machten die bisherigen Überlegungen deutlich, dass sich Selbstbezüge als grundlegend responsiv-leiblich verfasst zeigen und inwiefern sie in wechselseitig intersubjektiven Anerkennungsrelationen stehen. Wesentlich sind dabei zwei Kopplungselemente: Erstens bedarf der außerordentliche Anspruch des Fremden, der sich in den Figurationen von Zwischenleiblichkeit eröffnet, einer kontinuierlichen Rückbindung an die politischen Ordnungen, welche er zugleich durchkreuzt. Indem zweitens bezeugt wird, dass ein jeder Selbstbezug von Anderen her und mit Anderen radikal in Frage steht, wird deutlich, dass zugesprochene Rechte kein unverlierbarer Besitz, sondern abhängig sind von den praktischen Vollzügen politischer Gestaltung. Insofern muss in den Vollzügen der Aushandlung von Geltungsansprüchen praktisch bezeugt werden, dass sich in jedem Menschen, unabhängig von seiner biologischen oder sozialen Verfasstheit, ein Anspruch artikuliert, als ein Mensch gehört und behandelt zu werden. Entscheidende Bedeutung kommt damit der Frage zu, wer grundlegend als vernehmbar und damit als sichtbar verstanden und anerkannt wird. Die essenzielle Bedeutung einer solch grundlegenden Sichtbarkeit zeigt sich nicht nur an den Erfahrungen bestimmter Ethnien oder Personengruppen, deren Ansprüche so fundamental verkannt wurden, dass ihre Ansprüche und damit auch ihre Vulnerabilität unsichtbar wurden, sondern eben auch an der Frage, ab welchem Punkt das Abweichen von einer Norm die Widerfahrnis von psychischer Devianz oder das Hören auf die falschen Stimmen einen Menschen unsichtbar werden lässt. Eine Missachtung der fundamentalen Ansprüche eines Selbstbezugs auf Anerkennung ist durchaus als ein Akt der Grausamkeit zu verstehen, wie Judith N. Shklar und Jessica Benjamin betont haben.188 Das Prekäre an der Grausamkeit ist, dass sie sich nicht einfach verhindern lässt und sich in manchen Modi der Grausamkeit allererste Anknüpfungsmöglichkeiten eröffnen können. Der Grund, warum Grausamkeit sich mitunter nicht verhindern lässt, liegt wiederum in den Ambiguitätsbezügen leiblicher Verfasstheit. Gerade weil der Leib in 188  Vgl.

Butler (2007): Kritik der ethischen Gewalt, Butler (2012a): Gefährdetes Leben, Verletzbarkeit und die Ethik der Kohabitation, Butler (2004): Bodies and Power Revisited & Benjamin (1995): Like Subjects, Love Objects. Essays on recognition and sexual difference. Siehe zur ausführlichen Auseinandersetzung auch die Ausführungen in Kapitel 5.3.

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III. Teil: Gestaltungslinien im Umgang mit Zwang

seiner Ambiguität durchzogen ist von Verdopplungs- und Spaltungsbewegungen, weil er eingebettet ist in responsive Anspruchsreliefs, weil er eine Um- und Mitwelt hat und weil sich ein Selbstbezug zuallererst in einem Fremdbezug eröffnet, ist er vulnerabel und so affin für die ‚Machenschaften‘ der Grausamkeit. Die Aushandlungsprozesse intersubjektiver Anerkennung sind von wesentlicher Bedeutung, weil in den Verhandlungen und Kämpfen um Anerkennung Geltungsräume errichtet werden, in denen Selbstbezüge bestimmt, verrechtlicht und solidarisch entfaltet werden können. Zugleich kommt dem Recht die wichtige Funktion zu, einen Geltungs- und Gestaltungsrahmen für die Aushandlung der Ansprüche auf Anerkennung und damit auch der Regelung des sozialen Zusammenlebens zu gewährleisten. Die fundamentale Verletzbarkeit responsiv anerkannter leiblicher Selbstbezüge lässt sich zugleich nicht einfach aus der Aushandlung von Geltungsansprüchen ausklammern. Ein responsiv-leibliches Selbst ist deswegen ein verletzbares Wesen, weil es für seinen Selbstbezug wie seine Selbstverwirklichung grundlegend auf die Anerkennung von Anderen angewiesen ist. Anerkennung kann die ihr damit zukommenden Aufgabe jedoch nur dann erfüllen, wenn sie als ein Ineinander von fundierend-asymmetrischer Responsivität und Anspruch auf eine symmetrische Aushandlung von Geltungsansprüchen verstanden wird. Daraus folgt, dass das Stehen in wechselseitigen Anerkennungsverhältnissen unmittelbar an Verantwortungsübernahme gekoppelt ist. Gerade weil ‚wir‘ verletzliche Wesen sind, weil leibliche Selbstbezüglichkeit in hohem Maße Grausamkeit ausgesetzt und damit fundamental vulnerabel ist, steht das Selbst in einem unumgänglichen Verantwortungsanspruch. Wie sich eine solche Verantwortungsübernahme konkret gestaltet, ist aber keineswegs so selbstverständlich, wie dies in den Arbeiten von Emmanuel Lévinas und in neuester Ausführung auch bei Steffen Herrmann den Anschein haben kann. Verantwortung, so lässt sich mit Paul Ricœur und Burkhard Liebsch einwerfen, ist in einem hohen Maße davon abhängig, auf welche Weise Zeugnis von einer unaufhebbaren, responsiv-leiblichen Asymmetrie gegeben und von dieser ausgehend nach symmetrischen Geltungsräumen gefragt wird. Das gegebene Zeugnis und der Akt der Bezeugung fallen nicht einfach zusammen, sondern vielmehr ist immer wieder kritisch zu hinterfragen, welches Zeugnis gerade bezeugt wird. Dass in dem Verhältnis von Zeugnis und Bezeugung das eine nicht einfach in dem anderen aufgeht, kann nicht einfach vorausgesetzt werden, sondern muss seinerseits bekannt werden. Bekannt wird, in den Modi der Bezeugung, dass sich die fundamentale Vulnerabilität menschlicher Vollzüge nicht aus den Gestaltungsprozessen der Anerkennung ausklammern lässt und die Frage, was anerkannt wird, immer wieder auf die Frage zurückweist, wer als Jemand anerkannt wird. Ein Selbstbezug bedarf also einer Bezeugung, weil er zwischen Vertrauen und Verdacht angesiedelt ist und sich so dem Glauben anderer überantwortet erfährt. Zwischen den Akten einer Bezeugung und den daraus jeweils resultie-

10. Ethische Perspektiven im Umgang mit Zwang

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renden Zeugnissen bleibt ein Spalt, da es auch Zeugnisse geben kann, die eine irreduzible Andersheit des Anderen leugnen, ebenso wie es Zeugnisse geben kann, die sich in ihr Gegenteil verkehrt haben. Sofern in der Bezeugung an einen fremden Anspruch angeknüpft wird, ist zugleich aber offen, auf welche Art und Weise dies getan wird. Die Würde des Menschen zu achten, die autonome Selbstbestimmung einer Person zu respektieren, ist nicht einfach ein Verweis auf eine unveränderliche Faktizität, sondern muss sich erweisen, indem sie bezeugt, indem sie gewürdigt wird. Die Fragilität einer solchen Würdigung ist (1) in dem Konkretisierungstheorem der Gabe als einem asymmetrischen Stiftungsgeschehen, (2) der Stellvertretung als ambivalentem Ineinander von Selbstverdopplung und Verabsolutierung des Anderen und (3) nicht zuletzt der orthogonalen Verhältnissbestimmung von Autonomie und Fürsorge diskutiert worden. Anhand des Theorems der Gabe wurde zunächst überlegt, inwiefern sich in der Gabe von Anerkennung die Stiftung von Gestaltungsräumen praktischer Selbstverhältnisse denken lässt. Dabei wurde deutlich, wie schmal die Grenze zwischen einer Selbstbezüge ermöglichenden und einer Selbstbezüge verschließenden Anknüpfung an ein Stiftungsereignis ist. Das trifft insbesondere dann zu, wenn es sich bei dem Stiftungsereignis um die Anwendung von in vielen Fällen als grausam erfahrenem Zwang handelt. Mit dem Theorem der Stellvertretung wurde in einem zweiten Schritt untersucht, inwiefern ein Stellvertreter an die Stelle eines fremden Selbstbezugs treten kann, wenn ein fremder Selbstbezug so brüchig geworden ist, dass er sich selbst nicht mehr auf sich beziehen kann. Da Vulnerabilität eine Grunderfahrung eines jeden Selbstbezugs darstellt, geht in Momenten der konkreten Widerfahrnis von Vulnerabilität auch nicht die personale Autonomie eines Selbst verloren. Sehr wohl aber können die Vollzugsmöglichkeiten autonomer Selbstbestimmung stark eingeschränkt sein. Dennoch verschwindet ein Selbst auch im Fall einer stark eingeschränkten Selbstbezüglichkeit nicht aus den Anerkennungsvollzügen und damit den Versprechen, die es gegeben und erhalten hat.189 Zugleich muss sich dieses grundlegende Versprechen, das sowohl individuelle wie kollektive Identifizierungen ermöglicht, jedoch praktisch erweisen, indem es bezeugt wird. An der Gestaltung solcher Akte der Bezeugung – sowohl auf individueller als auch institutioneller Ebene – zeigt sich dann auch inwiefern das sog. soziale Band einer Gesellschaft imstande ist, Vulnerabilität nicht nur in prinzipielle Gleichheitsansprüche – also die Zuweisung bestimmter Rechte und Pflichten zu bestimmten Ansprüchen – zu überführen, sondern vielmehr gerade die Stimmen der besonders Vulnerablen praktisch hörbar und sagbar zu halten. Theologisch reformuliert: Eine solche praktische Bezeugung der funda189  Es ist für die im Rahmen dieser Studie verfolgte Argumentation von großer Bedeutung, dass solche Versprechen nicht zwangsläufig oder gar ausschließlich als verbale Artikulationen verstanden werden.

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III. Teil: Gestaltungslinien im Umgang mit Zwang

mentalen Vulnerabilität eines jeden leiblichen Selbstbezugs weiß nicht nur um den eigenen Status als peccator in re, sondern sieht ebenso, dass gerade aus dem zugesprochenen iusti autem in spe die bleibende Notwendigkeit folgt, die Korrumpiertheit des eigenen Selbstbezugs nicht zu leugnen.190 In der wachgehaltenen Bezeugung der je eigenen Korrumpiertheit und der damit verbundenen fundamentalen Verletzlichkeit leiblicher Selbstbezüglichkeit eröffnen sich Gestaltungsräume eines leiblichen Selbstbezugs. Diese Gestaltungsräume müssen sich daran messen lassen, inwiefern sie es vermögen, die sich von der Gotteswirklichkeit her eröffnende Hoffnung so in der Weltwirklichkeit abzubilden, dass der Anspruch eines jeden Selbstbezugs, in seiner fundamentalen Angewiesenheit Gehör zu finden, praktisch bezeugt wird. Die Gestaltung der Anerkennungsräume, ausgehend und bleibend gekoppelt an ein solches Stiftungsereignis, wirft zugleich die Frage auf, inwiefern stellvertretend an die Stelle eines anderen getreten werden kann, etwa dann, wenn ein Selbst sich selbst nicht mehr findet, nicht mehr zu einer autonomen Selbstbestimmung in der Lage ist. Das Überschreiten der Schwelle einer stellvertretenden Behandlungsentscheidung ist in doppelter Weise riskant. Zum einen ist jede Gewaltanwendung gegen Personen an sich ein schuldhaftes Verhalten, und zum zweiten ist mit ihr zwar intendiert, dass sie dem Wohl des Betroffenen dienen möge und von ihm zu einem späteren Zeitpunkt auch so verstanden wird, dieses ist aber, wie auf der deskriptiven Ebene empirische Studien zeigen, keinesfalls sichergestellt. Stellvertretendes Handeln droht zu scheitern, wenn sich die erhofften Anschlussstellen für den vertretenen Selbstbezug als zu brüchig oder gar unanknüpfbar erweisen. Ein leibliches Selbst als fundamental autonom zu betrachten, auch wenn es von der jeweils zugrunde gelegten Rationalitätsnorm abweicht, schließt nicht aus, dass sich ein Selbst in Bezug auf seine praktische Selbstverwirklichung verlieren kann, es also mitunter nicht mehr zu einer selbstbestimmten Entscheidungsfindung in der Lage ist. Stellvertretendes Handeln tritt dann dafür ein, die Grundvoraussetzung von Freiheit, als leib-körperliche Verfasstheit eines Selbstbezugs, zu erhalten, und geht das Risiko ein, mit einem solchen stellvertretenden Eintreten aus dem Recht auf einen je individuellen Selbstbezug die Pflicht eines erstarrten Selbstbezugs werden zu lassen. Der von Bonhoeffer ausdrücklich betonten Notwendigkeit des kontextuellen Bezugs für ein stellvertretendes Eintreten kommt eine Schlüsselfunktion zu.191 In dem Moment, in dem Selbstbestimmung gefährdet und das Selbst sich selber nicht mehr verfügbar ist, kann es geboten sein, für den Anderen einzutreten. Leitend ist die Hoffnung, für den Anderen durch ein begrenztes Eintreten Handlungsräume zur Gestaltung seines leiblichen Selbstbezugs offenzuhalten und zu eröffnen.

190 

191 

Vgl. Luther (1515/16): WA 56, Der Brief an die Römer. Vgl. Bonhoeffer (2006): Ethik. Siehe hierzu auch ausführlich Kapitel 7.2.

10. Ethische Perspektiven im Umgang mit Zwang

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In Bezug auf ein solches Offenhalten von Verwirklichungsräumen individueller Selbstbezüge hat sich in einem dritten Schritt gezeigt, dass Autonomie und Fürsorge in einem relational-orthogonalen Verhältnis stehen. Ein Wesen als autonom zu verstehen bedeutet erstens, es in der intersubjektiven Angewiesenheit leiblicher Vollzüge als einen Anspruchsträger zu verstehen, dessen fundamentaler Anspruch zunächst einmal lautet, nicht verletzt zu werden. Nicht verletzt zu werden ist im Sinne eines Anspruchs auf körperliche Unversehrtheit zu verstehen. Es bedeutet angesichts der leiblichen Verfasstheit eines Selbstbezugs dann aber auch das Recht auf selbstbestimmte Gestaltungsräume, in denen sich ein Wesen als eine Person gestalten und verwirklichen kann. Zweitens muss sich der grundsätzliche Anspruch, als ein autonomes Wesen anerkannt zu werden, in den Vollzügen autonomer Selbstbestimmung praktisch erweisen. Das bedeutet, dass den Vollzügen autonomer Selbstbestimmung zugleich ein Element der Verantwortung der Art eingeschrieben wird, die Räume des Politischen so zu gestalten, dass die fundamentale Vulnerabilität eines jeden Anspruchsträgers berücksichtigt wird. Die Dynamik der Anknüpfungsereignisse erfordert drittens, dass ein Selbstbezug sich selbst als fähig erachtet, für seine Ansprüche einzutreten und damit die eigenen Ansprüche grundsätzlich als etwas zu verstehen, was es wert ist, in die Aushandlung um die Anerkennung von Ansprüchen eingebracht zu werden. Genau diese Voraussetzung in der praktischen Gestaltung individueller Selbstbezüge wird aber durch die Widerfahrnis von Wahnsinn mitunter massiv ausgehöhlt. Viertens ergibt sich die Notwendigkeit, kontextsensitiv abzuwägen, an welchen Stellen durch eine minimale fürsorgliche Intervention eine selbstbestimmte Entscheidung ermöglicht werden könnte, und ob und wenn ja in welchen Fällen eine fürsorgliche Intervention so weit gehen kann, dass sie Zwang anwendet, um auf ein prekär gewordenes Selbstverhältnis einzuwirken.

10.2 Die Anwendung von Zwang im Umgang mit psychischer Krankheit Stellvertretend für das Offenhalten praktischer Selbstbezüge einzutreten heißt zunächst einmal, dass ebenso wie aus der rechtlichen Perspektive auch aus der Perspektive einer konkreten Ethik die Anwendung von Zwang im Umgang mit psychischer Krankheit nicht per se ausgeschlossen werden kann. Das ist der Fall, da eingestanden werden muss, dass es sich im Umgang mit psychischen Krankheiten um Personen handelt, deren Selbstbezüglichkeit in besonderem Maße prekär ist. Die Besonderheit liegt nicht darin begründet, dass es sich im Vergleich zu anderen Dysfunktionalitäten des Körpers um eine exzeptionelle funktionale Störung handelt, oder gar darin, dass es eine Normalkonfiguration leiblicher Selbstbezüge gäbe, die sich ihrem prekären Status entziehen könnte. Vielmehr ist die Selbstbezüglichkeit besonders bei Vorliegen einer

310

III. Teil: Gestaltungslinien im Umgang mit Zwang

psychischen Krankheit deswegen prekär, weil zugleich eine riskante Form von Offenheit und Geschlossenheit vorliegt: Die Anknüpfungspunkte für einen Selbstbezug erweisen sich als so brüchig, dass auch bei Vorliegen einer Einwilligung eine Behandlung als gewaltvoll und grausam empfunden werden kann. Daraus folgt nicht, dass bei einer psychischen Erkrankung generell die Einwilligungsfähigkeit infrage gestellt ist, es bedeutet aber, dass eine besondere Sensibilität dafür erforderlich ist, wann eine gegebene Einwilligung in empfundenen Zwang umschlägt. Diese Umschlagspunkte zu erkennen und darauf jeweils kontextsensitiv zu reagieren, erfordert nicht nur eine besondere Form der Zuwendung vonseiten des behandelnden Personals (ärztliches und pflegerisches Personal) und der evaluierenden und begleitenden Akteure (Richter, Gutachter, Betreuer, Angehörige). Es erfordert – wie auch die Urteilssprüche von BVerfG und BGH ausdrücklich unterstrichen haben192 – ebenso eine entsprechende Ausstattung der Akteure mit den benötigten zeitlichen und materialen Ressourcen. Das Eingeständnis, dass sich Zwang nicht gänzlich aus den Umgangsweisen in psychiatrischen Kontexten ausschließen lässt, ermöglicht überhaupt erst, sehr aufmerksam zu verfolgen, an welchen Stellen eine Handlung nicht nur als Widerfahrnis von Zwang verstanden wird, sondern als Widerfahrnis von Grausamkeit. Inwiefern es gelingt, entsprechende Gegenmaßnahmen nicht nur in konkreten Situationen, sondern auch in der institutionellen Weiterentwicklung psychiatrischer Behandlungskontexte durchzuführen und dauerhaft zu verankern, hängt nicht unwesentlich davon ab, inwiefern es in den ethischen, rechtlichen und politischen Aushandlungsprozessen gelingt, die Balance zwischen dem Eingeständnis zu finden, dass sich Zwang einerseits im Zusammenleben von Menschen nicht vermeiden lässt, zugleich aber sehr genau zu beobachten ist, wann die Anwendung von Zwang in eine Widerfahrnis von Grausamkeit umschlägt. Mit Blick auf die psychiatrischen Handlungskontexte hat sich an dieser Stelle die juristische Unterscheidung als wesentlich erwiesen, dass die Anwendung von Zwang immer dann eine kategorial zu vermeidende Grausamkeit darstellt, wenn ein Betroffener mit seinem freien Willen in der Lage ist, sich für oder gegen eine Maßnahme oder Behandlung zu entscheiden. Erst wenn eine solche freie Willensbekundung nicht vorliegt, muss entschieden werden, ob eine Maßnahme oder Behandlung auch gegen den natürlichen Willen einer Person durchgeführt werden kann. Die zugrunde liegende Unterscheidung zwischen einem freien und einem natürlichen Willen lässt sich aus ethischer Perspektive sicher hinterfragen,193 markiert aber zugleich die Möglichkeit, kontextsensitiv zu prüfen, ob eine Person in der Art zu einem praktischen Selbstbezug in der Lage ist, dass sie sich der Konsequenzen ihres Handelns weitestgehend bewusst ist, oder 192 

Vgl. Kapitel 9.2. Jox, et al. (2014): Der „natürliche Wille“ und seine ethische Einordnung.

193  Vgl.

10. Ethische Perspektiven im Umgang mit Zwang

311

ob dies nicht (mehr) der Fall ist.194 Gegen die Artikulation eines natürlichen Willens kann dann interveniert werden – so der Stand der rechtlichen Debatte –, wenn eine akute Selbst- oder Fremdgefährdung vorliegt. Diese Einschätzung sowie die konkreten prozeduralen Voraussetzungen werden im Folgenden auf ihre ethischen Konsequenzen hin befragt. In vielen ethischen Problemfeldern erscheint es angebracht, als Konklusion einer Erörterung möglichst stichhaltige und gut begründete Leitlinien oder gar Prinzipien zur Handhabung und Orientierung zu suchen und diese zur Umsetzung zu empfehlen. Bisher hat die Untersuchung aber gezeigt, dass es gerade keinen ethischen Leitfaden für den Umgang mit Zwang geben kann. Vielmehr sind die Anwendung von Zwang und die damit einhergehende Widerfahrnis von Grausamkeit unbedingt zu vermeiden. Bereits die Androhung der Anwendung von Zwang stellt nicht nur eine massive Vulnerabilitätserfahrung leiblicher Selbstbezüge dar, sondern suggeriert zugleich, dass es möglich wäre, dem Wahnsinn zu entkommen, wenn man denn nur wollte. Wahnsinn erweist sich als so eng mit den Vollzügen leiblicher Selbstbezüglichkeit verknüpft, dass er sich nicht einfach beseitigen lässt. Für den Umgang mit psychischer Krankheit bedeutet dies zunächst einmal, anzuerkennen, dass es sich um ein sehr stark mit Ängsten, Vorurteilen und auch Stigmata besetztes Phänomen handelt, dass gerade deswegen so virulent erscheint, weil es jeden leiblichen Selbstbezug unmittelbar betreffen kann. Eine solche Nicht-Negierbarkeit des Wahnsinns zeigen nicht nur der enorme Anstieg der Inzidenzzahlen psychischer Erkrankungen195, sondern auch die massiven Berührungsängste vieler Menschen, sich mit den Betroffenen und deren Erkrankung überhaupt auseinanderzusetzen.196 Kann man den Wahnsinn nun aber nicht einfach ausschließen, so erscheint es verlockend, Sicherheit im Umgang mit dem Wahnsinn dadurch zu generieren, dass man den Zwang als ultima ratio bezeichnet. Der unbestreitbar große Vorteil ist, dass die Anwendung von Zwang mit einem solchen Vorgehen zunächst aus weiten Bereichen der praktischen Selbstverwirklichung ausgegrenzt ist. Die Figur der ultima ratio erlaubt es scheinbar, eine möglichst große Zahl von Selbstbezügen als Adressaten der Anwendung von Zwang auszuschließen. Zugleich ist aber zu fragen, ob das Verständnis von Zwang als ultima ratio nicht eine falsche Sicherheit suggeriert. Etwa die, dass im Zweifel ein probates Mittel bereitstünde, um ein Selbst vor sich selbst oder Dritte vor dem Selbst zu schützen. Das ist aber, wie die empirischen Studien zur Sichtweise der Betroffenen nach dem Erleben von Zwang gezeigt haben, zumindest ein äußerst riskantes 194 

Vgl. Kapitel 9.2. Vgl. Kapitel 3.1 sowie insbesondere Kapitel 8.1. 196  Vgl. Rüsch (2010): Reaktionen auf das Stigma psychischer Erkrankung. Sozialpsychologische Modelle und empirische Befunde; Schomerus & Angermeyer (2011): Psychiatrie – endlich entstigmatisiert? Einstellungen der Öffentlichkeit zur psychiatrischen Versorgung 1990 – 2 011. 195 

312

III. Teil: Gestaltungslinien im Umgang mit Zwang

Unterfangen. Zudem hat sich in der Analyse der rechtlichen Anerkennungsvollzüge gezeigt, dass die ursprüngliche ultima ratio in der konkreten Umsetzung einen relativ großen Anwendungskreis findet. So ist die Anwendung von Zwang in der Umsetzung sehr stark abhängig davon, welche Definition von psychischer Erkrankung angewendet wird, nach welcher Auslegungspraxis die Gerichte verfahren, wie der Betreuer die vorhandenen Entscheidungsräume nutzt, und nicht zuletzt davon, welche Einstellung und Erfahrungen das klinische Personal mit der Anwendung von Zwang gemacht hat. Sicherlich der einfachste Weg wäre es, an dieser Stelle den prinzipiellen Verzicht auf jegliche Anwendung von Zwang zu postulieren. Allerdings zeigt die Zeitspanne von 2012 bis Anfang 2013, in der es keine rechtliche Grundlage für eine Zwangsbehandlung gab, dass in den meisten Fällen der Wegfall einer Anwendung von Zwang durch die Ausübung einer anderen ersetzt wird. Das liegt nicht zuletzt daran, dass es sich bei den psychiatrischen Einrichtungen auch in dem Sinne um geschlossene Systeme handelt, dass es bestimmte Handlungsschemata und -protokolle gibt, die sich nicht ohne Weiteres kurz- oder auch mittelfristig ändern lassen, bzw. deren Wegfall mitunter noch massivere Folgen nach sich zieht. Der Verweis auf eine solche Pragmatik allein kann natürlich nicht die Begründungslast tragen, um die Legitimation der Anwendung von Zwang zu bewerten. Dennoch sind solche pragmatischen Beobachtungen von elementarer Bedeutung, um den Kontext adäquat zu beschreiben und zu erfassen, indem ein systematisches Urteil seinen Ort hat. Als systematisch entscheidender Punkt kann gefolgert werden, dass die Anwendung von Zwang generell ethisch nicht legitimierbar, in äußersten Notsituationen aber dennoch unverzichtbar und rechtfertigbar sein kann. Unverzichtbar dann, wenn eine solche Anwendung die letzte und einzige Möglichkeit darstellt, ein Selbst überhaupt in seinen leiblichen Vollzügen zu erhalten. Daraus folgt zugleich, dass eine der entscheidenden Aufgaben in der ethischen Betrachtung der Anwendung von Zwang im Umgang mit psychischer Krankheit eine Umkehr der Blickrichtung ist. Es kann in den ethischen Debatten nicht darum gehen, wie man die Anwendung von Zwang rechtfertigen kann, sondern die primäre Frage muss sein, wie die Anerkennungsvollzüge so gestaltet werden können, dass die Anwendung von Zwang im Umgang mit psychischer Krankheit grundsätzlich vermieden wird. Ausgehend von dieser Perspektive erfolgt zugleich das Eingeständnis, dass dies in manchen Fällen eventuell nicht möglich sein wird und die Anwendung von Zwang in der Tat als ultima ratio in den Blick rückt. Eine solche Bereitschaft, im Äußersten auch mit der Anwendung von Zwang an die Stelle eines Anderen zu treten, so hatte sich in den bisherigen Überlegungen gezeigt, ist konstitutiv mit der Bereitschaft zur Schuldübernahme verbunden.197 Stellvertretend an die Stelle eines vulnerablen Selbst zu treten, bleibt dann zum einen daran gekoppelt, 197 

Vgl. Kapitel 8.2.

10. Ethische Perspektiven im Umgang mit Zwang

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dass sich eine solche Stellvertretung selbst begrenzt weiß in der eigenen fundamentalen Angewiesenheit. Theologisch reformuliert: Verantwortliche Stellvertretung weiß sich hineingestellt in den rechtfertigenden Zuspruch Gottes und gestaltet die Übernahme von Verantwortung aus einem bleibenden Eingebettetsein in den erhaltenen fundamentalen Zuspruch.198 Das Wissen um die eigene fundamentale Verletzlichkeit und die Eröffnung der Gestaltungsräume leiblicher Selbstbezüge in Anknüpfung an fremde Stiftungsereignisse unterstreicht zum anderen die Notwendigkeit, immer wieder neu dagegen zu opponieren, die Anwendung von Zwang vorschnell zu akzeptieren. Gerade die stark ansteigenden Zahlen im Bereich psychischer Erkrankungen, aber ebenso der Anstieg der Unterbringungszahlen machen deutlich, dass es notwendig ist, über beides nachzudenken: Zuallererst, wie der therapeutische Umgang mit psychischer Krankheit in den psychiatrischen Kliniken so gestaltet werden kann, dass die Anwendung von Zwang aktiv zu vermeiden versucht wird. Diesem Grundsatz folgend sind in den letzten Jahren bereits einige Anstrengungen unternommen worden, die evaluiert und weiterentwickelt werden müssen. Zugleich ist es aber notwendig, die prozeduralen Voraussetzungen der Anwendung von Zwang als begrenzte ultima ratio zu konturieren. Die Anwendung von Zwang als begrenzte ultima ratio zu verstehen, bedeutet – wie bereits angeführt – erstens, dass Behandlungen gegen den Willen des Patienten keine Handlungen sind, die grundsätzlich legitimiert und empfohlen werden können. Sie sind vielmehr zu vermeiden und dürfen nicht zu einer Minderung oder Aufweichung des absoluten Vorrangs der Einwilligung des psychisch kranken Patienten in die jeweilige Behandlung führen.199 Des Weiteren kann die Legitimität und Verantwortbarkeit der Anwendung von Zwang immer nur in ihrem konkreten kontextuellen Zusammenhang unter Berücksichtigung der spezifischen Situation der untergebrachten Person erörtert werden. Die jeweils durchgeführte Maßnahme muss sich daran messen lassen, inwiefern die Betroffenen, unabhängig von ihren aktuell und konkret gezeigten Fähigkeiten, als Anspruchsträger gleicher Rechte betrachtet werden. Die Anwendung von Zwang als begrenzte ultima ratio zu verstehen bedeutet dann zweitens, dass vorher zunächst einmal alle auf Freiwilligkeit zielenden Maßnahmen zu ergreifen sind. Für die Unterbringung nach dem Betreuungsrecht hat der Gesetzgeber auch vorgeschrieben, dass die Aufklärung der betroffenen Person entsprechend einfühlsam sein und darauf abzielen muss, dass ein Vertrauensverhältnis zwischen dem behandelnden Personal und dem Untergebrachten aufzubauen ist. Die Umsetzung dieser Vorgaben wird aber nur möglich sein, wenn zugleich die Ressourcen angepasst werden, die für die Um198 

Dieser Gedanke wird in Kapitel 8.2 als Kopplungsfigur zwischen einer responsiv-fundierten Anerkennung leiblicher Selbstbezüglichkeit und der von Bonhoeffer entfalteten Figur der Wegbereitung entwickelt. 199 Hell: Zur Problematik von Richtlinien, 91.

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III. Teil: Gestaltungslinien im Umgang mit Zwang

setzung notwendig sind. Das ist umso bedeutender, als sich nur so die Möglichkeit bietet, rechtlich gesprochen einen bedeutenden Grundrechtseingriff und ethisch gesprochen die massive Widerfahrnis von Grausamkeit zu verhindern. Vor diesem Hintergrund kommt der aktiven Beteiligung der Betroffenen an der Entscheidungsfindung normativ eine elementare Bedeutung zu. Zugleich scheint es aber gerade an dieser Stelle besonders große Defizite zu geben. Entscheidend ist, dass in der Entscheidungsfindung neben der ärztlichen Beschreibung der vorliegenden funktionalen Dysfunktion (disease) die Bedeutung der Störung für den subjektiven Umgang mit der Störung (illness) sowie den vermeintlichen und tatsächlichen sozialen Folgen (sickness) Platz findet. Gerade in psychiatrischen Kontexten kommt es häufig vor, dass der Arzt im Zuge des Informierens über notwendige Behandlungsschritte redet, ohne dass diese mit der Eigenwahrnehmung des Patienten übereinstimmen. 200 Das Wahrnehmen der Deutungsstrukturen der Krankheit seitens des Patienten, seine Ängste und Sorgen und sein Erleben der Krankheit sind wesentliche Parameter einer angemessenen Aufklärung. Das bedeutet drittens, dass auch über alternative Modelle der Aufklärung nachgedacht werden muss. Infolgedessen muss sich auch in der Gestaltung der Aufklärungsgespräche erweisen, dass autonome Selbstbestimmung nicht mit dem Eintreten einer psychischen Krankheit endet. Das hat dann auch zur Konsequenz, dass darüber nachzudenken ist, inwiefern die Standardmodelle der Arzt-Patienten-Beziehungen wie der ‚Informed Consent‘ den besonderen Anforderungen der Entscheidungsfindung in psychiatrischen Kontexten angepasst werden können.201 Über die Jahre haben sich nicht nur die Anforderungen an die Umsetzung der Aufklärung verändert und damit auch das, was unter einem ‚Consent‘ zu verstehen ist, 202 sondern es sind auch alternative Modelle entstanden wie beispielsweise das sogenannte ‚shared decision making‘. 203 Ziel ist es, den Patienten umfassender in die Entscheidungsfindung zu integrieren, als dies in den klassischen Informed-Consent-Modellen der Fall ist. 204 Im sog. „Salzburg Statement on Shared Decision Making“ haben führende ‚Stakeholder‘ aus 18 verschiedenen Ländern einen prozeduralen Anforderungskatalog erarbeitet, wie ein Entscheidungsfindungsprozess gestaltet sein könnte, um die Patienten und ihre Deutungen der funktionalen Dysfunktionen ebenso zu integrieren wie 200 Siehe, 201 

135.

Smolka/Klimitz/Scheuring/Fähndrich, Zwangsmaßnahmen, 894. Vgl. Appelbaum & Gutheil (2007): Clinical Handbook of Psychiatry & the Law, 126–

202  Vgl. Fennell (2015): Treatment Without Consent: Law, Psychiatry and the Treatment of Mentally Disorderd People since 1845. 203  Vgl. Hamann, et al. (2003): Shared decision making in psychiatry; Krones (2009): Pa­ tientenwünsche versus Indikation? Überlegungen zum Shared decision making auf der Mikro- Meso- und Makroebene des Gesundheitssystems 204  Vgl. Barry & Edgman-Levitan (2012): Shared Decision Making — The Pinnacle of Patient-Centered Care.

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ein belastbares Vertrauen zwischen dem klinischen Personal und den Patienten zu schaffen. 205 Entscheidend ist zunächst einmal: Die angestoßene Debatte um die Gestaltung der ärztlichen Aufklärung macht deutlich, dass es einen großen Spielraum für den Umgang mit den Ansprüchen leiblicher Selbstbezüge gibt, die sich selbst zum Teil oder ganz verloren haben. An dieser Stelle weiter aktiv an der Umsetzung dieser Prozesse auch in der psychiatrischen Klinik zu forschen, ist eine der wesentlichen Aufgaben der psychiatrischen Medizinethik und könnte eine nicht unwesentliche Rolle in der aktiven Vermeidung der Anwendung von Zwang spielen. Viertens hat sich in der Auseinandersetzung mit den rechtlichen Vorgaben zur Anwendung von Zwang gezeigt, dass Letztere in vielen Fällen vermieden werden könnte, wenn es fundiertere Kenntnis darüber gäbe, wie die Betroffenen, aktuell nicht entscheidungsfähige Personen, in bestimmten Situationen entscheiden würden. Es ist eine intensive Debatte darüber notwendig, inwiefern nicht auch eine Vorsorgevollmacht oder Patientenverfügung für psychiatrische Kontexte möglich oder gar nötig wäre. 206 Obwohl seit 2009 das Patientenvorsorgegesetz vorliegt, haben immer noch erstaunlich viele Menschen keinerlei Patientenverfügung oder Vorsorgevollmacht eingerichtet. Das trifft erst recht zu, wenn es um die sogenannte psychiatrische Vorsorgevollmacht geht. Es ist eine der vorrangigen Aufgaben zur aktiven Vermeidung der Anwendung von Zwang, zunächst einmal ein größeres Bewusstsein für das Problem zu schaffen. 207 Auch wenn psychiatrische Patientenverfügungen die Anwendung von Zwang nicht komplett werden verhindern können, geben sie einen eminent wichtigen Einblick in die inneren Deutungsmuster der Patienten, können wichtige Vertrauenspersonen benennen und Einsichten über mögliche Präferenzen der Behandlungswahl geben.208 Eine praktische Umsetzung wird aber nur dann möglich sein, wenn es konkrete Beratungsstellen gibt, die eng mit den Praxen der täglichen Versorgung zusammenarbeiten. Hier entsprechende Modelle der 205 Vgl.

(2011): Salzburg statement on shared decision making. Vgl. Radenbach & Falkai (2012): Probleme der Gesundheitsversorgung – Erfahrungen aus dem ärztlichen Alltag: Psychiatrie und Psychotherapie. 207  Dies ist nicht zuletzt auch deswegen so entscheidend, weil der Vorsorgevollmacht eine große Bedeutung in dem Sinne zukommen könnte, Auskunft über die individuellen Deutungsmuster und die dahinterliegenden Vorstellungen des guten Lebens zu geben. Vgl. beispielsweise mit Blick auf muslimische Deutungsmuster: Ilkilic (2016): Patientenverfügungen muslimischer Patienten in einer wertpluralen Gesellschaft. 208  Eine sinnvolle Ergänzung zu der psychiatrischen Patientenverfügung könnte auch eine sog. spirituelle Patientenverfügung bieten, wie sie aktuell in palliativ-medizinischen Kontexten diskutiert wird. Vgl. Rest (2014): Was mir wichtig ist, wenn ich nicht mehr selbst entscheiden kann… Die spirituelle Verfügung. ‚Spirituell‘ bezieht sich dabei nicht vorrangig auf religiöse Fragen, sondern versteht sich als ein Verweis darauf, dass in einer klassischen Patientenverfügung nur wenig Raum für deliberative Muster, Wertvorstellungen und Wünsche einer Person Platz bleibt. Gerade ein solch umfassendere Bild wäre für die Willensermittlung in psychiatrischen Kontexten von großem Wert. 206 

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III. Teil: Gestaltungslinien im Umgang mit Zwang

aktiven Vorsorgemöglichkeit zu erarbeiten und zugleich die wechselseitigen Rückwirkungen zu beobachten, wird eine der vorrangigen Aufgaben der ethischen und rechtlichen Forschung sein. Fünftens haben sowohl das BVerfG als auch der BGH betont, dass das Ziel der Anwendung von Zwang entweder das Vorliegen einer massiven Selbstschädigung oder aber eine massive Gefährdung Dritter sein muss. Ebenso wurde ausgeführt, dass eine Zwangsmaßnahme zur zwangsweisen Freiheitsentziehung sowohl bei einer Selbstgefährdung als auch bei einer Fremdgefährdung Anwendung finden dürfe, eine Zwangsbehandlung allerdings nur bei einer vorliegenden Selbstgefährdung. Begründet wird dies damit, dass das Ziel der Vermeidung von Schäden Dritter auch dadurch erreicht werden könne, dass ‚lediglich‘ ein Freiheitsentzug stattfindet. Die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer hat diese Argumentation aufgegriffen und ausgeführt, dass eine Zwangsbehandlung grundsätzlich eine tiefere Eingriffstiefe aufweist als die Anwendung einer Zwangsmaßnahme. 209 Das vorgebrachte Argument, dass eine Zwangsbehandlung eine grundsätzlich massivere Eingriffstiefe als eine auf die Sicherung bedachte Zwangsmaßnahme aufweist und eine Zwangsmaßnahme noch keinen Eingriff in die körperliche Integrität darstellt, droht zu verkennen, welch massiven Eingriff, gerade auch in die körperliche Integrität, die Anwendung einer Fixierung oder Isolierung, erst recht über einen längeren Zeitraum, bedeutet. Nicht thematisiert wird zudem, dass eine solche Rechtspraxis zu einer dauerhaften Unterbringung des Betroffenen führen kann. Eine solche Praxis der dauerhaften Anwendung von Zwang wäre aber gerade keine ultima ratio mehr, sondern würde die standardmäßige Anwendung von Zwang bedeuten. Daher wäre zu fragen, ob es nicht eine Schwelle gibt, an der ein Freiheitsentzug so massiv, weil so dauerhaft manifest, wird, dass eine Zwangsbehandlung die einzige Möglichkeit wäre, einen Betroffenen nicht für den Rest seines Lebens freiheitsentziehenden Maßnahmen unterwerfen zu müssen. Im Umgang mit solchen Fällen wäre dann zu prüfen, ab wann die angenommene Fremdgefährdung in eine Selbstgefährdung umschlägt und die Einrichtung einer Betreuung und eine Unterbringung nach dem Betreuungsrecht ein möglicher Weg wäre, die Person vor der dauerhaften Anwendung von Zwang zu bewahren. Kommt es sechstens zu der Situation, dass sich die Anwendung von Zwang als begrenzte ultima ratio nicht mehr vermeiden lässt, sei es, weil eine massive Selbstgefährdung oder eine massive Fremdgefährdung droht, ist es unbedingte Voraussetzung, dass die angewendeten Maßnahmen dem anerkannten Standard der jeweiligen Fachgebiete entsprechen. Grundsätzlich inakzeptabel sind 209  Zentrale

Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (2013): Stellungnahme der Zentralen Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten (Zentrale Ethikkommission) bei der Bundesärztekammer: Zwangsbehandlung bei psychischen Erkrankungen, A1337.

10. Ethische Perspektiven im Umgang mit Zwang

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solche Handlungen, die unnötig schmerzhaft sind oder die Freiheit des Patienten unnötig einschränken. Darüber hinaus muss eine jede Zwangsmaßnahme einem klaren Handlungskonzept folgen. Ein solches Handlungskonzept, muss – und das ist bisher in den ethischen Diskussionen noch recht wenig reflektiert – nicht nur medizinisch evaluiert werden, sondern ebenso gradualistisch aufgebaut sein. 210 Wenn die Rechtfertigung für die Anwendung von Zwang die Wiedergewinnung der Selbstbezüglichkeit eines Selbstbezuges ist, dann darf in der Wahl der medizinischen Maßnahme nicht einfach eine medizinische Routine angewendet werden, sondern es muss bereits im Vorfeld klar markiert und dann auch kommuniziert werden, an welchen Stellen innerhalb der Anwendung von Zwang eine erneute Gewinnung des Einverständnisses möglich ist. Das setzt voraus, dass das Vorgehen bei der Anwendung von Zwang von allen beteiligten Personen zielgerichtet, koordiniert und entschieden erfolgt. 211 Sollte die Anwendung von Zwang wirklich unumgänglich sein, ist darauf zu achten, dass eine sichere Umgebung geschaffen wird, in der eine Gefährdung von Patient und Personal weitestgehend ausgeschlossen ist. Außerdem muss die Weiterbildung (z.B. Deeskalations- und Festhaltetechniken, Aggressionsmanagement) ärztlicher und pflegerischer Fachpersonen ebenso gewährleistet sein, nicht zuletzt – und auch das ist angesichts der Ausstattung der psychiatrischen Krankenhäuser keine Selbstverständlichkeit – müssen räumliche Voraussetzungen vorhanden sein, die eine Bloßstellung oder gar Demütigung der betroffenen Person vermeiden. 212 Siebtens ist die in den rechtlichen Diskursen vorgebrachte Dokumenta­ tionspflicht für eine jede Anwendung von Zwang auch aus ethischer Perspektive unbedingt erforderlich. Eine Dokumentationspflicht für die klinischen Handlungsvollzüge ist einerseits eine wichtige prozedurale Voraussetzung für die Anwendung von Zwang, auch wenn geklärt werden muss, wie eine sichere Speicherung der hochsensiblen Daten erfolgen kann. Dies betrifft auch die Frage, ob die Dokumentation durch eine Videoüberwachung unterstützt werden sollte. Scheint dies in vielen psychiatrischen Kliniken üblich, stellt eine 210  Eine durchaus vielversprechende Möglichkeit könnte in dem sog. Vier-Stufen-Immobilisationsprogramm liegen, in dessen Rahmen versucht wird, auf mechanische Fixierungen weitestgehend zu verzichten und in Krisensituationen alleine mit Körperhaltetechniken zu arbeiten. Dabei wird je nach Eskalationsgrad zunächst die betroffene Person im Stehen festgehalten. Führt diese Maßnahme zu keiner Deeskalation der Situation folgt als nächstes die Ruhigstellung im Sitzen und dann im Liegen. Erst wenn all diese Maßnahmen, während denen beständig weiter versucht wird, die Person zu beruhigen, nicht greifen, wird eine mechanische Fixierung angewendet. Vgl. Steinert (2011): Nach 200 Jahren Psychiatrie: Sind Fixierungen in Deutschland unvermeidlich? & Wesuls, et al. (2013): Revolutionierung der Fixierungspraxis? Das Vier-Stufen-Immobilisationskonzept (4–SIK)®. 211  Vgl. Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (2015): Zwangsmassnahmen in der Medizin. 212  Vgl. Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (2015): Zwangsmassnahmen in der Medizin, 23.

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III. Teil: Gestaltungslinien im Umgang mit Zwang

solche Überwachung rechtlich eine Grauzone dar. 213 Aus ethischer Perspektive ist sie deswegen problematisch, da sie eigentlich voraussetzt, dass eine freiwillige Zustimmung erfolgt ist, welche aber bei nicht einwilligungsfähigen Personen eben nicht erfolgen kann. Ob der Vorschlag, die Daten der Videoüberwachung grundsätzlich nicht zu speichern, einen Kompromiss darstellen kann, hängt entscheidend davon ab, was das konkrete Ziel einer solchen Überwachung ist. Entsprechend ist zu bedenken, dass eine Videoüberwachung innerhalb einer geschlossenen Einrichtung insofern einen sehr massiven Eingriff in die konkreten Verwirklichungsräume einer nicht einwilligungsfähigen Person darstellt, als diese keine Möglichkeit hat, sich zu der Überwachung zu verhalten und sich gegen eine Videoüberwachung zu entscheiden.214 Von daher lässt sich eine grundsätzliche Videoüberwachung in psychiatrischen Einrichtungen nicht rechtfertigen. Der einzige Fall, in dem die Anwendung einer Videoüberwachung ethisch zu rechtfertigen wäre, läge dann vor, wenn mit der Anwendung einer Videoüberwachung in einem konkreten Fall die Anwendung beispielsweise einer Fixierung vermieden werden könnte. Dass dies weniger invasiv ist, kann nicht pauschal vorausgesetzt werden, sondern müsste in dem jeweiligen Einzelfall geprüft, transparent dokumentiert und verantwortet werden. Konkret bedeutet das dann aber auch, dass die Videoüberwachung in einem solchen Fall bereits als eine (im besten Fall weniger invasive) Zwangsmaßnahme verstanden wird, die den gleichen prozeduralen Vorgaben gerecht werden muss, wie das für andere Zwangsmaßnahmen der Fall ist. Achtens bedarf es konkreter Konzepte und Standards, wie die Entscheidungen der Gerichte und vor allem der Betreuer im jeweiligen Einzelfall evaluiert werden können. Auch dieser Punkt ist bislang in der Diskussion weitgehend außer Acht gelassen worden. Die Anerkennungsmechanismen des Rechts sind aber mitnichten einfach klar, sondern müssen ebenso beständig hinterfragt werden, inwiefern das in ihnen anerkannte Prozedere weiter eine Gestaltung von Anerkennungsräumen ermöglicht, in der jeder fundamentale Anspruch auf Anerkennung auch Gehör findet. Noch problematicher ist die Praxis, dass aktuell 213  So

ist nach §  4 Abs.  1 Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten nur dann zulässig, wenn es eine konkrete gesetzliche Grundlage gibt oder aber der Betroffene ausdrücklich in die Videoüberwachung eingewilligt hat. Zugleich ergibt sich dann die Schwierigkeit, dass es sich bei den Patienten, die gegen ihren Willen behandelt werden sollen, per definitionem um nicht einwilligungsfähige Personen handelt. Vgl. zu pro und kontra auch: Frank (2013): Pro. Videoüberwachung in der Psychiatrie – Pro & Kontra; Hoene (2013): Kontra. Videoüberwachung in der Psychiatrie – Pro & Kontra. 214  Aus diesem Grund wurde in NRW die Videoüberwachung in psychiatrischen Einrichtungen verboten. Diese war im Jahre 2009 per Erlass durch den Sozialminister zunächst mit der Begründung eingeführt worden, dass durch die Videoüberwachung die Sicherheit generell erhöht und Personal eingespart werden könnte. Nach intensiven Debatten wurde dann im Jahre 2011 ein entsprechender Passus in das P ­ sychKG NW eingefügt, der die Videoüberwachung generell verbietet.

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Entscheidungen der Betreuer kaum evaluiert werden. Sie verdienten nicht zuletzt deswegen eine genaue ethische Betrachtung, weil die Betreuer ja gerade dafür eingesetzt werden, die Belange der Betreuten zu schützen und aktiv zu vertreten. Zugleich ist aber die Einsetzung einer Betreuung an sich schon ein massiver Eingriff in die Grundrechte einer Person, die sich zudem oftmals ihren Betreuer nicht unbedingt selbst aussucht. Vor dem Hintergrund, dass der Einfluss auf die Entscheidung der Anwendung von Zwang groß ist, bedarf es dringend sowohl klarerer Qualifikationskriterien für die Betreuer als auch für über die freiwilligen Selbstkontrollen, z.B. durch den Bundesverband der Betreuer, hinausgehende Evaluationspraktiken. Gerade weil die Betreuer im Falle einer Unterbringung nach dem Betreuungsrecht nicht nur Ansprechpartner für die Betreuten sind, sondern gleichzeitig über die Anwendung von Zwang mit entscheiden müssen, wäre darüber nachzudenken, für den Fall einer psychiatrischen Unterbringung über ein verpflichtendes Angebot einer Vertrauensperson nachzudenken und so ein Kopplungselement zwischen fundamentaler Anerkennung und den Grenzen wie Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts zu schaffen. Das könnte nicht nur dazu dienen, dass Betroffenen die Möglichkeit eines unabhängigen Ansprechpartners gegeben wird, sondern ebenso könnten solche Vertrauenspersonen den Betroffenen eine Stimme geben, um etwa Missstände oder Unrechtserfahrungen anzusprechen. Damit ein solches Modell umsetzbar wäre, bräuchte es selbstverständlich eine entsprechende rechtliche Legitimierung. Neuntens erfordert ein stellvertretendes Handeln, dass die Betroffenen die Möglichkeit erhalten, über ihre Erlebnisse zu berichten, sofern sie dieses wünschen. Die bisher vorliegenden empirischen Untersuchungen zeigen an, dass es einen großen Bedarf zu geben scheint.215 Jede Anwendung von Zwang bedarf einer – sofern vom Patienten zugelassen – Nachbesprechung, in der die Ärzte einerseits ihre Beweggründe darlegen und andererseits der Patient die Möglichkeit hat, sein Erleben und eventuell auch seinen Ärger über den ungerechtfertigten Eingriff zu äußern. Ein solcher Dialog nimmt auch ernst, dass die Behandlung gegen den Willen des Patienten das Risiko des Scheiterns, oder theologisch gesprochen: des Die-Schuld-auf-sich-Nehmens gerade angesichts der zugesprochenen Hoffnung216 , beinhaltet. Der Versuch, den Dialog nach einem solchen Eingriff fortzuführen, der bei einer negativen Bewertung seitens des Patienten auch durch entzogenes Vertrauen gefährdet sein kann, ist damit auch ein neues Zugehen auf die Person, zugleich aber die wichtigere Rückmeldung, inwiefern die Anwendung von Zwang überhaupt das gesteckte Ziel, neue Anknüpfungsmöglichkeiten für die Gestaltung eines praktischen Selbstbezugs zu schaffen, de facto erreichen konnte. 215  216 

Vgl. Kapitel 3.2. Vgl. Bonhoeffer (2006): Ethik & ausführlich: Kapitel 8.2.

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III. Teil: Gestaltungslinien im Umgang mit Zwang

10.3 Ausblick: Zum Verhältnis von Anerkennung und Rechtfertigung Das Selbst in seinem Selbstbezug steht nicht nur auf unsicherem Boden und findet sich insofern zwischen Vertrauen und Verdacht angesiedelt vor, sondern bleibt zugleich darauf angewiesen, dass es in den Prozessen intersubjektiver Anerkennung als Jemand bezeugt wird und sich selbst als Jemand erweist, der sein Wort hält. Gerade weil sich Selbstbezüge erst von einem Antworten auf einen fremden Anspruch her entfalten und sich damit jeder Selbstbezug zugleich als ein grundlegend pathischer und in diesem Sinne vulnerabler exponiert, wurde im Lauf der Untersuchung deutlich, inwiefern Figurationen der Gabe, der Stellvertretung und der Fürsorge eine entsprechend fundamentale Bedeutung zur Erfassung und Beschreibung dieser Kopplung zukommt. Zugleich ist in der Auseinandersetzung mit diesen Figurationen deutlich geworden, dass sich ein produktives Verständnis erst ausgehend von der Spannung theologischer und nicht-theologischer Interpretationen von Gabe, Stellvertretung und Fürsorge ergibt. In einem Ausblick wird nun der Ertrag aus diesen Untersuchungen an den binnen-theologischen Diskurs zurückgebunden. Beginnt man mit den klassischen theologisch-anthropologischen Deutungen, kann konstatiert werden dass der Anerkennung eines leiblichen Selbstbezugs als Person ein externer, stiftender Zuspruch vorausgeht und der theologischen Rede vom Menschen als Person damit de facto eine (aus dem Gottesbezug sich ergebende) anerkennungstheoretische Fundierung inhärent ist, die Luther in der rechtfertigungstheologischen Formel fides facit personam217 entsprechend markiert hat. Zugleich bietet die Refiguration von anerkennungstheoretischen Aussagen als rechtfertigungstheologische Denkfiguren durchaus Sprengstoff und gibt Anlass zu mitunter konträren Interpretationen. Während die einen in Auseinandersetzung mit Luther betonen, dass der von Gott gerechtfertigte sündige Mensch nicht nur ein Empfänger der ermöglichenden Gnade Gottes ist, sondern die empfangene Gnade auch an seine Mitmenschen weitergeben und gerade darin Gott Ehre erweisen soll, 218 sehen die anderen die Gefahr, dass damit die Differenz zwischen Gott und Mensch dermaßen gering gedacht würde, dass schlussendlich das sola gratia ebenso wie das sola fide verhandelbar erscheinen.219 Folglich betont beispielsweise Ingolf Dalferth: „Man wird Christ nicht dadurch, dass man etwas empfängt, sondern allein da217 

Vgl. Luther (1535/38): WA 39, I. Disputationen, 282,7. Vgl. Holm (2006): Gabe und Geben bei Luther. Das Verhältnis zwischen Reziprozität und reformatorischer Rechtfertigungslehre, 239. Ebenso: Saarinen (2008): Partizipation als Gabe. Zwanzig Jahre neue finnische Lutherforschung & Saarinen (2011): Theology of Giving as a Comprehensive Lutheran Theology. 219  Vgl. Ebeling (1989): 125–140. Ebenso mit besonderer Betonung des forensischen Charakters der Rechtfertigung: Jüngel (1998): Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens, 175 f. 218 

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durch, was man von Gott empfängt: Gottes Gabe, nicht das Empfangen dieser Gabe macht Sünder zu Christen.“220 Doch zugleich lassen sich in den Arbeiten Luthers – etwa in Luthers Interpretationen zu Galater 2,20221 – Hinweise auf die unaufhebbare Kopplung von forensischer und effektiver Rechtfertigung finden. Zugespitzt formuliert: Die Widerfahrnis der Vulnerabilität menschlicher Vollzüge lässt eine rein forensische Rede von Rechtfertigung nicht zu. Denn ein Verständnis von Rechtfertigung, welches allein auf die (unbedingt notwendige) Dimension des Urteilsspruchs schaut, droht zu verkennen, dass das Rechtfertigungsereignis, dass die befreiende Kraft von Kreuz und Auferstehung eine lebensverändernde Kraft nicht nur allgemein für den Menschen, sondern für jeden einzelnen Menschen in seine Verwirklichungskontexte ausstrahlt. Die Anerkennung eines Menschen als Person, so lässt sich in Anknüpfung an die Erörterungen zum Theorem der Gabe theologisch formulieren, 222 erweist sich als abhängig von einem Stiftungsakt. Zugleich hat sich aber in den letzten Jahren eine breite Debatte entsponnen, wie genau das Verhältnis von ermöglichender Gabe und Wechselseitigkeit gedacht werden kann. 223 Zur Beurteilung dieser Frage kann vor dem Hintergrund, dass Gabe gerade in ihrem unterbrechenden Charakter nicht ohne Elemente der Wechselseitigkeit zu denken ist, es aber entscheidend darauf ankommt, die Differenz zwischen den Ebenen von fundierend-asymmetrischer Responsivität und dem Anspruch auf eine symmetrische Aushandlung von Geltungsansprüchen zu wahren, 224 bezweifelt werden, dass es sich bei dem Verhältnis von Gabe und Wechselseitigkeit wirklich um Alternativen handelt. Im Rahmen der bisherigen Erörterung wurde deutlich, dass der außerordentliche Anspruch von Fremdem, der sich in den Figurationen von Zwischenleiblichkeit eröffnet, einer kontinuierlichen Rückbindung an die politischen Ordnungen bedarf, welche er durchkreuzt. Zudem erfordert diese Rückbindung, dass bezeugt und gewürdigt wird, dass jeder Selbstbezug von Anderen her und mit Anderen radikal in Frage steht und zugesprochene Rechte abhängig sind von den praktischen Vollzügen politischer Gestaltung. Daraus ergeben sich auch signifikante Konsequenzen für eine theologische Anthropologie. Einerseits kann all denjenigen Lutherinter220 Dalferth (2009): Mere Passive. Die Passivität der Gabe bei Luther, 46 [Hervorhebungen im Original]. 221  Vgl. Luther (1531): WA 40, I. 2. Galatervorlesung (cap 1–4) 1531. 222  Vgl. Kapitel 7.1. 223  Vgl. hierzu auch: Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (2015): Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017, Härle (1998): Zur Gegenwartsbedeutung der „Rechtfertigungs“-Lehre. Eine Problemskizze, Jüngel (1998): Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens, Holm (2006): Gabe und Geben bei Luther. Das Verhältnis zwischen Reziprozität und reformatorischer Rechtfertigungslehre & Holm (2011): Rechtfertigung und Gabe. Ein Beitrag zur „Resozialisierung“ der Rechtfertigungslehre. 224  Vgl. Kapitel 7.1.

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preten rechtgegeben werden, die betonen, dass es Gottes alleinige Gabe ist, die den Menschen aus der zerstörenden Macht der Sünde herausholt und ihm damit in seiner fundamentalen Vulnerabilität begegnet. Diese rechtfertigende Gabe Gottes kann insofern als eine subjektivierende und bleibend asymmetrische verstanden werden, als dass sie allererst die Möglichkeit zu einem Leben in Freiheit schafft. 225 Andererseits ist dem menschlichen Handeln mit dem Empfang der rechtfertigenden Gabe aber zugleich ein Verantwortungsauftrag eingeschrieben: Aus der empfangenen Gabe Gottes heraus so zu leben, dass die Widerfahrnis der Rechtfertigung in den Gestaltungsweisen der Weltwirklichkeit das treibende movens bleibt. In den Riss zu treten, an die Stelle eines Anderen zu treten, 226 bedeutet, ihm in seiner konkreten Not, in seinem konkreten Bedrohtsein zu begegnen, gerade weil man sich selbst in seiner Vulnerabilität – rechtfertigungstheologisch formuliert: grundlegend durch Gott in Christus – anerkannt weiß. 227 Die protestantische Theologie darf sich an dieser Stelle von den nicht-theologischen Diskursen daran erinnern lassen, dass keine Notwendigkeit besteht, die rechtfertigungstheologischen Aussagen mit Eigentlichkeitsund Uneigentlichkeitsvorwürfen ad absurdum zu führen. Den theologischen Überlegungen kommt hier vielmehr die wichtige Aufgabe zu, herauszustellen, dass sich von der bleibenden Asymmetrie der Rechtfertigung des Menschen durch Gott die Verantwortung aufdrängt, die Gestaltungsformen menschlicher Vollzüge so zu gestalten, dass sich ein gegebenes Wort bewährt und jedes menschliche Wesen gerade in seiner Vulnerabilität als Jemand anerkannt wird. Die eröffnende Gabe der Rechtfertigung und die Aufgabe der Wegbereitung lassen sich allerdings – auch das lässt sich aus den skizzierten Überlegungen zur Gabe für das theologische Verständnis von Rechtfertigung lernen – nicht so verstehen, dass hier eine rein serielle zeitliche und räumliche Ordnung vollzogen wäre:228 Vielmehr, so kann in Anknüpfung an die Erörterungen zu JeanLuc Nancy, Bernhard Waldenfels und Jaques Rancière festgehalten werden, 229 handelt es sich bei der Rechtfertigung des Menschen um ein Schwellenereignis: Gerade weil Gott den Menschen in Christus rechtfertigt, ermöglicht sich ein neuer Stand und eröffnet sich eine neue Ordnungsrelation, von der her sich in

225 

Vgl. Bonhoeffer (2006): Ethik, 137. Vgl. Kapitel 7.2. 227  So auch: Hoffmann (2013): Skizzen zu einer Theologie der Gabe. Rechtfertigung – Opfer – Eucharistie – Gottes- und Nächstenliebe, 310. 228  So zum Beispiel bei Dalferth. Vgl. Dalferth (2007): Alles umsonst. Zur Kunst des Schenkens und den Grenzen der Gabe, Dalferth (2009): Mere Passive. Die Passivität der Gabe bei Luther. Dalferth betont, dass der Mensch sich immer nur zeitlich nachgeordnet zu dem Ereignis seiner Rechtfertigung verhalten kann. Die virulente Frage ist dabei nur, ob der Rechtfertigung mit einer solch strikt seriellen Einordnung nicht gerade ihre überschießende, die Ordnungsstrukturen der Sünde immer wieder neu durchbrechende Kraft genommen würde. 229  Vgl. Kapitel 6.1, 6.2 & 6.3. 226 

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menschliche Vollzüge die zu bezeugende Hoffnung einschreibt, dass die Widerfahrnis von Prekarität nicht das letzte Wort haben wird. Wie die Auseinandersetzung mit dem Phänomen psychischer Devianz ergab, muss sich die „Wegbereitung“230 gerade daran erweisen, inwiefern sie imstande ist, Vulnerabilität nicht alleine in prinzipielle Gleichheitsansprüche zu überführen, sondern die Stimmen der besonders Vulnerablen praktisch hörbar und sagbar zu halten. In jüngster Zeit waren es besonders die Arbeiten von Veronika Hoffmann, die gezeigt haben, welche produktiven Anknüpfungsmöglichkeiten sich vom Anerkennungsbegriff her für das theologische Nachdenken über Rechtfertigung bieten. 231 Hoffmann vollzieht die Kopplung von Anerkennungstheorie und Rechtfertigungstheologie über das Theorem der Gabe und schlägt entsprechend vor, die rechtfertigende Gabe Gottes weder als einen Akt der absoluten Einseitigkeit noch als einen Akt der gegenseitigen Wechselseitigkeit zu verstehen.232 Vielmehr sei es notwendig, die rechtfertigende Gabe Gottes als Gabe der Anerkennung zu denken. 233 Von Rechtfertigung als Gabe der Anerkennung zu sprechen, bedeutet für Hoffmann, dass Gott in dem Menschen mehr sieht, als dieser eigentlich ist und ihn somit verkennt. 234 Verkennung stellt auch ein wesentliches Element von Anerkennungsrelationen in den Arbeiten von Judith Butler, Thomas Bedorf und Burkhard Liebsch dar.235 Hoffmann interpretiert sie positiv und sieht die Verkennung durch Gott de facto als einen Akt der Bejahung des Menschen: Anders als der Mensch, so Hoffmann, der beständig in der Gefahr steht, den Anderen negativ zu verkennen, sieht Gott 230 

Vgl. Bonhoeffer (2006): Ethik, 137. Hoffmann (2006): Die Gabe der Anerkennung. Ein Beitrag zur Soteriologie aus der Perspektive des Werkes von Paul Ricœur, Hoffmann (2011): Rechtfertigung als Gabe der Anerkennung & Hoffmann (2013): Skizzen zu einer Theologie der Gabe. Rechtfertigung – Opfer – Eucharistie – Gottes- und Nächstenliebe. Siehe auch Kapitel 7.1. 232  Vgl. Hoffmann (2013): Skizzen zu einer Theologie der Gabe. Rechtfertigung – Opfer – Eucharistie – Gottes- und Nächstenliebe, 302. Das Problem der Rede von der Rechtfertigung als weder absolut einseitiges noch schlicht wechselseitiges Ereignis sieht Hoffmann darin, dass die totale Korrumpiertheit des Menschen ausschließt, dass er an seiner Erlösung in irgendeiner Weise ‚mitarbeitet‘. Im Umkehrschluss wäre es aber zu kurz gegriffen, wenn dem Empfänger der rechtfertigenden Gabe keinerlei Einfluss auf den Geber der Gabe zugestanden wird. Was Hoffmann damit zu Recht andeutet ist, dass die vermeintlich so eingängige Rede von einer selbstlosen Liebe Gottes, in der sich Gott dem Menschen offenbart, dann schwierig wird, wenn die konkrete Person gar keine Rolle mehr spielt. Vgl. hierzu auch: Beintker (2016): Über den Begriff der Liebe zu Gott. Mit anderen Worten: Wie soll eine Gemeinschaft mit Gott gedacht werden, wenn andererseits nicht ein Mindestmaß an Affizierbarkeit Gottes impliziert ist? Vgl. Hoffmann (2013): Skizzen zu einer Theologie der Gabe. Rechtfertigung – Opfer – Eucharistie – Gottes- und Nächstenliebe, 316. 233  Vgl. Hoffmann (2013): Skizzen zu einer Theologie der Gabe. Rechtfertigung – Opfer – Eucharistie – Gottes- und Nächstenliebe, 315. 234  Mit einem solchen Verständnis von Anerkennung nimmt Hoffmann zugleich eine positive Umwertung des Verkennungsbegriffs vor. Siehe hierzu auch Kapitel 5.4. 235  Vgl. Kapitel 5.3 & 6.5. 231  Vgl.

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den Menschen nicht als das an, was er ist, sondern was er von seinem rechtfertigenden Handeln her sein könnte. 236 Aus dieser im hoffmannschen Sinne verstandenen Verkennung des Menschen heraus findet sich der gerechtfertigte Mensch – Hoffmann bedient sich hier einer Symbolik von Paul Ricœur237 – in eine Logik der Überfülle gestellt und ist berufen, aus dieser Überfülle heraus, die menschlichen Lebens- und Kommunikationsvollzüge zu gestalten. 238 Jedoch drängt sich die Frage auf, ob Hoffmann mit ihrer Rede von Anerkennung nicht in die Gefahr gerät, die Prekarität von Anerkennungsprozessen nur noch unzureichend sichtbar machen zu können – etwa dann, wenn sie ausführt, dass durch die rechtfertigende Anerkennungsgabe Gottes ein soziales Band geknüpft wird, welches die einzelnen Individuen gemeinschaftlich verbindet. 239 Der Argumentationsgang dieser Arbeit und insbesondere die Auseinandersetzung mit den Prozessen der Stellvertretung hat demgegenüber deutlich gemacht, dass eine theologische Sozialethik Rechtfertigung nicht so denken darf, dass damit die Vulnerabilität leiblicher Selbstbezüge marginalisiert wird. Ganz im Gegenteil geht es gerade darum, den bleibenden Stachel des Rechtfertigungsereignisses zu bezeugen: Ein jeder leiblicher Selbstbezug und auch jede Form von Gemeinschaft hat ihren Beginn nicht bei sich selbst und bleibt gerade deswegen darauf angewiesen, in ihrer grundlegenden Vulnerabilität, die ständig auch im sozialen Band und in Stellvertretungsakten prekär bleibt, anerkannt und gewürdigt zu werden. Diese bleibende Prekarität – in der sich zugleich anzeigt, warum es nicht genügt, allein von einer effektiven Rechtfertigung zu reden – wird besonders dann deutlich, wenn es darum geht, stellvertretend für einen andern einzutreten, was sozialethisch in der Rede von einer vorrangigen Option für die Benachteiligten zum Ausdruck kommt. Sofern es zutrifft, dass das Phänomen der Stellvertretung zwischen Prozessen der Selbstverdopplung und einer Verdopplung des Anderen liegt, 240 impliziert jede Stellvertretung, dass es für beide, Vertretenden und Vertretenen, ein Spiel ohne doppelten Boden ist: ohne doppelten Boden, weil die Zuschreibung, wer an wessen Stelle tritt, eben nicht unumstößlich klar ist, sondern selbst auf dem Spiel steht und damit auch die Identität der beteiligten Personen. Aus diesem Grund kann die Stellvertretung sowie die 236  Vgl. Hoffmann (2013): Skizzen zu einer Theologie der Gabe. Rechtfertigung – Opfer – Eucharistie – Gottes- und Nächstenliebe, 324. Paul Tillich hat darauf verwiesen, dass Essenz, als Ausdruck dessen, was der Mensch in und durch Christus sein kann und Existenz als Ausdruck der vulnerablen Verfasstheit menschlicher Vollzüge in einem engen Kopplungsverhältnis stehen. Vgl. hierzu auch die Überlegungen zu den Arbeiten von Jean-Luc Nancy in Kapitel 6.1. 237  Vgl. Ricœur (2010): Interpretation des Strafmythos, 263. 238  Vgl. Hoffmann (2013): Skizzen zu einer Theologie der Gabe. Rechtfertigung – Opfer – Eucharistie – Gottes- und Nächstenliebe, 324. 239  Vgl. Hoffmann (2013): Skizzen zu einer Theologie der Gabe. Rechtfertigung – Opfer – Eucharistie – Gottes- und Nächstenliebe, 324. 240  Vgl. Kapitel 7.2.

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Sozialität – wenn die These zutreffend ist, dass sich in der Figur der Stellvertretung ein Grundmuster von Sozialität zeigt – als ein Prozess bezeichnet werden, bei dem nicht einfach ein serieller Ortswechsel vollzogen wird, da dies implizieren würde, dass das Treten an die Stelle eines Anderen ein einfach reversibler Prozess wäre, es also möglich wäre nach der Übernahme der Stelle eines Anderen, den Übertritt an die Stelle eines Anderen wieder rückgängig zu machen und ohne Weiteres an seinen vorherigen Ort zurückzukehren. Insofern bleibt auch das soziale Band, bleibt auch Gemeinschaft stets prekär, sprich: in ihrer Stiftung und in ihrem Vollzug herausgefordert. Die rechtfertigungstheologische Antwort auf die Widerfahrnis der Prekarität leiblicher Selbstbezüge und Stellvertretungsereignisse wird deshalb weder sein können, dass sie das Lob einer wie auch immer gearteten Gemeinschaft anstimmt, noch dass sie das Rechtfertigungsereignis als so abstrakt oder enthoben denkt, dass von ihm keine die Gestaltungsmodi gleichermaßen stimulierende wie unterbrechende Kraft mehr ausgeht. Gerade an dem Phänomen psychischer Devianz wird sichtbar, wie sehr auch die Orientierung an einer vorrangigen Option für die Benachteiligten in einen Akt der Gewalt umschlagen kann und daher darauf angewiesen bleibt, immer wieder neu zu fragen, inwiefern sie einen aktiven Beitrag zur „Wegbereitung“241 der sich von der Gabe der Rechtfertigung her entzündenden Hoffnung darstellt.

241 

Vgl.: Bonhoeffer (2006): Ethik, 137.

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Sachregister Abwehrrecht 232, 245, 269 Achtung 5 f., 38, 60, 75, 104, 120 ff., 139, 172, 191, 206, 238, 252–256, 270– 273 Ambivalenz 13, 23, 88, 112 f., 117, 119, 121, 125 ff., 131 f., 138, 145, 150, 165, 192, 199 ff., 211, 215 f., 221, 223, 226 f., 237, 243, 247, 260 f., 270, 272, 274, 280, 304 Anerkennung – gewürdigte 172–177 – intersubjektive 7 ff., 11–16, 44, 61, 63– 66, 72–78, 83, 96, 98–132, 140–143, 146, 150 f., 156, 162, 174, 178, 200, 203–206, 208, 210, 222, 267, 305 f., 320 Anknüpfungsmöglichkeit 7, 13, 62, 133, 164, 170 f., 174, 185, 201, 212, 254, 305, 319, 323 Ansätze – Bottom-Up 10, 20–25, 28, 31, 36 – Top-Down 10, 20, 25–28, 31, 36 Anspruch 8 f., 11 ff., 14 f., 26, 28, 31, 36, 42, 45, 66, 79 f., 82, 84 f., 90 f., 94 f., 102, 112, 114, 116–119, 122 f., 125, 131 f., 142 f., 147 ff., 151–163, 168 ff., 172 f., 175–185, 177–193, 197, 205, 207, 209, 212, 215 f., 220, 222 f., 226, 228, 230 f., 235, 239 f., 242, 252–255, 260, 267, 270 f., 274, 276, 285, 301, 305–309, 315, 318, 320 f. – Anerkennungs- 89, 91, 105, 142, 174, 176 f., 181 f., 203, 205, 223, 226, 238 – Geltungs- 8 f., 12–15, 25 f., 75, 77, 91 f., 119, 121, 126, 131, 142, 157, 173, 175, 181 ff., 188 ff., 217, 253, 305 f., 321 – Gleichheits- 9, 206 f., 209, 307, 323 – Verantwortungs- 175, 306 Anspruchsraum 91, 142

Anspruchsträger 86, 207, 217, 238, 252 f., 301, 309, 313 Anthropologie 38, 321–325 Antwort 14, 102, 116 ff., 125 ff., 128, 142 f., 149, 151–164, 169 f., 176 ff., 180, 182 ff., 187, 190 ff., 204 f., 215 f., 243, 252, 255, 266 f., 293 f., 320, 325 Autonomie 2, 6, 15, 29, 34, 37, 39, 75 ff., 84, 88, 96 f., 101, 125 f., 132 ff., 146 f., 191, 209, 227, 229–232, 234–247, 249 f., 252, 254 ff., 273, 307, 309 – -prinzip 236 f., 244 ff. – Relationale 230–251 Befähigung 89 f., 242, 270 Behandlung 1 ff., 6, 16, 26 f., 42 ff., 47 ff., 53–56, 59 f., 81, 132, 211, 218, 225 f., 245, 256, 268–273, 276–279, 281, 283, 286 f., 290–303, 310, 313, 319 – Heil- 282 ff., 289, 295, 303 – Nicht- 267 ff., 294 Behandlungsleitlinien 59 f. Behandlungsnotwendigkeit 49 f., 267, 291 Bekenntnis 177, 187, 252, 254 Betreuer 5, 59 f., 225, 267 f., 272 f., 278, 284 ff., 288, 294 ff., 298 f., 302, 310, 312, 318 f. Bevollmächtigter 286, 299 Bezeugung 14 f., 125, 142 f., 149 f., 153, 157, 176 f., 182 f., 186–189, 193, 207, 210, 214 f., 217, 227, 231, 233, 274, 306 ff. Beziehung 65 f., 70, 82, 86, 89, 91, 97, 101 ff., 111, 114, 130, 133, 143, 156 f., 163, 173, 178 f., 198, 202 f., 231, 236, 240, 244, 259. – Anerkennungs- 75, 77, 79, 87, 91, 99, 123, 171, 173 – Arzt-Patienten- 211, 314

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Sachregister

Common Morality 23, 31–38, 40 f., 96 Devianz 16, 19, 44, 171 f., 211, 228, 259, 265 f., 271–274, 279, 304 f., 323, 325 Diskontinuität 21, 99, 114, 116, 121, 137 Dokumentationspflicht 317 Eingriffstiefe 52, 316 Erfahrung 8 f., 11, 13, 15, 19, 56 ff., 67 ff., 75, 79 f., 93, 98, 101 f., 105 f., 121, 124, 129, 152 ff., 164 f., 172 ff., 176, 179 f., 182, 185, 189, 200, 209, 222, 231, 240– 243, 260, 264 ff., 275, 293, 296, 305, 312 – Gewalt- 280, 304 – Grund- 191, 209, 307 – Missachtungs- 80 f., 93, 98, 106, 246 – Selbst- 66, 152 – Vulnerabilitäts- 256, 311 Erfahrungsraum 8, 25, 83, 161, 171 f., 195 Erkennen 12, 68, 103 ff., 107–110, 180, 227 Erleben 10, 55, 79 f., 83, 109, 294, 311 f., 314, 319 Ethik – Allgemeine 9 – Diskurs- 16–18 – Empirische 38–41 – Konkrete 10, 19 f., 23 f. – Medizin- 2, 315 – Prinzipien- 23, 28–38, 40 – Theologische 10, 18 f., 22 Evangelium 116 f. Fallbeispiele 47 f., 228 ff., 278 Freiheit 15, 27 f., 64, 71, 74, 77 f., 84, 96, 102 f., 114 f., 118, 145, 149, 151, 166, 173, 184, 190, 219 f., 226, 240, 243, 251, 275, 285 f., 308, 317, 322 – Kommunikative 219 ff. – zur Krankheit 16, 46 f., 115, 267–273, 276 f., 293 Freiheitsraum 77, 115, 145, 173, 183, 200 Freiheitsrecht 25, 84 f., 269 Fürsorge 2, 6 f., 11, 15, 42, 60 ff., 82, 123, 137, 192, 210, 227 f., 232–242, 248, 252, 254 ff., 271 f., 279, 281, 307, 309, 320 Furcht 3, 173 ff.

Gabe 6 f., 15, 57, 61 f., 91, 126, 180, 182, 184 ff., 192–210, 217, 226, 240, 254, 267, 282 f., 307, 320–325 Geltung (etwas zur Geltung bringen) 14, 17, 26 f., 76, 88, 91, 111, 133, 139, 141, 160, 168, 172, 175, 177 f., 190 f., 245 Geltungsanspruch 8 f., 12, 14 f., 25, f., 75, 77, 91 f., 119, 121, 123, 131, 142, 157, 173, 175, 181 ff., 188 ff., 217, 253, 305 f., 321 Geltungsraum 14, 142, 174, 177, 243, 306 Gemeinschaft 16, 64, 74, 85, 96, 132 ff., 136, 138, 145 f., 150 f., 196, 200, 202 f., 208, 233 ff., 238 f., 275, 305, 323 ff. Gesellschaft 1, 14, 17, 24, 28, 37, 85 f., 91 f., 95 f., 96 f., 99, 105, 134, 171, 193, 202, 209, 226, 234, 250, 261, 307 Gesetz (auch theologisch) 26, 34, 84, 112, 116 ff., 149, 157, 205, 243, 286–289 Gewalt 14, 43 f., 80 f., 90, 103, 109, 120, 130, 137, 142, 172 f., 175 f., 183 ff., 222, 225, 231, 242, 249, 271, 273, 280 f., 294, 325 Handlung 6, 16, 22 f., 26, 29, 40, 45, 48, 60, 74, 80, 97, 100 f., 104 f., 110, 128, 139, 151, 160 f., 184, 192, 213, 224, 233, 235 ff., 242, 244 f., 248, 266, 285, 301, 310, 313, 317 Identifizierung 90, 128, 147, 150, 179, 202, 209, 307 Identität 37, 44, 74, 93, 101 f., 111, 116, 118, 123–130, 138 f., 141, 144, 147, 150, 186 f., 197, 208, 211, 324 Klinik 47 f., 51, 53 f., 56, 170 f., 267 f., 284 ff., 297, 313, 315, 317 Kontext 20, 22, 24, 29, 39, 107, 109, 184, 203, 220, 225, 227, 232, 244, 246 f., 249, 251 f., 262, 269, 272 f., 278 f., 284, 312, 315 — psychiatrischer 1 f., 8 ff., 15 f., 43, 45, 53, 59 f., 75, 103, 192, 256 f., 262, 270, 276, 279, 299 f., 310, 314 ff. Kontinuität 21, 114, 116, 208 Krankheit (krank sein) 43–46, 262–265 – Psychische 2 ff., 15, 46, 172, 227, 260 ff., 264, 266, 270 ff., 278, 284, 286, 295, 309–314 Kreativität 44, 46, 256, 259, 271

Sachregister

Körper 6, 17, 61, 81, 113 ff., 164–172, 174, 273, 309 Lebensformen 76, 97 f., 132 ff., 167, 188– 191, 253, 256, 272 Leib 115, 124, 142, 164–172, 174 ff., 241, 262, 305 f. Leiblichkeit 8, 14, 132, 142 f., 164 f., 167 f., 170 – Zwischen- 168 ff., 181, 305, 321 Menschenrechte 38, 181, 190 f., 256 Menschenwürde 86, 96, 122, 191, 194, 202, 277, 307 Möglichkeit 11 f., 15, 22 f., 26, 29, 33, 36, 38, 52, 61, 66, 75 f., 82, 84, 96, 102, 107, 109 ff., 114 ff., 118–121, 124, 134, 136, 138–141, 144 f., 147, 152–155, 159, 166 f., 169, 172, 176 f., 182 f., 186, 189, 195, 198, 210, 213, 220, 226, 230 ff., 234 f., 237 f., 241, 243, 248, 253, 263, 266, 269–274, 282, 284, 287 f., 292, 294, 296, 298 f., 304, 310, 312, 314, 316–319, 322 – Anknüpfungs- 7, 13, 62, 133, 164, 170 f., 174, 185, 201, 212 f., 254, 305, 316, 323 – Gestaltungs- 18, 47, 131, 139, 168, 250, 319 Möglichkeitsraum 12, 14, 21, 41, 76 f., 97, 100, 109 f., 117 f., 126, 142, 144, 176 f., 180, 186, 194, 218, 220, 226, 252 Moral 16 f., 19, 21, 23, 34, 36, 73–77, 90, 95, 99, 100, 121, 241 mutmaßlicher Wille 39, 42 natürlicher Wille 49, 246, 293 Pathologie 43–47, 49, 83, 92 f., 171, 209, 211, 228, 259, 264 Patient 1–5, 10 f., 22, 25 f., 39, 42 f., 46, 48 f., 51, 53 f., 56–60, 81, 107, 210 f., 224, 245 f., 255 f., 269–273, 276–279, 282 ff., 288– 295, 299–304, 313 ff., 317 ff. Patientenverfügung 278, 295 f., 315 Pflege 228 Phänomenologie 63, 70, 101, 113, 148, 163, 194 Politik 148, 182, 191, 253 Politisch(es) 33, 42, 81, 182

363

Politische Theorie 121, 182 Präsenz 82, 100, 138 f., 144, 146 f., 149, 151 f., 156, 161, 164 f. Psychiatrie 3 f., 54, 58, 261, 270, 277 f., 281–285, 293–296, 300 f., 315 ff. Rationalität 24, 60, 72, 160, 200, 211, 233, 248 Recht 45–48, 64 f., 84–94, 131, 289 ff. – Grund- 2, 43, 268, 287 f., 290, 292, 298, 319 – Straf- 43, 283 – Zivil- 5, 43, 281 Rechtfertigung 9, 16, 19, 53, 103, 110, 185, 317, 320–325 – Effektive 187, 321, 324 – Forensische 320 f. Rechtsstaat 280 Relational 7, 42, 61, 70, 75 f., 109–112, 130, 156, 165, 168, 170 f., 189, 236, 240, 244, 247 ff., 251 f., 255, 298, 309 Relationalität 70, 244 f., 247–251 Responsivität 9, 132, 151, 158, 175, 178 f., 223, 252 f., 306, 321 Risiko 5, 60, 116, 192, 199, 201, 203, 207, 227, 255, 294, 308, 319 Schuld 117, 219, 224, 263, 319 Schwelle 47, 153 f., 159 f., 177, 198, 214, 218, 225, 263, 292, 308, 316 Selbst – -bezeugung 15, 142 f., 177–193 – -bezug 7–15, 44, 47, 61 ff., 73, 76–79, 89, 97–100, 102 ff., 108, 110, 112 f., 116– 121, 123 f., 127, 130–133, 138, 140–145, 147, 150 ff., 155–159, 160 f., 164, 166, 168–172, 174–179, 181–184, 186–189, 191 f., 201, 204, 208–219, 223, 225 ff., 237, 241–244, 247–249, 251–256, 260 ff., 264–267, 270–276, 280, 293, 300 f., 305– 311, 313, 315, 317, 319 ff., 324 f. – -gefährdung 43, 49, 58, 268, 284, 286 f., 292, 298, 316 Selbstbestimmung 1, 5 ff., 11, 16, 45, 55, 60 ff., 75, 77, 91, 141, 192, 210 f., 223, 226 f., 232, 243–247, 249–256, 269 ff., 273, 276–279, 291, 293, 300 f., 304, 307 ff., 314

364

Sachregister

Solidarität 12, 78 f., 83, 89, 92, 95, 97 f., 105, 119, 157, 203 Sozial (auch Sozialität) 91–99, 101, 103, 116, 119, 121, 157, 167, 169 ff., 173, 175– 179, 183 f., 186–189 Sozialphilosophie 121, 157, 189 Sprache 63, 81, 117, 127 f., 132, 135, 144 ff., 148, 151, 153 f., 158 f., 173, 191, 193, 222, 224, 259, 277, 278 Stellvertretung 15, 19, 163, 192, 210–227, 255, 273 f., 276, 298 f., 307, 313, 320, 324 f. Strafe 277 Subjekt 7, 12, 61, 71, 74, 76, 78 ff., 82, 84 f., 88, 91, 93 f., 97, 101 f., 104 , 108–113, 115 f., 119–123, 125, 127 134, 138, 141, 151, 156, 163 ff., 178, 180, 184, 189, 204 f., 210, 230 Subjektivation 61, 110–123, 176 f., 180, 185, 270 Überwachung 284, 292, 317 f. Ultima Ratio 49, 282, 311 ff., 316 Verantwortung 18 f., 102, 118, 125, 175, 177, 225, 249 f., 253, 306, 309, 313, 322

Verletzlichkeit 15, 45, 112 f., 175, 209, 243, 301, 308, 313 Vernunft 103, 219, 259 f. Vertrauen 9, 15, 174, 182–187, 256 f., 291, 306, 315, 319 f. Vulnerabilität 7 ff., 13, 61, 110, 119, 121, 127, 149, 164, 175, 185, 187, 204, 209, 222 f., 226, 231 f., 240–243, 245, 250, 260, 264, 272, 275, 280, 305–309, 321–325 Wahnsinn 4, 15, 37, 44, 46 f., 156, 259 ff., 271 f., 305, 309, 311 Wegbereitung 9, 222, 274, 313, 322 f., 325 Widerfahrnis 5, 15, 43 f., 47, 60, 90, 92, 95 f., 99, 101, 105 f., 109, 111, 115 f., 130, 142, 160, 164 f., 173, 175 f., 201, 207, 213, 231, 233 f., 240, 264, 272, 274, 277 f., 292, 294, 305, 307, 309 ff., 314, 321 ff., 325 Zwangsbehandlung 2–6, 11, 16, 25, 43, 49, 51–60, 107, 269, 280–284, 290–299, 301– 304, 312, 316 Zwangsunterbringung 4, 49, 51 f., 56, 58 Zeugnis 15, 143, 149 f., 177, 187 f., 192, 207, 222, 243, 289, 306 f.

365

Namensregister Die kursiv gedruckten Ziffern verweisen auf Fußnoten

Ach, Johann S. 75, 231, 227, 244, 310, 327, 345 Adamowski, Tomasz 54, 345 Adloff, Frank 206, 327 Agamben, Giorgio 148, 182, 190, 248, 327, 348 Albrecht, Harro 3, 340 Allen, Amy 112, 122, 327 Alloa, Emmanuel 113, 327 Almvik, Roger 53, 351 Althusserl, Louis 110, 327 Altunbay, Jasmin 56, 294, 350 Amos, Therese 55, 81, 345, 352 Anderson, Joel 246, 327, 333 Angermeyer, Matthias C. 4, 311, 355 Anselm, Rainer 136, 327, 340 Appelbaum, Paul S. 314, 327 Arendt, Hannah 86, 93, 132, 173, 183, 190, 191, 239, 253, 327 Aristoteles 26, 145, 328, 356 Aroesty-Cohen, Eli 293, 358 Arolt, Volker 264, 328 Atkins, Kim 246, 328 Austin, John L. 128, 328 Badiou, Alain 134, 135, 148, 328, 348 Bandelow, Borwin 170, 328 Banner, Natalie 227, 262, 330 Barry, Michael J. 314, 328 Barth, Karl 220, 328, 357 Bataille, Georges 197, 328 Bauer, Thomas 253, 328 Baufeld, Stefan 299, 328 Bayer, Oswald 199, 328 Bayer, Wiltrud 56, 81, 224, 270, 347

Beauchamp, Tom L. 6, 26–37, 60, 211, 229–232, 235–238, 245, 328, 342, 352, 353 Beck, Adrienne 3, 56, 337 Bedford-Strohm, Heinrich 209, 220, 328 Bedorf, Thomas 13, 74, 83, 100, 123, 124, 126, 128, 129, 151, 178–180, 191, 194, 205, 208, 253, 323, 327, 328, 329 Beintker, Michael 323, 329 Beise, Uwe 170, 329 Benjamin, Jessica 12, 122, 123, 305, 329 Berg, Nicolas 182, 329 Berger, Mathias, 264, 329 Bergk, Jan 55, 57, 329 Berking, Helmuth 193, 329 Berking, Matthias 262, 336 Bernhardsgrütter, Renate 53, 58, 349, 356 Betzler, Monika 244, 329 Bickhardt, Jürgen 278, 345 Bienwald, Werner 286, 329 Bieri, Peter 191, 329 Biller-Andorno, Nicola 235, 329 Bird, Greg 114, 329 Birnbacher, Dieter 38, 85, 329 Blanchot, Maurice 125, 146, 163, 329 Bloch, Sidney 211, 328, 329 Blumenberg, Hans 72, 164, 329 Bobbert, Monika 224, 329 Böhner, Gerd 317, 359 Bolton, Derek 227, 261, 262, 329 Bonhoeffer, Dietrich 9, 106, 147, 220– 226, 274, 308, 313, 319, 322, 323, 325, 330, 334, 357 Boorse, Christopher 228, 261, 330

366

Namensregister

Borbé, Raoul 283, 356 Borgwardt, Stefan 51, 345 Bormann, Franz-Josef 218, 330 Bormuth, Matthias 270, 330 Borry, Pascal 38, 330 Bortolotti, Lisa 227, 330 Bosenius, Bärbel 274, 330 Bowers, Len 57, 334, 359 Brand, Cordula 89, 330 Braun, Matthias 115, 220, 330 Braarvig, Jens 191, 336 Brazier, Margaret 240, 330 Breitsameter, Christof 211, 330 Brody, Baruch A. 23, 330 Broome, Matthew 227, 330 Brownsword, Roger 191, 336 Bruns, Henrike 45, 50, 301, 331 Buber, Martin 155, 158, 331 Buddeberg, Eva 213, 331 Bulletti, Carlo 240, 331 Butler, Judith 7, 8, 12, 17, 61, 63, 72, 110– 114, 116–123, 126, 127, 130, 131, 147, 150, 159, 172, 175–178, 185, 270, 280, 305, 323, 332, 333 Buyx, Alena 261, 344 Cadge, Wendy 266, 360 Caduff, Franz 57, 333 Caillé, Alain 201, 333 Canguilhem, Georges 156, 333 Carr, Helen 239, 333 Christman, John 246–251, 327, 333 Clouser, K. Danner 29, 35, 339 Coan, April D. 266, 352 Collins, Adela Y. 274, 333 Cox, Rochelle 227, 330 Crefeld, Wolf 297, 301, 333 Culp, Kristine A. 127, 333 Culver, Charles M. 26, 29, 339 Dabrock, Peter 10, 18–20, 86, 90, 106, 136, 151, 155, 164, 169, 172, 190, 197, 207, 209, 220, 221, 231, 233, 330, 333, 334, 354 Dalferth, Ingolf U. 194, 320–322, 334 Dancy, Jonathan 20, 21, 334 Därmann, Iris 197, 198, 207, 334

Darwall, Stephen L. 38, 334 De Vries, Rob 39, 334 Dedding, Christine 211, 334 Delaney, Neil 83, 334 Delhom, Pascal 185, 188, 335 Denkhaus, Ruth 231, 334 Depraz, Natalie 113, 327 Derrida, Jacques 100, 102, 125–128, 134, 136, 143, 146, 147, 149, 150, 179, 185, 194–196, 198, 206, 335, 358 Dettmeyer, Reinhard 278, 279, 289, 335 Diener, Jens 4, 296, 336, 354 Dierickx, Kris 38, 330 Dietrich, Julia 40, 41, 336 Dilling, Horst 264, 328 Dilthey, Wilhelm 108, 336 Dochow, Carsten 211, 336 Dodegge, Georg 293, 295, 336 Donaldson, Sue 86, 231, 336 Doris, John M. 38, 336 Dose, Matthias 283, 336 Dotsch, Ron 185, 357 Drake, Robert E. 246, 357 Dschulnigg, Peter 274, 336 Duttge, Gunnar 211, 336 Düwell, Marcus 25, 191, 336, 344, 352, 356, 359 Dworkin, Ronald 16, 17, 248, 336 Ebeling, Gerhard 117, 145, 253, 320, 336 Edgman-Levitan, Susan 314, 328 Ehret, Anna M. 262, 336 Einsiedler, Beate 55, 57, 329 Elwyn, Glyn 272, 336 Engelhardt, Jr. Herman Tristram 24, 32, 232–234, 238, 336, 337 Engster, Daniel 241, 337 Esposito, Roberto 113, 114, 329, 337 Esser, Andrea 6, 337 Esterl, Silke 261, 337 Falkai, Peter 170, 315, 328, 352 Falkenbach, Marc 283, 288, 337 Farrell, Anne-Maree 240, 330 Feder, Ellen K. 238, 337 Feder Kittay, Eva 228, 230, 231, 238–242, 337

Namensregister

Fennell, Phil 314, 337 Fichte, Johann Gottlieb 63, 64, 74, 204, 337, 341 Finchett-Maddock, Lucy 95, 337 Finemann, Martha Albertson 241, 242, 333, 337 Finzen, Asmus 3, 56, 337 Fischer, Johannes 18, 22, 103, 191, 211, 219, 256, 338, 359 Fischer-Defoy, Werner 281, 338 Flammer, Erich 51, 329, 338 Floridi, Luciano 212, 338, 350 Forst, Rainer 122, 338 Foucault, Michel 4, 12, 17, 18, 37, 38, 44, 71–73, 110, 111, 115, 116, 162, 172, 177, 178, 205, 228, 248, 259, 260, 280, 332, 338, 347 Frances, Allen 44, 339 Frank, Manfred 65, 339 Frank, Udo 318, 339 Franke, Alexa 261, 339 Fraser, Nancy 76, 85, 99, 339, 343 Frettlöh, Magdalene L. 199, 206, 339 Freud, Sigmund 110, 121, 339 Freyenhagen, Fabian 74, 99, 339 Friedman, Marilyn 246, 339 Friedrich, Orsolya 279, 339 Fuchs, Thomas 165, 339 Gadamer, Hans-Georg 178, 179, 189, 339 Gale, Christopher 81, 107, 352 Gallinat, Jan 56, 294, 350 Garrett-Mayer, Elizabeth 224, 355 Gather, Jakov 45, 301, 331, 350 George, Bill 107, 261, 339 Georgieva, Irina 52, 339 Gerhardt, Volker 211, 339 Gerlinger, Thomas 262, 339 Germov, John 261, 339 Gerschler, Anja E. A. 46, 348 Gert, Bernard 35, 339 Gestrich, Christof 210, 212, 340 Gewirth, Alan 27, 28, 85, 340, 344 Gibbard, Allan 38, 334 Gifford, Fred 261, 340 Gilligan, Carol 238, 340 Glöckner, Matthias 3, 54, 55, 218, 345, 352

367

Gnilka, Joachim 274, 340 Göbel, Rita 57, 349 Godelier, Maurice 193, 340 Goffman, Erving 53, 340 Gordijn, Bert 39, 334 Göppinger, Horst 282, 347 Götz, Torben 288, 290, 340 Gräb-Schmidt, Elisabeth 243, 340 Graumann, Sigrid 45, 297, 340 Green, Stephen 211, 328, 329, 345 Grefe, Christiane 3, 340 Griffiths, Danielle 240, 330 Grotkopp, Jörg 293, 296, 340 Grube, Michael 170, 171, 341 Gruber, Oliver 170, 328 Grünberg, Patricia 185, 186, 340 Gutheil, Thomas G. 314, 327 Gutmann, Thomas 90, 340 Habermas, Jürgen 16–18, 25, 26, 65, 86, 90, 95, 108, 228, 340, 352 Halbig, Christoph 66, 339, 341 Hamann, Johannes 314, 341 Hamington, Maurice 241, 337, 341 Härle, Wilfried 321, 341 Hartwich, Peter 170, 171, 341 Haug, Hans-Joachim 3, 56, 337 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 11, 12, 14, 36, 63–74, 76, 83, 87, 96, 98, 102, 104, 110, 113, 117, 118, 140, 143, 150, 175, 177, 190, 204, 332, 340–343, 345, 346, 352, 354, 355, 357 Hegendörfer, Gerhard 283, 341 Heide, Jochen 281, 282, 288, 289, 341 Heidegger, Martin 109, 132, 134–137, 139, 178, 215, 341 Heinrichs, Jan-Hendrik 279, 339 Heinz, Andreas 156, 227, 264, 265, 341 Heinzmann, Thomas 317, 359 Held, Virginia 238, 239, 341 Helmchen, Hanfried 227, 270, 277, 278, 341, 347 Hénaff, Marcel 180, 192–194, 196, 199– 207, 328, 341, 343 Henking, Tanja 50, 284, 285, 291, 331, 340–342, 348, 350, 352, 356, 358 Herissone-Kelly, Peter 36, 342 Herms, Eilert 156, 342

368

Namensregister

Herndon, James E. 266, 352 Herrmann, Steffen 118, 175, 177, 306, 342 Hick, Christian 279, 342 Hildt, Elisabeth 6, 60, 232, 277, 342 Hinüber, Wassili 47, 48, 59, 356 Hirsch, Alfred 173, 174, 188, 335, 342 Hoene, Klaus zu 318, 342 Höffe, Otfried 42, 189, 190, 342 Hoffmann, Birgit 214, 284, 296, 342 Hoffmann, Veronika 200, 206, 208, 322– 324, 328, 342 Höflacher, Rainer 283, 342 Höfler, Michael 45, 46, 344 Holm, Bo Kristian 320, 321, 334, 342, 354 Honneth, Axel 11, 12, 14, 63, 64, 68, 69, 73–110, 112, 116, 119, 123, 125–127, 130–133, 150, 172, 175, 177, 178, 180, 203–206, 246–248, 327, 334, 339, 342, 343, 360 Hope, Simon 96, 343 Hörl, Erich 139, 344, 351 Horwitz, Allan V. 264, 265, 344, 358 Hübenthal, Christoph 27, 344, 359 Huber, Lara 245, 344 Huber, Wolfgang 207, 220, 334, 344 Hucklenbroich, Peter 261, 344 Hughes, Mark 215, 355 Hurrelmann, Klaus 261, 339, 353 Husserl, Edmund 101, 113, 146, 152, 158, 327, 344, 358, 360 Ilkilic, Ilhan 315, 344 Illouz, Eva 83, 344 Jacobi, Frank 45, 46, 344, 348 Jakobsen, Helle 46, 357 Jakoby, Nina R. 266, 345 Jakovljevic, Anna-Karina 300, 350 Jaeger, Susanne 54, 218, 225, 344 Jaeggi, Rahel 17, 178, 332, 344 Jäger, Markus 283, 288, 337 Jäkel, Christian 278, 344 Jones, Hugh O. 215, 353 Janowski, J. Christine 219, 345, 354, 359 Janowski, Bernd 219, 345, 354, 359 Jonsen, Albert R. 20–23, 345

Jox, Ralf J. 278, 310, 345 Jüngel, Eberhard 320, 321, 341, 345 Jungfer, Hermann-Alexander 51, 345 Juth, Niklas 39, 354 Kader, Linda 211, 345 Kain, Philip J. 71, 345 Kallert, Thomas W. 54, 345 Kant, Immanuel 18, 25, 26, 33, 74, 76, 86, 90, 91, 104, 115, 190, 195, 219, 226, 328, 340, 343, 345 Karlsen, Jan R. 37, 345 Katsakou, Christina 55, 81, 345, 352 Kelly, Brenna 224, 345 Kendell, Robert E. 260, 345 Keseling, Uta 182, 346 Kim, Jae-Jin 107, 347 Kim, Scott Y.H. 215, 356 Kingma, Elselijn 261, 346 Kissling, Werner 56, 314, 341, 353 Klar, Reto 182, 346 Klein, Jan P. 292, 352 Klie, Thomas 214, 232, 284, 342, 346 Klijn, Aadt 107, 261, 339 Klinghardt, Matthias 274, 346 Kojève, Alexandre 64, 346 Konrad, Norbert 284, 346 Koller, Matthias 215, 282, 293, 297, 298, 346 Korsch, Dietrich 253, 346 Körtner, Ulrich H.J. 117, 176, 340, 346 Koschorke, Albrecht 72, 346 Krämer, Georg 283, 288, 346 Kreß, Hartmut 136, 344, 346 Kröber, Hans-Ludwig 262, 346 Kroll, Lars E. 46, 346 Krones, Tanja 314, 346 Kuhn, Thomas S. 40, 346 Kunze, Heinrich 5, 283, 350 Kurze, Dietmar 214, 346 Kwon, Jun Soo 107, 347 Kymlicka, Will 86, 231, 336 Lacoue-Labarthe, Philippe 148, 346 Ladeur, Karl-Heinz 94, 346 Lamberz, Markus 278, 346 Lampert, Thomas 46, 346

Namensregister

Längle, Gerhard 56, 81, 224, 270, 347 Langa, Kenneth M. 215, 356 Latour, Bruno 69, 70, 147, 148, 157, 231, 347 Laue, Christian 284, 347 Lauter, Hans 278, 347 Lebacqz, Karen 211, 347 Lee, Yu Sang 107, 347 Lepold, Kristina 116, 347 Lepping, Peter 52, 58, 356 Lesting, Wolfgang 282, 286, 347 Leucht, Stephan 314, 341 Lévi-Strauss, Claude 197, 198, 347, 359 Lévinas, Emmanuel 12, 14, 90, 102, 103, 106, 114, 116, 120, 123–125, 136, 149, 157, 164, 175, 177, 179, 188, 213, 216, 306, 329, 331, 333, 335, 342, 347 Lichtenberger, Hans P. 219, 345, 354, 359 Liebsch, Burkhard. 14, 73, 89, 90, 125, 131, 132, 142, 143, 153, 173, 176, 177, 182– 184, 187–191, 208, 215, 270, 306, 323, 347 Lindemann, Volker 296, 343, 348 Linden, Bastiaan van der 21, 348 Link, Christian 219, 348 Lipp, Volker 299, 348 Luhmann, Niklas 21, 23, 86, 101, 107, 120, 121, 138, 162, 184, 348 Luther, Martin 117, 145, 199, 219, 221, 253, 308, 320–322, 334, 336, 342, 348, 354 Lyotard, Jean-Francois 131, 132, 189, 190, 348 Mack, Simon 46, 348 Mackenzie, Catriona 244, 246, 247, 251, 348 Maio, Giovanni 202, 348 Malachowski, Marcel 3, 348 Mann, Bonnie 239, 348 Manson, Neil C. 211, 245, 348 Marchart, Oliber 148, 348 Marcus, Joel 274, 349 Marion, Jean-Luc 194, 195, 196, 334, 349 Marschner, Rolf 4, 296, 349 Martin, Veronika 57, 109, 132, 155, 349 Mauss, Marcel 183, 193, 196–198, 201, 203, 205, 207, 333, 349, 359

369

May, Carl 272, 336 Mcintyre, Alasdair C. 76, 349 McLaughlin, Paul 55, 57, 349 McMahan, Jeff S. 231, 349 McNay, Lois 74, 82, 349 McNeill, David N. 74, 349 Mead, George H. 73, 74, 84, 186, 349 Meier, Marietta 278, 349 Méndez, Juan 300–302, 327, 349, 350 Menke, Christoph 72, 122, 131, 280, 350 Menke, Karl-Heinz 218, 350 Merkel, Reinhard 293, 350 Merlau-Ponty, Maurice 159, 166, 350 Meyer, Andrea 46, 357 Mielau, Juliane 56, 294, 350 Mill, John 226, 350 Missoni, Luciano 284, 346 Mittag, Matthias 5, 284–286, 290–292, 296, 241, 242, 350 Mittelstadt, Brent Daniel 212, 350 Molewijk, Bert 40, 350 Moltmann, Jürgen 140, 350 Müller, Michael R. 169, 350 Müters, Stephan 46, 346 Mulder, Cornelis L. 52, 339, 358 Mullen, Richard 81, 107, 352 Musschenga, Albert W. 38, 40, 350 Nagel, Thomas 91, 350 Nancy, Jean-Luc. 13, 14, 65, 102, 109, 129–134, 136–141, 143–153, 155, 158, 160, 162, 163, 165, 169, 172, 189, 192, 207, 254, 270, 322, 324, 344, 346, 348, 351 Neumann, Norbert-Ulrich 283, 288, 337 Neyrat, Frédéric 64, 112, 140, 351 Nida-Rümelin, Julian 126, 244, 351 Nietzsche, Friedrich 164, 196, 243, 351 Nijman, Henk 53, 351, 358 Nolan, Marie T. 57, 215, 355, 359 Noorthoorn, Eric 52, 339, 358 Nussbaum, Martha C. 90, 351 Olivola, Christopher Y. 185, 357 Onchev, Georgi 54, 345 O’Neill, Onora 211, 244–246, 256, 348, 351

370

Namensregister

Oshana, Marina 247, 250, 251, 351 Osteen, Mark 193, 351 Otten, Wilma 40, 350 Pace, Caterina 240, 331 Palagiano, Antonio 240, 331 Palmstierna, Tom 53, 351 Pannenberg, Wolfhart 225, 351 Pantelis, Christos 211, 345 Parfit, Derek 129, 351 Parsons, Talcott 73, 352 Patterson, Tess 81, 107, 352 Pearce, Michelle J. 266, 352 Petit, Marc 292, 352 Pettersen, Tove 239, 352 Pfiffner, Carmen 54, 218, 225, 344 Pilgrim, David 271, 353 Plessner, Helmuth 69, 115, 161, 165, 188, 352 Pollmächer, Thomas 290, 295, 352 Powers, Richard 210, 352 Priebe, Stefan 218, 349, 352 Putnam, Hilary 18, 352 Quante, Michael 26, 65, 66, 238, 341, 352 Radenbach, Katrin 315, 352 Radoilska, Lubomira 227, 330, 352 Railton, Peter 38, 334 Rancière, Jacques 135, 181, 182, 190, 322, 352 Rath, Benjamin 126, 351 Rauprich, Oliver 6, 29, 30, 35, 60, 328, 342, 353 Rawls, John 17, 32, 33, 142, 353 Raz, Joseph 6, 353 Rehborn, Martin 276, 353 Reichhart, Tatjana 56, 353 Reimer, Christian 264, 328 Reinders, Hans S. 273, 353 Rest, Franco 315, 353 Richter, Matthias 261, 339, 353 Ricoeur, Paul 14, 83, 84, 98, 127, 142, 149, 153, 154, 177, 180–184, 186, 188, 196, 199, 200, 306, 323, 324, 342, 353 Rid, Annette 224, 345 Ried, Jens 220, 330

Ritschl, Albrecht 220, 353 Ritschl, Dietrich 186, 215, 353 Rittershaus, Ernst 281, 353 Rössler, Beate 89, 334, 343 Röttgers, Hanns R. 47, 59, 356 Rogers, Anne 271, 353 Rose, Diana 55, 81, 345 Rosenberg, Charles E. 263, 353 Ross, William D. 30, 353 Rothhaar, Markus 191, 353 Rothe, Richard 218, 353 Rousseau, Jean-Jaques 63, 353 Rüsch, Nicolas 311, 354 Rydvall, Anders 39, 354 Saage, Erwin 282, 347 Saarinen, Risto 320, 354 Sadegh-Zadeh, Kazem 261, 354 Sahm, Stephan 211, 354 Salloch, Sabine 39, 354 Sandkühler, Hans Jörg 191, 354 Sandlund, Mikael 39, 354 Sartre, Jean-Paul 77, 82, 108–110, 157, 200, 343, 354 Sato, Mitsumoto 107, 354 Schaede, Stephan 210, 219, 327, 334, 354, 356 Schardien, Stefanie 190, 333, 354 Scheuring, Elfriede 56, 314, 353 Schildmann, Jan 39, 336, 354 Schlagloth-Kley, Claudia 285, 354 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 32, 219, 354 Schmidt-Recla, Adrian 4, 354 Schmid, Peter 53, 357 Schnädelbach, Herbert 65, 354 Schneeberger, Andres R. 51, 345 Schoch, Friedrich 288, 354 Schöne-Seifert, Bettina 230, 237, 244, 327, 345 Schomerus, Georg 4, 311, 355 Schotsmans, Paul 38, 330 Schott, Heinz 172, 260, 355 Schramme, Thomas 228, 261, 263, 278, 330, 345, 355 Schulenburg, Johann 126, 351 Schulze, Beate 4, 355 Schürrmann, Volker 86, 87, 355

Namensregister

Schützwohl, Matthias 345 Searle, John R. 128, 355 Seidel, Christian 6, 355 Sell, Annette 68, 355 Shalowitz, David I. 224, 355 Sharma, Rashmi K. 215, 355 Shklar, Judith N. 12, 121, 122, 173–175, 185, 203, 305, 342, 355 Siegler, Mark 345 Siep, Ludwig 10, 19, 20, 23, 63, 65, 341, 355 Silveira, Maria J. 215, 356 Simmel, Georg 157, 193, 196, 197, 356 Simon, Alfred 294, 327, 336, 356 Singer, Peter 86, 87, 356 Slenczka, Notger 145, 356 Sloterdijk, Peter 69, 135, 165, 167, 356 Soeffner, Hans-Georg 169, 350 Solbakk, Jan Helge 37, 345 Sonnenmoser, Anne 169, 350 Sölle, Dorothee 218, 356 Spaemann, Robert 254, 356 Stahl, Devan 234, 356 Stahl, Titus 119, 122, 356 Steger, Florian 6, 60, 328, 342, 353 Stegmaier, Werner 243, 356 Steigleder, Klaus 23, 25, 27, 336, 344, 352, 356 Steinert, Tilmann 46, 48, 51–53, 57–59, 282, 283, 317, 329, 338, 356 Steinhausen, Hans-Christoph 46, 357 Stich, Stephen P. 38, 336 Stiggelbout, Anne M. 40, 350 Stoellger, Philipp 176, 196, 357 Stoljar, Natalie 244, 348 Stolker, Joost J. 3, 56, 358 Strehle, Jens 45, 46, 344 Strong, Carson 36, 37, 357 Sturma, Dieter 85, 87, 340, 357 Szasz, Thomas 260, 357 Szmukler, George 211, 357 Taylor, Charles 6, 72, 123, 126, 133, 248, 337, 357 Tietz, Christiane 220, 357 Tillich, Paul 115, 117, 137, 166, 234, 324, 356, 357 Todorov, Alexander 185, 357

371

Tödt, Heinz Eduard 21, 42, 220, 357 Tölle, Rainer 171, 172, 260, 355, 357 Tonn, P 289, 357 Tönnies, Ferdinand 134, 357 Torrey, William C. 246, 357 Trevino, Kelly M. 266, 360 Truog, Robert D. 211, 357 Tugendhat, Ernst 25, 131, 132, 190, 358 Turner, Leigh 36, 358 Ulrich, Hans G. 243, 358 Van der Scheer, Lieke 40, 358 Van Delden, Johannes J. M. 40, 358 Van Doorn, Roesja 211, 334 Van Thiel, Ghislaine J. M. W. 40, 358 Vašek, Thomas 129, 358 Veitkamp, Eline 3, 56, 358 Vieth, Andreas 26, 339, 352 Vollmann, Jochen 45, 211, 270, 277–279, 291, 301, 331, 336, 340, 341, 342, 348, 350, 352, 354, 356, 358 Vruwink, Fleur J. 52, 358 Wahl, Otto 293, 358 Wakefield, Jerome C. 228, 261, 263–265, 344, 358 Waschkewitz, Marc-Alexander 211, 336 Waldenfels, Bernhard 14, 61, 92, 101, 102, 105, 128, 131, 141, 143, 151–169, 171– 173, 175–178, 180, 184, 189, 194, 197, 208, 214–216, 261, 322, 358, 359 Walter, Henrik 5, 283, 350 Waltz, Matthias 198, 359 Weiß, Johannes 210, 212, 359 Weiser, Prisca 54, 218, 225, 344 Wendler, David 224, 345, 355 Werner, Micha H. 25, 359 Wesche, Tilo 178, 332, 344 Wesuls, Ralf 317, 359 Wetzstein, Verena 218, 330 Whitbeck, Caroline 261, 262, 359 Whitebook, Joel 82, 343, 359 Whittington, Richard 57, 359 Wick, Peter 22, 359 Widdershoven, Guy 40, 358 Wiesemann, Claudia 327 Will, Regina 211, 354

372 Windgassen, Klaus 171, 357 Winkler, Lex 211, 334 Winnicott, Donald W. 82, 104, 359 Winslade, William 21, 345 Wyler, Marcus 281, 360

Namensregister

Young, Iris M. 82, 360 Zahavi, Dan 101, 360 Žižek, Slavoj 141, 360 Zollfrank, Angelika A. 266, 360